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German Pages 806 [812] Year 1991
Theologische Realenzyklopädie Band X X I
w DE
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Theologische Realenzytdopädie In Gemeinschaft mit Horst Robert Balz • James K. Cameron Wilfried Härle • Stuart G. Hall Brian L. H e b b l e t h w a i t e • Richard Hentschke W o l f g a n g J a n k e • H a n s - J o a c h i m Klimkeit J o a c h i m Mehlhausen • Knut Schäferdiek H e n n i n g Schröer • Gottfried Seebaß Clemens T h o m a herausgegeben v o n Gerhard Müller Band XXI Leonardo da Vinci - Malachias von Armagh
Walter de Gruyter • Berlin • N e w York 1991
Redaktion: Dr. Christian Uhlig Lieferung 1/2 L e o n a r d o da Vinci - Literaturgeschichte, Biblische August 1991 Lieferung 3/4 Literaturgeschichte, Biblische - Lyon N o v e m b e r 1991 Lieferung 5 Lyon - Malachias von Armagh Dezember 1991
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der Deutschen
Bibliothek
Theologische Realenzyklopädie / in Gemeinschaft mit Horst Robert Balz . . . hrsg. von Gerhard Müller. - Berlin ; New York : de Gruyter. Nebent.: TRE.-Teilw. hrsg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller ISBN 3-11-002218-4 NE: Krause, Gerhard [Hrsg.]; Müller, Gerhard [Hrsg.]; N T Bd. 21. Leonardo da Vinci - Malachias von Armagh. - 1991 Abschlußaufnahme von Bd. 21 ISBN 3-11-012952-3
© Copyright 1991 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg-Passau Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz Sc Bauer, Berlin 61
Leonardo da Vinci Leonardo da Vinci 1. Leben
1
(1452-1519)
2. Werke
(Werkverzeichnis/Quellen und Literatur S. 3)
1. Leben Leonardo da Vinci wird am 15. April 1452 als Sohn des Rechtsanwaltes Ser Piero di Antonio und der Magd Caterina in Vinci geboren. Seine Kindheit verbringt er in der väterlichen Familie. Der Vater wird 1470 Notar der Stadt Florenz. Aus diesem Anlaß zieht die Familie in die Stadt. Ob Leonardo erst jetzt in die Lehre zu Verrocchio kommt, bleibt ungewiß. In den Jahren 1472 bis 1476 ist sein Aufenthalt dort nachweisbar. Hier wird er außer Malen auch den Bronzeguß kennengelernt haben. Vasari beschreibt ihn in seiner Vita als einen unsteten Geist, der viele Studien, u.a. auch Latein, begonnen, aber diese immer wieder abgebrochen habe. Leonardo bezeichnet sich selbst als einen ttomo senza lettere, einen Mann ohne Bildung, also wohl auch ohne Lateinkenntnisse. Woher seine Fähigkeiten als Architekt und als Naturwissenschaftler stammen, bleibt weitgehend der Spekulation überlassen. Im geistigen Klima von Florenz konnte ein aufgeweckter Geist genügend Anregungen finden. Eine systematische Ausbildung hat er nicht erhalten. Sein schmales Œuvre als Maler, die vielen unvollendeten Werke, das Fragmentarische der Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Forschungen, die nirgendwo zu einer zusammenhängenden Lehre reifen, sowie das Verstecken seiner Gedanken hinter einer Spiegelschrift, wird in der Literatur häufig auf seinen unsteten Charakter zurückgeführt. Demgegenüber muß betont werden, daß der häufige Ortswechsel durch äußere Gründe bedingt ist. So erhält Leonardo keinen Auftrag durch die Medici. Botticelli entsprach eher dem feudalen Geschmack des Lorenzo de* Medici. Er bietet daher in einem Brief an Lodovico il Moro (1482) seine Dienste in Mailand an. Er bezeichnet sich darin als Militäringenieur, Architekt, Bildhauer und zuletzt als Maler. Die Sforza beschäftigen ihn als Bildhauer (Reiterstandbild Francesco Sforzas) und als Festdekorateur. Darunter leidet seine Arbeit am Abendmahl in S. Maria delle Grazie. Er mußte immer wieder zur Eile angehalten werden. Er entspricht diesem Wunsch, indem er mit der Maltechnik experimentiert. Heute ist das Fresko fast völlig zerstört. Nach der Eroberung Mailands durch Ludwig XII. von Frankreich (1499) verläßt er mit Luca Pacioli Mailand. Das zurückgelassene Tonmodell des Reiterstandbildes wird von den französischen Soldaten zerstört. Uber Mantua und Venedig reist Leonardo nach Florenz. Hier zeichnet er (1501) den ersten Karton der Hl. Anna (London, Nat. Call.), der unter Künstlern und Laien wegen seiner formalen Neuerungen großes Aufsehen erregt. Cesare Borgia holt ihn 1502 als Festungsbaumeister und Landvermesser in die Emilia. Im Jahre 1503 ist er wieder in Florenz. Er erhält durch die Comune den Auftrag für eine Darstellung der Anghiarischlacht, die nie vollendet werden sollte. Sie ist nur in Kopien der Hauptgruppe (Kampf um die Standarte) und Entwurfsskizzen überliefert (P. P. Rubens in Paris, Louvre). Im Jahre 1506 ist er wieder in Mailand, jetzt aber für die Franzosen, als Festdekorateur und Bildhauer (Monument für Gian Giacomo Trivulzio) tätig. In diesen Jahren (1513) entstehen die Pläne für die Villa Melzi, von der nichts erhalten ist. Er reist verschiedentlich nach Florenz (1508), da er dort noch Verpflichtungen hat. Im Jahre 1513 zieht er nach Rom. Dort wohnt er in der Villa Belvedere des Vatikans. Unter dem Schutz von Giuliano de' Medici (dem Prächtigen) beschäftigt er sich mit Fragen der Mathematik (Untersuchungen zur Quadratur des Kreises und zur Berechnung von gebogenen Flächen). Er lebt zwar im Vatikan, wird aber am Neubau von St. Peter nicht beteiligt. Der vermutete Einfluß auf die Planungen bleibt Hypothese. Im Jahre 1517 nimmt er eine Einladung Franz' I. nach Cloux bei Amboise an. Er wird hier mit Fragen der Regulierung von Flüssen, Plänen für einen Kanal zwischen Tours und Blois und der Saône beschäftigt. In diese Jahre fallen die Pläne für das Schloß Romorantin, das nie über erste Arbeiten hinaus gediehen ist. Im Jahre 1519 verfaßt er sein Testament. Am 2. Mai stirbt Leonardo. Am 12. August wird er in der Kirche Saint-Florentin in Amboise beigesetzt: „fut inhumé dans le cloistre de cette église
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Leonardo da Vinci
M. Lionard de Vincy, noble millanois et premier peintre et ingénier et architecte du Roy, mechanischien d'estat et anchien directeur de peincture du duc de Milan". In den Wirren der Hugenottenkriege ging sein Leichnam verloren. Die unvollendete Anbetung, der Karton für die Hl. Anna, das Abendmahl und das, was für seine Zeitgenossen von der Anghiarischlacht sichtbar war, wirkte auf Künstler wie Raffael revolutionierend. Seine Helldunkelmalerei (Chiaroscuro) vor allem in den Hintergrundlandschaften konnten sie an der Mona Lisa, der Hl. Anna oder der Felsgrotten Madonna studieren. In seinem Malereitraktat beschreibt er zwar die Voraussetzungen seiner Kunst: Perspektive, Farbe und Licht, Bildkomposition, Aufbau einer Figur und Landschaftsmalerei. Er verweist den Maler auf das Studium der Natur und der Mathematik. Es muß aber bedacht werden, daß der Malereitraktat das Werk späterer Zusammenstellung einzelner Notizen ist. Seine Wirkung auf nachfolgende Künstler ging von seinen wenigen Werken aus. Die Skizzen und Zeichnungen sowie seine Texte dürften nur wenigen bekannt gewesen sein. Das Verlangen nach genauerer Kenntnis über den Sehvorgang, über die Anatomie, über die Bewegung von Wasser und Wind und den Vogelflug sind der Antrieb zu einem genaueren Studium der Natur. Ebenso konfrontierte ihn die Auseinandersetzung mit Problemen der Bautechnik, Baumechanik, aber auch der Kriegsmaschinen mit Fragen der Technik. Er kann hier auf reichem Material anderer aufbauen. Seine theoretischen Überlegungen gehen immer von seinen konkreten Interessen aus und nicht wie bei L.B. Alberti von dem Verlangen, verschiedene Wissensgebiete systematisch zu erfassen und darzustellen. 2. Werke 1472-1476 ist er in der Werkstatt des Verrocchio. Hier malt er in der Taufe Christi des Verrocchio einen Engel (Florenz, Uffizien). Die übrigen bei Vasari aus dieser Zeit erwähnten Bilder sind verlorengegangen. 1478 erhält er von der Comune den Auftrag für eine Verkündigung (Paris, Louvre). 1481 wird der Vertrag für die Hl. Drei Könige zwischen den Mönchen von San Donato a Scopeto und Leonardo geschlossen (Florenz, Uffizien). Da er 1482 nach Mailand übersiedelt, läßt er das Bild unvollendet in Florenz zurück. Leonardo erhält den Auftrag für das Reitermonument des Francesco Sforza. Es bleibt unvollendet und wird wie die Gußform zerstört. Vom 25. April 1483 datiert der Vertrag mit der Confraternità délia Concezione über ein Altarbild, die sog. Felsgrotten-Madonna (Paris, Louvre). 1487—1488 erhält er Zahlungen für ein Modell der Kuppel des Mailänder Domes (nur in Zeichnungen überliefert). 1495 beginnt er mit den Arbeiten am Abendmahl in S. Maria delle Grazie. Pacioli spricht (1498) in der Widmung zu seiner De divina proportione von der Vollendung des Abendmahles. Die corpi regulari dieses Werkes gehen auf Zeichnungen Leonardos zurück. 1501 zeichnet er den ersten Karton der Hl. Anna (London, Nationalgalerie). 1503 beginnt er die Gioconda (Mona Lisa-Paris, Louvre) und eine Leda. Im April erhält er den Auftrag für die Anghiarischlacht im Palazzo Vecchio (nur in Kopien und Entwurfsskizzen überliefert; P. P. Rubens, Paris, Louvre). Der Cod. Foster (1505) enthält die Bemerkung, daß er am 12. Juli von ihm begonnen worden sei. Pläne für das Trivulzio-Monument (ein Reiterstandbild) entstehen 1506. Es ist nur in Zeichnungen überliefert. Am 22. März 1508 beginnt er mit den mathematischen und physikalischen Notizen (Cod. Arundel) und dem Ms. Cod. F. Im Oktober des Jahres wird nach seiner Rückkehr nach Mailand notariell die Endabrechnung für die Felsgrottenmadonna vorgenommen. (Das Bild ist in zwei unterschiedlichen Fassungen überliefert: Paris, Louvre und London, Nationalgalerie.) 1509 entstehen die geologischen und hydrografischen Aufnahmen der Lombardei. Auf einer Zeichnung (1510; Windsor, 19102 v) spricht er von seinen anatomischen Studien, die er zusammen mit Marcantonio delle Torre an der Universität von Pavia ausgeführt hatte. Am 7. Juli 1514 demonstriert er in Rom geometrische Probleme (Cod. Atl. c. 90v); er beginnt seine Arbeit an De ludo geometrico (Cod. Atl. c. 170 r, e. 45 v). Am 14. Dez. merkt er an, Battista del'Aquila habe sein Manuskript De voce erhalten (Cod. Atl. c. 287r). In die Jahre 1514-1515 fallen seine
Leonardo da Vinci
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Pläne zur Trockenlegung der pontinischen Sümpfe und für den Hafen von Civitavecchia. Wahrscheinlich malt er in diesem J a h r für Giulio de' Medici (-»Clemens VII.) seine Leda (nur in Kopien überliefert; R o m , Gali. Borghese; eine kniende Leda ist in verschiedenen Zeichnungen überliefert). 1517 fertigt Leonardo für ein Fest der Stadt Argentan zu Ehren des Königs einen mechanischen Löwen an. Am 10. Oktober notiert Antonio de Beatis (Itinerario dell' Cardinal d'Aragona), daß Leonardo sehr gebrechlich und auf die Hilfe seines Schülers (Fr. Melzi) angewiesen sei. Ferner ist von drei Bildern die Rede: una certa dona fiorentina (Mona Lisa, Paris, Louvre), einem Johannes d. T ä u f e r (Paris, Louvre) und einer Hl. Anna (Anna Selbdritt, Paris, Louvre). 1518 fertigt Leonardo verschiedene Festdekorationen für den König und den H o f an, sowie Studien für einen Kanal zwischen Tours und Blois und der Saone. Werkverzeichnis
(Zuschreibungen)
1472-1475 Verkündigung, Florenz, Uffizien. Stammt aus dem Convent S. Bartolomeo di Monteoliveto bei Florenz. Zugeschrieben seit 1870. Vorzeichnungen zu Arm und Kleid: Oxford, Christ Church, A31; Paris Louvre, nr. 2255. Die Zuschreibung ist nicht unbestritten (Heydenreich). 1474—1476 Porträt einer jungen Frau. Washington, Nat. Gali. (Ginevra Benci?). Zuschreibung wird allgemein akzeptiert. 1472-1476 Madonna Dryfus oder Madonna mit Granatapfel, Washington, Nat. Gali.; die Zuschreibung ist nicht einhellig. 1475-1478 Madonna Benois, Leningrad, Eremitage. Wahrscheinlich eine der beiden von Leonardo 1478 erwähnten Madonnen. Die Zuschreibung wird einhellig angenommen. 1478-1480 Madonna mit der Nelke, München, Alte Pinakothek; Herkunft unbekannt. Kommt 1886 aus Privatbesitz nach München. Zuschreibung wird allgemein geteilt. 1480 Hl. Hieronymus, Rom, Pinakothek des Vatikans; Zuschreibung wurde nie angezweifelt. 1485-1490 Porträt einer Frau mit einem Hermelin, Krakau, Czartorisky Muzeum; Zuschreibung wird weitgehend akzeptiert. 1510 Hl. Anna Selbdritt, Paris Louvre. Dem Bild gehen zwei Kartons und viele Zeichnungen voraus (seit 1498). Melzi nimmt es nach dem Tode Leonardos wieder mit nach Italien. Es wird vom Kardinal Richelieu in Casale Monferrato 1629-1630 entdeckt und von ihm 1636 dem König geschenkt. 1513-1516 Hl. Johannes d. Täufer, Paris, Louvre; letztes Bild Leonardos. Zuschreibung unbestritten. Bei Untersuchungen 1952 und 1962 kam eine Signatur Leonardos zum Vorschein. Quellen und Literatur Codici (zu den älteren Ausgaben s. u.): Paris, Institut de France, Bibliothèque: Mss. A, B, C, D, E, F, G, H, I, K - oft unterteilt in K 1 , K 2 , K 3 , L und M, 2 0 3 7 - früher Ashburnham 1875/1-, und 2038 früher Ashburnham 1875/2. - Mailand, Cast. Sforzesco, Archivio Storico Civico, Bibl. Trivulziana: Codice Trivulzio. - Torino, Bibl. Reale: Codice sul volo degli uccelli (Il Codice sul volo degli uccelli, herausgegeben von Jotti da Bahia Polesine, Milano 1945). - Milano, Bibl. Ambrosiana: Codice Atlantico (Il Codice Atlantico della Biblioteca Ambrosiana di Milano, trascrizione diplomatica e critica a cura di A. Marinoni, 12 Bde., Florenz 1973-1975. Diese Ausgabe erschien anläßlich einer gründlichen Restaurierung des Codex.). - Windsor Castle, Royal Library: Anatomia, Fogli A. Windsor Castle, Royal Library: Anatomia, Fogli B. - Windsor Castle, Royal Library: Quaderni di Anatomia I - V I (Kenneth D. Keele/Carlo Pedretti, Anatomische Zeichnungen ausderkönigl. Bibliothek auf Schloß Windsor, Gütersloh 1979; dies., Leonardo da Vinci, Atlas der anatomischen Studien, Prisma Verlag 1980). - Windsor Castle, Naturstudien (Carlo Pedretti/Kenneth Clark, Leonardo da Vinci, Nature Studies from the Royal Library at Wintsor Castle, Kat. der Ausstellung Mailand 1982, Florenz 1982). (Zu den Zeichnungen in Windsor: Kenneth Clark/Carlo Pedretti, The Drawings of Leonardo da Vinci in the Collection of Her Majesty the Queen at Windsor Castle, 3 Bde., London/New York 2 1968). — London, Brit. Museum: Codex Arundel 263 (Carlo Pedretti, Cronologia del Codice Arundel di Leonardo da Vinci, Bibl. d'Humanisme, XXII, Genf 1960, 172ff). London, Victoria and Albert Mus.: Codex Forster I—III. - Los Angeles, Country Mus. of Art: Cod. Hammer (Jane Roberts/Carlo Pedretti, II Codice Hammer di Leonardo da Vinci, Le acque, la terra, l'universo, Kat. der Ausstellung Florenz 1982, Florenz 1982. Früher: Holkham Hall, Bibl. des Lord Leicester 12.) Madrid, Biblioteca Nacional, Ms. I und II (Hg. v. Ladislao Reti, 5 Bde., New York 1974). - Rom, Bibl. Vaticana, Cod. Urbinas Latinus 1270 (Leonardo da Vinci, Das Buch von der Malerei, Wien 1882, krit. Edition des ital. Textes Cod. urb. 1270 mit einer dt. Übers.).-Leonardo da Vinci, Treatise on Painting, Faks. des Cod. urb. 1270 u. engl. Übers, v. A.Ph. MacMahon, Einf. v. L. H. Heydenreich, 2 Bde., Princeton 1956. - Carlo Pedretti, Leonardo da Vinci inedito, Firenze 1968, Le note di Pittura nei MSS di Madrid, Appendice: Testi e Concordanze, 9 - 5 1 . - Gerolamo Calvi,
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Leonardo da Vinci
Augusto Marinoni, I Manoscritti di Leonardo da Vinci, Mailand 1982 (Zusammenfassung der Forschung). Anthologien: Theodor Lücke, Leonardo da Vinci, Tagebücher u. Aufzeichnungen, München o. J. - Edward MacCurdy, The Notebooks of Leonardo da Vinci, London 1938. - Jean Paul Richter, The Literary Works of Leonardo da Vinci, London/New York 3 1970. Quellen: P. Gaurico, De sculptura, Florenz 1504. - Luca Pacioli, De Divina Proportione, Venezia 1509, ed. Wintersberg, Wien 1889. - Antonio Billi, Il libro di A. Billi, hg. v. Karl Frey, Berlin 1892. A. de Beatis, Relazione del viaggio del Cardinale Luigi d'Aragona (1517-1518), hg. v. Ludwig v. Pastor, Freiburg 1905. - Paolo Giovio, De Viris Illustribus (c. 1524): J.P. Richter, The Literary Works, s.o. Anthologien, 2ff. - Anonimo Gaddiano oder Cod. Magliabechiano (1537-1542 c.), hg. v. Karl Frey, Berlin 1919. - Giorgio Vasari, Le Vite, ed. Milanesi, Florenz, IV 1906, 17-90. - Ed. Paola Barocchi, Florenz, IV o.J. (ca. 1970), 15-38; dt. v. Gottschewski/Schottmüller, Straßburg 1904-1927, VI, 1 - 2 6 ; dt. v. Schorn/Förster, Stuttgart 1843, Repr. Worms 1983, III/l, 3 - 4 8 . Bibliographien: Raccolta Vinciana, XIV, 1930-34; XVIII, 1950. - E. Verga, Bibliografia leonardesca 1498-1930, 2 Bde., Bologna 1931 (Bespr. Gerolamo Calvi, Arch. Stor. Lombardo, LIX, 1933, 500). - Ludwig H. Heydenreich: ZfKG 4 (1935) 340. - Catalog of the Elmer Belt Library of Vinciana, hg. v. K. Steinitz, Los Angeles 1946-1955. - Kat. d. Bibliotheca Hertziana in Rom, Wiesbaden 1985. - Für die ältere Lit. s. Thieme/Becker, Künstlerlexikon 2 3 , 7 6 - 80. - Enc. Univ. di Stor. dell'Arte 8 (1963) 589-519. Monographien und allgemeine Abhandlungen: (Für die ältere Lit. sei auf die Bibliographien verwiesen.) Atti del Congr. di Studi Vinciani, Florenz 1953. - Leonid M. Batkin, Leonardo da Vinci, Moskau 1988; ital.: Bari 1988. - Kenneth Clark, Leonardo da Vinci. 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Popham, Les dessins de Léonard de Vinci, Brüssel 1947. - Ladislao Reti u.a., The Unknown Leonardo, New York 1974; dt.: Leonardo, der Künstler, der Forscher u. der Erfinder, 3 Bde., Stuttgart/Zürich 2 1985. - Joachim Schumacher, Leonardo da Vinci. Maler u. Forscher in anarchischer Gesellschaft, Frankfurt 1981. - V. Zubov, Leonardo da Vinci, engl, übers, v. D. Kraus, Cambridge, Mass. 1968. Leonardo und die Perspektive: Kim H. Veltman, Linear Perspective and the Visual Dimensions of Science and Art, München 1986,462-465 (die wichtigste Lit. zu Leonardo und die Perspektive und zur Geschichte der Perspektive allgemein). — Erwin Panofsky, The Codex Huygens and Leonardo da Vinci's Art Theory. The Pierpont Morgan Library Codex M . A . 1139, Westport, Conn. 2 1971. Leonardo als Maler: Mario Pomilio, Angela Ottino della Chiesa, Leonardo Pittore, Mailand 1967, Werkverzeichnis. - Zur Wirkung Leonardos auf die Malerei der Zeit s. Kathleen Weil Garris Posener, Leonardo and Central Italian Art, 1515-1550, New York 1974. Zu einzelnen Werken: Leonardos Beteiligung an der Verkündigung des Verrocchio: Günter Passavant, Verrocchio als Maler, Düsseldorf 1959. - Ders., Verrocchio, London 1969. - Ginevra'de Bend: J. Walker, Ginevra de' Benci by Leonardo da Vinci in Report and Studies in History of Art, National Gallery of Art, Washington 1967,1 - 3 8 . - T. Brachert, A Distinctive in the Painting Technique of the Ginevra de'Benci and of Leonardo's other Early Works: ebd. 1969, 85-104. - Die FelsgrottenMadonna: Cecil Gould, Leonardo. T h e Artist and Non-Artist, London 1975,75 - 9 0 (wichtige Interpretation der Dokumentation). - D. Robertson, In Foraminibus Petrae. A Note on Leonardo's Virgin on the Rocks: RenN 7 (1954) 9 2 - 9 5 . - John Shearman, Leonardo's Colour and Chiaroscuro: ZfKG 25 (1962) 13 - 4 7 . - Das Abendmahl: T. Brachen, A. Musical Canon of Proportion in Leonardo's Last Supper: ArtB 53 (1971) 461-466. - L. Steinberg, Leonardo's Last Supper: ArtQ 36 (1973) 297-410 (Lit.). - Anna Selbdritt: Carlo Pedretti, The Burlington House Cartoon: BurlM 110 (1968) 2 2 - 2 8 . - J. Wassermann, A Re- discovered Cartoon by Leonardo da Vinci: BurlM 112 (1970) 194-210. - Ders., The Dating and Patronage of Leonardo's Burlington House Cartoon: ArtB 53 (1971) 312-315. - Mona Lisa: Roy McMullen, Mona Lisa. The Picture and the Myth, Boston 1975. Schlacht von Anghiari: Christian Adolf Isermeyer, Die Arbeiten Leonardos u. Michelangelos f. den großen Ratssaal in Florenz. Eine Revision der Bild- u. Schriftquellen f. ihre Rekonstruktion u. Gesch.: Stud, zur toskanischen Kunst. FS L . H . Heydenreich, München 1964,83-130 (wichtige krit. Zusammenfassung der älteren Literatur). - Carlo Pedretti, Nuovi documenti riguardanti la Battaglia d'Anghiari u. La Tavola Doria: Leonardo da Vinci inedito, Florenz 1968, 5 3 - 8 6 . Leonardo als Bildhauer: Maria G. Agghàzy, Leonardo's equestrian statuette, Budapest 1989. Wilhelm von Bode, Leonardo als Bildhauer: JPKS 25 (1940) 125 ff (die Zuschreibungsversuche wird
Leontius von Byzanz
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man als gescheitert ansehen müssen). - Virginia L. Bush, Leonardo's Sforza Monument and Cinquecento Sculpture: Arte Lombarda 50 (1978) 47-68. - P. Grierson, Ercole d'Este and Leonardo da Vinci's Equestrian Statue of Francesco Sforza: ItSt 14 (1959) 40-48. - Carlo Pedretti, I cavalli di Leonardo. Studi sul cavallo e altri animali di Leonardo da Vinci dalla Biblioteca Reale nel Castello di Windsor, Kat. der Ausstellung Florenz 1984, Florenz 1984 (Lit.). - John Pope-Hennessy, Italian Renaissance Sculpture, London/New York 21971, 52-59. Leonardo als Architekt: Carlo Pedretti, Leonardo architetto, Mailand 1978; dt. München 1980 (Lit.). - Zu einzelnen Werken: Ludwig H. Heydenreich, Die Sakralbaustudien Leonardo da Vincis, München 21971. - Carlo Pedretti, Leonardo da Vinci. The Royal Palace at Romorantin, Cambridge, Mass. 1972. - Gustina Scaglia, Leonardo da Vinci e Francesco di Giorgio a Milano nel 1490 (Kuppel des Mailänder Domes) (Lit.): Leonardo e l'età della ragione, 225 -253. Leonardo und die Philosophie: Ernst Cassirer, Individuum u. Kosmos in der Phil, der Renaissance, Darmstadt 21963 (Cassirer versucht auf den Spuren Duhems das Denken Leonardos in die Nachfolge Nikolaus' von Kues zu stellen. Dagegen die Stellung von Eugenio Garin, Il problema delle fonti del pensiero di Leonardo: E. Garin, La cultura filosofica del Rinascimento Italiano, Florenz 1979,388-401). - P. Duhem, Études sur Léonard de Vinci-Ceux qu'il a lus et ceux qui l'ont lu, Paris 1906-1913, Repr. Paris 1955. - R. Klibansky, Copernic et Nicolus De Cues, Paris 1952,225 -235. Dorothy Koenigsberger, Renaissance Man and Creativ Thinking. A History of Concepts of Harmony 1400-1700, Hassocks 1979 (2. Leonardo da Vinci and Universal Harmony, 56-99; 3. The Infectious Imagination of Nicolas of Cusa, 100-147, v. a. 126-132.146 Anm.41. Garin hatte bereits zu Recht darauf hingewiesen, daß die Kenntnis der Schriften des Cusanus davon abhängt, wieweit die Lateinkenntnisse Leonardos reichten). Hartmut Biermann Leontius von Byzanz (ca. 1. Leben
500-543)
2. Werke und Theologie
3. Nachwirkung
(Quellen/Literatur S. 9)
Mit diesem Namen identifiziert die heutige Forschung den Verfasser eines kleinen Corpus theologischer Abhandlungen, die vermutlich in den Jahren 5 3 1 - 5 4 3 zur Verteidigung der christologischen Formel des Konzils von -»Chalkedon geschrieben wurden. Dieser Leontius identifiziert sich aber nie selbst; wir nennen ihn nur deshalb „von Byzanz", weil ihn der Forschungskonsens mit einem origenistischcn Mönch Leontius aus Palästina identifiziert, dessen Karriere Cyrillus von Skythopolis in seinem Leben des Sabas beschreibt. Man kann dagegen nur einen einzigen ernsthaften Einwand erheben: Die Schriften des Theologen Leontius enthalten keinen deutlichen Hinweis auf die origenistische Christologie, die in den Klöstern Palästinas von Schülern des -»Evagrius Ponticus gelehrt wurde. Evans (ebenso Meyendorff; Gray) löst dieses Problem dadurch, daß er argumentiert, der Theologe maskiere den origenistischen Mythos des Evagrius mit technischen Begriffen der christologischen Kontroversen. Daley sieht (im Gefolge von M. Richard) im Gegensatz dazu Leontius als einen „strikten Chalkedonier", der die christologischen Extravaganzen seiner neuchalkedonischen Zeitgenossen bekämpft; aber auch Daley identifiziert (wiederum nach Richard) die beiden Träger des Namens Leontius miteinander, indem er vermutet, daß der Origenismus, den Cyrillus von Skythopolis Leontius von Byzanz zuschreibt, diesen nur als Mitglied einer kirchlichen Gruppierung und nicht als Schüler des Evagrius kennzeichne. 1. Leben „Byzantiner von Geburt" (Cyrillus von Skythopolis 176,12), schlug Leontius anscheinend früh eine kirchliche Laufbahn ein, und zwar unter dem Einfluß von Parteigängern der antiochenischen Schule (-»Antiochien; -»Jesus Christus). Von diesem Einfluß wurde er durch „weise und fromme Männer" gerettet, die fast sicher als Origenisten (-•Origenes/Origenismus) zu identifizieren sind (Contra Nestorianos et Eutychianos 3 [ = (CNE)] Prolog, PG 1357 C3-1360 B5 [alle Zitate aus PG 86, wenn nicht anders angegeben]). Um 520 tritt er in Palästina auf, um den origenistischen Mönch Nonnus auf dessen Rückkehr zur Neuen Laura in der Nähe von Tekoa (-»Mönchtum) zu begleiten, aus der Abt Agapetus ihn um 514 als Häretiker ausgewiesen hatte (Cyrillus Skythopolis
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Leontius von Byzanz
176,12-15; vgl. 125,4-15). Wir können dementsprechend die Geburt Leontius' auf nicht später als 500 ansetzen. Im Jahr 531 finden wir ihn im Gefolge des betagten Sabas, des Archimandriten der Lauren Palästinas, auf einer Mission nach -»Konstantinopel. Vor seiner Rückkehr nach Palästina im September 531 verstieß Sabas Leontius aber wegen dessen Origenismus (zusammen mit gewissen ungenannten Schülern -»•Theodors von Mopsuestia) und ließ ihn in Konstantinopel zurück (ebd. 176,3-20). Im selben Jahr schwenkte -»Justinian auf eine Politik der Versöhnung mit den Monophysiten um und brachte 532 ein Gespräch zwischen dyophysitischen und monophysitischen Bischöfen zustande. Möglicherweise war Leontius der „ehrwürdige Mann Leontius, Mönch und Legat der Väter in der Heiligen Stadt [d.h. Jerusalem]", der als Beobachter an den Gesprächen teilnahm, zusammen mit Eusebius, dem Schatzmeister der Hagia Sophia (Innozenz von Maroneia 170,2-7). Jedenfalls scheint mit Eusebius' Hilfe Leontius der Mittelpunkt einer origenistisch-chalkedonischen Partei in der Hauptstadt geworden zu sein, die sich nicht nur mit ihren monophysitischen Gegnern auseinandersetzte (vgl. CNE 1 , 5 - 6 ; SolArgSev; CapTrig), sondern auch mit Neuchalkedoniern, die Chalkedon im Sinne der Christologie -»Cyrills von Alexandrien interpretieren wollten, vielleicht auch mit Vertretern der antiochenischen Tradition (z.B. CNE 1,2-4) und der Lehre des Pseudo-Dionysius Areopagita (CNE 1,7 1300 B13-1301 C5; Evans, Byzantine Studies 7). Um 536 änderte Justinian seinen Kurs und bereitete eine Synode vor, um die Monophysiten aus der Hauptstadt zu vertreiben, was origenistischen Mönchen aus Palästina Gelegenheit bot, als Bittsteller und Synodalbeobachter in die Stadt zu strömen; ihnen schloß sich Leontius an (ACO III; für die Details s. Evans, Christology 157-167). Unter ihnen waren auch Theodor Askidas und Dometian; aufgrund des Einflusses von Leontius und Eusebius wurden sie gegen 540 Bischöfe und vertraten energisch die Interessen der Origenisten (Cyrillus von Skythopolis 188,24-189,9; 191,1 ff. 2 0 - 2 5 ) . Leontius kehrte spätestens 537 nach Palästina zurück; jedenfalls überredete er 540 in Jerusalem Eusebius, der vom Konzil von -»Gaza zurückkehrte, von den monastischen Gegnern der Origenisten Wiedergutmachung zu fordern (ebd. 191,1 ff). Der Erfolg der Origenisten ließ die Mönche an Ephraem, den Patriarchen von Antiochien, appellieren; dies löste die Kampagne aus, an deren Ende die Verurteilung des Origenismus 543 stand. Leontius scheint um diese Zeit nach Konstantinopel zurückgekehrt zu sein, da Cyrillus berichtet, er und Eusebius seien dort 543 gestorben. Wahrscheinlich kurz vor seinem Tod verfaßte Leontius seine Kampfschrift gegen Theodor von Mopsuestia (CNE 3) und gab seine gesammelten Werke heraus. CNE 3 war der „erste Schuß" im neuen Feldzug gegen die Widersacher der Tradition Cyrills von Alexandrien. Er sollte mit der Verurteilung der antiochenischen Schule auf dem Konzil von -»Konstantinopel 553 enden. 2. Werke und Theologie 2.1. Das Corpus Leontianum (Evans, Christology 4 - 7 ; Daley 333 Anm. 2) umfaßt drei, möglicherweise vier Werke. Das erste, die „Sammeledition" (Daley ebd.), die von Leontius selbst zusammengestellt wurde, besteht aus einem Prolog und drei Abhandlungen, denen jeweils ein langes Florilegium folgt (Devreese). Es ist nicht betitelt, wird aber gewöhnlich mit dem Kurztitel der ersten Abhandlung zitiert: Gegen die Nestorianer und Eutychianer (Contra Nestorianos et Eutychianos). Von diesen drei Abhandlungen ist C N E 1 (oder, nach Daleys Nomenklatur, einfach CNE) Leontius' bekanntestes Werk. Es verteidigt die christologische Formel von Chalkedon als Mittelweg (CNE, Prolog 1274 C7-1276 C14) sowohl gegen jene, die Christi zwei Naturen „teilen" oder „trennen" (die „Nestorianer" Leontius'), wie auch gegen jene, die nach der Formel Cyrills von Alexandrien und der späteren Monophysiten Christi zwei Naturen in „eine fleischgewordene Natur des Wortes Gottes" zusammenfallen lassen (die „Eutychianer" Leontius'). Der Grundgedanke des Leontius lautet: Wie Seele und Leib, obwohl ihrer Natur nach radikal verschieden, miteinander vereint sind und ein einziges Wesen, den Menschen, bilden, so ist auch der Gottessohn (der Träger der göttlichen Natur) mit dem Menschen (dem Träger der menschlichen Natur) in Jesus Christus vereint (CNE 1,1 ad fin. 1280 B7-10 passim).
Leontius von Byzanz
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Die zweite Abhandlung in CNE (CNE 2) ist der Dialog gegen die Aphthartodoketen ([Dialogus] contra Aphthartodocetas = CA [Daley]). Er greift den Monophysiten Julian von Halikarnaß an. CNE 3 trägt den Kurztitel Kritik und Triumph über die Nestorianer (Deprehensio et triumphus super Nestorianos = DTC [Daley]). Leontius sucht mit ausgiebigen Zitaten nachzuweisen, daß der Meister der antiochenischen Schule, -»-Theodor von Mopsuestia, der geistliche Vater des Häretikers —»Nestorius gewesen sei. Leontius' zweites großes Werk ist die Auflösung der von Severus von Antiochien vorgebrachten Argumente (Solutio argumentorum a Severo abiectorum = SolArgSev [Evans] oder Epilysis), eine Antwort auf eine monophysitische Kritik an CNE 1. Sie ist CNE 1 als Anhang beigegeben, zusammen mit seinem kurzen dritten Werk: Dreißig Sätze gegen Severus (Capita triginta contra Severus = CapTrig [Evans]). Schließlich schreibt eine einzige Handschrift (V) Leontius eine Abhandlung gegen die Betrügereien der Apollinaristen zu (Adversus fraudes Apollinaristarum = AdvFraudes [Evans]): Ihr Inhalt (fast zur Gänze Apollinaristexte, wie sie orthodoxen Autoren unterschoben wurden) erlaubt uns nicht, den Autor positiv zu identifizieren. 2.2. Leontius' Christologie wird zur Verteidigung der christologischen Formel des Konzils von Chalkedon benutzt: Jesus Christus ist sowohl „eine Hypostase" wie auch „in zwei Naturen". Unsere Quelle ist CNE, ergänzt durch SolArgSev. In Leontius'Darstellung dieser Christologie können wir zwei Schritte identifizieren, den ersten in CNE 1,7 und den zweiten in CNE 1,4. In CNE 1,7 legt Leontius das richtige Verständnis seiner Formel für die Vereinigung von Logos und Mensch in Christus fest: „Vereinigung nach dem Wesen" (ivcooiq Kax' ovaiav). Sein Ziel ist, „den Unterschied zwischen Dingen, die wesenhaft geeint sind und sich [doch] nicht verändern, und solchen, deren Natur es ist, sich auf Grund der Einung zu verändern", darzulegen (1301 D l - 3 ) . Sein Hauptargument lautet: Nur eine dyophysitische Interpretation der wesenhaften Vereinigung kann einen „Austausch der Attribute (dvxiöooig rcöv ióltüfiárcov; communicatio idiomatum) zwischen Logos und Mensch in Jesus Christus sicherstellen. Sie allein kann erklären, wie Logos und Mensch in ihrer Vereinigung in Christus trotzdem „in ihrer beständigen und unvermischten Eigenheit bleiben" (1304 C6-7 ¿v xfj fiovifup eavxdjv Kai áauyxúxq) idióxrjxi peívavxa), einfacher: in einer Einung, die das Wesen beider bewahrt. Dieses Argument verteidigt deutlich das chalkedonische Dekret, nach dem Christus „in zwei Naturen" ist. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang Leontius' Vorrede zu seiner Darlegung: Sie enthält eine Analyse des Seins (1301 D-1304 A 14) oder genauer, „alles Seienden" (1301 D5: návxa xa övxa). Leontius stellt die Ontologie dar, die seiner Christologie zugrunde liegt. Er führt den Begriff der „doppelten Beziehung" (1304 A 4 - 5 xrjv öixxrjv axtaiv) der Dinge ein. „Alle Dinge sind miteinander verbunden durch die universalen gemeinsamen Prädikate (raff
ica9' ÖXOV Koivóxqoi) und wieder getrennt durch die spezifischen Unterschiede (raí? eiSonoioít; Sliupopait;). Die Definition dieser Einungen und Unterscheidungen ist zweifach: Manche [Dinge] sind geeint nach der Art (xoiq eiScffi) und unterscheiden nach der Hypostase (raff ónooxáocoiv), andere sind verschieden nach der Art, aber geeint nach der Hypostase" (1301 D 5 - 7 ; D 10-1304 A 1).
Für Leontius bezeichnen also Usia und Hypostasis nicht die Dinge oder, wie Otto (Rezension) behauptet, „Subjekte", sondern sie sind Bestimmungen der Vereinigungen und Unterschiede der Dinge. Ferner stehen sie in einem Korrelationsverhältnis: wenn eine Bestimmung (z. B. Hypostasis) von der einen Beziehung ausgesagt wird (z. B. Unterscheidung), dann muß die andere (in diesem Fall Usia) von der anderen Beziehung ausgesagt werden (in diesem Fall von der Vereinigung). Diese Nebeneinanderstellung zweier Gegensatzpaare (Vereinigung/Unterscheidung; Hypostasis/Usia) ist die Grundlage dessen, was wir Leontius' Theorie vom Austausch der Beziehungen nennen können (s.u.). Genauer formuliert heißt das (CNE 1,1 1280 A 3 - 1 0 ) : Usia bezeichnet das Allgemeine an den
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Leontius von Byzanz
Vereinigungen und Unterscheidungen der Dinge; d. h. sie definiert die Existenz der Dinge (1280 A 5 f TOV xoö elvai Xóyov). Die entsprechende Definition von Hypostasis lautet: Sie bezeichnet das Individuelle an den Vereinigungen und Unterscheidungen der Dinge, d. h. sie definiert deren Eigensein (A 6 f tov TOV KÜ9' éauróv elvai Xóyov). In C N E 1,4 hat Leontius bereits die beiden Denkschritte vollzogen, die sich aus seiner Darstellung der ,wesenhaften Einung' in C N E 1,7 mit innerer Logik ergeben. Leontius stimmt hier mit seinem Gegner darin überein, einen hypostatischen Unterschied zwischen Logos und Mensch zu postulieren, betont aber, daß der hypostatische Unterschied nicht unvereinbar ist mit ihrer hypostatischen Vereinigung, sondern diese gerade erfordert. Zunächst legt Leontius als Grundlage seiner Argumentation seine Theorie des Austausches der Beziehungen dar. „ M a n kann feststellen, daß die Gesamtheit der Beziehungen (xtjv Koivcoviav tcöv OXEOECOV) von Dingen verschiedener Natur (rcöv sxEpoEiöcöv) zu Dingen derselben Natur (ra óAoeiSfj) in einem Wechselverhältnis (énaXXáxxouaai) steht. Was die Dinge derselben Natur mit denen verschiedener Natur verbindet, trennt sie untereinander, und was sie von den Dingen verschiedener Natur unterscheidet, verbindet sie miteinander" ( C N E 1 , 4 1 2 8 5 D 9-1288 A 4). Leontius von Jerusalem (Contra Nestorianos 2,13 1561 C 13-D 8) hat, wie Gray (130) bemerkt, dieses Prinzip deutlich erkannt und verworfen. Auf dieser Grundlage erklärt Leontius von Byzanz in aller Kürze, wie Jesus Christus aus einer hypostatischen Vereinigung hervorgeht. Damit bringt er auf seine Weise die chalkedonische Lehre von der ,einen Hypostase' zur Geltung. In Christus sind Logos und Mensch vereint. —»Logos und Mensch sind jeweils mit Wesen derselben Natur nach der Usia vereint (der Logos mit dem Vater, der Mensch mit anderen Menschen). Aus dem Prinzip des Austausches der Beziehungen ergibt sich, daß für Logos und Mensch, da sie eine verschiedene Natur haben, nur eine hypostatische Einung, das Korrelat zur Einung nach der Usia, in Frage kommt (CNE 1,4 1288 C 7 - 1 4 ; vgl. D 9 - 1 1 ) . Jedes der hypostatisch vereinten Dinge ist in bezug auf seine Natur, was die wissenschaftliche Literatur eine „enhypostasierte N a t u r " nennt (Mönchtum). Wie bei anderen Versuchen, zönobitische und anachoretische Praxis miteinander in Einklang zu bringen, sorgte man nach dem ägyptischen Modell für getrennte Zellen; diese waren vermutlich für jene Mönche reserviert, die man für so erfahren hielt, daß sie die größere Isolation für die Kontemplation nutzen konnten (Eucherius, De laude heremi 42). Zu einer Zeit, in der Bewegungsfreiheit der Askten üblich war, ließ sich Honoratus nach langer Wanderung schließlich auf Lerins nieder, wie es letztlich auch Antonius getan hatte (Hilarius, Vit. Hon. 10-15; Ennodius, Vit. Ant.: CSEL 6 , 3 9 1 - 3 9 3 ) . Daß Eucherius Lerins als idealen Ort für die Verwirklichung des asketischen Ideals pries, scheint zu bedeuten, daß man das Prinzip der Stabilität akzeptierte, das erst später obligatorisch wurde (De laude heremi 4 2 - 4 3 ) . Hier wie anderswo auch war die monastische Berufung der Erfüllung seelsorglicher Pflichten untergeordnet: Selbst Maximus, der offensichtlich aus asketischen Gründen die Bischofswürde von Frejus ablehnte, nahm Reji an (Eusebius Gallicanus, hom. 35,8; vgl. Augustin, ep. 48,2). Von Anfang an waren die Mönche von Lerins am kurzen H a a r und groben Gewand zu erkennen (Hilarius, Vit. H o n . 8,2). Wie im Falle des Eucherius, so scheint man auch für andere verheiratete Männer besondere Vorkehrungen getroffen zu haben: Sie wurden zusammen mit ihren Ehefrauen aufgenommen und verzichteten auf Grund gegenseitiger Absprache auf die eheliche Gemeinschaft. Persönlicher Besitz wurde anscheinend beim Eintritt aufgegeben; der gemeinschaftliche Besitz wurde vom Abt verwaltet, der für das Kloster und für die Almosen sorgte (Vit. Hil. 6). Zweifellos war Lerins durch seine adligen Mitglieder reich ausgestattet, so d a ß Arbeit, z. B. das Abschreiben von Büchern, vielleicht mehr als Absicherung gegen Müßiggang denn aus wirtschaftlicher Notwendigkeit geleistet wurde (vgl. Cassianus, Inst. coen. 5,39; Sulpicius Severus, Vit. Mart. 10,6). Von Hilarius, der die Tradition von Lerins im Kloster in Arles beibehalten haben soll, wird allerdings berichtet, d a ß er sich nicht nur mit dem Knüpfen von Netzen beschäftigte, was zum Hauptziel des Mönchs, der Kontemplation, paßte, sondern daß er seine Mönche auch mit Garten- und Weinbau beschäftigte (Vit. Hil. 11). Solche Tätigkeiten mögen auch zu den Pflichten der Mönche von Lerins gehört haben (Vit. Hon. 18,1). Wir wissen nicht, wie der Tag zwischen Arbeit, Gebet und Schlaf aufgeteilt war, oder wie die Mahlzeiten aussahen. Faustus, ein häufiger Gast auf Lerins, nachdem er Bischof von Reji geworden war, „gönnte sich", wenn er sich wieder der Inseldisziplin unterwarf, „kaum Ruhe im Schlaf oder gekochte Speise, sondern führte ein Leben der Selbstverleugnung und bereicherte sein Fasten mit regelmäßigem Psalmengesang" (Sidonius Apollinaris, Carmen 16, 106-108). Predigten, ein fester Bestandteil des Gemeinschaftslebens, wurden manchmal von berühmten ehemaligen Mönchen, z. B. Faustus oder später Caesarius, gehalten (ebd.
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1 0 9 - 1 1 5 ; Caesarius von Arles, Sermo 236). Da Honoratus und seine Nachfolger Priester waren, muß es eine feste liturgische Praxis gegeben haben. Aber außer Hinweisen auf Fasten und Vigilien, Gebet und Psalmodie ist davon wenig bekannt (Hilarius, Vit. Hon. 18,3; 38,1; Eucherius, De laude heremi 37). Caesarius, selbst früher Mönch von Lerins, hat aber „in großem Umfang" den Brauch der Insel bei der Feier der Hören bewahrt (-•Stundengebet); wir wissen freilich nicht, mit welchen Abänderungen (Caesarius von Arles, Regula ad virgines 66). Cassianus, der die großen Unterschiede in der zeitgenössischen Praxis um 425 bespricht, erwähnt zweimal „gewisse Mönche" (vorausgesetzt, er meint in beiden Fällen dieselben), die 18 Psalmen beim Nachtoffizium singen, dann je sechs zur Terz, Sext und Non (Inst. coen. 2,2). Da dies genau mit den Empfehlungen des Caesarius übereinstimmt, könnte sich Cassianus hier auf die Praxis von Lerins beziehen, die später, zumindest in großen Zügen, von Caesarius von Arles übernommen wurde.
3. Geistliches und kulturelles
Leben
Sich nach Lerins zurückzuziehen, bedeutete für die Mönche einen radikalen Bruch mit den weltlichen Bedingungen. Oft zog dies einen Verlust an Ansehen unter den Standesgenossen nach sich. Salvianus verteidigte seinen Schritt, indem er irdische und ewige Werte einander gegenüberstellte (Ep. 4). Fast genau so hatte Paulinus von Nola auf die Kritik des Ausonius geantwortet. Paulinus war aber nur einer von mehreren Aristokraten, für die sich das streng geregelte Asketendasein nicht viel anders darstellte als der traditionelle Aufenthalt in der Abgeschiedenheit der Landvilla. Vinzenz beschreibt so seine Existenz in Lerins im Verhältnis zu seinem früheren Weltleben zumindest teilweise als den traditionellen Gegensatz zwischen der Abgeschiedenheit des Lebens auf dem Landgut und den Lasten des Lebens in der Stadt (Commonitorium 1,4). Eucherius kann den Wechsel ins Kloster mit dem Rückzug aus dem öffentlichen Leben in die Einsamkeit philosophischer Kontemplation vergleichen (De laude heremi 3 2 - 3 3 ) . Auch wenn eine solche Sprache vorrangig apologetischem Zweck dient, ist es den Autoren von Lerins wahrscheinlich wichtig gewesen, ihre christliche -»Askese in mancher Hinsicht als eine Fortsetzung ihrer klassischen Vergangenheit zu verstehen. Deshalb greift nicht nur Eucherius in De contemptu mundi ausgiebig über seine Bekehrung zu einem asketischen Christentum auf Augustins hochkultivierten Bericht asketischer Lebensführung in den Confessiones zurück; die Vita Honorati des Hilarius und die anonyme Vita Hilarii sind in ähnlicher Weise von Augustin abhängig. Während ihre Kenntnis des Griechischen gänzlich aus zweiter Hand stammt, sind die Autoren von Lerins wohlbewandert in der lateinischen Literatur. Das Vergnügen, mit dem Faustus auf seine klassische Erziehung zurückblickt und die Leichtigkeit, mit der er eine klassische Anspielung aufnimmt, scheinen typisch zu sein. Die Reinheit des Latein eines Eucherius und Faustus ist für ihre Zeit bemerkenswert. Auf der einen Seite ist in De laude heremi von Eucherius die freie Adaption literarischer Muster klar zu erkennen - es werden Struktur- und Stilelemente des klassischen Panegyricus verwendet - , auf der anderen Seite zeigt die meisterhafte Verarbeitung patristischer Exegese zugleich das hohe Ausmaß, in dem die Spiritualität von Lerins durch das Studium der heiligen Schrift genährt wurde. So schuf Eucherius in der Nachfolge des Cassianus und besonders des -»Hieronymus elementare Hilfsmittel für die allegorische und wörtliche Schriftauslegung, die Formulae und Instructiones. Er widmete sie seinen Söhnen Veranus und Salonius, während diese anscheinend noch Unterweisung auf Lerins erhielten. (Die Salonius zugeschriebenen Commentarii in parabolas Salomonis et in Ecclesiasten sind nicht authentisch.) Daß die Spiritualität von Lerins stark durch Cassianus und griechische Traditionen, die er dem Westen vermittelte, beeinflußt war, zeigen nicht nur Cassianus' Widmung des zweiten Teils seiner Collationes (11-17) an Honoratus und Eucherius auf Lerins und Eucherius' eigene, verloren gegangene Sammlung von Auszügen aus Cassianus, sondern auch verschiedene Beispiele einer spezifischen Abhängigkeit, wovon einige bereits erwähnt wurden. Das Leben des Mönches, das sich bei Antonius oder -»Martin von Tours
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Lerins
als ein ständiger Kampf gegen die -»Dämonen darstellt und durch Wunder gekennzeichnet ist, wird jetzt, wie bei Cassianus, stärker identifiziert mit einem inneren Kampf gegen die Leidenschaften. Diese Auffassung steht der klassischen Vorstellung, daß Selbstkontrolle das Geheimnis des glücklichen Lebens sei, vielleicht ein wenig näher, obwohl man sich den Kampf noch immer in Begriffen des Dämonischen vorstellt. Es ist bezeichnend, daß die einzigen Wunder, die Honoratus zugeschrieben werden, die seines eigenen tugendhaften Lebens und seine Erfolge bei der Bekehrung anderer zu einem moralischen Leben sind (Hilarius, Vit. Hon. 37,1; 17,6; Eusebius Gallicanus,Hom.72,ll). Das klassische Ideal der Mäßigung, das oft mit Enthaltsamkeit verbunden war, war nicht so streng wie die von den Mönchen geübte Askese; es war aber ein Prinzip, das Cassianus hoch schätzte, weil es Extreme vermeiden half, für die die monastische Entsagung anfällig war. Wenn also Sidonius Apollinaris die rhetorische Behauptung aufstellen kann, die Strenge der Selbstverleugnung auf Lerins komme jener östlicher Asketen gleich, so fehlt doch dem Heiligkeitsideal, das Eucherius zeichnet, völlig das Exzeßhafte und jede Zurschaustellung (Sidonius, Ep. 8,14,2; Eucherius, De laude heremi 43). Selbst auf Lerins war für Eucherius die Wiedergewinnung des paradiesischen Zustands des Menschen in diesem Leben nur teilweise möglich (De laude heremi 27; vgl. Augustin, De doctrina christiana 1,39,43). Er bewertet die geistlichen Erfolge des asketischen Lebens aber positiv (De laude heremi 42). Faustus, der zum Hauptkämpfer im Semipelagianismus wurde, (-+Pelagius/Pelagianischer Streit), verteidigte scharfsinnig den menschlichen Willen gegen Augustin. Wie früher Cassianus (Collatio 13), so mag auch Faustus sich bemüht haben, die sittliche Anstrengung, die vom Mönch gefordert ist, zu rechtfertigen. Bekanntlich verringerte Augustins Prädestinationslehre jedoch nicht das starke asketische Element in seiner Theologie; von diesem waren die Führer von Lerins deutlich beeinflußt. 4.
Nachwirkungen
Die geographische Verteilung der Städte, für die Lerins Bischöfe stellte, wie auch die der Klöster, die von Lerins aus gegründet oder beeinflußt waren, zeigt, welche Wirkung das Inselkloster im 5. Jh. und später auf die Kirche ausübte: Sie erstreckte sich durch das Rhonetal bis ins nördliche Gallien. Von Lerins aus besetzte Bischofssitze waren u.a. Arles (Honoratus, Hilarius, Caesarius), Frejus (Theodor), Reji (Maximus, Faustus), wahrscheinlich auch Vence (Veranus), Lyon (Eucherius), Genf (Salonius) und Troyes (Lupus). Kein anderes monastisches Zentrum im zeitgenössischen Gallien (-»Frankreich), z.B. Tours oder Marseille, hat in auch nur entfernt vergleichbarer Dichte und Geschlossenheit ein großes Gebiet mit Bischöfen versorgt. Obwohl strenggenommen nicht zugelassen, waren Mönchs-Bischöfe doch keineswegs ungewöhnlich, während Bischöfe aus dem Adel oft als erfolgreiche Leiter ihrer Gemeinden geschätzt wurden (Caelestinus, Ep. 4; Sidonius Apollinaris, Ep. 7,9,9-19). Solche Männer wie Hilarius in Arles oder Faustus in Reji brachten zweifellos viele nützliche Eigenschaften für ihre pastoralen Verpflichtungen mit, nicht zuletzt eine asketische Formung, die ihre Gemeinden kaum unbeeinflußt gelassen haben kann (Vit. Hil. 11; Sidonius Apollinaris, Ep. 9,3,4). Hilarius' Predigt über das Leben des Honoratus, die er in Arles gehalten hat, und Predigt 35 in der Sammlung des Eusebius Gallicanus, die wahrscheinlich von Faustus, Maximus' Nachfolger sowohl als Abt von Lerins als auch Bischof von Reji, zu Ehren Maximus' in Reji gehalten wurde, stellen ein asketisches Modell vor Augen, das vielleicht typisch ist für Lerins, da es auf Extravaganz verzichtet und die Kultivierung der Tugend betont. Eucherius' Passio Agaunensium Martyrum zeigt, wie Märtyrerakten zu einem weiteren Mittel wurden, die asketischen Werte der Selbstverleugnung und des siegreichen Kampfes im Volk bekannt zu machen, wobei gleichzeitig christliche Loyalität zum römischen Staat empfohlen wurde. Ab und zu schlugen Bischöfe ernsthaften Suchern, die weiterhin in der Welt leben wollten, aber bereit waren, während der ruhigen Nachtstunden bis zur Terz sich regelmäßig dem Gebet und der Bibellesung zu widmen, eine modifi-
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zierte F o r m d e r A s k e s e v o r . W e i t e r h i n w u r d e e m p f o h l e n , G ä s t e n u r a n z w e i T a g e n in d e r W o c h e zu e m p f a n g e n , m i t d e m Z u g e s t ä n d n i s , d a ß n u r a n j e d e m z w e i t e n T a g g e f a s t e t w e r d e n sollte, m i n d e s t e n s i m W i n t e r ( F a u s t u s , E p . 6). S a l v i a n s Ad Ecclesiam z e i g t , w i e der Kampf gegen die H a b s u c h t , so oft das T h e m a asketischer Predigt, eine unerbittliche K o n k r e t i s i e r u n g e r f a h r e n k o n n t e im B e s t e h e n d a r a u f , d a ß w o h l h a b e n d e C h r i s t e n i h r e gesamtes Eigentum d e r Kirche v e r m a c h e n sollten. Viele Predigten, die Caesarius, Eusebius Gallicanus u n d Valerian zugeschrieben w e r d e n , spiegeln gleichartige Interessen wid e r ; i h r e V e r b i n d u n g m i t L é r i n s ist a b e r n i c h t s i c h e r . Die früheste monastische G r ü n d u n g von Lérins aus w a r Arles, begonnen u m 427 d u r c h H o n o r a t u s u n d f o r t g e s e t z t v o n H i l a r i u s (Vit. H o n . 3 , 3 - 4 ; V i t . H i l . 10). S i d o n i u s A p o l l i n a r i s b i e t e t , als e r d i e R e f o r m d e s K l o s t e r s z u C l e r m o n t n a c h d e n P r i n z i p i e n v o n L é r i n s o d e r G r i g n y (bei V i e n n e ) b e f ü r w o r t e t e , e i n e n d e u t l i c h e n B e w e i s d a f ü r , d a ß u m 4 7 7 d i e T r a d i t i o n v o n L é r i n s n o r m a t i v g e w o r d e n w a r ( E p . 7,17). D i e „ V ä t e r v o n L é r i n s " w a r e n z u s a m m e n m i t Basilius, P a c h o m i u s u n d C a s s i a n u s g e g e n 5 2 1 in d e n J u r a k l ö s t e r n t ä g l i c h e L e s u n g g e w o r d e n (Vit. P a t r . I u r . [111,23] 174). D i e n o r m a t i v e R o l l e ö s t l i c h e r M o d e l l e u n d d e r g e m e i n s a m e B e i t r a g v o n C a s s i a n u s u n d L é r i n s , sie in e i n e r d e n w e s t l i c h e n E r f o r d e r n i s s e n a n g e p a ß t e n F o r m z u g ä n g l i c h zu m a c h e n , k ö n n t e k a u m d e u t l i c h e r ausgedrückt werden. Quellen Caesarii Arelatensis Sermones, 2 Bde., hg. v. G. Morin, 1953 (CChr.SL 103,104). - Ders., Regula ad Virgines, hg. v. de Vogüe/J. Courreau, 1988 (SC 345). - Johannis Cassiani Collationes, hg. v. F. Pichery, 3 Bde., 1955-1959 (SC 42.54.64). - Ders., De Institutis, hg. v. S.-C. Guy, 1965 (SC 109). Coelestini I Papae Epistulae et Decretae: PL 5 0 , 4 1 8 - 6 1 8 . - Concilia Galliae, I, anno 314-506, hg. v. C. Munier, 1963 (CChr.SL. 148). - Magni Felicis Ennodii Opera, hg. v. W. Härtel, 1882 (CSEL 6). Eucherii Lugdunensis Opera, I, hg. v. C. 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Lernen
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James S. Alexander
Lernen 1. Zum Begriff des Lernens und zum pädagogisch-anthropologischen Zusammenhang 2. Lernen im Zusammenhang von Theologie und Kirche 3. Zusammenfassung (LiteraturS. 19)
1. Zum Begriff des Lernens und zum pädagogisch-anthropologischen
Zusammenhang
1.1. Daß der Mensch lernfähig ist, benennt Bedingung und Möglichkeit der Tatsache, daß aus einem (auf Lernen verwiesenen),Naturwesen' ein selbstreflexives Subjekt werden kann. In dieser Ausgangsthese stecken eine Reihe von Implikationen, mit deren Offenlegung zugleich wesentliche Merkmale des Lernverständnisses skizziert werden können, über die in einem breiten Trend gegenwärtiger erziehungswissenschaftlicher und pädagogischpsychologischer Forschung (vgl. Weinert: Wörterbuch 389 ff; Skowronek: Enzyklopädie 1, 498ff; Weidenmann: Enzyklopädie 4,160ff; Weidenmann/Krapp) mindestens cum grano salis Konsens besteht: — Lernen ist ein differenzierter Vorgang, der sich z. B. im Modus der Erziehung, in der Form des Unterrichtetwerdens, im Wege der Verarbeitung von Erfahrungen usw. vollziehen kann. Lernen ist also der Oberbegriff für unterschiedliche Prozesse (-»Erziehung, -»Bildung, Sozialisation), in denen allen es um Identitätsbildung, um Aneignung und Durchdringung von Welt, um Individuation und Sozialisation und darin um Erwerb von Handlungskompetenz und um Bewußtseinsbildung geht (vgl. Handbuch der Sozialisationsforschung). — Damit bewegen wir uns im Umkreis eines Lernverständnisses, das in Deutschland seit den fünfziger Jahren sowohl in Auseinandersetzung mit anglo-amerikanischen Lerntheorien als auch mit russischen Aneignungstheorien ausgearbeitet worden ist; noch immer trägt Heinrich Roths Problembeschreibung: „1. Lernen bedeutet die Chance, die Fertigkeiten, Leistungsformen, Verhaltensweisen, Könnensformen in und an der Umwelt aufzubauen, in die man hineingeboren wird. 2. Lernen bedeutet weiterhin, daß ein solches Wesen notwendigerweise auf eine Umwelt hin ,entworfen' gedacht werden muß, die diesen Lernprozeß in ihre Obhut nimmt. Wenn der Mensch auf Lernen hin ,entworfen' ist, dann ist er auf Lehrende und Erziehende angewiesen, dann ist er prinzipiell ein zu erziehendes Wesen, ,der erste Freigelassene der Schöpfung, nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur, wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung', wie es schon Herder formuliert hat" (Anthropologie 1,117).
- So gesehen, ist es folgerichtig, wenn in neueren Lernverständnissen regelmäßig darauf verwiesen wird, daß Lernen bedeutet: Der Mensch ist veränderungsfähig. - Damit ist zugleich auch benannt, worin die entscheidenden Lernbarrieren zumeist ihren Grund haben: in dem Beharrungsvermögen des konventionell Gelernten, in den Schwierigkeiten des Umlernens, in den vermeintlichen Sicherheiten der Lerntraditionen, in der Angst vor Veränderung. Je älter der Mensch ist, der etwas lernt oder lernen soll, desto härter kann die Forderung werden, die Sicherheit des Gewohnten gegen „Neues",
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bisher Unbekanntes einzutauschen, den Anspruch „Neues", neue Sichtweisen, neue Bewertungen überhaupt wahrnehmen zu können, gelernte Sicherheiten aufgeben zu sollen. - Der Mensch, der lernt, ist keine tabula rasa, sondern er ist einer, der immer schon eine ,Lerngeschichte' hinter sich hat. Also gehört zum Lernen unvermeidlich: Gelerntes korrigieren, ggf. auch destruieren müssen, in anderen Fällen Neues mit früher Gelerntem in Zusammenhang bringen müssen oder in wieder anderen Fällen Gelerntes erweitern bzw. fortsetzen. Jede Lernsituation hat also ihre Voraussetzungen; vieles Lernen ist Umlernen (Meyer-Drawe), und die Lernschwierigkeiten innerhalb einer Gruppe, in der alle ,dasselbe' lernen sollen, bestehen meist darin, daß es gar nicht für alle .dasselbe' ist, weil jeder eine andere Lerngeschichte (Schulze), also andere Voraussetzungen mitbringt. - So verstandene Lernprozesse können niemals nur Sache des Intellekts sein. Sie beanspruchen den Menschen in allen Wahrnehmungs- und Reaktionsmöglichkeiten, rational ebenso wie affektiv (-»Affekt; zur generellen Fundierung des Lernens durch Verhalten und Wahrnehmung vgl. bes. Merleau-Ponty). Lernschwierigkeiten entstehen auch dadurch, daß die Lernhilfen (z. B. des Lehrers) einseitig sind, also auch den Lernenden nur einseitig motivieren können. (Zu Methoden und Medien vgl. insgesamt: Enzyklopädie 4.) 1.2. Mit der Aufhellung einiger Aspekte des Lernvorgangs und mit der anthropologischen Bestimmung der Angewiesenheit des Menschen auf seine Lernfähigkeit (MeyerDrawe) ist nur die eine Seite des Problems beleuchtet. Sie ist wichtig genug, weil an ihr deutlich wird, daß es vermutlich keinen .Bereich' des geistigen Lebens gibt, in dem nicht zu lernen wäre (also nicht nur in institutionalisierten und damit unvermeidlich eingeschränkten Unterrichtsveranstaltungen!) - und Lernen ist dabei im Verständnis der voranstehenden Hinweise gemeint, also als Instandsetzung des Menschen zur Veränderung: in wechselnden Lebenssituationen, in verschiedenen sozialen Kontexten, angesichts unterschiedlicher Wahrnehmungen und zu verarbeitender Erfahrungen, im Zusammenhang korrekturbedürftiger früherer Bewertungen oder Einsichten oder Festlegungen'. Aber die andere Seite des Problems ist damit noch nicht geklärt: Wozu wird denn gelernt? Mit welchen Zielen? Und mit welchen Interessen leiten die Lehrenden die Lernenden an? Die Frage überschreitet die Grenzen (psychologischer) Lerntheorien. Aber nur wenn sie gestellt wird, kann die technokratisch-inhumane Verwendung lernpsychologischer Einsichten behavioristischer Provenienz gebannt werden. Die Fragestellung führt vor den umfassenden Horizont der Erziehungstheorien (-+ Erziehung) und allgemeiner didaktischer Begründungszusammenhänge (-»Didaktik). Ich beschränke mich darauf, das Verständnis der skizzierten Problematik an Heinz-Joachim Heydorns erziehungsphilosophischer Position (vgl. Bildungstheoretische Schriften 111,63 -94) zu exemplifizieren. Die Bildung des Menschen durch institutionalisiertes Lernen und Erzogenwerden - in Schule oder Elternhaus oder Kirche — verweist für Heydorn auf einen tiefen Antagonismus. Einerseits reproduziert sich in solchen Prozessen immer die bestehende Gesellschaft in ihrem jeweiligen Ist-Zustand. Die Lernenden als die Betroffenen werden mithin zu Objekten. Andererseits kommen in demselben Prozeß die Lernenden zu sich selbst, mit der Chance, Subjekte zu werden, die den Ist-Zustand in ihrer Zukunft verändern können. Bildung - worauf Lernen zu beziehen ist - ist jener ambivalente Prozeß von Anpassung und Kritik. Macht man sich diesen Antagonismus allen Lernens klar, dann wird die oben gestellte Frage nach dem Wozu, nach Zielen und Interessen des Lernens nicht mit probaten Formeln zu beantworten sein, sondern die Antwort kann nur darin liegen, daß das dialektische Verhältnis zwischen der Reproduktion des Bestehenden und der Chance der lernenden Subjekte ständig offenzulegen ist. Es ist wesentlicher Teil jeder Lernbegründung, je im konkreten Zusammenhang mehr oder weniger einlösbar, weil nur so die Chance des lernenden Subjekts gewahrt wird, seinen Weg gehen zu können. Für Lehrpläne jeder Art und die Begründung ihrer Inhalte, für die -»Erwachsenenbildung (vgl. Lange; Lott; Lu-
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ther) oder z.B. für .Lernangebote' in der Predigt dürfte der genannte Antagonismus ebenso relevant sein wie für Zielsetzungen in der Frömmigkeitserziehung oder der christlichen Elementarerziehung (vgl. Mette). Heydorn faßt zusammen: „Erziehung und Bildung sind Teil eines großen Versuchs, den Menschen an das Licht zu bringen, ihn im zerstörten Gesicht zu entdecken. Das ist Vorstoß in ein Reich ungehobener, verschütteter Möglichkeiten. Pädagogik wird zum unerhörten Experiment; der Mensch ist an der Oberfläche seiner Geschichte eben erst erkennbar. Aufgabe der Erziehung ist es, sein Geäder aufzudecken, seine vielfältige Bedingung zu erspüren, in seine Not einzukriechen; nur so wird konkrete Liebe möglich... Inmitten der Paradoxie will sie den Menschen zu seiner Verantwortung freimachen, deckt sie den Widerspruch auf und will über ihn hinaus... Es ist kein Zweifel, daß der Religionsunterricht, solange ihn die Gesellschaft noch an den Schulen für tunlich hält, hier eine Möglichkeit gewinnt, falls sie wahrgenommen werden sollte: In ihm kann sich der Mensch zum Gegenstand werden, in widersprüchlicher Freiheit erfahren, ohne daß die Gesellschaft den Inhalt im Vorwege festlegt" (Bildungstheoretische Schriften 111,88 f).
2. Lernen im Zusammenhang
von Theologie
und
Kirche
Lernen in bezug auf Inhalte des Glaubens oder Lernen im Lebenszusammenhang der christlichen Gemeinde stellt prinzipiell vor keine anderen Probleme als Lernen überhaupt. Erst recht gilt, daß der in 1.2 formulierte Antagonismus ein Grundproblem allen Lernens in der Geschichte der Kirche darstellt. Vielleicht muß man noch schärfer zuspitzen: Daß in der Kirche quer durch die Geschichte nur allzu häufig die Tendenz zu beobachten ist, Überkommenes zu reproduzieren, ist Ausdruck einer geringen Lernbereitschaft. Hans-Dieter Bastian hat schon vor Jahren von dem „dumpfen Wiederholungszwang" im Blick auf den Lehrbetrieb der Kirche in Unterricht, Gottesdienst und Predigt gesprochen. Dieser Wiederholungszwang ist die spezifische Gefahr einer Institution, die ihr Selbstverständnis vornehmlich traditionsbezogen — und eben nicht im Sinne von Lernen, Umlernen, Verändern - artikuliert. Um so bemerkenswerter sind Neuansätze in Theologie und Kirche, in denen das Lernen einen eigenen Stellenwert und ein neues Verständnis gewinnt. 2.1. Es ist alles andere als zufällig, daß die vor völlig neue Situationen, Probleme und Zusammenhänge gestellten Kirchen in der DDR sich programmatisch als ,.Lerngemeinschaft" verstehen. Ausgehend von den für die Christenlehre der Kinder und Jugendlichen und den für die Jugendweihe-/Konfirmationsproblematik notwendig gewordenen Klärungen, hat sich (unter dem Druck der Situation) die Thematik des Lernens unausweichlich auf das Gesamtverständnis von Kirche ausgeweitet. Dies ist neuartig. Lernen bekommt als Signum der Existenz von Kirche ekklesiologische Qualität. Gleichzeitig wird man dabei in vielen Anläufen, wie sie sich in Synodenpapieren und Ausarbeitungen von Kommissionen spiegeln, gewahr, wie groß die Lernbarrieren in der Kirche sind. Ulrich Mönch spricht von der „Fragescheu und der Antwortsucht von Theologen und Laien" und stellt fest: „Ängste blockieren die Frage- und damit die Lernbereitschaft, auch in der Kirche" (Kirche als Lerngemeinschaft 96). Deutlicher noch, weil explizit auf die kirchlichen Institutionen bezogen, formuliert Horst Kasner vor der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen der DDR 1974: „Können wir davon ausgehen, daß die Kirche als soziales System aufgrund ihrer Umwelterfahrungen und anhand der biblischen Tradition über sich selbst und ihre Aufgaben in der Gesellschaft zu lernen willig und fähig ist? Auf den kürzesten Nenner gebracht: Sind die Landeskirchen willig und fähig, ihr traditionelles Verhaltensrepertoire zu erweitern und zu verändern? Die Frage ist keineswegs schon dadurch beantwortet, daß man auf biblisch-theologische Sachverhalte verweist, etwa darauf, daß der Christ nach neutestamentlichem Verständnis in seinem Verhältnis zu Jesus Christus ein ständig Lernender, ein Jünger' ist und die Buße als Sinnes- und Verhaltensänderung zum Grundverständnis des christlichen Glaubens gehört... Wir laufen Gefahr, mit anspruchsvollen theologischen Aussagen die erhebbare kirchliche Praxis zu verschleiern. Wir laufen Gefahr, im Glänze theologisch abstrakter Solldefinitionen - die Kirche ist der Leib Christi - zu übersehen, wie nachhaltig unser institutionalisiertes Kirchentum von gesellschaftlichen und politischen Leitbildern der Vergangenheit bestimmt ist... Von daher besteht wenig Veranlassung, die Lernbereitschaft und
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Lernfähigkeit in der Kirche nennenswert hoch zu veranschlagen" (Kirche als Lerngemeinschaft 101 f).
2.2. In gedanklicher Parallelität dazu sind in der BRD Ernst -»Langes Beiträge zur „Bildung als Problem und Funktion der Kirche" zu sehen. Über der häufigen Zitierung seines Erwachsenenbildungskonzepts als „Sprachschule der Freiheit" wird leicht übersehen, daß Langes Programmatik über die Erwachsenenbildung weit hinausweist. Er fordert nicht nur eine „Didaktisierung der Theologie" insgesamt, sondern zugleich eine „umfassende Didaktisierung des kirchlichen Handelns" (189). Nimmt man den mißverständlichen Begriff der „Didaktisierung" als theologischen Erkenntnisimpuls und als Vermittlungsaufgabe, so kehrt zugleich jene Zielvorstellung wieder, die wir in Heydorns Antagonismus-These kennengelernt haben: „Es ist zu fragen bei allen kirchlichen Handlungsformen, w o sie die religion civile in ihrer Zweideutigkeit einfach rechtfertigen, ohne Kritik, ohne Hinterfragung und Problematisierung, wo sie also Menschen in ihrer Freiheitsverweigerung einfach bestätigen oder w o sie mindestens die Chance bieten, Menschen im Rahmen ihrer jeweiligen Belastbarkeit in Bewegung zu bringen, Lernhemmungen abzubauen, Lernfreude zu entfalten, einen konkreten Schritt, den jetzt fälligen, jetzt möglichen Schritt in Richtung einer größeren Freiheit, Verantwortlichkeit, Mündigkeit zu t u n " (Lange, Sprachschule 189).
2.3. Viele Synoden westdeutscher Landeskirchen bzw. der EKD und der VELKD und nicht zuletzt die VI. Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver (1983) haben in den letzten Jahren das Lernen zu ihrem Thema gemacht. In drei zusammengehörigen Texten der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung ist die Lern- und Bildungsproblematik für die kirchliche Praxis unter unterschiedlichen Aspekten aufbereitet worden: Zusammenhang von Leben, Glauben und Lernen (1982), Erwachsenenbildung als Aufgabe der evangelischen Kirche (1983), ökumenisches Lernen (1985); vgl. auch Miteinander leben lernen (1985). Daß in diesen Texten durchgängig die Dynamik eines pädagogisch reflektierten Lernbegriffs bestimmend ist, kann man trotz mancher Ansätze nicht sagen (vgl. Baldermann, Wie lernfähig). Das gilt auch für die beiden EKDStudien im Blick auf Zukunft der schrumpfenden evangelischen Kirchen: Strukturbedingungen der Kirche auf längere Sicht (1985) und Christsein gestalten (1986). 3.
Zusammenfassung
Schon aus den wenigen hier nur möglichen Hinweisen ergibt sich: Probleme des Lernens sind im Gesamtzusammenhang der -*Praktischen Theologie zu reflektieren, denn sie tauchen in allen Handlungsfeldern auf (vgl. Otto, Grundlegung; Handlungsfelder). Das ist die Abkehr von der Vorstellung, daß Lernen sich vorzugsweise in institutionalisierten Unterrichtsveranstaltungen vollzieht, die sich vornehmlich an Kinder richten. Diese Engführung, die den Horizont der herkömmlichen Katechetik weitgehend bestimmt hat, ist im Blick auf Leben und Glauben, die ohne das Implikat des Lernens nicht denkbar sind, zu überwinden (vgl. Otto, „Religion", bes. 28ff). Literatur Ingo Baldermann, Die Bibel — Buch des Lernens, Göttingen 1980. — Ders., Wie lernfähig sind unsere Kirchen?: ThPr 21 (1986) 285-295. - Begabung u. Lernen, hg. v. Heinrich Roth, Stuttgart 1968 , 2 1980 (Dt. Bildungsrat. Gutachten u. Stud. der Bildungskommission). - Rudolf Bergius, Psychologie des Lernens, Stuttgart 1971 2 1972. - Christsein gestalten. Eine Stud. zum Weg der Kirche, hg. v. Kirchenamt im Auftrag des Rates der EKD, Gütersloh 1986. - Enzyklopädie Erziehungswiss., hg. v. Dieter Lenzen, 12 Bde., Stuttgart 1982ff (Lit.). - Erwachsenenbildung als Aufgabe der ev. Kirche. Grundsätze. Vorgelegt v. der Kammer der EKD für Bildung u. Erziehung, Gütersloh 1983 4 1984. - Klaus Foppa, Lernen, Gedächtnis, Verhalten, Köln 1965 ®1975. - Hans-Jürgen Fraas, Glaube u. Identität. Grundlegung einer Didaktik rel. Lernprozesse, Göttingen 1983. — Ders., Glauben u. Lernen, 1978 (KVR 1444). - Ders./Hans-Günter Heimbrock (Hg.), Rel. Erziehung u. Glaubensentwicklung, Göttingen 1986. - Robert Mills Gagné, Die Bedingungen des menschlichen Lernens, Hannover 1969 4 1982. - H b . der Prakt. Theol., hg. v. Peter C. Bloth u.a., bisher 3 Bde., Gütersloh
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Gert Otto
Lessing, Gotthold
Ephraim
(1729-1781)
1. Leben und Werk 2. Interpretationsdifferenzen und Interpretationsprobleme 3. Theologie und Philosophie 4. Geschichtsdeutung als Sinngebung der Universalgeschichte 5. Toleranzdenken 6. Aspekte der Wirkungsgeschichte (Anmerkungen/Quellen/Literatur S. 29) 1. Leben
und
Werk
Lessing w u r d e als zweiter S o h n des lutherischen P f a r r e r s J o h a n n Gottfried Lessing ( 1 6 9 3 - 1 7 7 0 ) a m 2 2 . J a n u a r 1 7 2 9 in K a m e n z (Sachsen) g e b o r e n . A u c h die M u t t e r Justina S a l o m e , geb. Feller, ( 1 7 0 3 - 1 7 7 7 ) e n t s t a m m t e einem P f a r r h a u s . Die E r z i e h u n g g e s c h a h im Geiste eines g e m ä ß i g t e n o r t h o d o x e n L u t h e r t u m s . N a c h d e m B e s u c h der städtischen L a teinschule erhielt Lessing d a n k eines Stipendiums eine v o r z ü g l i c h e Ausbildung a u f der F ü r s t e n s c h u l e St. A f r a in M e i ß e n . E r e r w a r b sich gründliche Kenntnisse in den klassischen Sprachen, erlernte a b e r a u c h d a s F r a n z ö s i s c h e , E n g l i s c h e , Italienische und später a u c h das Spanische. Die L e h r e r lobten seine r a s c h e Auffassungsgabe und sein ausgezeichnetes G e d ä c h t n i s , tadelten a b e r seinen H a n g zur Eigenwilligkeit und Keckheit. Die Schulj a h r e in M e i ß e n , die intensive Beschäftigung mit den griechischen und lateinischen Klassikern, legten bei d e m frühreifen und wissensdurstigen jungen Lessing den G r u n d für seine spätere u m f a s s e n d e Bildung u n d G e l e h r s a m k e i t . E h e r d e m W u n s c h des Vaters als der eigenen N e i g u n g folgend, b e g a n n er 1 7 4 6 das T h e o l o g i e s t u d i u m in - » L e i p z i g , d a s e r jedoch bald vernachlässigte. Ihn interessierten
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stärker allgemeine humanistische Studien; auch fand er Kontakt zum Theater. Selber Schauspiele schreibend, blieb er auch in der Folgezeit dem Theater leidenschaftlich zugetan. Auch das in Wittenberg begonnene Medizinstudium wurde bald wieder abgebrochen. Nach dem Erwerb des Magistergrades (1752) lebte Lessing als freier Schriftsteller vor allem in Berlin, wo er Mitarbeiter an verschiedenen Zeitungen wurde. Er betätigte sich auch als Übersetzer von historischen Schriften Voltaires und von Schreiben Friedrichs des Großen. Eine enge Freundschaft verband ihn seit 1752 mit Moses -»Mendelssohn, Friedrich Nicolai und Ewald von Kleist. Im Kreise der Berliner Schriftsteller und Journalisten nahm er bald eine führende Stellung ein. Zusammen mit Mendelssohn und Nicolai gab er seit dem Herbst 1759 die Briefe, die neueste Literatur betreffend heraus, in denen sich Gottsched-Kritiken finden und die Lessings ungewöhnliche Vielseitigkeit und Belesenheit, aber auch seine produktive polemische Eigenart zeigen. Der Plan einer mehrjährigen europäischen Bildungsreise, die Lessing als Begleiter des begüterten Leipzigers Gottfried Winkler antreten wollte, zerschlug sich. Sie mußte bereits in Amsterdam 1756 wegen des Ausbruches des Siebenjährigen Krieges abgebrochen werden. Von 1760 bis 1765 war Lessing Sekretär des preußischen Generals von Tauentzien, der 1763 zum Gouverneur von Schlesien ernannt wurde. Diese Stellung ermöglichte Lessing, ausgedehnte patristische und philosophische Studien in den reichhaltigen Bibliotheken der schlesischen Hauptstadt zu betreiben. Von Breslau kehrte er im Mai 1765 nach Berlin zurück. Dort beendete Lessing seine kunstkritische Schrift Laokoon oder über die Grenzjen der Malerei und Poesie, die als Absage an die klassizistische Ästhetik gedacht war, wie sie von Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) vertreten wurde. Ein Jahr später erschien das Lustspiel Minna von Barnhelm. Von 1767-1770 wirkte Lessing als Dramaturg in Hamburg an dem neugegründeten Deutschen Nationaltheater und verfaßte seine Hamburgische Dramaturgie. Der dreijährige Aufenthalt in der Hansestadt führte zur Freundschaft mit der Familie des Gymnasialprofessors und Orientalisten Hermann Samuel —»Reimarus (1694-1768) und auch zur persönlichen Bekanntschaft mit dem Hamburger Hauptpastor und Senior Johann Melchior Goeze (1717-1786), dem späteren Gegner im Fragmentenstreit. Nach dem Scheitern der Theater- und Verlagsplänc war die Situation für den verschuldeten Lessing in Hamburg überaus schwierig. Er mußte seine eigene Bibliothek versteigern lassen, um seinen wichtigsten Verpflichtungen nachzukommen. Eine neue Möglichkeit, als Forscher, Gelehrter und Kritiker tätig zu werden, eröffnete sich für Lessing im April 1770 mit der Anstellung als Bibliothekar an der herzoglichen Bibliothek in Wolfenbüttel. 1 Ihre wertvollen Buch- und Handschriftenbestände hat er eifrig für seine gelehrten Studien genutzt. Gelegentlich bekennt er: „ich bin sehr glücklich, daß ich hier Bibliothekar bin und an keinem anderen Orte" (LM XIII,177).2 Im Frühjahr 1772 wurde sein Trauerspiel „Emilia Galotti" in Braunschweig uraufgeführt. Nicht weniger bedeutsam als das dichterische Werk sind die theologisch-philosophischen Schriften der Wolfenbütteler Zeit. Gelehrte Beiträge gab Lessing seit 1773 unter dem Titel Zur Geschichte und Literatur heraus, für die er eine vom Braunschweiger Herzog verfügte Zensurfreiheit erhalten hatte. Die Gattung der „Rettungen", der schon die früher erschienenen Schriften Gedanken über die Herrnhuter (1750) und die Rettung des Cardanus (1752/54) zuzuordnen sind, wurde nun fortgesetzt. Es erschien die Untersuchung über die Abendmahlslehre des -»•Berengar von Tours, die Lessing beinahe den theologischen Ehrendoktor der Leipziger Fakultät eingetragen hätte. In einer anderen Untersuchung wurde -»Leibniz gegen den Vorwurf verteidigt, er habe die Lehre von den ewigen Höllenstrafen im Gegensatz zu den Prinzipien seines philosophischen Systems vertreten. Diese Schrift war gegen die Auffassungen des Göttinger Kanzlers Johann Lorenz von -»Mosheim (1693-1755) und des Hallenser Philosophieprofessors Johann August Eberhard (1739-1809) gerichtet. Zwei andere „Rettungen" bezogen sich auf Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit und auf den reformierten Heidel-
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berger Theologen Adam Neuser (gest. 1576), der Opfer eines Kirchenzuchtstreites wurde, aber aus der Gefangenschaft nach Konstantinopel entfliehen konnte. Im April 1775 trat Lessing als Begleiter des Prinzen Maximilian Julius Leopold von Braunschweig eine achtmonatige Italienreise an. Sie führte über Berlin und Dresden zunächst nach Wien, wo Lessing von der Kaiserin Maria Theresia und Joseph II. empfangen wurde. Urteilt man nach den fragmentarischen Reisenotizen, so scheint Lessing, der in Rom eine Audienz beim Papst erhielt, sich für die italienische Gelehrtenwelt und Wissenschaft stärker interessiert zu haben als für die Kunst und die Naturschönheiten des Landes. Eine umfangreiche Sammlung wertvoller italienischer Literatur wurde von Lessing für die Bibliothek in Wolfenbüttel erworben. Nach der Rückkehr von der Italienreise arbeitete Lessing im Frühjahr 1776 an der Herausgabe der Philosophischen Aufsätze von Karl Wilhelm Jerusalem, seinem Freund, der den Freitod gewählt hatte. Zum Hofrat ernannt, heiratete Lessing im Oktober 1776 Eva König, mit der er seit 1771 verlobt gewesen war. Doch das Eheglück währte nur kurze Zeit. Der am 25. Dezember 1777 geborene Sohn Lessings lebte nur wenige Stunden, und die Ehefrau starb zwei Wochen später an den Folgen der Geburt. Wie einige seiner Berliner und Braunschweiger Freunde war Lessing -»Freimaurer. Doch schon bald nach seinem 1771 erfolgten Eintritt in die Hamburger Loge „Zu den drei Rosen" hat er dem Logenwesen enttäuscht den Rücken gekehrt. Das mystische Zeremoniell und die Exklusivität des Logenwesens haben ihn abgestoßen. Das 1778 veröffentlichte Gespräch Ernst und Falk stellt eine Auseinandersetzung mit der Freimaurerei dar, enthält aber auch gesellschaftskritische und sozial-utopische Aspekte. Die letzten Lebensjahre sind gekennzeichnet durch den Fragmentenstreit, den Lessing Anfang 1777 durch die Herausgabe von Teilstücken eines angeblich in der Wolfenbütteler Bibliothek gefundenen Manuskripts ausgelöst hatte. 3 Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn hatten von der Herausgabe abgeraten, weil sie als Feindschaft gegen das Christentum gedeutet werden konnte. In der Öffentlichkeit trat diese Reaktion jedoch erst ein, als das Fragment Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger im Mai 1778 publiziert wurde. Der ungenannte Verfasser der Fragmente war der vom englischen -»Deismus beeinflußte Hamburger Gymnasialprofessor Hermann Samuel -»Reimarus (1694-1768), der das kirchliche Christentum mit seiner Christusbotschaft und seinem Auferstehungsglauben aus einem Betrug der Jünger zu erklären suchte. Diese Betrugstheorie löste erhebliche Erregung aus und provozierte eine Flut von Streitschriften. Obwohl sich Lessing durch die Gegensätze des Herausgebers von den radikalen Ansichten des „Ungenannten" distanziert hatte, ist seine Haltung bei den Zeitgenossen vielfach auf Kritik und mißtrauische Ablehnung gestoßen. Die aufsehenerregende und scharfe Kontroverse zwischen Lessing und dem Hamburger Hauptpastor J . M . Goeze, in der jeder der beiden Kontrahenten das Publikum für sich zu gewinnen suchte, mußte im August 1778 vorzeitig abgebrochen werden. Der Braunschweiger Herzog verfügte durch Kabinettsbefehl, daß Lessing sowohl innerhalb als auch außerhalb der Landesgrenzen keine unzensierte Schrift in Religionssachen publizieren dürfe. Ferner ließ er alle noch erreichbaren Fragmentendrucke konfiszieren und verlangte die Auslieferung des Manuskripts, das seitdem verschollen ist. Der Fragmentenstreit, an dem sich Lessing nun nicht mehr direkt beteiligen konnte, erregte auch in den folgenden Jahren Theologen, staatliche und kirchliche Behörden sowie die literarische Öffentlichkeit. Auf einer Sitzung des Corpus Evangelicorum in Regensburg beanstandete im November 1780 der den Vorsitz führende Kursächsische Gesandte, daß die Veröffentlichung des Fragments Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger von der zuständigen Braunschweiger Zensur nicht verhindert worden war und forderte eine Bestrafung Lessings. Die Braunschweiger Regierung stellte sich jedoch in dieser Angelegenheit schützend vor Lessing. Auf der Bühne, die er mit der Kanzel des Predigers verglichen hat, konnte Lessing seine Stimme jedoch weiterhin zu Gehör bringen. Es gelang ihm, das großartige Toleranz-
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drama Nathan der Weise (1779) zu vollenden, wobei ihm die verehrungswürdige Gestalt des Freundes Moses Mendelssohn offenbar als Vorbild für den Nathan gedient hat. Auch die geschichtsphilosophische Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777/ 1780) konnte abgeschlossen und herausgegeben werden. Wenn letzteres im Schutze der Anonymität geschah, so besteht doch heute kaum ein Zweifel mehr, daß Lessing als Herausgeber zugleich auch der Verfasser der Erziehungsschrift gewesen ist. Mit -»Spinoza hatte sich Lessing bereits während der Breslauer Zeit ausführlich beschäftigt. Umstritten ist in der Forschung die Frage, ob Lessing in seinen letzten Lebensjahren eine Hinwendung zum Spinozismus vollzogen hat. Anlaß zur Behauptung von Lessings Spinozismus ist der Bericht, den Friedrich Heinrich —»Jacobi (1743-1819) von seinem im Sommer 1780 geführten Gespräch mit Lessing gegeben hat. Dieser Bericht ist jedoch erst zwei Jahre nach Lessings Tod (1783) mitgeteilt und dann durch die Herausgabe des Briefwechsels mit Moses Mendelssohn (1785) veröffentlicht worden. 4 Er vermittelt den Eindruck, als habe der ältere Lessing eine Preisgabe des Glaubens an den transzendenten Gott und eine Hinwendung zum -•Pantheismus vollzogen. Quellenkritisch ist zu fragen, ob Jacobis Berichterstattung einigermaßen zuverlässig ist und als eine authentische Wiedergabe des tatsächlichen Gesprächs angesehen werden kann. Auch wenn man dies mit der Mehrzahl der neueren Interpreten bejaht, so scheint es doch kaum möglich, Lessing als Spinozisten im strengen Sinne zu betrachten oder eine eindeutige Festlegung Lessings auf die Denkweise Spinozas zu konstatieren. Im Dezember 1780 verschlechterte sich Lessings labiler Gesundheitszustand. Am 15. Februar 1781 ist er in Braunschweig gestorben und dort einige Tage später beigesetzt worden. Das umfangreiche Verzeichnis über seinen gelehrten Nachlaß läßt erkennen, daß ein Teil seiner Aufzeichnungen und Manuskripte später verloren gegangen ist. Bei dem Band, den sein Bruder Karl Gotthelf, der Breslauer Münzdirektor, unter dem Titel Gotthold Ephraim Lessings theologischer Nachlaß 1784 herausgegeben hat, handelt es sich nur um eine bruchstückhafte Auswahl. 5 Die mit der Interpretation des Gesamtwerkes eng verbundene biographische Forschung steht vor allem im Blick auf die Wolfenbütteler Jahre Lessings und den Fragmentenstreit noch vor wichtigen Aufgaben. Als problematisch haben sich neuere Versuche erwiesen, die aus den Quellen (Briefen, Dokumenten, Berichten von Freunden und Zeitgenossen) zu schildernden Ereignisse und Entwicklungen im Leben Lessings durch eine psychologische Werkanalyse in Richtung auf eine „innere Biographie" oder „Textbiographie" zu erweitern. 6 Solche Bestrebungen unterliegen methodischen Bedenken. Denn sie gehen von der Voraussetzung aus, daß von der Abfolge der behandelten literarischen Themen, der Dramengestalten und ihrer Konflikte auf Veränderungen im geistig-seelischen Befinden und der Lebenseinstellung des Autors zurückgeschlossen werden könne. 2. Interpretationsdifferenzen
und
Interpretationsprobleme
Lessings theologisch-philosophische Schriften sind von erheblichem Gewicht für eine Gesamtinterpretation seines Werkes und Denkens. Allerdings gibt es bei ihrer Interpretation noch immer deutliche Differenzen, die sich mitunter bis zu Widersprüchen und Gegensätzen verschärfen. Die Deutungen reichen von der Auffassung, daß Lessing ein überzeugter Christ und offenbarungsgläubiger Lutheraner gewesen sei, über die These, daß er dem protestantischen Erbe einer schwärmerisch-spiritualistischen Tradition verpflichtet war, dem Sozinianismus (-»Sozzini/Sozinianer) oder -»Deismus nahegestanden habe, bis zu radikaleren Auffassungen, die ihn dem Spinozismus und Pantheismus oder gar einer christentumsfeindlichen —• Religionskritik zurechnen wollen. Mitunter scheint es, als werde Lessing zum Vorläufer der religiösen oder weltanschaulichen Auffassung der jeweiligen Interpreten stilisiert. Die Kernfrage jeder theologischen Lessing-Deutung ist, ob Lessing mit seiner Theologiekritik, die sich sowohl gegen die zeitgenössische Orthodoxie als auch gegen die Neologie richtet, bestimmte religiöse und theologische Intentionen verfolgt hat. Wollte er die
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historisch-kritisch denkende protestantische Aufklärungstheologie unterstützen, die Tendenz zur christlichen Privatreligion stärken und damit auch die Entwicklung zur Humanitätsreligion befördern? Die unterschiedlichen Traditionen, die er aufgenommen hat und die auf ihn eingewirkt haben, in ihrer gegenseitigen Begrenzung und Durchdringung recht einzuschätzen, gehört zu den objektiven Schwierigkeiten der Lessing-Interpretation. Ein besonderes Problem bildet die Anonymität von Schriften, zu denen Lessing sich nur als Herausgeber bekannt hat. Die Analyse hat ferner Lessings Neigung zu überspitzten Thesen, seine Rhetorik und seine Verwendung von überredenden Metaphern zu berücksichtigen. Die Widersprüchlichkeit mancher Äußerungen Lessings ist gelegentlich schon von seinen Freunden beklagt worden. Ein gewisser Deutungsspielraum bleibt, weil Lessing ein experimentierender Denker gewesen ist, der es bewußt vermieden hat, seine theologisch-philosophischen Überzeugungen thetisch und in einem systematischen Zusammenhang darzulegen. Jede Interpretation ist daher auf eine Rekonstruktion angewiesen, die bei der Gewichtung der Anliegen und Gedankenelemente den besonderen Charakter von Lessings Schriften mit ihren Fragesätzen, ihrer indirekten Argumentation und ihren oft nur hypothetischen Aussagen zu beachten hat. 7 3. Theologie und
Philosophie
Unter den bedeutenden deutschen Dichtern dürfte Lessing einer der wenigen sein, der Sinn für die Probleme der Theologie besessen und selbst theologische Untersuchungen angestellt hat. Entgegen der Ansicht einiger Forscher ist diese Beschäftigung mit religiösen Fragen und theologischen Problemen nicht erst während der Wolfenbütteler Zeit, also im letzten Lebensjahrzehnt erfolgt, sondern läßt sich seit Beginn der schriftstellerischen Tätigkeit nachweisen. 8 In seinen theologischen Schriften will Lessing zum vernünftigen und kritischen Denken über Kirchenlehre und Christentum anregen. Obwohl er sich selbst nur als „Liebhaber der Theologie" bezeichnet, hat er bei der Behandlung aktueller Probleme und Fragestellungen wissenschaftlich argumentiert und war bestrebt, seinen Kontrahenten mit überlegener Sachkenntnis entgegenzutreten. In dem Bestreben, evidente Beweise für die Wahrheit der christlichen Glaubenslehren zu erbringen, sieht Lessing eine Überforderung der theologischen Argumentation. Weder will er auf den Begriff einer göttlichen Offenbarung verzichten, um die menschliche Vernunft als völlig autonom erscheinen zu lassen, noch ist er umgekehrt bereit, die Erkenntnisfähigkeit der Vernunft der Berufung auf Bibelaussagen oder dem Geltungsanspruch von Kirchenlehren aufzuopfern. Scharf zurückgewiesen hat er den lehrgesetzlichen Biblizismus und eine bloße Buchstabengläubigkeit, wie sie von der Schriftlehre der zeitgenössischen Spätorthodoxie behauptet und in ihrem Schriftgebrauch praktiziert wurde. Im Anschluß an II Kor 3,6 vertritt er die These: Der Buchstabe ist nicht der Geist und die Bibel nicht die (christliche) Religion (LM XII,428f). Infolgedessen sind Einwände gegen den Buchstaben nicht sogleich auch Einwände gegen die Religion. Die Bibel enthält mehr als zur Religion gehört und gerechnet werden darf. Der Prinzipien „Geist" und „Buchstaben" bedient sich Lessing als methodischer Erkenntnismittel, um sich kritisch von Unwesentlichem der biblischen Berichte (z.B. der Geschlechtsregister) zu befreien und den Blick auf die wesentlichen Glaubenslehren (z. B. die Bergpredigt Jesu) zu lenken. Durch das innere Zeugnis des Heiligen Geistes {Testimonium spiritus sancti internum) kann das Wesentliche der biblischen Botschaft angeeignet werden. Die mündliche Überlieferung der Urchristenheit hält Lessing nicht nur für älter, sondern auch für sachlich wichtiger als die später niedergeschriebenen Berichte der Evangelien. Eine Zusammenfassung des wesentlichen Glaubensinhaltes liegt in der regula fidei vor, die Lessing allerdings irrtümlich mit dem Apostolicum identifiziert hat. Mit der Berufung auf die regula fidei oder regula veritatis sollte jedoch weder ein neues Autoritätsprinzip eingeführt noch eine katholisierende Uberordnung der mündlichen Überlieferung über die Heilige Schrift behauptet werden. Der Göttinger Kirchenhistoriker Christian Wilhelm Franz Walch (1726-1784) hat sich 1779 mit Lessings Auffassungen über die Bedeutung der Glaubensregel und den
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Schriftgebrauch in urchristlicher Zeit kritisch auseinandergesetzt. In zwei Antwortschreiben an Walch, die jedoch nicht zur Absendung gelangten, hat Lessing seine Thesen präzisiert und verteidigt. Seine wichtige Schrift Neue Hypothese über die Evangelisten als bloß menschliche Geschichtsschreiber betrachtet (1778) zeigt Vertrautheit mit der zeitgenössischen Diskussion und macht deutlich, daß er kanonskritische Grundgedanken des Hallensers Johann Salomo -•Semler übernommen hat. 9 Lessing hatte die Fragmente herausgegeben, um zu verdeutlichen, daß der Bereich des Historischen ungeeignet ist, um die Wahrheit des Christentums zu demonstrieren, ja daß sich manche Einwände gegen die historische Berichterstattung der Bibel erheben lassen. Neuere Untersuchungen haben sich eingehender mit der Lessing-Goeze-Kontroverse beschäftigt. Aber der über Lessings Tod hinaus andauernde Fragmentenstreit, an dem sich zahlreiche Autoren beteiligt haben, ist in seinem Umfang, seinen Argumenten und Auswirkungen noch nicht erforscht. Ähnliches gilt auch von Lessings Beziehungen zur zeitgenössischen protestantischen Universitätstheologie, die keineswegs schon damit zureichend charakterisiert werden, daß man auf Lessings kritische Einschätzung der „Neologie" verweist. Im Blick auf die neutestamentliche Überlieferung hat Lessing die Beachtung einer Sachdifferenz gefordert, weil „die Religion Christi und die christliche Religion zwei ganz verschiedene Dinge sind" (LM XVI,518). Mit dieser scharfsinnigen Beobachtung hat er die spätere exegetische Erkenntnis der bestehenden Sachdifferenz von „irdischem Jesus" und „gepredigtem Christus" vorweggenommen. Lessing bejaht die in den Evangelien enthaltene „Religion Christi", während er der „christlichen Religion" mit ihrer Auferstehungsbotschaft und ihrer Lehre von der Gottheit Christi eher skeptisch gegenübersteht. Die Bedeutung der Person Jesu Christi sieht er nicht in dem Heilswerk der Versöhnung und Erlösung, sondern darin, daß Jesus „der erste zuverlässige praktische Lehrer der Unsterblichkeit der Seele" gewesen ist (LM XIII,428). In der Ablehnung des Gedankens von Jesus als dem Mittler hat man ein weiteres Anzeichen dafür erblickt, daß Lessings theologisches Denken aus dem Erbe des -»Spiritualismus zu verstehen ist. Kennzeichen des Spiritualismus sind die Vorstellung einer unmittelbaren Gottesnähe des Ich aufgrund der Einwohnung des Geistes Gottes im Menschen und die Ablehnung einer kirchlichen Bindung. 1 0 Dem Prinzip der -»Aufklärung, alle Denktraditionen und Lehren einer kritischen Prüfung zu unterziehen, hat Lessing sich angeschlossen. Seine Unterscheidung von „Geist" und „Buchstabe" hat eine traditionskritische Bedeutung, die weit über ihre hermeneutische Anwendung bei der Schriftinterpretation hinausreicht. Wiederholt hat er vom „Geist der Bibel", dem „Geist des Christentums", aber auch von „Luthers Geist" gesprochen. „Der wahre Lutheraner will nicht bei Luthers Schriften, er will bei Luthers Geiste geschützt sein; und Luthers Geist erfordert schlechterdings, daß man keinen Menschen in der Erkenntnis der Wahrheit nach seinem eigenen Gutdünken fortzugehen, hindern m u ß " (LM XIII,143). Erkenntnisfortschritte gibt es sowohl im religiösen als auch im theologischen Bereich. Weil Wahrheit nichts Statisches oder definitiv Abgeschlossenes ist, wäre es falsch, bei dem Wahrheitsbesitz formulierter Lehren und schon gewonnener Einsichten zu verharren. Wahrheitsliebe und echter Erkenntnisdrang äußern sich vielmehr in einem unablässigen Wahrheitsstreben. Lessing sucht die rückhaltlose Offenheit für eine historische Erforschung biblischer Berichte und theologiegeschichtlicher Ereignisse mit der Strenge der Wahrheitsfrage zu verbinden. Von der christlichen Religion hat der Leipziger Student gesagt, sie sei „kein Werk, das man von seinen Eltern auf Treu und Glauben annehmen soll" (LM XVII,18). Die später im Fragmentenstreit gegebene Auskunft, das Christentum sei in den altkirchlichen Symbolen der ersten vier Jahrhunderte enthalten (LM XIII,332), darf keineswegs als uneingeschränktes Bekenntnis zu einem orthodoxen Christentumsverständnis gewertet werden. Gemessen an dem Umfang und Aussagegehalt altkirchlicher Lehrbekenntnisse hat Lessing erhebliche Reduktionen und Modifikationen vollzogen. Mit seinem Zweifel an dem
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Beweischarakter jener „zufälligen Geschichtswahrheiten", die uns nur nachrichtlich überliefert sind, hat er die historische Apologetik der zeitgenössischen Theologie in Frage gestellt. Er hat damit auch das kritische Element gegenwärtiger Erfahrung zur Geltung gebracht. Doch bleibt er von der Evidenz der „inneren Wahrheit" des christlichen Glaubens überzeugt. Gemeint ist mit diesem Begriff eine religiöse Überzeugung, die weder der Stützung durch eine historische Argumentation noch des Nachweises ihrer Übereinstimmung mit dem Wortlaut des biblischen Zeugnisses bedarf. 11 „Ich habe gegen die christliche Religion nichts: Ich bin vielmehr ihr Freund und werde ihr Zeitlebens hold und zugethan bleiben" (LM XVI,536). 4. Geschichtsdeutung
als Sinngebung der Universalgeschichte
Lessing verankert seine -»Geschichtsphilosophie in einem theistisch verstandenen Vorsehungsglauben (Providentia Dei), der gemäß der theologisch-philosophischen Überlieferung auf Gottes Welthandeln und seine Lenkung der Geschichte Anwendung findet. Grundzüge einer universalgeschichtlichen Konzeption finden sich in seiner Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777/1780), welche den Versuch unternimmt, die geistig-religiöse Situation der eigenen Zeit in ihrer Verschiedenheit und Kontinuität zur jüdisch-christlichen Überlieferung zu deuten. Der von Gott geleitete Prozeß zur Erziehung des Menschengeschlechts ist sinnvoll, weil er auf die jeweilige Entwicklungsstufe der Menschheit Rücksicht nimmt. Gott ist der Erzieher und seine Offenbarung, welche durch die Elementarbücher des Alten und Neuen Testaments erfolgt, das Erziehungsmittel. Das Ziel der Erziehung ist jedoch die Selbständigkeit der menschlichen Vernunfterkenntnis und die Gewinnung von neuen sittlichen Handlungsmotiven. Demzufolge gliedert sich der Geschichtsprozeß in drei Stadien, die ineinander übergehen und einander ablösen. Auf das Zeitalter des Alten Testaments, welches dem Kindesalter der Menschheit entspricht, folgt als die Jünglingszeit das Zeitalter des Neuen Testaments. Das im Anbruch befindliche dritte Stadium ist das Zeitalter der Reife und Vollendung. Es wird im Zeichen des „neuen ewigen Evangeliums" stehen. Mit dieser Sinngebung der Geschichte erfahren Judentum und Christentum eine positive Würdigung und doch zugleich eine erhebliche Relativierung. Denn beide erscheinen nur als Durchgangsstadien auf dem Wege einer geschichtlichen Entwicklung, die von der Angewiesenheit der Vernunft auf das mitgeteilte Offenbarungswissen zur selbständigen menschlichen Vernunfterkenntnis führt. Damit tritt auch der Unterschied zur deistischen Auffassung klar hervor. Denn Lessings Konzeption verdeutlicht, daß die menschliche Vernunft keineswegs als eine autonome und sich stets gleichbleibende Größe mit einem konstanten Erkenntnisinhalt angesehen werden darf, sondern eher ein entwicklungsfähiges Erkenntnisorgan darstellt, das immer neue Inhalte und Wahrheiten in sich aufnehmen kann. Den schon früher im Gespräch mit Mendelssohn diskutierten Perfektibilitätsgedanken hat Lessing insofern aufgenommen, als der Geschichtsprozeß nicht nur für das Menschengeschlecht, sondern auch für jedes Individuum zu einer intellektuellen und sittlichen Vervollkommnung führt. Die Perfektibilität des Menschen wird durch den zunehmenden Erkenntnisgewinn der Vernunft gewährleistet. Um jedem Individuum die Teilhabe an den späteren und höheren Stadien der geschichtlichen Entwicklung zu ermöglichen, hat Lessing sich des Gedankens der -»Seelenwanderung bedient. Vermag die Seele nach dem leiblichen Tod sich aufs neue zu verkörpern, so kann der einzelne seinen in einem früheren Menschenleben unabgeschlossenen Prozeß sittlicher Reifung zur Vollendung bringen. Dieser Vervollkommnungsprozeß besteht in der Gewinnung neuer Einsichten und Handlungsmotive. Das Gute soll weder aus Furcht vor Strafe noch aus Hoffnung auf zukünftige Belohnung, sondern um seiner selbst willen getan werden. In der universalen Geschichtsdeutung Lessings findet sich, ähnlich wie auch im Nathan der Weise, das Grundschema des Theodizeedenkens (-»Theodizeeproblem). Denn das göttliche Handeln und seine Offenbarung sind an Maß und Ordnung gebunden. Die Vollkommenheit steht nicht am Anfang, sondern am Ende der geschichtlichen
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Entwicklung. Es wäre daher verfehlt, wollte man aus dem Hinweis auf die Unvollkommenheit des Denkens und Glaubens in früheren Stadien der Menschheitsgeschichte einen Vorwurf gegen Gott und sein Geschichtshandeln ableiten. Zieht man auch den Briefwechsel zur Interpretation heran, so ergibt sich zweifelsfrei, daß „Lessings Geschichts5 deutung auf einem theistisch-personalen Glauben bzw. Vertrauen in die Macht der Vorsehung ruht". 1 2 Die Forschung hat ferner erkannt, daß das Bild einer von Gott geleiteten und in heilsgeschichtlichen Etappen eingeteilten Erziehungsgeschichte bis auf Gedanken der Patristik (-»Tertullian; -»Origenes) zurückgeht und die Vorstellung von den drei aufeinander folgenden Zeitaltern (alter Bund, neuer Bund, Zeitalter des Geistes) bereits, 10 wie Lessing andeutet, von Theologen des 13. und 14. Jh. (-»Joachim von Fiore) vertreten worden ist. 5.
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Toleranzdenken
Die Reformation hatte für die Toleranzforderung eine wichtige Bresche geschlagen, indem sie die Nichterzwingbarkeit der persönlichen Glaubensüberzeugung hervorhob und nur die Bindung des Gewissens an Gottes Wort als unbedingt verpflichtend ansah. In Weiterführung der reformatorischen Ansätze haben Lessing und die zeitgenössische protestantische Aufklärungstheologie wichtige Beiträge zur Toleranzdebatte und zur Verwirklichung eines größeren Maßes an -»Toleranz geleistet. 13 Dabei wird man sich die rechtlichen und politischen Bedingungen der damaligen Zeit vergegenwärtigen müssen. Wie die Anwendung der territorialen und reichsrechtlichen Zensurbestimmungen, aber auch das Eingreifen der Behörden in den Fragmentenstreit erkennen lassen, existierte im aufgeklärten Absolutismus während der zweiten Hälfte des 18. Jh. noch keine völlige Abstinenz oder Neutralität des Staates in Fragen der Religion oder Weltanschauung. Religionskritische oder gar christentumsfeindliche Ansichten konnten in Publikationen kaum geäußert werden, weil sie Autor und Verleger gefährdet hätten. So erklärt sich auch das eigenartige Versteckspiel, das Lessing mit dem angeblich in der Wolfenbütteler Bibliothek aufgefundenen Manuskript des Ungenannten (H.S. Reimarus) betrieben hat. Mit seiner Toleranzforderung will Lessing die geistige Autonomie des Individuums respektiert wissen, die Glaubensfreiheit vergrößern und die Gelehrten davor schützen, daß der Staat sich ein Aufsichtsrecht über den wissenschaftlichen Meinungsstreit anmaßt. Die Frontstellung seines Toleranzdenkens richtet sich aber zugleich gegen die noch immer einflußreiche zeitgenössische Spätorthodoxie, indem er bestreitet, daß die religiöse Wahrheit in den konfessionellen Lehren der Orthodoxie ihren bleibenden und für alle Christen maßgebenden Ausdruck gefunden habe. Mit dem naturrechtlichen und historischen Denken der Aufklärung gewinnt der Grundsatz der Gleichheit aller Menschen bei Anerkennung der Verschiedenheit der Religionen und Völker an Uberzeugungskraft. Lessing hat den Absolutheitsanspruch, den jede der drei großen Offenbarungsreligionen (Christentum, Judentum und Islam) für sich erhebt, weder in theoretischer noch in praktisch-sittlicher Hinsicht anerkannt. Die behauptete Überlegenheit der einen Religion über die andere läßt sich so wenig beweisen wie der Anspruch, im Besitz des echten Ringes, d. h. der allein wahren Religion zu sein. Auch aus dem Verlauf der Geschichte kann ein solcher Beweis nicht geführt werden. Denn weder ist die siegreiche Ausbreitung des Christentums ein Beweis für seine Wahrheit noch die jahrhundertelange Verfolgung und fortgesetzte Unterdrückung der Juden eine Widerlegung ihres Glaubens. 1 4 Obwohl die Offenbarungsreligionen eine gewisse Ubereinstimmung hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Gebote und Vernunftwahrheiten aufweisen, sollen sie nicht auf die einfache Gestalt einer natürlichen Religion reduziert werden. Die Aufgabe, das Gottvertrauen und die Nächstenliebe im Alltagsleben zu bewähren, ist für die Anhänger der verschiedenen Offenbarungsreligionen in gleicher Weise gestellt. In der Konzentration auf die Bedeutung der sittlichen Bewährung des Glaubens steht Lessing in einer christlichhumanistischen Tradition. Er sucht Geist und Wesen des Christentums so zu begreifen,
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daß sie sich als eine verändernde Kraft auf das Handeln und Verhalten auswirken können. Aus dem Motiv der Nächstenliebe erwächst für ihn eine Freiheitsethik. Damit sich das Handeln am Ethos der Sittlichkeit orientieren kann, muß für die individuelle Einsicht und Entscheidung die erforderliche Freiheit gewährt werden. Wenn aber Judentum, Christentum und Islam ein gemeinsames ethisches Kriterium in der Bewährung des Glaubens durch die Taten der Liebe besitzen, so führt dies zwangsläufig zu einer Relativierung dieser positiven Religionen und der zwischen ihnen bestehenden Lehrunterschiede. Doch hat jede der drei positiven Religionen die Möglichkeit, sich dem Ideal der Humanitätsreligion anzunähern. Dem religiösen Fanatismus des Kampfes für die angeblich allein wahre Religion und Konfession wird mit einer historischen und ethischen Argumentation die Begründung entzogen. Diesem wesentlichen Anliegen hat Lessing auch durch seine lebenslange Freundschaft mit Moses Mendelssohn und dessen Unterstützung in der Kontroverse mit J. K. -»Lavater (1770) Ausdruck verliehen. Sein Drama Nathan der Weise hat zweifellos zum Abbau von Vorurteilen und zur Haltung größerer Humanität und Toleranzbereitschaft beigetragen. 6. Aspekte der
Wirkungsgeschichte
Lessings Nachwirkungen als Gelehrter und Kritiker, Dichter und Dramatiker, Philosoph und Theologe sind vielfältig und reichen vom literarischen und wissenschaftlichen bis zum gesellschaftlichen und politischen Bereich. In der Zustimmung zu dem GoetheWunsch „Ein Mann wie Lessing täte uns n o t " hat man bis auf unsere Gegenwart immer wieder Lessings Lauterkeit und Integrität, seinen vorbildlichen Charakter und die Menschlichkeit seiner Person hervorgehoben. Auch an seine Bedeutung für das Anliegen der Aufklärung, die Mündigkeit des kritischen Denkens, ist in jüngster Zeit mit der Feststellung erinnert worden, daß Lessing „das intellektuelle Zentrum dieser Aufklärung in Deutschland" gewesen sei. 15 Nachwirkungen Lessings lassen sich schon in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jh. und im folgenden 19. Jh. feststellen. Horst Steinmetz hat 1969 eine Sammlung von Dokumenten aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland herausgegeben. Sowohl maßgebende Philosophen des deutschen -»Idealismus als auch Saren -•Kierkegaard und die Saint-Simonisten in Frankreich sind von ihm beeinflußt. Sein Wahrheitsstreben und sein Grundsatz kritischer Traditionsprüfung, seine Betonung der Selbständigkeit im Denken und Glauben, sowie sein Plädoyer für Humanität und Toleranz gegenüber Andersgläubigen sind bis auf die Gegenwart als Impulse und Anliegen wirksam geblieben. Doch wäre es unbedacht, schon überall dort ein Weiterwirken Lessingscher Gedanken konstatieren zu wollen, wo man ihn zitiert oder sich auf ihn beruft. Die Religionsgrenzen und Standesschranken überwindende Progressivität Lessings, die als ein konstantes Motiv der Beschäftigung mit seinen Dramen und Schriften angesehen werden kann, wird in der Interpretation und Aktualisierung nicht selten dem eigenen religiösen, weltanschaulichen oder politischen Standort angeglichen. Besondere Aufmerksamkeit richtet sich nach wie vor auf die Dramen Minna von Barnhelm, Emilia Galotti und Nathan der Weise, die kunstkritischen Schriften Laokoon und die Hamburgische Dramaturgie, die theologiekritischen Schriften und Stellungnahmen im Fragmentenstreit. Wenn die Beschäftigung mit Leben und Werk Lessings lange Zeit von nahezu gleichbleibender Intensität gewesen ist, so läßt sich seit etwa vier Jahrzehnten in Germanistik und Literaturwissenschaft, aber auch in Theologie, Philosophie und Pädagogik ein gesteigertes Interesse registrieren. Die Gedenkjahre 1979 und 1981 haben eine kaum überschaubare Fülle an Literatur hervorgebracht. Die Rezeption der Lessingschen Werke und Gedanken hat durch Übersetzungen in zahlreiche Sprachen längst gesamteuropäische, ja weltweite Dimensionen erreicht. Daß Lessings Gedanken und seine Theologiekritik, welche mit der Liebe zur Theologie als Wissenschaft und Weisheit verbunden bleibt, auch
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spürbare Wirkungen im Neuprotestantismus, in der liberalen T h e o l o g i e und in den christlichen Kirchen ausgelöst haben, ist erkannt und nachgewiesen w o r d e n . 1 6 Ein lebhaftes Interesse an der Lessing-Forschung besteht seit Jahrzehnten in den USA, w o 1 9 6 6 die Lessing Society gegründet wurde, welche Vortragsreihen und Symposien organisiert. Von ihr wird seit 1969 das Lessing Yearbook herausgegeben, das zu einem wichtigen O r g a n der wissenschaftlichen Forschung geworden ist. Ähnliche Ziele verfolgt die 1971 gegründete Lessing-Akademie in Wolfenbüttel mit ihren Publikationen und F o r schungsvorhaben.
Anmerkungen Für eine positivere Einschätzung der Wolfenbütteler Zeit plädiert P. Raabe, Lessings letztes Lebensjahrzehnt: Humanität und Dialog (s.u. Lit.), 1982, 103—120. 2 Zitien wird nach der Ausgabe der Lessingschriften von Lachmann-Muncker (s.u. Quellen), abgekürzt: LM. 3 Erstmals vollständig veröffentlicht wurden die Fragmente in der Ausgabe: H. S. Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, 2 Bde., Frankfurt 1972. - Vgl. dazu H. Schultze, Religionskritik in der deutschen Aufklärung. Das Hauptwerk des Reimarus im 200. Jahre des Fragmentenstreites: T h L Z 103 (1978) 7 0 5 - 7 1 3 . 4 Fr.H. Jacobi, Uber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 1785; Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, hg. v. H. Scholz, Berlin 1916, Reprint Brüssel 1 9 6 8 . - Z u r neueren Diskussion über Lessings Spinozismus siehe die in der Lit. angegebenen Beiträge von R. Schwarz (1968), H. Schultze (1969), A. Liepert (1979), A. Altmann (1982) u. K. Hammacher (1985), den Sammelband Lessing und Spinoza (1982) sowie Henry E. Allison, Lessing's Spinozistic Exercises, in: Humanität und Dialog (s.u. Lit.), 1982, 2 2 3 - 2 3 3 . 5 W. Milde, Einige Bemerkungen über Lessings gelehrten Nachlaß: Lessing in heutiger Sicht (s.u. Lit.), 1976, 2 1 1 - 2 1 9 . 6 Die Problematik einer „inneren Biographie" Lessings erörtert Karl S. Guthke, Lessing zwischen heute und morgen: Expeditionen in die Region der offenen Fragen: Humanität und Dialog (s. u. Lit.), 1982, 2 1 - 2 7 . 1 Zur Erklärung für die Interpretationsdifferenzen wird auch auf die unterschiedlichen Anwendungen der Lessingschen Unterscheidungen von „yuiivcumicdx; - Soy/iaxiKwg" und „exoterisch - esoterisch" verwiesen; vgl. G. Hillen, Lessing-Ein Philosoph?: Humanität und Dialog (s.u. Lit.), 1982, 172 f Anm. 10: „Die divergenten Entscheidungen darüber, ob eine Passage esoterisch oder exoterisch zu verstehen ist, ob Lessing sich „dogmatisch" oder nur „gymnastisch" äußert, sind der Grund für die widersprüchlichen Forschungspositionen von Fittbogen bis Schilson." 8 Sachkundige Einführungen und Kommentare zu Lessings theologisch-philosophischen Schriften (von einigen Interpreten auch „religionsphilosophische" oder „theologiekritische" Schriften genannt) haben K. Beyschlag (1967), W. Gericke (1985) und neuerdings A. Schilson (1989) geboten. 9 Daß Lessing „eine ganze Anzahl von Thesen Semlers" bejaht habe, hat W. Gericke, Lessings theologische Gesamtauffassung: Sechs theologische Schriften Gotthold Ephraim Lessings, Berlin 1985,148 hervorgehoben. Solche Elemente partieller Ubereinstimmung lassen sich jedoch nicht nur hinsichtlich der Unterscheidung von Wort Gottes und Heiliger Schrift, in Grundsätzen der Hermeneutik und im Kanonsverständnis feststellen, sondern erstrecken sich auch auf die Ablehnung des Biblizismus, die Betonung der Mündlichkeit urchristlicher Verkündigung, die Vorstellung von der Geisthaftigkeit Gottes (Joh 4,24) und die Toleranz gegenüber Andersglaubenden. 1 0 Die These, daß wichtige Grundzüge des Lessingschen Denkens aus dem Spiritualismus stammen, ist von H. Schultze, Lessings Toleranzbegriff (s.u. Lit.), 1969 begründet und in modifizierter Form auch von W. Gericke (s.o. Anm.8) 1985 vertreten worden. 1 1 Zur Bedeutung des Begriffs der „inneren Wahrheit" vgl. H. Schultze, Lessings Auseinandersetzung mit Theologen und Deisten um die „innere Wahrheit" (s.u. Lit.), 1977, 1 7 9 - 1 8 5 . 1 2 A. Schilson, Lessings Christentum, Göttingen 1980,74. - Vgl. ders., Geschichte im Horizont der Vorsehung (s.u. Lit.), 214: „Weder ein reiner Theismus orthodoxer Prägung mit der überholten Auffassung einer weltfernen Transzendenz Gottes noch eine reine Immanenz Gottes im Sinne eines Pantheismus spinozistischer Prägung genügen Lessing; er glaubt an eine theistisch verstandene Vorsehung über der Welt, die zugleich in der Welt wirksam wird zum Heil des Menschen und den Gang der Geschichte trägt und umgreift." 1 3 Zum Toleranzdenken Lessings vgl. die grundlegende Monographie von H. Schultze, Lessings Toleranzbegriff, 1969 sowie die Beiträge in dem Sammelband Lessing und die Toleranz, 1986 (s.u. Lit.), ferner: F. Kopitzsch, Gotthold Ephraim Lessing und seine Zeitgenossen im Spannungsfeld von 1
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Toleranz und Intoleranz: Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation, Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte, Beiheft 3, hg. v. Walter Grab, Tel-Aviv 1980, 29-90. 14 Vgl. hierzu G. Freund, Erkenntliche Wahrheit. Anregungen Lessings zum Dialog zwischen Christen und Juden: Lessing und die Toleranz (s.u. Lit.), 131-145, bes. 141. 15 W. Killy: Lessing 1729-1979. Reden anläßlich des 250. Geburtstages gehalten am 19. Januar in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1979 (Wolfenbütteler Hefte 9), 26. - Vgl. auch K. Bohnen (Hg.), Lessing. Nachruf auf einen Aufklärer. Sein Bild in der Presse der Jahre 1781,1881 und 1981, München 1982. 16 Vgl. schon W. von Loewenich, Luther und der Neuprotestantismus, Witten 1963, bes. 17-22; ferner W. Trillhaas, Zur Wirkungsgeschichte Lessings in der evangelischen Theologie; A. Schilson, Zur Wirkungsgeschichte Lessings in der katholischen Theologie. Beide Aufsätze: Das Bild Lessings in der Geschichte, hg. v. H . G . Göpfert, Heidelberg 1981, 57-92. Quellen Gotthold Ephraim Lessings sämtl. Sehr., hg. v. Karl Lachmann, 23 Bde, 3. Aufl. v. Franz Muncker, I - X X I , Stuttgart 1886-1907, XXII Berlin/Leipzig 1915 u. 1919, XXIII Leipzig 1924, Nachdr. 1968. - Gotthold Ephraim Lessing, GW, hg. v. Paul Rilla, 10 Bde., I - X Berlin 1954-1958, Berlin/Weimar 2 1968. - Lessing im Urtheile seiner Zeitgenossen, gesammelt u. hg. v. Julius W. Braun, 3 Bde., Berlin 1884-1897, Nachdr. Hildesheim 1969. - Lessing im Gespräch. Berichte u. Urteile v. Freunden u. Zeitgenossen, hg. v. Richard Daunicht, München 1971. - Zur Erinnerung an Gotthold Ephraim Lessing. Briefe u. Aktenstücke aus den Papieren der Herzoglichen Bibliothek u. Akten des Herzoglichen Landeshauptarchivs zu Wolfenbüttel, hg. v. O. v. Heinemann, Leipzig 1870. - Gesamtverzeichnis der Lessing-Hss., bearb. v. Wolfgang Milde, Wolfenbüttel 1982 (Veröffentlichung der Lessing-Akademie). - Meine liebste Madam. Lessings Briefwechsel mit Eva König 1770-1776, hg. v. Günter u. Ursula Schulz, München 1979. - G. E. Lessings Übersetzungen aus dem Französischen Friedrichs des Großen u. Voltaires, hg. v. Erich Schmidt, Berlin 1892, Nachdr. München 1980. - Die Hauptschr. zum Pantheismusstreit zw. Jacobi u. Mendelssohn, hg. u. mit einer hist.-krit. Einl. versehen v. Heinrich Scholz, Berlin 1916 (Neudrucke seltener Werke, hg. v. der Kantgesellschaft 6), Reprint Brüssel 1968. Kommentierte
Textausgaben
und
Kommentare
Gotthold Ephraim Lessing, Werke, 8 Bde., hg. v. Herbert G. Göpfert, München 1970-1979. Sechs theol. Sehr. Gotthold Ephraim Lessings, eingel. u. komm. v. Wolfgang Gericke, Berlin 1985 (Quellen, Ausgew. Texte aus der Gesch. der christl. Kirche, NF 3). - Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts. Hist.-krit. Ed. mit Urteilen Lessings u. seiner Zeitgenossen, Einl. Entstehungsgesch. u. Kommentar, hg. v. Louis Ferdinand Heibig, Bern/Frankfurt a. M./Las Vegas 1980 (Germanic studies in America 38). - Gotthold Ephraim Lessing, Ausgew. Texte zur Pädagogik, besorgt v. Dieter-Jürgen Löwisch, Paderborn 1969. - Lessing-Komm., hg. v. Otto Mann/Rotraut Straube-Mann, I (Zu den Dichtungen u. ästhetischen Schriften), II (Zu den kritischen, antiquarischen u. philosophischen Schriften), München 1971. - Lessings Werke. Vollständige Ausg. in 25 Teilen, hg. v. Julius Petersen/Waldemar v. Olshausen, Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart 1925-1935, Nachdr. Hildesheim/New York 1970. - Lessings Werke, 3 Bde., hg. v. Kurt Wölfel, Frankfurt a. M. 1967(111: Theol. u.phil. Sehr., eingel. v. Karlmann Beyschlag).-G.E. Lessing, Werke u. Briefe, 14 Bde., hg. v. Wilfried Barner, Frankfurt a. M. 1985 ff. Erschienen sind bisher die Bde 5/2,6, 11/1 u. 11/2 (Briefe von und an Lessing) sowie 1989 Bd. 8: Werke 1774-1778. Lessings Theologiekrit. Schriften I, hg. u. kommentiert v. Arno Schilson. Bibliographien Lessing-Bibliographie, bearb. v. Siegfried Seifert, hg. v. den Nationalen Forschungs- u. Gedenkstätten der klassischen dt. Lit. in Weimar, Weimar 1973 (Verzeichnis der Lessing-Literatur bis zum Jahre 1971; vgl. dazu Paul Raabe, Die Weimarer Lessing-Bibliographie: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, hg. v. Günter Schulz, Wolfenbüttel, II 1975,331-338). - Lessing-Bibliogr. 1979-1982: Veröffentlichungen in den Lessing-Jubiläumsjahren, zusammengestellt v. Karl Heinz Finken unter Mitarbeit v. Richard E. Schade: Lessing Yearbook 1985, XVII, Detroit/München 1986, 285-319. Doris Kühles, Lessing-Bibliographie 1971-1985, unter Mitarbeit v. Erdmann v. Wilamowitz-Moellendorff, Berlin/Weimar 1988 (Fortsetzung der v. S. Seifert vorgelegten Lessing-Bibliographie). Forschungsberichte Karl S. Guthke, Der Stand der Lessing-Forschung. Ein Ber. über die Lit. v. 1932-1962: DVfLG 38 (1964) Sonderh., Stuttgart 1965. - Ders., Grundlagen der Lessingforschung. Neuere Ergebnisse,
Lessing
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(Aufsatzbände,
Periodika,
Konferenzbeiträge)
Johann Melchior Goeze 1717-1786. Abh. u. Vortr., hg. v. Heimo Reinitzer, Hamburg 1987 (Vestigia Biblia 8). - Lessing u. die Zeit der Aufklärung. Vortr. gehalten auf der Tagung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaft Hamburg am 10. u. 11. Okt. 1967, Göttingen 1968. - Lessing Yearbook, hg. v. der Lessing-Society, I - X X , Detroit/München 1969-1989. - Gotthold Ephraim Lessing 1729 bis 1781, Braunschweig 1981 (Ausstellungskat, der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 31). - Humanität u. Dialog. Lessing u. Mendelssohn in neuer Sicht, hg. v. Erhard Bahr/Edward P. Harris/Lawrence G. Lyon, Detroit/München 1982 (Beih. zum Lessing-Yearbook). Lessing. Epoche - Werk - Wirkung. Ein Arbeitsbuch für den literaturgesch. Unterricht, hg. v. Wilfried Barner/Gunter Grimm u.a..München 4 1 9 8 1 . - N a t i o n u. Gelehrtenrepublik. Lessing im europ. Zusammenhang, hg. v. Wilfried Barner/Albert M. Reh (Sonderbd. zum Lessing Yearbook). - Gotthold Ephraim Lessing, hg. v. Gerhard u. Sibylle Bauer, 1968 (WdF 211). - Lessing heute. Beitr. zur Wirkungsgesch., hg. v. Edward Dvoretzky, Stuttgart 1981. — Lessing in heutiger Sicht. Beitr. zur Int. Lessing-Konferenz Cincinnati, Ohio 1976, hg. v. Edward P. Harris/Richard E. Schade, Bremen/ Wolfenbüttel 1977. - Lessing u. der Kreis seiner Freunde, hg. v. Günter Schulz, Heidelberg 1985 (Wolfenbütteler Stud. zur Aufklärung 8). - Lessing-Konferenz Halle 1979, T. 1 u. 2 hg. v. HansGeorg Werner, Halle 1980 (Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg). - Lessing u. Spinoza, hg. v. Thomas Höhle, Halle 1982 (Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg. Wiss. Beitr. 1982/1). Bausteine zu einer Wirkungsgesch. Gotthold Ephraim Lessings, hg. v. Hans Georg Werner, Berlin/Weimar 1984. - Lessing u. die Toleranz. Beitr. der vierten int. Konferenz der Lessing Society in Hamburg v. 27. bis 29. Juni 1985, hg. v. Peter Freimark u. a., Detroit/München 1986 (Sonderbd. zum Lessing Yearbook). - Verspätete Orthodoxie. Über D. Johann Melchior Goeze (1717-1786), hg. v. Heimo Reinitzer/Walter Sparn, Wiesbaden 1989 (Wolfenbütteler Forschungen 45). Neuere Literatur (in
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Gottfried Hornig Lettland -» Baltikum Lettner -+ Kanzel, -> Kirchenbau Leuenberger Konkordie 1. Begriff und Bedeutung 2. Vorgeschichte 4. Ergebnis (Textausgaben/Literatur S. 35)
1. Begriff und
3. Diskussion und Fortentwicklung
Bedeutung
Leuenberger Konkordie ist der Kurzname für die „Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa", eine theologische Erklärung, die in der endgültigen Fassung von Vertretern lutherischer, reformierter und anderer reformatorischer Kirchen im März 1973 auf dem Leuenberg bei Basel erarbeitet wurde und inzwischen von 81 Kirchen unterzeichnet worden ist (Stand 1990). Die Konkordie versteht sich selbst als eine „Ubereinstimmung im Verständnis des Evangeliums", die zwischen den Kirchen, die sie unterzeichnen, „Kirchengemeinschaft" begründet. Was unter diesem Begriff zu verstehen ist, wird im 4. Teil ausgesagt und im einzelnen dargelegt: „Kirchengemeinschaft im Sinne dieser Konkordie bedeutet, daß Kirchen verschiedenen Bekenntnisstandes aufgrund der gewonnenen Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums einander Gemeinschaft an Wort und Sakrament gewähren und eine möglichst große Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst an der Welt erstreben" (Leuenberger Konkordie 29). Es geht also nicht um einen abstrakten Konsensus in der Lehre oder um rechtlich fixierte zwischenkirchliche Beziehungen, sondern um einen Prozeß des Zusammenwachsens, eine „Zeugnis- und Dienstgemeinschaft", die im Evangelium gründet. Die Konkordie ist deshalb nicht der Abschluß sondern Grundlegung und Beginn eines gemeinsamen Weges der Kirchen, auf dem „kontinuierliche Lehrgespräche" eine zentrale Bedeutung haben (Leuenberger Konkordie 37). Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hat die Leuenberger Konkordie 1983 in ihre Grundordnung aufgenommen. Der Text der Einfügung Art. 1, Abs. 4 lautet: „Zwischen den Gliedkirchen besteht Kirchengemeinschaft im Sinne der Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie). Die Evangelische Kirche in Deutschland weiß sich mit ihren Gliedkirchen verpflichtet, die in ihr bestehende Gemeinschaft auch im Sinne dieser Konkordie zu stärken und die Gemeinsamkeit im Verständnis des Evangeliums zu vertiefen" (ABl EKD 38 [1984] 249).
2. Vorgeschichte Die Bedeutung der Konkordie ist zu messen am Verhältnis der reformatorischen Kirchen vor ihrer Erarbeitung. Der Dialog zwischen den Konfessionen war nach ihrer jahrhundertelangen Eigenentwicklung außerordentlich schwierig. Wo es zu Unionen (-»Unionen, Kirchliche) kam, verdankten sie sich in der Regel landesherrlichen Entscheidungen (-•Kirchenregiment, Landesherrliches). Auch die Gemeinschaft des Kirchenkampfes, begründet in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, wurde alsbald in Frage gestellt durch den Dissens in konfessionell geprägten Glaubenslehren (-»Nationalsozialismus und Kirchen). Zwischen den Gliedkirchen der EKD bestand keine volle Abendmahlsgemeinschaft (-»Abendmahl; Abendmahlsfeier).
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Leuenberger Konkordie
Seit 1963 wurden im Rahmen des Sekretariats für Glauben und Kirchenverfassung beim ökumenischen Rat der Kirchen lutherisch-reformierte Gespräche auf europäischer Ebene geführt. Diese sogenannten Schauenburger Gespräche haben zunächst ein traditionelles Verfahren verfolgt: Sie erörterten verschiedene Glaubensartikel. Es zeigte sich freilich, daß die Erörterung einzelner theologischer Themen, wenn Kirchengemeinschaft auf sie begründet werden soll, niemals zu einem Abschluß gebracht werden kann. Sowohl die Komplexität historischer Bekenntnisformulierungen als auch die gegenwärtiger theologischer Fragestellungen verhindern dies. Einen neuen Anstoß erfuhren die Verhandlungen durch die lutherisch-reformierten Gespräche in der EKD (1968-1970). Diese gingen aus von Art. 7 der Confessio Augustana (-»Augsburger Bekenntnis). Er unterscheidet zwischen dem, was zur wahren Einheit der Kirche genügt, und dem, was dafür nicht notwendig ist. Die Ubereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und der rechten Feier der -»Sakramente erschien als zur Kirchengemeinschaft genug. Auf diesem Hintergrund erarbeitete die erste Versammlung in Leuenberg vom 19.-24. September 1971 den Entwurf einer Konkordie reformatorischer Kirchen. Er umfaßt vier Teile: in einem l.Teil beschreibt er die Voraussetzungen heutiger Kirchengemeinschaft: den gemeinsamen Horizont der Reformationskirchen und die neuzeitlichen Entwicklungen, die quer durch die Konfessionen gehen. In einem 2. Teil wird das Verständnis des Evangeliums dargelegt unter dem Titel Rechtfertigung als die Botschaft von der freien Gnade Gottes und es wird über Verkündigung, Taufe und Abendmahl als Gestalten der Rechtfertigung gehandelt. In einem 3. Teil wird bei den drei Hauptkontroversen der Reformationszeit (Abendmahl, Christologie, Prädestination) dargelegt, warum die traditionellen Lehrverwerfungen die Lehre der Partnerkirchen, die der Konkordie zustimmen, nicht mehr betreffen. Im 4. Teil werden dann konkrete Schritte zur Erklärung von Kirchengemeinschaft dargelegt. Der Entwurf wurde den reformatorischen Kirchen in Europa mit der Bitte um Stellungnahme zugeleitet und in den einzelnen Kirchen bis auf die Ebene der Kirchenvorstände beraten. Ein Fortsetzungsausschuß hat dann die eingegangenen Stellungnahmen in einer Synopse zusammengestellt und einen neuen Entwurf erarbeitet. Bei der zweiten Sitzung der Versammlung reformatorischer Kirchen vom 12.-16. März 1973 wurde der Text aufgrund der eingegangenen Zensuren noch einmal überarbeitet und nunmehr festgestellt, da die Änderungen nicht so gravierend waren, daß eine weitere Bearbeitung des Textes neue Ergebnisse hätte erwarten lassen. Er wurde den Kirchen mit der Bitte um Zustimmung bis zum 30. September 1974 zugeleitet. Bis Oktober 1974 hatten über 50 Kirchen diese Zustimmung abgegeben. 3. Diskussion und
Fortentwicklung
Der Entwurf der Konkordie war nicht ohne Widerspruch geblieben, namentlich von konservativ-lutherischer Seite. Die Kritik erklärte, dies sei ein „Minimalkonsens", der das Bekenntnis verenge und andere Glaubensartikel, z. B. die altkirchlichen Bekenntnisse, ungenügend behandle (-»Glaubensbekenntnisse). Im Sinne der Konkordie war darauf zu antworten, daß die Rechtfertigung im Sinne der Reformation nicht ein Glaubensartikel neben anderen ist, sonden der Inbegriff der der Kirche aufgetragenen Heilsverkündigung. Übereinstimmung in der -»Rechtfertigung bedeutet deshalb nicht Verkürzung des Glaubensbekenntnisses auf ein dogmatisches Minimum, sondern vielmehr, daß rechte evangelische Lehre allein dadurch zustandekommt, daß alle Bekenntnissätze sich als Bestandteil des in der Rechtfertigung bezeugten Heilsglaubens erweisen lassen. Diese in der -»Reformation begründete Gewißheit hat nun freilich Konsequenzen für das Verständnis der Konkordie selber wie für das in ihr begründete Verständnis der Kirchengemeinschaft. Geht es nicht um einen Minimalkonsens sondern um möglichst große Gemeinschaft, dann muß die im Zentralen gewonnene Gemeinschaft sich immer neu bewähren. Deshalb gehört zur Konkordie zentral die Verpflichtung zu kontinuierlichen Lehrgesprächen an immer neuen Themen. Die Leuenberger Konkordie sagt dazu: „Die beteiligten Kirchen lassen sich bei der gemeinsamen Ausrichtung von Zeugnis und Dienst von dieser Uberein-
Leuenberger Konkordie
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Stimmung leiten und verpflichten sich zu kontinuierlichen Lehrgesprächen untereinander" (Leuenberger Konkordie 37). Anstelle eines kontroverstheologischen Dialogs tritt die Verständigung innerhalb einer Kirchengemeinschaft über die gemeinsamen Aufgaben. Die Konkordie verpflichtet eben hierzu. So wird sie vielleicht besser, als eine bloße Wiederholung traditioneller Lehraussagen es könnte, der Verpflichtung gerecht, verbindliche Lehre des Evangeliums in den Herausforderungen der Gegenwart zu gewinnen. In der Konkordie selbst werden bereits eine Reihe von notwendig zu bearbeitenden Themen aufgezählt (Leuenberger Konkordie 39). Zur Erfüllung dieser Aufgabe tagte eine erste Vollversammlung der Unterzeichnerkirchen, die im Juli 1976 in Sigtuna (Schweden) Delegierte aus über 50 Kirchen vereinigte. Außerdem nahmen Beobachter anderer Konfessionen teil sowie Vertreter von Kirchen in Skandinavien, die aus kirchenrechtlichen Gründen eine formelle Unterzeichnung der Konkordie nicht vollziehen können, ihr aber inhaltlich zustimmen. Die Versammlung kam zu ersten Empfehlungen für Lehrgespräche und setzte einen Koordinierungsausschuß ein, der die Lehrgespräche in vier Regionen Europas organisierte. In den Regionalkonsultationen, zu denen die Kirchen ihre Delegierten entsenden, werden sowohl die traditionellen Lehrgegensätze als auch Fragen gegenwärtiger Praxis bearbeitet (z.B. im Themenbereich „Amt und Ordination" sowie „Zeugnis und Dienst im Europa der Gegenwart"). Die allgemeine Aufnahme der Lehrgesprächsergebnisse in den Unterzeichnerkirchen erfordert die Einberufung weiterer Vollversammlungen (1981 in Driebergen, Niederlande; 1987 in Straßburg). Die Vollversammlung diskutiert die Ergebnisse der Lehrgesprächsgruppen, beschließt über ihre Rezeption und gibt weitere Aufgaben für künftige Lehrgespräche. 4. Ergebnis Nach einer 10jährigen Arbeit an und mit der Konkordie hat sich gezeigt, daß der beschrittene Weg nicht nur tatsächlich zu einer Aufhebung traditioneller Trennungen in Verkündigung und -»Lehre geführt hat, sondern auch in vielen Fällen zu einem Zusammenwachsen der Kirchen (vgl. TRE 20,614,17ff). Andererseits ist nicht zu leugnen, daß die Leuenberger Konkordie und die durch sie begründete Kirchengemeinschaft nach wie vor wesentlichen Anfragen ausgesetzt ist. Einerseits kann gefragt werden, ob das Zusammenwachsen der Kirchen heute nicht mehr erfordert als Lehrgespräche. Zum anderen wird gefragt, ob die Leuenberger Kirchengemeinschaft als reformatorisches Sonderbündnis den ökumenischen Konvergenzbemühungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung genügend Rechnung trage. Demgegenüber bleibt festzustellen: Kirchengemeinschaft fordert mehr, als die Überwindung von Lehrdifferenzen, beruht aber fundamental auf dem Konsensus im Evangelium. Eben dieses Kriterium für die wahre Einheit der Kirche (entsprechend CA VII) ist das gemeinsame Erbe, das die reformatorischen Kirchen in das Bemühen um die Gemeinschaft der christlichen Kirchen insgesamt einzubringen haben (vgl. TRE 13, 435, 16ff). Textausgabe Wenzel Lohff, Die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa: Leuenberger Konkordie. Eine Einf. mit dem vollen Text, Frankfurt a . M . 1985.
Literatur Eilert Herms, Von der Glaubenseinheit zur Kirchengemeinschaft. Plädoyer f. eine realistische Ökumene, 1989 (MThSt 27), 2 9 - 4 4 ; 7 7 - 8 6 ; 169-184. - Konkordie u. Kirchengemeinschaft reformatorischer Kirchen im Europa der Gegenwart. Texte der Konferenz v. Driebergen/Niederlande (18. bis 24. Februar 1981), hg. v. André Birmelé, 1982 (ökPer 10). - Konkordie u. Ökumene. Die Leuenberger Kirchengemeinschaft in der gegenwärtigen ökum. Situation. Texte der Konferenz v. Straßburg (18. bis 24. März 1987), hg. v. André Birmelé, Frankfurt a. M. 1988. - Marc Lienhard, Luth.-ref. Kirchengemeinschaft heute. Der Leuenberger Konkordienentwurf im Kontext der bisherigen luth.ref. Dialoge, 1972 (ÖkPer 2) (Lit.). - Tuomo Mannermaa, Von Preußen nach Leuenberg. Hintergrund u. Entwicklung der theol. Methode in der Leuenberger Konkordie, Hamburg 1981 (Arbeiten
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Levi/Levitcn
zur Gesch. u. Theol. des Luthertums N.F.l). - Elisabeth Schiefer, Von Schauenburg nach Leuenberg. Entstehung u. Bedeutung der Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa, 1983 (KKTS 48) (Lit.). - Lukas Vischer (Hg.), Auf dem Weg, Zürich 1967. - Zeugnis u. Dienst reformatorischer Kirchen im Europa der Gegenwart. Texte der Konferenz v. Sigtuna (10. bis 16. Juni 1976), hg. v. Marc Lienhard, 1977 (ökPer 8). Wenzel Lohff
Levi/Leviten 1. Einführung 4. Deuteronomium (Literatur S. 40)
2. Chronistisches Geschichtswerk 3. Priesterschrift und Umliegendes 5. Der vordeuteronomische Befund 6. Mose als Levit 7. Etymologie
1. Einführung Über Levi und die Leviten w e i ß man nicht viel Sicheres, und manches wird auf Dauer umstritten bleiben. Z u d e m Sicheren gehören weder die Herleitung des N a m e n s (KBL 3 ) noch eine in Grundzügen plausible Geschichte des Levitentums (Strauß, G u n n e w c g ) , w o h l aber das Bild am Ende der alttestamentlichen Überlieferung, also das des ChrG, unterteilt nach I, II einerseits, Esr, N e h andererseits (Smend, Kaiser, Schmidt). Wortstatistik: Levi steht 99 x im Sg. (38 x mit Artikel), die Leviten (PI., stets mit Art.) sind ca. 250 x belegt (plus 4 x aram. Esr 6,16.18; 7,13.24). Dazu kommt Sir 45,9 (II Chr 23,18 Text?). Ungefähr die Hälfte aller Belege findet man in I, II Chr (113 x ) und Esr, Neh (69 x ),26 im Dtn und 66 in P (im weitesten Sinn). Keine Erwähnung bieten XII Propheten (ohne Sach, Mal), Hi, Spr, Megillot, Dan, und das Buch Lev nur 4 (Kap. 25!; s. dazu Kellermann: T h W A T 4, 502).
2. Chronistisches
Geschichtswerk
Für die redaktionellen Schichten, die der Kürze halber im folgenden nicht unterschieden werden, scheint das seit d e m D t n anstehende Problem gelöst. Leviten und Priester werden unterschieden. Z w a r gibt es gelegentlich noch die alte Identifizierung I Chr 9,2; II Chr 5,5; 23,18; 30,27; Esr 10,5; N e h 10,35; 11,20, viel häufiger aber die Trennung (Belege bei Kellermann 516). Die Leviten bilden nun zwar den Klerus minor, versehen aber in diesem R a h m e n Tempeldienste ganz unterschiedlicher Art. Sie führen die Aufsicht über Tempelhöfe, Vorratskammern mit allerlei kultischen Geräten, Mehl, Wein, ö l , Weihrauch, Gewürzen, über Abgaben (Hebe), Zehnt, Weihgeschenke, die heiligen Maße, Bauarbeiten, Geldsammlungen und dgl., und sind zumal Tag und Nacht als Sänger, Musiker und Türhüter tätig (Hölscher: PRE 12,2178f). Zu ihnen gehörten z.B. auch Bäcker, die im Tempelkult benötigtes Backwerk herstellten I Chr 9,32, und sie unterstützten Priester beim Opferdienst, z.B. beim Häuten von Tieren. Sie galten Jahwe als heilig II Chr 35,3, und der Terminus für Kultdienst seret kann gelegentlich auf sie angewandt werden 1 Chr 15,2 (vgl. auch das feine Gewand I Chr 15,27; II Chr 5,12). Unter den Leviten, nicht zu ihnen gehörig, gab es die Tempelhörigen (Netinim) I Chr 9,2. Bei einer so heterogenen Gruppe kann es nicht überraschen, d a ß es a) interne Streitigkeiten gab und dabei b) T h e o r i e und Wirklichkeit nicht immer klar erkennbar sind. Interne Streitigkeiten gehen vor allem aus unterschiedlichen Genealogien hervor (s. auch u. Abschn.3; zum Ganzen etwa Hölscher 2180-2184; beispielhaft Gese, Vom Sinai zum Zion 147-158). Ein Beispiel ist die Ersetzung Asafsals 1. Sängergilde I Chr 25,2-6; II Chr 5,12; 29,12-14; 35,15 durch Heman I Chr 6,18-32; 15,17.19 (Weiteres bei Gese). An Unklarheiten darf man nennen: I Chr 23,3-5 etwa erwähnt levitische Richter - historisierend oder wirklichkeitsnah? In II Chr 35,3 haben einige die Aufgabe, Israel verständig zu machen (bin), II Chr 17,7 IT in den Städten Judas zu lehren...- als dtn. oder historische Reminiszenz, als Theorie oder Wirklichkeit, und in welchem Sinne? Sind sie als Schreiber I Chr 24,6; II Chr 34,13 (neben Tempelpolizei), Schriftgelehrte (Kellermann 517) oder Registratoren (Hölscher 2185) tätig gewesen? Wenn Sänger prophetisch auftreten I Chr 2 5 , 1 - 3 (nibbä ) oder Levit Jachaziel II Chr 20,14-17 als Prophet eine Rolle spielt, ist das eine zusätzliche Begabung im Bereich des Heiligen oder eine Fortsetzung der Tempelprophetie?
Levi/Levitcn 3. Priesterschrift
und
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Umliegendes
Geht man vom C h r G rückwärts, so k o m m t man zunächst zu dem D o k u m e n t der Heimkehrerliste Esr 2 / N e h 7, in dem die Sänger und Torhüter noch von den Leviten getrennt angeführt werden (Esr 2,42; Neh 7,45; dazu Esr 7,24; 10,24; Neh 10,29; 11,19). Dazu fällt auf, d a ß im Vergleich zur Z a h l der Priester (4289 nach Esr 2 , 3 6 - 3 9 / N e h 7 , 3 9 - 4 2 ; 1192 nach Neh 11) nur sehr wenige Leviten (74 nach Esr 2,40/Neh 7,43; 284 mit Sängern plus 172 Torhüter nach Neh 11) zurückkehrten. Da Neh 3,17f eine Levitenkolonie im judäischen Kegila kennt, wäre es d e n k b a r , d a ß ein großer Teil der Leviten nicht deportiert wurde, weil sie nicht zur Oberschicht gehörten. Esr 8 , 1 5 - 1 9 erzählt freilich, d a ß wenige Leviten bereit waren, Esra nach J u d ä a zu folgen. Dazu paßt die Nachricht Neh 13,10ff, d a ß Nehemia eingreifen mußte, weil Leviten in größerer Z a h l den Tempeldienst wegen Ausbleiben des Zehnten, ihrer Einnahmequelle, verließen. N o c h weiter zurück liegen der Verfassungsentwurf Ez 4 0 - 4 8 (vielschichtig) und P (mit P" auch viel Spätes). Wichtig ist wohl nur, d a ß in Ez wie in P den Leviten in erster Linie Priesterrechte bestritten werden (Kellermann 513 f)- Z w a r heißen die Aaroniden und Z a d o k i d e n levitische Priester (40,46; 43,19; 44,15), aber sie werden von den übrigen Leviten gründlich getrennt. 4 4 , 6 - 1 6 behauptet dazu, d a ß die Leviten Israel beim Götzendienst geholfen hätten (die Priester nicht?) - also degradiert man sie zu Torhütern, Polizisten, Schlächtern, Handlangern. Übrigens hat sich nicht durchgesetzt (s.o.), d a ß Leviten die Schlacht- und Brandopfer darbringen durften (44,11; Zimmerli 1127). D a m i t k o m m t man zu P (im weitesten Sinn) mit einer wahren Uberfülle an Nachrichten, in denen Theorie und ein bißchen Wirklichkeit gemischt erscheinen. Im Kern steht eine Programmatik, in der zwar Aaroniden und Leviten zusammen den Stamm Levi bilden (Gunneweg 185), die Leviten aber rigoros bis zur A n d r o h u n g der Todessanktion N u m 3,10 (auch N u m 16—18) vom Priestertum ausgeschlossen werden. Da die den Leviten zugeordneten Hilfsdienste auf das Wüstenheiligtum bezogen sind (Num 1,50.53 f; 3 , 7 - 9 ; 1 8 , 2 - 6 ; auf die Sippen Gerschon, Merari und Kahat verteilt N u m 7 , 1 - 9 ; noch minutiöser 4 , 1 - 4 9 ) , das sie nur beim Transport und beim A u f b a u bedienen dürfen (Todessanktion bei Betreten 18,3), fehlt eine Bestimmung ihrer Funktionen am 2. Tempel - die Texte bleiben in der Programmatik der Abwehr. Dagegen findet man unterschiedliche Nachrichten zum Dienstalter. Num 4 (vgl. I Chr 23,3) rechnet mit einem Dienst vom 30. bis zum 50. Lebensjahr, was darauf deutet, daß Leviten nicht allein vom Tempeldienst leben konnten. Num 8,23-26 setzt den Beginn auf 25 herab, Esr 3,8; I Chr 23,24.27; II Chr 31,17 auf 20. Spiegelt sich darin schlicht ein wachsender Bedarf an Hilfsdiensten? Der Lebensunterhalt der Leviten wurde durch den Zehnt abgedeckt (Aufzählung Neh 10,36-38; Lev 27,30-33; vgl. Kellermann 517). Num 18,21 wird er Levis Erbteil genannt, obwohl er offensichtlich umkämpft war (s. o.). Nach Num 18,25 ff sollten die Leviten den Priestern den Zehnt vom Zehnt geben (vgl. Neh 12,47; 13,5). Neh 10,38 weiß, daß die Priester das Beste von Mehl, Früchten, Most und ö l bekamen, die Leviten den Zehnten vom Acker. Man wird hier mit Theorie rechnen müssen. Es gibt nämlich Nachrichten, daß Leviten entgegen einer alten Regel (z. B. Jos 13,14), über keinen Landbesitz zu verfügen, z.B. zu ihren Feldern flohen (Neh 13,10), also Grundbesitz hatten. Lev 25,29f.32-34 erörtert den Fall von Hausbesitz eines Leviten in einer Stadt und untersagt den Verkauf von Weideland, das zu Levitenstädten gehörte. O b hierher die sonderbare Uberlieferung von Levitenstädten gehört (Jos 21,1-42; I Chr 6,39-66; Num 35)? Die 48 angeführten Städte zeigen zwei Lücken, eine im Zentrum von Juda südlich von Jerusalem und eine im Zentrum Israels mit Ausnahme Sichems. Die plausibelste Erklärung gab wohl de Vaux (Lebensordnungen II, 203), die Listen enthielten Erinnerungen an verstreute Levitenwohnorte bald nach Gründung der Staatsheiligtümer von Jerusalem und Bethel.
Bemerkenswert ist schließlich, d a ß N u m 8,5—22 eine Levitenweihe in Analogie zur Priesterweihe Lev 8/Ex 29 kennt (Beschreibung bei Kellermann 115-124). Ganz merkwürdig ist die Theorie N u m 3, d a ß J a h w e sich die Leviten anstelle der Erstgeburt Israels aus d e m Volke genommen habe. „ D a d u r c h , d a ß der ganze Stamm Levi f ü r jeden einzelnen Erstgeborenen in Israel ausgesondert gedacht wird, tritt jeweils ein ganzer Mensch als G a b e an Gott ein. Auf diesem Wege wird das G e b o t (sc. der Erstgeburtsabgabe) auf dem
Levi/Levi ten
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Wege menschlicher Stellvertretung in einzigartiger Weise e r f ü l l t " ( K e l l e r m a n n 5 1 9 ) . W e n n allerdings in einem A n h a n g ( 3 , 4 0 . 4 2 f) die E r s t g e b u r t e n Israels e r r e c h n e t ( 2 2 0 0 0 ) und der levitische Ü b e r s c h u ß (273) mit je 5 Schekel bezahlt w e r d e n , n i m m t s o w o h l R e c h n u n g als auch K o p f s u m m e dem G e d a n k e n seinen G l a n z . 4.
Deuteronomium
H i e r findet m a n b e k a n n t l i c h als P o s t u l a t , wogegen P und Ez sich w e h r e n . N a c h 18,1; 10,8 scheint der g a n z e S t a m m Levi/alle Leviten zum Priesterdienst b e r u f e n . Dies die theoretische S p i t z e n f o r m e l ! D a n e b e n steht die I d e n t i f i k a t i o n s f o r m e l „ d i e Priester die L e v i t e n " . Brisanz b e k o m m t diese F o r m e l e b e n s o wie die vorige durch die V o r s c h r i f t , d a ß jeder Levit (nicht nur a m Z e n t r a l h e i l i g t u m installierte) berechtigt sei, kultischen Dienst a m Z e n t r a l h e i l i g t u m zu versehen (Dtn 10,8; 1 8 , 6 - 8 ) . S o l a n g e es viele H e i l i g t ü m e r g a b , w a r f der Priesterdienst von Leviten keine grundsätzlichen P r o b l e m e auf. A u f das Z e n t r a l heiligtum bezogen, w a r der o b e n (Ez, P) e r w ä h n t e Streit vorgezeichnet. Z u r W i r k u n g s g e s c h i c h t e der dtn. P r o g r a m m a t i k g e h ö r t die R e d e von der Berit J a h w e s mit Levi ( J e r 3 3 , 1 8 . 2 1 ; 3 3 , 1 4 f f fehlen in L X X [spätes F l u g b l a t t ? , so R u d o l p h ] ) , die hier an die Berit zugunsten des H a u s e s Davids gekoppelt ist. Insoweit k ö n n e n bereits chronistische Vorstellungen eingewirkt h a b e n ; nur knüpft an dtn. P r o g r a m m a t i k a n , d a ß levitische Priester O p f e r darbringen sollen, so sicher wie T a g und N a c h t m i t e i n a n d e r wechseln. Insoweit als Priester aus Levi k o m m e n sollten, findet m a n die P r o g r a m m a t i k auch in den E r w ä h n u n g e n des Levibundes Neh 1 3 , 2 9 ; M a l 2 , 1 - 8 : I m ersten Fall hat der Chefpriester E l j a s c h i b , im zweiten Fall h a b e n alle levitischen Priester den Levibund g e b r o c h e n ( M a l k n ü p f t an D t n 3 3 , 8 - 1 1 an). D a s W o r t Berit dient also hier der A n k l a g e (vgl. den dtr. G e b r a u c h bei Perlitt, B u n d e s t h e o l o g i e , 1 9 6 9 ) . 5. Der vordeuteronomische
Befund
D a m i t k o m m t m a n zu d e m schwierigsten Teil, nämlich der B e s c h r e i b u n g des vordtn. Befundes, der aus Z u f a l l s n a c h r i c h t e n besteht. Als Anleitung m ö g e die F r a g e dienen, aus welchen Wurzeln die bisher entfalteten T a t b e s t ä n d e e r k l ä r b a r werden. a ) E i n e wertvolle N a c h r i c h t enthält die dtn. Wendung v o m „ L e v i t in deinen T o r e n " (Dtn 1 2 , 1 2 . 1 8 ; 1 4 , 2 7 . 2 9 ; 1 6 , 1 1 . 1 4 ; 2 6 , 1 1 - 1 3 ) . E r wird der b e s o n d e r e n F ü r s o r g e der Freien a n e m p f o h l e n wie W i t w e , Waise und Fremdling. Er entspricht a m ehesten d e m ger, weil er o h n e Landbesitz w a r und v o m Anteil a m Z e h n t 2 6 , 1 2 f leben m u ß t e , soweit dieser e i n k a m . Diese N a c h r i c h t s t i m m t zu den sicher u n a b h ä n g i g e n G e s c h i c h t e n (Ri 1 7 f ; 1 9 f ) . N a c h Ri 17 f w a r ein Levit zur Anstellung als Priester h o c h w i l l k o m m e n , a b e r nach Ri 19 f (aus J u d a k o m m e n d ) einerseits in E r w a r t u n g guten Schutzes in G i b e a B e n j a m i n , andererseits einem totalen M i ß b r a u c h als Person minderen R e c h t s ausgesetzt (Strauß, G u n n e weg). b) Eine L e g i t i m a t i o n zu Priesterdiensten begründet E x 3 2 , 2 9 ( G u n n e w e g 2 9 - 3 7 ) , weil Leviten unter Preisgabe engster v e r w a n d t s c h a f t l i c h e r Bindungen ihre E x i s t e n z in bezug a u f J a h w e führten. D i e dazu ergänzte Erzählung V. 2 5 - 2 8 d e m o n s t r i e r t das an einer rigorosen T ö t u n g aller, die d e m Bilderdienst huldigten, a u f M o s e s Befehl, (ob ein G e gensatz zu A a r o n beabsichtigt ist, bleibt umstritten). c) D a ß D t 3 3 , 8 - 1 1 für das vordtn. Verständnis g r ö ß t e Bedeutung hat, gilt unbestritten - so findet m a n V. 9 a wieder die v e r w a n d t s c h a f t l i c h e Bindungslosigkeit, V. 1 0 b priesterliche T ä t i g k e i t als Soll Vorschrift und V. I I b eine so erhebliche G e f ä h r d u n g , d a ß J a h w e den Feinden die Lenden zerschlagen m ö g e . Aber von der Ubersetzung angefangen (V.8a non cj, gegen l Q J e s a L X X , weil nach V . 9 b - 1 0 Jahwe das Du sein muß), gibt es extrem viele Deutungsprobleme. Geht man vom überlieferten Wortlaut aus (anders zuletzt Schulz: V . 9 b . l 0 Zusatz), so scheint klar: 1. Erst die zweite, nicht die erste Sollvorschrift verlangt Priesterrecht (V. 10b). 2. V. 8a ist im Unterschied zu V. lOa.lOb kein Jussiv, sondern Sachfeststellung: das Losorakel war Basis für die Mannen „deines Frommen". 3. Wenn Neh 13,29; Mal 2,1 - 8 den V. 9 b richtig verstanden haben, handelt er von einem Sonderauf-
Levi/Leviten
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trag J a h w e s für die Leviten, den diese beachtet h a b e n . Als Begründung von V. 9 a k o m m t dann die Landlosigkeit in Betracht, da ein Grundbesitzer s o w o h l Pflichten gegen den Vater als auch gegen dessen H a u s hatte. 4 . Als Sippenunabhängige (V. 9) und als von J a h w e G e p r ü f t e (V. 8 b) standen sie außerhalb jeder Befürchtung, das Los parteiisch zu h a n d h a b e n . Als die, die eine spezifische Weisung J a h w e s befolgten, sollten bevorzugt sie seine spezifischen Rechtssetzungen und rituellen E r f o r d e r nisse (Tora) lehren und zur Entscheidung bringen sowie seltenere O p f e r zubereiten (V. 9 b—10). 5 . O h n e den besonderen Segen J a h w e s können sie ihre Existenzbasis nicht halten V. 11 a, ja sie haben regelrechte Hasser, objektive Feinde gegen sich. 6. Sie sind in einem S t a m m zusammengeschlossen, da seit der Z e i t der Könige die S t ä m m e i m m e r stärker genealogisch zu verstehen sind.
Indem V. 8 b an die Wüstenzeit anknüpft (wer ist der Fromme?), herrscht schon in diesem Spruch eine Mischung aus Theorie und Wirklichkeit, Retrojektion und Programm. d) D a ß die Leviten Dtn 3 3 , 8 - 1 1 und danach vielfach als Stamm erscheinen, entspricht dem Grundsatz Ex 32,29; Dt 3 3 , 9 a nicht besonders gut, da ein Stamm letztlich auf Vaterhäuser zurückging. Der Zusammenschluß gemeinsamer Interessen ließ sich indessen so bewältigen, weil es eine (wohl sehr alte) Tradition von einem Stamm Levi gab Gen 49,5—7a ( 7 b Zusatz: Schottroff 134ff). Solange man den Wortlaut nicht ändert (und was könnte das legitimieren?), ist das Zeugnis aber unableitbar und daher nicht zu umgehen (anders zuletzt Kellermann). Einen Übergang zu den späteren Leviten sollte man nicht in Gen 49 (so Gunneweg 44ff; G . Schmitt, zuletzt Schulz) suchen, da zwischen dem rigorosen Eifer für das Heilige und rasender Willkür eine Welt liegt. Wohl aber kann man ihn in Gen 34 nicht ausschließen, wenn die Notiz V. 25 a kein Zusatz ist; denn dann haben nur Simeon und Levi (nicht die Brüder) das eindeutige Urteil V. 7 „Nebala in Israel" vollstreckt (V. 26; V. 25 b vor V. 26 Zusatz mit Wellhausen, Comp. z.St.). Nach dem Aufbau von Gen 34 kam es darauf an, daß wenige, nämlich nur zwei, während der Beschneidungsschmerzen sicherer (V. 25 a) in die Stadt kamen als viele (V. 2 5 b . 2 7 - 2 9 a dürfte den Konflikt gemäß Dtn 20, 1 0 - 1 5 zum totalen Krieg ausweiten). In Gen 34 gibt es also zwei auffällige Elemente: 1. Simeon und Levi traten in einem Fall, in dem Chamor und Sichern die Grenzen zwischen zwei Volksgruppen politisch verwischten, für Israels Recht ein. Das Delikt (Verletzung des Gastrechts in sexualibus) erinnert stark an Ri 19 f, nur daß dort der Lcvit der Betroffene war, hier eine Schwester. 2. Simeon u. Levi werden nicht notwendig als große Stämme vorgestellt ( 4 9 , 5 - 7 a haben nicht eingewirkt). Wenn man sich auf den Befund einen Reim machen will, benötigt man zwei Annahmen: 1. Aufgrund der Distanzierung des Sprechers von 4 9 , 5 - 7 a (letztlich der Brüder?, vgl. V. 5 a) kam es zu der rudimentären Existenz der beiden Gruppen, wie aus historischer Zeit bekannt. 2. Die durch Ex 32,29: Dtn 3 3 , 8 - 1 1 gekennzeichnete „Berufs"gruppe der Leviten wurde von ihren Feinden Dt 3 3 , 1 1 b wegen ihres Rigorismus Ex 32,25—28 mit dem alten Namen Levi belegt, der jedoch umdeutungsfähig war (s.u. 7). Die Listen mit Levi in Gen 3 5 , 2 3 - 2 6 ; Ex 1 , 2 - 4 (Gen 46,8 - 2 5 ) ; Ez 4 8 , 3 1 - 3 5 ; I Chr 2,1 f (27,16 - 2 2 ? ) erweisen sich damit als programmatisch von Dtn 33 abhängig. 6. Mose als Levit Zu M o s e als Levit in Ex 2,1 vgl. W . H . Schmidt (BK 11/1, 4 9 f . 6 5 - 6 7 ) : Es könnte sein, daß die Leviten Mose als einen der ihren betrachtet haben (Noth, Überlieferungsgeschichte 219 Antn. 545.236), wohl wegen des Eifers für J a h w e - die engste Berührung in älterer Überlieferung ist E x 3 2 , 2 5 - 2 8 . 7. •Etymologie Zur Etymologie nimmt Kellermann ausführlich ( 5 0 3 - 5 0 6 ) Stellung: Am wahrscheinlichsten ist z. Z . die Annahme eines hypokoristischen Personennamens „Klient des Gottes X " (vgl. Noth, Remarks 327). Dazu gibt es eine Parallele in Mari (Lawi-AN) und vielleicht in Ägypten (ra-wi- 'i-ri, Ramses III., dazu Helck 238 und Weippert, Landnahme
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48f Anm.8). Solange die Bedeutung „Klient" bekannt war, konnten auch Leviten ohne Schimpf sich so benennen lassen. Literatur Verwiesen sei auf das ausführliche Literaturverzeichnis bei Diether Kellermann, Art. lewi: T h W A T 4 (1984) 499-521. H a r t m u t Gese, Vom Sinai zum Zion. Atl. Beitr. zur bibl. Theol., 1974 (BEvTh 64). - Antonius H. J. Gunneweg, Leviten u. Priester, Hauptlinien der Traditionsbildung u. Gesch. des israelit.-jüd. Kultpersonals, 1965 (FRLANT 89). - Wolfgang Helck, Die Beziehungen Ägyptens zu Vorderasien im 3. u. 2. Jt. v. Chr., 2 1971 (ÄA 5). - Gustav Hölscher, Art. Levi: PRE XII/2 (1925) 2155-2208. - O t t o Kaiser, Einl. in das AT. Eine Einf. in ihre Ergebnisse u. Probleme, Gütersloh 5 1984. - Diether Kellermann, Die Priesterschr. v. N u m 1,1 bis 10,10 literarkrit. u. redaktionsgesch. untersucht, 1970 (BZAW 120). - Martin N o t h , Remarks on the Sixth Volume of Mari Texts: JSSt 1(1956) 322-333. - Ders., Uberlieferungsgesch. Stud. Die sammelnden u. bearb. Geschichtswerke im AT, Tübingen '1967. - Lothar Perlitt, Bundestheol. im AT, 1969 ( W M A N T 36). - Werner H. Schmidt, Einf. in das AT, Berlin/New York *1989. - Ders., Exodus, 1988 (BKAT 11/1). - Götz Schmitt, Der Ursprung des Levitentums: Z A W 94 (1982) 575-599. - Willy Schottroff, Der altisraelit. Fluchspruch, 1969 ( W M A N T 30). - Hermann Schulz, Leviten im vorstaatlichen Israel u. im Mittleren Orient, München 1987. - Rudolf Smend, Die Entstehung des AT, 1978 (ThW 1). - Hans Strauß, Unters, zu den Überlieferungen der vorexilischen Leviten, Diss. Bonn 1959. - Roland de Vaux, Das AT u. seine Lebensordnungen, Freiburg/Basel/Wien, II 1960. - Manfred Weippert, Die Landnahme der Israelit. Stämme in der neueren wiss. Diskussion. Ein krit. Ber., 1967 (FRLANT 92). - Julius Wellhausen, Die Composition des Hexateuchs u. der Hist. Bücher des AT, Berlin 4 1963. - Walther Zimmerli, Ezechiel, 1969 (BKAT XIII/2).
Horst Seebaß Leviathan -»Mythos/Mythologie, -»Schöpfer/Schöpfung Leviticus -»Pentateuch Libanon 1. Geographischer Aufriß S. 46)
1. Geographischer
2. Historischer Abriß
3. Der Bürgerkrieg im Libanon
(Literatur
Aufriß
Der Libanon, ein schmaler mehrfach zerteilter Streifen an der Ostküste des Mittelmeers mit einer z.T. steil abfallenden Felsenküste, verdankt seinen Namen das „weiße" (labari) Gebirge seinen mit Schnee bedeckten Gipfeln. 220 km lang und 4 0 - 7 0 km breit, hat er eine Gesamtfläche von 10.400 k m 2 . Seine politischen bzw. geographischen Grenzen sind Syrien im Norden und Osten, Israel im Süden und im Westen das Mittelmeer. Er besteht aus vier parallelen Streifen: 1. die Küstenebene, der fruchtbarste Teil des Landes, im Norden bei Akkar am breitesten, nach Süden von Tripoli an immer schmaler werdend; 2. östlich davon das Gebirge Libanon (Dschabal-Lubnin), ein langgestreckter Kamm, der dem Land seinen Namen gab und sich bis 3088 m erhebt; 3. die Bekaebene zwischen den beiden Gebirgsketten Libanon und Antilibanon, mit einer Länge von 120 km und einer Breite von 8 - 1 2 km; 4. der Antilibanon im Osten, der sich steil über der Bekaebene mit einer durchschnittlichen Breite von 30 km und einer Höhe von 2629 m erhebt. Seine Gipfellinie bildet die Grenze zu Syrien, wobei sie südwärts abflacht, um im syrischen Hermonmassiv wieder zu einer Höhe von 2814 m anzusteigen. Durch die naturbedingte Lage des Libanon ist seine Bevölkerung ungleich auf die verschiedenen Gebiete verteilt, wobei die Küste, an der sich die größten Städte befinden, am dichtesten besiedelt ist: Beirut mit fast einer Million Einwohner, Tripoli mit etwa einer halben Million, Saida (Sidon) und Sur (Tyrus) im Süden. Dies sind die Zentren des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens. Auf der Westseite des Libanon steigen zahlreiche Städtchen und Dörfer an den Hängen empor, umgeben von Terrassengärten und
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Weinbergen. Haupterwerbsquelle in der Bekaebene ist die Landwirtschaft, wogegen die östlicheren Landesteile einen wüstenartigen Charakter besitzen. 2. Historischer
Abriß
Obwohl man Spuren früherer Völker vor allem in Byblos, aber auch auf den Bergen entdeckte, wo verhältnismäßig entwickelte Bevölkerungsgruppen Handel (vor allem mit Holz) zwischen Küste und inneren Landesteilen getrieben hatten, datiert die eigentliche Geschichte des Libanon mit den Phönikern: Um 1500 v. Chr. ließen sie sich entlang der Küste nieder und gründeten eine Reihe von Städten als Königreiche oder oligarchische Republiken. Von Nord nach Süd: Arados (Ruwäd), Bethrys (Batrün), Byblos (Jubail/Dschubail), Berytes (Beirut), Sidon (Saida), Tyrus (Sur). Die Phöniker waren geschickte Händler und erfahrene Seeleute, deren bedeutendste Errungenschaft aber die Entwicklung der phönikischen Schrift (mit 22 Buchstaben) im 13. Jh. v. Chr. war. Der Libanon war Zankapfel der orientalischen Reiche von -»Ägypten und Mesopotamien und wurde von den Hethitern, den Seevölkern, den Neubabyloniern und den Persern erobert. Erst im 7. Jh. n. Chr. waren die letzten Spuren der Phöniker getilgt. Alexander der Große setzte der Seemacht der Phöniker durch seinen Sieg 333 v. Chr. bei Issos ein Ende, und das Land blieb drei Jahrhunderte lang unter griechischer Herrschaft. Da die phönikische Konföderation in etwa der heutigen territorialen Ausdehnung des Libanon entsprach, kann deren Geschichte als Vorgeschichte des Libanon betrachtet werden. Seit 64 v. Chr., nachdem Pompeius -»Syrien erobert hatte, wurde der Libanon Bestandteil der Provincia Syria. Vier Jahrhunderte lang erstreckte sich die pax romana über Syrien, und überall entstanden Monumente und Tempel. Die Küstenstädte erlebten eine neue Blüte. Tyros bekam den Beinamen „Metropole Phönikiens". Beirut wurde Hauptquartier der dritten Legion und ein Mittelpunkt römischer Kultur. Schulen wurden gegründet, die dem späteren Aufstieg der Juristischen Universität den Weg bereiteten. Mit dem Ende des 4. Jh. fiel Syrien unter die Herrschaft der Byzantiner, die das Land von 395 (nach dem Tode von Kaiser Theodosius I.) bis 634 kontrollierten. Syrien wurde in drei Provinzen aufgeteilt und das Gebiet des heutigen Libanon zweien davon zugeordnet: dem Maritimen und dem Libanesischen Phönikien, letzteres neben dem Gebirge Libanon auch heute syrische Gebiete wie Horns, Damaskus und Palmyra umfassend. Hauptstadt des Maritimen Phönikiens war Tyrus, die reichste und bekannteste Stadt war jedoch Beirut, wo die Juristische Universität ihre goldene Zeit erlebte, bis ein Erdbeben, das die ganze phönikische Küste heimsuchte, sie 555 n. Chr. zerstörte. Die Verbreitung des Christentums im Libanon setzte der ruhmreichen heidnischen Vergangenheit ein Ende. Die Christianisierung begann langsam seit dem 1. Jh. und wurde insbesondere seit dem Regierungsantritt des römischen Kaisers Philippus Arabs vorangetrieben. Nun bekehrten sich zunehmend nicht nur die autochthonen Aramäer, sondern auch einzelne arabische Stämme aus Syrien (z.B. der Stamm Tannüch, damals in der Gegend von Aleppo seßhaft), die später eine wichtige Rolle in der Geschichte des Libanon spielten. Rasch wurde der Libanon zum Einwanderungsland, in dem christliche, islamische und andere religiöse Gemeinschaften zusammenlebten. Die intolerante und kurzsichtige Politik von -»Byzanz begünstigte die Spaltung der Christenheit. Die erste Epoche dieser Schismen im 5. Jh. hatte als Ursache dogmatische Divergenzen, zu denen politische, gegen Byzanz gerichtete Tendenzen hinzukamen. Die christologischen Streitigkeiten (-»Jesus Christus II) führten zur Entstehung zweier entgegengesetzter Häresien: der des Nestorius, Erzbischof von Konstantinopel, der für Christus zwei nebeneinander existierende, sich gegenseitig nicht durchdringende Naturen annahm, eine göttliche und eine menschliche, denn Gott wohne im Menschen Jesus wie in einem Tempel (-»Nestorius/Nestorianischer Streit) und einer zweiten, der des Dioscur, dem Patriarchen von Alexandria. Er vertrat die Ansicht, daß die zwei Naturen Christi zu einer neuen gottmenschlichen Natur verbunden seien (-»Eutyches/Eutychianischer Streit). Diese letztere Häresie ist unter der Bezeichnung Monophysitismus (-»Monophysiten) und ihre Anhänger als Jakobiten bekannt, so benannt nach dem Mönch
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Jakobos Baradaios, Begründer der Kirche im Jahre 543 (-+ Jakobitische Kirche). Diese beiden orientalischen Kirchen zählen heute nur noch wenige Gläubige. 1951 gab es im Libanon noch etwa 1500 Nestorianer und 4000 Jakobiten. U m die religiöse Einheit wieder herzustellen, e n t w a r f Kaiser Herakleios eine K o m p r o mißformel, die den theologischen Streitigkeiten Einhalt gebieten sollte; sie e r k a n n t e z w a r das D o g m a der hypostatischen Union an, r ä u m t e jedoch den Abtrünnigen ein, d a ß es in Christus nur einen Willen, nämlich den göttlichen, gebe. Der Kaiser versuchte, diese Lehre mit Gewalt durchzusetzen, er g e w a n n dadurch aber die J a k o b i t e n nicht z u r ü c k , verlor vielmehr die sogenannten Melkiten (Anhänger des melek, arab. malik = König, Kaiser), die späteren Griechisch-Katholischen, die mit R o m uniert sind (s.u.). Die Verurteilung dieser Lehre hatte die Entstehung einer neuen Häresie zur Folge, den M o n o t h e l e tismus ( - » M o n o p h y s i t e n ) , so d a ß in Antiochia neben dem melkitischen und jakobitischen Patriarchen ein dritter residierte. Die Geschichte der Monotheleten ist in Verbindung mit dem libanesischen Konfessionalismus von Interesse, weil ihre Doktrin anscheinend von den M a r o n i t e n zu Anfang für kurze Z e i t ü b e r n o m m e n wurde, bevor diese zur katholischen O r t h o d o x i e zurückkehrten. Die byzantinischen Kaiser führten d u r c h ihre Interventionen dreimal die Trennung der maronitischen Kirche von R o m herbei. Verursacht wurden diese Spaltungen durch den Monotheletismus. Sie dauerten insgesamt von 6 4 0 - 6 8 1 . Durch sie wurde der Weg zur endgültigen Trennung von R o m im J a h r e 1 0 5 4 vorbereitet. Die - » M a r o n i t e n , die bedeutendste Konfession des Libanon, verdanken ihre Entstehung einem M ö n c h namens M a r o ( M ä r ü n ) , der a m E n d e des 4. J h . in der Gegend von Antiochia lebte. Nach seinem Tod im Jahre 423 bauten seine Anhänger das Kloster des Heiligen M a r o als Grabstätte für ihn. Aus diesem Kloster entstand ein Bistum, das seinen Einfluß auf einen großen Teil Syriens ausdehnte. Diese Gemeinde wandte sich wahrscheinlich dem Monotheletismus zu. Maronitische Gelehrte behaupten dagegen, man habe die Verbindung mit der Römischen Kirche nie aufgegeben. Sie führen den Namen der Maronitischen Kirche auf einen zweiten Mönch gleichen Namens, Johannes Maro, 685 Patriarch von Antiochia, zurück, dessen Titel auf seine Nachfolger überging: Patriarch von Antiochia und dem ganzen Orient. 1182 kehrten die Maroniten endgültig in den Schoß der katholischen Orthodoxie zurück. Die Maroniten waren schon durch die byzantinischen Kaiser Verfolgungen ausgesetzt, die sie veranlaßten, das Gebiet von Antiochia zu verlassen, um sich zwischen Horns und Hama in Syrien niederzulassen. Unter dem Druck der arabischen Invasion zogen sie weiter bis in die Berge des Libanon, den sichersten Ort, um ihre Autonomie zu verteidigen. Ein erster Stoß führte von der Küste in das Kadischatal (das Heilige Tal); weitere folgten von der Homssenke und über den Zedernpaß. Das Heilige Tal bildete ihr erstes Siedlungsgebiet im Libanon im 8. Jh. Von da aus breiteten sie sich in das Gebiet von Kasrawan, in Dschubail und in einzelne Bergregionen des Matn und Schuf aus, wo die Drusen stark wurden. Durch Verschmelzung mit den autochthonen phönikisch-griechischen Bewohnern der Küste, den Aramäern im Landesinnern, den Mardaiten (frühere christliche Soldaten der byzantinischen Kaiser, die der Verbannung durch Flucht in die libanesischen Berge entronnen waren), aber auch mit Nachkommen der Kreuzfahrer, Armeniern und natürlich Arabern bildete sich im Laufe der Zeit die große maronitische Gemeinschaft des Libanon, die eine führende Rolle in der Geschichte dieses Landes spielen sollte. Neben den M a r o n i t e n ist die Gemeinschaft der G r i e c h i s c h - O r t h o d o x e n a m stärksten; sie waren unter denjenigen, die z u s a m m e n mit Byzanz das Schisma im J a h r e 1 0 5 4 vollzogen hatten. Z u ihnen gehörten die wesentlich weniger zahlreichen Melkiten, bis sie sich mit R o m unierten und als Griechisch-Katholische bezeichnet wurden. Zu den religiösen Minderheiten zählen die armenische, syrische, chaldäische und lateinische Kirche, die alle durch je einen in Beirut residierenden Bischof vertreten sind. Der maronitische Patriarch hat seine Residenz in Bkerke, an seiner Seite stehen etwa acht Bischöfe bzw. Erzbischöfe. Sitz des griechisch-orthodoxen Patriarchen ist Damaskus, des griechisch-katholischen Ain Traz im Gebirge Libanon. Z u r stärksten religiösen Kraft im L i b a n o n stieg der Islam in zahlreichen Gruppierungen e m p o r . Seit d e m Auftreten des Propheten M o h a m m e d breitete er sich a u f der arabischen Halbinsel aus. Die unmittelbaren N a c h f o l g e r M o h a m m e d s sorgten für die
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Festigung und Ausbreitung des Islam in benachbarte Gebiete. Arabische Beduinen, die in Medina versammelt waren, überfielen im Jahre 634 n.Chr. Syrien; Damaskus fiel im September 635. Nach der Schlacht am Yarmuk leistete Syrien keinen Widerstand mehr. Von den phönikischen Städten fühlten sich die Muslime bedroht, bis die Omaijaden mit Muawiya an der Spitze Akko, Tyrus und Tripoli eroberten. An der Küste ließ Muawiya Garnisonen anlegen und siedelte Deportierte aus dem Irak an, wo er infolge seiner Auseinandersetzungen mit dem vierten orthodoxen Kalifen Ali zahlreiche Gegner hatte. Aus diesen Arabern setzte sich die mehrheitlich arabische Bevölkerung der libanesischen Häfen zusammen. Da sie zu den Anhängern Alis zählten, die Schiiten genannt werden, sind somit im Libanon die frühesten Muslime Schiiten gewesen. Sicherlich gab es auch Sunniten, die Orthodoxen des Islam, die die Sünna oder Tradition des Propheten Mohammed befolgen. Ihre große Zahl kam vor allem durch Einwanderer späterer Zeiten zustande, darunter heute viele Gastarbeiter und die Palästinenser, die mehrheitlich Sunniten sind. Zu den Schiiten gehören zunächst die Zwölfer Schiiten, d. h. die Orthodoxen, deren Imaine mit Ali, dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten, beginnen. Da sie als von Gott vorherbestimmt und unfehlbar gelten, schuldet ihnen die Gemeinde absoluten Gehorsam. Ein Zweig von ihnen, vielleicht aramäischer Herkunft aus Innersyrien, die sogenannnten Metwalis (MutawälTs), breiteten sich in der Bekaebene, im Nordlibanon (Akkar), im Norden von Palästina, sowie in der Gegend von Tyrus aus, und drangen teilweise in das christliche Kasrawangebiet und in die Beiruter Senke ein. Ein anderer Zweig sind die Nusairier oder Alawiten (Nusayriyyün/Ansäriyya), deren nicht orthodoxe Doktrin heidnische und christliche Elemente aufgenommen hat. In Syrien sind sie durch Präsident Al-Asad heute an der Macht, im Libanon befindet sich diese Minderheit vor allem im Norden. Nicht orthodoxe Schiiten sind auch die Ismailiten, sogenannte Siebener Schiiten nach der Zahl ihrer Imame benannt und mit einer esoterischen Doktrin ausgestattet. Zu ihnen zählen die Anhänger des Aga Khan, die im Libanon nicht vertreten sind, sowie die Drusen, die sich von ihnen in Kairo unter dem Fatimidenkalifen Al-Hakim ( 9 8 5 - 1 0 2 1 ) abgespaltet hatten. Zwei Anhänger dieses Kalifen, Hamza und Darrasi (daher die Bezeichnung Drusen) wurden nach Syrien entsandt, um dort die drusische Lehre zu verbreiten. Nachdem Hamza seinen Gefährten ermordet hatte, gelangte er bis Aleppo. Diese streng esoterische Sekte verzichtete, um Streitigkeiten und Spaltungen auszuschließen, auf Neubekehrungen und schloß sich völlig ab. Hinzu kommt ein absolutes Dogmengeheimnis: „Der Schleier ist gezogen, die T ü r ist verschlossen, die Tinte ist trocken und die Feder gebrochen". Vom 10. J h . an sammelten sich die Drusen, von Nordsyrien kommend, im Zentrum des Gebirges Libanon, wo sie auch heute noch ihre Siedlungsgebiete haben. Infolge von internen Rivalitäten, aber auch von Kämpfen mit anderen libanesischen Emiren, vor allem aber nach ihren Massakern an den Christen im Jahre 1860, wanderte ein Teil von ihnen aus und vereinigte sich mit Glaubensgenossen, die von Aleppo nach Süden in die Berge des Hauran gezogen waren. Diese Berge heißen seitdem Dschabal Ad-Durüz (seit kurzem ersetzt durch Dschabal Al- c Arab). Die Hälfte der Drusen lebt heute dort. Im Libanon spielen sie noch heute eine bedeutende Rolle unter den religiösen Gemeinschaften (s. u.).
Die Folgen der -»Kreuzzüge waren für die Bewohner des Libanon negativ. Die Mongolen, die Verbündete der Christen werden sollten, gingen an den Islam verloren, die islamisch-arabische Bevölkerung wurde zu entschiedenen Gegnern der Christen, d.h. der Maroniten, die die Kreuzritter unterstützten. Die Maroniten wurden nach dem Abzug der Kreuzfahrer heftigen Verfolgungen ausgesetzt. Trotz brutaler Zusammenstöße zwischen Kreuzfahrern und Muslimen ergaben sich erstaunlicherweise auf beiden Seiten gewisse Anknüpfungspunkte, die weit über einzelne freundschaftliche Beziehungen hinausreichten (Reste fränkischer Namen gibt es bis heute). Die Ritterlichkeit der abendländischen Edelleute ebenso wie die großzügige arabische Gastfreundschaft hinterließen auf beiden Seiten einen starken Eindruck. Von der Mitte des 13. J h . an war Syrien von den Mameluken Ägyptens abhängig, die die gesamte Küste von Tripoli bis Beirut der fränkischen Korsaren wegen überwachen ließen. Allein der Hafen von Beirut erlebte eine Blütezeit, während alle anderen Städte zu Ruinen verfielen. 1516 kam der Libanon unter die Herrschaft der Osmanen, die bis zum Ersten Weltkrieg das Land in ihrer Gewalt behielten. Aus dieser Zeit sind zwei Dynastien von Emiren zu erwähnen, die den Libanon in besonderem M a ß e geprägt haben: die der Maaniten (Ma c niyyün) und die der Schehabiten (Sihäbiyyün). Die zuerst genannte ist berühmt durch Emir Fachr Ad Din I. (Fahr Ad-Din) ( t 1544), der sich auf die Seite
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der Osmanen schlug, mit viel Geschick deren Gunst gewann, seine Gegner besiegte, Anführer der Drusen im Zentrallibanon und damit zum mächtigsten Herrscher im Lande wurde. Emir Fachr Ad Din II. (1572-1635) öffnete den Libanon durch Kontakte, die er während seiner fünfjährigen Verbannung in der Toskana knüpfte, dem Einfluß Europas. Nach seiner Rückkehr gelang es ihm, gegen den Widerstand der Osmanen, aus einzelnen, voneinander getrennten Provinzen, den Libanon in seiner heutigen Form zu gründen. Unter ihm, einem Drusenfürsten, lebten Drusen, Sunniten, Schiiten und Christen friedlich zusammen im Geiste der Solidarität und des gegenseitigen Respekts.
Doch die Osmanen duldeten diese Selbständigkeit nicht, und Fachr Ad Din II., der sein Land auch kulturell in die Neuzeit führte, endete 1635 schmachvoll in Istanbul. Emir Beschir II. (Baslr), 1767-1850, aus der Dynastie der Schehabiten, die zu den ältesten und vornehmsten des Orients zählt (Stamm des Propheten), kittete das auseinandergerissene Reich wieder zusammen. Seine Verbindung zum Herrscher von Ägypten, Mehmet (Muhammad) Ali (1769-1849) und dessen Sohn Ibrahim (1789-1848), der von 1831 an Syrien eroberte, aber unter dem Druck der europäischen Mächte und der Türkei wieder abziehen mußte, fand im Libanon keine einhellige Zustimmung, deshalb leisteten die Libanesen der ägyptischen Armee Widerstand. Der Emir ging in die Verbannung, zunächst 1840 nach Malta und ein Jahr später nach Istanbul. Eine Folge davon war das erste Massaker der Drusen an den Maroniten des Libanongebirges, dem ein größeres im Jahre 1860 folgte, dieses Mal unter Beteiligung türkischer Garnisonen. Ihm fielen etwa 22000 Christen (einige davon in Damaskus) zum Opfer, zahlreiche Ortschaften wurden zerstört. Das hatte die Intervention der Großmächte, insbesondere Frankreichs, zur Folge, das ein Expeditionscorps an die libanesische Küste enstandte. Das Land wurde in zwei Teile gespalten: Der Norden wurde von einem Maroniten, der Süden von einem Drusen verwaltet. 1914 zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde diese Teilung von den Osmanen aufgehoben. Die Franzosen unterhielten schon seit -»Ludwig IX. besondere Beziehungen zu den Maroniten, und Franz I. hatte zum Schutze seiner Untertanen und damit auch der Christen im Libanon mit dem Osmanischen Reich die berühmten Kapitulationen abgeschlossen (1536). Am Ende des Ersten Weltkriegs wurden Syrien und der Libanon französische Mandatsgebiete. Am 1. September 1920 verkündete der Hochkommissar der beiden Mandatsgebiete, General Gouraud, im Auftrag Frankreichs die Gründung des Großen Libanon. Er bestand aus dem Libanongebirge, Beirut, Tripoli, der Bekaregion, Saida und Sur und entsprach der heutigen Ausdehnung des Landes. Ende 1941 wurde die Unabhängigkeit des Libanon durch General Catroux, Kommandant der freien französischen Streitkräfte im Orient, proklamiert, 1945 bestätigt, aber erst nach Abzug der französischen Truppen 1946 Realität. Die derzeitige Verfassung des Libanon besteht aus 200 Artikeln und weist französische, belgische und ägyptische Einflüsse auf. Artikel 95 regelt die Verteilung der öffentlichen Ämter auf die religiösen Gemeinschaften: Staatspräsident ist ein Maronit, Regierungschef ein sunnitischer, Parlamentspräsident ein schiitischer Muslim. Bis in die untersten Verwaltungsstellen findet dieses Proporzsystem Anwendung. Solange die Christen die Mehrheit im Libanon ausmachten, wurde dieses System mehr oder weniger respektiert. Im Laufe der Jahre änderte sich die Lage, einmal durch die Emigration größerer christlicher Bevölkerungsteile nach Ägypten, in die französischen Kolonien, nach Europa und Amerika, insbesondere nach Südamerika; zum anderen durch die Immigration von Gastarbeitern aus arabischen Ländern und vor allem von Palästinensern, die seit 1948 und vermehrt seit dem sog. jordanischen Schwarzen-September-Massaker 1970 ins Land strömten. Ihre Zahl wird z. Zt. auf eine halbe Million geschätzt. Dazu kommt, d a ß die islamische Bevölkerung die stärkere Geburtenrate aufweist. Bei der letzten amtlichen Volkszählung im Jahre 1932 betrug der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung nur noch 51,2% (Gesamtzahl: 402000, davon 28,8 % Maroniten), während der Anteil der Muslime auf 48,8% angestiegen war (Gesamtzahl: 383000, davon 22,4% Sunniten, 19,6% Schiiten und 6,8% Drusen). Seitdem gab es nur noch inoffizielle Zählungen; 1976 sprachen christliche Quellen von 54,5% entsprechend 1274000 Christen und 45,5% entsprechend 1068000 Muslimen; nach islamischen Quellen 4 0 % entsprechend 1020000 Christen und 6 0 % entsprechend 1530000 Muslime. Es ist unmöglich, genaue Zahlen über die verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu
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erhalten; strittig ist auch, ob die rund zwei Millionen Emigranten, in der Hauptsache Christen, mitgezählt werden sollten. Westeuropäische statistische Angaben von 1980 rechneten mit etwa 2,9 Millionen Einwohnern, davon 5 5 0 0 0 0 bis 9 0 0 0 0 0 Ausländer, die meisten von ihnen Palästinenser. Das Proporzsystem wird infolge des Bürgerkriegs von den Nichtchristen in Frage gestellt.
Die alte Verfassung des Landes ist noch in Kraft, und auch einige nichtchristliche Gruppierungen sehen in diesem System das kleinere Übel, da es paradoxerweise die Muslime bevorzugt. Durch seine Aufhebung würden die wichtigsten Staatsämter an die christliche Elite des Landes fallen. Jede Wahl des Staatspräsidenten war mit Unruhen verbunden: Eine ernste Krise löste Kamil Schamun (Sam'ün) aus, der 1958 seine Wiederwahl durchsetzen wollte, was zu einem der schlimmsten Aufstände seit 1860 führte. Neben den Muslimen waren daran auch Feinde des Präsidenten aus dem christlichen Lager beteiligt, darunter der maronitische Patriarch. Die Landung der sechsten amerikanischen Flotte in Beirut 1958 konnte das Schlimmste verhindern. Der Exodus der Palästinenser aus Israel nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 und noch mehr nach dem Schwarzen September 1970, als Jordanien die palästinensischen Freischärler offen bekämpfte, so daß ein Großteil von ihnen über Syrien in den Libanon flüchtete, vermehrte ihre Zahl im Libanon. Zu den innerlibanesischen Problemen kamen nun die der Palästinenser mit Israel hinzu, die diese durch militärische Aktionen zu lösen versuchten. Der Libanon wurde zum gefährlichsten Unruheherd in der arabischen Welt.
3. Der Bürgerkrieg im Libanon Zunächst waren die Libanesen mit ihren eigenen Problemen beschäftigt: ein Verwaltungssystem, das von immer mehr Muslimen, aber auch von Christen in Frage gestellt wurde, dazu die Oligarchien, die hinter den religiösen Gemeinschaften stehen. Unter den Christen genießen die Maroniten Vorrechte aufgrund ihrer Zahl, ihrer Kultur und ihrer Tätigkeiten: im Gebirge als Landwirte, in den Städten als Kaufleute, im öffentlichen Dienst und in freien Berufen. Sie machen den größten Teil der Beiruter Bourgeoisie aus. Die Griechisch-Orthodoxen als Nachkommen der Bewohner des Landes in byzantinischer Zeit sind aufgrund ihrer Abstammung die reineren Aramäer; sie erscheinen, auch im Bürgerkrieg, als die arabischsten unter den Christen. Ihr Patriarch befindet sich in einer schwierigen Position innerhalb der arabisch-islamischen Welt, zumal er in Damaskus und nicht im Libanon residiert. Seine Residenz in Damaskus trägt der Tatsache Rechnung, daß die Mehrheit der Christen Syriens und Jordaniens griechisch-orthodox ist. Zu ihnen gehören historisch gesehen die GriechischKatholischen, die am Anfang des 18. J h . mit Rom uniert wurden und einen eigenen Patriarchen haben. Der Patriarch der Syrisch-Katholischen hat seinen Sitz in Beirut, im Sommer in Harissa, oberhalb von Dschunje (Jounieh) im Norden Beiruts, der chaldäisch-katholische Patriarch in Bagdad. Die Zahl der Armenier (-»Armenien) betrug 1914 nicht mehr als 2 0 0 0 - 3 0 0 0 ; sie wanderten 1918 und vermehrt 1939 ein. Konfessionell sind sie aufgeteilt in die Armenisch-Gregorianische Kirche - wie alle Armenier des Orients von einem Katholikos abhängig, der in Antelias, einem nördlichen Vorort von Beirut, residiert - und in die Armenisch-Katholische Kirche (mit einem Patriarchen in Beirut), die sich im 18. J h . abgespalten hat. Schließlich gibt es eine lateinische Gemeinde. Die lateinischen Christen leben hauptsächlich in Beirut, wo auch ihr Bischof residiert. Die libanesischen Christen gehören der gehobenen Schicht des Landes an, wobei die Maroniten seit Generationen die engsten Beziehungen zu Frankreich und dem Westen unterhalten. Aus den Reihen der Christen kommen auch die meisten Emigranten, deren wirtschaftliche und intellektuelle Bedeutung durch das Außenministerium anerkannt ist, deshalb wird es „Ministerium der Außenangelegenheiten und die Angelegenheiten der Emigranten" bezeichnet. Die sunnitischen Muslime leben an der Küste, vor allem in Beirut und Trípoli. Die Schiiten befinden sich im äußersten Norden, in einem Teil der Bekaebene, im Westen Beiruts, besonders aber im Südlibanon. Die Drusen leben auf den Bergen östlich und südöstlich von Beirut und in der Hauptstadt selbst. Die Muslime, unter denen namhafte Persönlichkeiten in der Geschichte und Kultur des Landes eine große Rolle gespielt haben, kämpfen mit den größten sozialen Problemen, insbesondere die Schiiten, deren Anteil am sozialen Fortschritt am geringsten ist. Sie bilden mittlerweile den zahlenmäßig stärksten islamischen Bevölkerungsteil und verlangen am nachdrücklichsten politische Reformen, seit kurzem zugunsten einer islamischen Republik (z.B. die Hisbullah-Anhänger, d. h. die Partei Allahs, die gegen die gemäßigteren sogenannten prosyrischen Schiiten kämpfen). Als sozial schwächste Gruppe fühlen sie sich ausgebeutet und entrechtet, an erster Stelle durch die Sunniten. Der Bürgerkrieg, der seit 1975 im Lande tobt, hatte noch andere Ursachen als nur innerlibanesische. Es kamen Faktoren hinzu, die dem Libanon von außen auferlegt wurden, in der Hauptsache das Palästinenserproblem. Die Zahl der Palästinenser hat seit 1948 und vor allem seit 1970
Libanon
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ständig zugenommen, 80% von ihnen sind Muslime. Sie gehören zu den sozial schwächsten Gruppen der Bevölkerung des Libanon. Ihre Interessen sind nicht die ihres Gastlandes. In ihrer neuen Heimat verhielten sie sich nicht friedlich, sondern deklarierten den Südlibanon als ihr Hoheitsgebiet und unternahmen von da aus ihre militärischen Operationen gegen Israel, was dessen Intervention, aber auch die Syriens und anderer arabischer Staaten sowie der Großmächte provozierte. Massaker und Verwüstungen, Haß und Elend waren die Folge dieses brutalen Bürgerkriegs, der „die Schweiz des Orients", ein Land, in dem 17 verschiedene religiöse Gemeinschaften neben- und miteinander lebten, zerstörte, so daß es fraglich ist, ob ein friedliches Zusammenleben, selbst von Christen und Muslimen untereinander, noch möglich sein kann. Nur wenn die Libanesen ohne religiöse Intoleranz, in gegenseitigem Vertrauen und im Dienste einer gemeinsamen Staatsidee füreinander und miteinander lebten, ohne Arroganz und Privilegien, wobei die Schiiten aus ihrer Isolierung geholt, das Palästinenserproblem gelöst würde, und die Außenwelt aufhörte, sich ständig in die inneren Angelegenheiten dieses Landes einzumischen, ist eine Befriedung des gequälten Landes denkbar. Literatur Antoine Abdel Nour, Introduction à la vie urbaine de la Syrie ottomane (XVIe—XVIIIe siècle), Beirut 1982. — Sélim Abou, Le bilinguisme arabe-français au Liban, Beirut 1962. - Joseph AbouJaoudé, Les partis politiques au Liban, (Diss.) Paris 1981. - Antoine Azar, Le Liban face à demain, Beirut 1978. - Edward E. 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Raif Georges Khoury Liberale Theologie 1. Abgrenzungsfragen 2. Der Altliberalismus 2.1. Vorstufen 2.2. Der Protestantenverein 2.3. Grundzüge altliberalcr Theologie 2.4. Historismus und Positivismus in der altliberalen Theologie - Albrecht Ritsehl 3. Der Neuliberalismus 3.1. Geschichtlicher Rahmen und Ergebnisse 3.2. Die Ritschl-Schule 3.3. Adolf von Harnack 3.4. Der Marburger Neukantianismus und Wilhelm Herrmann 3.5. Die religionsgeschichtliche Schulc und Ernst Troeltsch 3.6. Die Religionspsychologie 3.7. Die monistisch-mythische Theologie 4. Ende der liberalen Theologie? (Quellen/Literatur S.65)
1.
Abgrenzungsfragen
„Liberale Theologie" im Sinne einer theologischen Position, Schule oder Gruppe entsteht zur Mitte des 19. Jh. aus den Voraussetzungen der -»Aufklärung, des -»Idealismus und des Spätrationalismus (-»Rationalismus) der Vormärzzeit. Frühe liberale Theologen wie Rothe, Schenkcl, Biedermann grenzen sich ausdrücklich vom Spätrationalismus ab. In der neueren Theologiegeschichtsschreibung meldet sich ein weiter gefaßter Begriff von liberaler Theologie, der darauf abhebt, daß es den Begriff bereits im 18. Jh. gibt. In diesem Sinne bezeichnet „liberal" jedoch nach dem allgemeinen Sprachgebrauch des ausgehenden 18. Jh. Liberalität im Sinne von „freiheitlich, generös, tolerant", aber noch keine theologische Position oder Richtung. Legt man diesen weiter gefaßten Begriff zugrunde, dann erscheint liberale Theologie als Resultat neuzeitlicher, protestantischer Theologieentwicklung überhaupt und nicht, wie es zum ausgehenden 19. Jh. der Fall ist, als eine theologische Position oder Richtung. Troeltsch spricht vom „europäischen Liberalismus". Diese resultatgeschichtliche Sicht wiegt um so schwerer, wenn liberale Theologie in eins gesetzt wird mit -»Neuprotestantismus oder mit -»Kulturprotestantismus, zwei Kennzeichnungen, die nach Friedrich Wilhelm Graf ursprünglich Kampfbegriffe aus dem Lager der „positiven" Theologie sind (s. TRE 20,232,7ff). Solche Resultatgeschichten liegen in neueren Darstellungen von Leif Grane, Hendrik Berkhof, Claude Welch und neueren Textsammlungen vor. Der zeitlich engere Ansatz läßt die liberale Theologie etwa mit der Gründung des -•Protestantenvereins 1863 beginnen. Selbst die -»Lichtfreunde-Bewegung und verwandte Strömungen der vierziger Jahre - auch im Bereich des Katholizismus - werden noch nicht eigentlich liberal genannt. Aus der Vorgeschichte des 17. und 18. Jh. nimmt die liberale Theologie vor allem
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Liberale Theologie
folgende Motivgruppen auf: Einheitlichkeit der Weltgeschichte (im Unterschied zur Heilsgeschichte; Geschichte); die Zuordnung von Glaube und Vernunft angesichts der Einheit der Wirklichkeit; die Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion (-•Semler u . a . ) sowie von äußerer Kirchlichkeit und innerer Religiosität; die Historisierung der „heiligen" Schriften und die damit verbundene Unterscheidung des „ W e s e n s " der Religion von der Positivität der christlich-kirchlichen Überlieferung; den Antidogmatismus und den Anspruch auf individuell-religiöse Glaubenserfahrung; den Theismus als Ausdruck des providentiellen und teleologischen Weltzusammenhangs; die christologische Reduktion auf Jesus als den Lehrer des Reiches Gottes, der M o r a l und Religiosität; die Kirche als religiös-sittliche Gemeinschaft von Individuen im Gegensatz zur verfaßten, rechtlichen Institution; die Religiosität als anthropologische Struktur. Liberale T h e o l o g i e gibt es in ganz Europa, auch im katholischen Bereich (—»Liberaler Katholizismus), wo sich nach dem ersten Vatikanum in Aufnahme historischer Kritik der - • M o d e r n i s m u s entwickelt, ebenso in den USA (vgl. Claude Welch). Im Unterschied zur deutschen Entwicklung findet die englische und amerikanische Theologie schon zu Beginn des 19. J h . leichteren Zugang zu den Fragen des Naturhaften und der natürlich-soziologischen Betrachtung von Kirchen, Denominationen und Religionen. In der deutschen Entwicklung ist liberale T h e o l o g i e nicht schlechthin gleichzusetzen mit den Ergebnissen akademischer Wissenschaftlichkeit. Sie will bewußt auch Frömmigkeitsbewegung sein, und zwar in intellektueller Redlichkeit und in Übereinstimmung mit dem individuellen Gotterleben. Analog zu ihr entsteht im R a u m der Philosophie der fünfziger J a h r e der Neukantianismus (vgl. T R E 17, 5 8 1 - 5 9 2 ) . M e h r und mehr gewinnen liberale Denker ein Gespür für die dualistische Abständigkeit, die die religiös-christliche Theologie von der atheosen Grundsituation der allgemeinen Entwicklung trennt. Die Sprachmuster, die aus den Systemen —•Kants, —•Schleiermachers, —>Hegels, —»Fichtes und des Historismus stammen, verändern dabei ihre hermeneutische Zielrichtung. M e thodengeschichtlich und noetisch führt der vorherrschende liberale Spätidealismus seit den achtziger J a h r e n des 19. J h . zur Auseinandersetzung mit den Methoden der -•Naturwissenschaften (—•Weltbild). Die älteren Darstellungen von E. —»Hirsch und K. - » B a r t h folgen der Entwicklung liberaler T h e o l o g i e nur bis zur Jahrhundertmitte. Hirsch betont das „Durchbruchsges c h e h e n " der Aufklärung und bejaht die Anknüpfung liberalen Denkens an den deutschen - • Idealismus, besonders Fichtes und Schleiermachers. Karl Barth hingegen sieht die Entwicklung zur liberalen T h e o l o g i e durch eine - » N a t ü r l i c h e Theologie belastet, die aus dem Identitätsdenken des Idealismus entsteht und die er für eine Fehlentwicklung hält. Dieser Gegensatz einer W o r t - G o t t e s - T h e o l o g i e und einer sogenannten „natürlichen" T h e o l o g i e ist dogmatischer Natur. O b er für die historische Orientierung noch relevant ist, bedarf der Nachfrage. Liberale T h e o l o g i e im engeren Sinne entsteht nicht kontinuierlich aus der Epoche der -•Französischen Revolution und des deutschen Idealismus, sondern im späten Vormärz. Z u ihrem Entstehungshintergrund gehören der neue Realismus und Naturalismus als Erscheinungen der Déchristianisation. In diesem Trendzusammenhang bildet sich die theologisch-religiöse Sprache der liberalen Theologie. Ein neuerer Diskussionsstand im Sinne einer epochal-systematischen Fragestellung hat sich nicht ergeben. Die Einzeluntersuchungen weisen aber in folgende Richtung: Von einer Einheitlichkeit liberaler Theologien wird man nicht sprechen können. Jede Einzeldarstellung steht vor der Frage, inwieweit ihre Ergebnisse auf das Ganze bezogen werden dürfen. Die derzeit vorwiegend systematisch-historischen Untersuchungen zur Theologiegeschichte müssen vor dem Hintergrund der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen gesehen werden. Auch die außertheologischen Faktoren gehören in die Wertung liberaler Theologie mit hinein. In der zunehmend größer werdenden Distanz zwischen neuzeitlicher Wissenschaftsorientierung und der christlichen Frömmigkeit will liberale Theologie den entstehenden Freiraum durch historisch-kritischen und religionsgeschichtlichen Realismus füllen. Sie will sich von der Voraussetzungs-
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g e b u n d e n h e i t des konfessionellen D e n k e n s lösen. Historisch gesehen geht dieser Vorgang in Einzelschritten vor sich.
2. Der
Altliberalismus
2.1. Vorstufen. Die von Kant und Fichte, aber vor allem vom jungen Schleiermacher übernommenen religionsphilosophischen Einsichten vermitteln der liberalen Theologie die Überzeugung, daß es keine perenne -»Metaphysik und kein statisches „System" geben kann, sondern nur die persönliche, in der Geiststruktur des Menschen angelegte Überzeugung. Theologie und Religion entstammen der geschichtlichen Bewegung und sind urkundlich menschlicher Herkunft. Liberale Theologie will dem heilsgeschichtlichen Offenbarungsverständnis, aber ebenso auch dem kausalen Wirklichkeitsverständnis der positivistischen Naturwissenschaften das Bild der freien, sich aus dem Geist selbst bestimmenden, menschlichen Person und Menschheit gegenüberordnen und das Recht menschlicher Freiheit zur religiösen Selbstbestimmung sichern. Darin liegt die Beziehung auch zum politischen -»Liberalismus. Sie will religiöses und theologisches Denken in Übereinstimmung mit den Denkmöglichkeiten des einzelnen Menschen bringen. So artikuliert sie das neuzeitliche Problem der Akzeptanz und Evidenz der Theologie. In die Entstehungszeit liberaler Theologie gehören die Auseinandersetzungen mit der spekulativen Philosophie -»Hegels durch D.F. -»Strauß und L. -»Feuerbach seit Mitte der dreißiger Jahre des 19. Jh. Die zugrunde liegende Hauptfrage, ob die Geschichte und die christliche Urgeschichte systemisch-logisch konstruiert werden können, wird in der -•Tübinger Schule F. Ch. -»Baurs noch auf lange Zeit hin, bis zu O. -»Pfleiderer und Karl Heinrich v. Weizsäcker, bejaht. Durch A. Ritsehl und seine Schule werden sowohl das hegelsche Systemdenken als auch der religiöse Naturalismus der Mythenkritik verlassen. 2.2. Der -»Protestantenverein. Die erste Nummer des Protestantenblattes 1866 nennt zwei Gegner: die Orthodoxie der Kirchenleitungen einerseits und den aufkommenden -»Naturalismus und -»Atheismus andererseits. R. —»Rothe (1799-1867), der Senior des Protestantenvereins, selbst noch in den Bahnen der Heilsgeschichte und des Christus- und Offenbarungsglaubens denkend, läßt in seinen Aufsätzen folgende Züge erkennen: Es ist G o t t e s w u n d e r b a r e F ü g u n g , d a ß sich in der A u f k l ä r u n g des 18. J h . eine neue Geistesstellung ergeben h a t . Sie bedeutet einen geschichtlichen A u f t r a g , d e r einzulösen ist. Die weltlich-kulturelle E n t w i c k l u n g wird als theologische A u f g a b e e r k a n n t . Diese s o w o h l von Schleiermacher in d e m zweiten Sendschreiben an Lücke als auch von der idealistischen Philosophie allgemein gestellte A u f g a b e ist f ü r die christliche T h e o l o g i e die C h a n c c ihres Überlebens u n d ihrer individuellen Redlichkeit. Der Bezug auf d a s Geschichtsdenken Hegels m a c h t R o t h e im Blick auf d a s Gelingen dieser Vermittlung optimistisch. Kirche und Staat w e r d e n sich im Sinne einer von der neuen Weltlichkeit her e n t w i c k e l n d e n K u l t u r a u f g a b e ( - » K u l t u r ) letztlich treffen. D a s Reich G o t t e s w i r d d a r i n seine Realisierung finden, d a ß sich die gesamte M e n s c h h e i t in einer von C h r i s t u s a u s g e h e n d e n Kultur- u n d Geistesentwicklung z u s a m m e n f i n d e n w i r d . R o t h e s von pietistischer F r ö m m i g k e i t bestimmtes, heilsgeschichtlich-christologisches u n d o f f e n b a r u n g s t h e o l o g i s c h e s D e n k e n wird allerdings nicht allgemein ü b e r n o m m e n , w o h l a b e r d a s Prinzip individueller, religiöser G e i s t e r f a h r u n g u n d Vergegenw ä r t i g u n g G o t t e s (vgl. auch T R E 20, 232,35ff).
In den sechziger Jahren ist für die Altliberalen ein Denken in „Hierarchien" unmöglich geworden. Hierarchie bedeutet dabei sowohl die organisatorische Hierarchie der Kirchenleitungen, die Vormundschaft von Bekenntnissen und Dogmen als auch die metaphysische Vorstellung von einer unbewegten, ontologisch faßbaren Wirklichkeit Gottes und der Welt. Durch Kants Kritik der transzendentalen Vernunft ist eine Objekt-Subjekt-Spaltung eingetreten, derzufolge das transzendentale Vorstellen und die Wirklichkeit Gottes auseinandertreten. Dadurch ist eine ontologisch begründete Übereinstimmung von theologischer Sprache (Vorstellung, Bewußtsein, -»Mythos) und Gotteswirklichkeit unmöglich geworden. Es gilt, die Theologie aus einer spekulativ-ontologischen Systembindung zu befreien und sie als Widerschein individueller Erfahrungen zu entfalten.
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Liberale Theologie
2.3. Grundzüge altliberaler Theologie. Der im Altliberalismus häufig vorkommende Leitbegriff des „Religiös-Sittlichen" nimmt die zukunftsorientierte Reich-Gottes-Erwartung in weltgeschichtlicher Horizontalität auf. Damit verbinden sich motivgeschichtlich im weitesten Umfang Anregungen von Kant, Hegel, Fichte, Schleiermacher. Die exakte Bestimmung der Herkunft ist häufig nicht möglich. Die altliberale Reich-GottesErwartung ist davon getragen, daß die göttliche Providenz die Geschichte in der Bahn der Christus-Offenbarung fortleitet. Das Reich Gottes ist eine Harmonievorstellung, die über die ethisierte Frömmigkeit im Sinne Kants hinaus Glaube an die providentielle Geistwirksamkeit Gottes in der Welt und in diesem Sinne Ausdruck von Erlösung ist. Die Erlösung durch Gott und Christus entwickelt sich in der Form der individuellen Gotteserfahrung. Die altliberale Theologie denkt Gott weithin in der Form des aufgeklärten Theismus: Gott ist in sich selbst unerkennbar und unsichtbar. Aber seine Providenz gibt der einheitlichen Weltgeschichte Richtung und Ziel. Die Geschichte ist kein kausal-mechanischer oder gar sinnentleerter Ablauf, sondern teleologischer Prozeß. Das Geheimnis der göttlichen Sinnführung zu enträtseln, gelingt dem Menschen nicht. Der Christ fügt sich in Demut und Vertrauen dem Geschichtsprozeß. Das gibt auch dem zweifelnden Menschen Raum zu einer religiösen Denkweise. Unter diesem - auch von -»Tholuck aufgenommenen - Thema des Zweifels wird der Zugang zur atheosen Grundsituation des Menschen gewonnen (vgl. TRE 13, 686,42ff). Das Wirken Gottes in der Geschichte und die sich damit stellende Frage nach der Objektivität von Religion und Theologie wird rahmenhaft idealistisch beantwortet: Gottes Geist regiert wirkend die Welt ebenso wie den subjektiven Geist des Menschen. Gott wird so zum erahnbaren Hintergrund des geschichtlichen Daseins und Ablaufs. Er bewirkt ebenso in der Person den Grund der Evidenz ihres Glaubens und Denkens.
Die harmonistische Geist-Auffassung tritt in die Stellung der bisherigen Inkarnation (—>Jesus Christus) und der Heilsgeschichte (-»Erwählung; -»Geschichte). Gott offenbart und vermittelt sich zur Welt hin durch den Geist. Es ergibt sich in der Gotteslehre die Reihung Gott — Geist — Christus. Diese Abfolge läßt das Schema der älteren, ökonomischen Trinitätslehre des 2. Jh. und - von Hegel her - gnostisierende Motive des Abstiegs-Aufstiegs-Schemas der göttlichen Offenbarung anklingen. Im Unterschied zu Hegel wird diese Dialektik weithin aber nicht als Durchgang durch das Negative, sondern als positive Evolution des Geistes betrachtet. Die Gottesaussagen altliberaler Theologie deuten Gott nicht mehr substanzhaft-ontologisch, sondern als Bewegung und prozessual-providentiell. Die Theologie wird in das Schema geschichtlicher Bewegung (Entwicklung) umgesetzt und ihrer altkirchlich-trinitarischen Einbettung entnommen. Sofern in der Gotteslehre idealistische Motivgruppen zur Sprache kommen, wird das Verhältnis Gottes zur Wirklichkeit verschieden ausgedrückt. Gemeinsam ist die Geistwirksamkeit Gottes (-»Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben). Von Kant her wird diese als ethisches Postulat und als teleologische Richtung der Moralgeschichte gedeutet. Hegel deutet sie als Evolution des Weltgeistes und als geschichtliche Bewegung, Fichte - in Fortsetzung Kants - in der Weise der aktualen Geistbewegung im Bewußtsein. Eine Naturgeschichte, also eine Verzeitlichung der Natur im Sinne der Darwinschen Evolution (-»Darwin/Darwinismus) gibt es in der altliberalen Theologie zunächst nicht und ebensowenig eine Theorie von differierenden Noetiken und Kulturen. Von der Natur her kann auf Gott nicht zurückgeschlossen werden, es sei denn lediglich in der Weise einer Ahnung, daß das gesamte, kausalgesetzliche Werk der Schöpfung einen geistgewirkten Anfang haben muß, dem das unscharfe Wort „ G o t t " entspricht. Die altliberale Christologie sieht in Jesus den Menschen, die historische Gestalt, die als solche Offenbarer Gottes ist, weil und insofern sie ein besonderes Gottesbewußtsein besitzt. In diesem Sinne gilt -»Jesus Christus als „Gottes Sohn" und als „Erlöser". In den
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sechziger J a h r e n spielt in diesem Zusammenhang bereits der Unterschied zwischen dem historischen und dem idealen Jesus Christus eine Rolle. Z u n ä c h s t werden die T h e s e n von D . F . - » S t r a u ß und L . - » F e u e r b a c h k a u m a u f g e n o m m e n . Die Mehrheit der Altliberalen geht in der Christologie den Weg der damaligen L e b e n - J e s u - F o r s c h u n g , w i e s i e Kar! T h e o d o r Keim ( 1 8 2 5 - 1 8 7 8 ) und H . J . —»Holtzmann vertreten: D a s religiöse Bewußtsein Jesu ist - mit Schleiermacher - durchaus aus den Quellen zu erschließen. Jesus Christus ist eine menschlich-historische Person, sein Auftreten eine k o n t i n g e n t e „ T a t s a c h e " göttlicher Geistoffenbarung. D a s G ö t t l i c h e an ihm und in ihm sind die Geistbewegungen, aus denen heraus er G o t t schildert. E r unterscheidet sich vom gewöhnlichen M e n s c h e n durch die Evidenz und verdichrete Klarheit seines G o t t e r l e b e n s . Er will keine Religion noch Kirche stiften, sondern das Reich G o t t e s verkündigen. Seine Reich-Gottes-Verkündigung zielt auf die menschheitliche E n t w i c k l u n g , auf einen höheren, christlich-humanen Stand der religiös-sittlichen Verwirklichung des G l a u b e n s .
Das altliberale Schriftverständnis weist die altorthodoxe Verbalinspiration aus historisch-kritischen und ebenso aus noetischen Gründen ab. Die Inspiration ist primär ein Phänomen individueller Erfahrung. Bezogen auf Jesus Christus und die Autoren der Schrift ist sie eine historische Vorgabe, von der der Glaube abhängig ist und bleibt. Das Verhältnis von Schriftinspiration und gegenwärtiger Glaubensinspiration kann so bestimmt werden, daß sich die gegenwärtige Glaubensinspiration im Schriftzeugnis lediglich bestätigt. Der Protestantenverein nimmt 1869 (5. Protestantentag Berlin, T h e s e I X ) zur Frage der Schrift Stellung. Die Schrift gilt als Autorität besonderer, heiliger Art, die aber nicht zum Gesetz des Verstehens werden darf, sondern Evangelium ist. Nur das kann aus der Schrift angenommen werden, was dem subjektiven Glauben entspricht und für ihn evident wird. Die heilige Schrift ist nur in dem M a ß und Umfang als Autorität anzuerkennen, als sie dieser individuellen Evidenz entspricht. Die altliberale T h e o l o g i e beruft sich dabei oftmals auf den reformatorischen Grundsatz des testimonium spiritus saneti internum und vermag diese Begründung auch mit der fides qua creditur Luthers zu verbinden, die wiederum als subjektive Evidenz gedeutet wird. Die Schriftinterpretation der altliberalen Theologie weist große Ähnlichkeit mit dem platonischen Hintergrund der Schleiermacherschen Theologie auf, aber auch - » Z w i n g l i wird gelegentlich als Beleg genannt. Die historisch-kritische Interpretation der Schrift unterscheidet zwischen der positiven Religion und dem Wesen der Religion wie zwischen „ S c h a l e " und „ K e r n " . Die kritischen Untersuchungen an den Texten des Alten und des Neuen Testaments sind von der Erwartung getragen, daß es durch die Analyse gelingt, das geistige Wesen der Religion zu ermitteln und davon die antik-zeitgeschichtlichen Vorstellungen unterscheiden zu können. Das religiöse Wesen wird als zeitübergreifend gedacht und ist der gegenwärtigen Religiosität analog (s. T R E 6, 356,44ff). Aufgrund dieser Unterscheidung legt sich nicht die Schrift selber aus („Wort G o t t e s " - Luther), sondern sie kann als urkundlich-historischer T e x t der philosophischen Kritik und den Methoden allgemeiner, weltlicher Literarkritik ausgesetzt werden. Ihre Uberlieferungen sollen der historischen Religions- und Literaturgeschichte eingeordnet werden. Dazu dienen die Methoden allgemeiner Literarkritik, die sich im Zuge dieser Forschung ständig verfeinern. Ein Kernpunkt altliberaler Theologie und Frömmigkeit ist die Darstellung der religiösen Anlage des Menschen, besonders im Blick auf die steigende Indolenz der Zeitgenossen. D a ß die religiöse Wahrnehmung vorrational und von aller moralischen Z w e c k rationalität losgelöst ist, hatte Schleiermacher behauptet. Seine Psychologie verhilft der altliberalen Theologie zu einer Persönlichkeitsauffassung, derzufolge das Geistwesen M e n s c h Religiosität als inneres, reales Evidenzgeschehen besitzt, was den Zugang zu einer Religionspsychologie und Pisteologie eröffnet, die nicht mehr dem Leitbild der Bekehrung folgt, sondern dem „ n a t ü r l i c h e n " Menschen und damit der religiös-sittlichen -•Humanität.
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Schleiermachers Wahrnehmungslehre wird aber nicht nur durch Feuerbachs Projektionstheorie, sondern besonders durch die analytische Psychologie des aufsteigenden Naturalismus und Empirismus fraglich. Die altliberale Theologie geht gleichwohl, gegen diesen naturwissenschaftlichen Empirismus kämpfend, durchweg davon aus, daß es eine objektive Wahrnehmung Gottes im Inneren gibt. Daniel Schenkel (1813-1885) sieht das religiöse Verhalten im Phänomen des Gewissens begründet. Alois Emanuel Biedermann (1819-1885) entwirft eine reformiert-platonische Wahrnehmungstheorie mit der Behauptung einer aller Systematik vorangehenden Unmittelbarkeit der göttlichen Selbstbezeugung im Menschen, aus der sich auch die Religion als Setzung durch den Menschen ergibt.
Die Emotionalität liberaler Predigtsprache (-»Predigt) zeigt, daß das religiöse Phänomen des Glaubens nicht als dogmatische Satzwirklichkeit, sondern als eine im Subjekt vorhandene Erfahrung betrachtet wird, die aber generalisierbar ist. Die Wirkungen Gottes werden als inneres Licht, als Lebensstrom, als Bewegung geschildert. In dieser Wahrnehmung des objektiv Göttlichen im Raum innerer Subjektivität liegt der eigentliche Kernpunkt liberaler Theologie und liberalen Bekenntnisses. Die organisierte Staats- und Bekenntniskirche wird als Gewissenszwang empfunden. Die Kirche muß der freien Entfaltung religiöser Ideen und Gemeinschaft dienen. Der frühe Protestantenverein tritt für den Aufbau der Kirche von unten her ein. Emil Sülze (1832-1914) wird in den achtziger Jahren die Thesen von der Gemeindekirche als Mittel gegen die Indolenz des Bürgertums vortragen. In der Frage der kirchlichen Organisation bejaht die liberale Theologie sowohl die -»Landeskirchen als auch die Staatskirche, wünscht sich aber die Loslösung von der Kultusbürokratie und erstrebt die Möglichkeit einer protestantischen Nationalkirche, die sich grundsätzlich bekenntnisfrei als antikatholisches Bollwerk, als „Protestantismus" darstellt. Auch die Theorie vom „Neuprotestantismus" spitzt sich auf die Vorstellung einer deutschen Gesamtkirche zu. Von dieser protestantischen Kirche wird auch die Fundamentierung der künftigen Gesellschaft und der Kultur erwartet. Zur Staatskirche findet die altliberale Theologie ein nur gebrochenes Verhältnis. Einerseits gilt sie als Zwangsinstrument. Das drückt später R. -»Sohm (1841-1917) in der Theorie von der grundsätzlichen Gewalt- und Rechtsfreiheit der Urkirche aus, während das Kirchenrecht nur staatliches Zwangsrecht und damit ein uneigentliches, kirchenfremdes Element ist. Andere Liberale kämpfen für das Minderheitenrecht liberaler Religiosität, ohne den Gedanken einer Freikirche zu erwägen. Einerseits bejahen sie die autonome Weltlichkeit des Staates (der Staat als Idee) und der Kultur, andererseits aber wollen sie die deutliche Unterscheidung von religiös-individueller Freiheit und Staatlichkeit. Zu den Sakramenten findet die altliberale Theologie nur wenig Zugang. Sie versteht die Kirche als Predigtkirche mit der Bestimmung, die religiösen Bedürfnisse zu wecken, zu kultivieren und zu befriedigen. Die -»Taufe wird als Kindertaufe geübt und als ein vorweggenommenes Bekenntnis verstanden, das in der -»Konfirmation persönlich übernommen wird. Als Eingliederung in den Leib Christi wird sie so gut wie nicht aufgefaßt. Das -»Abendmahl wird nur selten gefeiert. Es dient allein zur Vergewisserung des persönlichen Glaubens, es ist bloße Erinnerung an Jesu Sterben. Die Ethik (-»Ethik der Neuzeit) der Altliberalen klärt nicht, wie sich das christliche Handeln und Werten zum natürlichen Handeln und Werten verhält. Entsprechend der Unterscheidung von Natur und Geist werden die naturhaften, sozialen Elemente der Ethik häufig von der innerlichen Reich-Gottes-Ethik und der Nachfolge-Ethik Jesu unterschieden. Grundlegend ist dafür Schleiermachers Unterscheidung von Erlösung und Ethik. In der soziologischen Orientierung ist der Altliberalismus als bürgerlich anzusprechen. Er betont das nationale Element in der Bestimmung des -»Volkes. Einige frühe Äußerungen, wie die des Schweizers Johann Caspar Bluntschli (1808-1881), des Präsidenten der ersten Kirchentage, nehmen aber auch schon das reichsnationale und das rassische Moment des Deutschtums auf. Gleichwohl zielen die ethischen Bestimmungen in großer Häufigkeit auf das Ziel der „Humanität".
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2.4. Historismus und Positivismus in der altliberalen Theologie — Albrecht Ritschi. Wie auch innerhalb der neukonfessionellen Theologie zeigt sich in der liberalen seit den fünfziger Jahren des 19. Jh. ein Übergang zum Historismus und Positivismus in Abkehr von der älteren Systembildung und Spekulation. Eine Reihe von historisch eingestellten Forschern löst sich von der spekulativen Theologie der Schule Ferdinand Christian Baurs. O b A. -»Ritschls (1822-1889) Theologie „liberal" ist oder nicht, darüber gab es bereits zu seinen Lebzeiten unterschiedliche Urteile. Sie gehört in die Geschichte des Liberalismus deswegen hinein, weil sich seine Schüler (s.u. S.55,42ff) als liberal empfunden haben und Ritschis theologische Ansätze zwischen der positiven und liberalen Theologie „vermitteln" wollten. Er selbst wendet sich in der zweiten Auflage (1857) seiner Darstellung Die Entstehung der altkatholischen Kirche von der spekulativen Tübinger Schule ab. Sein historischer Positivismus wirkt bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs hinein nach und führt zahlreiche lutherische Theologen zu liberaler, historischer Wissenschaftlichkeit. Durch Ritsehl wird die altliberale Theologie fähig, in geschichtlichen Uberlieferungen zu denken und Institutionen zu bejahen. Das zeigt sich in seiner Auffassung von der Entstehung der altkatholischen Kirche, im Rückbezug auf die biblische Grundlage und den historisch aufgefaßten Jesus sowie auf die Reformation, insbesondere Luther. So bereitet er die Lutherrenaissance entscheidend vor. Von den Theologen des Protestantenvereins unterscheidet sich Ritsehl darin, daß er die Schriftgrundlage der Theologie bejaht und damit der altliberalen Theologie die Bestimmung des Ortes theologischer Wissenschaft in der Abwehr des aufsteigenden Naturalismus vermittelt. Die Theologie gehört in die Reihe der Geisteswissenschaften; denn nur sie können Werte erfassen; die Naturwissenschaften sind dazu nicht in der Lage, weil die materielle Natur als solche nicht wertgebend, sondern nur notwendig-gesetzlich ist. Die Ritschlsche Theologie steht in Abwehr des Pietismus und sucht die in Emotionalität abgleitende liberale Theologie wissenschaftlich-systematisch zu verfestigen. Ritsehl signalisiert den Problemstand liberaler Theologie in den siebziger und achtziger Jahren. Er übernimmt weder die Baursche Spekulation noch die christliche Heilsgeschichte in der Form apokalyptisch-futurischer Eschatologie. Er umgeht die Vorstellung des -»Gerichts Gottes, und dem entspricht, daß er nicht mehr vom „zornigen" Gott, von einer Art Drama zwischen Gesetz und Evangelium ausgeht; Gott ist die -»Liebe (vgl. TRE 13,687,14ff). Entsprechend sucht er die christliche Religion modifiziert zu bestimmen. An die Stelle der von der Satisfaktionslehre bestimmten Christologie der „Erlösung" rückt unter Berufung auf Paulus (Rom 5,1-11) die Versöhnung. In Rechtfertigung und Versöhnung (ab 1870) sucht Ritsehl den Anschluß an die Rechtfertigungslehre Luthers. Aber auch dabei historisiert er, indem er die Pisteologie dem „Gesetz" - das Gesetz ist Ausdruck des Naturzwanges über den Menschen - entnimmt und den Glauben mit Luther als fides qua creditur, als den Menschen motivierendes Wandlungsgeschehen, begreift. Das altliberale Motiv des Wirkens Gottes im Menschen läßt ihn Versöhnung und Ethik in der Weise einer „elliptischen Theologie", das heißt in dem von Gott initiierten Wirkungszusammenhang, einander zuordnen. So füllt sich auch seine Vorstellung vom Christentum in der Kultur und Weltlichkeit. Entsprechend wird die ursprünglich geschichtsjenseitige, apokalyptische Figur des Reiches Gottes als eine zukünftige Stufe der Entwicklung betrachtet. M a n kann zwar Ritsehl noch nicht auf die Alternative Horizontalismus und Vertikalismus festlegen. Aber das Reich Gottes ist keine Naturhaftigkeit, sondern beginnt im Inneren des Menschen, prägt die christliche Gemeinde und ist Gottesherrschaft in den Herzen (vgl. T R E 15, 226,48ff). Ritsehl widersteht der Mythoskritik (-»Mythos) und der radikalen Auflösung der alt- und neutestamentlichen Überlieferungen in traditionsgeschichtliche Versatzstücke. Er bleibt der -»Leben-Jesu-Forschung verpflichtet. Ethisch (-»Ethik) denkt Ritsehl noch in Bahnen generalisierbarer Werte und „Berufe", noch nicht in der Erfahrung der späteren Wertkrise. Er bewegt sich in der Vorstellung natürlicher Gliederungen und erblickt darin providentielle Zuordnungen der Menschen zueinander. Der einzelne Christ bewegt sich in den natürlichen Institutionen, ist aber nicht schicksalhaft an sie gebunden.
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Christlich ist das Handeln darin, daß sich der Wille zur Erfüllung dieser naturhaften Gegebenheiten in Richtung der Humanisierung auswirkt.
Spätere liberale Theologie wird das geschichtliche Moment des Glaubens, das Ritsehl bejaht, gerade gegen die Geschichte und deren Institutionen richten; bei den -»Religiösen Sozialisten erfährt die Ethisierung des Glaubens einen weiteren Schub. Glaube und Weltanschauung fallen dann zum politisch-sozialen Engagement zusammen. 3. Der
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3.1. Geschichtlicher Rahmen und Ergebnisse. Die liberale Theologie versteht sich bildungsbürgerlich. Nach 1870 entstehen eine Schichtengesellschaft und eine Schichtenkultur. Der Ubergang von der Manufaktur zur Großindustrie mit allen Begleiterscheinungen (-»Industrialisierung) bis hin zur Wert- und Kulturkrise der Jahrhundertwende mit ihren anti-technologischen Zügen prägt kontextual den Neuliberalismus. Die Auflösung des Neuliberalismus in Richtungen von der -»Leben-Jesu-Forschung bis hin zum atheistischen -»Monismus steht - ursächlich oder repräsentativ — damit im Zusammenhang. Wissenschaftsgeschichtlich bedeutsam ist, daß die liberale Theologie in verschärfter Weise die Frage nach dem Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften stellt. Damit ist erneut die Realismusfrage christlicher Theologie berührt. An diesem Punkte scheiden sich die liberalen Intentionen vor dem Ersten Weltkrieg. Die christliche Weltbildgebundenheit (-»Weltbild) und damit die Aktualität der Religion wird seit Beginn der siebziger Jahre durch -»Overbeck und -»Lagarde erneut angesprochen. Sie signalisieren den Übergang von der christlichen Religion zu einer Neureligion. Auch der alte D.F. -»Strauß nimmt eine ähnliche Wende wahr. Franz -»Overbeck (1837-1905) folgt der Philosophie Nietzsches. Er entdeckt als erster die eschatologische Ausrichtung (-»Eschatologie) der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu wieder und zieht daraus - anders als Ritsehl - die Konsequenz, daß das Jesus eigentümliche eschatologische Bewußtsein nicht mehr neuzeitlich aufgenommen und das Christentum als Religion nicht modernisiert werden kann. Das Absterben des Christentums wird von Overbeck als Aufstieg einer neuen, vom Menschen zu gestaltenden Epoche, ja eines „neuen Menschen" gesehen. In anderer Weise befaßt sich P. de -»Lagarde in Gottingen mit dem Gedanken einer neu zu schaffenden Religion. Lagarde, der sich in der Septuaginta- und Orientforschung lediglich mit dem Interesse des philologischen Wissenschaftlers bewegt, knüpft bewußt an Fichte an. Er tritt für eine moderne, neue, deutsche Nationalreligion ein und öffnet damit einen Weg, der vom Liberalismus in den Neukonservatismus hineinführt. Die Volksreligion soll der geistige Zentralbereich des Selbstentwurfs der Nation werden, der Staat und „Kirche" gleichermaßen umgreift und in der die zu erneuernde, konservative Partei als Weltanschauungspartei figuriert. Die Nation und die Religion sind „im Werden" (-»Utopie). Dieser politische Glaube akkomodiert sich nicht nur dem Volksgeist, sondern erwächst aus ihm. Damit ist der Weg zur Soziologisierung und zur „Germanisierung des Christentums" grundsätzlich freigelegt.
Angesichts der Tatsache, daß die Philosophien der Naturwissenschaften dieser Zeit zu holistischen Welterklärungssystemen werden, wird der Begriff der -»Weltanschauung wichtig, der sich insbesondere durch -»Dilthey und die -»Lebensphilosophie einbürgert und das Heraustreten aus dem Zusammenhang theologischer Systematik ankündigt. Verschiedentlich wird die „Weltanschauung" im Protestantenverein zum Thema. Nicht die Theologie, sondern die Weltanschauung nimmt die künftige Religionsentwicklung in sich auf, und zwar als ganzheitliche Betrachtung des „Lebens", die die Ergebnisse des neuzeitlichen Naturverständnisses zu integrieren vermag. In den exegetischen Wissenschaften drängt die historische Kritik seit dem Beginn der achtziger Jahre zu einem neuen Geschichtsbild. Dabei wird auch die weithin noch dominierende altliberale Fassung der providentiellen Weltgeschichte zweifelhaft. Forschungsgeschichtlich drückt sich das neue Bewußtsein darin aus, daß die jüdische und die christliche „Religion" aus dem Synkretismus mehrerer, außerjüdischer wie außerchristlicher Religionen und Kulturen erwachsen sind; im alttestamentlichen Raum aus vorderorienta-
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lischen und ägyptischen Einflüssen, im n e u t e s t a m e n t l i c h e n R a u m aus Einflüssen des J u d e n t u m s (Apokalyptik), des Hellenismus und der G n o s i s . Im Bereich der alttestamentlicben Wissenschaft verbleiben Wellhausen und seine Schule zwar noch schwerpunkthaft im Aufriß der alttestamentlich-kanonischen Überlieferungsgeschichte, aber die neuere Religionsgeschichte nimmt darüber hinaus den Gesamtvorgang der altorientalischen Religionsbildung in den Blick. Sie erzeugt aus Einzelforschungen heraus das Bild einer religionsgeschichtlich offenen Uberlieferungsgeschichte und übersteigt die kanonischen Grenzen des Alten (wie des Neuen) Testaments in die altorientalische Religionsgeschichte hinein (vgl. T R E 6, 358,44ff). Im Bereich der neutestamentlichen Forschungen erwachsen die Übergänge von der Urgemeinde und Paulus hin zur frühkatholischen Kirche und ihren Institutionen aus den Motivschichten des Judentums, des Hellenismus, der Gnosis und der Sektenbewegungen des 2. Jh., insgesamt Züge eines christlichen Synkretismus. Damit entsteht das Geschichtsbild der religionsgeschichtlichen Bewegungen und Theologien. In der Erklärung dieser Einordnungen werden hermeneutische Analogien zur Gegenwart oder zur bekannten Geschichte hergestellt, so daß ein Netz von Übertragungen entsteht, bei dem soziale, politische und naturhafte Erklärungsgründe kompiliert werden. Das neue Geschichtsbild der religionsgeschichtlichen Schule (s. T R E 6, 386,1 ff) erweitert nicht nur den Quellenbestand, sondern greift auf neue, nicht-theologische Erklärungsgründe zurück. D i e religionsgeschichtlichen Erkenntnisse führen im J a h r 1 8 9 1 zum Babel-Bibelstreit (s. T R E 5 , 6 7 , 3 8 ff; 7 7 , 5 0 ; 6, 3 5 9 , 7 ff) und stellen die liberale T h e o l o g i e nicht n u r vor ein historisches, sondern auch vor ein pisteologisches P r o b l e m , a u f das die ältere R i t s c h l - S c h u l e nicht vorbereitet ist. In diesem Z u s a m m e n h a n g e n t w i c k e l t sich erneut die Fragestellung nach dem „ W e s e n " des C h r i s t e n t u m s als seinem P r o p r i u m . N a c h d e m Vorgang von O v e r b e c k tritt durch J . - » W e i ß 1 8 9 2 in der neutestamentlichen E x e g e s e dadurch ein umfassender U m b r u c h ein, d a ß er die e s c h a t o l o g i s c h e Ausrichtung der R e i c h - G o t t e s - V e r k ü n d i g u n g Jesu und in F o l g e d a v o n die Erledigung der R i t s c h l s c h e n R e i c h - G o t t e s - T h e o l o g i e in exegetischer H i n s i c h t n a c h w e i s t . In dieser L a g e bleiben die historistischen D e t a i l f o r s c h u n g c n der exegetischen und historischen Wissenschaften relativ k r a f t l o s , so d a ß sich eine S c h w ä c h u n g der liberalen Systematik zeigt (s. T R E 8 , 1 9 , 3 ff). Die systematische Frage besteht - im Z u s a m m e n h a n g mit der „ W e s e n s " d e b a t t e - in der R a h m e n k o n z e p t i o n christlicher T h e o l o g i e unter den Bedingungen neuzeitlicher Geschichts- und N a t u r e r k e n n t n i s . Angesichts der Zersplitterung des G e s c h i c h t s b i l d e s k a n n aus den exegetischen Einzelergebnissen nur in der Weise von Versatzstücken der historisch-systematische Z u s a m m e n h a n g v e r m u t b a r g e m a c h t werden. W i e solche Vcrsatzstücke in F o r m persönlicher E n t s c h e i d u n g und Pcrspcktivität einander zugeordnet werden, m a c h t den R a n g der Einzelleistungen aus. I m ganzen tritt die neuliberalc Systematik ihre Stellung an die historischen W i s s e n s c h a f t e n a b . D i e N o t w e n d i g k e i t einer neuen R a h m e n s t r u k t u r christlicher T h e o l o g i e wird z w a r schon vor d e m Ersten Weltkrieg gesehen, aber erst durch die - » D i a l e k t i s c h e T h e o l o g i e aufgegriffen. Es bilden sich im ganzen vier R i c h t u n g e n : 1. die R i t s c h l - S c h u l e und der M a r b u r g e r N e u k a n t i a n i s m u s , 2. die religionsgeschichtliche Schule, 3 . die religionspsychologische R i c h t u n g und 4 . die monistisch-mythische T h e o l o g i e . 3.2. Die Ritschl-Schule. Ritschis b e t o n t wissenschaftlich-positivistische Ausrichtung wird von einer G r u p p e von T h e o l o g e n f o r t g e f ü h r t , die in A . v. - » H a r n a c k ihren g r o ß e n R e p r ä s e n t a n t e n findet. Z u dieser Schule g e h ö r e n vor a l l e m : J . - » K a f t a n , M . - » R a d e , F e r d i n a n d K a t t e n b u s c h , F. - » L o o f s , W. - » H e r r m a n n , M a x R e i s c h l e , Karl G o t t s c h i c k , K . - » H o l l , insgesamt eine G e n e r a t i o n v o r n e h m l i c h von H i s t o r i k e r n . D i e R i t s c h l - S c h u l e b e j a h t die Beziehung zum historischen J e s u s , zum „ L e b e n J e s u " , und - w a s wichtiger ist - auch die G e s c h i c h t l i c h k e i t der christlichen R e l i g i o n . A b e r sie k a n n sich weder der Enthistorisierung des G l a u b e n s a k t e s n o c h den Evidenzfragen der R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e entziehen. Was sie eint, ist die von der historischen K o n t i n u i t ä t der W e r t e n t w i c k l u n g b e s t i m m t e G e s a m t h a l t u n g : Die G e s c h i c h t e führt stets zu neuen, positiven Ergebnissen hin. D a b e i spielt die Religion eine zentrale R o l l e für das Freiheits- und S e l b s t b e w u ß t s e i n der „ g e b i l d e t e n " Persönlichkeit. D i e R i t s c h l - S c h u l e sieht sich gehalten, der K u l t u r f u n k t i o n der Religion über R i t s e h l
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hinaus näherzutreten und nach dem „Wesen" des Christentums zu fragen (-»Kultur). Dabei unterscheidet sie zwar den „Kern" des Christentums von der „Schale" der zeitgeschichtlichen Prägungen, aber das in dem Sinn, daß der Glaube aus einer christlichen Vorgeschichte erwächst, daß er zur Kultur wird und in sich die kritische Fähigkeit besitzt, der Kultur- und Wissenschaftsentwicklung, dem Fortschritt, zu entsprechen. In dieser Hinsicht zeigt diese Linie neuliberaler Theologie ein deutliches Rechts- und Institutionenbewußtsein. 3.3. Adolf von Harnack. In beispielhafter Weise zeigt sich bei A. v. Hamack diese Wechselbeziehung von Institutionen und Glaube, von Schale und Kern. Alle Institutionen stammen nach Harnack aus dem Wirken des Geistes, und umgekehrt bewirkt die Bewegung des Geistes, die Ideengeschichte, auch Institutionen. Harnack ethisiert die Religion nicht, sondern versteht sie als Ewigkeitswahrnehmung. Christus befreit die „ R e l i g i o n " und gibt ihr die Beziehung auf die Ewigkeit Gottes zurück. Den eschatologisch-apokalyptischen Charakter der Predigt Jesu empfindet er nicht als distanzierend, sondern als etwas, das auch sonst in der Geschichte hervortritt: Naherwartung gibt es in allen großen Bußbewegungen. Auch die Weltbildabhängigkeit christlicher Theologie relativiert er; denn das Weltbild gehört nicht zum „ W e s e n " des Vaterglaubens. Umgekehrt kann dieses „ W e s e n " des Glaubens Jesu durch die historisch gebildete Vernunft erkannt werden, weil sie zwischen dem Zeitlichen und dem Ewigen zu unterscheiden vermag (vgl. die Vorlesungen über „ D a s Wesen des Christentums", 1900). In Anlehnung an G o e t h e entnimmt Harnack den Glauben und die Seele der Persönlichkeit der geschichtlichen Wandlung. Die Enthistorisierung des Glaubens drückt sich auch in seinen ethischen A n s i c h t e n aus, nach denen es Privat-, Sozial- und politische Ethik als situativ u n t e r s c h i e d l i c h e Sachbereiche gibt. Er kämpft gegen den Materialismus, die sozialdemokratische Verelendungstheorie und die philosophische Daseinsskepsis, trotz der Annäherungsversuche des zeitweise von ihm geleiteten -»Evangelisch-sozialen Kongresses an die Sozialdemokratie.
3.4. Der Marburger Neukantianismus und Wilhelm Herrmann. Eine besondere Fortentwicklung neuliberaler Theologie ist - in erneuter Aufnahme des kantischen Kritizismus - der Marburger Neukantianismus (-+Kant/Kantianismus/Neukantianismus). Die Neukantianer bilden in den neunziger Jahren zwei Schulen aus, die Marburger und die Heidelberger Schule. Die Marburger Schule (Wilhelm Herrmann, Paul Natorp, Hermann Cohen) besitzt ihre Bedeutung in der Bewußtseinsanalytik der Persönlichkeit. Die Heidelberger Schule (Heinrich Rickert [s. T R E 20, 5 9 1 , 2 f f ] , -»Troeltsch) wendet sich der Kulturphilosophie zu.
Bei Wilhelm -»Hertmann konzentriert sich die Möglichkeit theologisch-wissenschaftlicher Aussage auf die Religion, die sich im Innern des Menschen als Gegenwärtigkeit Gottes findet. Sie ist das empirische Moment der Theologie. So drückt er es in den beiden Artikeln „Andacht" und „Religion" in der dritten Auflage der RE aus. Ein - kantisch gesprochen - „Affiziertwerden" gibt es religiös und theologisch danach nicht mehr. Religion ist aber eine generalisierbare, menschliche Struktur. Die Inhaltlichkeit der Religion ist subjektiv. So werden „Kern" und „Schale" nunmehr scharf geschieden, im Unterschied zu den jüngeren Ritschlianern. Religion wird zum seelischen Akt. In der näheren Beschreibung beruft sich Herrmann auf das Tersteegensche „Gott ist gegenwärtig". Die Theologie kann sich nur auf dieses Phänomen auf dem Grunde des subjektiven Bewußtseins beziehen. Gott ist die aktuale Funktion des göttlichen Geistes auf dem Grunde des Bewußtseins (Bewußtseinsreligion) und damit das logische Zentrum der Persönlichkeit. Offenbarung ist in diesem Aufriß der Akt der sich im Bewußtsein erweisenden Gottesgegenwärtigkeit. Das Ziel ist die Evidenz des Glaubens. Nicht mehr die Schrift, das Bekenntnis oder das Dogma der Kirche, sondern allein das religiöse Bewußtsein kann Grundlage theologischer Rede sein (s. T R E 13, 346,13ff). Es wäre nach Herrmann eine Zumutung, dem religiösen Menschen „Schriftgedanken" (Bibel, Dogmen oder Bekenntnisse) aufzunötigen, die nicht seiner eigenen Erkenntnis entsprungen sind. Ebenso wäre es auch in ethischer Hinsicht persönlich wie wissenschaftlich unzumutbar, eine andere ethische Handlungsweise als die vorzuschreiben, die das religiöse Subjekt selbst will. Sowohl die Dogmatik als auch die Ethik werden den Bedingungen der religiösen Transzendentalität und Subjektivität unterworfen (s. T R E 13, 687,40ff).
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Diese transzendentalanalytische Christus- und Gotteserfahrung löst sich von der historischen Überlieferung und konkretisiert sich im Wortgeschehen des Bewußtseins. Die Abwertung der biblisch-dogmatischen und kirchlichen Überlieferung prägt seitdem die „Marburger" Schule. Damit öffnet sich in Zukunft der Weg zu form- und überlieferungsgeschichtlichen Methoden in der neutestamentlichen Forschung und zu einer mythenkritischen Betrachtung des Neuen Testaments. Sowohl bei Herrmann als auch bei Paul Natorp (1854-1924) und dem Marburger jüdischen Religionsphilosophen Hermann Cohen (1842-1918) läßt sich beobachten, daß aus diesem Ansatz ein neuzeitlicher Humanismus in seltener Klarheit und Reinheit erwächst. Darin drückt sich aus, daß der Abbau der heilsgeschichtlichen Zusammenhänge zugunsten des Aufbaus eines neuen, christlichen Humanismus erfolgt, für den die Gestalt Jesu Christi ethisch-erlösende Bedeutung gewinnt. Die Autonomie der religiösen Persönlichkeit ist nicht naturhaft gegeben, sondern erwächst unter den Bedingungen des inneren Kampfes - als Nachbildung des Todeskampfes Jesu Christi - und kraft der Demutserfahrung. Die Verbindung der Demutstheologie mit der Kampfsituation des heroischen Menschen weist auf eine neue, liberale Frömmigkeit. Kampf und Ringen werden Ausdruck für die Distanz von Glaube und weltlich-säkularer Kultur. 3.5. Die religionsgeschichtliche Schule und Ernst Troeltsch (s. TRE 6, 386-388). Die religionsgeschichtliche Schule entwickelt sich in den neunziger Jahren in der Auseinandersetzung zwischen den spätidealistischen und den inzwischen entstandenen naturalistisch-historischen Noetiken außerhalb der Theologie in den Sozial- und historischen Wissenschaften. Sie führt von den bisherigen, historischen Einzelanalysen zu idealtypischen Deutungsmustern und verläßt so den „Historismus" und mit ihm das aus Quellen und Fakten zu erhebende Modell der Geschichtsdeutungen. Ihr Christentums- und Schriftverständnis ist von der Synkretismus-These und das heißt davon bestimmt, daß die religiöse und theologische Entwicklung geschichtlich und damit den allgemeinen Entwicklungen gegenüber offen ist. Bezogen auf die religiöse Gegenwart besagt dies, daß auch gegenwärtig eine Offenheit der christlichen Theologie in Richtung der neuzeitlichen Geistesstellungen besteht und erwächst. Die menschliche Persönlichkeit des einzelnen, aber auch die naturhaft aufgefaßten Kollektive wie Volk, Kultur, Schicht sind Quellorte und Träger des geistigen Lebens und damit der religiöstheologischen Orientierungen. Das Bild der religiösen Persönlichkeit wandelt sich vom gebildeten Bürger zur Propheten- und Geniegestalt und zum Zeitdeuter. Damit verbindet sich: Die Weltgeschichte, die der Altliberalismus noch mit Hegel als fortschrittlich-monoform gedacht hat, wird nun mehr und mehr als pluriform und multikausal, gelegentlich als sinn-zeitlich empfunden. In der Literatur vermehren sich die Analysen der religiösen Gegenwartslage. Die sich in der Literatur und im Volk ausdrückenden, religiösen Stimmungen sollen aufgespürt werden. Die Kirchengeschichte prägt sich in eine Christentums-, in eine Species der allgemeinen Religionsgeschichte um. Der weltanschaulich-noetische Standort der Religionsgeschichtler ist vorwiegend die Wissenschaft, nicht mehr die Kirche, zuweilen kaum noch das Christentum. Die Kirche ist nicht Bekenntnis- und Erkenntnisgemeinschaft, sondern Teilnehmerin der allgemeinen, pluralen Geistesentwicklung, im günstigen Falle deren Deuterin und Exponentin, im schlechten Fall deren beharrend-konservierendes, anti-fortschrittliches Element. Im Blick auf das Verständnis der Theologie und ihrer Methoden wird durch die religionsgeschichtliche Schule der historische Positivismus weithin unsicher. Nach dem Zusammenbruch der kirchlich-theologischen Historik wird die „Weltanschauung" zur Geschichtsdeutung im Sinne auch religiöser Orientierung und Werterfassung. Die schauhafte Zuordnung von sozial- und kirchengeschichtlichen Elementen wird zwar als befreiend empfunden. Ihre Wissenschaftlichkeit jedoch füllt sich mit schauhaften, dezisionistischen Elementen. Einerseits gibt es vor dem Ersten Weltkrieg immer noch hervorragende Forschungsergebnisse in den historischen Disziplinen. Andererseits
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verstärkt sich die Neigung zum Epochendenken und damit auch zur weltanschaulich-religiösen Überhöhung der historischen Ergebnisse. Die religionsgeschichtliche Deutungsweise führt zu phänomenologischen Geschichtsinterpretationen und soziologisch orientierten Strukturbeschreibungen, die in Troeltschs „Soziallehren" ihren Höhepunkt finden. Die M e t h o d e der p h ä n o m e n o l o g i s c h - s c h a u h a f t erschlossenen „ I d e a l t y p i k e n " ( M a x -»Weber) von Religionen, Kirchen u n d Bekenntnissen, von Kulturen u n d Schichtungen will nicht m e h r Tatsachen a u f d e c k e n , s o n d e r n bezieht sich im Vorrang der D e u t u n g vor der T a t s a c h e auf die Wesensschau und die Evaluierung. Die Frage nach ü b e r g r e i f e n d e n Z u s a m m e n h ä n g e n u n d Gesetzen kollektiver Wert- u n d Ideologiebildung löst sich v o m Leitbild einer wertfreien G e s c h i c h t s e r k e n n t n i s ( - » I d e o l o gie). W e r t n e u t r a l e W i s s e n s c h a f t wird weniger e r s t r e b e n s w e r t , weil es die „ I d e e " , die „ I n t u i t i o n " sind, die die Wirklichkeit im A k t der E r k e n n t n i s k o n s t i t u i e r e n .
In diesem Zusammenhang werden nicht nur die Konfessionen und deren epochale Wirkungsgeschichten sozialtypisch ergotiert, sondern ebenso auch die Nationalcharaktere, die Völkerpsychologien, die Geniedarstellungen. Die „Wesens"beschreibung in Analogie zur Idealtypik wird historiographisches Modell und verhilft dazu, von der Religionssoziologie her Schemata der Korrelation zwischen Konfessionen und Sozialgestaltungen beziehungsweise auch der Ethiken der Kirchen zu entwerfen. Ernst -»-Troeltsch repräsentiert als „Systematiker der religionsgeschichtlichen Schule" diese Richtung in besonderer Weise. Troeltsch vertritt noch in den späten neunziger Jahren die Meinung, daß die Theologie in die Geisteswissenschaften hineingehört und daß es zwei methodische Ebenen gibt, die der psychophysischen, also naturhaften, und der geisteswissenschaftlichen Betrachtung, der die Persönlichkeit zugeordnet ist. Aus der Natur lassen sich keine Werte ablesen. Wie die Persönlichkeit und damit die Geisteswissenschaften Wertvorstellungen gewinnen, ist Zentrum seiner weiteren Überlegungen. Er nennt dies später die „Kultursynthese". Die Antwort auf diese Frage gibt er in zweierlei Richtung. Einmal stellt er in dem Buch Die Absolutheit des Christentums (1902) - in Auseinandersetzung mit Harnack - d a r , daß man aus der Entwicklung der Geschichte selbst einen Maßstab ablesen kann, der ihr innewohnt. Es gibt eine Wertskala der Religionen, an deren Spitze vorläufig das Christentum als Liebesreligion steht. Sodann gibt Troeltsch noetische Hinweise auf das Zustandekommen dieser Werterfassung. Die Persönlichkeit ist in der Lage, solche Werte zu erfassen. Sein Aufsatz über die Frage Was heißt „Wesen des Christentums" ? (1903) nimmt dazu Motive von Fichte und Schopenhauer auf und gelangt zu der These, daß die Wesensbestimmung immer auch Wesensschöpfung ist: „Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung" (E. Troeltsch, GS, Tübingen, II 1913, 431). Diese „ r e l i g i o n s s c h ö p f e r i s c h e " C h a r a k t e r i s t i k verfolgt Troeltsch zu d e n P r o p h e t e n , vor allem zu Jesus, aber a u c h zu a n d e r e n antiken A u t o r e n z u r ü c k . Sie ist nicht spezifisch christlich, sondern A u s d r u c k der Persönlichkeit. Der Kern dieses Vorgangs ist die E n t s c h e i d u n g , eine letztlich nicht m e h r rational herzuleitende, s o n d e r n eine i n t u i t i v - p h ä n o m e n o l o g i s c h e Werterfassung.
Troeltsch hat diese Sicht durch seine Thesen vom „religiösen Apriori" abstützen und philosophiegeschichtlich vermitteln wollen. Aber schließlich kehrt auch er sich von der noetischen Frage ab und der soziologischen Fragestellung zu. Das geschieht spätestens in den Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912). Seine -•Religionssoziologie baut sich nicht auf statistischen Erhebungen auf, sondern ist geisteswissenschaftliche Deutung in der Form der M a x Weberschen „Idealtypiken". Diese Idealtypiken gewinnen als selbständig gewordene Muster eine ergotierende Bedeutung: Aus religiösen und theologischen Ansätzen in den Kirchen und Gruppen ergeben sich Sozialmuster und umgekehrt aus den Sozialmustern geistige Bindungsphänomene. Das Endergebnis der „Soziallehren" ist: „Die Tage des reinen Kirchentypus in unserer Kultur sind gezählt". Und: „Es gibt keine ,protestantisch-kirchliche Dogmatik' mehr" (GS Aalen, I 2 1969, 981 f).
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3.6. Die Religionspsychologie. Vor dem Hintergrund der naturwissenschaftlich-empirischen Forschungen entwickelt sich als eine besondere Fragestellung der vergleichenden Religionssoziologie die -»Religionspsychologie. Ihre Themenstellungen stehen im engen Z u s a m m e n h a n g mit der -»Geschichtsphilosophie, der Werterkenntnis in der Philosophie, mit dem Intuitionismus und den Phänomenologien (-»Phänomenologie). Die Aufgabe besteht darin, die historischen und die gegenwärtigen Weltreligionen in ihren verschiedenen Stufen auf eine in ihnen wirkende Wahrnehmung der Gottheit hin zu studieren. Damit werden Fragestellungen aus dem Anfang des 19. Jh. erneut aufgegriffen. 1. Von Schleiermacher, Fichte, Herbart und Fries her besteht die Überzeugung einer von der Geschichte und der bloßen Moral abgehobenen Gotteswahrnehmung im vorrationalen Akt des Bewußtseins. 2. Im Zusammenhang mit der empirischen Kultur- und Völkerpsychologie entstehen außer diesen individualistisch-personalen Deutungsansätzen auch kollektivistische. Die Formen, Dogmen, Mythen und Symbole der positiven Religionen werden zu hermeneutischen Wegleitern in die innere Eigentlichkeit von Mensch und Kultur. Damit wird die Beziehung von den Symbolen hin zur Eigentlichkeit, von der „Schale" wieder zum „Kern" der seelischen Gottesbewegung gesucht. Die Religionspsychologie nimmt darum Motive der Phänomenologie und des Intuitionismus, aber auch der Ganzheiclichkeitstheorien des Monismus auf. Die Wahrnehmungen Gottes, des Göttlichen, des Absoluten, des Sinngrundes oder auch der urhaften Wirkkräfte des seelischen Erlebens kommen den mystischen und gnostischen Tendenzen der Zeit entgegen, zumal sich solche seelischen Phänomene auch außerhalb von Kirche und Christentum nachweisen lassen und in die Bereiche der Religionsgeschichte, aber auch der Neureligiosität überleiten.
Die ältere Religionspsychologie entwickelt sich bei Wilhelm Wundt (1832-1920) bereits seit etwa der Mitte des 19. Jh. Seine Völkerpsychologie, die als Psychophysik einen wissenschaftlichen Durchbruch in Richtung einer empirischen Psychologie darstellt, erweitert sich zu einer von den komplexen Naturgesetzen bestimmten Betrachtung der Völkerkulturen in den Differenzierungen von Sprache, Sittlichkeit und Religion. Sittlichkeit und Religion sind sich gegenseitig erzeugende Größen, deren Wurzeln jedoch verschieden sind. Die Religion entstammt als „metaphysisch-ethische" Schöpfung komplexen Gefühlen und ist nicht schlechthinig, wie Schleiermacher meint, sondern beruht auf der „dunkel geahnten Idee des Ubersinnlichen", auf einem „religiösen A f f e k t " und wird zur „Idee der Zugehörigkeit des einzelnen zu der Gemeinschaft, in der er lebt". D a r u m ist die symbolische Kulthandlung, nicht ein -»Bekenntnis für das Wesen einer kirchlichen Gemeinschaft begründend. Die Steigerung des religiösen Affekts ist die Tat als die Erhebung zum Unendlichen. Das Ergebnis lautet: „ M e n s c h , erlöse dich selbst". Die Religionen und deren Mythen erscheinen als die Produkte der Wesenseigenheiten der Völker. Durch Wundt, der der -»Arbeiterbewegung nahesteht und von Fichte bestimmt ist, tritt die naturgesetzliche Kollektivdeutung in die Debatte um das Wesen der Religion ein. In Frankreich, England, den Niederlanden und den USA wird die religionspsychologische Forschung in Fortsetzung der Forschungen von Comte, Spencer, Dürkheim (-»Religionssoziologie) u . a . als empirisch-positivistische Analytik und Religionsgeschichte betrieben. Die für die deutsche Situation so kennzeichnende, metaphysisch-spekulative Stimmung fehlt dieser Forschung weithin. Auch die englische und französische Forschung versteht die Funktion der Religionen im Sinne von kulturgeschichtlichen Verständigungssystemen zur Deutung der natürlichen Wirklichkeit (Dürkheim). Die Religion erscheint als integrales F u n d a m e n t von Stämmen, Völkern und Kulturen. Die deutsche Forschung sieht sich gerade an der metaphysischen Frage interessiert und stellt sich akademisch weithin als Schleiermacher-Diskussion dar. Eine philosophisch eindeutige Herleitung der Religionspsychologie in Deutschland erscheint nicht möglich, weil sie unterschiedliche Richtungen einschlägt. In den zwanziger Jahren bilden sich drei Schulen um Georg Wobbermin (1869-1943), Karl Girgensohn (1875-1925) in - » D o r p a t und Wilhelm Stählin (1883-1975) in N ü r n b e r g . In der Religionspsychologie gilt die positive Religion als Ausdruck innerer Objektivitäten, die die Seele ergreifen. Damit leitet sich zu den zwanziger Jahren hin eine
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t h e o l o g i e g e s c h i c h t l i c h e W e n d e ein: Es g e h t n i c h t m e h r u m T e x t - u n d L i t e r a r k r i t i k , a u c h nicht m e h r u m die liberale Subjektivität des persönlichen G l a u b e n s , s o n d e r n u m die O b j e k t i v i t ä t d i e s e r s u b j e k t i v e n E r l e b n i s w e l t in i h r e n p s y c h o l o g i s c h e n S c h i c h t u n g e n bis ins U n b e w u ß t e h i n e i n . M y t h o s u n d S y m b o l e r l a n g e n - gegen d i e ä l t e r e R e l i g i o n s k r i t i k - neue Bedeutung. Die A b g r e n z u n g gegen die neukantianische Bewußtseinsanalytik, a b e r a u c h g e g e n d i e c h r i s t o z e n t r i s c h e Linie ( R i t s c h l - H a r n a c k ) ist d a m i t g e g e b e n . T h e o l o g i e g e s c h i c h t l i c h ist d i e t h e o l o g i s c h e R e l i g i o n s p s y c h o l o g i e in D e u t s c h l a n d w e i t h i n als S p ä t i d e a l i s m u s u n d L e b e n s p h i l o s o p h i e a u f z u f a s s e n . E i n e r s e i t s w i r d d i e „ I d e e " o d e r d e r „ G e i s t " als G o t t h e i t , N u m e n o d e r d a s G ö t t l i c h e a n g e s e h e n , w a s i d e n t i s c h sein k a n n m i t d e r S i n n t i e f e , d e r E i g e n t l i c h k e i t u n d d e r g l e i c h e n i n t u i t i o n i s t i s c h e n P h ä n o m e n e n . A n d e r e r s e i t s a b e r e r h e b t sie w i s s e n s c h a f t s t h e o r e t i s c h u n d p h i l o s o p h i s c h d e n A n s p r u c h a u f E m p i r i e . Im Z u s a m m e n h a n g m i t p h i l o s o p h i s c h e n G a n z h e i t l i c h k e i t s t h e o r i e n s e t z e n d i e R e l i g i o n s p s y c h o l o g e n v o r n e h m l i c h auf d i e p s y c h o s o m a t i s c h e E i n h e i t d e s m e n s c h l i c h e n Selbst o d e r a u c h - k o l l e k t i v - d e s Volkes. D i e I d e e n Wirklichkeit ist d i e l e i t e n d e R e a l i t ä t des P s y c h o p h y s i s c h e n , d e s „ L e b e n s " . In d i e s e r k o r r e l a t i v e n B e z i e h u n g v o n Seele u n d L e i b ist d i e R e l i g i o n d a s „ I n n e r s t e " , d a s „ T i e f s t e " , d a s „ E i g e n t liche". Wobbermins transzendental-psychologische Methode versteht den religiösen Akt als eine pantheistische, universalistische Einheitswahrnehmung, die aber theologisch weithin inhaltlos bleibt. Im naturhaft-seelischen Erleben, wo es noch nicht diskursiv zerspalten ist, gibt es Absolutheitserfahrung, die die Einheit von Gottesgeist und Schöpfung erweist. Analog dazu faßt er die Religion als die naturhaft-geschichtliche Zentralfunktion der Kultur auf. Seine Religionspsychologie ist von Schleiermachers „Anschauung und Gefühl des Universums" bestimmt. In seinem Wesen der Religion (1921) versteht Wobbermin darunter die „Ahnung von etwas außer und über der Menschheit - nämlich der Menschheit im . . . erkenntnis-theoretisch ausgeweiteten Sinn des Wortes" (Syst. Theol., II Das Wesen der Religion, Leipzig 1921, 106). Damit ist ein „schlechthinig" „Mitbestimmendes", ein „objektiver Gegenpol" gemeint, demgegenüber es keine Freiheit mehr gibt. Diese Erfahrung erweist er religionsgeschichtlich unter anderem auch aus Texten der indischen Veden sowie indianischer und primitiver Religionen. Dabei spielen die Methoden historischer Kritik keine Rolle mehr. Dem Gotteserlebnis liegt jeweils eine Vater-Kind-Beziehung zugrunde. Gott ist „die religiöse Form" der intentionalen Daseinsdeutung. Wobbermins Methode ist der „religionspsychologische Zirkel", der auch wertphilosophisch vom religiösen Selbsterlebnis ausgeht, von da aus nach den religiösen Quellen und Fremderlebnissen fragt und so in die Analogie des Eigenen zurückkehrt. Diese Methode vollzieht sich in der Weise der Anempfindung oder der produktiven Einfühlung in religiöse Fremderlebnisse. Die Daseinsdeutung ist die Perspektive, der die religiösen Quellen, auch die christlichen, ein- und untergeordnet werden. Wilhelm Stählin setzt sich für experimentelle Untersuchungen auf dem Gebiet der Religionspsychologie ein. Diese Untersuchungen erwachsen aus sprachpsychologischen Ansätzen. Es sollen die Erlebnisse beobachtet werden, die von geeigneten Texten hervorgerufen werden. „Wer die psychische Repräsentation psychischer Objekte, die Aneignung religiöser Gedanken, den Gefühlswert religiöser Wörter untersucht, der treibt Religionspsychologie" (Experimentelle Untersuchungen über Sprachpsychologie und Religionspsychologie: ARPS 1 [1914] 119). Stählin vertritt - im Gegensatz zu Wobbermin - die Auffassung, daß die Wahrheitsfrage außerhalb der Aufgaben und Möglichkeiten der Religionspsychologie liege. Die Religionspsychologie untersucht nur den Geltungsanspruch der Religion „in der Mannigfaltigkeit seiner psychischen Verwirklichung". Der Glaube an Gott muß wissenschaftlich vorausgesetzt werden, kann methodisch nicht Gegenstand sein. Die Dorpater Schule Karl Girgensohns - er bezeichnet sich gelegentlich als „freisinnig-konservativ" - geht von der biblischen Meditation aus und sucht vom historischen Jesus zum Christus des Glaubens zu gelangen. Dieser ist der Arzt, der die Seele zu sich selbst zurücklenkt und sie in Stand setzt, den zivilisatorischen Schäden der Zeit zu entfliehen. Dabei ist das Gebet der Weg zu Gott und zum Ich. Die Religionspsychologie Girgensohns löst sich von der religionsgeschichtlichen Optik und lenkt zum biblisch-meditativen Erlebnis hin. Die religionspsychologische S t r ö m u n g ergreift auch die Predigerschaft. Die -»Predigt w i r d z u m a k t u a l e n G e i s t e r l e b n i s . Sie soll i n n e r e O f f e n h e i t u n d B e r e i t s c h a f t h e r b e i f ü h r e n . D e r P r e d i g e r ist H e r m e n e u t d e r Seele u n d D e u t e r d e r Z e i t . L i b e r a l e P r e d i g t t y p e n b e s o n d e r s v o r d e m E r s t e n W e l t k r i e g g e h e n v o n E r l e b n i s s e n d e r M e n s c h e n in b e s t i m m t e n
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Situationen oder Problemlagen sowie von der Natur- oder Geschichtserfahrung aus und deuten sie als Erlebnis des Transzendenten. Dabei gewinnt oftmals das UnaufklärbarGeheimnisvolle des Daseins und menschlicher Gefühle, das sich der zweckrationalen Deutung entzieht, den Charakter der Metaphorik, die die Gedanken auf Gott hinlenkt, ohne damit eine ontologische Frage zu verbinden. In der -»Religionspädagogik kommt es zu Neuansätzen liberaler Theologie. 1905 wird das Modell des Bremer Lehrervereins veröffentlicht: Religion ist Privatsache, kein Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen; das Christentum ist in moralischer Hinsicht suspekt, besonders das Alte Testament. Die Bibel ist nicht mehr Grundlage von Theologie und Unterricht. 1908 veröffentlicht der sächsische Lehrerverband die Zwikkauer Thesen, die den Religionsunterricht bejahen, ihn aber nicht von der Kirche, sondern von der Schule her begründen. Die Berücksichtigung der kindlichen Erlebniswelt und die Person Jesu sowie anderer christlicher Vorbilder sind leitend. Der Moralunterricht soll sich an den Zehn Geboten, der Bergpredigt, keineswegs am Katechismus orientieren. Die paulinische Theologie bleibt unberücksichtigt. Der Bund für Reform des Religionsunterrichts (Weinel, Niebergall, Traub, Penzig u.a.) veröffentlicht 1911 den Jena-Plan (auch: Dresdener Leitsätze), der im Anschluß an die Leben-Jesu-Forschung in der Linie Ritschl-Harnack verbleibt, auch Kirchengeschichte und Katechismus bejaht und nach einer mittleren Linie sucht. Kirche und Schule sollen kooperieren. Religionsunterricht ist öffentliche Aufgabe. Die kindlichen Erlebnisse sollen berücksichtigt werden, ebenso Geschichte und Literatur. Zentral ist in allem die historische Person Jesu.
R i c h a r d Kabisch ( 1 8 6 8 - 1 9 1 4 ) trennt 1910 ( „ W i e lehren wir R e l i g i o n ? " ) Kirche und Schule: Die Kirche gibt Religions-Unterricht, die Schule begründet Religiosität. Er spricht vom „religions-schöpf e r i s c h e n " Unterricht. J e d e G e n e r a t i o n erzeugt ihre eigenen, religiösen Gefühle, Bilder und M y t h o 25 logien. Der schulische Unterricht soll religiöse Erfahrungen aktivieren und von der Erlebniswelt des Kindes und von naturhaften Erfahrungen ausgehen. Er soll von Einflüssen des Staates wie der Kirche frei sein.
Bei Rudolf -»Otto (1869-1937) wird das neue Verständnis des Objektiven im Sinne innerer Distanzwahrnehmung greifbar. Das religiöse Erleben läßt Gott nicht als Produkt 30 eigener Vorstellungen, sondern als „den ganz anderen" erkennen. Ottos Analyse der Wahrnehmung des „Heiligen" geht von der Realität und Objektivität dessen aus, was wahrgenommen und erlebt wird (vgl. T R E 14, 696,6ff). Diese Erfahrungen (numen tremendum und numen fascinosum-, vgl. T R E 10, 85,45 ff) machen das Wesen des Religiösen aus, was er an den Überlieferungen der deutschen Mystiker, Luthers und außer35 christlicher Religionen darlegt. Die „Religion" ist ein „menschheitliches" Konstitutivum von kultur- und religionspolitischer Bedeutung. Auch bei Otto spielt die Zivilisationskritik in der Spannung zwischen Religion und neuzeitlich-technischer Welt eine Rolle. R u d o l f - » B u l t m a n n lobt 1924 O t t o s R e d e von G o t t und sieht in ihr eine der Kontinuitäten von der liberalen zur dialektischen und kerygmatischen T h e o l o g i e . O t t o s Anregungen für eine religiöse 40 Weltkultur im R a h m e n des 1917 gegründeten „religiösen M e n s c h h e i t s b u n d e s " bleiben kirchlich und öffentlich weithin unbeachtet.
In der von der neuliberalen Religionspsychologie ausgehenden schwedischen Religionsphilosophie entsteht eine selbständige Schulbildung, vertreten durch Einar Billing, Nathan ->Söderblom, Anders -»Nygren, Gustaf Aulen und Ragnar Bring (vgl. T R E 9, 45 81,1 ff). Nach G. Hornigs Darstellung gehen Söderblom und Billing schon vordem Ersten Weltkrieg vom neuliberalen Offenbarungs- und Religionsverständnis aus und sprechen auch vom religiösen Apriori. In der religionswissenschaftlichen Konzentration auf die religiöse Erfahrung kommt den historisch-kritischen Methoden keine erhebliche Bedeutung mehr zu. Die „Motivforschung" in der Lunder Schule und besonders bei A. so Nygren vertieft vielmehr die Methode der „Wesens"beschreibungen (s. T R E 9, 81,32ff). 3.7. Die monistisch-mythische Theologie. Die monistisch-mythische Richtung ist keine einheitliche Schule, sondern eine Trendbewegung, die Teile der neuliberalen Theologie
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in Wechselwirkung mit der Öffentlichkeit, der Literatur und der monistischen Philosophie ergreift (-»Monismus). Die Verbindung monistischen Denkens mit dem Naturalismus und dem - » E v o l u t i o n i s m u s zeigt sich seit den vierziger J a h r e n ( M o l e s c h o t t , Büchner, auch Lotze). In den siebziger J a h r e n erhebt sich das monistische D e n k e n durch die T h e o r i e n - » D a r w i n s , H a e c k e l s , Du B o i s - R e y m o n d s , D r u m monds zur N a t u r w e l t a n s c h a u u n g , teilweise mit neureligiösem C h a r a k t e r . Sie wendet sich nicht allein gegen das Christentum, sondern auch gegen den Idealismus und gegen die neuliberale T h e o l o gie.
Der philosophische Monismus versteht sich als Konsequenz des Evolutionsdenkens. Herbart, Fechner, Wundt vertreten eine physiologisch-empirische Psychologie; Naturwissenschaftler wie Haeckel und Du Bois-Reymond spitzen die Metaphysikfrage auf die Evolution von Weltall und Seele zu. Die monistischen Ethiken naturalisieren die Sittlichkeit. Mit der Verzeitlichung der Natur wird das Geistesleben seiner Autonomie enthoben. Die Völker- und Rassenpsychologien erhalten dadurch naturgesetzliche Züge. Auch die Definition der Religion wird mit naturbiologischen und soziologischen Erkenntnissen in Verbindung gesetzt. Eduard von Hartmann (1842-1906) schließt sich an Schelling, J . G . Fichte, Schopenhauer, Richard Wagner und Nietzsche an und lenkt zu einer skeptisch-pessimistisch gestimmten, dezisionistischen Willensmetaphysik. In diesen Zusammenhang gehören auch die sozialdemokratischen Zeitphilosophien Albert Langes (1828-1875; „Naturgesetz des Geistes") und Hans Vaihingers (1852-1933). Tendenziell wird der transzendental-empirische Neukantianismus abgelehnt und damit auch das Bild der liberalen Persönlichkeit. Im philosophischen Monismus spielt die Fichterezeption im Ubergang zum Intuitionismus eine erhebliche Rolle. Dem Willens- und Tatmotiv dieser Noetik der selbstschöpferischen Innerlichkeit tritt die Fichtesche Tatphilosophie besonders nahe. Insbesondere eignet sich der „Lebens"bcgriff dazu, die Religion und den Mythos als Ausdruck dieser Einheitserkenntnis, der Lebenserfassung und des Lebenswillens anzusehen (-»Leben). Arthur Drews ( 1 8 6 5 - 1 9 3 5 ) , Schüler Eduard v. H a r t m a n n s , lehnt den theologischen Liberalismus als „unchristlich und irreligiös", als „Selbstzersetzung des C h r i s t e n t u m s " ab. In dem von ihm herausgegebenen S a m m e l b a n d stellen sich 13 monistische E n t w ü r f e vor, darunter auch der von Christoph S c h r e m p f ( 1 8 6 0 - 1 9 4 4 ; vgl. T R E 2 0 , 6 3 1 , 1 1 ff), der die T h e o r i e von der Christus-Mythe akzeptiert, weil das Wesen des Christentums nicht mehr aufhellbar sei. D e r M o n i s m u s ist eine „ A l l - E i n s l e h r e " , eine Weltanschauung im Anblick des Alls, wobei das Eine durch die Mannigfaltigkeit hindurch „ g e s c h a u t " wird. Stellen wie R o m 11,36 und Act 17,28 deutet Schrempf mo.nistisch so, d a ß Urständ und Eschatologie in G o t t zusammenrücken (absoluter M o n i s m u s ) . D a m i t entschwindet die Freiheit des menschlichen Willens: Für „ G o t t " ist „ E n t w i c k l u n g " zu setzen.
Das Aufkommen der monistisch-mythischen Theologie ist mit der Tatsache in Verbindung zu setzen, daß die Rekonstruktion der neutestamentlichen Urgeschichte und des Lebens Jesu unmöglich geworden scheint (-»Leben-Jesu-Theologie/Leben-Jesu-Forschung). Der Verlust der Historizität wird in Albert -»Schweitzers Buch Von Reimarus bis Wrede (1906), das in der zweiten Auflage (1913) den Titel Geschichte der LebenJesu-Forschung trägt, als kampfartige These vorgetragen. Der Schlußabschnitt zeigt, daß, wenn der historische Jesus nicht mehr zu ermitteln ist, nur noch die mythische Figur, der Christus, übrigbleibt, der heroische Züge trägt und als namenloser Träger des Gottesgeistes aus der Masse hervortritt, dessen Kreuzestod das Ergebnis seines Gottesbewußtseins ist, der gebietend als Führer in die Nachfolge und das heißt in eine neue, naturhafte Wirklichkeit ruft, die sich bei Schweitzer später zur „Ehrfurcht vor dem Leben" verdichtet. In extremer Weise trägt Albert Kalthoff (1850-1906) in dem Buch Die Entstehung des Christentums. Neue Beiträge zum Christusproblem (1904) eine aus der Nietzscheschen Neureligion und dem sozialistischen Materialismus gewonnene Theorie der Christus-Mythe vor, auch er im engen Anschluß an Fichte. An die Stelle des historischchristlichen Ideals der Demut, Selbstaufopferung und Selbstverneinung treten Selbstbe-
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hauptung und S e l b s t b e j a h u n g . D a s Kreuzessterben J e s u ist heroisches Leiden in Konseq u e n z der ihn tragenden G o t t e s i d e e . Diese Ansicht wie auch die A b l e h n u n g des Alten T e s t a m e n t s als A u s d r u c k b l o ß e r N a t i o n a l r e l i g i o n b e t o n e n später auch die - » D e u t s c h e n Christen. Die neue C h r i s t u s - M y t h e ist Ausdruck der Volksreligiosität: Christus wird zum „ T y p u s " , zum „ P r o p h e t e n " , der „die Verwesungskräfte der Vergangenheit in Schaffensk r ä f t e des L e b e n s " umsetzt. D a s C h r i s t e n t u m hat als Religion für den „seelischen M e n s c h e n " ausgedient. Bei den p r o p h e t i s c h e n , religiös-sozialen R e f o r m e r n der Z e i t erscheint der Christus säkularisiert als Typus des a u t o n o m e n M e n s c h e n : der Volkschristus, der Laienchristus, der T a t c h r i s t u s . D e r Z u s a m m e n h a n g von K a r f r e i t a g und O s t e r n ist der „ewige Lebensdrang des M e n s c h e n " . A r t h u r B o n u s ( 1 8 6 4 - 1 9 4 1 ) wird eine Schlüsselfigur der m o n i s t i s c h - m y t h i s c h e n T h e o logie, mehr L i t e r a t als T h e o l o g e . E r beeinflußt Friedrich - » G o g a r t e n . B o n u s ' T h e s e von der „ G e r m a n i s i e r u n g des C h r i s t e n t u m s " ist w o h l n o c h nicht politisch-präfaschistisch zu deuten (vgl. T R E 12, 5 2 1 , 4 0 ) . Die liberale A k k o m o d a t i o n des C h r i s t e n t u m s an die m o d e r n e Welt kehrt er u m in die T h e o r i e von der „ G e r m a n i s i e r u n g des C h r i s t e n t u m s " , w o n a c h die Religion aus der kollektiven Kultur e r w ä c h s t . D i e Beziehung von Wesen und K o n t e x t verdeutlicht er a m V o l k h a f t e n und nach d a m a l i g e r S p r a c h e und T r e n d a m G e r m a n i s c h - D e u t s c h e n . D e r ideale Christus wird von B o n u s pantheisierend g e d a c h t , als mystische M i t t e des L e b e n s , in nur scheinbarer Fortsetzung entsprechender Ansätze bei Luther: Christus ist der S c h ö p f u n g und dem unter d e m Weltelend leidenden M e n s c h e n gegenwärtig. E r geht u n e r k a n n t auch heute n o c h t a u s e n d f a c h durch die Welt. Christus ist nicht der L o g o s , sondern die Verborgenheit. D e r C h r i s t u s ist das „ L e b e n " in der Verborgenheit und U n d e u t b a r k e i t , in Abgründigkeit und Leiden, a b e r a u c h in Brüderlichkeit und naturhafter ( V o l k s - ) G e m e i n s c h a f t . Bonus' kriegs a u f Gogartens schöpfung
Schüler Friedrich - » G o g a r t e n bewegt sich ebenfalls zur Z e i t des Ersten Weltder Linie der m o n i s t i s c h - m y t h i s c h e n T h e o l o g i e , auch er in Fichtes B a h n e n . spätere S ä k u l a r i s a t i o n s t h e s e ist schon d a m a l s als Uberzeugung von der Erder positiven R e l i g i o n und Christlichkeit e r k e n n b a r .
In den Schriften Fichte als religiöser Denker (1914) und Religion weither (1917) schreitet Gogarten von Fichte weiter zu Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung". Das Mythische des Denkens ist in der Mystik des geistigen Aktes begründet, so daß „das Bewußtsein sich selbst vergißt in seiner Tat der Erzeugung der empirischen Wirklichkeit", in der Hingabe an die Einheit von Geist und Natur. Nur durch die Offenheit für das absolute, göttliche „ D u " in dieser seelisch-mythischen Beziehung erschließt sich der ewige Sinn des Naturhaft-Historischen. Schon 1917 will sich Gogarten von der liberalen Persönlichkeitsreligion und der theologischen Wisscnschaftlichkeit der Zeit lösen. Die Wissenschaft vermag nur das Gesetz, aber nicht die kontingente Persönlichkeit zu erfassen. Von Luther her, der, wie er meint, durch den Deutschen Idealismus fortgesetzt wird, erscheint ihm das „Gesetz" als das Vorfindliche. Die wahre Religion findet den Ort in der „geistigen Welt", wo das Individuelle, der „einsame Mensch" in die „tiefe Gemeinsamkeit mit allem Lebendigen" eintaucht, nämlich in das „All-Leben". Das Leben ist eine Ganzheit; Ehrfurcht, Dankbarkeit, Demut, Schulderkenntnis, Glaube sind die Wege dahin. Die Religion wird zur psychologischen Seelenkunde. Sie ist „Individualität als Mythos", nämlich als die Überwindung der bloß gedachten Individualität in die Individualität im Sinne des Allgemein-Wirklichen. Der aus dem historischen Leben erwachsende Mythos ist das „Symbol" des Ewigen. D i e Zeitsignifikanz dieser Schriften liegt d a r i n , d a ß nach der eigentlichen W i r k l i c h keit, d e m Gesetz der Geistleiblichkeit, nach G e h o r s a m , Sünde und Schuld gefragt wird. Ähnliche Sichtweisen finden sich auch in der R ö m e r b r i e f a u s l e g u n g von Karl B a r t h . D i e Loslösung von der r a t i o n a l - t e c h n i s c h e n W i s s e n s c h a f t s w e l t befreit zur mythischen Seinswirklichkeit, die sich als das eigentliche, g ö t t l i c h e G e s e t z gegenüber d e m b l o ß psychisch-physischen G e f ü g e des Ich b e k u n d e t . D i e m o n i s t i s c h - m y t h i s c h e T h e o l o g i e tritt in gelegentliche B e r ü h r u n g mit der expressionistischen Kunst, die als „ A u s d r u c k " g e d a n k l i c h e s Spiel, von der N a t u r h a f t i g k e i t abgelöste, dichtende P h a n t a s i e ist. C . W. - » J a t h o steigert die Predigt zur A u s d r u c k s s p r a che der genialen, religiösen Persönlichkeit. N i c h t der S a c h v e r h a l t , sondern das E r l e b e n ,
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die seelische Betroffenheitslage sind das Ziel der Predigt. Damit erlangt die liberale Ausdruckstheologie eine aus der Wissenschaft hinausweisende, in die Solidarität der Mitmenschlichkeit und des schlichten Menschenverstandes einweisende Richtung. Das „System" der biblischen Aussagen und der theologischen Wissenschaft wird unerheblich. Die „psychische Erlebnisfolge" wird wichtiger als die „logische Gedankenentwicklung". Paul Göhre (1864-1928) artikuliert als einer der Ausläufer dieser neuliberalen Richtung die atheose Grundsituation der Zeit in dem Buch Der unbekannte Gott aus der Sicht der dechristianisierten, besonders sozialdemokratischen Schichten (-»Sozialismus). Die neuliberale Abwendung von der positiven Religion führt zur Unerkennbarkeit Gottes und zum neureligiösen Gottsuchen. Das Christentum scheint erschöpft. Es muß sich neuen Evidenzen öffnen, wie die vielen namenlosen Atheisten es schon tun, ohne daß sie irreligiös wären. Göhre bezeichnet einen der Wege vom Neuliberalismus in den atheistischen Humanismus hinein. 4. Ende der liberalen
Theologie?
Das Ende der liberalen Theologie kündigt sich in der Differenzierung der liberalen Richtungen bereits vor dem Ersten Weltkrieg an. Es ist nicht identisch mit dem Ende der wilhelminisch-bürgerlichen Gesellschaft, auch nicht mit dem Aufkommen der Dialektischen Theologie, sondern eher Ergebnis der richtungsimmanenten, analytischen Kritik. Schon vor dem Ersten Weltkrieg klagt der Protestantenverein über das Abnehmen seiner Mitgliederzahlen (vgl.TRE 20, 234,18ff). Diese Konstellation hat im außerdeutschen Bereich keine Parallele. Dort wirkt liberale Theologie beispielsweise in der civil religion (Dewey), in der —»Prozeßtheologie, in der Religionspsychologie und im -»Social Gospel kontinuierlich fort. Nichtsdestoweniger leben liberale Problemstellungen wissenschaftlich und kirchlich weiter; das zeigen auch die Vorlesungsverzeichnisse deutscher evangelischer Fakultäten in den zwanziger Jahren. Sowohl die religionsgeschichtliche Exegese als auch die Religionspsychologie suchen sich zu versachlichen, so vor allem in der -»Praktischen Theologie, der —»Formgeschichte, der Gnosisforschung, der Schleiermacher-Interpretation. Die -»Dialektische Theologie, zunächst ohne große, flächenhafte Wirkung und in sich gespalten, setzt den aktualistischen und perspektivistischen Ansatz, der sich in der neuliberalen Theologie entwickelt, in neuen, systematischen Zuordnungssystemen fort. Unsicher bleibt das Verhältnis von Theologie und realer Objektivität Gottes. Auch die Frage der Kontextbezogenheit der Theologie und ihr Verhältnis zur Kultur wird diskutiert, so besonders zwischen Karl —»Barth und Paul —»Tillich 1924 über die Denkform des Paradoxes. Karl Barth und Adolf von Harnack beenden eine öffentliche Diskussion in gegenseitigem Unverständnis (vgl. T R E 8, 685; 14, 455,29ff). Die neuliberale Theologie verliert nach dem Krieg ihre Stellung als „moderne" Leittheologie. Das gilt insbesondere für die Gruppen des Aufbruchs der jungen Generation nach 1918. Rudolf Bultmann macht es ihr zum Vorwurf, daß sie zu sehr vom Menschen, zu wenig von Gott gesprochen habe. In der Bekennenden Kirche (-»Nationalsozialismus und Kirchen) kommt es zu einer Neubewertung der institutionellen Kirchen, der Heiligen Schrift, der Sakramente, von Kirchenrecht und kirchlichen Ordnungen, während die -»Deutschen Christen das neuliberale Kirchenrechtsverständnis, auch die Kritik am Alten Testament und -»Paulus fortsetzen. Sie übernehmen auch den neuliberalen Antidogmatismus und die Theorien von der naturhaft-kollektiven Religiosität des (deutschen) Volkes. -> Asmussens Vorlagebericht zur Barmer Theologischen Erklärung sieht die aufgeklärt-liberale Epoche als überwunden an. 1942 leitet Rudolf Bultmann mit der Entmythologisierungsdebatte einen Neuansatz historisch-kritischer Exegese und Weltanschaulichkeit ein. Die Säkularisierungsdebatte nach dem Zweiten Weltkrieg nimmt neuliberale Geschichtsdeutung erneut auf (Gogarten). Die radikale „Weltlichkeit" wird auch von Dietrich -»Bonhoeffer her entfaltet. Vor dem Hintergrund der Dechristia-
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nisation (-> Kirchenentfremdung) wird versucht, christliche Theologie in das Referenzsystem neuzeitlicher „Säkularität" umzuformen, bis hin zur Theorie vom „Tod Gottes" als Neurezeption von Nietzsche. In der neueren religiösen Feminismusdebatte spielt die Frage nach einer „religionsschöpferischen" Neugestaltung der systematischen Zuordnungssysteme eine ähnliche Rolle wie in der neuliberalen Theologie. Die Ethisierung (Politisierung) des protestantischen Glaubens ist als Erbe der deutschen Vergangenheit und angesichts der institutionsethischen Schwäche des Liberalismus nach 1945 oftmals weiterhin in Zügen des Fichteschen Intuitionismus und Dezisionismus verlaufen, nunmehr zur sozialistischen Kollektivdeutung gesellschaftlicher Gesetze hin (vgl. T R E 20, 238,45ff). Die Ethik tritt zuweilen als eine neue Form gemeinchristlicher Evidenz und Aufgabenstellung an die Stelle der älteren Erlösungs- bzw. Versöhnungslehre. Das liberale Gemeindeprinzip als Ausdruck religiöser Mündigkeit setzt sich in ähnlicher Weise in die Demokratisierung und die Bürgerbewegung innerhalb der Kirche (Basiskirchlichkeit) hinein fort (—»Kirchenreform). Die neuliberale Vorstellung von der „Persönlichkeit" trägt eine gegen die Massentendenzen der modernen Kommunikationsgesellschaft gerichtete Tendenz, die uneingelöst scheint. Insgesamt erscheint die liberale T h e o l o g i e , abgesehen von Wissenschaftsinseln, schon nach dem Ersten Weltkrieg weithin e r s c h ö p f t . Ihr E n t w i c k l u n g s o p t i m i s m u s ist durch die zerstörerischen Ereignisse in der ersten H ä l f t e des 2 0 . J h . unglaubwürdig g e w o r d e n . U n a u f h e b b a r jedoch bleiben die A n f o r d e r u n g e n liberaler T h e o l o g i e in R i c h t u n g der menschlichen S e l b s t b e s t i m m u n g , der Freiheit und der T o l e r a n z . Quellen Grundlegend sind für den Protestantenverein: Protestantenblatt; Protestantische Flugblätter, sowie die Regionalzeitschriften. - Für den Neuliberalismus: Die Christliche Welt (ab 1886). - Ferner zur Einführung: Kirchen- u. Theologiegesch. in Quellen, Neukirchen, IV/1 1979, IV/2 1980. Die übrigen Quellen erschließen sich über die Verweisstichwörter der T R E . Literatur
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Manfred Jacobs Liberaler Katholizismus 1. Problemstellung 2. Geographie des liberalen Katholizismus 2.1. Frankreich gien 2.3. Holland 2.4. Irland und Großbritannien 2.5. Italien 2.6. Deutschland dere Länder 3. Bilanz (Bibliographie/Literatur S. 73)
1.
2.2. Bel2.7. An-
Problemstellung
Während die -»Liberale Theologie vorwiegend im deutschen Protestantismus beheimatet ist und hier eine neue, von der bisherigen Orthodoxie befreite Auffassung von Christentum und Religion begründet, ist der liberale Katholizismus sowohl von seinen Voraussetzungen als auch von seiner Verbreitung her diffuser und deshalb schwieriger zu bestimmen. Im Gegensatz zur liberalen Theologie berührt er weniger theologische Fragestellungen als vielmehr das aus dem Umbruch von Aufklärung und Revolution hervorgegangene neue Verhältnis von Kirche und Gesellschaft im 19. Jh. Deshalb tangiert er ein weites Problemfeld von Staats-, Gesellschafts- und Kirchenreform, bleibt polymorph im unterschiedlichen nationalen Kontext und ist nicht leicht zu definieren. Temporäre Alliancen mit dem politischen Liberalismus sind möglich, aber keineswegs die Regel. Wer den liberalen Katholizismus als Versuch definiert, die assimilierbaren Elemente des Liberalismus im Katholizismus zu integrieren (A. C. Jemolo), übersieht gerne die eigenständigen Vorläufer des liberalen Katholizismus. Die lapidare, allgemein gehaltene Definition des liberalen Katholizismus durch Lord Acton, eines Zeitgenossen und liberalen Katholiken, als Bewegung, die nicht nur die Freiheit für die Kirche, sondern auch die Freiheit in der Kirche anstrebt, faßt zwei zentrale Postulate des liberalen Katholizismus zusammen: gegenüber Staatskirchentum und staatlicher Bürokratie den kirchlichen Freiheitsraum zu wahren bzw. zu erkämpfen, aber auch gegenüber römischem Zentralismus eine grundsätzliche, doch kirchlich gebundene Freiheit der Meinungsäußerung und der theologischen Forschung zu behaupten. In Entsprechung zum politischen Liberalismus, der nach E. Vögelin wesentlich durch seine Kampfsituation mit anderen Geistesströmungen des Jh. bestimmt wird, gewinnt der liberale Katholizismus deutlichere Konturen, wenn man ihn seinem schärfsten Konkurrenten, dem -»Ultramontanismus gegenüberstellt. 2. Geographie
des liberalen
Katholizismus
2.1. Frankreich. Als Ursprungsland des liberalen Katholizismus gilt Frankreich. Wegbereiter war der dänische Konvertit Ferdinand d'Eckstein (1790-1861), der 1826 die Zeitschrift Le Catholique gründete. Der vielseitig interessierte d'Eckstein, langjähriger Frankreichkorrespondent der Augsburger Allgemeinen, von Schlegel und -»Corres beeinflußt, versuchte eine religionsgeschichtliche Auseinandersetzung mit den Weltreligionen und stand zugleich den politischen Freiheiten aufgeschlossen gegenüber. In gleichem Sinne betätigte sich der von den Studentenseelsorgern Gerbet und Salinis 1824 gegründete Mémorial catholique, der nicht zuletzt wegen seiner Opposition gegen die Kirchenpolitik der Restauration auch in liberalen Kreisen Beachtung fand. Im Mitarbeiterkreis des 1829 von jungen Adeligen gegründeten Correspondant finden liberalkatholische Auffassungen zum ersten Mal ihren programmatischen Ausdruck: im Eintreten für Religionsfreiheit für Protestanten, für das Recht zu Zusammenschlüssen von Ordensleuten ohne staatliche Kontrolle, für die Freiheit des Unterrichts gegenüber dem Staatsmonopol und für eine stärkere Distanz gegenüber dem Staat, ohne Trennungsforderungen. In diesem Zusammenhang taucht der Name „liberale Katholiken" zum ersten Mal auf; es ist die Bezeichnung von Journalisten des liberalen Globe für ihre Kollegen vom
Correspondant.
Liberaler Katholizismus
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Seinen eigentlichen Höhepunkt als geistige Bewegung erlebte der liberale Katholizismus 1829/30 als -»Lamennais die Tageszeitung L'Avenir (16. Okt. 1830) unter dem Motto „Gott und die Freiheit" gründete und gesellschaftspolitische Forderungen aufstellte, die in ihrer radikalen Konsequenz die Liberalen beunruhigten und den royalistischen Klerus erschreckten: Anerkennung der aus der Revolution hervorgegangenen Freiheiten, Loslösung vom Ancien Régime, Hinwendung zur Demokratie, Sympathie für die republikanische Staatsform, Eintreten für das allgemeine Wahlrecht. Die Zeitung ergriff Partei für die freiheitlichen Bewegungen der Katholiken Irlands, Polens, Deutschlands und Belgiens im Revolutionsjahr 1830. Der Gedanke der Trennung von -»Kirche und Staat wird mit unterschiedlicher Konsequenz gefordert; entschiedener der Verzicht auf -•Konkordate und die Forderung nach Presse- und Zensurfreiheit. Die Ideen des Avenir fanden im jüngeren Klerus und in der europäischen Freiheitsbewegung großes Echo. Als Gregor X V I . auf den Druck Metternichs und des französischen Episkopats in der Enzyklika Mirari Vos (1832; DS 2 7 3 0 - 2 7 3 2 ) die Postulate des Avenir verurteilte und die aufständischen Katholiken Polens zum Gehorsam gegenüber dem rechtmäßigen Herrscher, dem Zaren, aufrief, bedeutete dies zwar nicht das Ende des liberalen Katholizismus, aber doch seine Marginalisierung im gesellschaftlich-kirchlichcn Leben. Während Lamennais den Weg in den religiösen Sozialismus beschritt, widmete sich sein Mitarbeiter Jean Baptiste Lacordaire (1802-1861) dem Wiederaufbau des Dominikanerordens, betrieb der junge Graf Charles de Montalembert (1810-1870) im Sinne des liberalen Katholizismus eine großangelegte Kampagne für die Schulfreiheit. Montalembert ist trotz einiger widersprüchlicher Stellungnahmen die Symbolfigur des liberalen Katholizismus geblieben, der 1863 auf dem Katholikentag in Mecheln die „freie Kirche im freien Staat" forderte, deswegen indirekt die Veröffentlichung des Syllabus -•Pius I X . (DS 2901—2980) veranlaßte und sich in seinen letzten Lebensjahren unverblümt gegen die zunehmende Servilität gegenüber Rom wandte. In der Revolution von 1848 trat der liberale Katholizismus erneut stärker in die Öffentlichkeit und bezog auch die soziale Frage in sein Programm ein. Der Literaturprofessor Frédéric Ozanam (1813-1853) trat für eine stärkere Hinwendung der Kirche zum Volke ein, während Abbé Maret (1805-1884) in der Zeitschrift Ère Nouvelle (1848) die sozialen Forderungen der Arbeiterschaft und eine demokratische Gesellschaftsorientierung unterstützte. Doch überlebte nur diese Richtung des liberalen Katholizismus knapp das Revolutionsjahr. Der liberale Katholizismus zog sich in der Folge auf elitäre, vornehmlich aristokratische Kreise zurück. Unter den Laien wurde er außer Montalembert repräsentiert von Alfred de Falloux ( 1 8 1 1 - 1 8 8 5 ) , Auguste Cochin ( 1 8 2 3 - 1 8 7 2 ) und Albert de Broglie ( 1 8 2 1 - 1 9 0 1 ) . Im Episkopat war sein bedeutendster Vertreter Felix Dupanloup ( 1 8 0 2 - 1 8 7 8 ) , seit 1849 Bischof von Orléans, der auf dem 1. Vatikanischen Konzil (-»Vatikanum I) als Vertreter der antiinfallibilistischen Minderheit hervortrat.
2.2. Belgien. Eine Sonderform nahm der liberale Katholizismus in -»Belgien ein, wo die alliance monstrueuse (Nuntius Cappaccini) der liberalen Katholiken mit den Liberalen 1830 die belgische Staatsgründung ermöglichte. Vorbereitet war diese Allianz durch die pragmatische Einstellung belgischer Unionisten in Klerus, Bürgertum und Adel, die unabhängig von Lamennais und chronologisch früher, die Loslösung von Holland erstrebten. Für die Katholiken, die sich zu dieser Politik bekannten, war der zentrale Punkt ihrer kirchenpolitischen Vorstellungen nicht der Vorbehalt besonderer Privilegien für die Kirche, sondern die Annahme der belgischen Verfassung mit ihrem Prinzip der Trennung - besser Scheidung - von Kirche und Staat. Das realistische Kalkül, daß die Kirche wegen ihrer gesellschaftlichen Position nichts zu verlieren habe, wenn sie die Selbständigkeit beider Bereiche akzeptiere, hat dem höheren Klerus diese Entscheidung leichter gemacht. In der Praxis entwickelte sich die „Trennung" auf eine versöhnliche Partnerschaft zwischen Kirche und Staat hin. Neu war, daß katholische Laien, die politische Verantwortung übernahmen, sich auf die Verfassung als Grund ihres politischen Handelns
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Liberaler Katholizismus
stellten. Der R u f „die Freiheit wie in Belgien" wurde zur Parole zahlreicher Katholiken besonders in den Rheinlanden, die Befreiung von staatskirchlicher Bevormundung erstrebten. N a c h 1 8 4 7 brach die Z u s a m m e n a r b e i t mit den Liberalen infolge von Auseinandersetzungen in der Schulfrage zusammen. 2.3. Holland. Auch unter holländischen Katholiken, die sich darüber beschwerten, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden, und am Konkordat von 1827 ein zu großes Entgegenkommen gegenüber dem Staat kritisierten, konnte der liberale Katholizismus Fuß fassen. Der Publizist J . G. Le Sage ten Broeck (1775-1847) nahm Gedanken von Lamennais vorweg, während verschiedene Geistliche, darunter der spätere Bischof von Lüttich, C. van Bommel, unter den Einfluß der Ideen von Lamennais gerieten. Die Begeisterung der Sympathisanten war von kurzer Dauer; die Verurteilung des Avenir durch Gregor XVI. schüchterte ein und bewog zu einer Abkehr vom liberalen Mennaisianismus. Nur in der Gegend nördlich des Moerdijk gelang es F. J . van Free, dem späteren Bischof von Haarlem, eine Verbindung mit den Liberalen einzugehen und 1848 zu deren Wahlsieg beizutragen. Diese politische Partnerschaft fand 1866 ihr Ende. Als Gründe dafür können auf liberaler Seite geltend gemacht werden: die Entwicklung auf antiklerikale Positionen hin, eine wachsende Abneigung gegenüber dem Papsttum Pius' IX. und offene Sympathie für die antipäpstliche Politik Piemonts. Auf katholischer Seite waren dafür maßgebend: der taktische, theoretisch zu wenig fundierte Charakter der Allianz mit den Liberalen, der wachsende Einfluß des -»Ultramontanismus, wie ihn Louis Veuillot vertrat, schließlich die Hinwendung protestantischer Theologen zu einer liberalen Theologie, die die Katholiken verunsicherte. 2.4. Irland und Großbritannien. Auch in anderen Ländern, in denen Katholiken eine Minderheit bildeten, trat der liberale Katholizismus in Erscheinung. Zunächst in der von Daniel O'Connell (1775-1847) geführten irischen Freiheitsbewegung, die auf verfassungsmäßigem Wege die Wählbarkeit der Katholiken ins Parlament und den Widerruf der politischen Union mit England erreichen wollte, ohne daß der Kirche irgendwelche Konzessionen gemacht wurden. Das irische Modell, das seine ersten Teilziele 1829 erreichte, wurde propagandistisch für die Bestrebungen der französischen und deutschen Katholiken ausgenützt. Seine Befürworter waren einzelne Bischöfe und Laien, die unzutreffend als Gallikaner (-»Gallikanismus) bezeichnet werden. Ihnen ging es im Gegensatz zur irischen Staatskirche, aber auch zur römischen Kirchenpolitik, darum, sich auf die lebendigen Kräfte der Gesellschaft statt auf staatlich konzessionierte Privilegien zu stützen. In England selber besaß die katholische Kirche, deren Gläubige sich zusammensetzten aus old catholics, d. h. jenen Katholiken, die über die J a h r h u n d e r t e der Verfolgung hinaus sich halten konnten, irischen Einwanderern und Konvertiten der O x f o r d b e w e g u n g (s. T R E 2, 7 2 7 , 4 5 f f ) , den Status einer Freikirche. Die Versuchung, Privilegien für sie zu fordern, konnte deshalb nicht an sie herantreten. P r o t o t y p des liberalen Katholiken ist J . E . D. L o r d A c t o n ( 1 8 3 4 - 1 9 0 2 ) , der mit dem konvertierten anglikanischen Geistlichen Richard Simpson ( 1 8 2 0 - 1 8 7 6 ) den Versuch unternahm, in der Zeitschrift The Rambler, m o d e r a t e r als vor ihm Lamennais, einen liberalen Katholizismus zu vertreten, der sowohl eine europäische als auch eine kirchliche Öffnung vertrat. Das E x p e r i m e n t scheiterte a m Insularismus des englischen Publikums und a m Unverständnis der Mehrheit katholischer Bischöfe, die, mit pastoralen Problemen überhäuft,die intellektuellen Ansätze nicht verstanden. A c t o n , der als Parlamentarier und Freund von Premierminister Gladstone politisch zur Richtung der Whigs gehörte, hat die Spannung zwischen Liberalismus und Katholizismus als persönliches Lebensschicksal empfunden und durchgehalten. Als Beobachter des 1. Vatikanischen Konzils hat er die Kontakte zwischen den antiinfallibilistisch gesinnten Bischöfen maßgeblich gepflegt. Sein L a n d s m a n n , der Konvertit J . H . - » N e w m a n , w a r z w a r politisch den Tories verbunden, bekannte sich jedoch zum liberalen Katholizismus von L a c o r d a i r e und M o n t a l e m b e r t . Als T h e o l o g e hat er, den Loisy als offensten Geist des römischen Katholizismus seit - » O r i g e n e s bezeichnete, o b w o h l scharfer Gegner des religiösen Liberalismus, es verstanden, die katholische Theologie der Neuzeit auf die Probleme der Zeit hin offen zu halten, auch wenn seine Einsichten sich erst im 2 0 . J h . , zunächst außerhalb Englands, entfalten konnten. 2 . 5 . Italien. Die Wurzeln des liberalen Katholizismus in Italien reichen bis zum „Illum i n i s m o " des 18. J h . und sind teilweise mit kirchlichen Reformbewegungen verknüpft.
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Sie gewinnen jedoch im 19. Jh. eine neue Qualität. Hier sind die Dichter Alessandro Manzoni (1785-1873) und Niccolö Tommaseo (1802-1874) sowie die Gesellschaftstheoretiker und Philosophen Raffaele Lambruschini (1788-1873) und Antonio Rosmini (1797-1855) zu nennen, die für ein neues Weltverständnis des Katholizismus eintreten. Bei den Italienern steht die nationale Frage im Vordergrund, d. h. wie nationales Einheitsstreben und kirchliche Tradition miteinander in Einklang gebracht werden können. Der liberale Katholizismus Italiens ist konkret auf die Aussöhnung zwischen dem Papsttum und dem Königreich Savoyen-Piemont ausgerichtet. Gleichzeitig ging es darum, absolutistische Regierungen zu bewegen, eine liberale Verfassung anzunehmen. In diesem Sinne betätigten sich der piemontesische Weltpriester und Philosoph Vincenzo Gioberti ( 1 8 0 1 - 1 8 5 2 ) , 1848/49 zeitweilig Ministerpräsident und Gesandter, sowie der General der Theatiner, G. Ventura di Raulico ( 1 7 9 2 - 1 8 6 1 ) . Rosmini, der bedeutendste Vertreter des italienischen liberalen Katholizismus hat darüber hinaus ein kirchliches Reformprogramm entwickelt, das stärker als das Programm des Avenir am Vorbild der Urkirche orientiert war. Seine Fünf Wunden der Kirche1832 unter dem Einfluß von Lamennais niedergeschrieben, erst 1848 publiziert, aber bereits im folgenden Jahr indiziert - halten als Hauptmißstände fest: 1. die Kluft zwischen Klerus und Laien, 2. die unzureichende Ausbildung des Klerus und die Verweltlichung des Episkopats, 3. die Beziehungslosigkeit der Bischöfe untereinander, 4. die Ernennung der Bischöfe durch den Staat im Gegensatz zur frühkirchlichen Bischofswahl und 5. die Unfreiheit des kirchlichen Besitzes.
Die Verurteilung Rosminis, einer der lautersten Gestalten des italienischen Katholizismus, und die nach der Rückkehr Pius' IX. aus Gaeta 1850 einsetzende Reaktion schränkten die Wirkmöglichkeit des liberalen Katholizismus in Italien ein, ohne ihn auszulöschen. Einzelne seiner Vertreter gab es bis in die Ränge der Kurie; auch im norditalicnischcn Episkopat war der liberale Katholizismus noch zur Zeit des 1. Vatikanums vertreten. Doch ist hier die Scheidung zwischen Spätjosefinisten, Regalisten, Spätjansenisten und liberalen Katholiken nicht leicht vorzunehmen. 2.6. Deutschland. Probleme stellt die Einordnung des liberalen Katholizismus in Deutschland, auch wenn das französische Modell nicht als alleingültigcr Maßstab zur Beurteilung des liberalen Katholizismus angenommen wird. Gewiß gab es auch hier eine Bewegung, die auf die Allianz von „Kirche und Volk" setzte, Presse- und Vereinsfreiheit forderte und nach 1848 die Organisationsformen des deutschen Katholizismus bestimmte. Staatskritisch-demokratischer Charakter ist ihr nicht abzusprechen. Doch haften ihr bereits früh antiliberale Züge an. Auch ist zu fragen, wieweit der deutsche Katholizismus die gesellschaftspolitischen Implikationen der -»Französischen Revolution akzeptierte. Die Ideen des Avenir-Kreises stießen zwar zunächst auf begeistertes Interesse, aber als Montalembert 1832 Deutschland bereiste, stellte er fest, daß zwei Ideen den Deutschen unannehmbar erschienen: die Trennung von Kirche und Staat und die Partnerschaft von Katholiken und Liberalen. Der Münchener Görreskreis bezweifelte, daß die Trennung von Kirche und Staat eine unausweichliche Entwicklungslinie der modernen Gesellschaft bilde. -»Görres fand den Trennungsgedanken in Theorie und Praxis „absurd, verabscheuungswürdig und pharisäisch" und plädierte für eine hypostatische Union zwischen Kirche und Staat. Der junge -»Döllinger denunzierte die Partnerschaft zwischen Katholiken und Liberalen als „Lug und Trug" wegen der antikirchlichen Polemik der Liberalen. Wenn auch in der Frühphase des Liberalismus vereinzelt Katholiken sich dessen politischem Programm anschlössen (z.B. Carl v. Rotteck in Baden), so entfremdete sich die Mehrheit der zum Liberalismus tendierenden Katholiken der Kirche. Von liberalkatholischem französischem Gedankengut ließen die Rheinländer August und Peter Reichensberger sich zeitweilig beeinflussen. Doch geriet der deutsche Katholizismus immer schärfer in eine antiliberale Frontstellung, die bis ins 20. Jh. nachwirkte. Die Liberalismuskritik war der stärkste Beweggrund z.B. für Bischof -•Ketteier, sich der sozialen Frage zuzuwenden. Für diesen Antiliberalismus lassen sich eine Reihe von Gründen anführen: der Min-
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derheitscharakter der deutschen Katholiken gegenüber den meist protestantischen Staaten, der vom Protestantismus getragene politische Liberalismus, die doktrinär-kirchenskeptische Eigenart des deutschen Liberalismus, der verhältnismäßig schwache Anteil der deutschen Katholiken am Industriekapitalismus, schließlich auch die romantische Staatsauffassung der Katholiken. Hinzu kam, daß liberalkatholische Postulate wie auch der Liberalismus selber mehrfach von der römischen Kirchenleitung verurteilt wurden (Nipperdey). Im Bereich kirchlicher Reformen und in der Forderung nach freier theologischer Meinungsäußerung konnte sich der liberale Katholizismus in Deutschland klarer artikulieren als im politischen Bereich. Während I.H. -»Wessenberg (1774-1860) in scharfer Polemik gegen Lamennais seinen kirchlichen Reformgedanken auf den Staat abstützte, gelang es dem Freiburger Pastoraltheologen Johann Baptist Hirscher (1788-1865), eine eigene Reformvision zu entwickeln, die er trotz mehrfacher Indizierung kirchlich ungebrochen durchhielt. I. v. Döllinger, der gern als Vertreter eines liberalen Katholizismus angesehen wird, unterhielt wohl gute Beziehungen zu den internationalen Zirkeln des liberalen Katholizismus, hat sich jedoch erst in seiner Spätphase von seinem polemischen Ultramontanismus gelöst und für die Theologie einen größeren Freiheitsraum gefordert (1863). Es fällt auf, daß es in Deutschland z. Z. des 1. Vatikanums kaum Laien gab, die einen eigenständigen liberalen Katholizismus vertraten. Die meisten Katholiken, die dem politischen Liberalismus nahestanden, schlössen sich nach 1870 dem -•Altkatholizismus an. Der einzige Repräsentant eines so gearteten liberalen Katholizismus im deutschen Sprachraum ist der konservative Schweizer Politiker und Rechtshistoriker Philipp Anton v. Segesser (1817-1888), der in Anlehnung an Montalembert und Dupanloup, aber auch an den späten Döllinger, das Konzept einer Kirchenreform in ökumenischer Perspektive entwarf, das über den zeitbedingten Rahmen bis ins 20. Jh. Gültigkeit behielt. 2.7. Andere Länder. Auch in anderen Ländern gab es Vertreter eines liberalen Katholizismus, deren Eigenart am ehesten durch ihre Konzeption einer Kirchenreform bestimmt ist. Hier wären zu nennen: in Prag der Mathematiker und Philosoph Bernhard Bolzano (1781-1848); in Wien der Theologe Anton Günther (1783-1863) und der Unterrichtsminister Leo Graf Thun (1811-1888). Die Forschung hat auch für Spanien liberalkatholische Strömungen nachgewiesen, die im Bischof von Murcia, Antonio Posada (1768-1851), einen Vertreter im Episkopat und im Seminar von Murcia einen geistigen Mittelpunkt im Klerus hatten. Eine eigenständige Linie vertrat auch der amerikanische Konvertit und Herausgeber der Quarterly Review, Orestes A. Brownson (1803-1876), der im Kontext der Trennung von Kirche und Staat nach einer pragmatischen Lösung der kulturellen Integration des amerikanischen Katholizismus suchte.
3. Bilanz Dieser Überblick weist deutlich auf die Schwächen und Stärken des liberalen Katholizismus hin. Als geistige Bewegung konnte er sich außer kurzen Höhepunkten 1830/31 und 1848 nur in elitären Kreisen vernehmlich machen und „überwintern". Im Gegensatz zum Ultramontanismus wurde er nie zu einer Volksbewegung und stieß bei der römischen Kirchenleitung fast durchgehend - außer zu Beginn des Pontifikates -»Pius' IX. - auf scharfe Ablehnung. Typisch für diese Einstellung ist ein Ausspruch Pius' IX. aus dem Jahr 1874: „Der katholische Liberalismus, das ist ein Fuß in der Wahrheit und ein Fuß im Irrtum, ein Fuß in der Kirche und ein Fuß im Geist des Jahrhunderts, ein Fuß mit mir und ein Fuß mit meinen Feinden" (Aubert 756). Aber sein Gedankengut, das im gewalttätigen Programm des Avettir der Zeit vorauseilte, hat als Ferment im modernen Katholizismus -christliche -»Demokratie, -»Modernismus - nachgewirkt und in der gesellschaftlichen Entwicklung und im innerkirchlichen Leben im 2. Vatikanischen Konzil in zentralen Aspekten (Religionsfreiheit, Entflechtung von Kirche und Staat, Ökumene, Aktivierung des synodalen Lebens, Verzicht auf kirchliche Privilegierung) eine späte Rechtfertigung erfahren.
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I. Historisch 1. Liberalismus als politisches Leitbild 2. Gesellschaftliche und ökonomische Leitbilder 3. Organisationen und Milieus (Quellen/Literatur S. 77) 1. Liberalismus
als politisches
Leitbild
Im Zentrum des Liberalismus steht das Individuum, dessen Entscheidungsfreiheit gegen staatliche ebenso wie gegen gesellschaftliche Zwänge gesichert werden soll. M a n kann deshalb alle Versuche von Menschen, ihre und anderer persönliche Freiheit zu wahren, einer liberalen Traditionslinie zuordnen, die dann so alt wäre, wie die menschliche Erinnerung zurückreicht. Erst im Umkreis der englischen Revolutionen des 17. J h . entstand jedoch eine liberale Staatslehre, die in J o h n Locke ihren wirkungsmächtigsten Denker fand. Die europäische -»Aufklärung und deren Versuche, den Absolutismus zu begrenzen, und schließlich die Anstöße, die von der Amerikanischen (-»Vereinigte Staaten von Nordamerika) und der -»Französischen Revolution ausgingen (-»Menschenrechte, Volkssouveränität, Verfassung), markieren weitere wichtige Entwicklungsetappen liberalen Denkens.
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Als politischer Begriff setzte sich, ausgehend von Spanien, „Liberalismus" bzw. „liberal" aber erst in der ersten Hälfte des 19. Jh. durch. Das 19. Jh. wurde das Jahrhundert des Liberalismus, denn keine andere politische Ideologie gestaltete -»Staat und —»Gesellschaft ähnlich tiefgreifend. In der Idee des Staatsbürgers entwarf der Liberalismus ein egalitäres Zukunftsprogramm, das sich gegen alles richtete, was die individuelle Freiheit beschränkte: gegen ständische und konfessionelle Vorrechte, gegen Absolutismus und Adelsherrschaft. Politische Kernforderung der Liberalen war der Verfassungsstaat, der Rechtssicherheit und staatsbürgerliche Teilhabe am Staat verbürgen sollte. Der Staat sollte verfassungsrechtlich gezähmt und für die Mitwirkung der Gesellschaft an dessen Entscheidungsprozessen geöffnet, nicht jedoch entmachtet werden. Die europäischen Liberalen verlangten nicht nach dem schwachen „Nachtwächterstaat", sondern nach Freiheit zum und im Staat (vgl. TRE 12, 753,46ff). Die konkrete Ausgestaltung des politischen Programms variierte im europäischen Liberalismus beträchtlich von Staat zu Staat und im zeitlichen Verlauf. Diese Flexibilität machte die Stärke der liberalen Bewegung aus, denn sie zeigte sich fähig, ihr zentrales politisches Leitbild den unterschiedlichen Handlungsbedingungen anzupassen. Alle Liberalen zielten auf die parlamentarische Regierungsweise, doch sie nahmen auch Abstriche hin, wenn die politischen Verhältnisse es nahelegten. Von den großen europäischen Staaten war im autokratischen Rußland und in Deutschland der Wille der Liberalen zum Parlamentarismus als Regierungssystem am schwächsten ausgeprägt. Nicht festgelegt waren die Liberalen hinsichtlich der Staatsform. Mit der Republik konnten sie sich abfinden, doch ihre Sympathie galt der parlamentarisch gezügelten Monarchie (-»Konstitutionalismus), die sie als Reserveverfassung für Notzeiten bewahren wollten. Darin unterschieden sie sich markant von den Demokraten, deren Ideal die Republik war, die für die meisten Liberalen immer mit dem Odium der sozialen Revolution und der Vernichtung der „bürgerlichen Gesellschaft" behaftet blieb.
In der Praxis ließ sich das liberale Leitbild der egalitären Staatsbürgergesellschaft mit Ungleichheit vereinbaren. Nur die Gleichheit vor dem Gesetz wollten die Liberalen des 19. Jh. sofort verwirklichen, nicht die politische Gleichheit. Als wichtigstes Mittel, um die politischen Mitwirkungsrechte in Staat und Gemeinde abzustufen, diente das Wahlrecht. Die europäischen Liberalen akzeptierten zwar im Laufe des 19. und frühen 20. Jh. das demokratische Wahlrecht, doch sie förderten dessen Durchsetzung nicht, sondern nahmen es hin, als es nicht mehr vermieden werden konnte. Ihr Staatsbürgerideal ging von dem gebildeten, wirtschaftlich selbständigen einzelnen aus. Für diejenigen, die diesen Status noch nicht erreicht hatten, bot der Liberalismus ein Erziehungsprogramm, für dessen künftige Erfüllung der einzelne selber verantwortlich sein sollte. Dieses Programm richtete sich zwar gegen die privilegiengeschützte alteuropäische Gesellschaft, doch es war nicht auf die „Massendemokratie" ausgerichtet. Als sich diese seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. durchsetzte, mußte sich der Liberalismus fundamental wandeln, um die Konkurrenz der Parteien um den Wähler bestehen zu können. Bis zum Ersten Weltkrieg gelang dies den europäischen Liberalen im großen und ganzen. Die Emanzipation zum vollberechtigten Staatsbürger verlief nicht nur schichtgestuft, sondern auch geschlechtsspezifisch. Nur wenige Liberale des 19. Jh. konnten sich den Staatsbürger als eine -»Frau vorstellen. Erst im 20. Jh. fanden sie sich damit ab, Frauen als politisch gleichberechtigt anzuerkennen. Bis dahin nutzten sie die Vorstellung von der naturnotwendigen ewigen Ungleichheit der Geschlechter, um den Folgen ihres eigenen egalitären Rechtsmodells zu entgehen. Für die Liberalen erwies sich die Weigerung, die Frau politisch und rechtlich dem Mann gleichzustellen, deshalb als besonders problematisch, weil sie die Familie als die Grundlage des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft betrachteten. Sie wollten also die geforderte egalitäre, auf Vertragsfreiheit beruhende Staatsbürgergesellschaft auf einem Fundament aufbauen, das nicht nach den gleichen Prinzipien konstruiert war. Mit dem Ersten Weltkrieg endete die Blütezeit des Liberalismus, obwohl dessen Entwicklungschancen günstiger als je zuvor zu sein schienen. Schloß doch der Krieg mit einem Sieg der „westlichen Demokratien" ab, die als Hauptrepräsentanten des Liberalis-
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mus galten, während die Monarchien Mitteleuropas und Rußlands den Krieg nicht überlebten. Nach dem Fall dieser antiliberalen Bollwerke begann aber kein Siegeszug des politischen Liberalismus. Die Signatur der neuen Epoche hieß vielmehr Rivalität und schließlich Kampf zwischen den liberal-demokratischen sowie den neuen bolschewistischen und faschistischen Ideologien, Bewegungen und Staaten. Die nationalsozialistische Diktatur, in deren Sprache „liberalistisch" zum lebensgefährlichen Denunziationswort pervertierte, drohte schließlich die Zentralidee des Liberalismus, die Würde des Individuums, auf immer auszulöschen (-»Nationalsozialismus). Der Verfall der liberalen Parteien, der auch in Großbritannien, dem Mutterland des Liberalismus, nach dem Ersten Weltkrieg unübersehbar geworden war, setzte sich nach 1945 zwar fort. Gleichwohl werden seitdem in den Staaten der westlichen Welt die Verfassungsordnungen und die Verhaltensnormen der Menschen stärker, als es früher je der Fall gewesen ist, von liberalen Grundwerten geprägt. Deren Geltung ist nicht mehr mit der Stärke liberaler Parteien gekoppelt. Die parteibildende Kraft des Liberalismus scheint vielmehr in dem Maße nachzulassen, in dem seine politischen Ideen ubiquitär und selbst von seinen parteipolitischen Kontrahenten anerkannt werden. 2. Gesellschaftliche und ökonomische
Leitbilder
Der Liberalismus entstand im frühen 19. Jh. als eine politische Bewegung, welche die „bürgerliche Gesellschaft" verwirklichen wollte (-»Bürgertum II). „Bürgerlich" bedeutete jedoch nicht „bourgeois". Das gilt für die gesellschaftlichen und ökonomischen Ordnungsvorstellungen des Liberalismus ebenso wie für sein Staatsmodell. Mit der Idee des Staatsbürgers entwarf der europäische Liberalismus die Zukunftsvision einer klassenlosen Gesellschaft ohne allzu große Besitzunterschiede, die der angestrebten mittelständischen Bürgergesellschaft widersprochen hätten. Dieses sozialharmonische Leitbild war aus stadtbürgerlichen Verhältnissen geschöpft. Es richtete sich gegen ständisch-feudale Ordnungen, setzte diesen jedoch kein industrielles Weltbild entgegen (-»Industrialisierung). Der europäische Liberalismus umfaßte eine Pluralität von Sozialvorstellungen, die je nach dem gesellschaftlichen Entwicklungsstand von agrarkapitalistischen Zukunftsmodellen - so in Ungarn, Spanien oder Italien - bis zu industriekapitalistischen (Großbritannien, Belgien, z. T. auch in Frankreich und Deutschland) reichen konnten. Die Liberalen forderten sozialen und ökonomischen „Fortschritt", nicht jedoch eine industriekapitalistische Klassengesellschaft (vgl. T R E 3,644,28ff). Erst nach der Mitte des 19. Jh. verblaßten die vor-industriellen Leitideen des Liberalismus zugunsten einer nachdrücklichen Bejahung des Industriekapitalismus. Dieser Wandel, der durch die kontinentaleuropäische Revolutionswelle von 1848 vorangetrieben wurde, bezeichnet den Ubergang vom Frühliberalismus zum Liberalismus im Zeitalter der Hochindustrialisierung. Nun erst, als die dynamische Industrialisierung den Pauperismus der ersten Jahrhunderthälfte beendete und sozialpolitische Steuerungen entbehrlich zu sein schienen, verschmolzen politischer Liberalismus und Laissez-faire-ökonomie. Der Hauptstrom des europäischen Liberalismus wurde nun bourgeoiser, als er es je gewesen war, ohne sich jedoch selbst in dieser manchester-liberalen Phase zum bourgeoisen Wirtschaftsliberalismus zu verengen (vgl. T R E 7,349,5ff). Seit dem letzten Drittel des 19. Jh. wurde dieser Trend zur sozialen Entleerung liberaler Ordnungsvorstellungen aufgefangen durch eine Renaissance sozialliberaler Leitbilder. Der Neue Liberalismus, eine gesamteuropäische Erscheinung, zeigte wie der Frühliberalismus eine ausgeprägte soziale Verantwortung, doch anders als dieser ging er nun von den Bedingungen einer Industriegesellschaft aus, in der die Freiheit des einzelnen durch eine Politik der sozialen Daseinsvorsorge ermöglicht werden sollte. Liberale hatten zu dem politischen Klima beigetragen, aus dem seit den 1880er Jahren zunächst in Deutschland, dann in rascher Folge in anderen Staaten Sozialversicherungsgesetze hervorgingen, die noch nicht den Sozialstaat moderner Prägung schufen, die Entwicklung dahin jedoch einleiteten. Nicht weniger wichtig war der kommunale Liberalismus, der
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maßgeblich daran mitwirkte, d a ß die mächtig expandierenden Städte eine Infrastruktur aufbauten, die urbanes Leben erst ermöglichte. Diese kommunale Daseinsvorsorge reichte von der verbesserten Hygiene über die Versorgung mit Gas und Elektrizität bis zu den neuen Parks, Museen, Theatern oder Volksbildungseinrichtungen. Der (noch wenig erforschte) Kommunalliberalismus und seine Leistungen lassen erkennen, d a ß auch und gerade Liberale sich daran beteiligten, die Lebenschancen des einzelnen kollektiv zu schützen, als individuelle Vorsorge angesichts der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen nicht mehr ausreichte bzw. für wachsende Bevölkerungsteile nicht mehr möglich war.
Im Zentrum liberaler Normen und Politik stand jedoch weiterhin stets der einzelne, nicht das Kollektiv. Die Uberzeugung, dieses müsse hinter das Individuum zurücktreten, grenzt auch den entschiedenen Sozialliberalismus des späten 19. und des 20. Jh. deutlich ab von anderen Fortschrittsbewegungen, wie dem Sozialismus. Die seit dem frühen 20. Jh. schwindende Zahl liberaler Wähler lehrt, daß die von den liberalen Parteien angebotene Variante, zwischen kollektiver Daseinssicherung und individueller Entscheidungsfreiheit zu vermitteln, nicht mehr die Uberzeugungskraft besitzt, welche die liberalen Leitbilder des 19. Jh. ausgezeichnet hatte.
3. Organisationen und Milieus Dauerhaft organisierte moderne -»Parteien entstanden seit der Mitte des 19. Jh. Schon in den Jahrzehnten zuvor war der Liberalismus jedoch nicht nur eine politische Philosophie gewesen. Liberale versuchten mit ihren Ideen die Öffentlichkeit zu durchdringen und die staatliche Politik zu beeinflussen. Sie schrieben in der Presse, trafen sich zu politischen Gesprächen und wirkten in scheinbar unpolitischen Organisationen wie wissenschaftlichen Verbänden, Turn- und Gesangvereinen, Lesegesellschaften oder studentischen Zusammenschlüssen. Wo bereits frühparlamentarische Institutionen bestanden, wie in Großbritannien, Frankreich, Belgien oder auch in etlichen Staaten des Deutschen Bundes, besaß der Liberalismus die günstigsten Wirkungsmöglichkeiten. Geheimorganisationen mit revolutionären Absichten zählten dagegen nicht zum liberalen Umfeld, denn liberale Politik zielte nicht auf -»Revolution, sondern auf institutionalisierte, verfassungsrechtlich geregelte Mitwirkung an der staatlichen Politik. Revolutionen suchten sie zu vermeiden oder möglichst rasch in parlamentarisch legitimierte Reformen umzusetzen und damit zu verrechtlichen. Seit der Bedeutungssteigerung der Parlamente und der Ausweitung des Männer-Wahlrechts — die Revolutionen von 1848 setzten darin trotz ihres Scheiterns Maßstäbe, die weiterwirkten - konnten politische Bewegungen, die staatliche Politik mitbestimmen wollten, auf Parteiorganisationen nicht mehr verzichten. Auch die Liberalen formierten sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. in Parteien, wenngleich ihnen dies schwerer fiel als ihren Konkurrenten auf der Linken und Rechten. Das liberale Leitbild des selbstverantwortlichen Individuums (-»Individualismus/Individualität), das in freier Diskussion das „Gemeinwohl" ermittle, bildete stets eine gewisse Sperre gegen hierarchisch geordnete Entscheidungsprozeduren und gegen öffentliche Agitation im Prozeß der politischen Meinungsbildung. Die Parteiapparate besaßen bei den Liberalen in der Regel weniger Bedeutung als die Parlamentsfraktionen und die lokalen Honoratioren. Der Liberalismus des 19. Jh. verstand sich zwar als Repräsentant der „bürgerlichen Gesellschaft", doch wie für seine Leitbilder gilt auch für sein Sozialprofil: „bürgerlich" hieß nicht „bourgeois". Die soziale Herkunft der liberalen Wortführer wies vor allem in der Frühphase in den europäischen Staaten ein breites Spektrum auf. Auf das Bürgertum war es nirgendwo beschränkt. Selbst in Großbritannien, dem Industrialisierungspionier, waren 1859 bis 1874 nur ca. 21 % der liberalen Unterhausabgeordneten Unternehmer. In Italien und Spanien besaß der Liberalismus im Adel einen starken Rückhalt, und in Ungarn dominierte er völlig. In Frankreich, Deutschland und Belgien trat das Bürgertum in den liberalen Führungskreisen stärker hervor. Generell gilt: Die liberalen Meinungsführer waren keine Emporkömmlinge, sondern Männer mit hohem Ansehen und von geachteter Herkunft; sie standen in Distanz zur Tradition, brachen aber nicht mit ihr. Diese Zugehörigkeit zur „guten Gesellschaft" war eine wichtige Voraussetzung für die Durchsetzungskraft libera-
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ler Ideen selbst in jenen Staaten, die den Liberalen den Zugang zu staatlichen Ämtern verwehrten. Ein bourgeoiser Liberalismus hätte diese Leistung nicht vollbringen können. Das schichten- und klassenübergreifende Zukunftsmodell des Staatsbürgers erwies sich als stark genug, um dem Frühliberalismus auch die Zustimmung nicht-bürgerlicher Sozialkreise zu sichern. Seit der zweiten H ä l f t e des 19. Jh. verengte sich das soziale Einzugsfeld der liberalen Parteien. Sie wurden nun bürgerlicher, als sie es zuvor gewesen waren. Im europäischen Vergleich lassen sich zwei große Konfliktlinien erkennen, die d a s liberale Milieu zunehmend begrenzten. 1. Z u den schwersten Verlusten f ü r den Parteiliberalismus gehörte, d a ß sich die Arbeiter, deren Z a h l im Zuge der Industrialisierung stark z u n a h m , von ihm a b w a n d t e n . Besonders früh geschah das in Deutschland, w o die Sozialdemokratie bereits 1890 zur stärksten Reichstagsfraktion wurde. Z u diesem Z e i t p u n k t begann in Großbritannien erst die Entstehung einer eigenständigen Arbeiterpartei, die - im Gegensatz zu Deutschland - in den Wahlen aber mit den Liberalen zusammenarbeitete (Lib-Lab-Koalition). Auch die britischen Liberalen verloren jedoch die Arbeiter-Wähler, als nach dem Ersten Weltkrieg der Aufstieg der Labour Party schnell voranschritt. 2. Z u m Glaubenskern der Liberalen zählte stets die Weltlichkeit des Staates. M i t diesem Ziel konnte in der politischen Praxis religiöse Toleranz, aber auch Kampf gegen kirchliche Kompetenzen und Ansprüche verbunden sein. Konflikte zwischen Staat und Kirchen sowie in und zwischen den Konfessionen bestimmten deshalb in hohem M a ß e die Reichweite der liberalen Milieus. In Deutschland w u r d e spätestens seit der G r ü n d u n g des Nationalstaats (1871) und dem -»Kulturkampf die Konfessionsgrenze zur politischen Demarkationslinie f ü r den Liberalismus. Katholiken wählten in Deutschland keine liberale Partei, und um den bürgerlichen Protestantismus rivalisierten Liberale und Konservative. M i t dem Katholizismus schied f ü r die Liberalen von vornherein etwa ein Drittel der Bevölkerung als mögliche Wähler und Mitglieder aus. Als sich nach dem Ersten Weltkrieg der Protestantismus der neuen völkischen Rechten öffnete und in der Endphase der Weimarer Republik zur konfessionellen H a u p t s t ü t z e der NSDAP wurde, vernichtete diese Entwicklung die Uberlebenschancen der liberalen Parteien. Sie waren protestantische Parteien geblieben, aber immer weniger Protestanten wählten eine liberale Partei. In Großbritannien lagen die Verhältnisse völlig anders. Bis zum Ersten Weltkrieg band die irische Frage die katholischen Wähler an die Liberalen, die ihren stärksten Rückhalt in den nonkonformistischen Gemeinden besaßen. In den katholischen Staaten, wie Belgien, Italien und Spanien, verschärften sich im Laufe des 19. J h . zwar auch die Konflikte zwischen dem laizistischen Liberalismus und der Kirche, aber o h n e d a ß dadurch die Entwicklungschancen der liberalen Parteien ähnlich stark wie in Deutschland eingeengt worden wären. Quellen Der europ. Liberalismus im 19. Jh., 5 Bde., hg. v. Lothar Gall/Rainer Koch, Frankfurt a.M./ Berlin/Wien 1981. - Western Liberalism. A history of documents from Locke to Croce, ed. by E. K. Bramsted/K.J. Melhuish, London/New York 1978. Literatur Anthony Arblaster, The Rise and Decline of Western Liberalism, Oxford 1984. — Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1988 (Lit.). - Ders., Liberalismus u. Bürgertum in Europa: Bürgertum im 19. Jh. Deutschland im europ. Vergleich, hg. v. Jürgen Kocka, München, III 1988,360-394. - Liberalismus, hg. v. Lothar Call, Gütersloh 1976 (Lit.). - Liberalismus im 19. Jh.: Deutschland im europ. Vergleich, hg. v. Dieter Langewiesche, Göttingen 1988 (Lit.). - James J. Sheehan, German Liberalism in the Nineteenth Century, Chicago/London 1978; dt.: Der Deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jh. bis zum Ersten Weltkrieg, München 1983. Dieter Langewiesche
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Liberalismus II II. Ethisch
1. Begriffsbestimmung 2. Hauptmerkmale 3. Freiheitsbegriff 4. Gesellschafts- und Politikverständnis 5. Gesellschaft und Staat 6. Kritische Herausforderungen 7. Neue Aufgabenstellungen (Quellen/Literatur S. 83)
1.
Begriffsbestimmung
Liberalismus ist die Philosophie der bürgerlichen -»Gesellschaft. Der Liberalismus entwarf das Bild einer neuen Gesellschaft, deren grundlegende Prinzipien individuelle -•Freiheit und rechtliche Gleichheit sind und in der Herrschaftsausübung an die Wahrung individueller Grundrechte und durch repräsentative Institutionen gesetztes Recht gebunden ist. Getragen wurde diese Philosophie von den sozialen und ökonomischen Interessen der aufsteigenden bürgerlichen Schichten (-»Bürgertum) des Dritten Standes, der sich gegen Feudalismus und Absolutismus, gegen ständisch strukturierte gesellschaftliche Hierarchien und despotische Willkürherrschaft auflehnte. Doch weist das Konzept der civil society über den eigentlichen Enstehungskontext des 18. Jh. und die politische Hochzeit des Liberalismus im 19. Jh. hinaus auf die allgemeinen Ordnungsprinzipien liberaler -»Demokratie und offener Gesellschaft. Deshalb erscheint es gerechtfertigt, vom Liberalismus als der letztlich erfolgreichsten und mächtigsten politischen Tradition in (West-)Europa und der westlich geprägten Welt zu sprechen, auch wenn der Liberalismus als politische Bewegung und Partei mit dem Ende des Ersten Weltkrieges an Einfluß und Bedeutung an die konkurrierenden Parteien von Konservatismus und -»Sozialismus verloren hat und der Liberalismus in seinen Grundprinzipien bis heute politisch angefochten und intellektuell kritisiert wird. Der Liberalismus gehört zur überparteilichen, konstitutionellen Grundausrüstung westlicher Demokratien und hat in kapitalistischen Gesellschaften die ökonomischen und weltanschaulichen Verhaltensnormen der Menschen nachhaltig geprägt. 2.
Hauptmerkmale
Obwohl die Ideen- und Theoriengeschichte des Liberalismus verschiedene Phasen und nationale Unterschiede aufweist, muß doch der Liberalismus als eine einheitliche Tradition verstanden werden, die auf fünf Hauptmerkmalen beruht. 1. Die Annahme moralischer Autonomie des einzelnen begründet den Vorrang individueller Freiheit (-»Individualismus/Individualität). 2. Die Hauptaufgabe des Staates ist die Sicherung und Gewährleistung individueller Freiheits-, Grund- und Bürgerrechte. 3. Herrschaftsausübung ist (konstitutionell) limitiert, Repräsentativsystem und Gewaltenteilung sind die institutionellen Garantien individueller Freiheit (-»Konstitutionalismus). 4. Methodologischer Individualismus und politischer Gradualismus sind die Kriterien und Maßstäbe politischen Handelns, nicht -»Revolution oder Umsturz, sondern langsame und angepaßte Veränderung des status quo ist das Mittel, um individuelle Freiheitsräume zu vergrößern. 5. Freie wirtschaftliche Betätigung ist die Voraussetzung für ökonomischen Wohlstand, die Rationalität des Marktes sorgt nicht nur für ausreichende Produktion, sondern auch für effiziente Verteilung von Gütern. Wirtschaftliche Betätigungsfreiheit erzeugt eine (spontane) gesellschaftliche O r d n u n g und führt zu zwischengesellschaftlichen Interdependenzen, die eine friedliche, auf Handel und Wandel beruhende internationale Ordnung ermöglichen.
3. Freiheitsbegriff Nicht die Gemeinschaft oder der Staat, sondern der einzelne bildet den Kristallisationspunkt des Liberalismus. Individualismus und Freiheit erhalten einen Selbstzweckcharakter. Darin bricht der Liberalismus mit der klassischen, auf -»Aristoteles zurückgehenden Politiktradition (-»Politik/Politologie). In der Unterordnung unter einen höchsten Zweck, das als bonum commune oder Eudämonia (Glückseligkeit) definierte Gemeinwohl, hatte diese Tradition die eigentliche Bestimmung des einzelnen gesehen. Für den Liberalismus setzt das Individuum sich seine Zwecke selbst und macht zu ihrer Realisierung von der Vernunft Gebrauch. Auch findet die Freiheit des einzelnen weder Grund noch Bestimmung in der Teilnahme am öffentlichen Leben der res publica, son-
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dern allein in moralischer Autonomie und Vernunftfähigkeit des Individuums ist der G r u n d der Freiheit zu sehen. Von Benjamin Constant bis Isaiah Berlin ist deshalb die „negative" Freiheit als Ausdruck von individueller Unabhängigkeit u n d Selbstbestimm u n g zum Gegenpol der „positiven" Freiheit der Antike und des Mittelalters herausgestellt und gegen rousseauistische, hegelianische und marxistische Formen von Freiheitsverwirklichung behauptet worden. Freiheit ist hier zuallererst die „Abwesenheit von Z w a n g " (so in der klassischen Formulierung von J o h n Stuart Mill), wobei Z w a n g zunächst mit der Willkürherrschaft von Despoten oder absoluten Herrschern, mit Alexis de Tocqueville und J. St. Mill, im Zuge der Herausbildung einer demokratischen Massengesellschaft, d a n n auch mit einer egalitären, demokratischen oder über die öffentliche M e i n u n g vermittelten „Tyrannei der M e h r h e i t " identifiziert wird. Der Liberalismus unterscheidet sich von der klassischen Politiktradition auch darin, d a ß er die Ausübung von Freiheit nicht an den Status des politischen Aktivbürgers, des homo politicus, bindet, sondern Freiheitsausübung überwiegend individualistisch und nicht primär politisch begreift. Gegenstand der ausgeübten Freiheit kann einmal die Verfolgung des eigenen Interesses sein, wobei es unerheblich ist, o b dieses Interesse ökonomisch u n d / o d e r hedonistisch motiviert ist. Der englische ->Utilitarismus hielt jede interessengeleitete, das individuelle Glück mehrende H a n d l u n g f ü r gerechtfertigt. Hingegen sieht der in der humanistisch-idealistischen Tradition Deutschlands stehende Liberalismus (z. B. W. v. - » H u m b o l d t , ihn rezipierend auch J.St. Mill und die englischen N e w Liberáis) in der Freiheitsausübung stärker die Möglichkeit individueller Entfaltung und Selbstvervollkommnung. Schließlich hat der Freiheitsbegriff bei - • K a n t sowohl eine rationalistische als auch eine ethische Komponente. Freiheit wird emanzipativ, als die zur Mündigkeit führende Fähigkeit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, begriffen. Gleichzeitig bedeutet Freiheit aber auch die aus Pflichtgefühl erfolgte Unterwerfung unter den kategorischen Imperativ und damit unter das allgemeine Sittengesetz. 4. Gesellschafts-
und
Politikverständnis
Der Freiheitsbegriff stellt in seiner Betonung des Individualismus zugleich eines der theoretischen H a u p t p r o b l e m e des Liberalismus dar. Dabei geht es weniger um die vermeintliche „Trostlosigkeit" eines anthropologischen Atomismus, wie Kritiker immer wieder dem Liberalismus vorgehalten haben, sondern vielmehr um die Vereinbarkeit von Individualethik und Prinzipien des sozialen Zusammenlebens: Wie ist Gesellschaft und politische Herrschaft möglich und legitimierbar? Kann allein die W a h r u n g individueller Freiheit den Z u s a m m e n h a l t einer Gesellschaft sichern? Anders als f ü r die klassische Politiktradition stellen sich diese Problemfragen f ü r den Liberalismus in besonderem M a ß e . Denn der Liberalismus hält essentialistische Vorstellungen von Glück, Glückseligkeit oder andere materiale Gemeinwohlformen f ü r nicht (mehr) verallgemeinerbar. Die moderne Gesellschaft kennt kein vorgegebenes allgemeines Ethos, d e m nachzuleben den Sinn des einzelnen ausmacht und den sozialen Z u s a m m e n h a l t der Gesellschaft begründet. Dahinter steht auch bei Locke und —»Hobbes die aus den Religions- und Bürgerkriegserfahrungen Englands resultierende Einsicht, d a ß geschlossene moralische Leitbilder und religiöse Weltanschauungen nicht mehr tragen und die Fundamente der traditionalen Gesellschaft brüchig geworden sind. Z u r Legitimation und Begründung überindividueller Grundsätze hat die liberale Theorietradition im wesentlichen drei Lösungsansätze verfolgt: a) Die Vertragstheorie sieht die bürgerliche Gesellschaft als einen Kontrakt zwischen autonomen Individuen, die durch ihre explizite bzw. stillschweigende Zustimmung die Gesellschaft verfassen. Im Naturzustand sind die Individuen bereits im Besitz von Rechten, die aber nur unzureichend oder gar nicht geschützt sind. Gesellschafts- und/oder Herrschaftsvertrag schaffen den body politic und setzen die Regierung ein, deren vornehmstes und zum Teil ausschließliches Ziel (in der Version des Minimalstaates) es ist, die Freiheit nach innen und den Frieden nach außen zu sichern.
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b) Von Empirikern wie D. -»Hume und den englischen Utilitaristen werden der Sozialvertragsgedanke als Fiktion und auf Naturrecht beruhende Menschenrechte als nonsense abgelehnt. Kriterium für die Legitimität einer politischen Ordnung ist, daß sie das größte Glück für die größte Zahl ermöglicht. Glück ist auch hier nicht der allgemeine Staatszweck, Glück bleibt eine individuelle Größe und bedeutet in der klassischen Formulierung von Bentham die Minimierung von Leid und die Maximierung von Vergnügen (pleasure). Besteht nach der Sozialvertragslehre das überindividuelle, allgemeine Interesse in der Wahrung des konstitutionellen Vertrages, so kennt der Utilitarismus ein Allgemeininteresse nur in der Form der Aggregation hedonistischer Einzelinteressen. c) Die Transzendental- und Moralphilosophie von Kant versucht, das Universalisierungsproblem individualethischer Prämissen mit Hilfe von Sittengesetz und Vernunftrecht zu lösen. Einmal bindet Kant die Freiheitsausübung an das Sittengesetz, die Verallgemeinerbarkeit der Handlungsmaxime wird dem Individuum, das das „moralische Gesetz" in sich trägt, als Pflicht auferlegt; zum anderen gebietet das Vernunftrecht die Bindung äußerer Handlungen des Individuums im Verkehr mit anderen an die Grundsätze der Legalität. Hier wie dort „entmaterialisiert" Kant Recht und Moral, und löst das Gemeinwohlproblem durch eine prozedurale, auf Verfahren und nicht Inhalte von Handlungen abstellende Ethik. Ein um so größeres Gewicht bekommt dann hier die Wahrung des Verfassungs- und Rechtsstaates und das reformerische Leitbild einer „allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft" und der auf dem Schutz von Grund- und Menschenrechten, dem „Weltbürgerrecht", beruhenden Weltgesellschaft. 5. Gesellschaft
und Staat
D i e Philosophie des Liberalismus lief in ihrer Intention auf eine grundlegende Rechtfertigung des neuen Handels- und Industriezeitalters hinaus. Der Liberalismus des späten 17. und 18. Jh. dachte die kommerzielle Gesellschaft voraus, o h n e ihre sozialen und ö k o n o m i s c h e n Auswirkungen, die erst um die Wende ins 20. Jh. mit der vollen Ausbildung des Industriekapitalismus in ihrer vollen Schärfe und Tragweite deutlich wurden, absehen b z w . theoretisch antizipieren zu k ö n n e n . Weil der Liberalismus jedoch in vorindustrieller Zeit enstand, beinhalten seine Entwürfe für die neue, erst im Entstehen begriffene bürgerliche Gesellschaft mehr traditionale Elemente, als es konservative Kritiker, die d e m Liberalismus immer den radikalen Bruch mit der Vergangenheit vorhielten und damit den Verlust überkommener O r d n u n g e n fürchteten und beklagten, realisiert haben. Einerseits setzten die liberalen Theoretiker als Regulativ zu den erahnten destruktiven Tendenzen einer v o n ö k o n o m i s c h e n Interessen und unbegrenzter Freiheitsausübung bestimmten neuen Gesellschaft auf die Restbestände traditionaler Moral- und Tugendvorstellungen und die disziplinierenden Wirkungen der Religion - nicht zuletzt auf die asketischen ErziehungsWirkungen der protestantischen Ethik —, andererseits sahen sie jedoch auch in den neuen Funktionsprinzipien v o n Arbeitsteilung, H a n d e l und Wettbewerb substitutive sozialintegrative M e c h a n i s m e n der Kohäsion in einer bürgerlichen Gesellschaft. Zum Beispiel gründete Adam Smiths Prosperitätserwartung in einer Harmonievorstellung, die in seinem Begriff der invisible band, einer säkularisierten Form des einheitsstiftenden Prinzips Gott, seinen theoretischen Ausdruck fand. In Smiths „System der natürlichen Freiheit" führt die Verfolgung des individuellen Interesses automatisch, durch die unsichtbare Hand geleitet, zu ökonomischem Wohlstand und gesellschaftlicher Harmonie. -»Montesquieu wie auch die schottischen Moralphilosophen Sir James Steuart und John Miliar sahen in der rationalen Verfolgung des individuellen Interesses nicht etwa ein Laster (des -»• Egoismus), sondern eine Tugend, mit der die Erwartung und Hoffnung verbunden war, daß das zweckgerichtete Handeln für die Gesellschaft schädliche Leidenschaften wie Habgier, Räch- und Machtsucht kontrollieren könne und neue zwischenmenschliche Bindungen und Interdependenzen schaffen würde: Handel und Wettbewerb haben auf die Gesellschaft eine gute Auswirkung, tragen unter Umständen sogar zur Verbesserung der politischen Ordnung, zu einer rationalen und kontrollierten Form der Machtausübung, bei. W o diese H o f f n u n g und die sie voraussetzende A n n a h m e natürlicher H a r m o n i e nicht geteilt und die Verfolgung individueller Interessen sehr viel skeptischer in ihrer Auswirk u n g auf den Z u s a m m e n h a l t der Gesellschaft beurteilt wurden, suchten etwa die amerikanischen Federalists nach institutionellen Hilfsvorkehrungen, mit denen Interessenverfolgung und sich daraus ergebende Fraktionsbildungen in geordnete Bahnen gelenkt wer-
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den. N o t w e n d i g w a r hier u. a. eine geteilte M a c h t a u s ü b u n g im Regierungssystem, das die Tyrannei der Mehrheit gegenüber einer Minderheit, die bald schon zu einer neuen M e h r heit werden k a n n , verhindert. War die Begründung auch unterschiedlich, so waren doch die liberalen Theoretiker bis in die zweite H ä l f t e des 19. J h . in ihrer Mehrheit (Ausnahmen sind z. B. Ricardo und Malthus) von der Wirksamkeit der selbstregulativen Mechanismen in Wirtschaft und Gesellschaft f ü r Wohlstandsmehrung und gesellschaftliche Stabilität überzeugt (und teilten nicht die grundsätzliche Skepsis -»Hegels, der die Destruktivität der bürgerlichen Gesellschaft - das Reich der selbstsüchtigen Z w e c k e - allein im Staat als der Wirklichkeit der sittlichen Idee aufgehoben sah). Hieraus entsprang auch die Forderung nach der Trennung von Gesellschaft und Staat, wobei aber die liberale Theorie nicht grundsätzlich den Minimal- oder Nachtwächterstaat postulierte. Dies trifft allenfalls f ü r W. v. H u m b o l d t , die englische ManchesterSchule von Cobden und Bright, die französischen Ö k o n o m e n Say und Bastiat sowie zuletzt f ü r Robert Nozick zu. Schon bei A d a m Smith in seinem Wohlstand der Nationen wie dann auch bei J o h n Stuart Mill hat der Staat Servicefunktionen im Bereich öffentlicher Aufgaben, der Infrastruktur, bei Erziehungs- und Dienstleistungsaufgaben sowie z u m Teil sogar bei der sozialen Existenzsicherung verarmter Bevölkerungskreise zu erfüllen. Was die liberale von der klassischen Konzeption jedoch grundlegend unterscheidet, ist, d a ß sich die Staatsraison nicht aus einem vorausgesetzten Staatszweck, sei er moralisch, ethisch oder machtpolitisch, ableitet, sondern allein aus der Wahrung von G r u n d und Freiheitsrechten herleitet. 6. Kritische
Herausforderungen
Mit dem Auftreten der sozialen und ökonomischen Folgen der -»Industrialisierung und dem Anwachsen von sozialistischer und -»Arbeiterbewegung wurden Schwächen und Grenzen des Liberalismus deutlich, die ihn als politische Partei an Bedeutung und Einfluß verlieren ließen und die die liberale Theorie d o r t zu Reformulierungsbemühungen (New Liberalism in England, Sozialer Liberalismus in Deutschland, Solidarisme in Frankreich, Progressivism in den USA) zwangen, w o der Liberalismus nicht zu einer den status q u o verteidigenden Klassenideologic werden wollte. Die Besitzlosigkeit und Proletarisierung großer Bevölkerungsschichten legten den liberalen Widerspruch zwischen egalitärem Pathos klassenloser Bürgergesellschaft und einem auf Eigentum basierenden Freiheitsbegriff bloß. Der Schutz des -»Eigentums wie auch die rechtliche Absicherung eines R a u m e s wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit waren von Anfang an wichtige Bestandteile liberaler Forderungen und Gegenstand theoretischer Beschäftigung mit G r u n d f r a g e n der bürgerlichen Rechtsordnung gewesen. Z u d e m waren in der liberalen Theorie die Ausübung politischer Freiheitsrechte und die Beteiligung a m politischen Leben an Eigentumsqualifikationen gebunden, die Mündigkeit des Bürgers drückte sich in der auf Eigentum beruhenden „Selbständigkeit" aus. Doch hatte sich das liberale Modell einer konstitutionell-rechtsstaatlichen O r d n u n g von Anfang an nicht allein in der Sicherung von Eigentum erschöpft; bei Locke ging es gleichrangig um den Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum, und f ü r Kant und J. St. Mill gehörten uneingeschränkte individuelle wie politische Freiheitsrechte (Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit) zu den Kernbestandteilen einer gerechten und friedlichen politischen O r d n u n g . Auch hat die liberale Theorie seit Beginn der zweiten H ä l f t e des 19. Jh. immer wieder versucht, Modelle zu entwickeln und zu begründen, die eine breite Eigentumsstreuung bzw. eine kollektive, genossenschaftliche Form der Eigentumsverwaltung vorsahen, u m auf diese Weise ökonomische Machtzusammenballung zu kontrollieren und die Gleichheit politischer wie individueller Freiheitsrechte zu garantieren. Der Liberalismus hat sich zugleich mit dem Vorwurf auseinandersetzen müssen, d a ß seine Freiheitskonzeption auf G r u n d real existierender sozialer Ungleichheit leerläuft. Richtig d a r a n w a r , d a ß die industriegesellschaftliche Realität und Dynamik das ur-
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sprüngliche soziale Leitbild der klassenlosen Bürgergesellschaft in Teilen überholt hatte. Auch hatte der Liberalismus Gleichheit in einem formalen Sinne der Rechtsgleichheit, der Gleichheit vor dem Gesetz und nicht im Sinne eines sozialen Egalitarismus, verstanden. Hieran hat die liberale Theorie im Grundsatz auch bis heute festgehalten, wobei sie jedoch versucht hat, ihre Freiheitskonzeption in sozialer und egalitärer Richtung hin zu erweitern, um so den gewandelten Realitäten einer auf ungleichen Eigentumsverhältnissen und Lebenschancen beruhenden Industriegesellschaft Rechnung zu tragen. Klassenkampf wie jede Form des Kollektivismus aber hat die liberale Theorie immer abgelehnt. Die Ansätze einer Reformulierung des Liberalismus für die sozialen und ökonomischen Probleme der Industriegesellschaft reichen bis heute von — assoziativen, kooperativen und genossenschaftlichen — Formen der Selbsthilfe über Konzeptionen der Chancengleichheit (der Herstellung gleicher Startchancen bei Ablehnung von Resultatsgleichheit) bis zur Begründung von sozialen Grundrechten (auf Existenzsicherung, gerechte Verteilung ökonomischen Reichtums). In diesen sozialliberalen Theorien gewinnt der Staat eine zusätzliche soziale, (um-)verteilende Funktion. Konvergenzen zu konkurrierenden politischen Theorien sozialdemokratischer Orientierung werden dort sichtbar, wo dem Staat wie in der ökonomischen Theorie von J o h n Maynard Keynes oder in den Sozialprogrammen von W. H. Beveridge eine gesamtwirtschaftliche oder wohlfahrtsstaatliche Verantwortung zugeschrieben wird. Als Reaktion auf die allgemeine sozialstaatliche Transformation der Industriegesellschaft haben sich in jüngster Zeit u . a . im angloamerikanischen R a u m Theorierichtungen des Liberalismus profiliert, die Rechte wieder streng individualistisch und den Staat lediglich als Minimalstaat begründen. 7. Neue
Aufgabenstellungen
Die historische Erfahrung hat gezeigt, daß erst eine entwickelte Industriegesellschaft, die Waren und Güter in ausreichender Menge erwirtschaftet und Dienstleistungen erbringt, die materiellen Voraussetzungen für die Realisierung der zentralen Grundwerte des Liberalismus - individuelle Entfaltungsmöglichkeiten und selbstbestimmte Lebensweisen bei annähernd gleichen und erweiterten Lebenschancen — schafft. M i t dem Erfolg der vom Liberalismus begründeten und legitimierten kommerziellen Gesellschaft gehen jedoch - neben den sozialen - ökologische und humane Kosten einher, die den Liberalismus wegen seiner zentralen individualistischen Ausgangsprämissen vor eine qualitativ neue, theoretische wie praktische Problemaufgabe stellen. Das utilitaristisch-hedonistische Modell individueller Interessenverfolgung, das Basis des ökonomischen Wohlstands ist, macht Natur und Umwelt zum Untertanen von instrumenteller Vernunft und auf kurzfristige Bedürfnisbefriedigung abzielenden Zwecksetzungen, kann aber keine anderen als die über Individualinteressen und Marktrationalität vermittelten ökologischen Steuerungsmechanismen zur Sicherstellung gemeinwohlrelevanter Belange wie den Erhalt und den Schutz der natürlichen Umwelt anführen. Eine Gesamtgesellschaft wie Individuen gleichermaßen verpflichtende ökologische Ethik (-»•Ökologie) bleibt vorerst ein noch einzulösendes Desiderat einer auf individuellen und utilitaristischen Prämissen verharrenden liberalen Theorie. Ein weiterer Problemaspekt ist die Kommerzialisierung gesellschaftlicher Lebensweisen und die Monetarisierung individueller Lebenswelten. Von Utilitaristen wie James Bentham ist die Reduzierung des gesellschaftlichen - nicht nur des ökonomischen Austausches - auf Nützlichkeitskalküle und die Substituierung von Moral durch Geld als „Objektivierung" menschlicher Lebensverhältnisse begrüßt, aber schon von liberalen Ökonomen wie Adam Smith und Moralphilosophen wie Adam Ferguson ist der Verlust sozialer Kompetenz, die Beeinträchtigung der Vergemeinschaftungsfähigkeit des einzelnen als Auswirkung der kommerziellen Gesellschaft, mit Besorgnis beobachtet worden. Überwiegend haben liberale Theoretiker kompensatorische Erziehungs- und staatsbürgerliche Bildungsmaßnahmen gefordert, um atomistischer Vereinzelung und öffentlicher Teilnahmslosigkeit entgegenzuwirken. Englische Reformliberale des New Liberalism haben eine Reform von Wirtschaftsstrukturen und eine Repolitisierung des homo oeconomicus durch Partizipationsmöglichkeiten in kleinräumlich organisierten politischen Gemeinschaften (wie der Gemeinde) angemahnt.
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Auch Ralf Dahrendorf hat dem Liberalismus angeraten, den gemeinschafts- und sinnstiftenden Ligaturen (Bindungen) größere Aufmerksamkeit als den Optionen, den Wahlmöglichkeiten, die die moderne Gesellschaft offeriert, zu widmen. War d a s ursprüngliche P r o g r a m m d e s Liberalismus die e m a n z i p a t o r i s c h e , v o n der Vernunft getragene Entgrenzung d e s I n d i v i d u u m s aus Z w ä n g e n , die sich in autoritären Machtverhältnissen, überlieferten W e l t a n s c h a u u n g e n und sozialen G e w o h n h e i t e n darstellten, s o scheint die H a u p t a u f g a b e d e s Liberalismus an der W e n d e in d a s 21. Jh. die mit der Wahrung v o n individuellen Freiheiten zu vereinbarende Eingrenzung der destruktiven h u m a n e n , sozialen und ö k o l o g i s c h e n F o l g e w i r k u n g e n einer die historischen Restrikt i o n e n v o n Tradition, M o r a l und Religion hinter sich lassenden k o m m e r z i e l l e n Gesellschaft z u sein. Quellen Isaiah Berlin, Four Essays on Liberty, O x f o r d 1969. — James Buchanan, Die Grenzen der Freiheit, Tübingen 1984. - Ralf Dahrendorf, Lebenschancen. Anläufe zur sozialen u. politischen Theorie, Frankfurt a. M . 1979. - Ders., Frgm. eines neuen Liberalismus, Stuttgart 1987. - Der europ. Liberalismus im 19. Jh., 5 Bde., hg. v. Lothar Gall/Rainer Koch, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1981. - The Federalist Papers. Alexander Hamilton, James Madison, John Jay, hg. v. Clinton Rossiter, New York 1961. - Adam Ferguson, Versuch über die Gesch. der bürgerlichen Gesellschaft, hg. v. Zwi Batscha/Hans Medick, Frankfurt a. M . 1986. - Robert Nozick, Anarchy, State, and Utopia, New York 1974. - Leonard T. Hobhouse, Liberalism, London 1911. - John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M . 1975. - Alexis de Tocqueville, Uber die Demokratie in Amerika, hg. v. Jacob P. Mayer/Theodor Eschenburg/Hans Zbinden, München 1976. - Western Liberalism. A history of documents from Locke to Croce, hg. v. E.K. Bramsted/K. J. Melhuish, London/New York 1978. Literatur Anthony Arblaster, The Rise and Decline of Western Liberalism, Oxford 1984. - Michael Freeden, The New Liberalism. An Ideology of Social Reform, Oxford 1978. - John Gray, Liberalism, Minneapolis 1986. - Louis Hartz, T h e Liberal Tradition in America, San Diego/New York/London 1955. - Albert O. Hirschman, The Passions and the Interests. Political Arguments for Capitalism before its Triumph, Princeton 1977. - Liberalismus, hg. v. Lothar Gall, Königstein/Ts. 2 1980. Liberalismus im 19. Jh. Deutschland im europ. Vergleich, hg. v. Dieter Langewiesche, Göttingen 1988. - Steven Lukes, Individualism, New York/London 1973. - C.B. Macpherson, Die politische Theorie des Bcsitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke, Frankfurt a. M . 1967. - Guido de Ruggiero, Gesch. des Liberalismus in Europa, Aalen 1930. - Sozialer Liberalismus, hg. v. Karl Holl/Günter T r a u t m a n n / H a n s Vorländer, Göttingen 1986. - Verfall o. Renaissance des Liberalismus. Beitr. zum dt. u. int. Liberalismus, hg. v. Hans Vorländer, München 1987. H a n s Vorländer Libertas (ecclesiae) —• Becket, T h o m a s , —• Investiturstreit Licentia c o n c i o n a n d i -» H o m i l e t i k ,
Predigt,
Theologiestudium
Licht u n d Feuer I. II. III. IV. V.
Religionsgeschichtlich Altes Testament und antikes J u d e n t u m N e u e s Testament Kirchengeschichtlich Praktisch-theologisch
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I. Religionsgeschichtlich 1. Licht und Feuer in der Natur 2. Licht und Feuer in der H a n d des Menschen 3. Licht und Feuer in Mythos und Vision 4. Licht und Feuer in Jenseitsvorstellung und Eschatologie 5. Licht und Feuer als Metapher und Symbol 6. Zusammenfassung (Literatur S. 89)
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Licht und Feuer I 1. Licht und Feuer in der Natur
Seit jeher und in allen Religionen liebt der Mensch das lebenspendende Licht der Sonne und des Tages, fürchtet und scheut er das Dunkel der Nacht. Häufig werden Sonne, Mond und Sterne als Götter verehrt; stets gilt das Licht als Gabe der Gottheit. Wenn Götter, Engel und Heroen sichtbar erscheinen, geschehen solche Offenbarungen (Epiphanie, Theophanie) im Glanz strahlenden Lichtes. Seltene Lichtphänomene wie Regenbogen oder Gewitter werden als göttliche Willenskundgebung gedeutet; Sonnen- und Mondfinsternis gelten als schlimme Vorzeichen. Wald- und Steppenbrand durch Sonnenhitze sowie der zündende Blitzschlag belehren die Menschen nicht nur über den himmlischen Ursprung des Feuers, sondern auch über die „Identität" von Licht und Feuer; unterirdische Numina gelten als Urheber des Vulkanausbruchs. Ambivalent wie alles Heilige, wird das Feuer als Spender von Licht und Wärme verehrt, aber auch als Ursache der Brandkatastrophe gefürchtet.
2. Licht und Feuer in der Hand des
Menschen
Auch in profaner Verwendung bleibt das Feuer „heilig" und ein Himmelsgeschenk; es gewährt Wärme und Licht, macht gekochte und gebratene Speisen haltbar, läutert Edelmetalle (z.B. Plato, rep. 3,413E), ermöglicht das Schmieden des Eisens und ist eine wirksame Waffe im Kriege (z.B. Homer, 11.16,81 f . 1 2 2 - 1 2 4 ) . Als Lichtquellen dienen - bis zur Entdeckung der Elektrizität - Reisigund Kohlenfeuer, Ollampen, Kienspäne, Fackeln und Kerzen. Aus der Schwierigkeit, Feuer selbst zu erzeugen, ergibt sich die Notwendigkeit, brennendes Feuer vor dem Verlöschen zu bewahren. Die Bewahrung des Herdfeuers ist Aufgabe der Hausfrau; die Heiligkeit des Herdfeuers macht es als Asylstätte geeignet (Homer, Od. 7,153), und das von den Vestalinnen, den Priesterinnen der römischen Herdgöttin Vesta, gehütete Feuer symbolisiert und sichert als heiliges Staatsfeuer den Bestand des Gemeinwesens. Opfergaben werden der Gottheit zumeist vermittels des Opferfeuers als Brandopfer übereignet. Entsprechend der Ambivalenz von Feuer und Licht dienen Lampen, Fackeln und Kerzen sowohl der Ehrung und Repräsentation guter Numina als auch - im Sinne homöopathischer -»Magie - der zauberischen Abwehr böser, im Schadensfeuer lokalisierter bzw. mit diesem gleichgesetzer Mächte (Fieber, Krankheit, Seuche, Tod); dabei sind die Grenzen zwischen der exorzistisch-apotropäischen, Finsternis und Finsternismächte vertreibenden Kraft des Lichtes und der kathartischen, Unreines verzehrenden Wirkung des Feuers durchaus fließend. Die Entwicklung der Lichtquelle dürfte vom Kienspan (Kienfackel, verharztes Kiefernholz) über die öl- oder pechgespeiste Fackel zur Öllampe verlaufen sein; die Kerze aus Talg oder Wachs, den Griechen anscheinend unbekannt, wurde wohl durch die Römer von den Etruskern übernommen. Die Fülle der Licht- und Feuerriten in allen Religionen kann hier nur skizziert werden (vgl. Nilsson, Lampen). Kathartisch und glanzvoll erneuernd soll die Leichenverbrennung etwa der vedischen und der altgriechischen Religion (vgl. Homer, II. 7 , 3 3 2 - 3 3 5 . 3 7 6 f u.ö.) wirken. Der Gebrauch von Fackeln im Umfeld von Geburt, Hochzeit (vgl. Homer, II. 18,492) und Tod (vgl. Vergil, Aen. 7,337; l l , 1 4 2 f ) dient der Abwehr der Schadensmächte; insbesondere im Totenkult ist seit dem Mittleren Reich Ägyptens über Griechen und Römer bis zur christlichen Allerseelenlampe der Gegenwart die Auffassung bezeugt, ein brennendes Licht schütze den Toten und die Hinterbliebenen vor den -»Dämonen (Cumont 49). In den Mysterienkulten (-»Mysterien/Mysterienreligionen), etwa in den Eleusinischen Mysterien, und in den Kulten des Dionysos, der Hekate und der Artemis spielen Riten mit Fackeln eine große Rolle; obgleich metaphorisch gedeutet auf die Überwindung der Finsternis des Menschenlebens durch die Aufnahme in die Lichtwelt der Götter, erweisen sie die Nachbarschaft der Mysterien zu Sepulkralriten und chthonischen Mächten. Ganze Ortschaften soll ein Fackellauf von dämonischer Seuche reinigen (vgl. Pausanias 1,30,2); in diesen Zusammenhang gehört auch das Ausbrennen von Wunden, wie es der Mythos von Herakles und der Hydra von Lerna widerspiegelt. Die unmittelbar anschauliche Deutbarkeit von Lichtriten auf „Erleuchtung", Befreiung und Erlösung hat dazu geführt, daß vom Lichtzauber im populären -»Neuplatonismus über christliche Tauf- und Kerzensymbolik (s.u. Abschn. V 1.2) bis hin zur Metaphorik der „Aufklärung" (englisch enlightenment, französisch lumières, italienisch illuminismo) und zum Lichtritual der Freimaurer (s. u. Abschn. I V.4.3 f) die Flamme der Fackeln und Kerzen ihre Bedeutung niemals verloren hat; auch die fackeltragende Freiheitsstatue in New York (1886) und das Olympische Feuer (seit 1936) gehören in diesen Zusammenhang.
3. Licht und Feuer in Mythos und Vision 3.1. Götter. Da der Mensch des Altertums aus der Beobachtung der Sonne weiß, daß diese zwar abends in der Finsternis versinkt, aber jeden Morgen aufs neue ersteht, also
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unsterblich ist, hat er die Sonne früh als licht- und lebenspendende Gottheit verehrt und, bestärkt durch Mond und Sterne, die Götter schlechthin mit der Sphäre des Himmelslichtes zusammengebracht. Wenn aber feststeht, daß die Götter in ewigem Licht wohnen, dann ist nicht verwunderlich, daß auch ihre Erscheinungen sich durch Lichtphänomene auszeichnen und beglaubigen. Der Visionär erlebt die Offenbarung der Numina in genau dem Rahmen, den er aus dem Mythos kennt. Im alten Ägypten wird spätestens seit der fünften Dynastie der Sonnengott Re als Schöpfer und Erhalter des Lebens verehrt; in der Amarna-Zeit gilt das Licht als einzig gute und göttliche Macht, gilt der Sonnengott Aton als alle Göttlichkeit in sich vereinender Spender von Licht und Leben (Echnaton-Hymnus). Nicht anders ist es in Babylonien; Schamasch vertreibt die Finsternis, erleuchtet die Erde, erhellt den Tag und ermöglicht so das Leben der Menschen. Der altindische Feuergott Agni bringt als Blitz die Botschaft der Götter zur Erde und trägt im Rauch des Opferfeuers die menschlichen Opfergaben in den Himmel empor. Der 11. Gesang der Bhagavadgita schildert eine Epiphanie Krischnas im Lichtglanz von Feuer und Sonne (11,9-31). Ein Zentralbegriff des iranischen Denkens (-•Iranische Religionen) ist der göttliche Lichtglanz (xvarenah), nach der Verkündigung Zarathustras eine Manifestation des Gottes Ahura Mazda (vgl. Plutarch, Is. 46); zufolge Yasna 44,5 (vgl. Jes 45,7) entstammen Licht und Finsternis der Hand des göttlichen Schöpfers, doch ist „Licht" der Ort der Gottheit (z.B. Gr. Bundahisn 1,2; Yasna 36,6; 58,8). Wenn die Parsen schon früh als „Feueranbeter" bezeichnet werden (z.B. Strabon 15,733; vgl. bTaan 5 b), so ist dies unzutreffend: Nicht das Feuer ist Gegenstand ihrer Verehrung, sondern die sich in Feuer und Licht manifestierende Gottheit. Auch für Griechen (—»Griechische Religion) und Römer (-»Römische Religion) sind Feuer und Licht göttlichen Ursprungs. Durch die List des Prometheus gelangt das Feuer von den Göttern zu den Menschen (Hesiod, op. 50-58). Zeus ist der Gott des Elements Feuer (so Empedokles, Frgm. 6); er schleudert die Blitze, und die vom Blitz getroffene Stätte ist heilig (Euripides, suppl. 934ff). Dagegen hat der Sonnengot Helios keinen Kult erhalten, obgleich er gegrüßt (Plato, leg. 887E) und angerufen wird (Aischylos, Prom. 91), nicht zuletzt deshalb, weil er alles sieht (Homer, 11.3,277). Unendlich zahlreich sind die Belege für Theophanien im Lichtglanz (Pfister 315 f), wobei es hilfreicher ist, mit Pax ('Empävcia 29f) zwischen partieller und totaler Epiphanie, als mit Pfister zwischen epischer und legendarischer Epiphanie zu unterscheiden. Bei der partiellen Erscheinung des Gottes bleibt dieser selbst unsichtbar, doch bezeugen u. a. Gewitter, Feuer und Licht seine Anwesenheit (z. B. Kallimachos, hymn. 2,32—36). Leibhaftig offenbart sich das Numen in der totalen Epiphanie, die Gestalt umflossen von Licht und Feuer (z.B. Sophokles, Ant. 1126f; Euripides, Bacch. 1017.1082f; Aristophanes, av. 1712); heller als Feuer strahlt der Peplos Athenas (Homer, hymn. 5,86). Eine (partielle) Epiphanie des Zeus unter Feuerund Astralzeichen schildert Vergil, Aen. 2,679—704. Römische Kaiser wie Nero und Commodus ließen sich als Helios darstellen. Aurelian (270—275 n. Chr.) setzte die Identifikation des Imperators mit dem Sonnengott Sol Irtvtctus durch und bestimmte dessen „Geburtstag" (Natalis), die Wintersonnwende (25. Dezember), zum Festtag der Staatsreligion. Mysterienkulte und -»Gnosis übten den schrittweisen Aufstieg des Menschen aus seiner Dunkelheit zur Lichtwelt des Himmels und seiner Gottheiten; mystische Lichtschau und kathartische Feuerriten ergänzten einander. Von den unendlich zahlreichen Lichtaussagen gnostischer Texte seien hier die mandäischen Belege angeführt, die den himmlischen Erlöser als Gesandten des göttlichen Lichts, Sohn des Glanzes und Träger des Feuergewandes beschreiben (Ginza R.T. 57,20-26; 57,32-61,5; 89,5 f; 103,5-16; 179,22-27; patristische Belege zu solchen Lichtvorstellungen der außerchristlichen Gnosis u. a. bei W. Bauer, Joh. [ H N T 6], 3 1933,120; zu den [christlichen] OdSal s. u. Abschn. IV.1.1 und 1.3). Die koptisch-gnostischen Schriften von -»Nag Hammadi, die heidnisch-hellenistisches Erbe mit jüdischem und christlichem Gedankengut verbinden, kennen das Licht Gottes und des Geistes (Paraphrase des Sem [ N H C VII/1] 1,26.32; 2,10.26.29; 3,25.30.34f u. ö.), den himmlischen Adam in herrli-
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chem Licht (Dreigestaltige Protennoia [XIII/1] 3 8 , 1 - 6 ) , das Licht der jungfräulichen M u t t e r (ebd. [XIII/1] 3 8 , 1 3 - 1 5 ) , G o t t als das „ewige L i c h t " (Ägypterevangelium [III/2] 68,26; Lehre des Silvanus [VII/4] 113,7), die „ewigen Lichter" (Zostrianos [VIII/1] 47,30), ferner das „ W o r t des Lichts" (Paraphrase des Sem [VII/1] 44,27) u . a . m . Im Corpus Hermeticum wird G o t t als „Licht und L e b e n " bezeichnet (1,21). Selbstverständlich schreiben auch Israel und das J u d e n t u m (s. u. Abschn. II.3) sowie die Autoren des Neuen Testaments (s. u. Abschn. III.3) und der christlichen Kirchengeschichte (s.u. Abschn. IV.1.1 usw.) G o t t und seiner Welt den Glanz strahlenden Lichtes zu. Allah wird im Koran als „Licht des Himmels und der E r d e " bezeichnet (Sure 24); ein germanischer Lichtgott ist Balder (s.u. Abschn. 4.4). 3.2. Niedere Numina, Dämonen. In Feuer und Licht erscheinen auch die ursprünglich chthonischen M ä c h t e , die Gottheiten der Mysterien und die D ä m o n e n . Partielle Epiphanien mit Lichteffekten schildert Ovid von Bacchus (Ovid, met. 4 , 4 0 2 - 4 0 6 ) und Isis (ebd. 9,782—784). Wenn zwischen allgemeinem Lichtglanz und brennender Feuerflamme differenziert wird, gehört eher die letztere zur Erscheinung der Unterirdischen und D ä m o n e n . Dies hängt mit dem Vulkanismus zusammen, wie denn auch in der stoischen Elementenlehre Hephaistos/Vulcanus als Feuergottheit Zeus als den Lichtgott ersetzt. So ist die Fackel bevorzugtes Attribut chthonischer N u m i n a (Kore, Iakchos, Hekate, Erinnyen); als Kathartikum und A p o t r o p a i o n spielt sie im Kult (Demeter, Aphrodite und Eros, Dionysos mit M ä n a d e n und Satyrn) eine große Rolle. Während die klassischen Philosophen (Pythagoreer, -»Plato, -»Aristoteles) eine abstrakte Lichtmetaphysik entfalten (s.u. Abschn. 5), kennt der —» Neupia tonismus feurige Dämonenerscheinungen (Plotin, enn. VI,7,36ff; vgl. Porphyrius, vit.Plot. 10.23). lamblichos systematisiert die übermenschlichen Wesen, die dem Visionär erscheinen können (Götter, Erzengel, -»Engel, Archonten, Dämonen, Heroen, Seelen), wobei Fülle und Glanz des Lichtcs entsprechend dem Rang des Numens abgestuft sind (lamblichos, myst. 2,4.7f; 3,6.31). 3.3. Menschen. Wenn Menschen durch den Glanz von Licht und Feuer ausgezeichnet werden, geht daraus ihre Zugehörigkeit zur Welt des Himmels und der Götter hervor. Als Beispiele seien der Held Achill genannt, dem Athena das Haupt mit goldenem Gewölk umkränzt und die Gestalt feurig erstrahlen läßt (Homer, II. 18,205 f), sowie der Philosoph Proklos, dessen Vorträge dadurch seine überirdische Inspiriertheit erwiesen, daß sein Antlitz göttlichen Glanz widerspiegelte und sein Haupt von Licht umflossen wurde (Marinus, Vita Prodi 23). Die christliche Vorstellung des Heiligenscheins (Nimbus, Mandorla, s.u. Abschn. IV. 1.4 und 2.4) hat hier offenbar eine Wurzel. 3.4. Mythischer Dualismus. Z u m antithetischen -»Dualismus, wie er in zahlreichen - » M y t h e n bezeugt wird, gehört auch das Gegensatzpaar von Licht und Finsternis, das häufig gemeinsam auftritt mit der Polarität von Tag und N a c h t , von Himmel (Sonne) und Erde (Unterwelt), von O b e n und Unten. Z u n ä c h s t werden Licht und Finsternis noch unethisch, also nicht im Sinn von G u t und Böse verstanden; dennoch erscheint das Licht durchweg als positive, die Finsternis als negative Größe. In Ägypten ordnet bereits der A t o n - H y m n u s der A m a r n a - Z e i t Licht und Leben mit Sonne und Tag, dagegen Finsternis, G r a b und Tod mit Gottfeindlichkeit und N a c h t zusammen. Für Z a r a t h u s t r a manifestiert sich der neue Lichtgott Ahura M a z d a im Feuer (vgl. den indischen Feuergott Agni); ihm steht der Finsternisdämon Ahriman feindlich gegenüber. W ä h r e n d die Literatur der griechisch-römischen Antike zunächst noch keinen mythischen Dualismus kennt, führen die Autoren des Alten Testaments und des Judent u m s iranisch-chaldäische Ansätze weiter (s. u. Abschn. II.3.4), wohingegen entsprechende Vorstellungen im N e u e n Testament wieder zurücktreten (s.u. Abschn. III.3.4). In der -»Gnosis jedoch k o m m t es zu einem sowohl eschatologischen (s. u. Abschn. 4.4) als auch ethischen Dualismus (s. u. Abschn. 5.3), der auf mythischen Voraussetzungen beruht: Aus der Lichtwelt steigt der „ G e s a n d t e " hinab in die feindliche Finsterniswelt, um die Menschen von der Dunkelheit zum Licht zu erlösen (Ginza R . T . 182,28-30); beim Wiedera u f s t i e g des Lichtgesandten kehrt die widergöttliche Finsternis zurück, so d a ß der Kosmos in einer Katastrophe versinkt (Mandäische Liturgien 97). Zwischen Licht und Fin-
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sternis kann die außerchristliche Gnosis den „Geist" lokalisieren (Paraphrase des Sem [VII/1] 1,25 -27). Mythisch ist schließlich auch der Dualismus zwischen dem Lichtgott Balder und dem Feuerdämon Loki. 4. Licht und Feuer in Jenseitsvorstellung
und Eschatologie
4.1. Die himmlische Lichtwelt. Licht und Feuer sind konstitutiv für die obere Welt, in der die Götter wohnen; hier trübt keine Nacht den Glanz der Sonne und der übrigen Himmelskörper. Nach iranischer Lehre (vgl. Ahura Mazdas Lichtglanz xvarenah, s. o. Abschn. 3) gehört zum -»Paradies, das die Gerechten aufnimmt, das Licht (Yasna 12,1 u.ö.). Der parsische Priester Ardä Viräz erblickt im Traum in den verschiedenen, den Sternen, dem Mond und der Sonne zugeordneten Zonen des Paradieses die -»Seelen der Gerechten in einem Lichtglanz, der entsprechend ihren Verdiensten abgestuft ist (Ardä Viräz Nämag 7-15). Daß auch Griechen und Römer den Bereich ihrer Götter als Lichtwelt vorgestellt haben, ist reich bezeugt, schon durch die Berichte von Theophanien im Licht (s.o. Abschn. 3). Nicht nur das Feuer stammt aus dem Himmel (Hesiod, op. 50-58, s.o. Abschn. 3), sondern auch die Menschen sind Geschöpfe des Lichts bzw. der Sonne (Parmenides AI; Titanomachie nach Musaios B14; vgl. Plato, symp. 190B). Noch die intellektualisierende Umgestaltung des Lichtbegriffs durch die griechische Philosophie läßt erkennen, daß das Jenseits von herrlichem Licht erfüllt ist (Plato, rep. 7,514A-517A: Höhlengleichnis; vgl. ebd. 10.616B sowie Plato, Phaed. 107D-114C). Das gilt auch für die Gnosis, die allen Nachdruck auf die „Rückkehr" der Seele in die Lichtwelt ihres Ursprungs legt (s.u. Abschn. 4.4 und 5.3). 4.2. Licht und Feuer als Gerichts-, Straf- und Sühnmittel. Durchweg sind die Grenzen zwischen dem Licht der Epiphanie und dem Feuer des Gerichts fließend (vgl. Ovid, met. 4,402-406; Jes 10,17). Feuer gilt als Reinigungsmitte), da es Edelmetall zum Schmelzen bringt und Unrat verbrennt. Das beim Ordal verwendete Feuer realisiert den heilvollen Geist der Weisheit des Gottes (Yasna 47,6). Der (ursprünglich ägyptische) Vogel Phönix ersteht verjüngt aus der Asche der Selbstverbrennung; Feuer als Mittel der Reinigung kann Unsterblichkeit verleihen (Homer, hymn. 2,239ff). Als läuterndes Element f ü r schuldbefleckte Seelen nennt Anchises - neben Wind und Wasser — das Feuer (Vergil, Aen. 6,740-742; Servius, comm. in Verg. Aen. 6,741). Auch die stoische - und ähnlich im Parsismus bezeugte — Erwartung eines Weltenbrands (eKjcöpmaitz.B. bei Zenon von Kition und Chrysippos von Soloi: Stoicorum Veterum Fragmenta 1,32; 2,131 u.ö.) setzt die reinigende Kraft des Feuers voraus. 4.3. Der feurige Strafort. Aus der freveltilgenden Funktion des Feuers folgt in vielen Religionen die Vorstellung, die unterirdische Stätte der Frevler sei ein Ort läuternder Bestrafung durch Feuerpein. Dabei stehen vorübergehende Qual nach Art des christlichen Fegfeuers und ewige Qual nach Art der christlichen Hölle (s.u. Abschn. IV. 1.2 und 2.2) nebeneinander, wobei in unserem Zusammenhang nur das Feuer als Strafmittel interessiert. Befristete Strafe bzw. Reinigung findet sich etwa bei Vergil (s. o. Abschn. 4.2); dies gilt auch für die Frevlerseelen bei Plato, der bereits eine Art feuriger Unterteufel kennt (Plato, rep. 10.615E-616A). Die zahlreichen Höllen des Buddhismus sind, je nach der Art der Strafe, heiß oder kalt. Die christliche Lehre vom feurigen Strafort beruht auf dem Neuen Testament (s.u. Abschn. III.4.3) und seinen alttestamentlich-jüdischen Voraussetzungen (s.u. Abschn. II. 4.3).
4.4. Eschatologischer Dualismus. Der mythische Dualismus (s.o. Abschn. 3.4), d.h. der Kampf zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis, wird besonders in altjüdischen (s.u. Abschn. II.4.4) und, davon abhängig, in neutestamentlichen Texten (s.u. Abschn. III.4.4) als Zeichen der Endzeit gedeutet. Dennoch bietet auch die außerbiblische Religionsgeschichte zahlreiche Parallelen. So erhofft der Parsismus eine endzeitliche Lustration der Welt durch Feuer, d.h. einen letzten Sieg des Lichts über die Finsternis (vgl. zur ¿KTtöpcoatQ der Stoa o. Abschn. 4.2). Gleichfalls eschatologisch ist der germanische Dualismus zwischen Licht- und Finsternismächten in der kosmischen Katastrophe des Ragnarök („Götterdämmerung", richtiger: „Schicksal der Götter"): Loki ermordet Balder, Fenrir verschlingt die Sonne, die Erde versinkt im Meer, und das Weltall vergeht in Rauch und Feuer (Völuspä). Auch hier ist der Sieg der Finsternis nur vorläufig; Balder
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wird aus dem Totenreich zurückkehren und eine neue Erde des Lichts, Heils und Friedens regieren. Den Texten der Gnosis zufolge wird am Ende der Gesandte der Lichtwelt alle Menschen von der Finsternis zum Licht erlösen und selbst ins Licht zurückkehren, während die gottlose Welt in Finsternis und Chaos versinken wird (Ginza R.T. 182,27-30; Mandäische Liturgien 97). 5. Licht und Feuer als Metapher und Symbol 5.1. Ethische und religiöse "Werte. In metaphorischer Rede begegnen Licht und Feuer vergleichsweise häufig. Während das Feuer durchweg ein Bild für verzehrende Kraft darstellt, etwa des Krieges (Homer, II.17,736f), der Anarchie (Euripides, Hec. 607f) und der Kampfeswut (Homer, 11.17,565), aber auch der Sehnsucht (Sophokles, El.888), eignet dem Licht die Bedeutung von Glück und Sieg; die homerischen Helden bringen bedrängten Kämpfern „Licht", d. h. Entsatz und Rettung (z. B. Homer, 11.6,6; 16,95f; 17,615; vgl. 15,741; 21,538).
Da Licht ein Geschenk der Gottheit ist, verleiht diese dem Frommen Wahrheit, Tugend und Heil, indem sie ihn „erleuchtet" (elXäßneiv)\ das gilt schon für Plutarch (mor. 2,77D: Q ev tcö (pikoooÖK)- Eine Unters, über hell. Frömmigkeit, zugleich ein Beitr. zum Verständnis des Manichäismus, 1915 (SHVU 17).
Otto Böcher II. Altes Testament und antikes Judentum 1. Licht und Feuer in der Natur 2. Licht und Feuer in der Hand des Menschen 3. Licht und Feuer in Mythos und Vision 4. Licht und Feuer in Jenseitsvorstellung und Eschatologie 5. Licht und Feuer als Metapher und Symbol 6. Zusammfassung (Literatur S. 97)
1. Licht und Feuer in der Natur Die grundsätzliche Identität von Licht und Feuer im Hebräischen wird durch die Sprachverwandtschaft von 'or („Licht", z.B. Gen 1 , 3 - 5 ) und 'ur („Feuer", z.B. Jes 31,9; vgl. 50,11) belegt; daneben begegnet für das Feuer die Vokabel 'es (z. B. Ex 22,5). Zwischen Feuer (LXX: nvp) und Licht (LXX: 4>ivi) sind daher die Übergänge fließend; die Feuersäule dient als Licht (Ex 13,21) und wird mit der Sonne verglichen (Weish 18,1-4), und „Israels Licht wird zum Feuer" (Jes 10,17). Feuer gilt als Inbegriff strahlenden Lichts (Nah 2,4; I Makk 6,39) oder als „Mutter" des Lichts (ShemR 15). Für die Frommen Israels ist Licht zunächst das Licht des Tages, das der Sonne verdankt wird, aber auch das Licht der Himmelskörper Mond und Sterne, die die Nacht erleuchten; weder die Gestirne noch das Licht erfahren kultische Verehrung, sondern werden auf Gottes Schöpfung zurückgeführt (Gen 1 , 3 - 5 . 1 4 - 1 8 ) . Die Sonne bleibt dem Licht untergeordnet; sie gilt als zeitlich später erschaffen (Gen 1,16). Gott selbst nennt das Licht Tag und die Finsternis Nacht (Gen 1,5); er schafft mit dem Rhythmus von Licht und Dunkel, Tag und Nacht ein Ordnungsprinzip für das Leben der Natur und des Menschen (vgl. Jer 31,35; 33,25; Am 4,13; 5,8; Ps 74,16f; 104,19-23; Hi 38,12f; 1 QS 10,1 - 1 4 ) . Auf solche Ordnung antwortet der Mensch mit Lob- und Dankgebeten (Ps 1 9 , 2 - 7 ; 104,1 f; 1 QS 10,1 f.9f); da der Morgen mit dem Aufgang der Sonne als eine Stunde der besonderen Freude und göttlichen Hilfe gilt (vgl. Jes 33,2; Zeph 3,5; Ps 5,4: 46,6 u.ö.), konnte das Morgengebet eine besondere Bedeutung erlangen, aber schon in der jüdischen Literatur als Gebet an die Sonne mißverstanden werden (Josephus, Bell 2,128 vom Morgengebet der Essener).
2. Licht und Feuer in der Hand des Menschen Die gemeinantike Vorstellung von der Ambivalenz des Heiligen läßt neben die Hochschätzung des Feuers die Angst treten; leicht kann aus der Flamme des Lichtes oder Herdfeuers der vernichtende Brand entstehen. Daher ist das Entzünden von Licht und Feuer am Sabbat (als dem von Saturn gefährdeten Dies criticus) verboten (Ex 35,3; vgl. Ex 12,16; ferner Josephus, Bell 2,147; Shab 2 , 5 - 7 ; bShab 70 a). Das Licht der Lampe ist ein Symbol menschlichen Lebens (Jer 25,10). Im Haushalt dient Feuer dem Heizen sowie dem Kochen, Braten und Backen (Ex 12,8; Jes 44,15 f; Jer 7,18; 36,22; II Chr 35,13 u.ö.). Als Mittel der Zerstörung wird Feuer im Krieg benutzt (Dtn 13,17; Jdc 20,48; Jer 21,10; Am 1,4; Ps 46,10), so daß die Feuerflamme als Bild für den Krieg gebraucht werden kann (Num 21,28; Jes 10,16; Ps 78,63). Eine wichtige Rolle spielen Licht und Feuer in Kult und Ritus. Zu den Geräten des Heiligtums gehören der siebenarmige Leuchter (Menora, Ex 25,31-40; 31,8; 35,14; Num 8 , 2 - 4 ; vgl. Sach 4 , 1 - 1 4 ) mit seinen „sieben Lampen" (Ex 25,37; Num 8,2 f) sowie täglich aufzusetzende, niemals verlöschende Öllampen, die Gottes Gegenwart im Stiftszelt bezeichnen (Ex 27,20 f par. Lev 24,2 f). Das nachbiblische Judentum kennt einen zum Laubhüttenfest gehörigen, ursprünglich zweifellos apotropäischen Fackeltanz (Suk 5 , 1 - 4 ) ; Fackeln werden beim Hochzeitszug mitgeführt (PesR 43). Die Sabbatlampe (BerR 11) soll, im Sinne homöopathischer Magie, durch ihre Sterngestalt den schädigenden Einflüssen des Saturns entgegenwirken (vgl. Shab 2 , 5 - 7 ) . Den acht Tagen des Chanukka-Festes entsprechen die acht Arme oder Dochte des - gleichfalls Menora genannten - ChanukkaLeuchters (vgl. bShab 2 1 - 2 3 ) . In der Tradition von Ex 27,20 par. Lev 24,2 steht das „Ewige Licht" (ner tamid) der Synagoge. Nicht verlöschen darf auch das Feuer des Brandopferaltars (Lev 6 , 2 - 6 ; I Esr 6,23 LXX). Opferfeuer und Brandopfer werden u.a. Gen 15,17; Lev 1,1-17; Num 2 8 , 1 - 3 1 genannt. Ein Opfer mit Feuer, das nicht vom Altar stammt, ist kultwidrig, unerlaubt und für den Opfernden tödlich (Lev 10,1-7; Num 3,4). Feuer als rituelles Reinigungsmittel für metallenes und sonst feuerbeständiges Gerät begegnet Num 31,22f; an einen (ägyptischen?) Sühnungsritus mit Feuer (Morenz 190f) dürfte Prov 25,21 f erinnern (vgl. Jes 6 , 5 - 7 ) . Der Feuertod der Unzuchtssünder (Gen 38,24; Lev 20,14; 21,9; Jer 29,22f; vgl. Gen 19,4-11.24f) soll die Reinheit der Gemeinschaft oder des Landes wiederherstellen; dasselbe gilt für die Verbrennung der Leiche eines Tabubrechers (Jos 7,25). Wichtiges Lustra-
Licht und Feuer II
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tionsmittel bleibt das Feuer auch in nachbiblischer Zeit (vgl. bSan 39 a nach Jes 66,15; ferner AZ 5,12; bAZ 76a u.ö. nach Num 31,22f). Licht und „Feuer" der Edelsteine (s. TRE 9,267 f) wirken apotropäisch. Deshalb gehören sie zum Ornat des Hohenpriesters, dem sie Glanz und Reinheit verleihen (Ex 28,6-12.15-21; 39,2-7.8—14). Mit der Wahl weißer Kleidung treten Priester und Asketen auf die Seite des Lichts und der lichtgewirkten Reinheit (Ex 28,39-43; 39,27-29; Lev 6,3; 16,4; Ez 44,17-19; TestLev 8,5 f; Arist 87; Philo, SpecLeg 1,82-85; VitMos 2,143; Josephus, Ant 3,151-158; 20,216f;Bell 2,123.129-131.137; 1 QM 7,9-12). 3. Licht und Feuer in Mythos
und
Vision
3.1. Gott (Jahwe), Messias. Wenn die alttestamentlichen und altjüdischen Texte Gottes Gestalt und Erscheinen beschreiben, geschieht dies in den Kategorien des Lichts und Feuers. In der Licht- und Feuerepiphanie Gottes fließen Phänomene des Gewitters (vgl. Jes 66,15; Ez 1 , 4 - 1 4 ; 43,2; Ps 2 9 , 3 - 9 ; 9 7 , 1 - 4 ; Hi 3 7 , 2 - 4 ) und des Vulkanismus (vgl. Ex 19,18; 2 4 , 1 5 - 1 7 ; Dtn 33,2; Jdc 6,21; Jes 4,5) zusammen, doch lösen sich vulkanische Vorstellungen früh vom H a f t p u n k t des Berges (Sinai, Zion), z. B. in der Tradition von der Präsenz Gottes als einer mitwandernden Wolkensäule bei Tag und Feuersäule bei N a c h t (Ex 13,21 f; 14,19f.24;Num 14,14; Jes 4,5; Ps 105,39; Neh 9,12.19; Weish 1 8 , 1 - 4 ) . Eine Licht- und Feuertheophanie ist auch die Erscheinung Jahwes bzw. seines Engels im brennenden Dornbusch (Ex 3 , 2 - 6 ) . D a ß Gottes „Herrlichkeit" (hebr. kabod, griech. öó£a [LXX], etwa: Machtfülle, Majestät) in gleißendem Licht und verzehrendem Feuer sichtbar wird, wissen alle Schichten des Alten Testaments (vgl. Ex 2 4 , 1 5 - 1 7 ; 40,34f; Dtn 5,24; Jes 4,5; 6,3; 40,5; Ez 1 , 2 6 - 2 8 ; 43,2). W ä h r e n d zufolge Ex 40,34 f die Wolke als schützende Decke den in seiner Heiligkeit gefährlichen Feuerkern des kabod umhüllt, setzt etwa Ex 13,21 f den kabod Jahwes mit der die Wanderer führenden Wolken- und Feuersäule gleich; für die Priesterschrift erscheint Gottes Herrlichkeit im Feuer, das die Stücke des Brandopfers öffentlich verzehrt (Lev 9,6.23 f). Da G o t t das Licht erschaffen hat (Gen 1,3—5; s . o . Abschn. 1), bleibt er Quelle des Lichts und des Lebens (Ps 36,10). Der H y m n u s preist ihn wie die Sonne selbst („Du hüllst dich in Licht wie in ein Kleid", Ps 104,2), doch wird zwischen den Himmelskörpern und ihrem Schöpfer deutlich differenziert (Ps 104,19). Dennoch wird die Sonne immer mehr zum Symbol und Repräsentanten Gottes (vgl. Jes 18,4; 60,19f); „wie die Morgenröte" wird J a h w e „ a u f g e h e n " (Jes 58,8; vgl. Jes 60,1 f)- Gleichsam von selbst wird aus dem sonnengleichen Lichtglanz der O f f e n b a r u n g Gottes das Feuer seines Gerichts (vgl. Jes 10,17; 18,4; 66,15f). J a h w e , der ein eifernder bzw. eifersüchtiger G o t t ist (Dtn 4,24), ist (wie) ein „verzehrendes Feuer" (Ex 24,17; Dtn 4,24; 9,3; Jes 10,17; 33,14; vgl. D t n 11,17); er verbrennt nicht nur die ihm dargebrachten Opfergaben (vgl. Gen 15,17; Lev 9,24; Jdc 13,20; I Reg 18,24.38; II C h r 7,1), sondern auch seine Gegner, und zwar mit feurigem Atem (Dtn 32,22; II Sam 22,9 par. Ps 18,9; Jes 33,11; 40,7 f; Ez 21,36; 22,20 f; IV Esr 13,10) oder mit Feuer vom Himmel (Gen 19,24; Ex 9,24; II Reg 1,10; vgl. Lev 10,2; N u m 11,1; 16,35). Insbesondere die Propheten lassen J a h w e sowohl die Feinde Israels (Jer 43,12; Am 1,4.7 u. ö.) als auch das ungehorsame Israel mit Feuer bedrohen (Jer 11,16; 17,27; Ez 15,7; H o s 8,14; Am 2,5 u . ö . ; vgl. u. Abschn. 4.2). Eine Sonderstellung nehmen die Belege I Reg 8,12 und 19,1 l f ein. Zufolge des sog. Tempelweihspruches Salomos (I Reg 8,12 par. II C h r . 6,1) will J a h w e im (Wolken-) Dunkel (' Muttergottheiten) Istar/Astarte, die als „die Göttin" schlechthin bezeichnet wurde, der Baal und die Anat von Ugarit, die äyptische Hathor, die germanische Frigg/Freia - , sie alle waren zugleich Göttinnen und Götter der Fruchtbarkeit, und alle Riten, die man vollzog, einschließlich des Hieros Gamos, der Heiligen Hochzeit, galten der Fruchtbarkeit der Felder, der Tiere und der Menschen. In einem Text aus der Zeit des Königs Schulgi (2093 - 2 0 4 6 v. Chr.; BiOr 11 [1954) 86] übernimmt der sumerische König die Rolle des Fruchtbarkeitsgottes Dumuzi und vollzieht mit der Priesterin den Ritus der Heiligen Hochzeit, um seinem Lande Leben, Fruchtbarkeit und eine gute Regierung zu sichern. „Der König, der Gott, weilt dort (im Palast) mit ihr/Daß sie das Schicksal der Länder entscheide", heißt es in einem sumerischen Liebeslied, das die Priesterin zu Ehren ihrer Göttin anstimmt (A. Falkenstein/W. von Soden, Sumerische u. Akkadische Hymnen u. Gebete, Zürich/Stuttgart 1953,18.96). Die sexuelle Vereinigung, die Göttervereinigung, ist also nur Metapher für eine Liebe, die die Götter den Menschen zukommen lassen. Die physisch-sexuelle Liebe wird durch das rituelle Geschehen in eine numinose Wirklichkeit transformiert, welche auf Leben und Wohlergehen der Gläubigen zurückwirkt: Der Eros, der Liebesakt und die Zeugung, wie ihn die Götter im Mythus
Liebe I
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vollziehen und die Herrscher im Ritus nachahmen, bedarf nur der Transformation, um ihn zur Schulchan Aruk (leicht zugänglich in dem Kompendium Kizzur Schulchan Aruk, vgl. Kap. 143,145,
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Liebe III
150, 165) bis in die Gegenwart, wenigstens unter den strenggläubigen Juden, höchste Autorität genießt. Auch wenn einzelne Juden in den vielfältigen Situationen und unter den verschiedenen Einflüssen (besonders christlich, moslemisch), namentlich im mittelalterlichen Spanien (Epstein, Concubinage; Borowitz 147-152) und in der Renaissance (Shulvass 163-166), vom Ideal abwichen, wenn nichtjüdische Vorstellungen, wie z.B. die von der ritterlichen Minne einen gewissen Einfluß ausübten (Harris, Love), wenn Philosophen und Moralisten aristotelischer und neuplatonischer Richtung eine wenig positive Haltung der -»Sexualität gegenüber einnahmen (Epstein, Sex Laws 20—22) und wenn die Verheiratung minderjähriger Mädchen (unter 12 Jahren) bisweilen geduldet wurde (Friedman 86; Shulvass 160), so haben doch die im folgenden anhand der klassischen Quellen dargestellten Grundsätze für die überwiegende Mehrzahl der Juden im Mittelalter (vgl. immer noch Abrahams) und bis in die neue Zeit als Richtschnur gegolten. Ein beredtes Beispiel dafür sind für den Mittelmeerraum des 1 0 . - 1 3 . Jh. zahlreiche Dokumente aus der Kairoer Geniza (Goitein), für das Deutschland des 17./18. Jh. die Memoiren einer verwitweten Jüdin, der Glücket von Hameln. Heute steht das Judentum oft vor ähnlichen Problemen wie seine Umwelt (Borowitz, Sex Ethic; Gordis, Love). - Die Fortschritte, die im Mittelalter gegenüber der talmudischen Zeit erzielt wurden (Friedman 83), betreffen vor allem die Stellung der -»Frau in der Ehe; diese wurde nicht zuletzt durch die für die Frau jetzt günstigere Regelung bei der -»Ehescheidung (Ehe/Eherecht/Ehescheidung) und durch die bei den aschkenasischen Juden erfolgte Abschaffung der Polygamie gefestigt. Das Aufkommen der -»Kabbala hatte eine vertiefte Auffassung von der ehelichen Beziehung und der Sexualität zur Folge (Guberman; Mopsik; Scholem 256; Tischby 6 3 7 - 6 4 6 ; mit Bezug auf den Sabbat Ginsburg): Eine gute Ehe verwirklicht nach verschiedenen mystischen Auffassungen symbolisch die Vereinigung Gottes mit der Schechina und trägt bei zur Harmonie der Sefirot und des Kosmos. 2.2. Wichtige Rechte und Pflichten der Ehepartner werden in der Heiratsurkunde (Ketubba), die der Mann seiner Frau bei der Eheschließung aushändigt, festgelegt. Dieses Dokument, das in erster Linie der Vermögensregelung und somit der materiellen Absicherung der Frau für den Fall einer von ihr nicht verschuldeten Scheidung oder für den Fall des Todes ihres Gatten dient, enthält auch die drei von den Rabbinen aus Ex 21,10 abgeleiteten Grundpflichten des Mannes seiner Frau gegenüber: Ernährung, Kleidung, ehelicher Verkehr. Während die traditionelle Ketubba vom Standpunkt des Mannes aus formuliert ist und die Zustimmung der Frau stillschweigend voraussetzt, beziehen einige Ketubbot des Mittelalters (Friedman 8 4 - 8 6 ) die Frau als Gefährtin und Partnerin des gemeinsamen Bundes (Mal 2,14) direkt mit ein; so wird z. B. die Frau um die Zustimmung zu ihren Verpflichtungen, besonders als Mutter, gebeten, oder es wird ausdrücklich festgestellt, daß sie einverstanden ist. - Was den ehelichen Verkehr betrifft, so spricht die -•Halacha zuächst davon, wie oft man diese Pflicht erfüllen soll; ausschlaggebend sind vor allem Beruf und gesundheitliche Verfassung des Mannes (mKet 5,6; Maimonides, Hilkot 'Isüt 14,1). Aber auch die Art und Weise ist von Bedeutung: „Man muß seiner Frau bei der Ausübung der Pflicht Freude machen", auch außerhalb der festgesetzten Zeit (bPes 72b mit Raschi; H. 'Isüt 15,17). Der Talmudgelehrte soll die eheliche Pflicht am Vorabend des Sabbats erfüllen (bKet 62 b), „weil dies eine Nacht des Vergnügens, der Ruhe und des körperlichen Genusses ist" (Raschi). Das eheliche Leben unterliegt auch Vorschriften, die im Zusammenhang mit Menstruation und Geburt stehen (das heutige Reformjudentum hält ihre Beobachtung nicht für notwendig) und die nicht allein halachische Fragen von rein und unrein betreffen. Die Tora habe für die menstruierende Frau sieben zusätzliche Tage als Reinigungsperiode bestimmt, um zu verhindern, daß die Frau ihrem Mann alltäglich werde. Nach den Tagen der Entbehrung soll sie ihm so lieb sein wie zu der Zeit, als sie zum ersten Mal das Brautgemach betrat (bNid 31 b). Um die eheliche Liebe zu schützen, haben die Rabbinen im Anschluß an das Gebot des Dekalogs eine Reihe von Weisungen gegeben, die einen Ehebruch schon „im Herzen" verhindern sollen (vgl. Bill, zu Mt 5,28).
Liebe III
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Die Gesetze, welche die Beziehungen zwi2.3. Gott, der Dritte im Liebesverhältnis. schen Mann und Frau und das gesamte Familienleben regeln, gelten als von Gott gegeben. Gott hat aber den Menschen nicht etwas auferlegt, was ihn selbst nicht berührte; von Beobachtung bzw. Vernachlässigung seiner Gebote ist er selbst betroffen. Daß Gott „der Dritte in jedem Liebesverhältnis" (Kierkegaard 134) ist, haben die Rabbinen in vielfacher Weise zum Ausdruck gebracht. So hat Gott seinen Namen (]H) in den Bezeichnungen für Mann ('Js) und Frau {'sH) eingeschrieben; wenn sie seine Gebote befolgen, wohnt er in ihrer Mitte, wenn nicht, zieht er sich zurück, und sie werden zu 's, einem Feuer, das sie verzehrt (bSot 17a). Nach einer Midrasch-Auslegung zu den Pluralformen von Gen 1,26 spricht Gott zu Vater und Mutter (Adam und Eva): „,Laßt uns einen Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis'; also [wird] weder der Mann ohne die Frau [zeugen], noch die Frau ohne den Mann, noch beide ohne die Schechina" (BerR 8,9). Bei einem Ehebruch haben der Mann und die Frau ihr Vergnügen, Schaden aber leidet Gott (PesR 24,2); zwei Männer sind es, welche die Ehebrecherin verleugnet, ihren Ehemann und Gott (BemR 9,2 zu Num 5,12). Wenn die erste Frau verstoßen wird, vergießt auch der Altar Tränen (bGit 9 0 b zu Mal 2,13 f). 2.4. Das Ideal der Liebe zwischen Mann und Frau. Im folgenden sollen einige haggadische Aussagen angeführt werden, die das Ideal der Liebe zwischen Mann und Frau (besonders der ersten Frau) erkennen lassen, die im jüdischen Schrifttum immer wieder zitiert werden. Es heißt: „ B e v o r ein M a n n heiratet, ist seine Liebe seinen Eltern zugewandt; hat er geheiratet, wendet sich seine Liebe seiner Frau z u " ( P R E 3 2 ) . „ W e r keine Frau hat, lebt o h n e Freude, o h n e Segen, o h n e G ü t e , o h n e T o r a , o h n e Umgebung (Schutz?), ist o h n e Hilfe, o h n e Sühne, o h n e Frieden, o h n e Leben . . . " (bYev 6 2 b - 6 3 a ; B e r R 17,2). Von der Frau gilt: „ D i e Frau ist [vor der Ehe wie] eine f o r m l o s e M a s s e und schließt ein Bündnis nur mit d e m , der sie zu einem G e f ä ß m a c h t , wie es heißt (Jes 5 4 , 5 ) : ,Dein M a n n ist dein S c h ö p f e r ' " (bSan 2 2 b ) . In einer ergreifenden Erzählung spricht eine Frau zu ihrem M a n n : „ E s gibt nichts in der Welt, was ich lieber habe als d i c h " (ShirR 1,4). „ D a s H a u s eines M a n n e s ist seine F r a u " ( m Y o m 1,1; b S h a b 1 1 8 b ) . „ W e r seine F r a u liebt wie seine eigene Person und sie m e h r als seine eigene Person ehrt, von dem heißt es (Hi 5 , 2 4 ) : ,Du darfst gewiß sein, d a ß Friede in deinem Z e l t e w o h n t ' " (bYev 6 2 b ) . „ , D e r F r o h g e m u t e hat ständig Feiertag' (Prov 15,15), das ist derjenige, der eine gute Frau h a t " ( b B B 145 b). „ D i e Freude des Herzens ist die F r a u " ( b S h a b 152 a). „ S i e bringt seinen Augen Licht, gibt seinen Füßen K r a f t " (bYev 63 a). „ N u r um der Frau willen w o h n t Segen im H a u s " ( b B M 5 9 a ) . „ W i e trefflich ist d o c h eine gute F r a u , d a ß die T o r a mit ihr verglichen w i r d " (bYev 6 3 b ) . „ W e n n eine F r a u von ihrem M a n n verstoßen wird, ergeht ihr R u f e n von einem Ende der Welt bis zum anderen, die S t i m m e a b e r wird nicht v e r n o m m e n " ( P R E 3 4 ) . „ W e n n einem seine erste Frau stirbt, widerfährt ihm so Schweres, als w ä r e der Tempel in seinen eigenen Tagen zerstört w o r d e n " (bSan 2 2 a). „ W e n n einem seine Frau stirbt, wird es finster um ihn in der Welt, seine Schritte werden verkürzt, sein R ü c k g r a t bricht z u s a m m e n " (ebd.). „ F ü r alles gibt es einen Ersatz, außer für die F r a u der J u g e n d " (ebd.). „ D e r M a n n stirbt nur seiner Frau, und die Frau stirbt nur ihrem M a n n " (bSan 2 2 b ) .
3. Liebe zu den
Kindern
Da Gott der Partner im Bunde bei der Zeugung eines Kindes ist, hat auch das Kind eine unveräußerliche Würde und verdient stets Achtung und Liebe. „Die Liebe zu den Kindern hat er (Gott) in ihr (der Eltern) Herz gelegt" (QohR 3,11). Kinder werden von den Eltern herbeigesehnt und als Geschenk Gottes betrachtet (Ps 127,3). Leidvoll ist es, wenn sie ausbleiben: „Wer keine Kinder hat, gleicht einem Toten" (bNed 64 b). Kinder festigen die Ehe, im besonderen die Stellung der Frau. Sobald eine Frau Kinder hat, kann sie in Anlehnung an Gen 4,1 sagen: „Jetzt habe ich mir meinen Mann erworben" (BerR 22,2). 3.1. Pflichten gegenüber den Kindern. Aus Liebe zu den Kindern übernehmen die Eltern Pflichten im Hinblick auf deren körperliche und geistig-religiöse Erziehung. Im Elternhaus wächst das Kind in das praktische Leben hinein und wird zur Erfüllung der Gebote erzogen (tHag 1,2), hier üben die Eltern mit ihm das liturgische Beten (tPes 10,7), hier erlebt es die Feste mit und wird in das Leben der Gemeinde eingeführt. Während die Mutter ihre Tochter auf ein künftiges Leben als Ehefrau und Mutter vorbereitet, hat der
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Vater dafür zu sorgen, daß der Sohn einen praktischen Beruf erlernt, vor allem aber dafür, daß er in der Tora unterwiesen wird, denn „sie wird ihn in seiner Jugend vor allem Bösen bewahren und ihm in seinem Alter Zukunft und Hoffnung geben" (mQid 4,14). Die Unterweisung in der Tora beginnt im frühesten Alter. „Sobald ein kleiner Junge zu sprechen beginnt, soll sein Vater mit ihm in der heiligen Sprache reden und ihn Tora lehren; wenn er mit ihm nicht in der heiligen Sprache redet und ihn nicht Tora lehrt, so ist ihm dies anzurechnen, als würde er ihn begraben" (SifDev 46). Entscheidend bei der Erziehung ist das Vorbild der Eltern, denn „wenn ein Mensch gerecht ist, sind auch seine Hausgenossen gerecht wie er" (PesR 3 [9b]). Dem Vater wird nahegelegt, in häuslichen Angelegenheiten nach dem Rat seiner Frau zu handeln (bBM 59 a), denn „sie (die Frauen) ziehen unsere Kinder groß und bewahren uns vor Sünde" (bYev 63 a - b ) . Er soll kein Kind einem anderen vorziehen (bShab 10 b) und in seinem Hause keine übermäßige Strenge walten lassen (bGit 6 b); als Grundsatz im Umgang mit Frau und Kindern gilt: „Man stoße stets mit der Linken fort und ziehe mit der Rechten wieder heran" (bSot 47 a). Insgesamt soll er Frau und Kinder gut behandeln, ja sogar besser, als es ihm seine Möglichkeiten erlauben (bHul 84b). Der Alltag der Erziehung war für Kinder und Eltern oft hart; die Quellen sprechen bisweilen von der „Qual der Kindererziehung" (z. B. bShab 89 b), und ein alter Meister sagte: „Mit der Erziehung seines Sohnes muß sich der Mensch bis zu dessen 13. Lebensjahr beschäftigen; von da an sage er: .Gepriesen sei [Gott], der mich von der Verantwortung für diesen befreit hat!'" (BerR 63,10). Auch in diesen Worten äußert sich elterliche Liebe, denn „Liebe ist Verantwortung eines Ich für ein Du" (Buber 88). 3.2. Verantwortung für die Kinder und Kindeskinder. Auch nach der Volljährigkeit der Kinder bleibt die moralische Verantwortung der Eltern ihnen gegenüber bestehen, besonders als Pflicht, sie zurechtzuweisen: „Liebe, mit der sich nicht Zurechtweisung verbindet, ist keine Liebe" (BerR 54,3). Wer das Vergehen eines Familienmitglieds verhindern könnte und dies unterläßt, wird von Gott für eben dieses Vergehen zur Rechenschaft gezogen (bShab 54 b). Sicher hat auch die rabbinische Lehre vom Verdienst der Väter (vgl. WaR 36,4-5) und dem der Gerechten zur Festigung der Solidarität in der Familie beigetragen. Die Verdienste der Gerechten kommen den Kindern und Kindeskindern zugute, bis zum Ende aller Geschlechter (bYom 87a). Vom Verdienst der Kinder, das ihren Eltern zuerkannt wird, sprechen die Quellen weniger. Es heißt aber, daß das Verdienst der Kinder bis auf vier Generationen zurückwirkt (Midr. Hashkem: Torah Shelemah 169 zu Ex 20,5), ja sogar den Vater aus dem Gehinnom befreien kann (QohR 4,1). Dagegen wurde die Auffassung, daß Schuld übertragen und an den Nachkommen geahndet wird, von den Rabbinen weitgehend abgelehnt (vgl. die Kommentare zu Ex 20,5). 4. Liebe zu den Eltern Das Gebot der Elternliebe wird in der Schrift an den zwei folgenden klassischen Stellen formuliert: Ex 20,12 (Dtn 5,16): „Ehre deinen Vater und deine Mutter" und Lev 19,3: „Jeder von euch soll vor seiner Mutter und seinem Vater Ehrfurcht haben". 4.1. Gleichstellung der Pflichten gegenüber Gott und gegenüber den Eltern. Charakteristisch für die Liebe zu den Eltern ist, daß sie mit der Liebe zu Gott gleichgestellt wird (vgl. die rabbinischen Auslegungen in MekhSh, MekhY, Sifra, PesR 23/24). So wie Gott geboten hat, ihn selbst zu ehren (Prov 3,9), vor ihm Ehrfurcht zu haben (Dtn 6,13) und ihm nicht zu fluchen (Lev 24,15), so hat er auch geboten, die Eltern zu ehren (Ex 20,12), vor ihnen Ehrfurcht zu haben (Lev 19,3) und ihnen nicht zu fluchen (Ex 21,17). (Aus einem Vergleich zwischen Prov 3,9 und Ex 20,12 ergebe sich sogar, daß Gott die den Eltern geschuldete Ehrerbietung höher stelle als die ihm selbst gebührende.) Gott hat zusammen mit den Eltern dem Kind das Dasein geschenkt; wo Menschen Vater und Mutter ehren, spricht er daher: „Ich rechne es ihnen an, als ob ich unter ihnen wohnte und sie mir Ehre erwiesen"; wo sie Vater und Mutter kränken, spricht er: „Gut, daß ich nicht bei ihnen
Liebe III
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w o h n e , denn wenn ich bei ihnen wohnte, würden sie auch mich k r ä n k e n " (bQid 30b-31a). 4.2. Gleichstellung von Mutter und Vater. Im Wortlaut des Gebotes, das die Eltern zu ehren befiehlt, wird der Vater vor der M u t t e r genannt. Der Mensch neigt nach rabbinischer Ansicht dazu, seine M u t t e r mehr zu ehren als seinen Vater, weil sie ihm mit sanften Worten gut zuredet. Damit der Vater nicht zurückgesetzt wird, habe G o t t ihn in diesem Gebot hervorgehoben. Anders ist es bei dem Gebot der Ehrfurcht; hier steht die M u t t e r vor d e m Vater. Der Mensch habe mehr Ehrfurcht vor seinem Vater als vor seiner M u t t e r , weil jener ihn in der Tora unterweist. Deshalb habe G o t t in diesem Gebot die M u t t e r vorangestellt. Indem aber die Schrift in Lev 19,3 von der üblichen Reihenfolge abweicht und zuerst die M u t t e r e r w ä h n t , wolle sie damit sagen, d a ß beide von gleichem Rang sind. Um des Friedens in der Familie willen haben die Rabbinen jedoch dem Vater größere Autorität zuerkannt (mKer 6,9). - Worin liegt nun nach den Rabbinen der Unterschied zwischen Ehrfurcht und Ehrerbietung? Ehrfurcht verbietet H a n d l u n g e n , die mangelnde Achtung vor den Eltern zeigen. So soll man ihnen z. B. nicht widersprechen. Ehrerbietung dagegen besteht in positiven Taten, wie Sorge f ü r N a h r u n g und Kleidung und Übernahme von Arbeiten (bQuid 31 b). Die Pflichten, die sich aus dem G e b o t der Elternliebe ergeben, machen es zu einem der schwersten Gebote (DevR 6,2). In den Quellen werden dazu nicht ohne H u m o r verschiedene Beispiele angeführt (z. B. bQid 31 a - b ) . Rabbi Zeira hatte sich früher gegrämt und gesagt: „Ach, hätte ich nur noch Vater und M u t t e r , so könnte ich sie ehren und dadurch das Paradies erlangen!" Als er aber hörte, wie schwierig es sei, das Gebot zu befolgen, rief er aus: „Gelobt sei der Barmherzige, d a ß ich weder Vater noch M u t t e r habe!" (yQid 1,7 [61 b]). Ehrerbietung ist man seinen Eltern aber auch noch nach deren Tod schuldig (bQid 31b); hier erweist sich die Liebe zu ihnen als aufrichtig und wahr, weil sie uneigennützig ist (BerR 96 zu Gen 47,29).
5. Liebe unter Geschwistern
und
Verwandten
Von den Pflichten zwischen Geschwistern und Verwandten handeln die rabbinischen Quellen vorwiegend in rechtlichem Z u s a m m e n h a n g (Erbschaftsangelegenheiten, Zeugenschaft, verbotene Ehen, Leviratsehe bzw. Chaliza); über den rechtlichen Bereich hinaus finden sich auch sittliche M a h n u n g e n , wie etwa diejenige, Verwandten in materieller N o t beizustehen oder verwaisten M ä d c h e n eine Heirat zu vermitteln. Z u w e n d u n g und Liebe zwischen Verwandten, besonders Blutsverwandten, galt als selbstverständlich. Ein Gleichnis, das in erster Linie auf Tod und Geburt angewendet w u r d e , spricht von der Zusammengehörigkeit aller Glieder einer Familie und der Wertschätzung jedes einzelnen: „Eine Familie gleicht einem H a u f e n aufgeschichteter Steine; nimmst du einen Stein davon weg, so geraten sie alle ins Rollen, legst du einen Stein d a r a u f , so bleiben alle fest" (BerR 100,7). Wie stark die Bande des Blutes e m p f u n d e n werden, zeigen f ü r das Mittelalter zahlreiche Briefe aus der Kairoer Geniza, in denen vor allem die Liebe zwischen Brüdern, aber auch zwischen Brüdern und Schwestern und zum Sohn der Schwester oft ergreifend zum Ausdruck k o m m t (Goitein 1 5 - 3 3 ) . Auch die damals häufig v o r k o m m e n d e Ehe zwischen Cousin und Cousine sowie die von den Rabbinen empfohlene (bYev 62 b) Ehe mit der Nichte (sie k a m selten vor) unterstreicht die engen Bande zwischen Verwandten. Wenn der Verwandte trotz seiner Fehler bejaht wird, so sieht man d a r a n , d a ß die Liebe echt ist. Uber den berühmten G a o n Daniel ben Azarja (11. Jh.) schreibt sein Bruder in einem Brief (Goitein 15 f): „Von dem Augenblick an, da er hier a n k a m , hat er jeden meiner Kollegen und Freunde in wohlbekannter Weise gedemütigt. Dennoch ist es meine Pflicht, ihm gegenüber rücksichtsvoll zu sein und alles, was er mir antut, zu ertragen, da zu solchen Verhalten niemand eine größere Verpflichtung hat als ich - möge G o t t ihn bewahren - , o b er nun recht oder unrecht h a n d e l t . " Der Brief endet: „Er ist mein Bruder, selbst wenn er mir die Knochen bricht".
138
Liebe IV
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IV. Neues Testament 1. Vorbemerkung 4. Johanneische Schriften
1.
2. Synoptische Evangelien 3. Paulus und die Deuteropaulinen 5. Zusammenfassung (Literatur S. 145)
Vorbemerkung
,Liebe' bezeichnet in der deutschen Sprache die somatisch, psychisch oder ethisch motivierte Zuneigung zu Personen. Übertragen bezieht sie sich auch auf die Zuneigung zu Sachen, zu Ideen und zu G o t t . Entsprechend den verschiedenen Motivationen gibt es auch verschiedene Lebensbereiche, die als von Liebe durchdrungen oder ihr zugehörig verstanden werden: 1. (stark somatisch geprägt) der Bereich körperlichen Wohlgefallens wie körperlicher Leidenschaft; 2. (stark psychisch geprägt) die verschiedenen verstehenden und anteilnehmenden Verhaltensformen von Mitleid, Trost, Erbarmen, Verantwortung, Sorge, Schutz, Gewaltlosigkeit, Eintracht, Friede; 3. das (überwiegend ethisch geprägte) Feld der Hilfeleistungen wie Gastfreundschaft, Almosenwesen, Barmherzigkeit im tätigen Sinne von Diakonie und Caritas, Fürsorge und Krankenpflege.
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Diese Verhaltensformen können sich zu mehr oder weniger festen Zusammenschlüssen organisieren: -»Freundschaft, Bünde, Vereinigungen, -»Ehe, -»Familie, Sippe usw. Für diesen deutschen Begriff,Liebe' hat das Neue Testament aus dem griechischen Wortfeld von äyänrj usw., Ipüiq usw., atopyr] usw., oo/mäSeia usw., (pikia usw. nach der Vorgabe von L X X ('hb = äyan-) den griechischen Stamm äyan- ausgewählt, der anders als die bekannteren Vokabeln epcog, (pikia, avpnaQeia nur allgemeine Zufriedenheit, Zuneigung, Verbundenheit ausdrückt. Einzig (pikia usw. im Sinne von „freundschaftlicher Verbundenheit" spielt neben äyan- noch eine untergeordnete Rolle im Neuen Testament. äyan- selbst erfährt im Neuen Testament nach dem Vorbild der L X X eine grundlegende Aufwertung gegenüber dem gemeingriechischen Sprachgebrauch und deckt die zentralen Bedeutungsinhalte von „Liebe(n)" als der Zuneigung von Menschen zueinander, der Zuneigung Gottes zu den Menschen und umgekehrt ab. Eine Darstellung der Liebe im Neuen Testament wird also eine Darstellung der Bedeutungen von äyänrj, äyanäv, äyanrjzöq im Neuen Testament sein. 2. Synoptische
Evangelien
Eine Darstellung der Liebe in den synoptischen Evangelien muß stets berücksichtigen, daß diese Schriften aufgrund verschiedenen Traditionsmaterials und mit unterschiedlicher Akzentuierung von Jesus berichten. Bei Mk heilt und speist Jesus die Menschen als Ausdruck der ankommenden Gottesherrschaft, die er zugleich ankündigt und eröffnet. Demut bestimmt seinen Weg (9,33ff; 10,42ff), der ins notwendige Leiden und Sterben führt. Mt und Lk zeigen Jesus überdies als Lehrer und Prediger. Sie fügen dem Mk-Stoff die Q-Tradition und ihr jeweils eigenes Sondergut hinzu. Die Logienquelle Q behandelt die ethische Weisung Jesu ausführlich. Mt und Lk ergänzen diesen Stoff noch jeweils. 2.1. Liebe im allgemeinen Sinne begegnet öfter auf Jesu Weg. Während Jesus die eigene Familie zurückweisen kann (Mk 3,31 ff), jammert ihn die Menge (6,34). Er nimmt kleine Kinder liebevoll auf den Arm und mißt ihnen besondere Bedeutung bei (Mk 9,36; 10,13-16), er liebt (ijyänrjOEV Mk 10,21) den .reichen Jüngling' und redet seine Jünger als xmva an (Mk 10,24). Seine Jüngerschar versteht er als Dienstgemeinschaft (Mk 9,33 ff; 10,24ff), die Schar derer, die ihm glaubt bzw. nachfolgt, als seine Familie (Mk 3,34f). Die Liebe zwischen Mann und Frau versteht Jesus, der selbst ehelos bleibt, als Schöpfungsordnung und erklärt zugleich die -»Ehe von ihrer religiösen Bedeutung her als unauflöslich (Mk 10,1-12). Einer einzelnen -»Frau kann er sehr verständnisvoll begegnen (Mk 14,3-9). Frauen wenden sich an ihn (Mk 5,25 ff), sie unterstützen ihn und begleiten ihn bis nach -»Jerusalem. Sie erleben seinen Tod mit (Mk 15,40f), betrauern ihn und sind die ersten Zeuginnen des Ostergeschehens (Mk 16,1-8). Gott selbst kann Jesus als ,Vater' erklären (Mt 5,45; 6,8). Liebevoller Umgang, gegenseitige Anteilnahme, Annahme und Hilfe vor dem Hintergrund und nach dem Maßstab des kommenden Gottesreiches (-»Herrschaft Gottes) bestimmen also Jesu Verhalten und Weisung. Mt und Lk bringen Konkretionen und Ergänzungen zur ethisch motivierten Liebesforderung: Barmherzigkeit im allgemeinen Sinne von praktischer Hilfe, Almosengeben und Leihen (Lk) und Gewaltverzicht, Verzicht aufs Richten und pfleglicher verbaler Umgang miteinander (Mt). 2.2. Diese (und andere) ethische Themen unter dem Stichwort „der -»Nächste" bzw. „Nächstenliebe" zu subsumieren (Braun 93 ff), würde im Ansatz den topischen Charakter der Spruchweisheit, zu der Jesu Weisung ebenso wie Teile der paulinischen -»Paränese gehören und den die Synoptiker trotz der -»Bergpredigt/Feldrede und trotz systematisierender Begriffe wie -»Gerechtigkeit (Mt) und -»Barmherzigkeit (Lk) bewahrt haben (Burchard, Jesus 1 2 - 5 8 , besonders 27-29), verzeichnen. In diesen Rahmen müssen vielmehr die Aussagen der synoptischen Evangelien über die Liebe im engeren und expliziten Sinn (Bedeutungsträger äyan-) eingezeichnet werden.
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Liebe IV
Sie konzentrieren sich auf vier Bereiche: 2.2.1. Jesus ist Gottes oiög äyanrjTÖq (Mk 1,11 par.; 9,7 par.). Dieses Jesusprädikat hat seinen festen traditionsgeschichtlichen Sitz in den Berichten über -•Taufe und Verklärung Jesu (vgl. D. Lührmann: Mk [HNT 3], 1987,38). Es klingt an Jes 42,1ffLXX oder an Ps 2,7 an, kann aber auch ein ganz eigener, wenn auch alttestamentlich beeinflußter Titel sein; vgl. Mk 12,6 par. Eindeutiger ist das Zitat aus Jes 42,1 LXX in Mt 12,18, wo Jesu Heilungstätigkeit im Stillen durch den Rückgriff auf den Gottesknecht, den Gott erwählt, gedeutet wird (äyant]TÖ{; vielleicht von der Taufgeschichte eingetragen). Wenn die Menschen mehrfach im Sinne der weisheitlichen Schöpfungstheologie als oioi Qeod bezeichnet werden (Mt 5,9.45; Lk 20,36), dann steht dahinter die ebenfalls jüdische Vorstellung, Gott liebe die Menschen seines Wohlgefallens. 2.2.2. Umgekehrt gilt die Liebe zu Gott (Dtn 6,5) als erstes -»Gebot (e'vrohj npdirtj Mk 12,29; evcokrj pizyah] Mt 22,35; Lk 10,25 als Zugang zum ewigen Leben). Mk zitiert Dtn 6,5 zusammen mit dem Schema Israel (12,29), das bei Mt und Lk fehlt. Mk 12,28-34 läßt sich am ehesten als einheitlicher Argumentationszusammenhang verstehen, der im Rahmen jüdisch-hellenistischer Theologie das Schöpfertheologumenon an den Anfang der Theologie stellt und daneben Frömmigkeit und -» Gerechtigkeit als leitende Bestrebungen des alttestamentlichen Gesetzes versteht (vgl. Berger; Bornkamm; Burchard, Liebesgebot; Wischmeyer, Nächstenliebe). Weder Schema Israel noch Liebe zu Gott werden sonst in den synoptischen Evangelien angesprochen. Bei Paulus begegnet I Kor 8,1 - 3 eine indirekte Paraphrase von Dtn 6,5. Nur Lk 16,13 wirft noch Licht auf die — nach Dtn 6,5 selbstverständliche - Pflicht zur Gottesliebe: sie wird als Dienst (öooXeoeiv) aufgefaßt. Das hinter Mk 12 par. stehende Gesetzesverständnis ist einerseits dem palästinischen Judentum fremd, andererseits artikuliert es sich in alttestamentlichen Zitaten. 2.2.3. Die Forderung der Gottesliebe Mk 12,28 ff par. ist wohl von Anfang an mit der Forderung der Nächstenliebe verbunden gewesen (mit Burchard, Liebesgebot und Lührmann, Mk 206, gegen Berger). Diese zweite Forderung zitiert ebenfalls die Tora: Lev 19,18. Wenngleich so weder im Judentum direkt zitiert noch häufig inhaltlich umschrieben, gibt das sog. Doppelgebot doch Tendenzen des hellenistischen -»Judentums wieder: -»Monotheismus, opferlose Gottesverehrung und Zusammenfassung des Gotteswillens als Grundverpflichtung der Menschen gegenüber Gott und den Mitmenschen. Zugleich aber markiert Mk die Grenze: In Gottes- und Nächstenliebe erfüllen die Menschen zwar Gottes Willen nach der Tora, dennoch erfüllen sie nicht Gottes ganzen Willen, solange sie nicht „die Nähe des Reiches Gottes im Wort Jesu" (Lührmann, Mk 207) anerkennen: Mk 12,34. Das Doppelgebot ist also die Brücke zwischen Judentum und Christentum. „Es bezeichnet das Juden und Christen Einende" (Becker, Feindesliebe 15), nicht aber ist es die Erfüllung der Weisung Jesu. Die Nächstenliebe selbst begegnet noch in den Antithesen Mt 5,43 (fehlt bei Lk 6,27) im Zusammenhang der Darstellung der besseren Gerechtigkeit (5,20) anhand von kritisch diskutierten Torasprüchen (Dekalogsätze, Sätze aus dem Heiligkeitsgesetz). Hier ist die Nächstenliebe Teil der Tora (-»Gesetz), die Jesus durch sein neues Gebot der Feindesliebe zwar nicht aufhebt, aber doch ihrer grundlegenden Bedeutung entkleidet. Ebenfalls neben den -»Dekalog stellt Mt das Gebot der Nächstenliebe Mt 19,19 (fehlt Mk 10,19; vgl. aber Rom 13,9: dort auch Dekalogsätze und Nächstenliebe). Auch hier sind Dekalog und Nächstenliebe wohl unbestrittene Tora, nicht aber das Eigentliche der Forderung Jesu: -»Armut und -»Nachfolge. Eine Definition der Nächstenliebe bieten die Synoptiker nicht. Das Alte Testament bezieht grundsätzlich re'ä, —»Nächster, auf den Volksgenossen, aber auch persönlich auf den Freund, Geliebten usw. Wenn das Frühjudentum die griechische Übersetzung der Vokabel re'ä mit dem entgrenzenden ö nAtjcriov, „der Nahe, der Mitmensch", wählte, so war damit eine Bedeutungserweiterung und Individualisierung gegeben. Trotzdem bleibt es aus drei Gründen zweifelhaft, ob die Synoptiker das Gebot der Nächstenliebe schon universal, d. h. über Israel bzw. über die neue christliche Gemeinde hinausweisend, verstanden haben.
Liebe IV
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Erstens zeigt das Gebot der Feindesliebe die Begrenztheit der Nächstenliebe. Zweitens versteht Paulus offensichtlich die Nächstenliebe im Sinne der Bruderliebe (Gal 5,14f). Drittens hält Lk die Nächstenliebe für erklärungsbedürftig (Lk 10,25 - 3 7 : Barmherziger Samariter) und weist in der Gestalt des Samariters ostentativ über Israel hinaus, ohne allerdings in die Heidenwelt zu greifen. (Beachte die Einschränkung bei G. Sellin, Lk als Gleichniserzähler: Die Erzählung vom barmherzigen Samariter [Lk 1 0 , 2 5 - 3 7 ) : Z N W 66 [1975] 60: Der Nächste ist kein Heide, sondern ein Samariter, der immerhin die Tora kennt.)
Die Frage, ob Jesus selbst das Doppelgebot oder wenigstens das Gebot der Nächstenliebe formuliert habe (Bornkamm), wird im Hinblick auf die frühjüdischen Texte einerseits und auf das Gebot der Feindesliebe andererseits heute meist verneint (s. besonders Burchard, Liebesgebot). Traditionsgeschichtlich wird man aber die Möglichkeit, daß Jesus beide Gebote in seine Weisung eingefügt habe, gerade im Hinblick auf Paulus nicht ausschließen können. Denn wenn Paulus, der anders als Jesus die Tora im Sinne der Weisung als ans Ende gekommen betrachtet, dennoch Nächstenliebe und Gottesliebe als bleibend qualifizierte, dann ist für Jesus dieselbe Möglichkeit um so eher offenzuhalten. Nur eins muß deutlich werden: Der überragende Stellenwert, der der Nächstenliebe für Jesus beigemessen wird, steht ihr nicht zu. Denn für Jesus muß gelten: „Das alles Entscheidende ist erst mit der Gottesherrschaft benannt" (Becker, Feindesliebe 15). 2.2.4. Die Feindesliebe wird allgemein als Zentrum der Aussagen Jesu zur Liebe verstanden. Dabei ist über die Feindesliebe nur ein Logion überliefert: Mt 5,44 par., Lk 6,32-35. Weder bei Mk noch in der paränetischen Tradition der Briefe findet sich die Feindesliebe, wenn auch die Briefe inhaltlich verwandte Logien zum Thema Nichtvergelten bringen (I Thess 5,15; I Kor 4,12; Rom 12,9-21; vgl. Sauer; Piper), deren ethische Traditionen aus der alttcstamentlichen Weisheitsliteratur, der hellenistischen Popularphilosophie und dem hellenistischen Judentum stammen (Sauer 28). Deutlich ist, daß die Feindesliebe die Radikalisierung der Nächstenliebe enthält, auf Gottes Schöpferhandeln verweist und dem Befolger als dem Gerechten die Gottessohnschaft verheißt: „Die Liebe ahmt Gott nach, wie er immer wieder und überall schöpfungsweit Lebensmöglichkeiten schafft" (Becker, Feindesliebe 7). Horizont dieser Aussage ist die Menschheit. Der aktive Aspekt: „Besiege das Böse durch Gutes" (Rom 12,21), geht aus der Feindesliebe hervor, ergänzt diese aber durch den Aspekt einer wirkenden christlichen Gemeinschaft, während das Logion von der Feindesliebe offensichtlich den einzelnen verpflichtet (Schottroff, besonders 213.215). Theißen hat die jeweilige Aktualisierung der Feindesliebe in den matthäischen und lukanischen Gemeinden nachgezeichnet (besonders 195 f). Die Frage aber, ob die Feindesliebe zu den ipsissima verba Jesu gehöre, bleibt trotz Lührmanns grundlegender Analyse (Lührmann, Liebet) notwendigerweise offen. Die Einbettung der Feindesliebe in bestimmte jüdische Theologien (wenn auch weder in -»Qumran noch bei den -»Zeloten) und ihre nichtjesuanische Ausformung im paränetischen Traditionsgut des Paulus machen eine eindeutige Zuordnung problematisch. Die Paulusüberlieferung macht auch Theißens mit soziokulturellen Argumenten erarbeitetes und bedenkenswertes Plädoyer für die jesuanische Herkunft des Logions über die Feindesliebe weniger eindeutig, da Paulus in einer politisch und soziokulturell anders bestimmten Umgebung zu ähnlichen Aussagen wie Jesus kommt, auch wenn bei ihm der Begriff der Feindesliebe fehlt. Unbestreitbar bleibt dagegen die inhaltliche Kongruenz von Feindesliebe und ihrem ethischen Umfeld in Jesu Reich-Gottes-Botschaft, wie sie Becker herausarbeitet (Feindesliebe 8). 3. Paulus und die
Deuteropaulinen
3.1. Zum eigenen Thema wird áyánrj zuerst bei Paulus, und zwar nicht als ethischer oder psychologischer, sondern als spezifisch theologischer Begriff, der einen Teil der geistlichen Wirklichkeit christlichen Lebens benennt. Liebe als geistgeschenkte Verhaltensweise gehört für Paulus von Anfang an zum Leben der Christen: I Thess 1,3. In dem theologischen Begriff áyámj bündelt er mehrere jüdische — auch anderweitig ins Urchri-
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Liebe IV
stentum gelangte - Traditionen, die besonders sein Gebrauch von äyanäv und äyantjzöq deutlich bewahrt: 1) die Glaubenden sind als die von G o t t Erwählten zugleich die von ihm Geliebten (dyanrjwi,
z. B. Rom 1,7); 2) die ayänr\ als Kapndg roßnveußarog
Gal 5,22 (vgl. Rom 5,5) gehört in das Feld der
jüdischen Darstellungen möglicher Gottesbeziehungen des glaubenden, leidenden, duldenden Gerechten (vgl. besonders II Kor 6 , 4 - 1 0 ) ; 3) diese Armen und Leidenden sind zugleich die, die ihrerseits G o t t lieben (besonders R o m 8,28); 4) Nächsten- und Bruderliebe ist im Anschluß an Lev 19,18 b im Judentum verankert und wird so von Paulus als ivzoXrf in R o m 13,9 zitiert.
Zwei urchristliche Theologumena (1. Xpiazdq imep ijptov äneSavev [Rom 5,8] bzw. o 9sdq aozöv napeScoKsv [Rom 8,32]. - 2. Jesus ist Gottes Sohn [ö uiöq ö äyantjzöq Mk 1,11 par.], vgl. Gen 22,16 L X X : Isaak als Abrahams einziger Sohn, [o oiöq 6 dyantjzog]) waren vielleicht schon vor Paulus zu der christologischen Aussage verbunden: Gott hat seinen einzigen (ßovoysvrjq Joh 3,16), eigenen (¡öioq Rom 8,32; vgl. die Anspielung auf Gen 22,16), erwählten (¿KXeKZÖq Lk 9,35; 23,35; Joh 1,34 Sin*), geliebten (äyanrjzöq Mt 17,5; Mk 9,7; Lk 9,35) Sohn für uns gegeben (vgl. Joh 3,16 und Rom 5,8; 8,32). Durch diese christologische Aussage tritt die Christologie als neue integrierende Größe zu den genannten jüdischen dydre^-Traditionen hinzu, die Paulus verarbeitet. Theologisch beurteilt, bildet die Christologie die Mitte der paulinischen ayanr]-Aussagen. In Rom 5 , 1 - 1 1 entfaltet er das Bild dieser ayanr], die die Wirkweise der Zuwendung Gottes zu den Menschen in der Dahingabe seines geliebten Sohnes Jesus Christus für die Menschen ist und die nun (V. 11) als Geistesgabe in die Menschenherzen ausgegossen ist und von dort unter den Kennzeichen der eschatologischen Existenz in &Xiy/iq, vnopovr] und ihziq wirkt. Diese Liebe Gottes, die in der Liebe Christi in Erscheinung tritt, wird in Rom 8 , 3 1 - 3 9 nochmals nach ihren beiden Seiten hin geschildert; nach der Begründung in dem Heilstod Christi wie nach der Auswirkung in der Existenz des leidenden Apostels, der EKXEKZÖQ DEOÜ (V. 33) ist und von Gott und Christus geliebt wird. Die ayänt] als Norm (I Kor 16,14), einende Mitte (Phil 2,2) und vollkommener Weg (I Kor 12,31; 13,7) wie als eine unter zahlreichen Geistesgaben (Gal 5,22; II Kor 6,6) ist für Paulus grundsätzlich Erscheinungsform des Geistes (Rom 15,30) und damit Teil der Kaivfj Kziaiq (II Kor 5 , 1 4 - 1 9 als Grundlage des Peristasenkataloges 6,3ff). Sie gehört daher der Christuszeit an (Gal 4,1 ff), die den Glaubenden die owSeoia (Gal 4,5) eröffnet und ihnen das nvEüfia zoöoioö gibt (Gal 4,6). Andererseits ist nur und gerade die ayanr] als Forderung der Tora die Brücke auch zum vößoq: Rom 13,8.10. 3.2. So kann Paulus die Intention des Gesetzes retten (Rom 7 , 1 2 - 1 6 : vöpoq nveupaziV. 14), ohne andererseits die dyänrj als christliche Lebensform aus dem vöpoq abzuleiten. Das betont die scharfe Gegenüberstellung Gal 5,6. Denn die Liebe ist für Paulus nicht Gebot des vöfioq, sondern Wirklichkeit ev Xpiozcö, Gabe des nveSpa. Daher versteht Paulus in Rom 13,8 ff Lev 19,18 auch nicht im synoptischen Sinne der „Nächstenliebe", sondern einfach als ayanr]. Zugleich aber bedeutet diese pneumatische ayänr] für Paulus das wichtigste Kriterium im Streit mit dem Pneumatikertum in seinen Gemeinden. In dieser Auseinandersetzung um die Art der neuen Existenz ev nveöpazi arbeitet Paulus in I Kor 1 2 - 1 4 die ayänr] als christliche Existenzform weit über allen Charismen im weiteren (Katalog 12,28 ff) und nvevfiaziKä im engeren Sinn (Kap. 14) heraus. Er entwickelt I Kor 13,4—7 ihre Erscheinungsformen zwischen christlichen Tugenden, apostolischen Leiden, eschatologischem Warten in Glauben und Hoffnung und schließlich dem „Gesinntsein wie Christus", der zaneivoippooövr] (Phil 2 , 1 - 1 1 ) . Die Reichweite der ayänr] erstreckt sich daher bis ins Eschaton (I Kor 13,8ff), so daß sie für die Gemeinden zum Vorschein der kommenden Welt gehört. Die ayanr] ist für Paulus grundsätzlich die Lebensform innerhalb der christlichen Gemeinde und wird von ihm auch nur als solche entfaltet. Hinweise auf Feindesliebe (Rom 12,14ff), Festhalten am nichtchristlichen Ehepartner (I Kor 7 , 1 2 - 1 6 ) , Friede mit KÖQ EOZIV
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der heidnischen Staatsgewalt (Rom 13,1-7), Identität des Strebens von Juden und Christen im ethischen Bereich (Rom 13,8-13) zeigen allerdings die Reichweite der Liebe in die außergemeindliche Welt hinaus. Entsprechend dem Genus der paulinischen Schriften als Gemeindebriefe stellt er die Liebe überindividuell (wenn auch das Freundschaftsmotiv in äyant]XÖ Natürlichen Theologie für die Eigenschaftslehre Gottes nicht verwendete, widmete er ihm in der Ethik bei den Pflichten gegen Gott ein eigenes Kapitel. Aus der Pflicht zur Erkenntnis der Vollkommenheit Gottes folgerte Wolff die Pflicht, ihn zu lieben, weil die Erkenntnis der Vollkommenheiten Lust bereite. Die Grade der Liebe seien proportional zur Gewißheit der Erkenntnis. Die Gottesliebe resultiere aus der Erkenntnis der Güte Gottes. Die Forderung absque intuitu praemii sei für die Gottesliebe überflüssig, weil ja Gott nicht durch Heuchelei bestochen werden könne, die Aussage non sine praemio dagegen sei für die Gottesliebe unstreitig richtig (vgl. Ethik §§678-697: Werke 1/4,465-479). Die Nächstenliebe sah Wolff durch Wohlwollen und Nützlichsein gekennzeichnet. Das Glück des anderen vermittele so viel Vergnügen wie das eigene Wohlbefinden, das Wohltun so viel wie das Wohlsein (vgl. Ethik §§774-777: Werke 1/4,545-547). Entsprechend der psychologischen Begriffsfassung ist für Wolff die Liebe pädagogisierbar (vgl. Ethik §403: Werke I/4,272f). 2.5. Johann Salomo -»Semler, durch Siegmund Jakob Baumgarten maßgeblich gefördert, wurde in Abgrenzung gegen Pietismus, Orthodoxie (-» Orthodoxie, altlutherische) und Wölfische Philosophie zum wirkmächtigen Protagonisten des historischen Denkens in der Theologie. Semler schied den Liebesbegriff, den er psychologisch faßte, aus der Gotteslehre wegen seines anthropopathischen Charakters aus (vgl. Versuch 282 sowie Institutio 293 f). Semler nahm den Liebesgedanken in seine Geschichtstheologie auf. Das Christentum, in dem der persönliche Christusglaube mit seiner je privaten Heilsaneignung von den kirchlich-dogmatischen Autoritäten entbunden und nur an die gemeinverständliche Wahrheit der als W o r t Gottes sachgemäß auszulegenden Bibel gebunden sei, charakterisierte Semler nach der subjektiven Seite hin durch persönlichen Glauben und tätige Nächstenliebe, nach der objektiven Seite hin als universalistische Erlösungsreligion trinitarisch in Anspielung auf II Kor 13,11: „Die Gnade des H e r r n Jesu, ohne jüdische Gesetze; die Liebe Gottes ohne Unterschied der Nation, und die
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allen Christen gemeine Teilnehmung an dem Heiligen Geiste" (Beantwortung 147; '139). Gegen die Auffassung von der bleibenden Normalität des Urchristentums vertrat Semler den Gedanken der Perfektibilität des Christentums. Die sich in Heiligung und Glaubenswachstum vollziehende Vervollkommnung des einzelnen Frommen weitete Semler korrelativ auf eine Vervollkommnung des Christentums aus. In dieser kollektiven Vervollkommnung werde das Christentum, das in seinen Anfängen durch die Akkomodation Jesu und der Jünger an das gesetzliche partikularistische Judentum mitgeprägt sei, alle Gesetzlichkeit abstreifen und zur freiheitlichen Liebes- und Erlösungsreligion werden. Das durch geistige Gottesverehrung bestimmte sittliche Verhalten der Frommen habe in der Liebe seinen Zielpunkt.
2.6. Die epochale Vernunftkritik von Immanuel ~*Kant führte die traditionelle -•Metaphysik an ihr Ende. In theoretischer Hinsicht entzog Kant durch die Offenlegung der dialektischen Verfassung der Gottesidee dem Liebesgedanken als Prädikat Gottes jegliche Basis. Im Kontext seiner Ethik allerdings, die die Freiheitshandlungen objektiv dem Sittengesetz als autonomem Vernunftgesetz unterwarf und subjektiv allein an die Achtung vor dem Sittengesetz band (vgl. Critik der practischen Vernunft, Riga 1788: GS 5,81,10-13), billigte Kant gerade durch seine Unterscheidung von pathologischer und praktischer Liebe dem Liebesgedanken einige Bedeutung zu. Er sah seine Pflichtethik durchaus in Übereinstimmung mit dem biblischen Doppelgebot der Liebe. Dessen Gebieten der Liebe verstand er bejahend so, daß es Sympathie und Neigung, d. h. pathologische Liebe, die nicht geboten werden könne (vgl. z. B. Metaphysik der Sitten, Königsberg 1797: GS 6,402,22-26.449,18-20) und auch auf Gott wegen seiner Unsinnlichkeit nicht anwendbar sei, gerade ausschlösse und die Achtung für das Pflichtgesetz als alleinige Triebfeder für den Willen akzeptiere, also den Gedanken der praktischen Liebe artikuliere. „Gott lieben, heißt in dieser Bedeutung, seine Gebote gerne thun; den Nächsten lieben, heißt, alle Pflicht gegen ihn gerne ausüben. Das Gebot aber, daß dieses zur Regel macht, kann auch nicht diese Gesinnung in pflichtmäßigen Handlungen zu haben, sondern blos darnach zu streben gebieten. ( . . . ) Jenes Gesetz aller Gesetze stellt also, wie alle moralische Vorschrift des Evangelii, die sittliche Gesinnung in ihrer ganzen Vollkommenheit dar, so wie sie als ein Ideal der Heiligkeit von keinem Geschöpfe erreichbar, dennoch das Urbild ist, welchem wir uns zu nähern und in einem ununterbrochenen, aber unendlichem Progressus gleich zu werden streben sollen" (GS 5 , 8 3 , 1 2 - 2 7 ) .
Kants Behandlung des Liebesgedankens war etwas schwankend. Einerseits konnte er die Liebe psychologisch als „eine Sache der Empfindung, nicht des Wollens" (GS 6,401,24) oder ästhetisch als „Geschmack für Schönheit" (Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, 1786: GS 8,113,10) fassen und wegen des Nötigungscharakters der Pflicht (vgl. GS 6,401,33-35) aus seinen ethischen Überlegungen ausschließen. Andererseits konnte er der praktischen Liebe, dem „Wohlwollen (amor benevolentiae)", das „als ein Thun einem Pflichtgesetz unterworfen" (GS 6,401,27 f) sei, auch eine emotionale Färbung geben: Die Liebe mit der ihr innewohnenden Freude stelle das subjektive Motiv für das Gernetun der Pflicht bereit. „Wenn es also heißt: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst, so heißt das nicht: du sollst unmittelbar (zuerst) lieben und vermittelst dieser Liebe (nachher) wohlthun, sondern: thue deinem Nebenmenschen wohl, und dieses Wohlthun wird Menschenliebe (als Fertigkeit der Neigung zum Wohlthun überhaupt) in dir bewirken" (GS 6,402,16-21). Bei der Pflichtbefolgung, d. h. bei der subjektiven Handlungsdisposition „ist doch die Liebe, als freie Aufnahme des Willens eines Andern unter seine Maximen, ein unentbehrliches Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur" (Das Ende aller Dinge, 1794: GS 8,338,2-5). 2.7. Im Rahmen der Kantischen Philosophie war weder die doppelte Frage nach der Einheit von Theorie und Praxis sowie von Vernunft und Sinnlichkeit noch die Individualitätsfrage befriedigend beantwortet. Die Kant-Nachfolger brachten bei der Bearbeitung dieser Problemfelder in je unterschiedlicher Weise den Liebesgedanken ins Spiel. Mit der Wertschätzung der Empfindsamkeit (Jean Jacques -»Rousseau, Franz Hemsterhuis, Friedrich Heinrich -»Jacobi, Jean Paul Richter u. a.) hatte auch der Liebesgedanke neue
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Frische gewonnen. Er w u r d e vom -»-Sturm und D r a n g bis zur - » R o m a n t i k aufs innigste mit dem Bildungsgedanken verwoben, u m die vielfältigen Lebensfunktionen zu integrieren. In seinem skandalmachenden R o m a n Lucinde (Berlin 1799) gab Friedrich -*•Schlegel der Liebe eine religiöse Bedeutung, weil sie das Ineins von Leib und Seele erfahren lasse und den Menschen zum Ziel seiner Selbstwerdung hinführe, w o ihm die Welt und sein Leben als Ganzes erschlossen seien (vgl. Krit. Ausg. 5,1 l f ) . Bei Friedrich von Hardenberg (—•Novalis) k a m der Liebesgedanke aus der Ambivalenz von unstillbarer Sehnsucht und göttlich-schöpferischer U r k r a f t nicht heraus. Der Liebesgedanke errang eine Spitzenstellung bei Friedrich Wilhelm Joseph ->-Schelling, der im Verfolg seiner naturphilosophischen Überlegungen durch ihn die absolute Indifferenz von Idealität und Realität, von Identität und Differenz, von Potentialität und Existenz dachte (vgl. Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, 1809: Werke 1/7,405 f); dabei überschritt Schelling den in der Polarität des Lebens als Ideales gefaßten Liebesbegriff auf das Höchste, die allesumfassende Liebe hin. 2.8. Georg Wilhelm Friedrich —>Hegel nutzte in seinen erst aus dem N a c h l a ß publizierten Jugendschriften den Liebesgedanken dazu, unter dem T h e m a der Religion die geistvolle Lebendigkeit des Sinnganzen zu erfassen und darzustellen. Hegel entwarf in seinem Fragment Die Liebe mittels des Liebesgedankens eine Phänomenologie des Lebens und bearbeitete so das Konstitutionsthema neu. Den Liebesgedanken mit seiner vermittelten, jegliche Fremdheit und Separation tilgenden Ganzheit legte Hegel auf die dialektische Struktur von Einigkeit, Trennung und Wiedervereinigung hin aus (vgl. Jugendschriften 3 7 9 - 3 8 1 ) . In Der Geist des Christentums und sein Schicksal korrigierte Hegel mittels des Liebesgedankens programmatisch die Kantische Ethik und Religionslehre. Für Hegel w a r selbstverständlich, d a ß „in der Liebe aller Gedanke von Pflichten wegfällt" ( a . a . O . 267). Er bejahte den Neigungscharakter der Liebe dahin, daß „Gesetz und Neigung nicht mehr verschieden sind" ( a . a . O . 268). Die beschränkten Tugenden bedürfen der versöhnenden und integrierenden Liebe als ihrer lebendigen, alle Beschränkungen aufhebenden Mitte (vgl. a. a. O . 295). In der Religion ist nach Hegel die Liebe nicht nur subjektive Empfindung, sondern zugleich objektives Bild und Vorstellung. In der Religion müssen Gefühl und Vorstellung des Gefühls durch die Phantasie vereinigt sein (vgl. a . a . O . 332). Das Vereinigtsein durch Liebe, „diese lebendige H a r m o n i e von Menschen, ihre Gemeinschaft in Gott, nennt Jesus das Königreich G o t t e s " (a. a. O. 321). Anders als Kant legte Hegel das biblische Doppelgebot der Liebe so aus, d a ß er die uneigentliche Aussageform des Gebietens vom lebendig-geistvollen Wesen des Gemeinten absonderte: „die Liebe selbst spricht kein Sollen aus; sie ist kein einer Besonderheit entgegengesetztes Allgemeines; nicht eine Einheit des Begriffs, sondern Einigkeit des Geistes, Göttlichkeit; Gott lieben ist sich im All des Lebens schrankenlos im Unendlichen fühlen; (...) und liebe deinen Nächsten als dich selbst, heißt nicht ihn so sehr lieben, als sich selbst; denn sich selbst lieben ist ein Wort ohne Sinn; sondern liebe ihn, als der du ist [!]; ein Gefühl des gleichen, nicht mächtigeren, nicht schwächeren Lebens" (a.a.O. 296).
Hegel sah in der Liebe das Konstituens der urchristlichen Gemeinde: Deren gläubige Vereinigung in G o t t hatte die Aussonderung von anderen Menschen und die Binnenbeschränkung auf das Bewußtsein gegenseitiger Liebe bei sich, ohne d a ß dieser allgemeine Geist sich in bestimmten Formen lebendiger Vereinigung konkretisiert hätte. Das Urchristentum stand unter dem Widerspruch, d a ß die Liebe einerseits durch die große Anzahl der Liebenden gleichsam überdehnt und andererseits durch die Scheu vor allen lebendigen Formen untätig in der Beschränkung auf sich selbst gehalten w u r d e (vgl. a . a . O . 322f.330). In den späteren Schriften Hegels verlor der Liebesgedanke seine metaphysische Spitzenstellung an den Geistgedanken, behielt aber einen Ehrenplatz in der Ästhetik, wo Hegel ihn der romantischen Kunstform zuordnete (vgl. Werke 13,149-154.178-186), und in der Rechtsphilosophie, w o er durch ihn die p a r a d o x e wechselseitige Selbstwer-
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dung durch Selbstaufgabe begriff (vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1833, §158: Werke 7,237f). 2.9. Für Johann Gottlieb -*Fichte war der Liebesgedanke während seiner Jenenser Professur (1794-1799) ohne philosophisch-kategoriale Würde. In seinem naturrechtlich-ethischen Ehebegriff stellte er den in die Vernunft eingreifenden edlen Naturtrieb der hingebenden Liebe als die ursprünglich nur feminine Seite des Geschlechtstriebs dar (vgl. GA 1/4,100f; 1/5,289). Fichtes während des Atheismusstreits scharf vorgetragene Kritik der personalistischen Gottesvorstellung schloß den Liebesgedanken von der Prädikation der Gottesidee aus. Erst das vertiefte Bemühen um die prima phiiosophia in der Berliner Zeit gab dem Liebesgedanken größere Bedeutung. Nicht mehr die Konstitution des autonomen vernünftigen Ich, sondern der Idealrealismus der Lebensganzheit standen im Vordergrund der Überlegungen. Fichte artikulierte die Liebe als unverzichtbares Medium und Motiv der Wissenschaft. „Die Liebe des Absoluten, oder Gottes, ist das wahre Element des vernünftigen Geistes, in welchem allein er Ruhe findet und Seligkeit" (GA 11/8,74). Die Liebe wurde Fichte zum Kennzeichen des Lebens: „das Leben ist Liebe, und die ganze Form und Kraft des Lebens besteht in der Liebe und entsteht aus der Liebe" (Die Anweisung zum seligen Leben, Berlin 1806: Werke 5,401 f). Indem Fichte die Liebe als das idealreale Prinzip von Vereinigung und Trennung entdeckte, rückte er sie ins Zentrum seiner universalen Wissenslehre und nahm sie als Grund und Kraft des durch die Ichheit geformten Lebens. Die Liebe ist nach Fichte wesentlich auf Gott bezogen. Er sei der geliebte Gegenstand des vom Ewigen und Unveränderlichen bestimmten wahren Lebens (vgl. ebd. 406), das in ihm lebe und ihn liebe. Die Liebe gebe dem wahrhaftigen Leben Ganzheit und Seligkeit. D a s Christentum verstand Fichte als die historisch gewordene Gestalt der Religion der Liebe. Er nutzte den Liebesgedanken auch als sittlich-didaktisches und teleologisches Prinzip der Geschichtsentwicklung, indem die Liebe „als die tiefste Wurzel aller vernünftigen E x i s t e n z " (Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Berlin 1806: Werke 7 , 3 9 ) die sittliche Beförderung der Vernünftigkeit ermögliche und den Realisationsmodus der geschichtlich-konkretcn Vernunft bestimme.
2.10. Friedrich Daniel Ernst -*Schleiermacher nahm den Liebesgedanken auf, um die Individualität, Integrität und Relationalitätdes personalen Lebens angemessen zu artikulieren. Gegen die Kantische Philosophie mit ihrer Zweiteilung von Erfahrungswelt und Verstandesweit, von Legalität und Moralität, von Glückseligkeit und Vernünftigkeit zielten Schleiermachers Überlegungen in seinen Reden Über die Religion (Berlin 1799) auf lebendige Konkretion und versöhnend-versöhnte Einheit. Die alles durchdringende Liebe löst das fordernde fremde Gesetz ab. Die Aktuosität und vorbegrifflich-schwebende Wirklichkeit der Liebe charakterisiere die intransitive Ganzheitserfahrung der Religion, die aller reflexiven Differenzierung vorausliege (vgl. Krit. GA 1/2,221,20-222,9). Die Religion sei „Anschauung und Gefühl" (Krit. GA 1/2,211,33) des Universums, sei „Sinn und Geschmak fürs Unendliche" (Krit. GA 1/2,212,32). Sie verbürge gerade die Realität und aktuale Einheit des Lebens. Religion und Liebe seien unzertrennlich verwoben. „Den Weltgeist zu lieben und freudig seinem Wirken zuzuschauen, das ist das Ziel unserer Religion, und Furcht ist nicht in der Liebe" (Krit. GA I/2,224,16f). In der Liebe würden Individuum und Gattung, Einzelnes und Allgemeines vermittelt; in ihr finde der einzelne seine menschheitliche Ergänzung (vgl. Krit. GA 1/2,228,13-22). In seiner 1821/22 publizierten Dogmatik Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche korrelierte Schleiermacher christlich-frommes Selbstbewußtsein, Weltbewußtsein und Gottesbewußtsein. Er nahm den johanneischen Satz „Gott ist die Liebe" (I Joh 4,16) als Lehrsatz bejahend auf und bündelte in ihm die das christliche Erlösungs- und Gnadenbewußtsein artikulierende Gotteslehre. Dabei verstand Schleiermacher die Liebe als diejenige göttliche Eigenschaft, die vollgültig auch sein Wesen aussage und insofern allein der Ununterscheidbarkeitsforderung bezüglich Eigenschaft und Wesen im Gottesbegriff gerecht werde (vgl. Krit. GA 1/7,2,348,3—16). Liebe
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und Weisheit als auf die Erlösung bezogen könnten allein den Anspruch machen, Ausdrücke für das Wesen Gottes zu sein. Beide seien voneinander nicht trennbar. Doch gebe es einen Vorrang der Liebe vor der Weisheit insofern, als die Liebe das Motiv der in der Erlösung sich vollziehenden göttlichen Selbstmitteilung, die Weisheit das Prinzip für die Ordnung der Welt sei, in der diese Selbstmitteilung sich realisieren könne. Die Unmittelbarkeit der Liebeserfahrung im Gnadenbewußtsein unterstütze dies von der subjektiven Seite (vgl. Krit. GA 1/7,2,350,15-24). Schleiermacher band die Liebe Gottes exklusiv an das Werk der Erlösung und ließ auch die Erkenntnis der Liebe Gottes nur durch das Erlösungsbewußtsein hindurch zu (vgl. Krit. GA 1/7,2,345,18-20). Z w a r seien alle Menschen, weil sie zum Gottesbewußtsein fähig sind, Gegenstand der Liebe Gottes; aber erst mit der von Christus ausgehenden Wirksamkeit der Erlösung werde in den Menschen auch die göttliche Liebe verwirklicht und kämen diese zur Erkenntnis derselben (vgl. 2. Aufl. S166,11,562). Der durch die Liebe wesentlich bestimmte Gottesbegriff, aus dem die Vorstellung des zornigen Gottes ausgeschlossen war, wirkte sich in der Erwählungslehre dahin aus, daß der Verwerfungsgedanke eingezogen wurde.
Für Schleiermacher machte die Liebe das Zentralstück der Heiligung aus. Nicht die wechselnden Werke, die immer auch ein Moment von Sündhaftigkeit bei sich haben, sondern nur die Liebe kennzeichne gleichbleibend die Heiligung, „so wie sie in dem Wollen des Reiches Gottes zugleich Liebe zu den Menschen und Liebe zu Christo und Liebe zu Gott ist, und zugleich auch die in uns und durch uns fortwirkende Liebe Christi selbst" (*§ 112,11,247). Am biblischen Doppelgebot der Liebe kritisierte Schleiermacher sowohl den Gebotscharakter, weil sich Liebe als Gesinnung nicht gebieten lasse, als auch die Trennung von Gottes- und Nächstenliebe. Beides sei dem Ziel der Heiligung unangemessen, denn „dieses ist kein anderes als ein in seinem ganzen Zusammenhang die Kraft und Reinheit der Gesinnung darstellender Wandel" (2II,250). In Joh 15,12 weise Jesus durch „die Vergleichung mit seiner erlösenden Liebe" ( J II,251) auf die angemessene Darstellungsform hin. 2.11. Im Umkreis des spekulativen Theismus (-»Spekulative Theologie), der nach Hegels Tod besonders durch Immanuel Hermann Fichte (1796-1879) und Christian Hermann Weiße (1801—1866) befördert wurde und der den Begriff der ethischen Persönlichkeit auch auf den Gottesbegriff anwendete, diente der Liebesbegriff sowohl zu einer Neuinterpretation der Trinitätslehre (-»Trinität) als auch zur Synthetisierung von Erkenntnis und Sittlichkeit. Der Liebesgedanke lieferte erstens dem Persönlichkeitsbegriff, durch den die Differenziertheit der göttlichen Wesensmerkmale in trinitarischer Struktur erfaßt werden sollte, das Prinzip der göttlichen Selbstvermittlung. Der spekulative Theismus sah sich dabei in Ubereinstimmung mit der biblischen und kirchlichen Tradition. Zweitens wurde die seit der Aufklärung wirkmächtige Trennung von Dogmatik und Ethik, von Theorie und Praxis durch den Liebesbegriff in eine einheitliche Lehrgestalt aufgehoben. Der Liebesgedanke zog also das Einheitsinteresse der Theologie auf sich. Ernst Sartorius (1797-1859) beispielsweise entwickelte die Trinitätslehre (vgl. 1,14-22) aus der Definition Gottes als Liebe (I Joh 4,8.16) und reformulierte mittels des zentralen Liebesgedankens die Theologie als „Lebens-Wissenschaft" (I,V). Aus der die Liebe Gottes darstellenden Theologie entwickelte er die durch die Gottesliebe geprägte Anthropologie und die der Nächstenliebe verpflichtete Ethik.
2.12. Seren -*Kierkegaard insistierte in Abgrenzung gegen den spekulativen Idealismus Hegels auf der Wahrheit der konkreten Existenz. Dieses geschichtlich-personale Dasein jedes einzelnen sei aber wegen seiner Abhängigkeit von anonymen Mächten und seinem Mangel an Selbstheit durch bodenlose Nichtigkeit und daraus resultierende Verzweiflung bedroht. Kierkegaard trennte natürliche oder menschliche Liebe radikal von christlicher Nächstenliebe. Die romantische, auf Schönheit basierende Liebe ziele zwar (anders als die Wollust) auf Ewigkeit, doch gründe sie Ewiges auf Zeitliches und hebe es dadurch auf (vgl. Entweder-Oder: Werke 2,22). Die Ehe, die auf einem sittlichen Entschluß beruhe und die Wiederholung der Liebe als sittliche Bewährung einschließe, sei
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eine christliche Idee, die der Geistigkeit Gottes entspreche. Kierkegaard betrachtete „die Ehe als höchsten Zweck (Telos) des individuellen Daseins" (Stadien auf des Lebens Weg: Werke 15,105). Doch auch die eheliche Liebe sah Kierkegaard in der Eigensucht befangen. Sie hoffe zumindest auf Gegenliebe. Die christliche Nächstenliebe hingegen, die die Eigensucht überwinde und auch beim andern dessen Eigensucht überwinden wolle, suche allein das Wohl des Nächsten, ohne auf Gegenliebe zu hoffen. Sie sei damit Abbild der bedürfnislosen Liebe Gottes, mit der Gott von Ewigkeit her die Erlösung des Menschen will. „Aus Liebe muß denn also der Gott sich ewig dazu entschließen; aber wie seine Liebe der Grund ist, so muß auch die Liebe das Ziel sein" (Philosophische Brocken: Werke 10,22 f). Kierkegaards Diastase zwischen menschlicher und christlicher Liebe bedrohte die letztere wegen der erforderlichen Selbstverleugnung mit einem radikalen Wirklichkeitsverlust (vgl. Der Liebe Tun: Werke 19,394 f).
3. Historismus
und Gegenwart
(bis
Tillich)
Der sich aufgrund der wirtschaftlich-technischen und wissenschaftlichen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jh. beschleunigt vollziehende soziale Umbruch blieb auch für den Liebesgedanken nicht ohne Folgen. Die physisch-psychische Seite rückte verstärkt in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Der Zusammenbruch des spekulativen Denkens und die Hinwendung zu empirischer und historischer Forschung ließen nach neuen Begründungen im Lebensprozeß suchen. 3.1. Albrecht -»Ritsehl nahm für seine durch Offenbarungspositivismus, Ethisierung und Historisierung des Christentums sowie antikonfessionelle Kirchlichkeit gekennzeichnete kantianisierende Theologie den Liebesgedanken zentral in Anspruch. Der grundlegende Gedanke des Reiches Gottes hatte in seinem 1875 publizierten Unterricht in der christlichen Religion sowohl eine religiöse als auch eine sittliche Funktion und erlaubte ihm die Integration der Ethik in die ethisierte Dogmatik. Alle metaphysisch-ontologischen Aussagen der natürlichen Theologie lehnte er strikt ab. Ritsehl zentrierte die Dogmatik auf die „Wechselbeziehung zwischen dem Begriff von Gott als Liebe und dem Reiche Gottes als Endzweck der Welt" ('II). Ritsehl reduzierte die Lehre von den Eigenschaften des übernatürlichen überweltlichen Gottes auf die eine Eigenschaft der Liebe. „Der vollständige christliche Begriff von Gott ist die Liebe" ("8). Die Selbstoffenbarung Gottes als Liebe beinhaltete für Ritsehl das Verständnis der in Jesus urbildlich anzuschauenden Menschheit als Ziel der Schöpfung in dem durch Liebe bestimmten Reich Gottes. „Die Liebe ist der stetige Wille, welcher eine andere geistige, also gleichartige Person zur Erreichung ihrer eigentlichen höchsten Bestimmung fördert, und zwar so, daß der Liebende daran seinen eigenen Endzweck verfolgt" (40). Aus der Prädikation Gottes als Liebe leitete Ritsehl die teleologische Transzendierung jeder nur natürlichen Kosmogonie und Anthropologie auf einen sittlichen Endzweck sowie „die Befähigung des Willens zum Guten für die Glieder der christlichen Gemeinde" ('29) her. Die sittliche Bemühung des einzelnen Christen um die Realisation des Gemeinschaftszweckes sah Ritsehl durch die Liebe zu Gott und zum Nächsten motiviert (vgl. '4). Dabei überschreite die christliche Liebe bei weitem das natürliche Wohlwollen, indem sie die sittliche Selbständigkeit des Christen auch in der Feindesliebe erprobe (vgl. '23). Die Liebe müsse das innerste Motiv sein bei allem Handeln in den konkreten Lebensordnungen, in denen das allgemeine Ziel allein verwirklicht werden könne. Religiöse Freiheit über die Welt (Vorsehungsglaube, Demut, Geduld, Gebet) und sittliche Arbeit am Reiche Gottes (Beruf, Tugendbildung) seien die beiden in Wechselbeziehung stehenden Tätigkeitsfelder, die das durch die Gotteskindschaft bestimmte christliche Leben ausfüllen (vgl. '50).
Innerhalb der christlichen Sittenlehre, die Ritsehl unter dem Stichwort der Heiligung verhandelte, tauchte der Liebesgedanke nur als selbstverständliche Hintergrundserfüllung des Prinzipiengefüges auf. In den einzelnen Überlegungen spielte er für Ritsehl keine große Rolle. Die Aufgabe jedes einzelnen bestimme sich durch seinen Lebensberuf, d. h. durch seinen Standort in der Gemeinschaft und die ihm daraus erwachsenden Aufgaben
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(vgl. *61). Die liebevolle Gesinnung (vgl. '160) war für Ritschi gleichsam das Fluidum der christlichen Sittenlehre. 3.2. Friedrich Nietzsche griff die christliche Mitleidsethik und die Altruismusforderung der christlichen Nächstenliebe als Flucht vor dem eigenen kraftlosen Selbst heftig an. Er forderte eine an der Lebenskräftigkeit orientierte Neubewertung des Selbst. Nur das starke Selbst, das erst genommen habe, könne auch geben. Liebe sei ein amoralisches Grundphänomen des Lebens. Sie überschreite das Sosein und lasse gerade durch ihr Illusionsmoment die Möglichkeiten des Lebens entdecken. 3.3. Der Liebesgedanke war in besonderer Weise betroffen von der Individualisierung der Frömmigkeit und der Reduktion der Dogmatik, die sich im Gefolge des Historismus um die Jahrhundertwende vollzogen. Adolf von -*Harnack gab in seiner vielbeachteten, 1899/1900 gehaltenen Vorlesungsreihe Das Wesen des Christentums der dogmatischen Reduktion auf „die Schlichtheit des Evangeliums" (112) beredten Ausdruck. Harnack deutete die für die christliche Frömmigkeit maßgebliche Predigt Jesu im Sinne einer individualisierenden religiösen Gesinnungsethik. Den Gedanken des Reiches Gottes bezog er ganz auf die transzendente Gottesgemeinschaft (vgl. 46). Harnack konnte die ganze Predigt Jesu im Liebesgedanken als dritten Themenkreis zusammenfassen. Danach löse Jesus die Verbindung der Sittlichkeit mit dem Kultus und führe sie auf die Gesinnung zurück (vgl. 51). Jesus begründe alle Sittlichkeit allein in der dienenden Liebe. „Ein anderes kennt er nicht, und die Liebe ist selbst nur eine, mag sie als Nächsten-, Samariter- oder Feindesliebe erscheinen" (52). Jesus binde also mit der Aufnahme des Liebesgedankens Religion und Sittlichkeit aufs innigste zusammen. So könne man „die Religion die Seele der Moral und die Moral den Körper der Religion nennen. Von hier aus versteht man, wie Jesus Gottes- und Nächstenliebe bis zur Identifizierung aneinanderrücken konnte: die Nächstenliebe ist auf Erden die einzige Betätigung der in der Demut lebendigen Gottesliebe" (52). Harnack verstand das jesuanische neue Gebot der Liebe als Unterwerfung der Gerechtigkeit unter die Barmherzigkeit, als die Herrschaft des Gedankens der Brüderlichkeit.
3.4. Dem theologischen Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg war der Liebesgedanke nicht entzogen. Die von Rudolf Otto in seinem Buch Das Heilige 1917 betonte irrationale Seite der Gotteserfahrung, bei der das Fürchterlich-Erschreckende nicht ausgeblendet werden dürfe, wirkte als Protest gegen eine zu seichte Vermittlungstheologie und wurde bei der theologischen Neukonzeption in den Gedanken der Souveränität Gottes transformiert. Die auf Entgegensetzung und Eindeutigkeit abzielende neureformatorische Theologie stellte den Liebesgedanken in einen Kontext, der die sozialpsychologischen, psychoanalytischen, kulturphilosophischen Diskussionen ausblendete. Die allein von der göttlichen Souveränität bestimmte Vermittlung Gottes mit dem Menschen forderte eine entsprechende Ausarbeitung des Liebesgedankens. 3.5. Anders -*Nygren stellte in seinem 1930 und 1937 erschienenen zweibändigen Werk Eros und Agape die zentrale Bedeutung und charakteristische Eigenart des urchristlichen Agapegedankens in Antithetik zum hellenistischen Erosgedanken heraus. Die Theologiegeschichte vom nachapostolischen Zeitalter bis zur Reformation, wo die paulinische und johanneische Klarheit allererst in -»Luthers theologia crucis (-»Kreuz) wieder erreicht worden sei, zeichnete er als eine Verfalls- und späte Restitutionsgeschichte nach. Das Gemeinsame von Eros und Agape als sich ausschließender religiös-sittlicher Grundtypen sah Nygren in der beiden zugrunde liegenden Frage nach „dem Verhältnis des Menschen zu dem Göttlichen" (M,184). Hinsichtlich der ethischen Grundfrage nach dem Guten artikuliere der Agapegedanke gegen die individualistische und eudämonistische Ethik der Antike die Gemeinschaftsbezogenheit und Souveränität des zweckfrei Guten. Für die religiöse Frage nach der Ewigkeit, nach der Gottesgemeinschaft des Menschen, bringe der Agapegcdanke den Übergang von der egozentrischen zur theozentrischen Religion. Im Agapegedanken seien Ethik und Religion vollkommen durchdrungen (vgl. '1,28f). Der Unterschied zwischen Eros und Agape habe nicht gradualen, sondern kategorialen Charakter. Beide seien nicht vermittlungsfähig. Im Erosgedanken der hellenistischen Erlösungslehre fand Nygren den Prototyp menschlicher Eigenliebe (vgl. '1,192). Eros sei eine durch die Qualität und den Wert des Gegenstandes motivierte selbstzentrierte Liebe. Er sei die nach oben zu Gott hin gerichtete Sehnsucht (vgl. '1,35). Dagegen sei Agape der gnadenvolle, erlösende Weg Gottes zum Menschen. Auf den Menschen bezogen, könne Agape nur als Ebenbild der göttlichen Liebe
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verstanden werden. Sie sei selbstlose Hingabe und souverän gegenüber ihrem Gegenstand, sie sei spontan und wertschaffend, völlig unmotiviert (vgl. 4,185 f). Schöpfung und Erlösung treten hier um der Souveränität Gottes und der unmotivierten Spontaneität seiner liebenden Zuwendung zum sündigen Menschen willen so weit auseinander, daß jede Art von natürlicher Theologie, von eigenmächtiger Hinwendung des Menschen zu Gott abgeschnitten sei (vgl. 'II,110f). Der Agapegedanke leugne jede Eigenständigkeit und jeden Eigenwert der Schöpfung; er verweise den Menschen ganz an die heilvoll-gnadenhafte Zuwendung Gottes. 3.6. In s e i n e m 1937 e r s t m a l s g e d r u c k t e n V o r t r a g „ E r o s u n d L i e b e " a p p l i z i e r t e Emil -*Brunner d e n v o n N y g r e n h e r a u s g e a r b e i t e t e n B e g r i f f s d u a l i s m u s auf d i e D i s k u s s i o n u m die M o d e r n i t ä t der Theologie. Er sah im Liebesgedanken die Differenz von h u m a n e m und c h r i s t l i c h e m B e w u ß t s e i n in e i n d r ü c k l i c h e r Weise a r t i k u l i e r t . Er stellte den griechisch-modernen Erosgedanken dem neutestamentlich-christlichen Liebesgedanken (Agapegedanken) entgegen. Brunner faßte den Gegensatz von Eros und Liebe im strengen Sinn als theologischen. „Der Eros ist, nach seinem letzten, tiefsten Sinn verstanden, das Hinaufstreben der Menschenseele zum göttlichen Schönen und Guten, um in diesem Streben ihm gleich und mit ihm eins zu werden. Die Liebe aber ist Gottes Herablassung zum Menschen, zum sündigen Menschen; die grundlose Liebe des Erlösers zu seinem sündigen Geschöpf" (Ein offenes Wort 1,318). Im platonischen Eros entdeckte Brunner das Grundmerkmal der wertbezogenen schöpferischen Freiheit. Der Mensch wolle durch Einswerden mit dem Vollkommenen den eigenen Wert steigern (vgl. a . a . O . 312f). Nur um der Bereicherung der eigenen Lebendigkeit willen sei der Mitmensch für den erotisch Strebenden wichtig und wertvoll. Im Sinne der neutestamentlichen A g a p e dagegen begegne der Liebende p e r s o n h a f t s e i n e m M i t m e n s c h e n , i n d e m er i h n als D u a n e r k e n n e . In d i e s e r G e m e i n s c h a f t d e r P e r s o n e n k o m m e d a s m e n s c h l i c h e L e b e n zu s e i n e m Z i e l , e r f ü l l e es seinen S i n n . B r u n n e r s a h d e n M e n s c h e n nicht d u r c h Freiheit, sondern d u r c h Verantwortlichkeit gegenüber G o t t char a k t e r i s i e r t (vgl. a . a. O . 315). W ä h r e n d n a c h d e m e r o t i s c h e n L e b e n s v e r s t ä n d n i s die eigen e P e r s ö n l i c h k e i t d a s alleinige L e b e n s z e n t r u m b i l d e , w e r d e im c h r i s t l i c h e n L e b e n s v e r s t ä n d n i s d e r M i t m e n s c h als e i g e n e r M i t t e l p u n k t a n e r k a n n t u n d b e h a n d e l t . D a s m e n s c h l i c h e P e r s o n s e i n zeige sich g e r a d e in v e r a n t w o r t l i c h e r L i e b e . „ D e r E r o s liebt a u s B e d ü r f t i g k e i t , u m reich zu w e r d e n ; d i e L i e b e liebt a u s g o t t g e s c h e n k t e m R e i c h t u m d e n , d e r i h r e r b e d a r f , weil e r a r m ist. D a r u m ist d i e L i e b e n u r zu v e r s t e h e n u n d w i r d sie n u r w i r k l i c h i m G l a u b e n , d e r d e r E m p f a n g d e r g ö t t l i c h e n L i e b e i s t " ( a . a . O . 318). In der Verhältnisbestimmung von Eros und Agape wich Brunner von Nygrens strikter kategorialer Gegensatzbildung ab. Er ordnete den Eros der welthaften Sphäre der Schöpfung, die Agape der personhaften Sphäre des Glaubens zu. Brunner lehnte ausdrücklich die auf den Gegensatz beider fixierte Askese ab. Die Vertilgung oder Verdrängung intendierende Askese beruhe auf einem Mißverständnis des neutestamentlichen Denkens. Die Natürlichkeit des Eros fordert theologisch seine Bejahung (vgl. a . a . O . 319). Erst die Emanzipation aus der verantwortlichen Gottgebundenheit trenne die Liebe vom Eros und führe zu den Fehlentwicklungen des Erotischen. Im Blick auf Freundschaft und Geschlechtsliebe schärfte Brunner die verantwortliche, gemeinschaftsbezogene, liebevoll-begrenzte Gestaltung und Aufnahme des Erotischen ein (vgl. a . a . O . 325). 3.7. Karl -*Barth e r ö r t e r t e d e n L i e b e s g e d a n k e n b e s o n d e r s in d e r G o t t e s - u n d V e r s ö h n u n g s l e h r e s e i n e r Kirchlichen Dogmatik. Seine A b w e h r jeglicher A n t h r o p o l o g i s i e r u n g d e s c h r i s t l i c h e n O f f e n b a r u n g s z e u g n i s s e s u n d seine B e t o n u n g d e r e x k l u s i v e n S o u v e r ä n i t ä t G o t t e s g a b e n s e i n e m Liebesbegriff d a s G e p r ä g e (vgl. z. B. 11/1,309.394 f). Seine e i n l e i t e n d e E r ö r t e r u n g der menschlichen Gottesliebe f ü h r t e ihn auf Gottes primäre Liebe z u m M e n s c h e n als d e n v o r g ä n g i g e n R e a l - u n d E r k e n n t n i s g r u n d (vgl. 1 / 2 , 4 0 8 - 4 1 8 ) . Alle menschliche Liebe in ihrem freien Tun als „Hingabe des Einen an den Anderen ohne Interesse, ohne Absicht, ohne Z w e c k " (IV/2,854) sei gleichnishaft abbildend, habe ihren Grund im ursprünglichen und urbildlichen Lieben Gottes, sei deshalb Liebe aus Gott (vgl. I Joh 4,7). Das urbildliche erwählende, reinigende und schöpferische Lieben Gottes (vgl. IV/2,869-888) werde in der christlichen Gottesliebe beantwortet (vgl. IV/2,896-909). Die hingebende Liebe sei das dem empfangenen Glauben korrelierende Moment der christlichen Lebensbewegung (vgl. IV/2,829). Das Thema der Liebe Gottes zum Menschen behandelte Barth von der Voraussetzung der Selbstoffenbarung Gottes aus (vgl. II/l,306-334). Der allgemeine Liebesbegriff als Verstehensvor-
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Liebe VII
aussetzung müsse nach dem Spezialfall der Liebe Gottes begriffen werden und nicht umgekehrt. Es gebe kein natürliches ontologisches Wissen von der Liebe Gottes, so wenig wie es eine natürliche Liebe zu Gott gebe. Beides ist für Barth streng an die Offenbarung gebunden. Nur sie gebe Wissen von der Liebe und Motivation zur Liebe. Gottes Tat sei in der Offenbarung sichtbar. Die Aktualität des göttlichen Seins sei sein Lieben. Wenn auch selbst bedürfnislos in seinem Lieben, sei Gott doch gemeinschaftsfähig und gemeinschaftsverwirklichend einem anderen gegenüber. Damit aber habe er in seinem Lieben den Charakter von Ichheit, sei er personifizierende Person (vgl. H/1,320). Gottes in der Offenbarung vollzogene und erkennbare Tat sei die des Liebenden. Gottes Lieben schaffe selbstwerthafte Gemeinschaft. Gottes Lieben sei spontan und voraussetzungslos, ohne jedes Angewiesensein auf eine schon vorhandene Gemeinschaftsfähigkeit des Geliebten. Gottes Lieben sei interesselos und selbstgegründet, weil es in Ewigkeit ihm wesentlich sei. Gottes Lieben sei bedürfnislos gegenüber seinem Gegenstand. Gott sei sich auch in seinem Lieben selbst genug. Seine liebende Zuwendung zu Mensch und Welt sei freies Geschenk. Im Überströmen seiner Liebe bleibe Gott nicht in seiner Selbstgenügsamkeit (vgl. H/1,310-316).
Auch Barth nahm die Unterscheidung von Agape und Eros auf, gab ihr aber eine andere Ausprägung als Nygren (vgl. IV/2,832-853). Er tauchte sie in das versöhnliche Licht von Gottes erwählender Zuwendung. Agape verstand Barth als Entsprechung und Bejahung der menschlichen Natur, Eros als Widerspruch und Bestreitung. Die Negativität des Eros gelte sowohl der von Gott geschenkten und ihm zugewandten Freiheit als auch der personalen Mitmenschlichkeit. Während die Agape die Humanität überbiete, unterbiete sie der Eros. Die den Menschen in Gottes Liebe bergende Agape mache den Eros überflüssig. Die der Liebe Gottes und der christlichen Gottesliebe entsprechende Nächstenliebe verstand Barth als den menschlichen Dienst, dem Mitmenschen die Zuwendung Gottes zu der in Christus erwählten Menschheit und die darauf antwortende Gottesliebe der Gemeinde zu bezeugen (vgl. IV/2,910-936). 3.8. Paul Tillich ordnete in seiner 1954 publizierten Vorlesungsreihe Love, power, and justice die Liebe den Grundstrukturen des Seins zu, die universale Gültigkeit für alles konkrete Seiende haben. Der ontologische Liebesbegriff erfasse im Zusammenhang mit dem Macht- und Gerechtigkeitsbegriff angemessen den Lebensprozeß. „Leben ist verwirklichtes Sein, die Liebe ist die bewegende Macht im Leben" (Werke 11,158). Die Liebe sei die Begründung für und die Antwort auf die polare Struktur des Lebens. Sie lasse Seiendes nach anderem Seienden hinstreben. Durch ihre Fundamentierung im Sein-Selbst könne sie die Wiedervereinigung des Getrennten wirklich vornehmen. Die Selbstdifferenzierung des Sein-Selbst geschehe aus Liebe. Deren Einheit sei Einheit ihrer selbst und der Differenz. Der Prozeß der Aufhebung der Entfremdung, der Wiedervereinigung des Entfremdeten sei dialektisch.
Das Verständnis der Liebe als „Drang zur Wiedervereinigung des Getrennten" (a. a. O. 160), als „Verlangen nach der Einheit des Getrennten" (a. a. O. 158) ermöglichte es Tillich, verschiedene Qualitäten in den Liebesgedanken zu integrieren. Er unterschied die Libido-, Eros-, Philia- und Agape-Qualität der Liebe (vgl. a.a.O. 146). Die Libido verstand er in Korrektur der Freudschen Psychoanalyse (-»Freud) nicht primär als Luststreben, sondern als Streben zur Überwindung eines Mangels, als natürlichen Trieb „zu vitaler Selbsterfüllung" (a.a.O. 161). Die Eros-Qualität der Liebe zeige sich im Streben nach Vereinigung mit dem transpersonalen Schönen und Wahren, die Philia-Qualität in der personalen Vereinigung von Ich und Du. Die Agape-Qualität sei „die Tiefendimension der Liebe oder Liebe in der Bezogenheit auf den Grund des Lebens" (a.a.O. 163). Libido, Eros und Philia seien davon bedroht, die Liebe in einen zerstörerischen Selbstwiderspruch hineinzuführen. Indem die Agape die Libido, den Eros und die Philia durchdringe und mit der Tiefe des Seins erfülle, führe sie alle Qualitäten der Liebe zur wahren Vollkommenheit (vgl. ebd. 220 f). Die Agape binde das Vitalitätsstreben der Libido an die Personalität des anderen, sie suche im andern dessen personale Mitte, sie sehe ihn mit Gottes Augen. Die Agape eigne dem schöpferischen Eros letzten Ernst und Verantwortung zu. Die Agape erhebe die besondere Philia zu einer allumfassenden Liebe. Mit seiner ontologischen Analyse der Liebe wollte Tillich einen alten Deutungsmangel beheben und die protestantische Sozialethik befördern (vgl. Der Protestantismus, 1950: Werke 7,25).
Liebe VII
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3.9. Liebe ist die Grunderfahrung des vom christlichen Glauben bestimmten menschlichen Lebens. Der Liebesgedanke erweist seine theologische Leistungsfähigkeit in der Integration von Dogmatik und Ethik, von Erkenntnis und Tat, von Lehre und Praxis. Wird nur eine dieser Sphären wichtig genommen, so tritt er zurück, wird zum bedeutungsarmen Randbegriff. Soll dagegen die Fülle und der lebendige Zusammenhang aller Lebensakte angemessen begriffen werden, so gewinnt der Liebesgedanke für die christliche Theologie zentrale Bedeutung. Quellen und
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Liebe VIII
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Günter Meckenstock VIII. Dogmatisch 1. Gottes Wesen als Liebe 2. Göttliche und menschliche Liebe 2.2. Eros und Agape (Literatur S. 186)
1. Gottes Wesen als
2.1. Glaube und Liebe
Liebe
Gott ist Liebe (I Joh4,8): Dieser Satz, sagt E. Jüngel, sei formulierte -»Wahrheit. Solle er nicht zur Formel gerinnen, müsse er sowohl gelebt als auch gedacht werden. -»Gott als Liebe zu denken, sei Aufgabe der —»Theologie (430). Daß theologische Arbeit überhaupt nur da ein gutes Werk sei, wo sie in der Liebe getan werde, heißt es umgekehrt bei K. -»Barth (Einführung). Das bedeutet hingegen auch, daß Liebe kein wissenschaftlicher Terminus ist, der seine Bedeutung erst aus einer streng theologischen Ableitung erhielte, sondern ein Wort aus der gelebten Sprache, dessen Bedeutungsfülle die Theologie bedenken und bewahren muß (vgl. T. Rendtorff, Ethik, 1 2 1990, 85). Liebe ist ein Grundwort für einen kommunikativen Sachverhalt. Weil die Liebe das Menschlichste am -»Menschen ist, darum ist sie zugleich auch als das Göttlichste an Gott zu glauben (G. Ebeling, Dogmatik II, 107). Sie ist, wie Ebeling hinzufügt, für uns das Lebensnotwendigste und deckt uns zugleich auf, wie voll von Unmenschlichkeit das menschliche -»Leben ist. Daß Gott Liebe ist, ist, anders ausgedrückt, darum ein verständliches Wort, weil es auf den Grund unseres Lebens verweist; es kann nur als geschenktes und empfangenes Leben recht gelebt werden. Darin kommt aber auch die besondere Aufgabe der —»Dogmatik heraus: daß nämlich die Göttlichkeit der Liebe Gottes als der beständige Grund allen Seins und daher in ihrer Eigenart und Unverwechselbarkeit mit menschlicher Liebe herausgearbeitet werden muß. Sosehr auch der umgangssprachliche Sinn von Liebe als einem kommunizierenden und das eigene Selbst auf einen anderen hin transzendierenden Verhalten mitgesetzt bleibt, erfährt er doch im theologischen Denken einen Bedeutungswandel. Die Theologie, heißt das bei Jüngel (431), habe einerseits dem Wesen der Liebe zu genügen, die auch als Prädikat Gottes dem nicht widersprechen dürfe, was Menschen als Liebe erfahren. Und sie habe andererseits dem Sein Gottes zu genügen, das vom Ereignis menschlicher Liebe doch so unterschieden bleibe, daß „Gott" kein überflüssiges Wort wird. Ähnlich Ebeling, der die theologisch präzisierende Interpretation der Liebe Gottes, die sich auf das menschliche Vorverständnis von Liebe erkennbar auswirkt, in einer Beschreibung sieht, bei der es nicht etwa nur um gewisse Nuancen auf dem Boden des bestehenden Konsenses gehe, sondern gegebenenfalls um das Aufdecken eines tiefen Dissenses, jedoch auf dem Boden eines gemeinsamen Tatbestandes (II, 101 f). Dieses Beschreiben wird sachgemäß anfänglich ein Umschreiben sein. P. —»Althaus tut das, indem er das Wesen der Liebe Gottes in seiner -»Gnade sieht. Das heißt auch, von Gnade ist nicht erst bei Gottes Liebe zu den Sündern zu sprechen, seiner Erlöserliebe, sondern schon bei der Liebe des Schöpfers. Genauer sind es gleichsam drei Namen, mit denen Gottes Liebe zu bezeichnen sei: Die Liebe Gottes heiße -»Barmherzigkeit, sofern sie sich der Not der Menschen annimmt; Gottes Liebe heiße —»Treue, weil sie nicht eine einmalige, vorübergehende Zuwendung Gottes zu uns ist, sondern eine andauernde; Gottes Liebe heiße —»Geduld, sofern sie den Widerspruch der Sünder ertrage (280ff).
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Darin kommt ein zweifaches Interesse zum Ausdruck. Das ist zum einen das Interesse an einem inhaltlichen Begriff göttlicher und menschlicher Liebe als reiner, personaler -•Gemeinschaft. Dieser dürfe nicht wie bei A. -»Ritsehl oder Th. —»Häring (279, Lit.) ein anderer, nur scheinbar weitergehender Zweck unterstellt werden. Sofern dies besagt, daß Liebe, theologisch begriffen, niemals nur als ein Mittel gemeinschaftlicher Selbstverwirklichung, sondern immer zugleich als ihr eigener, gemeinschaftsstiftender Zweck vorgestellt werden sollte, ist das ein unverzichtbarer Hinweis auf die Unbedingtheit der Liebe: unzweideutiges Einverständnis mit der Existenz des anderen (vgl. Pieper 90) und Teilnahme an ihr. Zum zweiten, und schon sich andeutend, ist es das Interesse an der Beständigkeit der Liebe: verläßliches, vertrauenswürdiges Festhalten aneinander. Und sofern dies die umfassende Bestimmung menschlicher Liebe ist, hat sie ihren Bestimmungsgrund in Gottes Liebe, deren Göttlichkeit darin besteht, daß sie selber grundlos, allein in der Freiheit Gottes begründet ist. Gottes Liebe ist grundlos und insofern schöpferisch (Thielicke, Glaube I, 233). Sie ist schöpferische Liebe, indem sie das Gutsein alles Geschaffenen verbürgt und auch das Schlechtsein des Geschöpfes, die Häßlichkeit des Sünders, der nicht liebenswert ist, wirksam zum Guten wendet: Gott liebt, wie Luther in den Heidelberger Thesen (1518) sagt, die Menschen nicht, weil sie schön sind, sondern weil Gott sie liebt, sind sie schön. „Amor Dei rtott invenit, sed creat suum diligibile" (WA 1,365). Ebendies zeigt aber auch an, daß die göttliche Liebe leidende Liebe ist, die sich der Lieblosigkeit nicht entzieht, sondern sie überwindet. Beides, schöpferische und leidende Liebe sind die Merkmale der „reinen Liebe" (Ebeling, Dogmatik II, 107 f). Und diese „reine Liebe" hat ihren Vermittlungs- und Erkenntnisgrund in der Menschwerdung Gottes. Der Glaubenssatz, daß Gott Liebe ist, ist deshalb ursprünglich und, immer auch angefochten von der Erfahrung des -»Bösen, ein doxologischer Satz (ebd. 110). Alle Umschreibungen der Liebe Gottes (inenarrabilis, inaestimabilis, irtopinabilis, nach einer Kantate von Giacomo Carissimi) reden von dem Geheimnis der Leidenstiefe des -»Kreuzes Jesu: veri Signum amoris, o vulnera doloris. Und eben: Der Glaube an die Treue und Beständigkeit der göttlichen Liebe begründet die eigentliche Menschlichkeit des Menschen als „Sein im Danken" (K. Barth, KD 111/2,198ff): „Dankendes Sein" ist es, der Gnade Gottes entsprechend, weil die Voraussetzungen eines geschöpflich gelingenden Lebens allein durch Gott gegeben sind. Diese Überzeugung findet ihren angemessenen Ausdruck in der Lehre von den „Vollkommenheiten der göttlichen Liebe" und im inneren Zusammenhang damit von den „Vollkommenheiten der göttlichen Freiheit" (KD II/l, Kap. 6). K. Barth sagt: Die göttliche Liebe sei schon darin die vollkommene Liebe, das unerreichbare Urbild und der reale Grund aller geschöpflichen Liebe, daß sie nicht von der Voraussetzung eines vorgefundenen und wegen seines Daseins und Soseins liebenswerten anderen herkomme, sondern eben diese Voraussetzung selber schaffe. „Gott liebt das Wesen, das ohne ihn gar nicht wäre, das nur durch ihn ist" (KD 1II/1, 105; s. auch KD 1/2, § 18.2: Die Liebe Gottes). „Es ist und existiert ja allein auf Grund und im Vollzuge des Aktes der Herrlichkeitsoffenbarung der freien Liebe Gottes: der Liebe, die Gott ihm zugewendet, ohne daß er sie ihm schuldig war, der Liebe des Vaters und des Sohnes im Heiligen Geist, der Liebe, die schon in dem ewigen Ratschluß der Dahingabe seines Sohnes zugunsten des Menschen nicht ohne einen konkreten außergöttlichen Gegenstand sein wollte" (ebd. 261).
Sosehr nun aber die evangelische Theologie insgesamt auch - in der Linie der theologischen Reflexion auf die verläßliche Begründung menschlichen Seins im Gottesattribut der Liebe —Gottes Wesen in seinem Werk sieht, sosehr bleibt doch die unmittelbare Wirklichkeitserfahrung als -»Anfechtung des -»Glaubens eine Herausforderung an die Theologie, der Spannung, wenn nicht Widersprüchlichkeit zwischen anscheinend oder scheinbar verschiedenen Werken Gottes begrifflich gerecht zu werden. Die Apologie des -»Augsburger Bekenntnisses unterscheidet mit -»Luther zwischen zwei Hauptwerken Gottes: zu erschrecken und die Erschrockenen zu rechtfertigen und lebendig zu machen (Ap. XII, 521; vgl. WA 5,63). Ersteres ist sein fremdes, uneigentliches Werk ( o p u s alienum), letzteres sein eigenes, eigentliches Werk ( o p u s proprium). Wenn so der in Zorn und Gnade handelnde Gott erfaßt wird, erscheint die Liebe unzweideutig als Gottes Wesen, während der Zorn der Schatten oder Entzug seines Wesens ist (Pöhlmann 108). Weil das aber bei Luther mit der Unterscheidung zwischen dem verborgenen Gott (deus absconditus) und dem offenbaren Gott ( d e u s revelatus) verknüpft ist, konnte das in der evangelischen Dogmatik auch zu zwei unterschiedlichen Reihen von „Eigenschaften" Gottes führen.
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Liebe VIII
„Die Reformierten unterscheiden überwiegend zwischen attributa communicabilia und attributa incommunicabilia ... Die lutherische Orthodoxie hat mit Vorliebe die Unterscheidung in attributa relativa und attributa absoluta vollzogen. Insbesondere die letztere Unterscheidung geht ersichtlich von dem Unterschiede ,Gott an sich' - ,Gott uns gegenüber' aus und meint, Attribute ,Gottes an sich' nennen zu können" (O. Weber, I, 445f). Daß die Duplizität bzw. Polarität, die sich in den Aussagen über die Eigenschaften Gottes ausdrückte, als solche festzuhalten ist, weil sie einen theologisch unhintergehbaren Sachverhalt bezeichnet, bleibt auch für die heutige evangelische Theologie gültig. Strittig ist hingegen, ob es sich dabei um ursprüngliche Wesensgegensätze zwischen der -»Heiligkeit und der Liebe Gottes handelt. Pöhlmann weist auf E. —>Brunner und R. Prenter hin (118 f); dieser bezieht in der Tat die Erfahrung des Zornes Gottes ontologisch auf das Absolute, um jede Harmonisierung der Spannung abzuwehren, einer Spannung zwischen „Gott und Gott". Oder ob nicht vielmehr mit Barth eine — ursprüngliche und nicht wie auch bei ->Calvin (vgl. O. Weber, I, 448f), der sich gegen die Lehre von „zwei Willen", einer duplex voluntas in Gott wendet, für unsere Erkenntnis erst endzeitliche - Einheit des Bundeshandelns Gottes angenommen werden sollte, eine Einheit, die sich in zwei Grundzügen seines Wesens auslegt, so daß die traditionelle Duplizität als Reflex jener Doppelheit in der —• Offenbarung selbst (als des in seiner Gottheit Freien) erscheint. Das kann dann zwar als eine monistische Eigenschaftslehre beurteilt werden, insofern die Heiligkeit Gottes nicht mehr als Gegenbegriff, sondern nurmehr als Unterbegriff seiner Liebe in Betracht kommt (Pöhlmann 120). Es bleibt jedoch darin bewahrt, daß Gott seinem Wesen nach heilige, freie, souveräne Liebe ist, daß er als der sich uns Zuwendende doch nicht aufhört, er - selber zu sein; seine Liebe, so O. Weber (vgl. 1,445 f.449f), ist als seine gottheitliche Liebe ihrem Wesen nach heilig. Wenn nach Barth Gottes Gnade und Heiligkeit, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, Geduld und Weisheit (KD II/l, 394ff) als „Vollkommenheiten" seiner Liebe gelten (bei O. Weber, I, 473: Gerechtigkeit, Weisheit, Wahrhaftigkeit und Heiligkeit), liegt es nahe, an A. Ritschis Gotteslehre zu denken. Auch für ihn ist der christliche Grund-Satz „Gott ist Liebe" das eine, maßgebliche Prädikat der Gottesvorstellung; entweder wird Gott als Liebe gedacht oder er wird gar nicht gedacht (III, 238 f, 243). Die Vorstellungen von Gottes Zorn oder Strafgerechtigkeit sind deshalb als religiös wertlos, erledigt zu betrachten. Auf die Parallele zu Barth hat Timm hingewiesen (Theorie u. Praxis 66), aber auch Althaus sah beide in großer Nähe zueinander (288 f). Demgegenüber muß man jedoch festhalten, daß Ritsehl den Zorn Gottes für ein subjektives Empfinden im Menschen hielt, während Barth das wirksame Nein zur Sünde in Gott selbst betont, und das heißt: als Gottes Liebe, die sich gegen ihre eigene Abweisung richtet. Bei ihm findet sich nicht der spannungslose Gedanke der Liebe Gottes, der zu der geläufigen Kritik an Ritsehl Anlaß geboten hat, er habe Gott zum „lieben Gott" verharmlost. P. Althaus hat gleichwohl den Unterschied zwischen theologischen Interpretationen der Liebe Gottes je nach den dogmatischen Kontexten „Evangelium und Gesetz" oder „Gesetz und Evangelium" getroffen, wenn er sagt: Barth zufolge lehre die Heilige Schrift, daß das Gesetz im Evangelium und darum die Heiligkeit Gottes nicht neben, sondern in seiner Gnade, sein Zorn nicht neben, sondern in seiner Liebe zu finden sei. Rom 1,18 u. 5,9 wüßten aber nichts von einem Zorn in der Liebe, sondern von dem Zorn, aus welchem die Liebe rette (288 f). Diese Unterscheidung ist schon Gegenstand einer frühen Kontroverse gewesen. Althaus fragte, ob wirklich die Liebe als die einzige Weltverfassung denkbar sei, und Barth antwortete, ja, das sei so, denn die in der Bergpredigt „gedachte" Liebe Gottes sei entweder eine Illusion oder aber die einzige „Weltverfassung", obwohl der uns allein bekannte Weltzustand uns in ausgesprochener Weise als Nicht-Liebe gegenüberstehe (Gestrich 69 [Lit.]). 2. Göttliche
und menschliche
Liebe'
2.1. Glaube und Liebe ... wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm (I Joh 4,16). Die Fortsetzung des Glaubenssatzes „Gott ist (die) Liebe" zeigt das theologiegeschichtlich strittige Problem an, wie sich das Sein in der Liebe als die Grundgestalt christlichen Lebens zum Geliebtsein als dem Empfangen eines neuen Existenzgrundes verhält. Die Frage nach dem rechten Verhältnis von Glaube und Liebe ist deshalb die Vorfrage für die
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nach der reinen menschlichen im Bezug auf die reine göttliche Liebe, die ihr Urbild ist und deren Entsprechung sie darstellt. Ebeling, der das Sein in der Liebe als das Sein in Jesus Christus und ebendadurch als reines Empfangen im Glauben bezeichnet (Dogmatik II, 126 f), zitiert Luther: „Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und in seinem Nächsten: in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott. Aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe. Und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe" (WA 7, 3 8 , 6 - 1 0 [Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520]; Lutherstudien III, 129).
O. Weber weist mit Bezügen auf -»Melanchthon (Loci 1521), Calvin (Inst. III, 11,20) und Barth (KD IV/1, 699) den Gedanken, der Glaube bedürfe der Formung durch die Liebe (Thomas von Aquin, S. th. II, 2, 4, 3; conclusio: Die chantas als forma fidei) als fundamentales Mißverständnis des Glaubens zurück, weil Paulus zwar von Glaube, Hoffnung und Liebe gesprochen, aber mit der -»Rechtfertigung nur den Glauben als reines Empfangen in Verbindung gebracht habe (II, 309ff.337). Und auch Ebeling hebt als Luthers Neuerung gegenüber der Tradition hervor, daß er die Summe des Christlichen in „Glaube und Liebe" begriffen sieht. Dieses auch ursprünglich paulinische Wortpaar sei im theologischen Sprachgebrauch vor allem durch Augustin und im Anschluß an ihn in der -»Scholastik von der triadischen Formel Glaube, Hoffnung, Liebe nach I Kor 13,13 verdrängt worden. In philosophischer Sprache als Tugenden, d . h . Tüchtigkeiten allerdings übernatürlicher Art verstanden, bilden sie als Bauelemente scholastischer Gnadenordnung eine Rangfolge, die in der Liebe gipfelt. So auch O. Weber, der aus demselben reformatorischen Interesse an reiner menschlicher als von Mitwirkung am Heil (-»Heil und Erlösung) bzw. der sittlichen Vollkommenheit entlasteter Liebe die Vorstellung verwirft, der Glaube — selber eine virtus theologica - empfange durch die Liebe - als der höchsten der theologischen Tugenden fides, spes, caritas - seine forma, d. h. das, worin sich eine Wesenheit in Wirkung setzt. Auf diese Weise würden Glaube und Liebe zur Leistung. Die Liebe sei aber „des Gesetzes Erfüllung" (Rom 13,10) gerade nicht als Leistung, sondern als reine Zuwendung zu Gott und dem Nächsten, in der nichts verlangt und nichts erwartet werde (II, 309f). Weber merkt jedoch an, daß die Auffassung von der Liebe als der Form aller anderen Tugenden ( f o r m a virtutum), abstrakt genommen, auch bedeuten könnte: Der Glaube habe in der Liebe seine wesensgemäße Gestalt, er sei ohne Liebe nicht da. Das eröffnet heute neue Verständnis- und Verständigungsmöglichkeiten, wo ethische Entwürfe aus katholischer Tradition die Wirklichkeit des Lebens auf die Grundgestalt der Liebe beziehen, um damit die Auferstehung Christi als die Verlebendigung des menschlichen Daseins durch die Liebe zu bezeugen (vgl. Mieth 185f). Es wäre aber in jedem Fall die gleiche prinzipielle theologische Frage zu stellen, die M . Honecker auch an -»Schleiermacher richtet, für den Glaube und Liebe in der Wiedergeburtserfahrung zur Einheit werden: ob nicht auch für den Christen die Unterscheidung von Glaube und Liebe notwendig bleibe. Die Liebe dürfe nicht faktisch an die Stelle des Glaubens treten. Genauer entfaltet, heißt diese fundamentaltheologische Frage: „Der Glaube vertraut nämlich auf die Macht der Liebe aufgrund erfahrener Zeichen der Liebe, aber auch gegen den Augenschein der Wirklichkeit. Er erfährt Liebe in einer Begegnung. Er findet sie also nicht in sich selbst vor. Kein Mensch kann die Liebe sein. Das weiß und lehrt auch Schleiermacher. 5167 der Glaubenslehre lehrt mit 1. Joh. 4,16 ,Gott ist die Liebe'. M ü ß t e dann aber nicht die Unterscheidung von Liebe Gottes und menschlicher Liebe auch im Menschsein zwischen Glaube und Liebe, zwischen dem Vertrauen auf Gottes im Wort zugesprochene liebende Zuwendung und der eigenen Verwirklichung menschlicher Liebe in dem Nächsten förderlichen und dienlichen Handlungen unterscheiden lassen?" (Honecker, Nachwort 137f)
Im Menschsein heißt hier: als eine Fundamentalunterscheidung zwischen Glaube und Handeln, Person und Werken, „Baum und Frucht". Das trifft genau den Kern des reformatorischen Interesses an der Unterscheidung von Glaube und Liebe nach Maßgabe einer
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Bewegung, die mit Ebelings Lutherinterpretation den Menschen als Schnittpunkt zweier Relationen versteht: einer Bewegung, die von Gott her auf den Nächsten zielt. Die Bewegung auf Gott hin entschwinde dabei nicht, sie werde aber nicht mehr als ein Aufstieg in die Vollkommenheit oder als mystischer Aufschwung zu Gott hin, sondern als eine Bewegung des Lebens auf den Tod hin verstanden. Die Kontrastierung mit der Tradition heißt dann: „dort eine Klimax der Bewegung zu Gott hin, hier die Präsenz ewigen Lebens in diesem Leben" (Ebeling, Lutherstudien III, 135). Glaube und Liebe also als die entsprechenden Relationen des Menschen zu Gott und zum Mitmenschen, was für den Menschen selbst bedeutet, daß das ihm gewährte Bleiben in der Gemeinschaft mit Gott, modern ausgedrückt, ihn freistellt vom Zwang zur Selbstverwirklichung. Die christologische Begründung dieser Freiheit, so T. Rendtorff, besagt, daß sie die Wirklichkeit einer Gemeinschaft mit Gott zum Inhalt hat. Das sei der spezifisch theologische Grundsinn von Liebe: Liebe als Begriff und Vorstellung der Gemeinschaft Gottes mit den Menschen ist die Bedingung dafür, daß die Freiheit der Rechtfertigung zugleich als Erfüllung des „Gesetzes", d. h. des Willens Gottes gewußt werden kann (Ethik, I 2 1990, 86). 2.2. Eros und
Agape
„Glaube und Liebe" als Thema der Entlastung des Menschen vom Gesetz der Vollkommenheit: Das wird nun im Zusammenhang der allgemeinen neuzeitlichen Frage nach der Menschlichkeit des Menschen zum fundamentalanthropologischen Thema der Entsprechung der menschlichen zur göttlichen Liebe, einer analogia caritatis (Ringeling, Theologie 248; vgl. Böckle 224, auch O. Weber [I, 633]: Imago Dei als fortdauernde Bestimmtheit des Menschen zur Liebe). Das findet in der protestantischen Theologie, wo sie sich vom sog. —•Kulturprotestantismus abgrenzt, seinen problematischen Ausdruck in der Unterscheidung und Beziehung zwischen Eros und Agape als idealtypischen Begriffen für theologisch unterschiedliche Lebensverständnisse. Dabei kann für diese Ausgangslage vorausgesetzt werden, daß die Liebe des Christen als Antwort, als „Frucht des Geistes" (Gal 5,22) gilt, als antwortende Analogie zu Gottes Handeln und insofern, wie O. Weber betont, auch nicht „Funktion" oder „Ausfluß", wenngleich eben nicht als mitwirkende Partnerschaft (I, 633; II, 367 f), was Thielicke im Sinne Luthers und mit Kritik am -»Heidelberger Katechismus noch schärfer zu fassen sucht: „Meine Liebe ist nicht die ,Folge' dessen, daß Gott mich liebt, sondern die ,Kehrseite' dessen. Sie ist es jedenfalls dann, wenn ich Gottes Liebe in Christus sehe und propter Christum sola fide annehme" (Glaube I, 248).
Der Glaube setzt die Liebe frei (Schwarz 93 und mit weiteren Lutherzitaten); so verstanden, muß sie aus dem Glauben fließen, und der Glaube ist ihr Kriterium. Und vorausgesetzt werden kann demnach auch, daß ebendieses Kriterium gleichbedeutend mit einer Dominanz jener Bewegung „von Gott h e r " ist: Das „zu Gott h i n " kommt in der theologischen Wendung gegen Katholizismus und Modernismus zunächst nur so zur Geltung, daß der Primat der Liebe nach I Kor 13,13 als der Höhenweg über allen erstrebten Charismen (I Kor 12,31), wie Ebeling sagt, in dem Primat des Glaubens als der Bejahung der Liebe Gottes bereits gesetzt ist. Der Primat der Liebe ist dann teleologischer Art, indem der Glaube auf die Liebe zielt (Dogmatik II, 538). Die lex fidei, heißt das bei J. Heckel aus dem Interesse an einem gegen die Freiheitsideale der -»Aufklärung konzipierten -»Recht auf der ontologischen Grundlage der Liebe als ins Selbstlose gewendeter menschlicher Eigenliebe, hat Vorrang vor der lex charitatis (im engeren Sinn der Nächsten- bzw. Bruderliebe), denn (mit Luther) „der Glaube ist der Täter und die Liebe ist die T a t " (190-193). In dieser Bestimmung spiegelt sich aber auch schon eine anthropologische Grundentscheidung für „reine" menschliche Liebe im Anspruch der göttlichen Liebe als Selbst-
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losigkeit aufgrund des Empfangens von Leben und Heil im ausschließenden Unterschied von Selbstliebe als Ausdruck des individuellen und kollektiven Strebens nach besserer Entfaltung, Entwicklung, Verwirklichung der Natur des Menschen. Sofern die Entgegensetzung von Eros und Agape diesen Gegensatz von Selbstliebe und Gottesliebe typisiert, ist sie z w a r nicht neu, auch nicht erst reformatorischen Ursprungs. Bei - » A u g u s t i n ist d a s theologische Urbild der Konfrontation zu finden (De civ. Dei X I V , 2 7 [ C C h r . S L 4 8 , 4 5 1 ] ) : Den zwei civitates entsprechen zwei Arten der Liebe, die irdische oder die Selbst-Liebe ( a m o r sui) bis zur Geringschätzung G o t t e s und die himmlische, wahre Liebe zu G o t t bis zur Geringschätzung des eigenen Selbst. E r bezieht das G e b o t der Selbstverleugnung ( M k 8,34) auf die Caritas, der auch die harten Vorschriften leicht werden (PL 3 8 , 5 8 4 ) , scharf unterschieden von der ungezügelten und ungeordneten, maßlosen Liebe zum eigenen Selbst und zur Welt (vgl. Kuhn 2 2 6 ff; Raffelt 146; Jüngel 4 3 6 ) . Mitgesetzt bleibt aber in der vorreformatorischen Tradition der ordo amoris, einer Liebe, die auf die T e i l h a b e an der göttlichen N a t u r zielt, eine aufsteigende und aufstrebende Liebe n a c h dem Urbild der mystischen Himmelsleiter, wobei die thomistische T h e o l o g i e die menschlich-göttliche L i e b e in ein wohlabgewogenes Ganzes einfügt. Darin erhält die Freundschaft (amor amicitiae) eine Vermittlungsqualität, die das „ e u d ä m o n i s t i s c h e " Streben nach ewiger Seligkeit mit der Interesselosigkeit reiner Liebe verbindet und diese in ihrer ganzen H ä r t e als Transzendierung des eigenen Ichs beschreibt (Raffelt 150).
Angeregt von H. -»Scholz und vor allem A. -»Nygren, für den Agape und Eros als Selbsthingabe und Selbstbezogenheit zu Synonymen für Gut und Böse werden, versuchen auch reformierte Theologen wie E. -»Brunner und K. Barth (aber auch P. Tillich, GW III, 35), das Grundwort Agape in den allgemeinen Sprachgebrauch einzuführen, um damit die „christliche Liebe" zu bezeichnen. Auch D. de Rougemont, dessen Auffassung derjenigen Nygrens entspricht, ist h'ier zu nennen (363ff). Gegenüber der älteren Literatur bekundet sich darin ein höheres, insbesondere die neutestamentliche Sprache aufnehmendes Problembewußtsein (Timm, Geist 31), aber eben auch das Interesse an einer Begriffsbildung, die eine Dichotomie zwischen der Natur des menschlichen Geschöpfes und ihrer Heiligung in Jesus Christus ausdrücken soll. Bei Nygren grenzt das an -»Manichäismus, weshalb auch Barth dessen schroffe Antithetik kritisiert und der weniger polemisch angelegten Unterscheidung bei H. Scholz den Vorzug gibt (KD IV/2, 837. 840; vgl. auch Jüngel 436f; Peters 156f). Das Entweder-Oder als Absage an ein nichtreformatorisches Sowohl-Als auch bleibt jedoch die grundlegende Denkfigur. Die R a d i k a l i t ä t der Unterscheidung kann auch an - » K i e r k e g a a r d a n k n ü p f e n . Für diesen ist die u n m i t t e l b a r e Liebe des Triebes und der Neigung, erotische Liebe wie auch die Freundschaft, o b j e k t b e s t i m m t , zeitliche, nämlich von den liebenswerten Eigenschaften ihres Gegenstandes abhängige und deshalb auch unbeständige, d . h . in Wirklichkeit Selbstliebe. W a h r e Liebe ist dagegen von solchen Bestimmtheiten unabhängig; sie gründet in der Forderung der Ewigkeit und gewinnt aus solcher Pflicht ihre Beständigkeit in der Selbstverneinung. Nächstenliebe ist Liebe der Selbstverleugnung: Sie treibt alle Vorliebe aus, wie sie alle Selbstliebe austreibt und wird dadurch zur universalen Liebe, die sich auf den M e n s c h e n als M e n s c h e n richtet (vgl. Hauschildt 1 5 6 - 1 6 2 ) .
Das reformatorische Interesse an der Entlastung des Christen von einem Heilsstreben infolge eines mißverstandenen Glaubensanspruchs und einer augustinischen Verurteilung der dafür noch maßgeblichen Selbstherrlichkeit des Menschen - als der „schädlichsten Pestilenz", in der auch nach Calvin die Selbstliebe gründet, der er, wie Luther, das odium sui, die Selbstverleugnung entgegensetzt (Inst. III, 7,1) - wird in ein anthropologisch prinzipielleres übersetzt, indem der Natur des Menschen als solcher ein unheilvolles („ethisches") Streben nach Vollkommenheit unterstellt wird. Mit dieser Annahme (wie auch mit der dichotomischen Denkform selber (s. Timm, Geist 25) bleibt die bekämpfte kulturprotestantische Orientierung der -»Ethik an der Absolutheit des Guten weiterhin bestimmend, allerdings so, daß die Ausrichtung des menschlichen Handelns in einer zeitlichen Perspektive auf das Gute hin umgekehrt wird in die Herkunft des Guten von der Gnade als seiner vorgegebenen, ewigen und allein in reinem Empfangen aktualisierbaren Wirklichkeit. B e s o n d e r s deutlich wird dieser neue theologische Ansatz bei N y g r e n , der den Bestimmungsgrund der göttlichen für die menschliche Liebe in der Alleinwirksamkeit G o t t e s sieht. D a s S u b j e k t der
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christlichen Liebe sei gar nicht der Mensch, sondern Gott selbst; der Christ sei nur der Kanal, das Rohr für Gottes herabströmende Liebe. Die göttliche Liebe verwende den Christenmenschen als ihr Werkzeug und Organ; im Glauben empfange er Gottes Liebe, in der Liebe gebe er sie weiter an den Nächsten (II, 556 ff; kritisch Barth, KD IV/2, 853 f; Pieper 102 £).
Die Ausschaltung der eigenen Verantwortung des Menschen bei Nygren teilen allerdings weder Barth noch Brunner. Bei Brunner erscheinen Eros und Agape als Grundbefindlichkeiten des Lebens. Gros ist das Hinaufstreben der menschlichen Natur als Liebe zu dem, was von Wert für mich ist, Agape die Entsprechung zur Herablassung Gottes zum Menschen, eine Liebe, die Verantwortlichkeit nur als „Gehörigkeit" (Eros 22; Gebot 43), nicht aber als selbstbestimmte Freiheit kennt. Christus als der Erkenntnis- und Realgrund des Lebens in der Liebe (Gebot 43) wird dem „erotischen Lebensverständnis" entgegengesetzt. Auf den Kernpunkt des Interesses gebracht, heißt dies: Das Denken des „modernen Vernunftmenschen", wie es sich in der Aufklärung ausbildet, ist die unzweideutige Manifestation gottloser Eros-Selbstliebe (Eros 17 f). Die offenbarungstheologische Position steht hier für die Opposition einer glaubensbestimmten Gebotsethik zu jeder Art von Wertverwirklichung und Weiterentwicklung des „natürlichen" und in seiner Natur bedürftigen Menschen. Der Eros hat zwar seine gottgegebene Bedeutung, aber nur als Mittel zur Anerkennung der präsentisch gegebenen Ordnung der -»Gemeinschaft von Personen, d. h. Anerkennung des anderen Menschen in seinem bloßen Dasein. Die Formel dafür heißt: „Ich liebe dich, weil du da bist, nicht, weil du so bist" (Eros 26; kritisch diskutiert von Pieper [90f], der als Testformel der Liebe vorschlägt: „Gut, daß es dich gibt"). Während für Brunner das Leben des Christen, der sich „in Liebe, durch Liebe, zur Liebe" geschaffen weiß (Gebot 280), im unversöhnten Widerstreit von Eros und Agape geführt werden muß (Eros 30), läßt die christologische Konzentration des Wirklichkeitsverständnisses auf den einen Menschen Jesus Christus bei Barth einen schöpfungstheologisch bestimmten und erkennbaren Begriff der -»Humanität als ein Drittes zwischen Eros und Agape zu. Tertium datur: Auf die neuere Eros-und-Agape-Literatur eingehend, läßt Barth den zum Idealtypus stilisierten Eros (als Drang nach oben, zum Göttlichen hin, scharf unterschieden von der Zuwendung zu einem anderen um dessen selbst willen) nur als eine geschichtliche Deutung der menschlichen Natur gelten, wie allerdings andererseits auch die christliche Liebe, d. h. die neutestamentliche Agape keine Bestimmtheit der menschlichen Natur als solcher ist, sondern in der Geschichte des Menschen mit Gott wirklich wird. Dies gewiß auch in bleibendem Widerstreit, denn die Erosliebe ist eine für das Selbstverständnis des Menschen in der Sünde naheliegende, wenngleich seine wirkliche Humanität nicht treffende „Möglichkeit" seiner Natur, als ein „Katalogon", durch das er gegen seine Natur existiert. In Wirklichkeit ist und bleibt er nämlich dank Gottes Gnade der Mensch, der in der Freiheit seines Herzens - „gerne" - mit dem Mitmenschen zusammen ist. Die durch dieses „gern" bezeichnete formale Humanität wird von der christlichen Liebe erfülle. Die Perversion der Humanität wird in ihr rückgängig gemacht. Dabei bleibt das Wahrheitsmoment des griechischen Eros (noch einmal jenes „gerne") als das Menschliche in der Liebe des Christen aufgehoben. So aber wird dann auch, weil die Agapeliebe zwar etwas Neues, aber in Entsprechung zur menschlichen Natur als ein „Analogon" ist, der Eros schlicht überflüssig gemacht. Quod deus bette vertat!, kommentiert Jüngel (436; KD III/2,331 - 3 4 4 ; IV/2,829ff.841 - 8 5 2 ; Outka Kap. 7). Die geistreiche Bemerkung Barths darf nicht fehlen: „Agape verhält sich zu Eros wie Mozart zu Beethoven. Was gäbe es da zu verwechseln?" (Einführung 157).
Die Agape transformiert und integriert (ebd.) den begehrenden, bemächtigenden Eros, der durch Gottes Gebot geheiligt ist (KD III/4, 246), in eine Bewegung, in der sich der Mensch (in „Selbstverleugnung") von sich abwendet. „Das ist aber nur der kritische Anfang, in dessen Fortsetzung die Liebe sich einem anderen zuwendet." Dies ist die Liebe als Hingabe, die dem Glauben als Empfangen entspricht (KD IV/2, 829ff), anders als bei Nygren und Brunner auch als Liebe zu Gott. Das heißt aber nach Barth für die christliche Lebensführung, die als menschliche überhaupt von der „Weltverfassung" der Liebe Gottes bestimmt ist, daß sie die geschichtlichen Ordnungsgestalten immer auch transzendiert. Die Humanität besteht in der befreienden, den Mitmenschen (nach Maßgabe der
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Beziehung von Mann und Frau) zu seinem Seinkönnen freigebenden Liebe (KD III/4, 189-192. 213. 220). Die göttliche Liebe begründet einen Entdeckungshorizont, in welchem sich („von Gott her") neue Möglichkeiten der Entfaltung und Verwirklichung menschlicher Natur zeigen - allerdings stets in der Konkretheit des hier und jetzt „oppositionell" gebotenen Uberschreitens gegebener Kulturverhältnisse, nicht in der Weise einer Konstruktion neuer Daseinsformen, die „vom Menschen her", nämlich aufgrund einer Analyse und Theorie ebendieser gegebenen Wirklichkeit selber, gesucht und geplant werden müssen. Das bedeutet zugleich einen Themenwechsel; Dogmatik und Gebotsethik bedürfen, um sich nicht „lieblos", sondern „lebensvoll" zur Wirklichkeit ins Verhältnis zu setzen, einer human-, sozial- und moralwissenschaftlich erweiterten „ethischen Theologie" (Rendtorff, Ethik, I 21990, 42ff). Gollwitzers und Jüngels Kritik an Barth führt ebenfalls dahin, indem sie das Phänomen der menschlichen Liebe im theologischen Denkvollzug zur Geltung bringt. Gollwitzer erkennt eine falsche Analogie in der Lehrmeinung, weil Gottes Liebe unerotisch sei, müsse auch unser Lieben unerotisch werden, nicht mehr Eros, sondern nur Agape. Das gehe deshalb nicht, weil der Eros die geschöpfliche (und nicht: die sündige) Gestalt unserer Liebe sei (43; vgl. Pieper llOf). Auch könne die „Selbstverleugnung" sich zwar auf Jesu Worte berufen, daß der Jünger sich selbst und Vater und Mutter hassen müsse um der Nachfolge Christi willen (Lk 14,26). Das könne aber nicht als erschöpfende Formel für das ganze Leben angesehen werden, sondern gelte für zugespitzte Entscheidungssituationen (38; s. auch Mieth 183). Jüngel setzt gegen die Alternative von Eros und Agape eine Dialektik des Seins, die im Wesen der Liebe walte: Liebe als ein Ereignis gegenseitiger Erwählung und Selbstverlust im Ereignis der Liebe als von vornherein überholt durch das neue Sein, das das liebende Ich vom geliebten Du im Akt der Hingabe empfängt, ein „zuvorkommender Seinswechsel" und daher Vereinigung (Unitio) von Ich und Du (438 -444). Darin komme die Eros und Agape gemeinsame Struktur der Liebe zum Vorschein. Dagegen sei Liebe ohne irgendeine Weise der Selbstbezogenheit eine maßlose Abstraktion, gleichsam eine Verfälschung der Liebe von oben, während umgekehrt Liebe „ohne immer noch größere Selbstlosigkeit" die genau entgegengesetzte Abstraktion sei, sozusagen eine Verfälschung der Liebe von unten (436). Literatur s.S. 186
Hermann Ringeling
IX. Ethisch 1. Die Universalität und Radikalität des Liebesgebots 2. Das Prinzip Liebe in der theologischen Ethik 3. Selbstliebe und Selbsthingabe (Literatur S. 186)
1. Die Universalität und Radikalität des Liebesgebots 1.1. Universalität. Das fundamentalethische, nämlich alle Modalitäten eines ethischen Konzepts grundlegend bestimmende Problem der Universalität des christlichen Liebesgebots zeigt sich in empirischer und historischer Sicht anders als in der offenbarungstheologisch apriorischen, für die beispielhaft K. Barths Postulat der einen Weltverfassung entsprechend der universalen (vgl. aber zur „Universalität" bei Barth Outka 210ff) Liebe Gottes in dem einen Menschen Jesus Christus anzuführen war: nicht als Problem des Ursprungs, sondern des Ziels. T. Rendtorff (Problemfelder 208 ff) diskutiert das mit Bezug auf A. Gehlen, der einer „überdehnten" universalen Liebesethik (Humanitarismus) und überhaupt einer Ethik „aus einem Guß" gegenüber einen Pluralismus letzter, d.h. funktionell wie genetisch unabhängiger Instanzen der Ethik vertritt (Gehlen 10.38). Er stimmt ihm darin zu, daß die Einheit einer Begründung der Ethik nicht in den genetischen Voraussetzungen zu suchen sei. Das heißt also insbesondere auch: nicht in einem immer schon einheitsstiftenden Prinzip Liebe. Er wendet sich aber gegen Gehlens Annahme instinktgebundener Sozialregulationen, die eine unabänderliche Polarität von Liebe und -»Macht, Tugenden des Nahbereichs privater, familiärer Friedlichkeit und Freundschaft einerseits und einem Pflicht- und auch Selbstbehauptungsethos im Bereich der Institutionen des öffentlichen,
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politischen Lebens andererseits e r f o r d e r n . U n d er sieht eine richtungsweisende Bearb e i t u n g d e s P r o b l e m s , w i e beides, g e n e t i s c h e P l u r a l i t ä t u n d e n d - g ü l t i g e U n i v e r s a l i t ä t in e i n e r e t h i s c h e n T h e o r i e s o a u f e i n a n d e r b e z o g e n w e r d e n k ö n n e n , d a ß eine a b s t r a k t e U n i v e r s a l i t ä t f o r m a l e r K r i t e r i e n v e r m i e d e n w i r d , bei E . —»Troeltsch. D i e s e r h a b e v e r sucht, die Geschichtlichkeit und die Universalität der Ethik zusammenzudenken, indem e r d e r U n i v e r s a l i t ä t d i e b e s t i m m t e F a s s u n g e i n e r auf d i e z u k ü n f t i g e V e r w i r k l i c h u n g d e r G e m e i n s c h a f t mit G o t t zielenden Idee gegeben h a b e . Für Troeltsch ist die Frage, wie es von der Moral des absoluten religiösen Lebenswertes in Gottesliebe und Bruderliebe zu einer innerweltlichen Moralität überhaupt kommen könne. Auch für die heutige christliche Ethik bleibe das Grundproblem bestehen, daß das christliche Ethos überweltlich und doch zugleich keine einfache Welt- und Selbstverneinung sei und daß es ebendeshalb einer Ergänzung durch eine mit ihm vereinbare Kulturethik bedürfe (so mit Bezug auf Luthers Ethik formuliert: Soziallehren 479ff). Das Ethos des Evangeliums als Ideal einer absoluten Liebesgemeinschaft der mit Gott Verbundenen entsteht aus der religiösen Umdeutung einfacher Lebensverhältnisse (a. a. 0 . 4 1 . 7 8 ) ; nach M a x -»Weber tritt der Gemeindegenosse, der gerade dadurch zum Bruder und zur Schwester wird, daß er Vater und Mutter um Jesu willen verlassen kann, an die Stelle des Sippengenossen (332; Gehlen 124). Diese grenzenlose Erweiterung des Liebesethos (in missionarischer Absicht) auf den Fremden, den Fernsten, den Feind begründet nach Troeltsch die bleibende Spannung, in der die theologische, im Gedanken des -»Reiches Gottes sich symbolisierende Dimension der Welttranszendenz zu den Gesetzen rationaler Weltgestaltung und der Härte des Kampfes ums Dasein steht. Gerade weil der Christ aber weiß, daß das Ideal, dem er verpflichtet ist, die Welt übersteigt, ist er gegen die Utopie der Geschichts- und Gesellschaftsvollendung ebenso gefeit wie gegen Resignation: „Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits." Es ermutigt zu immer neuer, immer auch nur fragmentarisch-kompromißhaft gelingender produktiver Vermittlung der ethischen Werte des Christentums in die Gestalt der Kultur (965-986). D i e G r e n z e n seines A n s a t z e s s i n d d i e d e s H i s t o r i s m u s ( — • G e s c h i c h t e / G e s c h i c h t s wissenschaft/Geschichtsphilosophie). W ä h r e n d für Troeltsch jede geschichtliche E p o c h e w i e d e r v o n v o r n d a m i t z u b e g i n n e n h ä t t e , aller b r u t a l e n T a t s ä c h l i c h k e i t (in U m k e h r u n g seines e i g e n e n A u s d r u c k s gesagt) d i e I d e e e n t g e g e n z u s t e l l e n , ist h e u t e a u c h die h i s t o r i s c h e K o n t i n u i t ä t d e r W i r k u n g des c h r i s t l i c h e n L i e b e s e t h o s auf d i e S a c h v e r h a l t e d e r - » G e s e l l s c h a f t zu b e a c h t e n . D a f ü r b o t sich d e n S p ä t e r e n ( n a c h J. Weiß) d e r G e d a n k e d e r —»Eschatologie, a u c h U n i v e r s a l e s c h a t o l o g i e ( H . - D . W e n d l a n d ) a n . Entsprechend a b g e ä n d e r t hieße die A u f g a b e der Ethik d a n n : Vermittlung des christlic h e n L i e b e s e t h o s als v o r w ä r t s d r ä n g e n d e r K r a f t in d i e g e s c h i c h t l i c h e W i r k l i c h k e i t z w i s c h e n g e n e t i s c h e m P l u r a l i s m u s u n d e s c h a t o l o g i s c h e r U n i v e r s a l i t ä t . D a ß diese A u f g a b e w i r k l i c h k e i t s g e r e c h t ist, m a c h t n i c h t n u r d i e h i s t o r i s c h e F o r s c h u n g , d i e d e n p a r a d i g m a t i s c h e n W a n d e l d e r V o r s t e l l u n g v o m - » N ä c h s t e n in d e r S p a n n w e i t e v o m S i p p e n a n g e h ö r i g e n z u m „ M e n s c h e n " i m b i b l i s c h e n D e n k e n a u f z e i g t (Dihle), w a h r s c h e i n l i c h . Das belegt auch Gehlen, der für diesen Vorgang die Kategorie „Erweiterung ursprünglich instinktnaher Regulationen" einführt (84). Er selber steht zwar -»Nietzsches Ideologievorwurf nahe, obwohl er Kritik an der Verwechselung von Einstellungen, die sich im Umkreis der -»Familie ausgebildet haben, mit angeblichen Sklaventugenden übt. Nach Nietzsche kommt die „neue Liebe" des Evangeliums aus jüdischem Ressentiment, der neidvoll schonungsbedürftigen Moral von Menschen, die zur Selbstbejahung weder Kraft noch Grund finden, und sie entlarvt sich in der Hoffnung auf Rache, die der mächtige Gott dereinst nehmen wird. Liebe aus Schwäche: „Auch redet man von der .Liebe zu seinen Feinden' und schwitzt dabei" (791). Wegen seiner Affinität zu Nietzsche verkennt Gehlen, daß sein eigenes Beispiel, die Übertragung der Vaterfigur auf das Bild des archaischen Königs (90), auch als Paradigma einer ganz anderen Deutung dienen kann, für die Möglichkeit nämlich, daß „Liebe" und „ M a c h t " sich gegenseitig auslegen und in der patriarchalischen Sorgepflicht vereinigen und ausdrücken können. Ein solcher in neuen Mischungsverhältnissen neu entstehender Code weist auf eine Qualität des Gefühls und der Verpflichtung hin, die grundsätzlich auch für weiter ausgreifende, „befreundende" Machtkonstellationen, die auch nationale Selbsterhaltungsschranken übersteigen können, offen ist. Liebe wirkte dann nicht schwächend, sondern steuernd auf die Einstellung zur Macht und deren Ausübung ein. Auch die biologisch-ethologische F o r s c h u n g m a c h t indessen die A n n a h m e w a h r scheinlich, d a ß Liebe zu den a n t h r o p o l o g i s c h e n Universalien g e h ö r t , die ihren Entste-
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hungsort in der stammesgeschichtlichen Entwicklung haben (Eibl-Eibesfeld, Biologie 303). Die Bindungstriebe (das Fluchtziel Geborgenheit und der Brutpflegetrieb), als deren subjektives Korrelat im Menschen Eibl-Eibesfeld die Nächstenliebe bezeichnet, sind aber nicht gleichursprünglich mit der Aggression. Die höheren Wirbeltiere sind mit der Fähigkeit zur „Liebe" über die Aggression hinausgewachsen; sie haben eine höhere Evolutionsstufe erreicht (Liebe 110 f). Das erklärt die archaisch tief verwurzelte Aggressionsneigung und enthält zugleich den Appell, die anlagebedingte Neigung zur Liebe als individualisierter Sozialbeziehung kulturell und institutionell zu fördern, d. h. vom Familienethos über abgegrenzte Menschengruppen und ohne deren Eigenleben und Eigeninteresse zu vernachlässigen auf die menschliche Gemeinschaft im Ganzen auszudehnen. M i t der Forderung, die Ethik der Feindschaft zugunsten der Ethik der Freundschaft zu überwinden (Biologie 876), n i m m t Eibl-Eibesfeld unausdrücklich auch auf eine H o f f n u n g S. - • F r e u d s Bezug (Freud, Unbehagen 128 f). Die geschichtliche Tatsache, d a ß Nächstenliebe als Überschreiten der eigenen N a t u r auf den anderen Menschen hin die Realität und nicht nur die Illusion einer d a u e r h a f t e n Befreundung zwischen Fremden, Mitmenschlichkeit, bewirkt, dürfte ein wesentlicher G r u n d für die in der Gegenwart durchaus konsensfähige Uberzeugung von der Universalität des Liebesgebots als Äquivalent f ü r das ethische Universalisierungsprinzip überhaupt sein. D. h., wie R. Ginters (154ff) darlegt: Der ethische Standpunkt überhaupt läßt eine Beschränkung auf die Freundesliebe nicht zu. Er wäre ein bloß parteiisch-egoistischer, wenn er nicht dazu anhielte, das Wohl und die Interessen eines jeden Menschen, also auch des Feindes, der mich bedroht, gleich wie mein eigenes Wohl zu bedenken und abwägend in meinem Handeln zu berücksichtigen. Diese Auslegung des Liebesgebots als Inbegriff einer allgemeingültigen ethischen Forderung kann im besonderen als selbständige Folge einer Wirkungsgeschichte gesehen werden, die zwei sich gegenseitig beeinflussende Motive, des biblischen Glaubens und der neuzeitlichen Vernunft, erkennen läßt. Das erste ist, genauer gefaßt, mehr als ein Verhaltens-„Motiv", nämlich die Bewegung des ethischen Denkens in der Entsprechung zur „Anwaltschaft Gottes" (Ringeling, Theologie 29.246 ff [Lit.]) für die Bedürftigen und Schwachen, seiner „liebenden Zuwendung" (s. auch Pieper 67.177). In ebendieser Bewegung der Liebe Gottes, die allen Menschen (und im weiteren: Lebewesen) als den Geschöpfen des einen Gottes gilt, ist das (im engeren) ein Personalisierungsprozeß, der zugleich den Begriff der Gerechtigkeit wie den der Liebe und damit des Ethischen überhaupt erfüllt, indem er auf die teilnehmende Anerkennung eines/r jeden, der/die potentielle Person ist, zielt (Tillich, GW III, 32ff; vgl. auch Barth, KD II/l,318ff). Die eschatologische Vollendung dieser Bewegung „von Gott her" bezeichnet Gal 3,28. Das zweite Motiv findet seinen vorbildlichen Ausdruck in -»Kants kategorischen Imperativen, die die Anerkennung des Menschen rein als Menschen fordern. Das heißt auch hier: die Personwürde oder das Menschsein in allen natürlich und geschichtlich bedingten, insofern partiellen Einkleidungen seines Wesens nach Rassen und Religionen, Geschlechtern und Ständen. Im Ergebnis stützt die neuzeitliche Vernunft selber die Forderung der christlichen Liebe: Es läßt sich nicht mehr widerspruchsfrei denken, daß alle Menschen als gleich in ihrem Menschsein gelten sollen, dennoch aber beim ethischen Abwägen der Interessen zwischen Freunden und Feinden unterschieden werden dürfte. Gleichwohl ist in der Bewegung der Liebe Gottes ein M o m e n t des „Uberschießenden" (Trillhaas 17ff.95; vgl. auch Bockmühl 248 ff zum „perisson") mitgesetzt, das die Äquivalenz von allgemeinmenschlicher Sittlichkeit und christlichem Liebesgebot immer dann in Frage stellt, wenn die ethische Forderung von mir verlangt, d a ß ich „ ü b e r mich hinaus" und „ a u f den anderen zu" gehen soll. Das ist in mehrfacher Hinsicht Gegenstand der Diskussion und macht einen Themenwechsel notwendig: von der Äquivalenz zur Differenz bzw. von der Universalität zur Radikalität des Doppelgebots der Liebe (Mt 2 2 , 3 7 - 4 0 ) im Kontext der -»Bergpredigt. 1.2. Radikalität. Die Forderung, „über mich h i n a u s " zu gehen, bringt erstens eine Differenz zwischen Liebe und Gerechtigkeit mit sich. Das „Überschießende" wird in Tillichs Ethik auf die transmoralische Motivation zurückgeführt. Diese eignet auch dem Eros und überhaupt allen Qualitäten in der Liebe ((piXia, libido/imSvßia), aber die Agape
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ist diejenige unter ihnen, die die Selbst-Transzendenz oder das religiöse Element in der Liebe darstellt und jene anderen Elemente, die zum Menschen als multidimensionaler Einheit gehören, integriert und korrigiert; sie richtet ihn auf das Ziel aus, die Entfremdung infolge von Sünde und Schicksal durch die Wiedervereinigung des Getrennten in der Gnade zu überwinden (Tillich, GW III, 34ff.50ff). Liebe ist, so verstanden, weder identisch mit Gerechtigkeit (so J. Fletcher) noch auch gegensätzlich „anders" (E. Brunner, Gebot 436f; Gerechtigkeit 19.147), wohl aber „mehr als" Gerechtigkeit. Sie kann ebendeshalb auch nicht mit einem Prinzip des Wohlwollens gleichgesetzt werden, wie W. K. Frankena, den zweiten („moralischen") von dem ersten („religiösen") Gebotsteil des Doppelgebots der Liebe abtrennend, es vorschlägt (73ff). Liebe ist vielmehr sozusagen an der Front der Bewegung des Glaubens eine persönliche Haltung subjektiver Teilnahme im Unterschied von einer Anerkennung des anderen in objektiver Distanz; sie umschließt die Gerechtigkeit und transzendiert sie gleichzeitig (Tillich, GW III, 33 f; vgl. auch Pieper 78ff). Sie bahnt „neue Institutionsformen der Liebe" an (von Oppen 58) und wirkt auf die Gestaltung einer „besseren Gerechtigkeit" hin, indem sie sich - eschatologisch-subversiv wie im Philemonbrief oder durch Reform und Revolution als „Liebe in Strukturen" (vgl. Schrey, Soziallehre 12f [Lit.]) - mächtig erweist. Sie zieht auch in der Wirkungsgeschichte zum Beispiel der Diakonie/Caritas (Ringeling, Theologie 246; Der diakon. Auftrag) eine breiter werdende Spur von sozialer Gerechtigkeit und Rechtsordnung bis hin zu den Einrichtungen des modernen Wohlfahrtsstaates, die sich wegen ihrer Nützlichkeit selber tragen, allerdings immer auch auf den Zustrom lebendiger Motivationskräfte angewiesen bleiben. Aber sie selbst ist an der Front dieser vorwärtsdrängenden Bewegung stets wieder die Sache einzelner oder einer Gruppe und damit auch der lebensbedrohlichen Torheit des Kreuzes (I Kor 1,18) im Unterscheid von der etablierten Weltweisheit.
Das zeigt, zweitens, eine Differenz im Lebensverständnis zwischen christlicher Liebesethik und anderen Sinngebungsinstanzen an, die das für sich genommen formale Universalisierungsprinzip der gleichmäßigen Abwägung von Interessen auf ein jeweils bestimmtes inhaltliches Ziel der Ethik ausrichten. Daß von der Quelle her unterschiedliche Konzepte der Ethik wie der ->Utilitarismus und die christliche Liebesethik gleichwohl miteinander vereinbar sind, mag hier nur ein Merkposten sein. Indessen belegt die philosophische Diskussion über den „Agapismus" und seine Formen in der christlichen Ethik (dazu Schwartz 248 - 2 5 2 [Lit.]), daß ein Interesse daran besteht, das Spezifische an ihr deutlich zu bezeichnen, um einen Synkretismus auf der Ebene der letzten Wertentscheidungen zu vermeiden. Theologisch läßt sich ein entsprechendes Verhältnis von Äquivalenz und Differenz mit Bezug auf das Verhältnis von -*Goldener Regel und Liebesgebot beschreiben. So wird, in der Überlieferung noch deutlicher, der Formel von Mt 7,12 als Summe, Inbegriff des ganzen Gesetzes und zugleich gesamtmenschlicher Klugheitsregel (zum Problem der Idealität oder Vulgarität dieses Universalisierungsprinzips vgl. weiter Dihle und Schrey) mit Mt 22,37-40 eine sprachlich und sachlich gleichgeartete Formel zugeordnet (nach U. Luz 391 f als „Vorspruch", „Vorsatz"). Während die Goldene Regel dadurch (Mathys weist auf eine Parallele im rabbinischen Schrifttum hin [TRE 13,571]) zur formalen Auslegungsinstanz für das „wie dich selbst" im Liebesgebot wird, wird dieses im Geist der Bergpredigt zu einem inhaltlich bestimmten Regulativ, einer „Metanorm" des Handelns in der Nachfolge Jesu als das Proprium christlicher Existenz (vgl. Böckle 224f). Es versteht sich, auch in der neueren katholischen Theologie und obwohl zwischen Welt- und Heilsethos unterschieden werden kann (s. Rendtorff, Problemfelder 213 ff), daß dies eine Angabe über den Ursprung christlichen Lebens in den „Radikalrufen" Jesu (Böckle) ist, die jeden Menschen hier und jetzt im Glauben und in der Hoffnung zur Liebe als Selbsttranszendenz auf den Nächsten hin verpflichten, nicht erst als Ziel christlicher Ethik oder einer höheren Stufe auf dem Weg der Nachfolge (vgl. aber W. Huber [Feindschaft 143 ff] zur Weitergeltung der Unterscheidung zwischen praecepta und consilia
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evangelica in der gegenwärtigen katholischen Ethik mit Rücksicht auf das Verhältnis von Feindesliebe und Rechtsnorm). Es wird aber auch das Ziel der universalen Freundschaft pneumatologisch antizipiert (nach Timm, Geist 121 f) in der johanneischen Bruderliebe; und in Gal 6,2 könnte man eine Formel für die christonome Kommunikation in der Gemeinschaft der Gläubigen sehen, die das Prinzip des Handelns auf Gegenseitigkeit mit der einseitigen ethischen Forderung (nach -»Legstrups Definition: Forderung Kap. III) vereinigt. Indessen kommt die Eigenart dieser ethischen Forderung, deren Radikalität zur eigentlichen theologischen Begründung der Universalität einer Ethik der Liebe wird, erst in der Zuspitzung des Gebots, wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) sie darbietet, ganz zum Vorschein (vgl. auch Lagstrup, Solidarität 114ff), und zwar, indem der Bestimmungsgrund des Handelns „mir selbst" entzogen und stattdessen von dem „Nächsten" her verpflichtend gemacht wird (vgl. auch Rendtorff, Ethik, 1 2 1990, 85 ff). Im Kern geht es um das Problem der Feindesliebe (wie Lk 6,27-33), wobei die Ethik nach dem neutestamentlichen Forschungsstand davon ausgehen sollte, daß nicht nur der persönliche, sondern auch der politische Feind gemeint ist. Auf dem gegenwärtigen Stand der christlichen Ethik wird jedenfalls keine extreme Scheidung des politischen Macht- vom privaten Liebeshandeln wie bei Friedrich Naumann mehr angenommen werden, trotz der bleibenden Spannung zwischen „Ethik des Gesetzes" und „Ethik der Liebe" (Freiheit) (Ebeling, Verhältnis 16 f), weil dazwischen die für das Gesetz (im usus politicus legis) grundlegende und von der Liebe mitbewirkte Gerechtigkeit ihren Ort hat (vgl. Wendland, Sozialethik 145f). Mehr noch: Daß Liebe als „intelligente Feindesliebe" (nach C.F. von Weizsäcker, zit. bei Huber, Feindschaft 128) eine vernünftige Perspektive für politische Verantwortung eröffnet, erweist sich auch als konsensfähig. Wenn aber auch nicht zwischen verschiedenen Sorten tron Feindschaft ethisch unterschieden werden kann, so sind doch zwei Grundsituationen zu bedenken: die Situation des Notfalls und die Situation des Konfliktfalls. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter ist die Geschichte eines Notfalls, der Konfliktfall ist hingegen der der eigentlichen Feindesliebe im Fall der Bedrohung meines oder des mir anvertrauten, zugehörigen Lebens. Auch hier wird die Unterscheidung zwischen (nicht nur privatem) Rechtsverzicht für sich selbst und der Rechtsverteidigung (und so auch Lebenspreisgabe und Lebensverteidigung) in der Linie Luthers (WA 11,259,7 ff; vgl. Schwartz 134 ff) in ein erweitertes Konzept einzubringen sein, so nämlich, daß Feindesliebe ideologische Feindbilder abträgt und dem wirklichen Feind - ohne schwächliches Nachgeben, ohne Verzicht auf Verteidigung, ohne Böses nicht böse zu nennen - initiativ und kreativ entgegenkommt, um die Konfliktsituation zu meistern und auch im schlimmsten Fall seine Interessenlage wie die eigene ins Kalkül zu ziehen und keinesfalls seine Vernichtung zu betreiben.
Der entscheidende Punkt, wo die Äquivalenz glaubensbestimmten und allgemein vernünftigen Handelns nach dem Liebesgebot an ihre Grenze kommt, ist die elementare Bedrohung der eigenen Lebensqualität und des Lebens selber. Die in der Auslegungsgeschichte der Bergpredigt vielfach vertretene Meinung, die radikale Forderung sei als Gipfel der natürlichen Menschenliebe zu verstehen (vgl. Luz 317), führt, drittens, zum theologischen Unterscheidungsproblem der Selbstlosigkeit zurück. Das wird in der Diskussion über die Evidenz der ethischen Forderung in der ungeschmälerten Radikalität des Liebesgebots kontrovers verhandelt, exemplarisch zwischen G. Ebeling und W. Pannenberg, während die darin weitergetriebene Frage nach dem Daseinsverständnis besonders Gegenstand der Ontologie und der Analyse der spontanen Daseinsäußerungen bei K. Logstrup ist. Eine solche Daseinsäußerung ist das unwillkürliche „Sich erbarmen" des Samaritaners (vgl. Lagstrup, Solidarität 116). Indem das Gleichnis „mit größter Naivität die Güte des natürlichen Empfindens behauptet" (Timm, Geist 84), spricht es nur aus, was wissenschaftlich (s. Eibl-Eibesfeld) als situative Reaktion auf die Not des Hilfsbedürftigen beschrieben werden kann, ermöglicht durch die ebenso anlage- wie charakterbedingte (was E. Fromm hervorhebt), „gesunde" Fähigkeit, Mitleid zu empfinden und hilfreich zu handeln. Insofern ist die ethische Forderung keine Überforderung, und ihre Erfüllbarkeit wird mit Recht vorausgesetzt.
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Ebelings Interpretation lautet: Jesus habe dem, der nicht verstand, was Nächstenliebe heißt, nichts anderes vorgehalten, als konkrete Anschauung vom Leben selbst. Die Auskunft, „Halte dich an den, der unter die Räuber gefallen ist; der weiß, wer ihm der Nächste ist", verhelfe zum Selbstverständlichen. Die Forderung der Nächstenliebe erweise sich im Zusammenhang der mitmenschlichen Wirklichkeit als einfach wahr und vernünftig (Evidenz 22). Pannenberg hält dem die faktische Relativität der ethischen Maßstäbe und auch neben anderem die historische Tatsache des Rückfalls wie im Nationalsozialismus hinter die überlieferte Sittlichkeit entgegen. Die konkrete Anschauung vom Leben bedürfe daher einer vorgängigen Orientierung am Ganzen eines Daseinsverständnisses, und dieses komme von der Wirklichkeit Gottes und seiner Offenbarung her überhaupt erst ins Blickfeld (Krise 51 f)- Anders urteilt Logstrup, f ü r den die ethische Verkündigung Jesu, von zusätzlichen Handlungsmotiven abgesehen, keine konstitutive, sondern nur heuristische Bedeutung hat. Einmal ausgesprochen, läßt sich die Bergpredigt philosophisch halten, d. h. die ethische (radikale, einseitige und deshalb stumme, nicht zu Gegenleistungen berechtigende) Forderung erhebt sich im Namen des Daseins und leuchtet dem intuitiven Verstehen ohne weiteres ein: Wer das Leben (im kommunikativen Geflecht der Mitmenschlichkeit) als Geschenk empfängt, erkennt auch das mit dem Sein unmittelbar gegebene Sollen, nämlich als Aufruf zur Selbstlosigkeit, die das Leben des anderen in O b h u t nimmt (Forderung, Kap. I). Auch Logstrups Metaphysik ist aber ein „philosophischer Glaube".
In dieser Diskussion kommt noch einmal zum Ausdruck, daß es sozusagen für den Makrobereich der Lebensführung unerläßlich ist, die Besonderheit des christlichen Lebensverständnisses in der ethischen Theorie klar darzustellen. Dagegen ist im Mikrobereich von Mensch zu Mensch, wie beispielhaft in der Elternliebe und Kindesliebe, die ihrerseits für die rein selbstlose, schenkende Liebe (Gift-love) von Gott her und die verlangende, bedürftige und so also auch auf Gott gerichtete Liebe (Need-love) nach C. S. Lewis (vgl. Pieper 95.109 ff; Pannenberg, Anthropologie 223 ff) exemplarisch und analogiefähig sind, spontane Hilfsbereitschaft, in Fürsorge und Dankbarkeit gründend, das Wahrscheinliche, so daß auch mit H. Jonas (Kap. III) die allgemeine Notwendigkeit uneigennütziger Fernstenliebe zu späteren Generationen speziell an die Elternliebe motivbildend anknüpfen kann. Andererseits darf man aber eben nicht unterschätzen, daß faktisch verschiedene Theorien gleichwohl argumentativ um ihre universale Geltung ringen und sie auch in dem Maße annähernd und geschichtlich kaum mehr umkehrbar erreichen können, wie sie die Wirklichkeit besser (auch im Sinne des „guten Lebens" und dessen unmittelbar einleuchtender Qualität) zu interpretieren und zu verändern vermögen. Der kritische Punkt zwischen „Vernunft und Glaube" ist jedoch stets der gleiche: die Sorge und Angst um das eigene Leben, das bei einer Preisgabe der persönlichen Interessen verloren zu gehen droht - und nur aus der Sicht des Glaubens und einer ihm angemessenen -» Weisheit gerade dann gewonnen werden kann. Solche Glaubensmotivation für den Selbsteinsatz, durch welche die Angst und die in der Reflexivität des Menschen im Unterschied von der Spontaneität des Tuns hemmend wirksame -»Sünde, abstrakter: die Kontingenz des endlichen Daseins, bewältigt wird, muß nicht christlich sein. Sie kann auch - christlich oder nicht — in einer „ethischen Mystik" wie bei A. -»Schweitzer oder anders bei E. Fromm bestehen. Es ist aber eine besondere Aufgabe der Theologie, die vom Lebensrisiko nicht ablösbare, konkrete Nächstenliebe in ihrer Unbedingtheit im Unterschied von einer allgemeinen Menschheitsliebe als vermeintlichem Mittel der Selbstliebe und -Verwirklichung (wie bei Fromm, Kunst 58 ff) zu betonen. 2. Das Prinzip Liebe in der theologischen
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Der Wechsel des Ausdrucks von Gebot zu Prinzip (und Norm) ist mit dem Interesse der rein offenbarungsbestimmten Wort-Gottes-Theologie an konkretem Gebotsgehorsam nicht vereinbar. Sie lehnt von ihrem Standpunkt aus konsequent ethische Konzepte ab, die das an die Person Jesu Christi gebundene Liebesgebot in ein verallgemeinerndes und „verfügbares" Geschichts-, Erkenntnis- und Handlungsprinzip überführen. In ihren dogmatischen Grenzen bleibt das Liebesgebot dann aber auch personalistisch auf den sinn- und gemeinschaftsstiftenden Vollzug des Glaubens in einer vorgegebenen, schöp-
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Liebe IX fungstheologischen schränkt.
Ordnungs-
oder
christologischen
Beziehungswirklichkeit
be-
So auch noch bei W. Pannenberg, für den die Gemeinschaft mit Gott in der Teilnahme an seiner schöpferischen Liebe besteht und die Wesensbestimmung der Liebe darin, denjenigen, dem sie sich zuwendet, in seinem Selbstsein zu fördern. Teilnehmen an der Liebe Gottes heißt hier, zu handeln aus dem Geist der Gottesherrschaft, die jedem einzelnen auf je besondere Weise Dauer, selbständige Existenz und Daseinsinhalt durch Beziehung auf alles andere Seiende gewährt. Er wird in eine Gemeinschaft integriert, die in der christlich verstandenen Ehe, der intensivsten Antizipation der eschatologischen Verwirklichung des Menschseins in der Dynamik einer Geschichte, die die Menschheit eint, durch die Liebe ihr M a ß hat (Anthropologie 223 ff; weitere Angaben bei Ringeling: Hb. d. christl. Ethik I, 511 f)- T- Rendtorffs „ethische Theologie" geht den entscheidenden Schritt weiter zu einer Ethik, die nach den allgemein anerkennbaren Grundlagen der Lebensführung in der gegenwärtigen Gesellschaft fragt, indem er Liebe und Dienst (wie Freiheit und Verantwortung) als einen „Entdeckungszusammenhang" versteht, in welchem sinnvolle Möglichkeiten der Bewahrung, Weitergabe und Neugestaltung des empfangenen Lebens aufscheinen (vgl. u . a . Ethik II, 135f zur Diakonie).
Theologische Entwürfe, die betont von der ethischen Forderung der Liebe ausgehen, lassen eine positive Einstellung zu Prinzipien und Normen zu, sofern ihnen tatsächlich daran liegt, zu Regeln und Urteilen zu gelangen, die sich in der allen Beteiligten und Betroffenen glaubensunabhängig zugänglichen Wirklichkeit bewähren und dadurch für die Lebensführung und -gestaltung verfügbar gemacht werden können. Die versachlichende Fassung eines Prinzips Liebe - als „Ursache" und Anfangsgrund eben für ein ethisches Konzept - schließt den Rückbezug auf die personale, existenzgründende Wirklichkeit des Christusgeschehens aber keineswegs aus. Das Besondere, christlich Spezifische kommt in unterschiedlichen Ansätzen, wie beispielsweise bei J. Fletcher, H.-D. Wendland (s.u.a. Sozialethik 25ff), A. Rieh, in der bekenntnishaften Einführung der Liebe des Glaubens und der Hoffnung und den darin kenntlich gemachten Ubergängen zu einem „christlichen Humanismus" deutlich heraus. Auch muß, wie Tillich (GW II, 233 f) lehrt, ein „Prinzip" nicht notwendig „starr" sein. Und schließlich steht dieser Begriff im gleichen Verhältnis zu Geist und Gabe (Charisma) der Liebe wie auch das Gebot, nicht anders nämlich als das geschriebene Wort zum Verstehen der Heiligen Schrift „von innen her": Er ordnet das sonst bloße Gestimmtsein durch die Liebe auf das vorrangige, allen anderen Gegebenheiten, Neigungen und Verbindlichkeiten des Lebens unzweideutig und unwandelbar vorgehaltene Ziel hin (I Kor 12,31). Geprüft werden muß aber stets auch, ob der zeitlichen Lebenswirklichkeit nicht eine unmittelbar in sie eingestiftete Zielrichtung auf die Vollendung in der Liebe unterstellt wird. Das geschieht in dem einflußreichen Werk P. -»Teilhard de Chardins in einer Wissenschaft und Glauben, Theorie der Evolution und Praxis, die Liebe zur Welt und die Liebe zu Gott vereinigenden und versöhnenden Sicht. Das geschichtliche Ziel, die Einigung der Menschheit, wird in einer Bewegung nach oben, deren Endziel nach dem Gesetz der universalen Liebe die Vollendung in der kosmischen Christuswirklichkeit ist, durch die Mitwirkung des Menschen angestrebt. Die Liebe ist hier in einer dreifachen, thomistischen Bedeutung des Wortes die größte Kraft des Universums: inclinatio rei ad aliquid, complacentia boni, dilectio! Caritas (s. Wildiers 65).
Das geschieht auch im religiösen Sozialismus (-»Religiöse Sozialisten). L. -»Ragaz (zu dem Linien von R. -»Rothe verlaufen, an den indirekt auch Teilhard de Chardin erinnert), der das Verhältnis des Reiches Gottes zur Welt in der Dialektik zweier Sichtweisen, nämlich „von Gott her" (wie H. Kutter) und „auf Gott hin" sieht (Rieh, Ragaz 197), fordert die Mitarbeit der Christen in der sozialistischen Bewegung. Sie sollen in sie die Liebe zu Gott hineintragen, Liebe aus dem Geist der Bergpredigt. Es ist ein normativer Liebesbegriff, den Ragaz vertritt, in der Zuspitzung pazifistisch, allerdings nicht prinzipiell, sondern kairosbestimmt; Gott kann auch bewaffneten Widerstand, wie gegen die nationalsozialistische Aggression, gebieten. Auch P. Tillichs religiöser Sozialismus sieht in der Liebesethik Jesu die grundlegende Norm für das Gemeinschaftsleben. Sie trägt ein Ferment radikaler, dem Übel an die
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Wurzel gehender Kritik in jede Gesellschaftsordnung und läßt zu gewissen Formen der Kultur und sozialen Gestaltung eine größere Affinität als zu anderen erkennen. So im „Kairos" nach dem Ersten Weltkrieg zum Sozialismus (GW II, 14). Die Ontotogie der Liebe Tillichs nach seiner Emigration macht die sozialethische Einsicht noch deutlicher: daß in den Machtstrukturen des Lebens ein Element der Liebe und in der Liebe ein Element der Macht enthalten sein müsse. Und: Liebe umschließt die Gerechtigkeit und transzendiert sie zugleich; ähnlich urteilt auch R. -»Niebuhr (vgl. Outka 78 ff). „Leben ist verwirklichtes Sein, und die Liebe ist die bewegende Macht im Leben" (GW XI, 150 f, 158; III, 34). Das Interesse des späteren Tillichs an der Frage, wie die christliche Ethik sich wirklichkeitsgerecht zum raschen sozialen Wandel verhalten könne, ist die gleiche, die auch die theologische „Neue Moral" als Situationsethik antreibt, auch da, wo es dieser als geschichtstheologischer Kontextethik (P. L. Lehmann; s. Ringeling: Hb. d. christl. Ethik I, 495—499) speziell (und kritisch auch gegenüber einem „Prinzip" der Liebe) um die Umwandlung der menschlichen Motivation überhaupt zu tun ist. Tillichs Antwort lautet: Die Liebe, die sich von Kairos zu Kairos verwirklicht, schafft eine Ethik, die über der Alternative von absoluter und relativer Ethik steht, denn die Liebe ist ihrer Natur nach sowohl absolut als auch relativ, ein unveränderliches Prinzip, das sich aber jeder konkreten Situation anpassen kann. Liebe ist ein Prinzip schöpferischer Intuition, sie „hört" auf die besondere Situation (GW III, 37. 75 ff). Anders ausgedrückt ist das ein theonomes, hermeneutisches Prinzip, durch welches zu vernehmen und zu entdecken ist, was in eigener Verantwortung, autonom, getan und geordnet werden soll - wie es nach U. Luz auch dem Ethos der Bergpredigt entspricht (352; vgl. auch Ebeling, Evidenz 22). Unterschiedliche Beurteilungen des Entdeckungszusammenhangs zwischen Liebe und Vernunft zeigt die Diskussion zwischen M. Honecker und U. Duchrow. Letzterer sieht mit G. Picht und H.-E. Tödt in der Liebe ein theoretisches Erkenntnisvermögen oder habituelles Erkenntnisprinzip („Liebe ist die Wahrheit der Vernunft"). Nach Honecker ist sie dagegen (wie in Schleiermachers Christlicher Sitte) eine Handlungsmotivation, die in der Praxis der christlichen Gemeinde zu beispielgebenden Konkretionen dessen, was als das Gute für die Vernunft evident ist, anzuleiten vermag. (Kritisch zu dieser Diskussion Ringeling, Sinnfrage 115 ff [Lit.]; vgl. auch Rieh, Wirtschaftsethik I, 170 f.)
J. A. T. Robinson und J. Fletcher sind weit über den englischsprachigen Raum hinaus neben K. Legstrup die einflußreichsten theologischen Situationsethiker; sie bieten geradezu idealtypisch rein den „Handlungsagapismus" nach Frankena dar (Frankena 73; vgl. Outka 97; Ringeling: Hb. der christl. Ethik I, 489-493). Fletcher vertritt eine „Kasuistik der Liebe", wobei das pragmatische Formalprinzip der Liebe daran orientiert bleibt, daß Gott die Liebe ist. Dies ist der Glaubenssatz, von dem die „eucharistische" Ethik ausgeht, um damit die Liebe zur Schlüsselkategorie zu erheben. Liebe, heißt das, ist das höchste Gut und ein unbedingt (deontologisch) verpflichtendes Prinzip der Gesinnung, welches gleichwohl (teleologisch) nur situationsbedingte Handlungen gebietet. Alle überlieferten Gesetze und Regeln (nach Robinson: ein Schatz der Erfahrung) sind nur nach Prüfung durch Liebe und Vernunft zu befolgen. Weil aber die agapeische Dimension christlicher Verantwortung die soziale Qualität in der Liebe darstellt, ist diese gleichbedeutend mit Gerechtigkeit als der Form, in der sie ihre Aufgaben bewältigt, und mit dem Utilitarismus, was Inhalt und Verfahren angeht, Wohl und Würde des Menschen sind ihr Gegenstand (kritisch dazu Outka 85ff).
Während die Verbindung von christlicher Liebe und Utilitarismus Zustimmung finden kann (Rendtorff, Ethik, I 2 1990, 91) und in der Tat für das christliche Prinzip eine notwendige Ergänzung durch eine mit ihm vereinbare Kulturethik (Troeltsch, s. o.) bezeichnet, ist die utilitaristische Folgerung Fletchers, daß es allein auf den Zweck, nicht aber auf die Mittel des Handelns aus Liebe ankomme, eine problematische Auslegung (vgl. auch Outka 117) des bei den Situationsethikern beliebten Augustin-Zitats (In Epistolam S. Johannis ad Parthos tractatus X : Tract. VII, 8, Mauriner-Ausg. Tom. III, See. Pars, 875, Paris 1680): Dilige et quod vis fac. Das deutet auch auf den strukturellen Mangel der Situationsethik hin: die bloß induktive, dezisionistische Urteilsfindung von
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Fall zu Fall und ohne nach Kriterien und Normen zu suchen, die situationsunabhängig und teilweise unter allen Umständen gültig sind (vgl. Outka 101). In A. Richs ethischem Werk sind diese Probleme besser gelöst, obgleich der bei ihm vorliegende „Regelagapismus" ebenfalls kein bestimmtes Konzept einer Gesellschaftsordnung enthält oder entwirft. Auch M. Honecker urteilt (mit Bezug auf Schleiermacher in der Tradition des Augustin-Zitats), Rieh habe auf die Grenze einer allein am Liebesgedanken ausgerichteten Ethik aufmerksam gemacht. Die Liebe sei für ihn zwar Urteilsinstanz (Kpnr\q), aber nicht Urteilsmaßstab (Kpixrjptov); Maßstab könne nur das Gerechte, Gute sein (Nachwort 141). Tatsächlich ist für Rieh die Liebe des Glaubens und der Hoffnung als eine Grundkategorie humaner Existenz zu verstehen, die sich im sachgemäßen Umgang mit vorgefundenen Werten und Problemlösungen bewährt; sie hat Kriterien für die ihr gemäße Humanität, Kriterien des Menschengerechten, und bringt die mit ihrer Hilfe gefundenen Handlungsmaximen in den allgemeinen ethischen Diskurs ein (vgl. Wirtschaftsethik I, 127f, zur Unterscheidung von M. Honcckcr). Ihre spezifisch christliche Radikalität und vorwärtstreibende Kraft fordert aber stets nach -»Zwingiis Vorbild den Aufbruch zur Gerechtigkeit Gottes, die alle menschlichen Maße übersteigt, weil sie eins ist mit der Liebe selbst (a.a.O. 210.230 [Lit.]). Dadurch wird -»Recht als Funktionalität der Liebe, wird - • M a c h t im Modus der Liebe verstanden (Radikalität 22. 44ff).
Eine radikale Erweiterung des Liebesgebots und -prinzips anderer Art, nämlich zur unbeschränkten Sorge für das Lebens- und Selbstentfaltungsrecht alles Lebendigen über die traditionelle anthropozentrische Auslegung hinaus, verknüpft sich heute in vielfachen Bestrebungen mit A. -»Schweitzers Grundgedanken, die Begriffe des Mitleids und der Liebe durch die „Ehrfurcht vor dem Leben" zu überbieten (Kultur 231; Ehrfurcht 97 f. 160 f). Damit kommt, „von Gott her" und erst durch den Menschen in der Spannung zum Selbsterhaltungstrieb in der Natur, seine Selbsttranszendenz als eines Naturwesens zu verwirklichen, auch die Möglichkeit einer ethisch mitverantworteten Evolution des Lebens in das Blickfeld der Ethik. 3. Selbstliebe und
Selbsthingabe
Der soziale und kulturelle Wandel seit dem Zweiten Weltkrieg hat auch den Themenbereich „Eros und Agape", Selbstliebe und Selbsthingabe nicht unberührt gelassen. Daß sich damit auch libertinistische und hedonistische Lebensweisen und Theorien verbreiten und die Sitten zumal im Bereich der Geschlechterliebe tiefgreifend verändern, ist ein Teil davon (vgl. Ringeling, Theologie, Kap. IV u. V.; ders.: Hb. d. christl. Ethik 1,482-488, zu H. Marcuse, der das Gegenteil von Barths Aufhebung des Eros in die Agape proklamiert). Nicht zufällig ist die „voreheliche Beziehung" anfangs ein bevorzugtes Sachproblem der theologischen „Neuen Moral". Grundlegend aber hat sich die Einstellung zur Selbstliebe verändert. Das spiegelt sich in psychologischen und humanistischen Theorien der Liebe wie bei E. Fromm, der auch die theologische Diskussion (z.B. bei P. Tillich, RL. Lehmann, D. Mieth) beeinflußt hat. Fromm hat S. -»Freuds Kritik an der krankmachenden Uberforderung, die das christliche Liebesgebot für den wirklichen Menschen bedeute, weil es weder sein Glück noch seine seelische Konstitution berücksichtige, und des weiteren an der „Inflation der Liebe" überhaupt, die den Unterschied zwischen gut und böse, wertvoll und wertlos einebne, an einem entscheidenden Punkt zurückgewiesen. Das ist genau der Punkt, der noch schlechtes Erbe der Uberlieferung war: die polarisierende Scheidung von Nächstenliebe und Selbstliebe, letztere generell als Narzißmus gedeutet (69 f). Fromm unterscheidet demgegenüber Selbstliebe und Selbstsucht als Gegensätze. Selbstsucht ist gleichbedeutend mit Liebesunfähigkeit. Echte Liebe sei Ausdruck innerer Produktivität; sie impliziere Fürsorge, Achtung, Verantwortungsgefühl und „Erkenntnis", ein tätiges Bestreben, das Wachstum und das Glück der geliebten Person zu fördern. Und das eben sei nicht von der Liebe zum eigenen Selbst zu trennen, beides wurzelt in der Liebesfähigkeit (70ff); die gemeinte Liebe zum Menschen und Menschsein, die das eigene Selbst in fundamentaler Bezogenheit mit den anderen verbindet, ist dann keine Uberfor-
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derung, sondern eine Selbstverständlichkeit, wenn die menschliche Entwicklung nicht in der Gesellschaft gehemmt und geschädigt wird. Die Bejahung der Selbstliebe ist allgemein für den heutigen Stand der psychoanalytischen Theoriebildung bezeichnend. Wie Rauchfleisch anmerkt (131), wird das Schwergewicht nicht mehr, wie bei Freud, auf den Nächsten, den es zu lieben gelte, sondern auf den Hinweis, man solle den Nächsten lieben wie sich selbst, gelegt. Das erklärt sich aus einer Akzentverschiebung unter dem Einfluß neuer Narzißmustheorien, für die das Akzeptieren der eigenen Person eine Grundvoraussetzung für die Zuwendung zu anderen Menschen ist. Differenzierungen der Selbstverleugnung, die nicht die rechte Selbstliebe, d.h. alle individuellen Eigentümlichkeiten und eigenen Interessen aufheben dürfe, finden sich indessen auch bei Kierkegaard (Hauschildt 157 ff; vgl. zu Kierkegaard und R. Niebuhr auch Outka 23 f). Die „Annahme" des Menschen, so wie er ist, begründet bei Tillich als ein theologisch und psychologisch reflektierter Begriff auch sein Streben nach Selbstverwirklichung als Person (GW 111,18 f.43.105 f), und P.L. Lehmann erkennt die psychoanalytische Reifeformel „Selbstverwirklichung durch Selbstannahme" auch in einer spezifisch christlichen Umkehrung an: Reife sei „Selbstannahme durch Selbsthingabe" (12.213 mit Bezug auf Fromm). Als eine Aufgabe ethischer Sozialisation, nämlich der Vermittlung von grundsätzlichen und dauerhaften sittlichen Haltungen (Tugenden) und „Haltungsbildern", die geeignet sind, Liebesfähigkeit zu erwerben und zu erlernen, wird das aber erst seit kurzem begriffen (Mieth). Liebesfähigkeit und Bindungsfähigkeit: denn ein Hauptproblem der theologischen Ethik im Zusammenhang mit dem sozialen und moralischen Wandel und der Evolution, die die Semantik der Liebe seit dem 18. Jh. erfahren hat (Luhmann 199), ist die zunehmende Lockerung traditioneller Bindungen, vor allem der Liebe an die —>Ehe. Literatur S. auch Literatur zu —»Diakonie und -»Nächster. Paul Althaus, Die christl. Wahrheit, Gütersloh '1962. - Karl Barth, Einf. in die ev. Theol. (WS 1961/62), Gütersloh 2 1977. - Ders., KD 1/2,1948 7 1983; II/l, 1940 '1982; III/l, 1947 s 1988; III/2,1948 5 1980; III/4, 1951 3 1969; IV/1, 1953 5 1986; IV/2, 1955 4 1985. - Eugen Biser u.a., Prinzip Liebe. Perspektiven der Theol., Freiburg/Basel/Wien 1975. - Klaus Bockmühl, Gesetz u. Geist, Gießen/ Basel, 11987. - Franz Böckle, Fundamentalmoral, München 4 1985. - Emil Brunner, Das Gebot u. die Ordnungen, Tübingen 1932, Zürich "1978. - Ders., Eros u. Liebe, Berlin 1937. - Ders., Gerechtigkeit, Zürich 1943 3 1947. - John Burnaby, Amor Dei, London 1938. - Johannes Calvin, Unterricht in der christl. Religion (Institutio Christianae Religionis). Nach der letzten Ausg. übers, u. bearb. v. 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Hermann Ringeling
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X . Philosophisch 1. Zur Problemgeschichte 1.1. Liebe als kosmisches Prinzip 1.2. Eros 1.3. Selbstbezug und -Überschreitung 2. Zur Wesensbestimmung der Liebe (Quellen/Literatur S. 191)
1. Zur
Problemgeschichte
1.1. Liebe als kosmisches Prinzip. Am historischen Anfang philosophischer Reflexionen über die Liebe bei Empedokles gilt sie als Macht der Vereinigung. Denn durch sie finden die getrennten Elemente sich zu Gestalten zusammen. Als Prinzip dieses Werdens steht sie dem Streit gegenüber, der die Auflösung der Gestalten bewirkt. Da beide Grundmächte jeweils über periodisch wiederkehrende Zeitalter herrschen, erscheint die Liebe auch als geschichtliches Prinzip. —»-Plato bezeichnet im Symposion die „Zeugung und Geburt" im Schönen als das Werk des Eros (206 b). Es erstreckt sich auf Tugenden, Staatsverfassungen, Dichtung und Wissenschaft, aber auch auf den Drang der „sterblichen Natur", sich in der Generationenfolge fortzuzeugen, um so auch da an der Unsterblichkeit teilzuhaben, wo sie individuell unmöglich ist (ebd. 207d). Bei -»Aristoteles bewegt der unbewegte Beweger den Kosmos wie der Geliebte den Liebenden (Metaphysik 1072 b 3). Mit breiter Wirkungsgeschichte in Mittelalter und Neuzeit wird die kosmische Rolle der Liebe im -»Neuplatonismus dargestellt. Während sie von -»Plotin vor allem als ein die Seele des Menschen erfüllendes Verlangen gefaßt wird, aus der Zerstreuung in die Vielfalt zur Einheit des überseienden Ursprungs heimzukehren, dehnt Proklus die sammelnde, auf Einheit tendierende Kraft der Liebe auf die Gesamtheit des Seienden aus. Liebe ist ihm das Band, in dem jedes Seiende so in das All eingefügt wird, daß es seine Unterschiedenheit nicht verliert. Im christlichen Neuplatonismus des -»Dionysius Areopagita verdankt sich die Welt der Liebe des überbegrifflichen, einen, guten und schönen Gottes. Liebe heißt hier im Sinne der platonischen Tradition „Eros". Dieser wird aber mit der neutestamentlichen Agape identifiziert. Er ist die Selbstbewegung des Einen, das sich in Liebe selbst erfaßt und in der Welt darstellt, so daß die Schönheit und Gutheit Gottes alle Stufen der Welt durchwaltet. Diese Konzeption wirkt auch bei -»Thomas v. Aquin nach. Liebe als Amor ist als menschliche Grundbefindlichkeit die vitale Basis des gesamten emotionalen Lebens. Sie hat kosmische Bedeutung, weil der Mensch in ihr seine Konnaturalität mit allem Seienden zu erleben vermag. Die ontische Bewegung eines jeden Seienden zur Verwirklichung seiner Wesensform und sein Streben nach dem ihm gemäßen Ort im All heißen Liebe im analogen Sinn. In der Renaissance ist für Marsilio -»Ficino die Liebe das Prinzip des Universums schlechthin. In Gott beginnt sie ihren Kreislauf. Im Ursprung wird ihr Kreisen als Schönheit bezeichnet, im Gang durch die Welt als Liebe und in der Rückkehr zu Gott als Genuß. Giordano -»Bruno, bei dem die Liebe vor allem als menschliche, alle Grenzen sprengende Leidenschaft fungiert, schreibt ihr doch auch eine das Universum allgegenwärtig durchwirkende Kraft zu. Eine prinzipielle kosmische Funktion kann der Liebe nur zukommen, wenn sie im Absoluten gründet. Diese Einsicht bestimmt schon das Denken des Dionysius. Für Thomas vollzieht sich der innertrinitarische Aufgang des Seins zu sich selbst als interpersonales Ereignis im „Band naturhafter Liebe" (In Joh. 60). Auch nach -»Fichte empfängt das Sein die Lebendigkeit durch eine in Liebe geschehende Teilung des Absoluten. In ihr tritt es sich erkennend gegenüber und gelangt zu einer Zweiheit, in der es sich selbst genießt. Hier sind „Leben, Liebe und Seligkeit schlechthin Eins . . . und dasselbe" (Die Anweisung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre: SW, hg. v. J. H. Fichte, Berlin, V 1971, 402). Auch im Denken -»Schellings gründet die Liebe im Absoluten als Prinzip der Mitteilung und des Aussichgehens. Es bestimmt Natur und Geschichte im Widerstreit mit dem Prinzip der Kontraktion, durch welches die Wesen ihren Selbststand suchen. Dieses Gegenprinzip gründet wie die Liebe in Gott, ist in ihr aber von Ewigkeit her aufgehoben. Erst in der Schöpfung bricht es in ungebändigter Aggressivität hervor, so daß die Welt zum Kampfplatz beider Potenzen wird. Von der Liebe als kosmischem Prinzip her empfängt auch die Kunst ihren höchsten Auftrag. Sie läßt uns „mit plötzlicher Klarheit"
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erkennen, „daß aller Gegensatz nur scheinbar, die Liebe das Band aller Wesen und reine Güte Grund und Inhalt der ganzen Schöpfung ist" (Uber das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur: Texte zur Philosophie der Kunst, Stuttgart 1982, 80). 1.2. Eros. Für Hesiod ist Eros der älteste und „schönste unter den unsterblichen G ö t t e r n " (Theogonie 120). Dagegen versteht Plato den Eros als Dämon, als Mittleres und als Vermittler zwischen Göttern und Menschen. Er strebt über eine Stufenfolge, welche die Regionen des Seienden und die Felder menschlicher Theorie und Praxis umfaßt, seinem eigentlichen Ziel entgegen. Plato nennt es das Eine oder das Gute. Dem erotisch begeisterten Vernehmen der Vernunft zeigt es sich als das Schöne. Es ist das in sich „Vollendete und schlechthin Selige" (Symposion 204c), das „Erscheinendste und Liebenswerteste" (Phaidros 250 d), durch das alles andere schön ist. Für Plato muß das Glück der Teilhabe des Menschen an diesem Urschönen unvergänglich sein, wenn es wahrhaft verdient, Glück genannt zu werden. Daher zielt der Eros in seinem einen Ausgriff zugleich auf das Schöne, das Glück und die Unsterblichkeit. Bei ihrem vergeistigenden Aufstieg zur Urgestalt des Schönen entdeckt die Seele eine vom Glanz des Schönen erfüllte Ordnung der Welt. Daher gehört zum Eros eine die Wirklichkeit in ihrer Werthaftigkeit erschließende Erkenntniskraft. Die Wirkungsgeschichte der Lehre Piatos vom Eros im Neuplatonismus, bei den Kirchenvätern, vor allem bei -» Augustin, in der scholastischen These vom naturhaften Verlangen nach der Schau Gottes, bei -»Dante, in der -»Renaissance, bei -»Shaftesbury sowie in der deutschen Klassik und Romantik hat mit immer neuen Perspektiven diese Einheit zur Geltung gebracht: Eros, das Schöne, Unsterblichkeit und kosmisches All-Leben. 1.3. Selbstbezug und -Überschreitung. Liebe vollzieht sich immer als Lieben eines Geliebten. Darin geht der Mensch über sich hinaus. In dieser Selbsttranszendenz bejaht und sucht er sich auch. Liebe meint aber zutiefst das Wollen des Guten für einen anderen um seiner selbst willen. Die Spannung von Selbstliebe und selbstloser Zuwendung zum anderen findet sich bereits - mit Rückgriffen auf Plato - in der aristotelischen Lehre von der -»Freundschaft als Modus der Liebe in der Nikomachischen Ethik (1157b 28ff). Auf dem Hintergrund des biblischen Doppelgebotes der Gottes- und Nächstenliebe trat diese Spannung auch im philosophischen Denken noch schärfer hervor. Dabei spielen dualistische Motive aus dem Piatonismus insofern eine Rolle, als man im sinnlichen Begehren häufig die Wurzel einer Ichbezogenheit sieht, welche der zweckfreien Hingabe widerstreitet und als „irdische Liebe" den Aufschwung der Liebe zu Gott behindert. Die mit dieser Spannung zusammenhängenden Fragen nach dem Verhältnis von Gottes- und Nächstenliebe sowie nach der Liebe zu Gott um Gottes oder des eigenen Glückes wegen werden lange mit Kategorien erörtert, welche in der philosophischen Tradition der Antike bereitlagen. Bei Thomas v. Aquin gelingt eine Synthese biblischer, platonischer und aristotelischer Elemente. Sie wird auf dem Boden der Caritas errichtet, die, im biblischen Sinne als Selbstmitteilung Gottes an den Menschen verstanden, den Grund für die Entfaltung einer Tugendlehre abgibt, welche die Möglichkeiten gelungenen menschlichen Seinkönnens aufzeigt. Freilich gelingt es T h o m a s wie den meisten seiner Vorgänger nicht, Geschlechterliebe und Ehe mit ihren personalen und sexuellen Aspekten (-»Sexualität) gerecht zu werden. Erst die -»Romantik hat unter Anknüpfung an - » H a m a n n und -»Herder durch Friedrich Schlegel, -»Schelling, -»Baader, -»Novalis und -»Schleiermacher zu Ansätzen gefunden, welche selbstlose Hingabe, leibliche Vereinigung und die erotische Bewegungstendenz zum Unendlichen zu integrieren vermögen. Eine Vermittlung von Selbstgewinn und Hingabe stellen auch -»Hegels Aussagen zur Liebe dar. In seinen Theologischen Jugendschriften findet sich ein Fragment mit dem Titel Die Liebe. Ihm gemäß finden in der Liebe Entgegengesetzte zu einer Einheit ohne differenzloses Verfließen. Jeder bleibt er selbst, obwohl er sich nur noch im anderen sieht. Damit ist bereits Hegels Konzept von Dialektik zum Ausdruck gebracht. Auch seine Trinitätsspekulation hängt mit diesem Ansatz zusammen. Daher muß seine dialektische Ontologik
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auch als eine Logik der Liebe gelesen werden. Ihr gemäß besteht die Bewegung des göttlichen Lebens darin, daß die absolute Identität sich in sich selbst unterscheidet und den Unterschied so aufhebt, daß die Unterschiedenen je im anderen bei sich sind. „Dies ist der Geist selbst... die ewige Liebe." Sie wird im Tode Christi sichtbar realisiert. In ihm geschieht die „ungeheure Vereinigung" der göttlichen Identität mit dem extremsten Anderssein, der Negation des Todes. Diese Dialektik als Vollzug von Liebe zu verstehen, leistet die „spekulative Anschauung" der Liebe (Die absolute Religion, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Hamburg 1966, 75.81.158). 2. Zur Wesensbestimmung
der Liebe
Gegenüber einer verbreiteten Meinung, die Liebe gehöre ausschließlich dem affektiven Bereich an, ist das ihr eigentümliche Moment der Erkenntnis zu betonen. Mit ihm sind freilich emotionale Bewegungen verbunden, wie z. B. Freude, Dankbarkeit, Bewunderung. Liebe ist zugleich voluntative Kraft der Affirmation. Als geistig-sinnlicher Totalakt erschließt die Liebe andere Personen oder auch nichtpersonales Seiendes als wert und würdig, um ihrer selbst willen da zu sein. Erkennend und bejahend zugleich, bringt sie auch das Seiende gleichsam ein zweites Mal hervor, das sie selber nicht geschaffen, sondern vorgefunden hat. Diese kreative Affirmation bewährt sich im aktiven Engagement, ist aber bereits in der kontemplativen Vergegenwärtigung dessen anwesend, dem die Liebe gilt. Daher konnte —»Scheler sagen, bereits der Blick der Liebe lasse am geliebten Menschen bisher unverwirklichte Wertqualitäten hervortreten. Weil Liebe auf die sinnerfüllte Zukunft anderer Menschen vorgreift, enthält sie nach Gabriel -»Marcel ein Versprechen der Unsterblichkeit: Lieben heißt sagen, du sollst leben und nicht untergehen. Liebe ist in alldem ein Vollzug von Freiheit. In ihm erscheint Selbstbestimmung imModus des Seins für andere. Ist die Liebe wechselseitig, wird sie zur Erfahrung des Getragenseins durch die Freiheit anderer. Der Liebe wohnt eine Vereinigungstendenz inne. Sie sucht das eigene Leben in dem, was sie liebt. Ohne diesen Willen kann ihre Ekstasis über das eigene Sein hinaus nicht gedacht werden. Das gilt auch da, wo keine von Sympathie getragene intimere persönliche Beziehung gesucht wird, sondern der andere nur im Blick der Anerkennung, Fürsorge und des Selbsteinsatzes steht, wie sie der Liebe eigentümlich sind. Sobald nämlich die der Liebe immanenten Bedingungen ihrer Möglichkeit, welche oft unthematisch bleiben, reflektiert werden, zeigt sich: Die Liebe will verhindern, daß der, dem die Liebe gilt, aus der universalen Gemeinschaft alles dessen, was ist, herausfällt. Liebe ist nicht denkbar ohne Ich-Du-Beziehung. Immer wird in ihr ein Ich für ein Du anwesend. Aber Liebe beschränkt sich nicht auf diese Beziehung. Vielmehr ist sie auf eine gemeinsame Teilhabe derer, die sich lieben, an Sinngehalten angewiesen, in denen sie einander begegnen und zum Wir werden können. Diesen Sachverhalt hat schon Aristoteles im Blick, wenn er die wechselseitige Bezogenheit diskutiert, in der freundschaftlich verbundene Menschen und das Gemeinwohl der Polis zueinander stehen. Thomas von Aquin kennt einen doppelten Begriff des -»Friedens. Der erste bezeichnet den politischen Frieden im engeren Sinne, der zweite den vollkommenen als Frucht der Liebe. Er besagt Ubereinstimmung mit sich selbst und Verbundenheit mit anderen in der gemeinsamen Teilhabe am absoluten, göttlichen Sinn. In der dialogischen Philosophie des 20. Jh. ist diese Perspektive in gewisser Weise erneuert worden. So wird nach -»Marcel Menschen, die nicht in possesiver, sondern oblativer, sich darbringender Liebe füreinander offen sind, eine zweifache Präsenz zuteil: die des anderen Menschen und in ihr eine andere, die Menschen übersteigende und zugleich umgreifende. Es ist die des Seins selber, das sich hier in seiner Einheit mit der Liebe selbst erfahren läßt. Ähnlich spricht M. -»Buber von einer wesentlichen Beziehung. In ihr wird im Miteinander Unbegrenztes und Unbedingtes erfahren. Daher erscheint die wesentliche Beziehung als ontische Partizipation. Weil so die Liebe die Liebe als den Sinn von Sein erschließt, erklärte der Romantiker F. v. -»Baader, die höchste Frucht der Liebe sei die Liebe selbst.
Lietzmann
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Quellen Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers, v. Eugen Rolfes, Hamburg 1972. - Martin Buber, Das Problem des Menschen, Heidelberg 1948. - Ders., Dialogisches Leben, Zürich 1947. — Herman Diels, Die Frgm. der Vorsokratiker, Nachdr. der 6. Aufl., hg. v. Walter Kranz, Dublin/Zürich, I 1972. - Dionysius Areopagita, De divinis nominibus: M G 3, 1857, 585-984. - Johann Gottlieb Fichte, SW, hg. v. Immanuel Herman Fichte. V Z u r Religionsphil., Berlin 1845 = 1971. - Marsilio Ficino, Commentario in convivium Piatonis de amore, ins Franz. übers, v. Raymond Marcel, Paris 1956. - Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Phil, der Religion, hg. v. Georg Lasson, II 1927 = H a m b u r g 1966. - Gabriel Marcel, Das ontologische Geheimnis, Stuttgart 1961. - Ders., Auf der Suche nach Wahrheit u. Gerechtigkeit, Frankfurt a. M . 1964. - Herman Nohl (Hg.), Hegels theol. Jugendschr., Tübingen 1907. - Piaton, Werke, hg. v. G. Eigler, Darmstadt, III 1975, V 1983. - Plotins Schriften, übers, v. Richard Härder, fortgeführt v. Rudolf Beutler/Willy Theiler, H a m b u r g 1956-1971. - Ders., Enneaden I 4 u. 6 u. VI 8. - M a x Scheler, GW, Bd. 5 u. 7, Bern 1954 u. 1972. - Schellings Werke, hg. v. Manfred Schröter, München 1927-1959 = 1962-1971. - T h o m a s v. Aquin, Summa Theologiae, dt.-lat. Ausg., Heidelberg, XVII A 1959, XVII B 1966. - Ders., Super Evangelium S. Ioannis, Turin 1972.
Literatur Georg Gebhardt/Philipp Seif (Hg.), Was heißt Liebe?, Frankfurt a . M . 1982. - Helmut Kuhn, „Liebe". Gesch. eines Begriffs, München 1972. - Joseph Pieper, Über die Liebe, München 1972. - Michael Theunissen, Der Andere. Stud. zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965. - Bernhard Welte, Dialektik der Liebe, Frankfurt a. M . 1973.
Georg Scherer Liebesmahle -»Agapen Lieder —»Cantica, —•Formgeschichte/Formenkritik, -»Hymnen, -»Kirchenlied Lietzmann, Hans Karl Alexander 1. Leben
2. Werk
3. Würdigung
(1875-1942) (Quellen/Literatur S. 195)
1. Leben Hans Lietzmann wurde am 3. März 1875 in Düsseldorf geboren. Nach manchen Ortswechseln, bedingt durch den Beruf des Vaters (zuletzt Hauptsteueramtsrendant in Mühlberg) hat er nach dessen frühem Tod (1885) auf dem Gymnasium in Wittenberg eine gediegene humanistische Ausbildung erfahren. Trotz ausgeprägter naturwissenschaftlicher Neigungen entschloß er sich unter dem Einfluß seiner Lehrer zum Studium der Theologie und der klassischen Philologie. 1893 ging er für zwei Semester nach -»Jena. 1894 wechselte er nach -»Bonn und hat hier die Prägung für sein ganzes Leben erfahren. Die Evangelisch-Theologische Fakultät dieser Zeit war nicht so unbedeutend, wie es nach der Autobiographie Lietzmanns, in der nur Eduard Gräfe und Karl Seil erwähnt werden, den Anschein hat (vgl. Ritsehl, Vielhauer, Smend). Sie war aber in eine,positive' und eine ,liberale' Fraktion gespalten. Durch seine Bindung an Gräfe, dem er nach eigenem Zeugnis seine „ganze Schulung auf neutestamentlichem Gebiet" verdankte (Autobiographie 87 [ = 341]), gehörte Lietzmann zur liberalen' Gruppe. Von besonderer Bedeutung war für Lietzmann die Begegnung mit Hermann Usener, der neben Bücheler (auch Elter und der Archäologe Georg Loeschcke sind zu nennen) die Glanzzeit der Bonner klassischen Philologie repräsentiert. Usener, dem Lietzmann als jahrelanger Amanuensis verbunden war, hat ihn wohl mehr geprägt als alle anderen akademischen Lehrer. Mit dem 1. theologischen Examen und der Promotion zum Licentiaten schloß Lietzmann 1896 sein Theologiestudium ab. Zwei Jahre später folgte das Staatsexamen für die Fächer Religion, Hebräisch, Griechisch und Latein, dem sich zwei Jahre Schuldienst anschlössen. 1900 erfolgte die Habilitation für das Fach Kirchengeschichte. Trotz schwie-
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riger finanzieller Verhältnisse hat Lietzmann diese Bonner Zeit als besonders glücklich empfunden. Zum Wintersemester 1905/06 erfolgte die Berufung zum außerordentlichen Professor in Jena, 1908 die Ernennung zum Ordinarius dortselbst (zu den Schwierigkeiten bei der Berufung vgl. Heussi 396ff). Der Ausbruch des Krieges 1914 hat ihn in mannigfache Aktivitäten geführt (Rotes Kreuz u. a.). Nach 1918 hat er kräftig an dem Neubau der thüringischen Landeskirche mitgewirkt. In diese Zeit fällt auch seine Heirat mit Jutta Höfer (1.2.1919). Den 1921 erhaltenen Ruf auf den Lehrstuhl A. v. -»Harnacks in -»-Berlin lehnte Lietzmann ab, wohl vor allem aus Abneigung gegen den Betrieb in der Großstadt. Aber zwei Jahre später folgte er einem erneuten Ruf und begann im Sommer 1924 seine Tätigkeit in Berlin. In dieser letzten Epoche seines Lebens hat Lietzmann seine Fähigkeiten in Forschung, Lehre und Wissenschaftsorganisation voll entfalten können, bis sich in den Jahren nach 1933 manche Einschränkungen ergaben. Wichtig war seine Mitarbeit in der Kirchenväterkommission (ab 1926), deren Vorsitz er 1930 übernahm. 1927 wurde er Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. In vielen Gremien (z.B. Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft) war er tätiges Mitglied. Daneben steht eine reiche Herausgeberschaft (ZNW u.a.; vgl. Andresen 545). Im Kirchenkampf (-»Nationalsozialismus und Kirchen) hat Lietzmann sich zur Bekennenden Kirche gehalten, auch das Marburger Gutachten zur Arierfrage unterschrieben, sich dann aber aufgrund der Beschlüsse von Augsburg 1935 zurückgezogen. Seine Verbundenheit mit dem nach dem 20. Juli 1944 hingerichteten Johannes Popitz und anderen Mitgliedern der Mittwochsgesellschaft, der er seit 1924 angehörte (vgl. Scholder), hat seine früh einsetzende Ablehnung des -»Nationalsozialismus und der -^Deutschen Christen' sicher verstärkt. Charakteristisch ist Lietzmanns Absage an seinen alten Freund Emanuel -»Hirsch (Brief Nr. 894). Auch die sich ständig zuspitzende Gegnerschaft zu Erich Seeberg muß hier erwähnt werden. Im Juli 1941 erkrankte Lietzmann. Nach einer Leidenszeit von fast einem Jahr - ein Jahr, in dem die Mehrzahl seiner jungen Mitarbeiter und auch sein eigener Sohn in Rußland gefallen sind — starb er am 25. Juni 1942 in Locarno. 2. Werk Die Fülle der wissenschaftlichen Publikationen Lietzmanns kann hier nicht ausführlich gewürdigt werden. Nur einige herausragende Arbeiten sollen vorgeführt werden, um das weite Feld, das er bearbeitet hat, sichtbar werden zu lassen und zugleich den Weg zu dem großen Werk Geschichte der Alten Kirche [ = GdAK] aufzuzeigen.
Die erste Veröffentlichung Der Menschensohn. Ein Beitrag zur neutestamentlichen Theologie 1896 (Aland, Bibliographie Nr. 1), mit der Lietzmann den Grad des Licentiaten erwarb, zeigt Züge, die auch im weiteren Werk bestimmend sind. Ausgehend von der Untersuchung des philologischen Tatbestandes werden historische Folgerungen aufgezeigt. Die Prüfung der aramäischen und der griechischen Quellen ergibt, daß die aramäische Bezeichnung bar nasa kein messianischer Titel gewesen ist und daß andererseits die Bezeichnung Jesu als uiot; xoö äv9pdmou als ein „terminus technicus hellenistischer Theologie" (95) anzusehen ist, der „möglicherweise schon in jüdischen Kreisen geschaffen, von der griechischen Urgemeinde bereitwillig übernommen und zur Bezeichnung Jesu gestempelt wurde" (95). Auch wenn Lietzmann selbst später (GdAK I 2 ,46) zurückhaltender urteilt, so hat er doch mit dieser ersten Schrift zur Klärung einer Kernfrage der neutestamentlichen Theologie beigetragen.
Ein Jahr später folgte Catenen. Mitteilungen über ihre Geschichte und handschriftliche Überlieferung (Bibliographie Nr. 2), die Frucht eines Parisaufenthaltes im Auftrag Hermann von Sodens. Daraus erwuchs dann der „Catenarum graecarum catalogus" (1902; Bibliographie Nr. 15), unter Mitwirkung von Georg Karo und mit Unterstützung der Göttinger Akademie von Lietzmann herausgegeben. Mit sicherem Blick hat Lietzmann bei seiner Arbeit in Paris die Bedeutung der -»Katenen für die Überlieferung der patristischen Literatur erkannt und in erstaunlich kurzer Zeit ein Hilfsmittel für
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die weitere Arbeit geschaffen. Seine Pläne für eine Gesamtausgabe der Katenen stießen auf Bedenken bei Harnack u.a. (vgl. Briefe von Wilamowitz bei Dummer 363ff). Lietzmann hat seine Pläne dann reduziert. Es bleibt aber sein Verdienst, eine feste Grundlage für die Arbeit auf diesem Gebiet geschaffen zu haben.
Die Katenen-Arbeit war eigentlich nur ein .Nebenprodukt', denn die Hauptarbeit in Paris und danach galt der Lösung einer Preisaufgabe der Göttinger Akademie: eine Sammlung der Fragmente des -»Apollinaris von Laodicea. Lietzmann hat diese schwierige Aufgabe angepackt, erhielt 1899 den Preis und legte 1904 das Werk vor: Apollinaris und seine Schule. Texte und Untersuchungen, I (Bibliographie Nr. 29; im gleichen Jahr erschien auch die Ausgabe der syrischen Texte, zusammen mit Johannes Flemming bearbeitet; Bibliographie Nr. 30). Lietzmann hat nicht nur eine solide Ausgabe der Fragmente des Apollinaris vorgelegt, sondern auch die Geschichte dieses einflußreichen Theologen und seiner Schule dargestellt. Wenn man bedenkt, daß diese lebendig und farbig geschriebene Darstellung vor den Arbeiten von Eduard -•Schwartz zur Kirchengeschichte des 4. Jh. vorgelegt wurde, so wird sehr deutlich, wie bahnbrechend Lietzmanns Arbeit war. Jedenfalls ist dieses Buch ein bis heute klassisches Werk der Patristik. In die Bonner Jahre fallen noch einige Aufsätze und vor allem viele Rezensionen. Lietzmann ist in seinem ganzen Leben ein fleißiger Rezensent geblieben (vgl. seine .Notizen' in der Z N W ) , der mit seinem scharfen Blick die Entwicklung auf dem ganzen Feld der spätantiken Religions- und Geistesgeschichte (einschließlich der Archäologie) verfolgte und mit seinem Urteil begleitete. Aus der Bonner Lehrtätigkeit ging die Reihe „Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen" hervor, die Lietzmann selbst mit einer Ausgabe des Muratorischen Fragments eröffnete (Bibliographie Nr. 19). Diese Reihe hat sich im akademischen Unterricht bewährt. Allerdings haben die Philologen stärker von ihr Gebrauch gemacht als die Theologen (Autobiographie 98 [ = 352]). Die beträchtliche Zahl von liturgischen Texten signalisiert das wachsende Interesse an diesem Gebiet - auch das ein Erbe Useners.
In die Bonner Zeit fallen auch noch die Anfänge des Handbuchs zum Neuen Testament, dessen 1. Lieferung (Römerbrief von Lietzmann selbst; Bibliographie Nr. 38) 1906 erschien. Das Handbuch „sollte vor allem das weitschichtige Material dem Studenten darbieten, das aus den zeitgenössischen Quellen zum sprachlichen und sachlichen Verständnis des Neuen Testamentes beigebracht werden konnte" (Autobiographie 100 [ = 353]). Lietzmann selbst hat die Kommentare zu Rom, I und II Kor, Gal bearbeitet. Für die anderen Teile konnte er kompetente Mitarbeiter gewinnen und damit diesem Werk über Jahrzehnte einen festen Platz in der Kommentarliteratur sichern. Es hat nicht an Kritik an dieser .philologischen' Exegese gefehlt. Aber Lietzmann hat sich an der Trennung von philologisch-historischer Auslegung und theologischer Auswertung nicht irre machen lassen (vgl. sein Vorwort zu Band 22 des HNT, Bibliographie Nr. 358). Die große Zahl von Aufsätzen und Rezensionen in der Jenaer Zeit (vgl. Bibliographie für die Jahre 1906-1923) zeigt, wie er sein Arbeitsfeld immer mehr erweiterte: Archäologie, Geschichte des Kirchenrechts, der Liturgie und der Symbole sind in z. T. noch heute gültigen Beiträgen behandelt. 1915 erschien das Buch Petrus und Paulus in Rom (Bibliographie Nr. 144; 2. Aufl. 1927). In diesem Werk kommt Lietzmann durch eine umfassende Analyse der liturgischen und archäologischen Quellen zu dem Ergebnis, daß der Uberlieferung vom Tod der Apostel in Rom eine hohe Wahrscheinlichkeit zukommt. Das Werk bleibt - auch wenn heute manches modifiziert werden muß - ein Musterbeispiel einer unvoreingenommenen historisch-kritischen Arbeit. Vor allem die Kombination von Liturgiegeschichte und Archäologie ist ein genialer Wurf.
Der Liturgiegeschichte galt auch weiterhin das besondere Interesse Lietzmanns. 1921 brachte er die Ausgabe des Sacramentarium Gregorianum heraus (Bibliographie Nr. 195), und 1926 folgte das Buch Messe und Herrenmahl (Bibliographie Nr.268). Dieses Werk, das bis heute eine wichtige Stellung in der Erforschung der Liturgiegeschichte einnimmt, ist durch eine eingehende Interpretation der Masse der Quellen bestimmt. Lietzmann geht für die einzelnen Teile der ,Messe* von den späteren Quellen zurück bis zu den aufweisbaren
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Anfängen und kommt so zu zwei Urtypen (-»Hippolyt von Rom und -»Ägypten), die er dann noch weiter in die Urzeit der Kirche zurückverfolgen möchte (jerusalemisch-paulinisch). Nun wird sich die These vom doppelten Ursprung der Abendmahlsliturgie in dieser Form nicht halten lassen. Aber das ändert nichts daran, daß dieses Buch zu den großen Werken der Liturgiegeschichte gehört und bahnbrechend gewirkt hat. D a ß Lietzmann auch a u f dem Gebiet der Reformationsgeschichte tätig w a r , zeigen m a n c h e Kleine Texte (Bibliographie N r . 5 5 , 7 5 , 7 6 , 1 0 2 , 1 0 3 , 1 1 4 ) , vor allem aber die Rede zum Reformationsjubiläum 1 9 1 7 (Bibliographie N r . 169). Weiter verdanken die Clemensche Lutherausgabe wie auch die Ausgabe der lutherischen Bekenntnisschriften (Bibliographie N r . 3 4 5 ) seiner Mitwirkung sehr viel. „Meine wissenschaftliche Produktion ist nicht planmäßig angelegt, sondern ich habe die Probleme angegriffen, wie sie mir in den Weg kamen" (KS HI [1962] 370). Man wird diese Aussage Lietzmanns in seiner Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften nicht überbewerten dürfen; denn gewisse Themen, wie etwa die Liturgiegeschichte, weisen auf eine Kontinuität in der Arbeit hin. Aber richtig ist, daß die Themen, die er bis dahin behandelt hatte, nicht aus einer Grundthese heraus entfaltet sind (wie es doch bei Harnack der Fall war). Wann Lietzmann den Entschluß gefaßt hat, eine Gesamtdarstellung der Kirchengeschichte der ersten J a h r h u n d e r t e zu schreiben, läßt sich nicht sagen. 1 9 3 2 erschien der I. Band der Geschichte der Alten Kirche, 1936 folgte Band II, 1938 Band III. Der IV. Band wurde posthum 1 9 4 4 von W. Eltester herausgegeben (zu den bibliographischen Angaben vgl. Bibliographie N r . 3 6 8 , 4 1 4 , 4 4 8 , 4 9 1 ; d o r t auch Angaben über die N a c h d r u c k e ) . Charakteristisch für die Arbeitsweise Lietzmanns war wohl, daß diese in verhältnismäßig schneller Folge erscheinenden Bände von einer Anzahl von Akademievorträgen begleitet wurden (z. B. über den Prozeß Jesu, Bibliographie Nr. 352; über den Glauben Konstantins, Bibliographie Nr. 444) und daß er weiter in seinem Seminar jeweils ein Thema behandelte, das gerade in der Geschichte der Alten Kirche in Arbeit war (wohl ein gutes Erbe der Bonner Zeit, vgl. Autobiographie 88 [ = 342]). Lietzmann hat für dieses Werk noch einmal alle Quellen gelesen. Das spiegelt sich auch in dem - auf den ersten Blick sehr knapp wirkenden - Anmerkungsapparat wider, der sich dem Benutzer bei Gebrauch als eine Quelle reicher Belehrung erschließt. Die ganze Fülle christlicher und nichtchristlicher literarischer, archäologischer und liturgischer Zeugnisse wird verwertet. Jeder Band beginnt mit einer Darstellung der politischen Geschichte und der religions- und geistesgeschichtlichen Entwicklung. So wird in Band I Die Anfänge ausführlich über das -»Judentum in frühchristlicher Zeit und über die -»Gnosis berichtet (der letztere Abschnitt hat manchen Widerspruch erfahren). In Band II Ecclesia catholica, der die Entwicklung im 2. und 3. Jh. behandelt, spricht die territoriale Einteilung für die gelungene „architektonische Gliederung" (Bornkamm 9). Band III Die Reichskirche bis zum Tode Julians ist nicht zufällig „Eduard -»Schwartz, dem Kirchenhistoriker" gewidmet; denn Lietzmanns Darstellung der Kirchengeschichte des 4. Jh. steht ohne Zweifel stark unter dem Einfluß von Schwartz. Allerdings hält er sich von dessen Einseitigkeiten frei. Er hat der Theologie und der Frömmigkeit der handelnden Personen die gebührende Aufmerksamkeit und die ihnen zustehende Achtung zugewandt. Das wird auch in dem Fragment, das als Band IV herausgegeben worden ist Die Zeit der Kirchenväter (kein sehr glücklicher Untertitel), deutlich. Im letzten Kapitel schildert Lietzmann mit bewundernswertem Einfühlungsvermögen die Geschichte des Mönchtums und vor allem die innersten Motive und Tendenzen dieser für die Kirchengeschichte so wichtigen Erscheinung. Das Werk, das in glänzendem Stil geschrieben ist, steht in der Tradition von Karl August von H a s e , L . von - » R a n k e und T h e o d o r M o m m s e n und gehört zu den großen Leistungen der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung. 3.
Würdigung
Es ist in dem kurzen Lebenslauf deutlich geworden, daß die Bonner Zeit für Lietzmann von entscheidender Bedeutung w a r . D a s gilt in doppelter Hinsicht: Einerseits hat er als Schüler Gräfes die historisch-kritische Arbeit a m Neuen Testament und in der Kirchengeschichte, wie sie sich seit F. C h r . - » B a u r in der evangelischen T h e o l o g i e entwickelt hatte, weitergeführt. Z u m anderen w a r er ein Philologe der B o n n e r Schule ( s . o . Abschn. 1). Diese Bonner Forschungsrichtungen hat Lietzmann aufgenommen und weitergeführt,
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nun aber als Theologe, der sich der historisch-kritischen Arbeit verpflichtet wußte. Diese Verbindung ist wohl der wichtigste Aspekt für eine Beurteilung seines Lebenswerks. Die Habilitation in der Bonner Evangelisch-Theologischen Fakultät muß als eine bewußte Entscheidung für die Theologie angesehen werden, denn für einen .liberalen' Privatdozenten waren die Chancen in Preußen nicht sehr groß. Aber war Lietzmann ein liberaler Theologe? Er selbst hat sich zu seiner theologischen Position kaum geäußert. Die Geschichte der Alten Kirche beginnt ohne eine Einleitung über Zweck, Ziel und theologische Intention des Werkes. In einem Brief an R. -•Bultmann hat Lietzmann seine Absicht so formuliert: „Ich habe mir kein anderes Ziel gestellt als das einst von Ranke formulierte, nämlich einfach zu erzählen, ,wie es eigentlich gewesen ist', und bin mir dessen bewußt, daß dieses Ziel mit unseren Mitteln nur ganz unvollkommen erreicht werden kann" (Brief Nr. 1096). Es stellt sich nun allerdings die Frage, was eigentlich der Gegenstand dieses Bemühens ist: Kirche oder Christentum, einzelne Fromme, Heilige oder Ketzer? Man kann wohl sagen, daß Lietzmann sich um eine Synthese all dieser in der bisherigen Forschung begegnenden Aspekte bemüht. Institutionen (wie Kirche, Staat und Kultur) und Individuen werden in gleicher Weise erfaßt und geschildert. Von dem bei Harnack doch vorhandenen Leitmotiv des ,Abfalls' ist bei Lietzmann nichts zu spüren. Es wird vielmehr aufgrund philologisch exakter Interpretation der Quellen ein lebendiges Bild von der Vielfalt geschichtlichen Lebens der Kirche in spätantiker Zeit gezeichnet, ohne daß der Historiker sich als Richter aufspielt. Jeder Epoche und jeder Persönlichkeit wird die gebührende Beachtung, aber auch Achtung zuteil. Mit den Schablonen .liberal', ,historistisch', positivistisch' oder ähnlichen Schlagwörtern wird man diesem Werk nicht gerecht, wenn auch manches für sie zu sprechen scheint. Lietzmann war Historiker und Philologe in der großen Tradition des 19. Jh., aber er wollte zugleich auch Theologe sein und hat in seiner Art auch der Kirche gedient. „Indem der Theologe Historiker und Philologe ist, sichert er dem Glauben den echten Zusammenhang mit seinem geschichtlichen Fundament und bewahrt sich davor, daß sein Denken ein freies Schweifen des menschlichen Geistes wird" (Eltester 10). Quellen Autobiographie: Die Religionswiss. d. Gegenwart in Selbstdarst. 2 (1926) 7 7 - 1 1 7 = KS, III 1962 (TU 74), 331-368 (gekürzt). - Glanz u. Niedergang der dt. Univ. 50 Jahre dt. Wissenschaftsgesch. in Briefen an u. von Hans Lietzmann (1892-1942). Mit einer einführenden Darst., hg. v. Kurt Aland, Berlin 1979 [1202 Briefe sind abgedruckt; nach S. VIII befindet sich der Briefnachlaß - „mehrere 10000 Schriftstücke" (?) - in Münster]. - Kurt Aland, Bibliogr. der Sehr. Hans Lietzmanns: Z N W 41 (1942) 12-33 = Aland, Glanz, s.o., 1194-1222 [erweitert]. - Ders., Hans Lietzmann u. die kath. Patristiker seiner Zeit: Kyriakon. FS J. Quasten, Münster o. J. (1970), 615-635. - Ders., Aus der Blütezeit der Kirchenhistorie in Berlin. Die Korrespondenz Adolf v. Harnacks u. Karl Holls mit Hans Lietzmann: Saec. 21 (1970) 235 - 3 6 4 . - Jürgen Dummer, Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorf u. die Kirchenväterkommission der Berliner Akademie: Studia Byzantina 2 (1973) 351-387. Literatur Carl Andresen, Art. Lietzmann, Hans: NDB 14 (1985) 544-546. - Heinrich Bornkamm, Hans Lietzmann. Rede bei der akademischen Trauerfeier . . . 15. Juli 1942: Z N W 41 (1942) 1 - 1 2 . - Walter Eiliger, 150 Jahre Theol. Fakultät Berlin. Eine Darst. ihrer Gesch. v. 1810 bis 1960 als Beitr. zu ihrem Jubiläum, Berlin 1960. - Walther Eltester, Der Beitr. der Gesch. zur Theol. Hans Lietzmanns Lebenswerk: T h L Z 68 (1943) 1 - 1 0 . - Hans Herter, Die klassische Philologie seit Usener u. Bücheler: Bonner Gelehrte. Beitr. zur Gesch. der Wiss. in Bonn. Phil. u. Altertumswiss., Bonn 1968,165-211. - Karl Heussi, Gesch. der Theol. Fakultät zu Jena, Weimar 1954. - Ernst Langlotz, Georg Loeschcke (1852-1915): Bonner Gelehrte, s.o., 233 - 2 3 8 . - P e t e r Meinhold, Gesch. der kirchl. Historiographie, Freiburg, II 1967,393-399. - Otto Ritsehl, Die ev.-theol. Fakultät zu Bonn in dem 1. Jh. ihrer Gesch. 1819-1919, Bonn 1919. - Klaus Scholder, Die Mittwochs-Gesellschaft. Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1932-1944, Berlin 1982. - Eduard Schwartz, Rede auf Hermann Usener: NGWG Gesch. Mitt. 1906, 1 - 1 4 = ders., GS, Berlin, I 1938, 301-315. - Rudolf Smend, „Glanz und Niedergang der deutschen Universität": EvTheol 40, 1980, 181-188. - Ders., Adolf Kamphausen, 1829-1909: Bonner Gelehrte. Beitr. zur Gesch. der Wiss. in Bonn. Ev. Theol., Bonn 1968, 92-102.
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Lightfoot, Joseph
Barber
- Ders., Johannes Meinhold, 1861-1937: ebd. 121-129. - Philipp Vielhauer, Eduard Gräfe, 1855-1922: ebd. 130-142. - Dietmar Wyrwa, Hans Lietzmanns theol. Verständnis der KG: 450 Jahre Ev. Theol. in Berlin, hg.v. Gerhard Besier/Christof Gestrich, Göttingen 1989, 387-418. Wilhelm Schneemelcher Lightfoot, John -»Bibelwissenschaft Lightfoot, Joseph Barber 1. Leben
2. Werk
(1828-1889)
3. Nachwirkung
(Werke/Literatur 198)
1. Leben Joseph B. Lightfoot w u r d e als Sohn von J o h n Jackson Lightfoot und Matilda Barber am 13.4.1828 geboren. N a c h d e m Besuch der King E d w a r d ' s School in Birmingham schloß er 1851 das Studium der Altertumswissenschaften und der M a t h e m a t i k am Trinity College in - » C a m b r i d g e mit Auszeichnung ab, w u r d e dort Mitglied und danach Tutor, um 1854 zum Diakon und 1858 zum Priester der -»Kirche von England ordiniert zu werden. 1864 w u r d e er D o k t o r der Theologie (D.D.) von Cambridge, 1861 Hülse Professor und 1875 Lady Margaret's Professor. Von 1871 bis 1879 war er außerdem Kanonikus an der St. Paul's Cathedral in London und a b 1879 bis zu seinem Tod Bischof von D u r h a m . Zwischen 1870 und 1880 war er einer der Revisoren der English Bible, bei der G r ü n d u n g des Liverpool University College 1880 wirkte er maßgeblich mit, 1881 gehörte er der Kommission zur Revision der Statuten der Universität von Cambridge an und 1882 förderte er die Einrichtung der Anglikanischen Diözese Newcastle. 1854 war er bei der Begründung des Journal of Classical and Sacred Philology beteiligt, an welchem er während der kurzen Zeit seines Erscheinens als Herausgeber und Autor mitarbeitete. J. B. Lightfoot war E h r e n d o k t o r der Theologie von D u r h a m und -»Edinburgh, des Zivilrechts von - » O x f o r d und der Rechte von Glasgow und -»Dublin. 2. Werk Lightfoot w a r der produktivste, einflußreichste und wohl bedeutendste in einem Dreigestirn von Gelehrten, zu welchem neben ihm F.J.A. - » H o r t und B.E -»Westcott gehörten. Die drei Beiträge Lightfoot's zu der von ihnen geplanten Kommentarreihe auf der Basis eines revidierten, kritischen Textes des Griechischen Neuen Testaments eröffneten in England Neuland durch ihren kritischen Ansatz sowie ihre historische und linguistische Methode. Jeden dieser Kommentare ergänzte er durch Spezialuntersuchungen, z. B. über Die Brüder des Herrn, Paulus und die Drei, Die Essener und Das christliche Amt. Sie wurden alle gesondert nachgedruckt und brachten wichtige und bleibend gültige Beiträge zur Klärung der Frage nach den Ursprüngen des Christentums, wie sie durch die Tübinger Schule von D. F. - » S t r a u ß und F. Chr. -»Baur aufgeworfen worden war. Lightf o o t ' s Verteidigung der revidierten Fassung der English Bible vermittelt eine Fülle sprachwissenschaftlicher Entdeckungen, und ihre Grundlagen wie ihre M e t h o d e n sind heute noch gültig. Seine Kritik an Baur spiegelt sich in seinen Aufsätzen gegen die anonyme Schrift Supernatural Religion (1874) wider, die ursprünglich zwischen 1874 und 1877 in The Contemporary Review veröffentlicht waren, in seinem Artikel über die Apostelgeschichte im Dictionary of the Bible und in dem unveröffentlichten Material über die Apostelgeschichte und das Johannesevangelium, d a s in der Bibliothek der Kathedrale von D u r h a m gesammelt ist (vgl. Kaye 194 f). Dieses Material zeigt auch seinen Einfluß auf Westcott's Johannesauslegung. Seine Vorlesungsnotizen zur -»Textkritik weisen auf die Arbeit von H o r t hin, mit dem er in eine Auseinandersetzung über die Originalität der Doxologie des Römerbriefs a n ihrem jetzigen O r t eintrat (vgl. Biblical Essays 3 2 1 - 3 5 1 ) . Seine Aufzeichnungen zur Apostelgeschichte zeigen, d a ß nach seiner M e i n u n g die Lehre von der Inspiration der biblischen Schriften nur Bestand haben könne, wenn man
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sowohl die göttlichen als auch die menschlichen Elemente in ihnen anzuerkennen bereit sei. Bemerkenswert ist, wie er dabei an der Auswahl und Anordnung der Stoffe durch den Verfasser festhalten kann, ohne damit den Gedanken ihrer Verfälschung verbinden zu müssen. In seiner Arbeit am -»Johannesevangelium (vgl. Exp. 4. Ser. 1 [1890] 1 - 2 1 . 8 1 - 9 2 . 176-188 und Biblical Essays 1-189) kann er selbständige palästinische und jüdische Überlieferung und gleichzeitig die apostolische Verfasserschaft des Buches (einschließlich Kap. 21) anerkennen, das später als die synoptischen Evangelien gegen Ende des 1. Jh. geschrieben sei. Der I Joh vermittle dafür mit seiner Bekämpfung doketischer und protognostischer Entwicklungen den historischen Kontext. Diese im Vergleich zu Baur frühere Datierung des Johannesevangeliums wurde dann durch die Entdeckung von p " und Papyrus Egerton 2 erhärtet (-»Bibelhandschriften). Noch ohne jedes Wissen von den heute allgemein bekannten Entdeckungen weist Lightfoot in seinen Arbeiten über die Essener und über die kolossische Häresie (vgl. Colossians) eine aus jüdischen Wurzeln weiterentwickelte Konzeption nach, die aufgrund der Aufnahme fremder Elemente vom Pharisäismus zu unterscheiden sei, wegen ihrer Herkunft aber vom Christentum unabhängig und diesem vorgegeben sei. Obwohl in den christlichen Gruppen von Kolossä (-»Kolosserbrief) noch mit dem Judentum verbunden, zeige sie später ihre durch und durch antijüdische Natur. Teile seiner Studien zur —»Gnosis könnten ebensogut heute geschrieben sein (vgl. Barrett: DUJ 64, 204); sie sind vielem, was die britische Forschung hervorgebracht hat, voraus. In seiner Arbeit über die Spannungen zwischen Gal 2 und Act 15 kann Lightfoot zwar zu Recht urteilen, daß beide Texte von der gleichen Zusammenkunft reden, er läßt sich aber beispielsweise nicht auf all die Schwierigkeiten ein, die u.a. das Aposteldekret betreffen. Seine größte Leistung bestand jedoch darin, daß er in der Auseinandersetzung mit Baur die Echtheit der sieben Briefe des -»Ignatius von Antiochien verteidigte (auf der Basis des uninterpolierten Textes von I. Voß und unter Verwerfung des kurzen syrischen Textes von W. Cureton folgte er dabei trotz früherer Zweifel Th. -»Zahn) wie auch die Echtheit des Briefes von -»Polykarp von Smyrna, und daß er schließlich den Tod des Ignatius in die Regierungszeit des Trajan datierte. Er vertrat auch die Echtheit des I Clem (-•Clemens von Rom) sowie seine Datierung im 1. Jh. Das machte es ihm möglich, für die meisten der neutestamentlichen Schriften eine Entstehungszeit innerhalb des 1. Jh. anzunehmen. Der äußere Nachweis für die Echthcit der Ignatianen fand die Anerkennung Adolf von - » H a r nacks, der die Datierung Lightfoot's akzeptierte, obwohl er ein von Lightfoot nicht erkanntes Problem darin sah, daß - abgesehen von den Ignatianen selbst - die einzige Bezugnahme auf Ignatius vor -»Eusebius von Caesarea von Polykarp stammt, der selbst wiederum von Ignatius erwähnt wird. Der innere Nachweis Lightfoot's für die Echtheit der Ignatianen beruht auf der inneren Konsistenz der sieben Briefe, deren Charakter einem frühen Abfassungsdatum entspricht, während sie nur mit Schwierigkeiten als eine spätere Fälschung erklärt werden könnten. Zu den entscheidenden Argumenten für die Echtheit des Polykarpbriefes zählten dann die zwischen diesem und den Ignatianen bestehenden Unterschiede.
Keine spätere Kritik hat Lightfoot in der Sache widerlegen können (vgl. W. R. Schoedel, Ignatius of Antioch, Philadelphia 1985,7), wenn auch von Harnack Lightfoot aus zweierlei Gründen wohl berechtigt kritisierte, nämlich zunächst wegen seines Versuches, allzuviel über den apostolischen Ursprung, die umfassende Bedeutung und den monarchischen Charakter des Bischofsamtes zur Zeit des Ignatius aus dessen eigener Auffassung von diesem Amt herzuleiten, und schließlich wegen seiner Deutung der von Ignatius bekämpften Irrlehre, die Lightfoot ohne weitere Differenzierung als doketisch und zugleich judaistisch hatte ansehen können. In The Christian Ministry zeigt Lightfoot seine Anteilnahme an den Problemen seiner eigenen Kirche, indem er für das Bischofsamt als ein aus dem Presbyteramt entstandenes Amt eintrat sowie dafür, daß das geistliche Amt nicht vom Vorbild des Priesteramtes her
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zu verstehen sei. Er unterstützte auch das Anliegen eines weiblichen Diakonats (vgl. York Journal of Convocation [1884] 124f). Seine Abhandlungen Early Roman Succession und Hippolytus of Portus (Clement1 1, 201 ff und 2, 317ff [The Apostolic Fathers]) sind beachtenswert. Lightfoot war einer der ersten, der von archäologischen Funden Gebrauch machte (z. B. Philippians 171 ff) und der noch vor der Entdeckung der ägyptischen Papyri das Griechisch des Neuen Testaments als eine echte Umgangssprache der griechisch-römischen Welt erkannte (vgl. auch A. Deißmann, Licht vom Osten, Tübingen 4 1923, 55 Anm. 3). 3.
Nachwirkung
Unter den Erkenntnissen und Forschungsergebnissen Lightfoot's von bleibendem Wert sollten seine Entdeckung des Einflusses der griechisch-römischen Rhetorik auf den Galaterbrief (vgl. H. D. Betz, Der Galaterbrief, München 1988,54 Anm. 97), seine Darlegungen zum saliäh-Begiiff (Galatians 93 f) und die Erörterung des Terminus SKIOÜOIOQ (Fresh Revision 193 f) erwähnt werden. Die von ihm vertretene „nordgalatische Hypothese" wird auch heute von den meisten befürwortet, wenn es um die Herkunft und die Ortsbestimmung der galatischen Gemeinden geht (-»Galaterbrief); durch neu entdeckte jüdische Inschriften in Anatolien hat sie an Uberzeugungskraft noch hinzugewonnen. Lightfoot's Ergebnisse waren grundlegend für die nunmehr allgemein anerkannte Datierung der neutestamentlichen Schriften (vgl. J. A. T. Robinson, Wann entstand das Neue Testament?, Paderborn/Wuppertal 1986, 14), abgesehen vielleicht von den ->Pastoralbriefen. Zur Hinterlassenschaft von Lightfoot gehört jedoch auch, daß seine im Vergleich zu Baur frühere Ansetzung der urchristlichen Schriften die von Baur stark herausgestellten urchristlichen Spannungen, Aufteilungen und Wiederversöhnungen eher an die Anfänge zurückverlegt, so daß dadurch die Frage der Einheit des Neuen Testaments und des frühesten Christentums als ungelöstes Problem offenbleibt. Es bedürfte eines zweiten Lightfoot ebenso wie eines neuen Baur, um hierfür Antworten geben zu können oder, was gleich wichtig ist, die richtigen Fragen stellen zu können (vgl. Barrett, Lightfoot 203 f). Werke
(Auswahl)
Kommentare: St. Paul's Epistle to the Galatians, London 1865. - To the Philippians, London 1868. - To the Colossians and Philemon, London 1875. Weitere Schriften: On a Fresh Revision of the English NT, London 1871. - The Apostolic Fathers I: St. Clement of Rome, 2 Bde., London 1869 2 1890; II: St. Ignatius and St. Polycarp, 3 Bde., London 1865,2 Bde. '1889. - Henry Longueville Mansel (Hg.), Gnostic Heresies of the 1st and 2nd Centuries, London 1875. - Essays on the work entitled Supernatural Religion, London 1889. - Dissertations on the Apostolic Age, London 1892. - Biblical Essays, London 1893. - Notes on the Epistles of Paul, London 1895. - The Christian Ministry, London 1901. Artikel: Eusebius of Caesarea: DCB 2 (1880) 308-348. - The Egyptian and Coptic Versions: Frederick H. Scrivener (Hg.), A Plain Introduction to the Criticism of the NT, Cambridge 1874, 319-357. Literatur Charles Kingsley Barrett, J . B . Lightfoot: DUJ 64 (1972) 193-204. - Ders., Quomodo historia conscribenda sit: NTS 28 (1982) 303 - 3 2 0 . - Matthew Black, Art. Lightfoot, J. B.: RGG 1 4 (1960) 376. - George R. Eden/Frederick Ch. Macdonald, Lightfoot of Durham, Cambridge 1932 (mit einem v. H.E. Savage zusammengestellten Schriftenverzeichnis Lightfoot's 174-183). - Franz X. Funk, Rezension v. J . B . Lightfoot, The Apostolic Fathers, II: LitRdsch 12 (1886) 99-101. - Caspar R. Gregory, Art. Lightfoot, J . B . : RE 3 11 (1902) 487-489. - Adolf v. Harnack, Bishop Lightfoot's .Ignatius and Polycarp': Exp. 3. Ser. 2 (1885) 4 0 1 - 4 1 4 . - Ders., Lightfoot on the Ignatian Epistles: Exp. 3. Ser. 3 (1886) 9 - 2 2 . 1 7 5 - 1 9 2 . - Ders., Rezension v. J. B. Lightfoot, The Apostolic Fathers, II: ThLZ 14 (1886) 315-319. - Fenton J. A. Hort, Art. Lightfoot, J . B . : DNB 33 (1893) 232-240. - Wilbert Fr. Howard, The Romance of N T Scholarship, London 1949, 55 f. - Bruce N. Kaye, Lightfoot and Baur on Early Christianity: N T 26 (1984) 193 - 2 2 4 . - Ders./Geoffrey R. Treloar, J . B . Lightfoot on Strauss and Christian Origins. An unpublished Manuscript: DUJ NS 48 (1987) 165-200. - Stephen Neill, The Interpretation of the N T 1861 - 1 9 6 1 , Oxford 1964,32-60. - ODCC
Liguori Joseph
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2
809; 3 823. - John A . T h . Robinson, The Roots of a Radical, London 1981, 155-161. - Ders., J. B. Lightfoot, Durham Cathedral Lecture 1981. - William Sanday, Bishop Lightfoot: Exp. 3. Ser. 4 (1886) 1 3 - 2 9 . - Henry W. Watkins (anon.), Bishop Lightfoot: Quarterly Review 76 (1893) 7 3 - 1 0 5 = ders., Bishop Lightfoot, London 1894.
Mark E. Glasswell
Liguori, Alfons Maria von 1. Leben
2. Werk
(1696-1787)
3. Wirkung
(Quellen/Literatur S. 201)
1. Leben Alfons Maria de Liguori wurde am 27.9.1696 in Marianella, heute einem Stadtteil Neapels, als erster Sohn des Kapitäns der königlichen Galeeren Don Giuseppe de Liguori und seiner Frau Donna Anna Cavalieri aus der Familie der Marchesi von Avenia geboren. 1710 wurde er Ritter von Seggio di Portanova, d . h . Mitglied einer der adligen Wahlkörperschaften Neapels. Am 21.1.1713 wurde er durch die Universität Neapel zum Doktor beider Rechte promoviert und am 19.3.1713 wurde er Mitglied des Kollegiums der Doktoren. Zugleich hatte er sich eine gründliche Bildung im Bereich der Musik und der schönen Künste angeeignet. Mit achtzehn Jahren nahm er seine berufliche Tätigkeit als Advokat auf. Er gehörte der Bruderschaft der Giovani Nobili (1706—1715) und der Gelehrten (1715-1721) an. 1723 erfuhr sein Leben einen tiefgreifenden Umbruch. Religiöse Übungen und der Verlust eines sehr wichtigen Prozesses versetzten ihn in eine innere Krise, die schließlich zu seiner „Bekehrung" (am 29.8.1723) und dem Entschluß führte, Priester zu werden. Am 21.12.1726 empfing er die Priesterweihe. Seine Mitarbeit in der Bruderschaft der Misericordiella (1714-1726), der Kongregation für die Apostolischen Missionen (1724) und der Bruderschaft der Bianchi della Giustizia (1725) machte ihn immer unmittelbarer mit der Verwahrlosung der Armen unter der Stadt- wie auch der Landbevölkerung vertraut, und diese Erfahrung bewog ihn, sich ihnen in besonderer Weise zuzuwenden. Er begann, sich der religiösen Unterweisung in den Armenvierteln Neapels, den Cappelle serotine (1728), zu widmen. 1729 verließ er das elterliche Haus und zog sich als Hospitant in die im gleichen Jahr von Matteo Ripa (1682-1746) gegründete Weltpriestergenossenschaft des Collegio della S. Famiglia zurück, das zur Ausbildung chinesischer Priester bestimmte sog. Chinescnkollcgium. Da er jedoch „hautnah die Verwahrlosung erfahren hatte, in der sich die Armen, zumal in den ländlichen Gebieten", „die verlassensten Kinder der Kirche Gottes", befanden, kehrte er der Hauptstadt den Rücken. In Scala (Salerno) gründete er am 9.11.1732 die Kongregation des allcrheiligsten Erlösers (Redemptoristen [-»Orden]), ein Missionsinstitut, das „seine Häuser außerhalb der Ortschaften inmitten der bedürftigsten Sprengel" unterhalten sollte, um sich durch Volksmission, Katechesen und andere Aufgaben „besser dem Dienst an der Landbevölkerung widmen zu können" (Supplex Libellus, 1748). Diese am 25.2.1749 von -»Benedikt XIV. bestätigte Gründung ist Liguoris bedeutendstes Werk. In ihr fand sein gesamtes missionarisches (1732-1752) und literarisches Wirken seine tragende Mitte. Seine schriftstellerische Tätigkeit begann mit Massime eterne (1728) und den unter Mitarbeit von Gennaro Maria Sarnelli (1702-1744) herausgegebenen Canzoncine spirituali (1732). Der Tod dieses vertrauten Freundes, die Notwendigkeit einer Erbauungsliteratur für die durch die Volksmission wachgerufene Frömmigkeit (vita devota), die Bedürfnisse der von ihm gegründeten Gemeinschaft, das kirchliche und politische Umfeld Neapels und die gesundheitlich bedingten Schwierigkeiten der Fortführung seines missionarischen Auftrages ließen dann jedoch die Jahre nach 1745 bzw. 1752 zum bedeutendsten Abschnitt seines literarischen Wirkens werden, ungeachtet seiner pastoralen Verpflichtungen durch das Amt des Bischofs von Sant'Agata dei Goti in Neapel (1762-1775), in das er aufgrund seines Ansehens als Missionar und
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Schriftsteller berufen worden war. Selbst seine Krankheiten, die ihn in dieser Zeit besonders schwer belasteten, hinderten ihn nicht, mit Hilfe von Mitarbeitern weiterhin literarisch an die Öffentlichkeit zu treten. In gleicher Weise setzte er sein Schaffen als emeritierter Bischof (1775) in der Redemptoristengemeinschaft von Pagani bei Nocera (Salerno) fort, soweit es seine Kräfte zuließen. Am 1.8.1787 starb er. 2. Werk Das literarische Werk Alfons von Liguori ist in Form gedruckter Bücher auf uns gekommen: 111 Titel in mehr als 400 zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Ausgaben. Nach Format und Umfang sind sie sehr unterschiedlich. Sie reichen vom Folioformat bis 32°, doch überwiegen die Drucke in 12° (52% des Gesamtbestandes) mit geistlicher, volkstümlich erbaulicher und administrativer Ausrichtung. Ihrem Inhalt nach sind sie in theologische, moralische und asketische Schriften einzuteilen. Richtet man dagegen sein Augenmerk auf den Abfassungszweck und die hauptsächlichen Adressaten, kann man verschiedene Reihen von Schriften unterscheiden, von denen wir hier einige der wichtigsten vorstellen: 2.1. Schriften für die Praxis des geistlichen Lebens und der Volksfrömmigkeit: Massime eterne (1728), Le Glorie di Maria (1750), Operette spirituali (1751), Del gran mezzo della preghiera (1759), Novena del S. Natale (1758), Apparecchio alla morte (1758), Considerazioni ed affetti sopra la Passione (1761), Pratica di amare Gesù Cristo (1768). 2.2. Schriften für die Praxis des Beichtvaters und der geistlichen Führung: Theologia Moralis (1748-1785), Dissertationes morales (1749-1777), Pratica del confessore (1755) = Praxis confessaci (1757), Istruzione e pratica per i confessori (1757) = Homo Apostolicus (1759), Il confessore diretto per le confessioni della gente di campagna (1764). 2.3. Schriften als Handreichung für den Klerus, die Seelsorger und Missionare: Compendio della dottrina cristiana (1744 und 1762), Riflessioni utili ai vescovi (1745), Selva di materie predicabili (1760), Istruzione al popolo (1767), Sermoni compendiati (1771), Traduzione dei Salmi (1774). 2.4. Schriften für Ordensleute: Breve pratica per la perfezione (1743), La vera sposa di Gesù Cristo (1760-1761). 2.5. Schriften für dieRedemptoristenkongregration: Constituzioni e Regole (1732-1749), Avvisi spettanti alla vocazione (1750), Briefe. 2.6. Schriften apologetischen Charakters zur Rechtfertigung oder Verteidigung der wahren Religion, des christlichen Glaubens, der katholischen Kirche oder des Papstes: Breve dissertazione contro gli errori de'moderni increduli oggidì nominati materialisti e deisti (1756), Evidenza della fede (1762), Verità della fede (1767), Vindiciae pro suprema Pontificis potestate adversus Justinum Febronium (1768), Opera dogmatica contro gli eretici pretesi riformati (1769), Trionfo della Chiesa cioè Istoria dell' Eresie colle loro confutazione (1772), Riflessioni sulla verità della divina Rivelazione (1773), Vittorie dei Martiri (1775), Condotta ammirabile della divina Provvidenza (1775), Disserta(1776), La fedeltà dei Vassalli (1777). zioni teologiche-morali
3. Wirkung Die Wirkung, die Alfons von Liguori seit Beginn des 19. Jh. in der christlichen Welt ausgeübt hat, ist eine sozioreligiös hochinteressante Erscheinung. Dabei sind verschiedene Momente zu unterscheiden. An erster Stelle steht die offizielle Anerkennung seiner Heiligkeit und seiner Lehre seitens der katholischen Kirche: Nihil censura dignum (1803), Seligsprechung (1816), Tuto sequi potest (1831), Heiligsprechung (1839), Kirchenlehrer (1871), Schutzheiliger der Beichtväter und Sittenlehrer (1950). Sein hohes theologisches Niveau und die Nützlichkeit seiner Schriften für die Widerlegung neuzeitlicher Irrtümer, die Verteidigung der päpstlichen Rechte, die Verkündigung des Ruhmes -»Marias und die Unterweisung in christlicher Moral und Askese lassen ihn zu einer wegweisenden Gestalt in einer für die Kirche ausnehmend schwierigen Situation werden. Ergänzend zu dieser offiziellen Anerkennung sind zu nennen: das Interesse seitens bekannter Persönlichkeiten und Gruppen des 19. Jh.; die Verbreitung alfonsianischer Werke (4110 Ausgaben in Originalfassung und 12 925 in Übersetzungen in 61 Sprachen bis zum Jahr 1939); der Einfluß dieser Schriften auf die Ausbildung des Klerus und der
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Beichtväter, auf die Gestaltung des religiösen Lebens und selbst auf die Bildung der römischen Kurie durch eine systematische und handliche Darlegung seiner Lehre; die Inanspruchnahme seiner Lehrautorität durch Gruppen, die in ihm eine Vorwegnahme dessen sehen wollten, was später der -»Syllabus und die Erklärung der päpstlichen Unfehlbarkeit (-»Vatikanum I) mit sich brachten; ferner die Opposition einiger Vertreter von modernen, auf eine geistige und theologische Erneuerung gerichteten Strömungen. Das wohl auffälligste Moment ist jedoch die Alfonsianisierung der katholischen Moral oder, wenn man will, die Bestätigung der alfonsianischen Moral durch die katholische Welt. Der Ausgangspunkt dafür war die Anerkennung seiner Heiligkeit, seines pastoralen Eifers, seiner apostolischen Erfahrung, seiner Klugheitsregeln, seiner Lehre über Gnade und Freiheit und seine Uberwindung von religiöser Ängstlichkeit und pastoralem Rigorismus durch seine Lehre, daß Gottes Menschenliebe sich im gekreuzigten Christus in einmaliger Weise geoffenbart hat. Liguori betont ferner den allgemeinen und wirksamen Heilswillen, Gottes Barmherzigkeit und Güte, die sich im Leben Jesu und in der seiner Mutter anvertrauten Sendung offenbaren; das ursprüngliche Gutsein der geschaffenen Welt und ihrer irdischen Wirklichkeit; den Vorrang des Gewissens, der Freiheit und der Einsicht vor dem Gesetz usw. Die Aneignung seiner Lehrautorität durch eine ganz bestimmte kirchliche Gruppe, die Diskussionen über die Geltung seiner Lehre in der Kirche und über die Beziehung seines Systems zum -+Probabilismus, die Opposition einzelner Richtungen, die die im Verfall begriffene Kasuistik überwinden wollten und die sich eine stärkere theologische Ausrichtung der Moral wünschten, all das führte dazu, daß Alfons' Einfluß im Vergleich zu früher etwas zurückging. Der krönende Abschluß seines bedeutsamen Einflusses in der Kirche war 1950 die Ernennung zum Schutzpatron der Beichtväter und der Moralisten. Sie ist zugleich der Beginn neuer Bemühungen, das Erbe der alfonsianischen Lehre in den Moralfragen der Gegenwart zum Tragen zu bringen. Theologen wie Bernhard Häring und Zentren wie die Academia Alfotisiana in Rom (seit 1957) oder das Instituto de Ciencias Morales in Madrid (seit 1971) betrachten es als ihre vorzügliche Aufgabe, die alfonsianische Morallehre sowohl in der unruhigen Welt von heute als auch in der gegenwärtigen Kirche präsent zu machen. Die 200. Wiederkehr des Todesjahres von Alfons von Liguori war ein gegebener Anlaß, diese Bemühungen mit Kongressen, Studien und Veröffentlichungen in die Tat umzusetzen. Quellen Werkausgaben: Briefe des hl. Kirchenlehrers Alfons M. v. Liguori, hg. v. Fridericus Kuntz/Francesco Pitocchi, 3 Bde., Regensburg 1893-1894. - Canzoniere alfonsiano, hg. v. Oreste Gregorio, Angri 1933. - Le melodie di S. Alfonso M. de Liguori in alcuni suoi canti popolari e Duetto tra l'anima e Gesù Cristo, hg. v. Antonio di Coste, Rom 1932. - Opera dogmatica, lat. Ubers, u. krit. hg. v. Aloys Walter, 2 Bde., Rom 1903. - Opere ascetiche, dogmatiche e morali, 10 Bde., Turin 1887. - Opere ascetiche. Introduzione generale, hg. v. Oreste Gregorio, Giuseppe Cacciatore e Domenico Capone. Premessa di Don Giuseppe di Luca, Vol. I, II, IV, V, VI, VII, IX, X , XIV, XV, Rom 1933-1968. - Pratica del confessore per ben esercitare il suo ministero. Edizione critico-pratica, hg. v. Giuseppe Pistoni, Modena 1948 = Frigento 1987. - SW, 32 Bde., Regensburg 1842-1847 = 1846-1911. - Theologia moralis, hg. u. bearb. v. Leonardi Gaudé, 4 Bde., Rom 1905-1912 = 1953. Bibliographien:
Fabriciano Ferrerò, Bibliografìa: Studia et subsidia . . . , s.u., 551-552.
Literatur Lorenzo Alvarez, La traducción alfonsiana de los Salmos. Análisis crítico y valoración pastoral: SHCSR 38 (1990) 197-223. - Hernán Arboleda, Regestum manuscriptorum S. Alfonsi: SHCSR 36/37 (1988/1989) 315-483. - Antoni Bazielich, La spiritualità di S. Alfonso M. de Liguori: SHCSR 31 (1983) 331-372. - Domenico Capone, La „theologia moralis" di S. Alfonso: StMor 25 (1987) 5 2 - 5 4 . - Fabriciano Ferrerò, Pro historia Iubilaei S. Alfonsi (1987-1988): Preparación, manifestaciones, significado y perspectivas; cronología general; documentos del Bicentenario: SHCSR 36/37 (1988/1989) 13-148. - Ders./Samuel J. Boland, Las obras impresas por S. Alfonso Maria de Liguori: SHCSR 36/37 (1988/1989) 485-543. - Pompeo Giannantonio (Hg.), Alfonso M. de Liguori e la società civile del suo tempo. Ani del Convegno internazionale per il Bicentenario della morte del santo (1787-1987), 2 Bde., Florenz 1990.-Josef Heinzmann, Unruhe der Liebe. Alfons M. v. Liguori
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Lilje
( 1 6 9 6 - 1 7 8 7 ) , Freiburg i.Ue. 1986. - Giuseppe Orlandi, La corrispondenza di S. Alfonso M . de Liguori: S H C S R 36/37 (1988/1989) 2 8 5 - 3 1 4 . - Ders., S. Alfonso Maria de Liguori e l'ambiente missionario napoletano nel Settecento: La Compagnia di Gesù: SHCSR 38 (1990) 5 - 1 9 5 . - Ders., Centocinquanta anni fa Alfonso de Liguori veniva proclamato santo: SHCSR 38 (1990) 2 3 7 - 2 4 7 . - Théodule Rey-Mermet, Le Saint du Siècle des Lumières. Alphonso de Liguori ( 1 6 9 6 - 1 7 8 7 ) , Paris 1982 »1987; dt.: Alfons v. Liguori. Der Hl. der Aufklärung ( 1 6 9 6 - 1 7 8 7 ) , Freiburg i.Br. 1987. - Ciro Sarnataro, La Catechesi a Napoli negli anni del card. Giuseppe Spinelli ( 1 7 3 4 - 1 7 5 4 ) . Contributi alfonsiani alla storia della catechesi, Neapel 1989. - Studia et subsidia de vita et operibus S. Alfonsi Mariae de Ligorio ( 1 6 9 6 - 1 7 8 7 ) , 1990 (BHCSR 13). - Antonio M . Tannoia, Della vita ed Istituto del V. Servo di Dio Alfonso M . Liguori, Neapel 1 7 9 8 - 1 8 0 2 = 1982. - Raimundo Telleria, S. Alfonso Maria de Ligorio, fundador, obispo y doctor, 2 Bde., Madrid 1 9 5 0 - 1 9 5 1 . - Marciano Vidal, Frente al rigorismo moral, benignidad pastoral. Alfonso de Liguori, Madrid 1986. - Otto Weiss, Alfons v. Liguori u. seine Biographen: SHCSR 36/37 (1988/1989) 1 5 1 - 2 8 4 . - Ders., Döllinger et les Rédemptoristes: S H C S R 38 (1990) 3 9 3 - 4 4 4 . - Ders./Fabriciano Ferrerò, Bibliographia alfonsiana: S H C S R 36/37 (1988/1989) 5 4 7 - 6 4 7 . - F. Wenhardt, Alfonsiana u. Redemptoristica, Gars a. Inn 1982.
Fabriciano Ferrerò Lilit -»Dämonen Lilje, Hanns 1. Leben
1.
(1899-1977) 2. Werk
(Werke/Literatur S. 205)
Leben
Johannes Ernst Richard Lilje wurde am 20. August 1899 in Hannover als Sohn eines Diakons geboren. Nach dem Besuch des Reformgymnasiums Leibnizschule in Hannover legte er 1917 das „Notabitur" ab und wurde zum Wehrdienst eingezogen. Verwundet aus dem Krieg zurückgekehrt, studierte Lilje in -»Göttingen und -»Leipzig Theologie und Kunstgeschichte. Nach der Ordination (28. November 1924) und einer kurzen Zeit als Jugendpfarrer der Inneren Mission wurde er Studentenpfarrer an der Technischen Hochschule Hannover. 1927 übernahm Lilje das Amt des Generalsekretärs der Deutschen Christlichen Studenten-Vereinigung (DCSV). In dieser Funktion reiste er 1928 zur Tagung der World Student Christian Fédération nach Mysore/Indien und wurde - obgleich in ökumenischen Belangen noch unerfahren - Mitglied des Exekutivkomitees, 1932 für drei Jahre einer der Vizepräsidenten des Studentenweltbundes; im selben Jahr promovierte er mit einer Arbeit über Luthers Geschichtsanschauung in Zürich zum Dr. theol. Von 1935 bis 1945 war er Generalsekretär des Lutherischen Weltkonvents. In der Zeit des -»Nationalsozialismus gründete Lilje zusammen mit Walther Künneth und Martin -> Niemöller 1933 die Jungreformatorische Bewegung, in der sich die Gegner einer Gleichschaltung der Deutschen Evangelischen Kirche zusammenfanden, und wurde Herausgeber der Zeitschrift Junge Kirche. Nach der Spaltung der Bekennenden Kirche (BK) 1936 übernahm Lilje verschiedene Funktionen für die Kirchenführerkonferenz und den Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (Lutherrat). Da Lilje als Seelsorger Kontakt zu Beteiligten des Attentats vom 20. Juli 1944 unterhielt, veranlaßte die Gestapo am 19. August 1944 seine Verhaftung. Vom Volksgerichtshof wurde er zu vier Jahren Gefängnis verurteilt; bei Kriegsende befreiten ihn in Nürnberg amerikanische Truppen. Nach seiner Rückkehr bestellte die hannoversche Kirchenleitung Lilje zum Oberlandeskirchenrat. Im August 1945 nahm er an der Kirchenkonferenz in Treysa teil und wurde in den neugebildeten Rat der Evangelischen Kirche gewählt (vgl. T R E 10,668,23ff); im Oktober gehörte er zu den Unterzeichnern der vor Vertretern der Ökumene abgelegten Stuttgarter Schulderklärung. In den Jahren 1945 bis 1957 amtierte Lilje als Präsident des Centraiausschusses der -»Inneren Mission. 1947 wählte die Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche Hannovers Lilje einstimmig zum Landesbischof, ein Amt, das
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er bis 1971 innehatte. Im selben J a h r wurde er Mitglied des Exekutivkomitees des - » L u therischen Weltbundes, als dessen Präsident er von 1952 bis 1957 wirkte. Im August 1948 nahm Lilje an der konstituierenden Versammlung des ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam teil und war Diskussionsleiter der Sektion I; auch auf den folgenden Vollversammlungen (1954 Evanston, 1961 New-Delhi, 1968 Uppsala) gehörte er zur deutschen Delegation. Das Vertrauen, das Lilje entgegengebracht wurde, zeigt sich an den Funktionen, die er im Weltrat der Kirchen bekleidete: 1948 Mitglied des Zentralkomitees, 1961 Sitz im Exekutivkomitee; 1968 bis 1975 einer der sechs Präsidenten. Nach dem Tod von August Marahrens ( 1 8 7 5 - 1 9 5 0 ) wurde Lilje 1950 als Johannes X I . Abt des Klosters Loccum. Im Bereich der deutschen Kirchen übernahm Lilje das Amt des stellvertretenden Ratsvorsitzenden ( 1 9 4 9 - 1 9 6 7 ) ; 1955 bis 1969 war er leitender Bischof der V E L K D . Seine weltweite Anerkennung drückte sich in elf Ehrendoktorwürden (u. a. Edinburgh 1947, Göttingen 1947, Helsinki 1963, Tacoma/USA 1970) und zahlreichen anderen Würdigungen - u. a. das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland - aus. Hanns Lilje starb am 6. Januar 1977. 2. Werk Lilje war mit dem Amt als Studentenpfarrer an der Technischen Hochschule eine bislang von Theologie und Kirche vernachlässigte Aufgabe gestellt: die Konfrontation des christlichen Glaubens mit der Welt der Technik. Dieses Problem wurde für Lilje zu einer Zentralfrage, und ihm widmete er sein erstes größeres literarischen Werk. „ D i e T e c h n i k " , so stellte er fest, „verlangt eindeutig eine religiöse Sinngebung des gesamten D a s e i n s " , und wer dieser „ n i c h t im N a m e n G o t t e s Sinn zu geben vermag, wird es im N a m e n der G ö t z e n t u n " (Zeitalter 66). Die „ g r o ß e Verweltlichung der K u l t u r " müsse sich vollenden, damit deutlich werde, „ d a ß es am Ende nur eine doppelte M ö g l i c h k e i t gibt: H e r r s c h a f t des Christus oder Herrschaft des Antichristus, a b e r nicht jenes müde, fade, u n m ö g l i c h e Reich der M i t t e " (174).
Als Generalsekretär der D C S V gelang es Lilje innerhalb von kurzer Zeit, „das Werk aus dem Engpaß, in den es geraten war, herauszuführen" (Kupisch 139). Er war an der Lösung der inneren Probleme maßgeblich beteiligt und förderte den bislang gegenüber den missionarischen Aktivitäten zu kurz gekommenen theologischen Austausch; darüber hinaus suchte Lilje die D C S V stärker an die Kirchen heranzuführen und die Beziehungen zum Christlichen Studentenweltbund neu zu gestalten. Die bislang defensive Rolle des deutschen Verbandes wich einer engagierten Mitarbeit: Die in Mysore mit Pierre Maury, Francis P. Miller, Willem -»Visser't Hooft und anderen ö k u m e n i k e r n (-•Ökumene) geknüpften freundschaftlichen Beziehungen sollten für Lilje bestimmend werden; er arbeitete auf der Cambridger Tagung des Weltbundes für Internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen 1930 mit, beteiligte sich an der Vorbereitung der 2. Konferenz für Glaube und Kirchenverfassung (Edinburgh 1937) und setzte sich für die Bewegung für Praktisches Christentum ein. In der Zeit des -»Nationalsozialismus exponierte sich Lilje auf Seiten der kirchlichen Opposition. In der „deutsche(n) Revolution von 1 9 3 3 " sah er zwar „den Anbruch einer geschichtlichen Umwälzung . . . , die für Europa eine ähnliche umgestaltende Wirkung haben wird wie jene vorausgegangenen großen europäischen Revolutionen" (Lilje, Christus 7), doch so sehr er „die Zeitenwende" (3) begrüßte und mit Blick auf den „unvergeßlichen 30. J a n u a r " forderte, daß das deutsche „Volk seine Gottesstunde" begreifen solle, so entschieden war für ihn die Aufgabe der Kirche dieselbe geblieben; es gelte „nun um so nachdrücklicher den Ruf [zu] erneuern: Zurück zu Christus!" F ü r Lilje wurde der siebte P u n k t des Aufrufs der Jungreformatorischen Bewegung herausfordernd k o n k r e t , in dem festgehalten w a r , d a ß man sich „zu dem G l a u b e n an den Heiligen G e i s t " bekenne und d a h e r „grundsätzlich die Ausschließung von Nichtariern aus der K i r c h e " ablehne (Schmidt [1933] 146). Die D C S V wurde mit der Frage k o n f r o n t i e r t , inwieweit „ n i c h t a r i s c h e " Studenten Mitglied sein konnten, als die Deutsche Studentenschaft den „ A r i e r p a r a g r a p h e n " für M i t -
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gliedsorganisationen zur Bedingung machte. Lilje erklärte in einem Rundschreiben vom Mai 1933, „daß die unbesehene Übernahme [des Arier-Prinzips] . . . unter keinen Umständen in Betracht kommt" (nach Kupisch 184). Dennoch nehme die DCSV „das geltende Studentenrecht ohne Vorbehalt an". Ohne ihn formell einzuführen, war damit der „Arierparagraph" akzeptiert, da zur Deutschen Studentenschaft nur „Arier" zählten! Der weiterreichende Versuch der Tübinger Gruppe - im Interesse einer wirkungsvollen Arbeit - die Studentenvereinigung entsprechend den Vorgaben der Deutschen Studentenschaft umzustrukturieren, scheiterte; Liljes Linie wurde nicht nur durch die Altfreunde gestützt, auch der Christliche Studentenweltbund erklärte, „daß der Weltbund in keinem Fall die Verfassung einer nationalen Bewegung annehmen wird, welche grundsätzlich irgend eine Kategorie von Studenten von der vollen Mitgliedschaft ausschließt. Unsere gesamte Tradition gründet sich auf die kategorische Glaubensaussage: ,Hier sind nicht Juden noch Griechen'" (237).
In der Auseinandersetzung um die Barmer Theologische Erklärung verwies Lilje darauf, daß es in ihr nicht um eine Festschreibung der Gestalt der Kirche gehe, sondern darum, rechte Kriterien für einen Wandel der Kirche zu haben; es sei nicht gleichgültig, „ob man von der ,positiven Beziehung der Kirche auf das, was unser Volk heute in politischer Hinsicht erlebt' als von einer neuen Offenbarungsquelle" rede, „oder ob man zwischen dem Inhalt der Verkündigung, den die Bekenntnisse feststellen, und kirchlicher Ordnung aus der gegenwärtigen Lage unseres Volkes heraus" unterscheiden wolle (JK 2 [1934] 697). Im Verlauf des Kirchenkampfes wurde Lilje als profilierter Vertreter des Luthertums in kirchenleitende Gremien berufen: Er war Mitglied des Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (seit März 1936; Lutherische Kirchen) und einer der drei ständigen Vertreter; beim Versuch der Kirchenführerkonferenz, im Februar 1937 eine Kirchenleitung zu bilden, war er für die leitende Position vorgesehen. Lilje war Unterzeichner der 13 Sätze über Auftrag und Dienst der Kirche (KJ 1 9 3 3 - 1 9 4 4 , 4 2 3 - 4 2 5 ) , die Landesbischof Theophil Wurm (1868—1953) im Rahmen seines Einigungswerkes verfaßt hatte, und Mitglied in einem 1943 auf Reichsebene eingerichteten Beirat für Wurm. In einer während des Krieges entstandenen Ausarbeitung Der Krieg als geistige Leistung betont Lilje, „daß der Krieg dem Werden einer neuen geschichtlichen Ordnung" diene (5). Er sei weder eine Katastrophe noch das „schöpferische Prinzip der Geschichte", sondern „die zusammengeballteste Form, unter der ein Volk seinem geschichtlichen Schicksal begegnet" (6 f). Der „Gegner" kommt bei Lilje jedoch nicht in den Blick; Krieg ist ausschließlich eine Infragestellung der eigenen Existenz, und so wird der Tod auf dem Schlachtfeld letztlich doch heroisiert (13 f, vgl. TRE 20,30,48).
Als Lilje am 17. April 1947 zum Landesbischof gewählt wurde (vgl. T R E 14,441,10ff), waren die vordringlichsten Aufgaben der Wiederaufbau der zerstörten kirchlichen Gebäude und die Neuordnung der rechtlichen Institutionen. Liljes zentrales Anliegen aber war, das Evangelium in einer säkularen Welt zu Wort zu bringen: Neben einer intensiven Predigttätigkeit, in deren Mittelpunkt die Rechtfertigung des Gottlosen stand, richtete er in seiner Landeskirche Evangelische Wochen ein, bei denen jeweils in einem Kirchenbezirk das Gespräch mit der bürgerlichen Gemeinde gesucht wurde und mit einem volksmissionarischen Programm Menschen angesprochen werden sollten, die der Kirche fern standen. Lilje unterstützte und förderte die Arbeit der neugegründeten Akademie Herrmannsburg (-»Akademien, Kirchliche), in der er „ein Dokument für den Willen der Kirche [sah], das neue Verhältnis von Kirche und Welt zu begreifen und zu gestalten" und „den wechselnden Fragestellungen der geistigen Umwelt . . . auf der Spur zu bleiben" (Protokolle 28 f). Akademietagungen hatten seiner Ansicht nach die Aufgabe, vorübergehend aus der Bahn geworfenen Menschen einen Raum zum Austausch zu bieten, und waren ebenso auf Elitebildung ausgerichtet, sollten einen Mittlerdienst übernehmen und diejenigen zusammenführen, „die bis dahin als Gegner oder unversöhnliche Feinde galten" (Lilje, Memorabilia 181). Für den Bereich der EKD wurde neben seiner Mitarbeit bei den -»Kirchentagen die Gründung und langjährige Herausgabe der Wochenzeitschrift Sonntagsblatt wichtig. In der Überzeugung, daß das „Zeugnis der Christenheit... seinem Wesen nach öffentlich" und der „Acker der Kirche . . . die Welt" sei, sah Lilje in der christlichen -»Publizistik, die sich der kritischen Selbstprüfung und
Lilje
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Präzision verpflichtet weiß, einen „Teil der Verkündigung" (SBI vom 13.5.1956,24). Das Eingebundensein der Kirche in die sich nach 1945 entwickelnden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse fand auch Ausdruck in dem während der Ägide Liljes geschlossenen Loccumer Vertrag (19. März 1955) zwischen dem Land Niedersachsen und den in diesem Land liegenden protestantischen Kirchen; in diesem Vertrag wurde der Versuch unternommen, die Beziehungen von -»Kirche und Staat für die Gegenwart neu zu formulieren. Über diese Tätigkeiten hinaus zeichnete Lilje ein reiches literarisches Schaffen und ein umfangreiches ökumenisches Engagement aus. Reisen führten ihn in viele Länder der Welt und ermöglichten - neben Gesprächen mit Staatsmännern - Begegnungen mit Christen unterschiedlichster Traditionen. Für Lilje gehörte „zur biblischen W a h r h e i t . . . , in lebendiger, ständig erneuerter Begegnung für das Zeugnis der Brüder offen zu sein" (Lilje, Welt 97); für ihn waren die „Vertreter der farbigen W e l t . . . selbstverständliche und voll berechtigte Mitglieder" der „weltumspannende(n) Gemeinschaft der Weltchristenh e i t " (94). Lilje war ein Landesbischof mit Sinn für Repräsentation und Würde, und zugleich zeichnete ihn Offenheit für die Fragen der Zeit und ökumenische Weite aus. Der Weg zur Einheit der Christen war für ihn der Weg zum Zentrum, zu Jesus Christus; und dieser Christus umfaßt den ganzen Menschen, eröffnet „die Möglichkeit des Lebens aus einer neuen Dimension heraus" (Lilje, Anweisung 27). Werke Anweisung zum Leben. Eine Einf. in die Bergpredigt, Hamburg 1957. - Atheismus, Humanismus, Christentum. Der Kampf um das Menschenbild unserer Zeit, Hamburg 1962. - Bekenntnis u. Bekennen, 1935 (BeKi 52). - Christus im dt. Schicksal, Berlin 1933. - Im finstern Tal, Nürnberg 1947, Hannover 1985. - Gloria Deo in desertis. Predigten zu bes. Anlässen, Göttingen 1968. - Ursula Gröger, Bibliogr. Hanns Lilje, 1979 (JGNKG.B 77). - Das letzte Buch der Bibel. Eine Einf. in die Offenbarung Johannes, Berlin 1940 '1961. - Martin Luther, eine Bildmonographie, Hamburg 1964. -Martin Luther in Selbstzcugnissen u. Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1965 = 1983 (rororo monographien 98). - Luthers Geschichtsanschauung 1932 (FurSt 2). - Memorabilia. Schwerpunkte eines Lebens, Stein/Nürnberg 1973. - Das technische Zeitalter. Versuch einer bibl. Deutung, Berlin 1929. - Theol. Existenz u. kirchl. Handeln: JK 1 (1933) 137-147. - Welt unter Gott. Rechenschaft einer Reise, Nürnberg 1956. Literatur Theodor Bachmann, Hanns Lilje. 20. August 1899-6. Januar 1977: LR 27 (1977) 101 f. - Hans Bolewski, Hanns Lilje. Kairos u. Kirche: ökumen. Profile. Brückenbauer der einen Kirche, hg. v. Günter Gloede, Stuttgart, II 1963, 245 - 255. - Gott ist am Werk. FS Landesbischof D. Hanns Lilje zum sechzigsten Geburtstag am 20. August 1959, hg. v. Heinz Brunotte/Erich Ruppel, Hamburg 1959. - Hans Hoyer, Der Mann der ersten Stunde: DASB1 v. 25.7.1971, 11. - JK 1 ff (1933 ff). - KJ 1933-1944, hg. v. Joachim Beckmann, Gütersloh "1976. - Eberhard Klügel, Die luth. Landeskirche Hannovers u. ihr Bischof 1933-1945, Berlin/Hamburg 1964. - Siegfried v. Kortzfleisch, In der Epoche nach Lilje: LM 16 (1977) 67 f. - Karl Kupisch, Studenten entdecken die Bibel. Die Gesch. der Dt. Christi. Studenten-Vereinigung (DCSV), Hamburg 1964. - Eduard Lohse, Der Hirte u. Prediger. Im Kraftfeld zw. Kanzel u. Kloster: DASB1 v. 16.1.1977, 3. - Ders., Art. Hanns Lilje: NDB 14 (1985) 562 f. - Eberhard Maseberg, Zum Tode v. Hanns Lilje. Eine Zeitung nimmt Abschied: DASBI v. 16.1.1977, 1. - Geiko Müller-Fahrenholz, Der ökumeniker. Nur eine Konfession war ihm zu eng: DASBI v. 16.1.1977, 4. - Martin Niemöller, „Anti-Führer" gegen Hitler. Erinnerungen an den Kirchenkampf im Dritten Reich: DASBI v. 25.7.1971, 12. - Karl Alfred Odin, Erzieher des dt. Luthertums. Zum Tode v. Bischof Hanns Lilje: FAZ v. 8.1.1977, 8. - Protokolle u. Aktenstücke der 18. Landessynode, Hannover, 11972. - Paul-Werner Scheele, Der getrennte Bruder. Ein Verwandter, der uns nahestand: DASBI v. 16.1.1977,4. - Kurt Dietrich Schmidt, Die Bekenntnisse u. grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage des Jahres 1933, Göttingen J 1937. - Wolfgang Trillhaas, Gotteskind im Weltformat: EK 10 (1977) 72. - Willem A. Visser't Hooft, Aus der Provinz in die Welt. Gemeinsame ökumen. Lehrschule: DASBI v. 25.7.1971,12. - Ders., Die Welt war meine Gemeinde. Autobiogr., München/Zürich 2 1974. - Ders., Der Weggefährte. Bischof u. Bruder: DASBI v. 16.1.1977, 4. - Erwin Wilkens, Ökumene als Lebenselement: Rheinischer Merkur v. 21.8.1964, 4. - Heinz Zähmt, Der Christ u. Theologe. Schlüsselerlebnis im Hotel u. auf der Düne: DASBI v. 16.1.1977, 3. - Ders., Hanns Lilje - eine Lobrede: DASBI v. 25.7.1971, 1 f. Siegfried Hermle
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Lippe
Linguistik -»Sprache/Sprachwissenschaft, -»Wortforschung Linkshegelianer -»Hegel/Hegelianismus Lippe 1. Anfänge
1.
2. Reformation
3. 17. J a h r h u n d e r t
4. 1 8 . - 2 0 . Jahrhundert
( L i t e r a t u r S . 210)
Anfänge
Die Edelherren zur Lippe erscheinen erstmals im Jahr 1123 in den Quellen. Der Stammsitz lag am oberen Lippefluß bei Lipperode. Aus Streubesitz kristallisierte sich dann ihr künftiges Herrschaftsgebiet zwischen Teutoburger Wald und Weser heraus. Als Simon V. sich 1528 den Grafentitel beilegte, hatte sein Land etwa den heutigen Umfang. Seit 1789 führten die Lipper den Fürstentitel. Kirchlich gehörte die Grafschaft am Vorabend der -»Reformation zum Bistum Paderborn, nur die sechs Gemeinden im Nordosten unterstanden dem Bischof von Minden. Viele Klöster herbergte L e m g o : ein Franziskaner- und ein D o m i n i k a n e r i n n e n k l o s t e r , dazu ein Süsternhaus der W i n d s h e i m e r Augustinerinnen. Weitere Süsternhäuser g a b es in D e t m o l d und Lippstadt. Dazu kam in Blomberg ein Kloster der W i n d s h e i m e r Augustinerchorherren, in Falkenhagen der Kreuzherren, in Lippstadt der Augustinereremiten und der Augustinerinnen. Schließlich bestand in Cappel ein Prämonstratenserinnenstift. Hinzu kamen Bruderschaften, Klausen, Wallfahrtsorte und wundertätige Gnadenbilder, Zeichen mittelalterlicher F r ö m m i g k e i t .
2.
Reformation
Die Reformation begann in Lemgo, wo sie als Bürgerbewegung auftrat und den Rat eroberte. Im Jahr 1532 wurden dort zwei Evangelische zu Bürgermeistern gewählt. Nach der Einführung der evangelischen Predigt wurde der Gottesdienst vom Meßopfer usw. gereinigt und 1533 die Braunschweiger Kirchenordnung (-»Braunschweig; -»Kirchenordnungen) eingeführt. Die Stadt war damit evangelisch. Da das Franziskanerkloster vor den Toren der Stadt lag, blieb der katholische Gottesdienst dort zunächst erhalten. Erst 1560 verließen die Mönche das Kloster. Evangelische Bewegungen entstanden auch in Blomberg und Salzuflen. Die Wende für das Land kam erst, als Graf Simon V. 1536 starb. Da sein Sohn Bernhard noch unmündig war, konnte der evangelische Landgraf von Hessen als Vormund die Reformation einführen. Auf dem Landtag zu Cappel 1538 fiel die Entscheidung. Adrian Buxschut aus Hoya überwachte 1538 die Einführung der Reformation; er und Johann Timann erstellten im gleichen Jahr eine Kirchenordnung. Sie erhielt 1539 die Approbation der Wittenberger Reformatoren. -»Melanchthon hat sie eigenhändig korrigiert. Lemgo übernahm diese Kirchenordnung nicht; es betonte seine eigene Kirchenhoheit. Drei Jahre später führte Antonius -»Corvinus eine allgemeine -»Visitation durch. Sie ergab, daß evangelischer Glaube und reformatorische Frömmigkeit noch kaum durchgedrungen waren. Einen Rückschlag brachte das Augsburger -»Interim 1548. Die nun durchgeführte katholische Visitation war der energische Versuch einer Rekatholisierung durch den Bischof von Paderborn. Auch sie blieb erfolglos, obwohl die standhaften evangelischen Pfarrer durch katholische ersetzt wurden. Erst der -> Augsburger Religionsfriede 1555 brachte die Rückkehr zum lutherischen Bekenntnis. Auf der Synode zu Brake 1556 wurde eine Visitationskommission eingesetzt; ihr gehörte der Theologe und Geschichtsschreiber Hermann Hamelmann an. Den Fortschritt der Reformation hemmte aber, wie schon nach 1538, der Umstand, daß bei den Visitationen keine evangelischen Pfarrer eingesetzt werden konnten. Da der größte Teil der Gemeinden der Jurisdiktion des Paderborner Bischofs unterstand und dessen Pfarrbesetzungsrechte nicht bestritten wurden, blieben die altgläubigen Pfarrer im Amt und hinderten den Fortgang der Reformation. Im Jahre 1558 kam es zu einem
Lippe
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„rechtsgeschichtlich wohl einmaligen Kompromiß" (A. Schröer 182). Damit sein Bruder das Paderborner Lehen Pyrmont erhielt, erkannte Bernhard VIII. die Kollationsrechte (Übertragung der Kirchenpfründe), das Recht der Abgaben der Priester an die (katholischen) kirchlichen Vorgesetzten (contributiones) und sogar das Jurisdiktionsrecht des Paderborner Bischofs in Lippe an. Damit hatte der Graf praktisch das Reformationsrecht aus der Hand gegeben, das ihm nach dem Augsburger Religionsfrieden zustand. Nach Bernhards VIII. Tod 1563 wurde im Vertrag zu Lippspringe 1568 das Abkommen für den unmündigen Graf Simon VI. erneuert. Die lippische Kirchenordnung von 1571, von dem Generalsuperintendenten Johann von Exter verfaßt und von Jakob -»Andreae revidiert, vermochte in dieser Lage auch keine grundlegende Änderung zu bringen, auch wenn in ihr ein Konsistorium zur Durchführung der Kirchenordnung eingesetzt wird. Als Lehrautorität sind genannt die Heilige Schrift, die Augsburger Konfession, die Apologie (-»•Augsburger Bekenntnis, Confutatio und Apologie) und die -»Schmalkaldischen Artikel. Lemgo nahm die Ordnung nicht an. Sie ist die heute noch güllige Ordnung für die lutherischen Gemeinden in Lippe. Ein Fortschritt war, daß jetzt alle Klöster der Grafschaft in den Besitz des Landes übergingen. Die Frauenklöster in Cappel, Lippstadt und L e m g o wurden in evangelische D a m e n s t i f t e verwandelt. Die Klöster leerten sich — soweit dies nicht vorher schon geschehen w a r - unter anderem deshalb, weil ein Aufnahmeverbot neuer Mitglieder bestand. N u r F a l k e n h a g e n , dessen Klosterbesitz zwischen Lippe und dem Paderborner B i s c h o f geteilt wurde, k a m durch diesen und einen zum katholischen Glauben übergetretenen Sohn des Grafen Simon V I . in den Besitz des Jesuitenordens. Als der O r d e n 1773 aufgehoben wurde, fiel das Kloster an das L a n d zurück, das aber zu Leistungen an die inzwischen entstandene katholische G e m e i n d e Falkenhagen verpflichtet wurde.
Graf Simon VI. war von dem Melanchthonschüler Christoph von Donop als Hofmeister und dem Philippisten (wahrscheinlich auch -»Kryptocalvinisten) Thodenus als Lehrer erzogen und von Johann von Exter in der Religion unterrichtet worden. Im Winter 1567/68 weilte er mit Christoph von Donop in Straßburg, wo allerdings nur noch Johann -•Sturm, der berühmte Leiter des Gymnasiums, das reformierte Bekenntnis vertrat; die Stadt war lutherisch geworden. Am Wolfenbütteler Hof lernte er 1569—1572 das orthodoxe Luthertum (-»Orthodoxie, Lutherische) kennen, in Kassel 1572-1573 ein melanchthonisches Reformiertentum; bemerkenswert sind seine Beziehungen zu reformierten Persönlichkeiten. Seine Neigung zum Reformiertentum wuchs, nachdem er 1579 die Regierung übernahm. Am Hof nahm die Zahl der reformierten Beamten und Theologen zu. Christoph von Donop wurde 1583 sein Rat, 1593 zugleich Präsident des Hofgerichts. Im gleichen Jahr kehrte Thodenus von seiner Wittenberger Professur nach Lippe zurück. 3. 17.
Jahrhundert
Im Jahre 1600 erließ der Graf eine Kirchenvisitations- und Konsistorialordnung (-»Konsistorium; -»Kirchenordnungen). Der Name des Katechismus, der bei der Visitation verwandt werden soll, bleibt ungenannt. Aus den Visitationsakten seit 1602 geht hervor, daß der Katechismus des Melchior Anger von 1593 gemeint ist, der in Heidelberg gedruckt und eine Bearbeitung des -»Heidelberger Katechismus in orthodoxem Sinn ist. Erst im Jahre 1618 wurde der ursprüngliche Text des Heidelberger Katechismus in Lippe eingeführt. Der Graf wollte sichtlich den Konfessionswechsel durchführen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Darauf weist auch hin, daß die lutherische Kirchenordnung von 1571 nicht aufgehoben wurde. Der Gottesdienst wurde nach und nach in den Gemeinden im reformierten Sinne geändert. Im Jahre 1605 nahm der Graf mit seiner Familie und Beamtenschaft in Detmold das Abendmahl nach reformiertem Ritus. Dies galt als öffentliches Bekenntnis. Der Umstand, daß der Konfessionswechsel in Lippe mit einer Visitations- und Konsistorialordnung begann, bedeutet, daß einer der Beweggründe für den Grafen die Wiedererringung des landesherrlichen -»Kirchenregiments war. Die klare Abgrenzung gegen-
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Lippe
über dem Katholizismus im Reformiertentum half, die Ansprüche des Bischofs von Paderborn zurückzuweisen. Nur die Stadt Lemgo widersetzte sich der Einführung des reformierten Bekenntnisses. Neben religiösen Gründen spielten politische Selbständigkeitsbestrebungen eine Rolle. Der zäh geführte Kampf endete mit dem Röhrentruper Rezeß 1617, der Lemgo das lutherische Bekenntnis und kirchliche Eigenständigkeit zugestand. Daß die Stadt auch das jus gladii erhielt, hat sich in den Lemgoer Hexenprozessen unheilvoll ausgewirkt. Im Jahre 1666 wurde sogar einer der Pfarrer als Hexenmeister auf dem Markt enthauptet.
Erst spät wurde eine Kirchenordnung für die reformierten Gemeinden erlassen. Im Jahre 1646 wurde als Agende die kurpfälzische Kirchenordnung von 1563 offiziell eingeführt. Im Jahr 1684 erschien die Christliche Kirchenordnung der Grafschaft Lippe, vom Generalsuperintendenten Jakob Zeller verfaßt. Sie ist eine Kirchenverfassung, die die Aufgaben der Prediger ( 2 - 1 0 , 1 4 - 1 8 ) , der Presbyter (11-12), Kirchendechen (19-20), Küster (21) und Organisten (22) ordnet; Gottesdienst und Sonntagsheiligung (23) sowie Lebensführung der Prediger und Gemeindeglieder (24) folgen. Den Abschluß bilden Predigerkonvent (25) und Superintendentenamt (26). Zwei Jahre später erschien die erste lippische reformierte Agende. Den Lutheranern wurden 1684 ihre Sonderrechte garantiert. In Lemgo bildeten die lutherischen Pfarrer das Geistliche Ministerium, doch lagen die kirchlichen Hoheitsrechte beim Rat. Es gab auch eine reformierte Gemeinde in der Stadt. Als der Rat die alte Anordnung, daß die lutherische Religion im Bürgereid festgelegt und Reformierte zu keinem öffentlichen Amt und keiner Gilde zugelassen seien, weiterhin praktizieren wollte, griff der Landesherr 1694 mit Waffengewalt ein. Doch wurde erst bei der Ratswahl 1705 ein Reformierter einer der Bürgermeister. Die selbstbewußte, wehrhafte Stadt hatte im -»Dreißigjährigen Krieg schwer gelitten, wie auch das ganze Land, dem keine Not dieser Zeit erspart blieb. Im Jahre 1675 waren die Truppen des Münsterischen Bischofs Bernhard von Galen ins Land eingefallen und hatten es schwer verwüstet. Die Kirchenordnung von 1684 ist in pietistischer Frömmigkeit (-• Pietismus) verfaßt. Sonst hat der Pietismus nur allgemeine Spuren im Lande hinterlassen. Friedrich Adolph Lampe wurde 1683 in Detmold als Pastorensohn und Enkel Zellers geboren. Er wirkte als Pfarrer in Bremen und verfaßte dort zahlreiche pietistische Schriften. In Biesterfeld entstand ein Zentrum des radikalen Pietismus, als Graf Ferdinand und seine Schwestern -•Hochmann von Hohenau aufnahmen. Dieser wurde in Detmold gefangen gesetzt und verhört. 4. 18.-20.
Jahrhundert
Die Reiseprediger der Herrnhuter Brüdergemeine (-»Brüderunität/Brüdergemeine) haben von 1748 bis 1850 das Land besucht und dem -»Rationalismus entgegengewirkt. -•Aufklärung und Rationalismus strömten indessen kräftig ins Land ein, gefördert von Graf Simon August (1747-1782), Gräfin Casimire (1769-1778) und der Fürstin Pauline (1796-1820). Ihr Dringen auf Pflichterfüllung im Beruf, die Förderung der Landwirtschaft, die Aufgeschlossenheit gegenüber Erfindungen und Fortschritt, die Philanthropie und vieles mehr wirkten sich zum Wohl des Landes aus. Doch bedeuteten ihre Auflösung der Heilslehren und das ständige Dringen auf Tugend und Moral eine Verflachung und Verarmung des religiösen Lebens. Da zu dieser Zeit der fürstliche Absolutismus seinen Höhepunkt erreichte, gebrauchte der Staat die Kirche für seine pädagogischen Ziele. Der kirchliche Widerspruch blieb im 18. Jh. aus. Die Generalsuperintendenten führten ein aufgeklärtes Kirchenregiment. Ferdinand Stosch (1771-1780) fügte dem alten Gesangbuch 1772 einen „Anhang" mit aufklärerischen Liedern an. Seine Schriften wollten das Schulwesen verbessern. Sein Nachfolger Johann Ludwig Ewald (1781-1796), lange ein Freund Goethes, suchte in seiner Schrift Über die Kantische
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Philosophie (-»Kant/Kantianismus/Neukantianismus; -»Königsberg) 1790 die Gedankenwelt des Königsberger Philosophen den Gebildeten nahezubringen. Auch sein Hauptaugenmerk galt der Schule. Sein Biblisches Lesebuch wurde noch bis 1837 in den Schulen gebraucht. Seine Schrift aus der Revolutionszeit, Was sollte der Adel jetzt tun? (1793), führte zu seiner Entlassung. Nachfolger wurde Ludwig Friedrich August von Cölln (1796-1804), der aufklärerisches und pietistisches Gedankengut zu verbinden suchte. Den Heidelberger Katechismus ersetzte er durch sein Christliches Lehrbuch für Bürger- und Land-Schulen (1802). Er war ein beliebter Kanzelredner. Auf ihn folgte Ferdinand Weerth (1805-1836), der 1811 das Lehrbuch seines Vorgängers gegen seinen „Leitfaden" austauschte, der mit den Worten beginnt: „Wenn der Mensch anfängt, vernünftig über die Welt und sich nachzudenken, so will er gern wissen, wer alles geschaffen habe". Sein Gesangbuch (1828) und die Agende (1838) waren Ausdruck rationalistischer Frömmigkeit. Diese führte gleichwohl zu Beginn des 19. Jh. zu einem blühenden -»Vereinswesen. Die neugegründeten Vereine widmeten sich der Bibelverbreitung, dem Gefängniswesen, der -»Mission, speziell der -»Judenmission u. a. Aus dem Ravensberger Gebiet drang die -»Erweckungsbewegung nach Lippe ein. In Wüsten bei Salzuflen bereitete der Pfarrer F.K. Krüger ( 1 8 0 7 - 1 8 2 6 ) sie vor; seit 1830 erfaßte sie breite Kreise. Der „Vater des christlichen Lebens in Lippe" wurde der Bauer J . B. Jobstharde aus Wüsten. Da der Nachfolger Krügers dem Rationalismus zuneigte, besuchten er und Gleichgesinnte sonntags die Gottesdienste Volkenings in Schnathorst, später in Gütersloh, oder die Pfarrer Krügers in Langenholzhausen. Daraus entwickelten sich Erbauungsstunden auf Jobsthardes Hof. In Lemgo hielten sich die Erweckten an Pfarrer Clemen, der aber 1847 starb. Da es in Lemgo keinen gleichgesinnten Pfarrer gab, entstand 1849 die freie Neue Evangelische Gemeinde, die Pastor E. Steffann bis 1854 leitete. Die Lemgoer Gemeinde wurde 1858 aufgelöst, aber aus der Filiale entstand 1874 die lutherische Gemeinde Bergkirchen. Jobstharde schloß sich ihr an, war auch Kirchenältester, verließ sie aber wegen der konfessionellen Enge und weil die Verhältnisse in der Landeskirche sich gebessert hatten. Wie in den meisten Nachbarkirchen sollte auch in Lippe der rationalistische Katechismus 1840 abgeschafft werden. Der Katechismusstreit 1843 ff, den fünf Pfarrer für die Wiedereinführung des Heidelberger Katechismus führten, richtete sich auch gegen die Ubergriffe des Konsistoriums. Unter Generalsuperintendent Althaus wurde der Heidelberger Katechismus 1858 wieder zugelassen. Erst 1863 wurde das rationalistische Gesangbuch und erst 1908 die alte Agende ersetzt. Im Gefolge der Revolution 1848 wurde die katholische Kirche 1854 mit der evangelischen Landeskirche gesetzlich gleichgestellt und die lutherischen Gemeinden in Lemgo dem Konsistorium unterstellt, das einen lutherischen Konsistorialrat erhielt. Die Parochialrechte wurden 1857 so geordnet, daß zuziehende Evangelische sich konfessionell zu entscheiden hatten. Anderenfalls wurden sie der reformierten Gemeinde, in Lemgo der lutherischen zugezählt. Diese Regelung ist geblieben. Erst 1877 wurde, im Gefolge der preußischen Reformen, eine Landessynode eingerichtet. Die lutherischen Gemeinden bildeten nun eine eigene Klasse. Der Fürst besaß das Recht, die Landessynode zusammenzurufen und sie durch seinen Kommissar zu beenden. Als mit der Novemberrevolution 1918 die kirchlichen Hoheitsrechte des Fürsten erloschen, trat an seine Stelle der Landeskirchenrat. Der Generalsuperintendent D. Weßel war aber nicht bereit, nun der Synode die Entscheidungsgewalt zuzugestehen. Vielmehr sollte dem Landeskirchenrat, bestehend aus drei Vertretern des Konsistoriums und drei der Synode, ein Vetorecht gegen die Synode zustehen. Im Landeskirchenrat aber sollte die Stimme des Generalsuperintendenten bei Stimmengleichheit den Ausschlag geben. Damit wäre an die Stelle der synodalen Kirchengewalt die konsistoriale getreten. Der Streit um ein viertes synodales Mitglied im Landeskirchenrat und um dessen Vetorecht zog sich viele Jahre hin. Erst als 1930 Weßel zurücktrat, konnte 1931 eine zeitgemäße „Verfassung der Lippischen Landeskirche" in Geltung treten. Im Blick auf die früheren konfessionellen Auseinandersetzungen sei erwähnt, daß über die speziellen reformierten Angelegenheiten (Gottesdienst usw.) nur die reformierten Synodalen, umgekehrt über die lutherischen der lutherische Klassentag entscheiden konnte.
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Lippe
Die Armut der Landeskirche nach 1930 stellte die lippische Kirche vor eine Zerreißprobe. Es wurde ernstlich der finanzielle Zusammenbruch befürchtet; die lutherischen Gemeinden fühlten sich zudem benachteiligt. Sie suchten den Anschluß an die lutherische Kirche Niedersachsens, den ihnen die Synode 1933 abschlug. Als im gleichen Jahr die „Reichskirche" entstand, hieß es, die kleinen Kirchen sollten ihre Selbständigkeit verlieren. Einigungsvereinbarungen mit der reformierten Kirche der Provinz Hannover hatten 1933 ebensowenig Bestand, wie die 1934 mit der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union. Die letzteren hätten den Anschluß an eine Kirche bedeutet, die von den -•Deutschen Christen regiert wurde. Die Mitglieder der Bekennenden Kirche (-»Nationalsozialismus und Kirchen) verhinderten diesen Schritt. Da aber die 1933 gewählten Mitglieder des Landeskirchenrats sich nach der Sportpalastkundgebung von den Deutschen Christen abwandten, blieb die lippische Kirche eine „intakte" Kirche. Es gab innerkirchliche Auseinandersetzungen, aber keinen Kirchenkampf. Als die Polizei alle Einrichtungen der Bekennenden Kirche verbot und ihre Prüfungen im Rheinland fast unmöglich wurden, half die lippische Prüfungskommission aus. Auch wurden einige verfolgte Pfarrer aufgenommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand die Landeskirche in der alten Form weiter, wenngleich viele neue Aufgaben bewältigt werden mußten (Eingliederung der Flüchtlinge usw.). Der Sitz des Landeskirchenamtes ist Detmold. Gegenwärtig hat die Lippische Landeskirche knapp 240000 Gemeindeglieder in 58 reformierten und 11 lutherischen Kirchengemeinden. Die Zahl der Pfarrer beträgt 132. Es gibt 13 katholische Gemeinden mit 49000 Gliedern. Literatur Wilhelm Butterweck, Die Gesch. der Lippischen Landeskirche, Schötmar 1926. - H a n s Kiewning, Lippische Gesch., hg. v. Adolf Gregorius, Detmold 1942 (Sonderveröff. des Naturwiss. Vereins f ü r das Land Lippe 7). - Wolfgang Leesch, Die Pfarrorganisation der Diözese Paderborn am Ausgang des M A : Heinz Stoob (Hg.), Ostwestfälisch-weserländische Forschungen zur gesch. Landeskunde, Münster 1970 (Veröff. des Provinzialinstituts f. Westfalen, Landes- u. Volkskunde, Reihe I, H . 15), 3 0 4 - 3 7 6 . - Gustav Meyer, Jobstharde. Der Vater des christl. Lebens im Lipperlande, hg. v. Wilhelm Neuser, Wuppertal-Elberfeld 1956. - Wilhelm Neuser, Die lippische Landeskirche, Sonderdr. aus dem Dt. Pfarrerblatt 1953 (Lit.). - Ders., Art. Lippische Landeskirche: EKL 2 2 (1962) 1121-1122. - D e r s . / A d o l f Neuser, Art. Lippe: R G G J 4 (1960) 3 8 3 - 3 8 5 . - W i l h e l m Heinrich Neuser, Die Einf. des HeidKat in Lippe im J a h r e 1602 u. der Kampf um seine Beibehaltung im 19. Jh.: J V W K G 74 (1981) 5 7 - 7 8 . - Klaus Pönnighaus, Kirchl. Vereine zw. Rationalismus u. Erweckung. Ihr Wirken u. ihre Bedeutung vornehmlich am Beispiel des Fürstentums Lippe darg., 1982 (EHS.T 182). - Augustinus Reineke, Kath. Kirche in Lippe 1 7 8 3 - 1 9 8 3 , Paderborn 1983. - Heinz Schilling, Konfessionskonflikt u. Staatsbildung. Eine Fallstud. über das Verhältnis v. rcl. u. sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der G r a f s c h a f t Lippe, Gütersloh 1981. - Alois Schröer, Die G r a f s c h a f t Lippe: Die Reformation in Westfalen. Der G l a u b e n s k a m p f einer Landschaft, M ü n s t e r , 1 1 9 7 9 , 1 5 7 - 1 8 4 . 4 6 6 - 4 7 1 . - Volker W e h r m a n n , Die A u f k l ä r u n g in Lippe. Ihre Bedeutung f. Politik, Schule u. Geistesleben, Detmold 1972 (Lippische Stud. 2). - Ders. (Hg.), Die Lippische Landeskirche 1684-1984, Detmold 1984.
Wilhelm Heinrich Neuser Lipsius, Justus
—»Stoa/Stoizismus
Litanei -»Gebet, -»Liturgie Litauen -»Baltikum
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Literarkritik I Literarkritik I. Altes Testament II. Neues Testament
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I. Altes Testament 1. Aufgabe und Geschichte 1. Aufgabe
und
2. Hauptprobleme der Gegenwart
(Literatur S. 220)
Geschichte
Die Literarkritik untersucht die Schriften des Alten Testaments nach Entstehungszeit und Verfasser. Doppelungen sowie formale und inhaltliche Spannungen weisen darauf hin, d a ß diese Schriften erst allmählich ihren jetzigen U m f a n g erreicht haben. Deshalb hat die Literarkritik die zugrunde liegenden schriftlichen Werke herauszuarbeiten, die Ergänzungen zu differenzieren, gegebenenfalls die redaktionelle Verbindung einzelner Werke zu untersuchen und die verschiedenen Stufen der literarischen Überlieferung zu datieren. Im Unterschied zu dieser Definition wird gegenwärtig meist zwischen Literarkritik und Redaktionsgeschichte (—»Redaktionskritik/Redaktionsgeschichte) unterschieden. So untersucht z. B. nach Barth/Steck die Literarkritik analytisch die literarische Integrität eines Textes und seinen größeren schriftlichen Z u s a m m e n h a n g (§4), die Redaktionsgeschichte aber synthetisch die Geschichte seiner schriftlichen Überlieferung ab der ersten Verschriftung (§ 6). Noch enger bestimmt Richter die Literarkritik. Ihr Gegenstand sei die Abgrenzung eines Textes, die Untersuchung seiner Einheitlichkeit, aus der sich gegebenenfalls die Differenzierung in verschiedene „kleine Einheiten" ergebe, und die Prüfung, in welchem diachronen Verhältnis diese Einheiten zueinander stehen (50-72). Dagegen seien die Z u o r d n u n g zu größeren Z u s a m m e n h ä n g e n und eine Datierung in der Literarkritik nicht möglich. Diese Auffassung ist häufig ü b e r n o m m e n worden (z.B. Fohrer u.a., Exegese, 45 ff). Sie bildet die Basis f ü r zahlreiche Einzeluntersuchungen (vgl. den Überblick bei Preuß 15ff). Eine Trennung von Literarkritik und Redaktionsgeschichte ist aber schon forschungsgeschichtlich problematisch. Im 19. Jh. lag der Schwerpunkt zwar auf der Herausarbeitung der ursprünglichen schriftlichen Werke. Aber die A n n a h m e der redaktionellen Verbindung solcher Werke im Pentateuch, die These einer deuteronomistischen Bearbeitung von Jos — II Reg und die Erkenntnis, d a ß die prophetischen Sammlungen erheblich erweitert wurden, ließen die alttestamentliche Forschung wenigstens in Ansätzen auch den U m f a n g und die zeitliche Ansetzung der Redaktionen bedenken. Z u d e m läßt sich sachlich nur schwer zwischen Literarkritik und Redaktionsgeschichte differenzieren, da die Synthese die notwendige Gegenprobe f ü r die Analyse bildet. Im Regelfall kann ein Text nur auf verschiedene literarische Schichten aufgeteilt werden, wenn es gelingt, einen sinnvollen Weg zu seiner Endgestalt aufzuzeigen. „Weiterhin haben sich die Ergebnisse der Literarkritik nur dann auf die Dauer als überzeugend erwiesen, wenn sie zugleich ein einleuchtendes Bild von der Entstehung des uns jeweils im Endergebnis vorliegenden alttestamentlichen Textes vermitteln" (Bernhardt 486). Gegen Barth/Steck ergeben sich die ursprünglichen oder redaktionellen größeren Z u s a m m e n h ä n g e erst aus der Synthese. Deshalb läßt sich beides nicht trennen. Diese Kritik gilt erst recht f ü r den Entwurf von Richter. Hier kann in der Literarkritik nicht mehr geprüft werden, o b das Ergebnis der Analyse historisch überhaupt d e n k b a r ist (so mit Recht Barth/Steck 32 Anm. 25). Außerd e m kann gegen Richter die Analyse nicht völlig auf die Berücksichtigung inhaltlicher Gesichtspunkte u n d größerer literarischer Z u s a m m e n h ä n g e verzichten (vgl. Koch, T h L Z 98,809 f). Deshalb sind m. E. Analyse und Synthese Gegenstand der Literarkritik (ähnlich W . H . Schmidt: B Z 32, 2f). Auch wenn Verfasserfragen schon f r ü h e r erörtert w u r d e n , gibt es eine methodische Literarkritik erst seit dem 18. Jh. (-»BibelWissenschaft 1/2; Einleitungswissenschaft 1/3). Der Schwerpunkt lag zunächst auf dem Pentateuch. Aber zunehmend wurden auch
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andere Bücher auf Einheitlichkeit und Verfasser untersucht. So erkannte schon 1775 Döderlein, daß Jes 4 0 - 6 6 von Jes 1 - 3 9 abzutrennen ist. Ihre Blütezeit hatte die Literarkritik etwa zwischen 1850 und 1920. Mit der Hexateuch-Synopse von Eißfeldt (1922) endete diese Epoche. Auch in ihr lag der Schwerpunkt auf den literarischen Problemen des Pentateuch. Vor allem -•Wellhausen verhalf der neueren Urkundenhypothese, nach der (abgesehen von Dtn und Zusätzen) mit den drei Quellenschriften des —»Jahwisten, des —»Elohisten und der —•Priesterschrift zu rechnen ist, durch den Aufweis, daß P das jüngste Werk ist, zu breiter Anerkennung. In anderen Bereichen wurden ebenfalls wichtige Ergebnisse erzielt. Dazu gehören z. B. die Abtrennung von Jes 5 6 - 6 6 und die Ausgrenzung der Gottesknechtslieder (Jes 42,1-4; 49,1-6; 50,4-9; 52,13-53,12) durch -»Duhm (1892). Nach 1920 verlor die Literarkritik ihre dominierende Stellung an die Gattungsforschung (-• Formgeschichte/Formenkritik I) und die eng mit ihr verbundene Analyse der mündlichen Überlieferung (-»Traditionskritik), für die -»Gunkel die methodischen Grundlagen entwickelt hatte. Für ihn blieb aber die neuere Urkundenhypothese der Ausgangspunkt seiner überlieferungsgeschichtlichen Untersuchungen. Das wird ihm gegenwärtig verschiedentlich als methodische Inkonsequenz angelastet. Er hätte z. B. nach Rendtorff (Problem 12 ff) von seinem methodischen Ansatz her den Weg von den einzelnen Uberlieferungen bis zur literarischen Endgestalt aufzeigen müssen, ohne eine Urkundenhypothese vorauszusetzen. Aber da die Uberlieferungen nur in ihrer Endgestalt vorliegen, müssen im Regelfall zunächst die literarischen Vorstufen ermittelt werden (vgl. Noth, Pentateuch 4f). Für Gunkel hob sich P als Werk eines Schriftstellers deutlich von dem übrigen Material ab, das er weithin auf mündliche Überlieferungen zurückführte. Er hielt aber an J und E fest, weil die Dubletten und der unterschiedliche Sprachgebrauch für ihn erwiesen, daß zwei schriftliche Sammlungen redaktionell miteinander verbunden worden waren (vgl. LXXXff). Allerdings sah er in J und E nicht mehr Verfasser, sondern Erzählerschulen. Mit dieser Modifikation blieb aber für Gunkel die neuere Urkundenhypothese unverzichtbar.
Das Zurücktreten der Literarkritik nach 1920 beruhte freilich nicht nur darauf, daß sich die neue Forschungsrichtung durchsetzte. Weithin war man der Auffassung, daß die Möglichkeiten dieser Methode ausgeschöpft seien (Kittel; Greßmann). Sie schien für den Hexateuch zu einem bleibenden Ergebnis geführt zu haben, stieß aber schon für Jdc - II Reg auf Grenzen. Die Versuche, auch in Jdc und Sam J und E nachzuweisen (z. B. Budde), fanden keine allgemeine Anerkennung. Erst recht war für Prophetie und Poesie zweifelhaft geworden, ob die Literarkritik zu neuen Einsichten führen würde. Die zunehmenden literarischen Differenzierungen im Pentateuch machten die Ergebnisse fragwürdig (vgl. Staerk) und die Übertreibung zeigte sich für Greßmann (7) darin, daß „etwa neun Zehntel des AT" nachexilisch sein sollten. Deshalb stellte er fest: „ . . . in Kleinigkeiten wird man auch künftig von jeder methodischen Arbeit dieser Art gern lernen, aber neue, weittragende Aufschlüsse sind von ihr nicht mehr zu erhoffen" (8). Die literarkritische Arbeit ging allerdings weiter. Für die gegenwärtige Pentateuchdiskussion wichtig sind die Ablehnung einer Urkundenhypothese durch Volz und die Bestreitung einer elohistischen Quellenschrift durch Rudolph, der aber an J und P festhielt. Diese Arbeiten blieben zunächst ohne größere Wirkung. Einflußreicher waren die von -•Noth (Überlieferungsgeschichte) knapp begründeten Zuweisungen an J, E und P, da sie mit einem neuen Modell für die Redaktionen verbunden waren. Danach hätten die Redaktoren nicht das gesamte Material der Quellenschriften aufnehmen wollen. Der Jehowist habe vielmehr lediglich J aus E und der Endredaktor P aus dem jehowistischen Werk ergänzt. So erklärte sich für Noth der fragmentarische Charakter von E. Außerdem konnte er dadurch an der Einheitlichkeit mancher Texte festhalten, die nur auf J und E aufgeteilt worden waren, um durchlaufende Paralleldarstellungen zu gewinnen. Vor allem aber gelang Noth (Studien) der Nachweis, daß es ein selbständiges deuteronomistisches Geschichtswerk gegeben hat (-»Deuteronomium/Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule II). Nachdem er bereits in seinem Josuakom-
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mentar bestritten hatte, daß die Pentateuchquellen in Jos weiterlaufen, zeigte er nun auf, d a ß die Darstellung in Dtn - II Reg unter Verwendung älteren Materials um 550 gestaltet wurde. Die Entdeckung dieses Werks dürfte das bedeutendste literarkritische Ergebnis zwischen 1920 und 1970 sein. Die These wurde zwar gelegentlich bestritten (z.B. Fohrer 211), hat sich aber in ihrem Kern weithin durchgesetzt. Die Erkenntnis, daß die mündliche Überlieferung in Israel von erheblicher Bedeutung war, führte bei einigen skandinavischen Forschern zur Ablehnung der Literarkritik. Sie sahen in der literarischen Gestalt das Endergebnis eines langen mündlichen Traditionsprozesses. So erklärte z.B. Pedersen (1934) Ex 1 - 1 5 als eine allmählich angewachsene Legende, die beim Passah mündlich vorgetragen wurde. Birkeland (1938) wandte diesen Grundsatz auf prophetische Schriften an. Engnell hob diese sog. traditionshistorische Methode (-+Traditionskritik) scharf von der Literarkritik ab, der er ein falsches Evolutionsdenken vorwarf. Dagegen wandte sich unter den skandinavischen Forschern etwa Mowinckel (z.B. 1946; 1952), der in dieser Kritik eine falsche Alternative sah. Auch er betonte die Bedeutung der mündlichen Überlieferung, wies aber darauf hin, daß sich z. B. die unterschiedliche Darstellung in Ex 1 - 1 5 nur bei Annahme zweier Quellenschriften erklären lasse (vgl. auch Ringgren 1966). Außerhalb Skandinaviens fand die traditionshistorische Methode nur wenige Anhänger. Seit etwa 1970 hat die Literarkritik wieder erheblich an Bedeutung gewonnen. Das dürfte zum einen dadurch bedingt sein, daß die verschiedenen Hypothesen über die -»Geschichte Israels und über das Werden des Pentateuch in den letzten Jahren zunehmend kritisch überprüft werden. Z u m anderen gewinnt die Frage nach Entstehung und Wachstum der Prophetenbücher immer mehr an Gewicht. 2. Hauptprobleme
der
Gegenwart
2.1. Die Entstehung des -*Pentateuch wird gegenwärtig wieder eingehend diskutiert. Zunehmend werden Alternativen zur neueren Urkundenhypothese vertreten, in denen die älteren Modelle aus dem 18. und 19. Jh. modifiziert werden. Nachdem bereits Rudolph, Mowinckel u. a. mit der Bestreitung einer selbständigen Quellenschrift E die ältere Urkundenhypothese aufgegriffen hatten, wird diese Position gegenwärtig z.B. von Westermann, McEvenue und neuerdings Zenger vertreten. Umstritten ist, ob die „elohistischen" Texte allmähliche Erweiterungen sind (Westermann) oder von einem Bearbeiter stammen (McEvenue, Zenger). Eine Fragmentenhypothese vertritt Rendtorff. Im Pentateuch seien größere Einheiten mit gemeinsamer Thematik „Urgeschichte, Vätergeschichten, Mose und Exodus, Sinai, Aufenthalt in der Wüste, Landnahme" (Problem 27 f) vereint. In ihnen würden, wie Rendtorff an den Vätergeschichten herausarbeitet, die Einzelerzählungen durch Bearbeitungsschichten miteinander verklammert und theologisch gedeutet. Da die älteren Bearbeitungen den Horizont der jeweiligen größeren Einheit nicht überschritten, hätten sich diese zunächst unabhängig voneinander entwickelt. Erst durch eine deuteronomische Bearbeitung seien sie verbunden und später priesterlich ergänzt worden. Diesen Ansatz hat Blum für Gen 1 2 - 5 0 konkretisiert. Danach ergibt sich „das Bild eines komplexen, langandauernden Überlieferungsprozesses, der sich... von der frühen Königszeit bis in nachexilische Zeit verfolgen läßt" (461). Zwischen dem Untergang des Nordreichs und 587 sei durch die Verbindung einer judäischen Abraham-Lot-Erzählung (Gen 13; 18 f) mit einer nordisraelitischen Jakobgeschichte (Gen 25; 27-50) eine Vätergeschichte entstanden, die in exilischer Zeit erheblich erweitert und danach von einer D-Schicht „erstmals in einen übergreifenden literarischen Kontext" eingestellt wurde (462). Es gibt auch reine Ergänzungshypothesen. Nach Tengström ist eine „Israelsage" aus dem 11. Jh. (Grundbestand von Gen 11,27-Jos 24) allmählich erweitert worden. Dagegen hält Van Seters an J fest, nimmt aber nur spätere Erweiterungen an. Außerdem setzt er J wie H. H. Schmid und Rose erst exilisch an. Dessen Überlieferungen ließen sich häufig nicht mehr rekonstruieren, weil sie J transformiert und seine Darstellung teilweise auch
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frei geschaffen habe (Van Seters, Historiker 57 f). Urkunden- und Ergänzungshypothese kombiniert H.-C. Schmitt, der an P als Quellenschrift festhält. Auch er setzt die erste übergreifende Darstellung nach 587 an, weist sie aber dem Elohisten zu, für den er weithin den üblichen Zuweisungen folgt. Ein später Jahwist habe dieses Werk u. a. durch Verheißungen ergänzt. Rechnen die Vertreter dieser Hypothesen mit verschiedenen literarischen Schichten, so ist der Pentateuch nach Whybray im 6. Jh. von einem Autor verfaßt worden. Er habe sein umfangreiches Material überarbeitet und erweitert, jedoch nicht versucht, „to produce a smooth narrative free from inconsistencies, contradictions and unevenesses" (242). Auch wenn sich diese Lösungen erheblich unterscheiden, besteht die Tendenz, eine übergreifende Darstellung erst nach 587 anzusetzen. Für eine Beurteilung wichtig ist die priesterliche Schicht, die sich in Stil und Theologie deutlich abhebt. Wie etwa ihre Darstellung der Berufung des Mose in Ex 6,2 ff zeigt, in der jeder Rückverweis auf Ex 3 f fehlt, muß sie als eigene Quellenschrift verstanden werden (L. Schmidt, Pentateuch 86ff; Koch: VT 37,462ff; W. H. Schmidt: BZ 32,3 f). Es entspricht der Offenbarung des Jahwenamens (Ex 6,2f), daß P zuvor nie Jahwe gebraucht. Scheinbare Ausnahmen sind Gen 17,1; 21,1 b, da hier Elohim nachträglich durch Jahwe ersetzt wurde. In Gen 17 und 21,2-5 steht sonst durchgehend Elohim. Durch die Änderung sollte 17,1 an 18,1 und 21,1b an 21,1a angeglichen werden.
Auch in der Fluterzählung (Gen 6,5-9,17) lassen sich die Dubletten weder mit einer Ergänzungshypothese noch mit der Annahme von Whybray (89) erklären, daß ein Erzähler zusätzliche Motive aus einer anderen Tradition aufnehmen wollte. Hier sind vielmehr redaktionell zwei schriftliche Fassungen miteinander verbunden worden (vgl. Emerton). Der Einwand, daß man damit die Dubletten und Spannungen nur auf Redaktoren verschiebe (z.B. Whybray 74), übersieht, daß sie ihre Vorlagen möglichst weitgehend aufnehmen wollten und deshalb Wiederholungen und Spannungen in Kauf nahmen, die bei einem Verfasser nicht auftreten. Da P als Quellenschrift redaktionell mit einem älteren Werk verbunden wurde, ist eine Urkundenhypothese zumindest als Teilaspekt notwendig. Auch in diesem älteren Werk heben sich zwei Quellenschriften deutlich voneinander ab. Die Berufung des Mose (Ex 3,1 — 17) besteht aus zwei Fassungen, die sich durch die verschiedene Bestimmung seiner Aufgabe (Bote Jahwes und Führer des Volkes) und in den Gottesbezeichnungen unterscheiden. Beide Darstellungen haben zudem Beziehungen zu anderen Texten (L. Schmidt, Pentateuch 90ff; W.H. Schmidt: BZ 32, 6ff). Selbst die vorpriesterliche —•Josephnovelle, die weithin als einheitlich gilt, besteht aus zwei Fassungen mit unterschiedlichem Thema (L. Schmidt, Literarische Studien). Hier steht allerdings auch bei J (außer Gen 39) Elohim, da J seine Überlieferungen nicht immer an seinen Sprachgebrauch anglich (vgl. auch Gen 32,23 ff). Trotz einzelner Abweichungen sind aber Jahwe und Elohim ein wichtiges Kriterium für die Quellenscheidung. Allerdings fehlt der Eingang von E, da das erste elohistische Stück Gen 20,1b-17 keinen Anfang darstellt. Dieses Fehlen und der fragmentarische Charakter von E gehen dann auf die Redaktionen zurück. Trotz der neueren Kritik ist somit m.E. an der neueren Urkundenhypothese festzuhalten. Freilich ist der ursprüngliche Bestand von J und E erheblich erweitert worden, wie schon Wellhausen betont hat. Man wird m. E. mit wesentlich mehr Zusätzen als in der bisherigen Forschung rechnen müssen. Kaum noch vertreten wird die neueste Urkundenhypothese, die 1912 von Smend begründet und vor allem von Eißfeldt und Fohrer aufgenommen wurde. Hier wird J aufgeteilt auf Laienquelle (L) und J (Eißfeldt) bzw. nomadische Quellenschicht (N) und J (Fohrer), wobei Eißfeldt L vor J, Fohrer hingegen N nach J ansetzt. Die wesentlichen Gründe sind: Im vorpriesterlichen Bestand kommen manche Erzählungen und Motive dreimal vor (z.B. Gen 12,10ff; 20;26), einige Erzählungen ohne E seien uneinheitlich (z.B. Gen 18,1-16) und in der Urgeschichte gebe es zwei Konzeptionen (vgl. Fohrer 173 f). Diese Argumente haben sich als nicht haltbar erwiesen. Die Dubletten und Spannungen gehen auf von J aufgenommene Überlieferungen zurück oder sind durch spätere Zusätze entstanden.
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Umstritten ist, o b zwischen den Quellenschriften literarische Beziehungen bestehen. Da P gelegentlich Formulierungen aus J / E abwandelt (vgl. Smend, Entstehung 53), kannte er das jehowistische Werk nicht nur aus mündlicher Überlieferung (so z. B. W. H . Schmidt, Einführung 93), sondern benutzte es als schriftliche Vorlage. Schwieriger ist das Verhältnis von E zu J zu bestimmen, da E durch das Fehlen von Urgeschichte und ägyptischen Plagen auch im Aufriß von J abweicht. N a c h N o t h (Pentateuch 40 ff; ähnlich W. H . Schmidt: BZ 32,8) haben J und E unabhängig voneinander aus einer gemeinsamen Grundlage (G) geschöpft. In der Josephsgeschichte ist aber J die literarische Vorlage von E (L. Schmidt, Literarische Studien). Auch die elohistischen Abrahamerzählungen mit Parallelen bei J sind m . E . literarische Umgestaltungen von J (vgl. zu Gen 20 Van Seters, Abraham 171 ff; Westermann 390). D a n n w a r J die schriftliche Vorlage f ü r E. Da E auch die Plagenerzählung übergeht, die sicher in J enthalten war, läßt sich d a r a u s nicht schließen, d a ß damals die Urgeschichte bei J noch fehlte. E k o n n t e von J auch im Aufriß abweichen und gelegentlich älteren Uberlieferungen (z. B. Ex 14,5 a: Flucht aus Ägypten statt Plagen) folgen. Für die Datierung ist sicher, d a ß P schon wegen der Bedeutung, die hier Sabbat und Beschneidung z u k o m m t , aus exilischer oder frühnachexilischer Zeit s t a m m t . D a ß P eine Ätiologie Israels als Kultgemeinde schreibt, setzt m. E. doch wohl den zweiten Tempel voraus. N a c h der ersten Hälfte des 5. Jh. kann allerdings P nicht entstanden sein, da das Werk noch als selbständige Schrift erweitert w u r d e (z. B. Gen 4 6 , 7 - 2 8 ) . Für J und E ergibt sich bereits aus traditionsgeschichtlichen Überlegungen, d a ß sie entgegen den neueren Spätdatierungen vor 587 entstanden sind. Im deuteronomistischen Geschichtswerk ist die Landverheißung als Schwur an die Erzväter (häufig in Dtn; Jos 1,6) eine Weiterbildung der einfachen Zusage des Landes bei J (Gen 12,7; 28,13 f). Im Unterschied zu J, w o sie f ü r Isaak fehlt, ergeht sie hier an alle drei Erzväter. Folglich ist J um einiges älter. Das Fehlen einer Landverheißung bei E spricht f ü r eine Ansetzung vor der G e f ä h r d u n g des Landbesitzes. Außerdem dürfte E im Nordreich entstanden sein (skeptisch N o t h , Pentateuch 249; Smend, Entstehung 86), da hier Bethel besonders betont (Gen 28,11 ff*; 31,13; 35,1 ff*), die Abraham-Lot-Erzählung übergangen und Beerseba zum W o h n o r t A b r a h a m s wird. Z u dem hat E in der Josephsgeschichte J u d a durch R ü b e n als Sprecher der Brüder und in den Bileamsprüchen das Königtum Davids (Num 24,15ff) durch das Königtum Gottes (Num 23,21) ersetzt. Da E die Transzendenz Gottes betont und die Darstellung der Erzväter bei J ethisch reflektiert, ist das Werk erheblich jünger als J. E d ü r f t e in der ersten H ä l f t e des 8. Jh. im Nordreich entstanden sein (z.B. Fohrer, W . H . Schmidt). Bei J zielt nach Gen 1 2 , 1 - 3 die Heilsgeschichte auf das davidisch-salomonische Großreich, das allen Sippen des Erdbodens die Chance eröffnet, f ü r sich Segen zu gewinnen (L. Schmidt, Überlegungen). Da J damit nicht nur die geistig-religiöse (Fohrer 165, mit Ansetzung zwischen 850 und 800), sondern die politische Einheit Israels und eine Bedeutung, wie sie nur im Großreich gegeben w a r (vgl. die Ankündigungen der U n t e r w e r f u n g anderer Völker Gen 25,23 u.a.), voraussetzt, ist J wohl u m 950 entstanden (weitere Argumente bei W . H . Schmidt, Einführung 74; Plädoyer). Die Verbindung der Quellenschriften erfolgte durch zwei Redaktionen, da P die Vereinigung von J und E bereits voraussetzt. Durch die erste Redaktion w u r d e z. B. Aaron zum Sprecher des M o s e (Ex 4,10-17.27ff*). Das wird von P a u f g e n o m m e n . Diesen Redaktor bezeichnet man häufig als Jehowisten (vgl. Wellhausen, Composition 16). Seine Datierung ist umstritten (z. B. Weimar: um 700, Holzinger: zwischen 621 und 587, Fuß: Exilszeit). Wellhausen konstatierte f ü r ihn eine „Geistesverwandtschaft mit d e m Deuter o n o m i u m . . . wenn nicht ausser ihm noch ein Deuteronomist anzunehmen ist" (Composition 94 Anm. 2). Wenn die Texte in Gen — N u m , die sachlich und stilistisch eine Beziehung zu Dtn aufweisen (z.B. Ex 1 3 , 3 - 1 6 ) , wenigstens teilweise vom Jehowisten stammen, m u ß er nach 587 angesetzt werden. D a f ü r spricht m . E . , d a ß in der Exilszeit auch sonst ältere Überlieferungen gesammelt und interpretiert w u r d e n . Der Jehowist wollte J und E in einem Werk zusammenfassen. Wie z. B. die Josephsgeschichte zeigt, hat er
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(gegen Noth) nicht nur J aus E ergänzt, sondern seine Vorlagen möglichst weitgehend aufgenommen. Nur wo er sie nicht miteinander verknüpfen konnte, entschied er sich für die jeweils ausführlichere Darstellung. Außer redaktionellen Klammern hat der Jehowist - vor allem ab Ex 3 — teilweise größere Erweiterungen eingefügt, mit denen er insbesondere theologische Akzente setzte. Das gilt — wenn auch in wesentlich geringerem Maß — selbst noch für die Endredaktion, die das jehowistische Werk mit P verband. Erst damals sind z. B. die Verheißungen Gen 22,15-18; 26,3b-5.24.25aa eingefügt worden, die jünger sind als P (L. Schmidt, Pentateuch 98f). Auch die Endredaktion wollte ihre Vorlagen möglichst vollständig aufnehmen (Donner). Zwar bildete für sie P durch das chronologische Gerüst die Grundlage. Aber daß P gelegentlich lückenhaft erhalten ist (z.B. Gen 25,19f.. .26b), zeigt, daß diese Redaktion auf Stücke aus P verzichtete, wenn sie sie nicht mit einer ausführlicheren Darstellung des Jehowisten verbinden konnte. Da der Pentateuch in Chron vorausgesetzt wird und - wie seine Ubersetzung in LXX zeigt — spätestens um die Mitte des 3. Jh. kanonisch war, war die Endredaktion um 350 im wesentlichen abgeschlossen. Offen ist, o b man außer diesen beiden Redaktionen und einzelnen Erweiterungen noch mit einer deuteronomistischen Redaktion zu rechnen hat und wann sie gegebenenfalls anzusetzen ist. Die ältere Auffassung, daß eine solche Redaktion vor P Dtn in das jehowistische Werk integriert und dieses bearbeitet habe (z. B. Holzinger), wird gelegentlich dahingehend modifiziert, daß zunächst aus Jehowist und deuteronomistischem Geschichtswerk eine große Darstellung von Gen 2,4 b - I I Reg 25 gebildet wurde (Smend, Entstehung 64). Demgegenüber ist nach Noth (Studien 211 ff) Dtn erst eingefügt worden, als P schon mit dem jehowistischen Werk verbunden war.
2.2. Für das deuteronomistische Geschichtswerk rechnete schon Noth mit teilweise umfangreichen Erweiterungen (z.B. Jdc 13-21). Gegenwärtig werden vor allem zwei Schichtenmodelle diskutiert. Nach dem einen (begründet von Smend, Dietrich, Veijola) wurde der Grundbestand des deuteronomistischen Historikers (DtrH/DtrG) von einem prophetischen Deuteronomisten (DtrP) in Sam und Reg bearbeitet, der viele ihm tradierte Prophetenerzählungen einfügte. Das Werk sei dann von mehreren nomistischen Deuteronomisten (DtrN) ergänzt worden. Dieses Modell wurde häufig aufgenommen (z.B. Spieckermann) und von Würthwein in seinem Kommentar zu Reg erheblich modifiziert. Er sieht z. B. den ursprünglichen Schluß in II Reg 25,7 und teilt DtrP auf zwei Schulen DtrP 1 und DtrP 2 auf. Nach dem anderen Modell (begründet von Cross) ist dagegen zwischen Dtr 1 aus der Zeit Josias mit II Reg 23,25 als Schluß und einem Bearbeiter Dtr 2 aus der Exilszeit zu unterscheiden. Auch dieses Modell wird vielfach vertreten (z.B. Nelson, Mayes, Friedman), gelegentlich mit anderen Datierungen und Abgrenzungen. Clements (FS Seeligmann) setzt Dtr 1 unter Zedekia an. Nach Peckham endete Dtr 1 mit II Reg 19,37. Zum Werk von Dtr 2 gehöre Gen-II Reg. Dagegen enthielt nach Provan Dtr 1 aus der Frühzeit Josias nur einen Grundbestand in Sam-II Reg 20. Die wichtigsten Argumente für eine vorexilische Ansetzung von Dtr 1 sind: Die bedingungslose Zusage einer dauernden Dynastie an David (II Sam 7,16) werde mehrfach aufgenommen (I Reg 11,36; 15,4; II Reg 8,19). Das sei nach 587 kaum vorstellbar. Nach dem Untergang -»Jerusalems werde keine Deutung wie für das Ende des Nordreichs (II Reg 17,7 ff) gegeben. Deshalb sei die Schilderung der letzten judäischen Königszeit eine Ergänzung, wofür auch auf stilistische Abweichungen nach II Reg 23,25 verwiesen wird. Im Unterschied zu diesen Modellen rechnet Lohfink (Kerygmata) mit deuteronomistischen Teildarstellungen aus der Zeit Josias, die in der Exilszeit in das deuteronomistische Geschichtswerk aufgenommen wurden, das noch verschiedene Bearbeitungen erfuhr. Seine These hat er für eine deuteronomistische Landnahmeerzählung (DtrL) in einem Grundbestand von Dtn 1-Jos 22 begründet. Seine literarischen Zuweisungen sind teilweise fraglich. Dtn 9,7-10,11 dürfte bei DtrH noch gefehlt haben, da in I Reg 12,28 ff nicht auf dieses Ereignis verwiesen wird. Ob DtrH einen Grundbestand von Jos 13-19 enthielt (so z.B. auch Smend, Auld), ist m.E. offen. Mit Jos 11,23 wird die Erfüllung von 1,6 konstatiert. Danach erwartet man keine
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Schilderung der Verteilung des Landes. Die Königsbeurteilungen in Reg setzen doch wohl das deuteronomische Gesetz voraus. Die Darstellung von der Entstehung des Königtums in I Sam 8 ist von der deuteronomistischen Auffassung über die Richterzeit abhängig (L. Schmidt, Geschichtswerk 105 f). Das spricht gegen deuteronomistische Teildarstellungen. Auch eine vorexilische Ansetzung von DtrH ist unwahrscheinlich. Zwar stammen die meisten bedingten Dynastieverheißungen erst von DtrN (z.B. I Reg 8,25b). Es ist aber kaum vorstellbar, daß mit dem Dtn als Einleitung DtrH nicht damit gerechnet haben sollte, daß Israel das Land wieder verliert, wenn es Jahwe nicht gehorcht. Ohne Land gibt es jedoch keinen König. Dann ist auch bei DtrH die Dynastiezusage implizit bedingt. Die stilistischen Unterschiede in den Königsbeurteilungen ab II Reg 23,31 sind kein Hinweis für eine spätere Ergänzung (Provan 48ff). DtrH stammt also aus der Exilszeit. Eine mehrschichtige „nomistische" Bearbeitung (vgl. Jos 1,7 und 1,8 f) dürfte erwiesen sein. In ihr wird z. B. der Erfolg Josuas und einzelner Könige ausdrücklich von der Befolgung der Gebote abhängig gemacht (Jos 1,7; I Reg 2,3; II Reg 18,5-7) und auch für die Königszeit die Verantwortung des Volkes betont (I Sam 12; I Reg 9,6-9). Von ihr stammt auch das Thema Umkehr der Exilierten (Dtn 30,1-10; I Reg 8,46ff). Dagegen ist DtrP, „bei dem die Textbasis am schmälsten ist" (Smend, Entstehung 123), m.E. nicht gesichert (vgl. Provan 24f). Was DtrP zugewiesen wird, dürfte teilweise schon bei DtrH gestanden haben. So fehlt ohne den Grundbestand von I Reg 11,29 ff die theologische Legitimation für das Königtum Jerobeams. Sie muß DtrH geboten haben, da er die Reichsteilung nicht kritisiert. Dann hat er diese Erzählung gebildet. Er wählte Ahia wegen der Prophetenerzählung in I Reg 14, die dann ebenfalls schon in seinem Werk enthalten war. Auch die erhebliche Verminderung des deuteronomistischen Grundbestands in Reg durch Würthwein bedarf einer Überprüfung. Da in ihm Jerusalem und dem Tempel eine besondere Bedeutung zukommt, endete er kaum mit II Reg 25,7. Zu den literarischen Werken, die DtrH aufgenommen hat, gehört die Erzählung von der Thronnachfolge Davids (II Sam 9-20; I Reg 1 - 2 ) . Nach Van Seters ist sie zwar „as the product of an antimessianic tendency in certain Jewish circles at this time" eine nachexilische Erweiterung (Search 290). Aber damals wurde durchgehend David positiv beurteilt. Zudem sprechen Art und Umfang der Darstellung dafür, daß der Verfasser auch eine politische Absicht verfolgte, was nur zur Zeit Salomos verständlich ist (gegen Gunn und die Ansetzung zwischen Hiskia und Jojakim durch Kaiser, Beobachtungen). Umstritten ist, ob er für (z. B. Rost, Mettinger) oder gegen Salomo war. Das letzte vertreten unter Annahme umfangreicher Erweiterungen Würthwein, Veijola (Dynastie) und Langlamet, die mit einer salomofreundlichen Überarbeitung vor DtrH (Langlamet) oder durch DtrH (Veijola) rechnen. Hier wird aber der Grundbestand erheblich zu stark reduziert. Schon aus I Reg l,47f - m.E. nicht sekundär - ergibt sich, daß der Verfasser salomofreundlich war. Gegen eine antimonarchische Tendenz spricht z.B. die Beschreibung Schebas als „Nichtsnutz" (II Sam 20,1). Älter als DtrH ist auch die Aufstiegsgeschichte Davids (I Sam 16-11 Sam 5). Während die Erzählung von der Thronnachfolge rein literarisch ist, hat dieser Verfasser teilweise mündliche Überlieferungen aufgenommen (Gronbaek; Rendtorff, Beobachtungen). Die Datierung (Weiser: Zeit Salomos; Granbaek, Mettinger: bald nach der Reichstrennung; Conrad: Zeit Jehus) hängt von der Beurteilung von I Sam 16,1 ff ab. Da diese Erzählung die Salbung Sauls (I Sam 9,1 ff) voraussetzt, ist sie kaum vor 722 entstanden. Seit Wellhausen sieht man den Beginn der Aufstiegsgeschichte oft in I Sam 16,14 (z.B. Smend, Entstehung 130), aber hier ist V. 13 vorausgesetzt. Ihre Datierung und eventuelle Vorstufen sind gegenwärtig noch offen (vgl. Dietrich: VF 22, 52). Um 800 ist im Nordreich aus verschiedenen Einzelüberlieferungen die Aufstiegsgeschichte Sauls (I Sam 9,1-10,16; 10,27b (LXX)-11,11.15; 13,2-14,46) gebildet worden. Da ihr Verfasser in seinen Erweiterungen der Sage von I Sam 9,1 ff dem sog. Berufungsschema folgt, das auch bei E (Ex 3,9-12) und in Jdc 6,11 ff vorliegt, kann er kaum früher, aber auch nicht wesentlich später angesetzt werden. Ob sein Werk bereits vor 587 mit der
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Aufstiegsgeschichte Davids und der Erzählung von der Thronnachfolge verbunden wurde (Noth, Studien 61 f), oder ob DtrH die drei Werke noch getrennt vorfand (Veijola), bedarf der weiteren Diskussion. Wie diese Beispiele zeigen, sind von DtrH in erheblichem Umfang ältere literarische Werke aufgenommen worden. Für sie muß hier ansonsten auf die Überblicke in den neueren Einleitungen verwiesen werden. Für die Prophetenerzählungen stellt sich zusätzlich das Problem, inwieweit sie bereits bei DtrH enthalten waren. Teilweise wurden sie jahrhundertelang mündlich tradiert (z. B. I Reg 14,1 ff), ehe sie in das deuteronomistische Geschichtswerk Eingang fanden. 2.3. Für die Prophetenbücher hat die Literarkritik nicht nur ihre Entstehung zu untersuchen, sondern traditionell auch zwischen dem Gut des betreffenden Propheten und seinen späteren Erweiterungen zu unterscheiden. Das Kriterium für die „echten" Stücke ist umstritten. Überwiegend wird daran festgehalten, daß die Unechtheit aufgrund der in einem Text vorausgesetzten Zeitverhältnisse, seines Stils oder seiner Aussagen aufzuzeigen ist. Wegen der vielschichtigen Redaktionsprozesse wird jedoch auch das methodische Postulat aufgestellt, daß die Echtheit zu beweisen sei (Kaiser, Einleitung 212). „Methodisch stringent müßte sich die Rückfrage nach dem genuin Prophetischen von dem Kriterium leiten lassen, nur das Gut für echt zu halten, das sich einzig und allein aus den konkreten Umständen der Zeit eines bestimmten Propheten verstehen läßt, wobei zwischen den einzelnen für echt angenommenen Worten die Ubereinstimmung in einer für den betreffenden Propheten spezifischen Intention zusätzlich aufgewiesen werden müßte" (Schottroff 294). Aber zu verschiedenen Zeiten gab es ähnliche Situationen (vgl. die Bündnispolitik mit Ägypten unter Hiskia und vor 587). Die deuteronomistische Kritik an der Baalverehrung findet sich ähnlich schon bei Hosea. Die Sozialkritik verschiedener Propheten weist Ubereinstimmungen auf. Zudem darf man kaum a priori ausschließen, daß sich historische Veränderungen während der Wirksamkeit eines Propheten in gewissen Wandlungen seiner Verkündigung niedergeschlagen haben (vgl. zu Ezechiel Zimmerli, Phänomen 175). Im günstigsten Fall gewinnt man mit diesem methodischen Postulat ein Minimum. Das zeigen z.B. der Jesajakommcntar von Kaiser („echt" nur ein Grundbestand von Jes 1; 28-31) und Garscha (von Ezechiel nur ein Kern in 17,2-10; 23,2-25). „Damit verschwindet der Prophet fast völlig im Dunkeln der Geschichte" (Garscha 287). Tatsächlich läßt sich für kein Wort die Echtheit sicher beweisen. Dann wird aber unverständlich, wie unter dem Namen dieser Propheten Sammlungen entstehen konnten. Daß es von ihnen im Unterschied zu den Prophetenerzählungen im deuteronomistischen Geschichtswerk eine Wortüberlieferung gibt, zeigt, daß ihre Verkündigung der Ausgangspunkt für diese Sammlungen war, die dann im wesentlichen in ihnen enthalten ist. Sie läßt sich - auch wenn manches unsicher bleibt - nur rekonstruieren, wenn nicht die Echtheit, sondern die Unechtheit zu beweisen ist (zur Kritik an der Gegenposition auch Ringgren, Israelite Prophecy; W. H. Schmidt, Einführung 180f). Kompositionelle Beziehungen innerhalb einer Sammlung sind allein kein Beweis gegen die Echtheit ihrer Einzelworte. Aus einer solchen Beziehung hat z.B. Jeremias (Arnos 133) für Am 3 , 3 - 6 . 8 gefolgert, d a ß dieser Spruch zwar auf mündliche Verkündigung des Arnos zurückgehe, ihr Wortlaut jedoch nicht rekonstruierbar sei. Da der Spruch aber poetisch formuliert und in sich abgerundet ist, gibt es keinen Grund, seinen Wortlaut Arnos abzusprechen. Die Sammler haben teilweise durch die Anordnung Beziehungen hergestellt, ohne die Formulierung der Einzelworte zu verändern. Andererseits spricht der erhebliche Unterschied zwischen Sprüchen und Prosapredigten in Jer dagegen, die Prosapredigten wenigstens teilweise auf Jeremia zurückzuführen (anders Weippert, Prosareden; Beitrag). Ein Vergleich des Spruches 21,11 f mit der Prosapredigt 2 2 , 1 - 5 zeigt: „ 2 2 , 1 - 5 stellt nicht viel mehr als seine Ausarbeitung in Prosa d a r " (Thiel, W M A N T 41,238). An diesem Beispiel wird deutlich, daß den Prosapredigten teilweise Jeremiaworte zugrunde liegen, die jedoch schwer rekonstruiert werden können, wenn sie nicht auch als Spruch überliefert sind.
In der Echtheitsfrage lassen sich vereinfacht drei Epochen unterscheiden. In der ersten mit Duhm als Höhepunkt sprach man zahlreiche Texte den Propheten, die als religiöse
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Persönlichkeiten galten, ab. In der Folgezeit wurde dagegen auf unterschiedliche Weise die Beziehung der Propheten zu den Traditionen Israels betont und ihnen deshalb erheblich mehr Gut zugewiesen (vgl. z. B. den Jesajakommentar von Wildberger). Gegenwärtig wird vor allem die Bedeutung der Redaktionen herausgearbeitet und dabei das authentische Gut stark reduziert. Mit Recht wird betont, daß das historische Urteil über echt oder unecht kein Werturteil implizieren darf. Tatsächlich wurde m.E. unter Verweis auf Traditionen den Propheten selbst zuviel zugewiesen. Eine zu weitgehende Reduktion widerspricht jedoch der historischen Wahrscheinlichkeit (s. o.). Urteile aufgrund der Religionsgeschichte sind zwar nicht unproblematisch, da die Theologiegeschichte Israels rekonstruiert werden muß, so daß ein Zirkelschluß entstehen kann. Aber schon daß Jes 2 , 2 - 4 auch in Mi 4 , 1 - 3 überliefert wird, spricht gegen die Zuweisung an Jesaja unter Verweis auf die Ziontradition (gegen Wildberger z. St.). Dieses Urteil wird dadurch gestützt, daß die Vorstellung einer Umgestaltung der Natur (Jes 2,2) sonst erst bei Deuterojesaja belegt ist. Wenn nach Jes 11,3 der künftige Herrscher nicht mehr nach dem, was er hört und sieht, richtet, werden alle menschlichen Möglichkeiten transzendiert. Das ist schwer vorstellbar, solange ein König regiert. In Jes 1,26 werden demgegenüber Richter und Ratgeber wie „am Anfang" angekündigt. Deshalb läßt sich die Echtheit von Jes 11,1 ff nicht damit verteidigen, daß die Herkunft des Herrschers (aus dem Stumpf Isais) und seine Aufrichtung des Rechts der Kritik Jesajas an der davidischen Dynastie und an der Verkehrung des Rechts entspreche (u. a. Hermisson, Zukunftserwartung). Andererseits sieht Kaiser m. E. zu Unrecht hinter der Denkschrift (Jes 6,1 -8,18) deuteronomistische Theologie. Daß nach 587 die Erzählung von Jes 7 , 1 - 9 gebildet wurde, um mit der Bündnispolitik des Ahas den Untergang der davidischen Dynastie zu erklären (ATD 17, 141), ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil diese Dynastie noch nahezu 150 Jahre regierte. Für ein höheres Alter spricht auch, daß „glauben" im Unterschied zu den meisten Belegen aus exilisch-nachexilischer Zeit in 7,9 ohne Objekt steht.
Für die einzelnen Sammlungen ist häufig schwer zu entscheiden, inwieweit die Propheten schon selbst ihre Verkündigung teilweise schriftlich fixiert haben bzw. niederschreiben ließen. Ob Jes 8,16; 30,8 in diesem Sinn verstanden werden dürfen, ist ebenso umstritten wie die historische Zuverlässigkeit von Jer 36 (vgl. dazu Wanke 74). Nun hat Steck m.E. aufgewiesen, daß in Jes 6,1-8,18 die Berufungserzählung (6,1 — 11) auf die folgende Verkündigung Jesajas während des syrisch-ephraimitischen Kriegs angelegt ist, in der sich der Verstockungsauftrag von 6,9 f konkretisiert. Dann hat Jesaja, der schreiben konnte (8,1; 30,8), den Grundbestand der Denkschrift verfaßt. Sie wird zwar von Werner einem von der deuteronomistischen Prophetentheologie beeinflußten Redaktor zugeschrieben. Aber m.E. unwahrscheinlich ist schon seine Annahme, daß bis nach 587 mehrere Jesajaworte noch als Einzelworte tradiert wurden. Eine alte schriftlichc Sammlung ist auch Am 3 - 6 . Das zeigen z.B. die Anordnung des Diskussionsworts über die prophetische Legitimation (Am 3,3 - 6 . 8 ) , das bewußt der sonstigen Verkündigung vorangestellt wurde, und die Komposition in 5 , 1 - 1 7 . O b diese Sammlung auf Arnos selbst zurückgeht (so Wolff, BK.AT 14,2, 130), oder zumindest die Gebietsverluste des Nordreichs von 733 voraussetzt (Jeremias, Arnos 136 Anm. 24), bedarf noch der Klärung. Ein Sonderproblem der Hoseaüberlieferung ist das Fehlen von Rahmenformeln innerhalb der Sammlungen H o s 4 - 1 1 und 12-14. Nach Wolff sind in ihnen schriftliche Auftrittsskizzen, in denen mehrere Worte eines Verkündigungsvorgangs festgehalten wurden, miteinander verbunden worden (BK.AT 14,1, XXIVf). Dagegen erklärt Jeremias den Befund mit einer bewußten Komposition von Schülern nach 722 (ATD 24,1, 18f). Jedenfalls zeigen diese Beispiele, daß es schriftliche Teilsammlungen gegeben hat, die noch zu Lebzeiten eines Propheten oder bald danach entstanden sind. Eingehend diskutiert wird die Frage nach deuteronomistischen Bearbeitungen in den Prophetenbüchern. Sie stellt sich vor allem für Jer, da insbesondere die Prosapredigten deuteronomistisch geprägt sind. Nach Thiel war „die dtr. Redaktion die Hauptredaktion des Buches Jeremia" ( W M A N T 41, 281 f). Allerdings hat Weippert (Prosareden) bestritten, daß die entsprechenden Texte deuteronomistisch sind. Tatsächlich gibt es zwischen ihnen und dem deuteronomistischen Geschichtswerk in Stil und Auffassung Unterschiede (vgl. z.B. Jer 18,7-12, wo anders als in Dtn-II Reg das Handeln Jahwes an Israel
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auf allgemeine Grundsätze für sein Wirken in der Völkerwelt zurückgeführt wird). Trotzdem ist die Verwandtschaft so eng, daß man die Redaktion als deuteronomistisch bezeichnen muß (Thiel, W M A N T 52, 116ff). Die Deuteronomistik war offenbar eine breite Bewegung, in der es zwar im einzelnen unterschiedliche Auffassungen gab, die sich aber von anderen Strömungen - wie etwa priesterlichen Kreisen - klar abhebt. In anderen Prophetenbüchern ist der deuteronomistische Anteil wohl wesentlich geringer. Deutlich greifbar wird eine deuteronomistische Redaktion in Am (W. H. Schmidt, Redaktion), die sich aber anders als in Jer auf einzelne Zusätze beschränkte (z.B. Am 2,4f; 3,7). Noch später wurde hier der Schluß (Am 9 , 1 1 - 1 5 ) hinzugefügt, durch den Am nun nach dem zweigliedrigen eschatologischen Schema (Unheil — Heil) aufgebaut ist. Ez, Jes 1 - 3 9 und Jer (in L X X ) wurden dagegen von der Endredaktion nach dem dreigliedrigen eschatologischen Schema (Unheil für Israel - Unheil für die Völker - Heil für Israel) gestaltet. Sowohl in den Echtheitsfragen wie auch für die Entstehung einzelner Sammlungen und für das Werden der Prophetenbücher weichen gegenwärtig die Auffassungen stark voneinander ab. Dafür muß hier auf die Artikel zu den einzelnen Propheten und auf Forschungsüberblicke (z.B. Hardmeier, Hermisson und Thiel: VF31) verwiesen werden. 2.4. In der alttestamentlichen Forschung hat gegenwärtig die Literarkritik - vor allem auch als „Redaktionsgeschichte" - für alle Bereiche der alttestamentlichen Literatur wieder eine erhebliche Bedeutung. Für den dritten Kanonteil sei dafür hier nur auf die Diskussion über die Existenz eines chronistischen Geschichtswerks von Chron-Neh verwiesen (-»Chronistische Theologie/Chronistisches Geschichtswerk). Die zahlreichen Untersuchungen weichen aber nicht nur in den Einzelheiten, sondern auch in den Grundlinien sehr stark voneinander ab. Deutlich ist allerdings, daß zunehmend Datierungen nach 587 bevorzugt werden. In solchen Tendenzen seiner Zeit sah Greßmann „Irrwege der Literarkritik" (ZAW 1924, 7). Nun wird man zwar gegen Greßmann tatsächlich damit zu rechnen haben, daß die tiefe Krise, die durch die Katastrophe von 587 entstand, trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu einer umfangreichen literarischen Produktion führte, weil es galt, das Erbe der Vergangenheit zu bewahren und für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Das setzt jedoch zugleich voraus, daß es ein solches - auch literarisches - Erbe gegeben hat. Schon diese grundsätzliche Überlegung spricht m. E. gegen generelle Spätdatierungen. Diese Frage nach der historischen Wahrscheinlichkeit ist ebenfalls für literarische Schichtungen, Tendenzen und für den Zeitraum, den man für Entwicklungsprozesse veranschlagt, zu beachten. Das ist auch für die Theologiegeschichte Israels wichtig, die sich ohne Literarkritik nicht rekonstruieren läßt. Literatur
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II. Neues Testament 1. Aufgabenbereich 2. Begriffsgeschichte 3. Zur Wissenschaftsgeschichte der Literarkritik 4. Literarkritik seit der ,Religionsgeschichtlichen Schule' 5. Schluß (Quellen/Literatur S. 229)
Literarkritik II 1.
223
Aufgabenbereich
Literarkritik als Methodenschritt in der Exegese ist im Zusammenhang der Herausbildung der Hauptdisziplinen, besonders im 19. Jh. in differenzierter Weise angewendet, bis heute in der neutestamentlichen Wissenschaft unumgängliches Rüstzeug exegetischer Arbeit. Sie hat teil an der Grundvoraussetzung aller Bibelkritik, daß Gottes Wort in von Menschen aufgezeichneten Zeugnissen sich findet. Literarkritik dient der kritischen Untersuchung des durch die -»Textkritik ermittelten Textbestandes einer neutestamentlichen Schrift im ganzen wie eines Einzelabschnittes in ihr im besonderen. Sie leistet als „literarkritische Untersuchung" im Abgrenzen von Perikopen im Rahmen ihres Kontextes, im Aufweis von Brüchen und „literarischen Unstimmigkeiten" überhaupt (Müller 166), als Quellenkritik und hinsichtlich der „literarischen Integrität einer Schrift" (Dinkler) und der eventuellen Neuordnung des vorliegenden literarischen Textes eine unerläßliche, jedoch „begrenzte Vorarbeit" (Bornkamm). So dient auch dieser Teilschritt einer sachgerechten und sachkritischen Einzelexegese, die ihrerseits literarkritische Ergebnisse vor historistischer und positivistischer Kurzschlüssigkeit zu bewahren hat (Dinkler 1190), wie andererseits Literarkritik selbst Voraussetzung für weitere methodische Überlegungen und Schritte ist (-»Formgeschichte; -»Traditionskritik; -»Redaktionskritik; vgl. Roloff 4 - 1 4 ; Zimmermann 77ff; Bultmann, Geschichte 1 - 8 ) . Die gegenwärtige Diskussion hat zu bedenken, daß manches Empfinden für Brüche und Widersprüche im Text mehr „abendländische(r) Logik" entspringt und „nicht immer im antiken Text selbst begründet ist" (Müller 166) und daß der notwendige „Primat der Synchronie vor der Diachronie als Grundaxiom der Literarkritik" (Theobald) die Querverbindungen von Literarkritik und Linguistik in den Blick rückt (s. u. Abschn. 5; Berger 2 7 - 3 2 ; Boismard/Lamouille; weiteres bei Hahn 427 Anm. 2; Schnelle, Abschiedsreden 76 Anm. 61). 2.
Begriffsgeschichte
Der Begriff Literarkritik läßt sich eindeutig erst in der ,Religionsgeschichtlichen Schule' (s. T R E 6, 386ff) als offenbar bekannt in der Diskussion um die -»Apokalypse des Johannes nachweisen (Gunkel, Schöpfung; Bousset, Offenbarung). Er ist vermutlich in den 80er Jahren des 19. Jh. aufgekommen (Gunkel, Verständnis 39). Nach Grimms Wörterbuch begegnet er in wissenschaftlicher Begriffsgeschichte bis 1873 nicht (V [1873] 2336; zum allmählichen Aufkommen in den Geisteswissenschaften vgl. auch McCormick), aber er hat deutlich eine Vorgeschichte: „Zergliederung" (Baumgarten); separata in Scheda scriptum (Semler, Paraphrasis Rom. 203 Anm. 365); schedula (Seniler, Paraphrasis II Kor, Praefatio; Gabler). Im späten 18. und frühen 19. Jh. begegneten vereinzelt im sachbezogenen Zusammenhang „literarische Kritik" (Ast 223 f), als gängigere Bezeichnungen „Aechtheit" (Credner 53) und „Integrität" (Bertholdt 3289ff); von der Mitte des 19. Jh. an „Quellenkritik" (Holtzmann, Evangelien 418.427 u.ö.); „literarische Kritik" (Holtzmann, Lb. '1892,161); „auf literarhistorischem Wege" (Harnack bei Vischer 137).
3. Zur Wissenschaftsgeschichte
der
Literarkritik
3.1. Die Problematik reicht bis in das Werden des Neuen Testaments als Kanon zurück. Seit vereinzelt historische Fragestellungen, in der Regel mit theologischen Entscheidungen verbunden, virulent wurden, kann in patristischer Zeit gelegentlich und stark einschränkend auch von .literarkritischen Versuchen' gesprochen werden. Marcions bewußte Abtrennung von Rom 1 5 - 1 6 wie die Entscheidung des -»Origenes, aus stilistischen Gründen den -»Hebräerbrief vom übrigen Corpus Paulinum, und die des -»Dionysius von Alexandrien, die Apk des Johannes aus sprachlich-stilistischen Gründen von den übrigen johanneischen Schriften zu separieren, sind nicht unter der Zielsetzung durchgeführter Literarkritik erfolgt. Selbst die erkannten, aber aus dem Verständnis der Inspiration heraus letztlich harmonistisch erklärten Widersprüche in den Evangelien bei Antiochenern und -»Augustin entfallen „als Vorläufer unserer literarkritischen Anschauungen" (Merkel, Widersprüche 229 [zu Augustin]; ders., Pluralität VIIff.XXVH; Klemm 60ff.63; wichtigste Quellensammlung: Merkel, Pluralität; -»Evangelienharmonien). Heutige Einsichten in die Textgeschichte und in die früheste erreichbare Textgestalt der neutestamentlichen Schriften erschweren es, Glossen und Interpolationen, redaktionelle Eingriffe im Zusammenhang etwa der Entstehung einer paulinischen Briefsammlung als .Literarkritik' auf frühester Stufe (2./3. Jh.) auszumachen (Aland;
224
Literarkritik II
Walker: CBQ 50). Offene Fragen, die nicht zuletzt um das Problem der apostolischen Verfasserschaft neutestamentlicher Schriften kreisten, hatten in der Alten Kirche literarische Überlegungen zur Folge (Eusebius v. Cäsarea, vgl. z.B. hist. eccl. IV, 23,12), die — im Rückblick gesehen — ,literarkritische' Erwägungen einschließen und deren Ergebnisse nicht nur über das Mittelalter hinweg durch die Humanisten den Reformatoren bekannt waren, sondern im Mittelalter selbst, besonders in -»Cassiodors Bestimmungen der Verwendung von litera, sowohl nachwirkten als auch zu sich anbahnenden literarkritischen Grundschemata vornehmlich an säkularen Schriften entwickelt wurden (Cassiodor, Inst. 1,27; 11,1 f). In Martin -»Luthers Vorreden zum Neuen Testament (WA.DB VII) bündeln sich eigenständig theologische Entscheidungen noch nicht zu literarkritischen Urteilen, so daß sie ohne Nachwirkungen für eine auch historisch den neutestamentlichen Schriften angemessene Exegese bleiben (Baur 490.492; zu Einzelheiten Kümmel, Vorreden 50 ff). In nachreformatorischer Zeit, geschult an der Auslegung klassisch-philologischer Texte, gelingt es vornehmlich Hugo -»Grotius, den Zusammenhang von literarischem Zeugnis und der ihm jeweils eigenen historischen Einbettung in seine Zeit methodisch aufzudecken und damit einen entscheidenden Schritt zu einer Methodik literarkritischen Arbeitens zu finden (Belege bei Kümmel, Das Neue Testament 32ff.526 Anm.28; dazu Grotius, ann. II, 651.677; I, 1138 [Ausg. de Windheim]), die gleichzeitig mittelbar der Literarkritik eine Hilfsfunktion im historisch-theologischen Verstehen biblischer Texte zuwies (ver. rel. 109-136). Das gilt in anderer Weise auch für Richard Simon (1638-1712), der, von textkritischen Entscheidungen (-»Textkritik) ausgehend, der Literarkritik in seinem Gesamtwerk zahlreiche Impulse vermittelt hat, ohne dabei seine kirchlich-dogmatische Gebundenheit zugunsten freierer Bibelforschung preiszugeben (Nachweise: Kümmel, Das Neue Testament 41-50.572 Anm. 3 3 - 3 6 ; Reventlow, R. Simon llff.20ff; vgl. R. Simon, princ. comm. passim). 3.2. Die seit R. Simon verstärkt einsetzende Textkritik gibt ihren kritischen Vertretern Möglichkeit zu literarkritischen Ansätzen (J. J. -• Wettstein) und erlaubt anderen innerhalb des orthodoxen Systems, am inspirierten Wortlaut der Schrift festzuhalten, ohne auf diesbezügliche Hinweise zu verzichten (J. A. -»Bengel). Doch erst bei J. S. -• Semler ist die „Unterscheidung von Gotteswort und Schrifttext" so durchreflektiert, daß in seiner de facto geübten Bibelkritik die Literarkritik eine sachgemäße Weise exegetischen Arbeitens ist (Hornig 227ff.235 [Zitat 228]). Die Sache steht an, nicht die Begriffe. Zuvor hatte, wie heute bekannt ist, H. S. -»Reimarus in seiner Kritik an der Bibel sachlich auch die Literarkritik aus seinen „Reguln des Wiederspruchs und der Einstimmung" deduziert (Schmidt-Biggemann 202 ff [mit Belegen aus dem Hamburger Nachlaß]; vgl. Reimarus, Apologie II, passim). Vor allem hatte Semlers Lehrer Siegmund Jacob Baumgarten (1706-1757) die o.g. „Zergliederung" methodisch durchdacht (Unterricht 54.61-84) und damit den Weg gebahnt für Semlers Aufteilungen von Rom (Semler, de appendice: Paraphrasis Rom 277ff; vgl. 203 Anm. 365; 190ff) und II Kor (Semler, Paraphrasis II Kor, Praefatio und 321 Anm. 366; 238 Anm. 264) und für weitere Überlegungen zur Uneinheitlichkeit paulinischer Briefe, wobei Semler Baumgartens in den Pietismus weisende Hintergedanken in historische Fragestellungen ummünzte (vgl. Karo 43ff.49ff und passim). Die ,freie Untersuchung des Canon' nimmt ihren Lauf, da die Göttlichkeit im Mcnschcnwort verborgen und der Umgang mit den Schriften des Neuen Testaments zur historisch-eruierbaren Aufgabe geworden ist (Semler, Paraphrasis II Kor, Praefatio; Gabler 65). Gemeinsam mit Baumgartens Unterricht (61 - 8 4 ) sind Semlers Praefatio Paraphrasis II Kor und Johann Philipp -»Gablers Praefatio zu seiner Widerlegung Semlers die Grundschriften zur .Literarkritik*. Indem Gabler darauf hinweist, daß jede separata schedula (Gabler 64) neue Probleme aufwirft, stehen die flankierenden Begriffe Kohärenz (Gabler 63.85.89.90f), coniectura (Gabler 65), critica (Gabler 69), Hypothese (Gabler 69f.73.80.83.97.102f) im Raum, zusammengefaßt: die Redaktion des Schriftstücks (Gabler 74). Oder wie schon Baumgarten formuliert: „keinen Zusammenhang erdichten, wo derselbe nicht stat findet" (Unterricht 81), und Bauer am Ende des 18. Jh. resümiert: „Aber vor dem Mißbrauch muß man hiebey warnen, welchen die Baumgartensianische Schule [sc. Semler besonders] davon gemacht hat, daß man nicht die Schriftsteller zu sehr zerstückle, und sie so behandle, als hätten sie nach einer genauen Disposition geschrieben . . . " . „Die Schriftsteller des N.Test, waren populäre Schriftsteller, und ein guter Theil ihrer Schriften Briefe, in welchen niemand seine Gedanken wie an eine Schnur reihet, und sich an die künstliche Ordnung einer Disposition bindet" (74 f). Gilt „Zergliederung" nach Baumgarten sowohl der Einzelperikope in Abgrenzung und innerer Gliederung als auch einer Schrift im ganzen und ist dieser methodische Schritt „Hülfsmittel richtiger Auslegung" (Unterricht 63; vgl. auch Gabler 71 ff u.ö.), so waren damit grundlegende Bereiche der .Literarkritik' erfaßt, die sich verstärkt in der Exegese neutestamentlicher Briefe auswirkten (umfassende Darstellung Berthold 3289-3307.3378-3394.3433.3483-3488; Eichhorn III/1,174ff. 185.232ff und passim). Daß Baumgarten auch die Evangelien einbezogen wissen wollte, ergibt sich aus seinen zahlreichen Hinweisen auf die Einzelstücke, Reden und Erzählungen, die darauf zu prüfen sind, „ob
Literarkritik II
225
dieselben durch ein inneres Verhältnis des Inhalts u n d der Rede zusammen hangen; oder aus einer blossen Samlung einzelner Abschnitte ohne unmittelbaren Zusammenhang bestehe" (Unterricht 67 u.ö.), und „im letztern Fal, ob dabey eine erweisliche Absicht der gebrauchten Stellung und Folge solcher Abschnitte entdecket werden könne" (ebd.)- Damit war die ,literarkritische' Methodik für die Einzelexegese überhaupt wie für Briefe und Evangelien in ihrer Gesamtheit von Baumgarten begründet, in dessen Folge Gabler methodisch anhand der Einzelexegese die ,literarkritischen' Konsequenzen für das Gesamtverstehen einer Schrift in einer Auslegung von II Kor 9—13 aufdeckte (71-158).
3.3. Ergebnisse. Auf diesen methodischen Einsichten im Beginn kritischer Schriftauslegung beruht die weitere .literarkritische* Arbeit in der neutestamentlichen Forschung, die sich sowohl in der Exegese als auch in der -»Einleitungswissenschaft niedergeschlagen hat. 3.3.1. Mit der Erarbeitung der Synopse - unter deutlicher Abtrennung des Joh - schuf Johann Jacob -»Griesbach ein grundlegendes Arbeitsinstrument für die literarische Verhältnisbestimmung der drei ersten Evangelien untereinander. Vorüberlegungen von H. Grotius (ann. I), J. Clericus (429) und anderen waren damit zu einem vorläufigen Ziel gelangt. Dadurch wurde .Literarkritik' als synoptische ,Quellenkritik' stärkstens angeregt. Durch die Herausarbeitung der verschiedenen Hypothesen zur Lösung des synoptischen Problems zwischen 1780 und 1830 (s. T R E 10, 575 ff; Quellen bei Kümmel, Das Neue Testament 88 ff) wurde einerseits den -»Evangelienharmonien sachlich der Abschied gegeben, andererseits aber zeichneten siqh die verschiedenen Möglichkeiten und Aporien denkbarer Benutzungsverhältnisse der drei ersten Evangelien untereinander oder von einem ,Urevangelium* abhängig ab. - Der .Literarkritik' am wenigsten günstig war die mit J . G . - • H e r d e r verbundene Hypothese eines mündlichen Urevangeliums. Diese hat ebenso wie die seit etwa 1770 verstärkt einsetzende Mythenerforschung (Kümmel, a . a . O . 147ff; Merk, Mythos mit Belegen) zum inneren Aufbau von D . E -»Strauß' Das Leben Jesu beigetragen, wie andererseits die am weitesten reichende Antwort auf Strauß die literarkritische Lösung des Verhältnisses der Evangelien im Verlauf des 19. Jh. war: die eindeutige, begründete Abtrennung des Joh von den Synoptikern und die Lösung der synoptischen Frage (s. T R E 6, 383 f; 10,593 ff; Lührmann, Auslegung 40 ff) in der durch H . J . -»Holtzmann für seine Zeit abschließend geklärten Zweiquellentheorie als bester Arbeitshypothese für die Benutzung der Synoptiker untereinander (1863). Die sich durchhaltende und bewährende Zweiquellentheorie (Holtzmann, Synoptiker 15 ff; ders., Marcus-Kontroversc; Wernle VI.107f.l93ff.l95-223 u.ö.) aber wurde schon von Holtzmann selbst zur Basis der (liberalen) Leben-Jesu-Forschung auf der Markusgrundlage genutzt, und dabei verlor die Literarkritik ihre Funktion als „Hülfsmittel" (Baumgarten). Sie prägt einerseits die verschiedenen ,Leben-Jesu' (Nachweise A. Schweitzer) und fand andererseits in der weithin deskriptiven Darstellung von Lehrbegriffen in den Lehrbüchern der ,Theologie des Neuen Testaments' im letzten Drittel des 19. Jh. ihren Niederschlag (Wrede, Aufgabe; Merk, Biblische Theologie 236ff; Sinn 25f u.ö.). 3.3.2. Literarkritische Überlegungen zu nahezu allen unter dem Namen des Paulus stehenden Briefen (Clemens) hatten besonderes Gewicht für Rom, II Kor, Pastoralbriefe (erste umfassende Bestandsaufnahme bei Credner 469ff), Kol und Eph. Sie wurden verstärkt zur Entscheidung in Verfasserfragen bei einzelnen Schriften herangezogen (vgl. „Aechtheit"; „Integrität", s.o. 2), so daß die Einleitungswissenschaft aus ihnen reichen Nutzen zog, aber auch z. B. in der radikalen holländischen Kritik erhebliche Fehlurteile aufwies (s. T R E 6, 388,17-25). 3.3.3. Brachte die Forschung des 19. Jh. die maßgebenden literarkritischen Lösungen in der neutestamentlichen Wissenschaft, ohne daß — im Unterschied zur alttestamentlichen Forschung - von einer ,literarkritischen Schule' der Neutestamentier gesprochen werden kann (Nachweise Eißfeldt; s.o. Abschn. I), so erfolgte durch die ,Religionsgeschichtliche Schule' (s. T R E 6, 386 ff; Sinn) eine Maßstäbe zurechtrückende Gegenbewegung: Nicht Literarkritik als solche, wohl aber ihre Uberbewertung wird abgelehnt. M a n
226
Literarkritik II
kann „überhaupt kaum oft genug auf die Übergriffe der Literarkritik aufmerksam machen" (Wrede, Aufgabe: WdF 367,99 Anm.22). Mit der „Einsicht, daß man der Literarkritik in der neutestamentlichen Theologie überhaupt eine Rolle zuweist, die ihr einfach nicht zukommt" (ebd. 101), ist nicht die Richtigkeit einzelner literarkritischer Entscheidungen als solche bestritten (ebd.), sondern eine „gesunde und nothwendige Reaktion gegen die Einseitigkeiten der Literarkritik" betont (Wrede: GGA 158,517ff; vgl. ders.: GGA 157,513), deren „Bedeutung" als „Vorarbeit für die eigentliche, die religionsgeschichtliche Aufgabe" (Wrede: T h L Z 21,629) ganz im Sinne von H. -»Gunkel gesehen wird (Schöpfung 195 Anm. 1; 209ff; Genesis, Vorwort; Bewegung 388ff). Durch die ,Religionsgeschichtliche Schule' wird Literarkritik zum Beurteilungsmaßstab neutestamentlicher Forschung im 19. Jh., um nur um so deutlicher das eigene Anliegen, die lebendige Religion, zur Geltung zu bringen. In die Blütezeit der .Religionsgeschichtlichen Schule' fallen J . -»Wellhausens Synoptikerforschungen (Kümmel, D a s N e u e T e s t a m e n t 3 5 8 ff), in denen ein „bedenkliche(r) Bund der Religionsgeschichte mit der Literarkritik geschlossen w i r d " (Gunkel, Bewegung 3 8 8 ) . Natürlich hat Literarkritik unentbehrliche Hilfsfunktion: „ Z u e r s t m u ß der Forscher wissen, w a s die von ihren Irrtümern gereinigte Uberlieferung wirklich besagt, ehe er an eine eigene Darstellung der hinter den Quellen liegenden G e s c h i c h t e gehen k a n n . " A b e r es gehe nicht an, „ b e i m A u f b a u der Geschichte der Religion sich allzu sklavisch den literarischen D e n k m ä l e r n zu unterwerfen, wobei man übersah, d a ß d a s wirklich G e s c h e h e n e nur unter besonderen Vorsichtsmaßregeln auch den noch so sehr gesichteten Quellen e n t n o m m e n werden d a r f " (ebd. 3 8 8 ff; ähnlich und grundsätzlich zur -»Apostelgeschichte W. - » W r e d e : G G A 1 5 7 , 4 9 7 - 5 1 3 ) .
Diese Äußerungen Gunkels machen deutlich, welche umschmelzende Funktion die „.Religionsgeschichtliche' Bewegung" (so Gunkel) hinsichtlich der alten Literarkritik in eine neue Phase hinein hatte: Schon W. -»Bousset deckte in seinem Kommentar zur Offenbarung des Johannes die Zuordnung von Literarkritik, historischem und theologischem Verstehen auf. W. -»Wrede zerstörte nicht nur die literarkritisch eruierte Basis der liberalen Leben-Jesu-Forschung (Messiasgeheimnis 9ff u.ö.), sondern ermittelte gerade literarkritisch den II Thess (-»Thessalonicherbriefe) als deuteropaulinisch (1903). J . -•Weiß zerlegte den I Kor (-»Korintherbriefe) in mehrere Briefe als literarische Voraussetzung für die Auslegung, denn „die Scheidung würde, falls sie durchführbar wäre, für die Entwicklungsgeschichte der Gem[einde] von nicht unerheblicher Bedeutung sein" (XLII), verbunden mit der Feststellung im Vorwort: „Es ist ja so leicht und dankbar, solche Versuche, die immer etwas Problematisches haben werden, der allgemeinen Geringschätzung preiszugeben. Als ob sie nicht . . . einer wissenschaftlichen Gewissensnot entsprungen wären!" (IV). Die Neuorientierung der Literarkritik durch die ,Religionsgeschichtliche Schule', in deren vielschichtigem religiösen und theologischen Gesamtverständnis begründet, wirkte sich im 20. Jh. vielfach aus, methodisch gebündelt als vorauszusetzende Hilfsfunktion für exegetisch-theologisches Verstehen, für historische Eruierung, für hermeneutische Bewältigung der Sachaussagen - insgesamt bezogen auf das biblische Zeugnis und allgemein religionsgeschichtliche Quellen, aber sachbezogen methodisch insoweit „eingegrenzt, als das Alter einer Idee und ihr erstes schriftliches Vorkommen streng voneinander geschieden werden" (Hempel 992; Rollmann passim). 4. Die Literarkritik
seit der ,Religionsgeschichtlichen
Schule'
4.1. Bis 1950 4.1.1. Synoptikerforschung. Sie dient der formgeschichtlichen Arbeit (-»Formgeschichte) als Voraussetzung, wie M . -»Dibelius (Überlieferung 3f.41; vgl. lOOff) und K.L. -»Schmidt (Rahmen) herausgearbeitet haben und R. -»Bultmann resümiert: „Natürlich ist diese Arbeit nicht ohne Literarkritik zu treiben, so wenig wie ohne Sachkritik . . . Überhaupt treibt die formgeschichtliche Arbeit ihr Werk nicht im Gegensatz zur Literarkritik, doch lehnt sie Grenzüberschreitungen der literarkritischen Analyse . . . a b " (Ge-
Literarkritik II
227
schichte2 3). Aber es gilt einzubringen, „welche Mittel . . . außer der literarkritischen Analyse gegeben" sind (ebd. 7). Die zugleich diskutierte weitergehende literarkritische Forschung ist in Bultmanns Besprechungen von W. Bußmanns Synoptischen Studien (DLZ47,1587ff;53,2257ff; 54,241 ff), bei J. -Schniewind (bes. 134ff: „Synoptikerexegese und Literarkritik") und bei K. Grobel (24 ff.67 ff) international aufgezeigt (besonders zu B. A. -»Streeter [84ff]; V. Taylor [98 ff]). Insgesamt gilt Kümmels Urteil, daß mit der Relevanz der formgeschichtlichen Forschung „die literarkritische Fragestellung seit dem Ende des ersten Weltkriegs in ihrer Wichtigkeit stark zurückgedrängt worden ist" (SBS 50,35). 4.1.2. Johannesforschung. Auch hier kamen Einsichten der ,Religionsgeschichtlichen Schule' maßgebend zum Tragen (Wrede, Charakter), die literarkritisch von Belang wurden (Dibelius, Überlieferung 100ff). Aber zur literarkritisch relevanten Quellensuche und -Scheidung einschließlich des Eruierens einer Grundschrift im Joh trugen Forscher verschiedener Provenienz bei (E. -»Schwartz; J. -*Wellhausen; Faure), gipfelnd in der Quellenanalyse im Kommentar von R. Bultmann: Semeiaquelle, gnostisch bestimmte Quelle von Offenbarungsreden, Leidensgeschichte, schließlich kirchliche Redaktion (vgl. auch RGG 3 3,840ff), ein literarkritisches Ergebnis, das erhebliche Nachwirkung zeigte (vgl. Smith). Ebenfalls als weittragend, aber von Anfang an literarkritisch stärker umstritten erwies sich die seit E. v. Dobschütz anstehende, von R. Bultmann konsequent weitergeführte Analyse des 1. Johannesbriefes (-• Johannesbriefe), während für die —•Apokalypse des Johannes die grundsätzlichen Einsichten von Gunkel (Schöpfung) und Bousset (Kommentar mit seiner Fragmententheorie), nicht aber vielfach seither erörterte literarkritische Überlegungen, ihre Wirkung zeigten (Kümmel, Einleitung 408ff). 4.1.3. Briefforschung. Hinsichtlich der Integrität der Paulusbriefe blieben die Ergebnisse der ,Religionsgeschichtlichen Schule' virulent; fast stärker wurden die Argumente der Forschung des 19. Jh. variierend aufgegriffen und wurde Literarkritik zum Gradmesser der ,Echtheit' (zusammenfassende Uberblicke bei Feine/Behm 161 ff. 173 ff. 186 u.ö.; -»Einleitungswissenschaft). Für die Literarkritik der —•Korintherbriefe blieb hinsichtlich des I Kor die Analyse von J. Weiß maßgebend (s.o. S.226), die in der Diskussion zwischen K. -»Barth und Bultmann über die Auferstehung der Toten (1924) sachkritisch zur Geltung kam. Zudem arbeitete H. v. Soden (Sakrament) die theologische und darin auch literarische Einheit dieses Briefes zentral heraus. - Für II Kor haben J. Weiß durch die These der Aufteilung (Urchristentum 262ff.268) und W. Bousset durch die der Einheitlichkeit des Schreibens stimulierend gewirkt. Uber die vorsichtig abwägende Beurteilung von H. Windisch hinausgehend, wandte sich R. Bultmann der diesbezüglichen Auseinandersetzung in der .Religionsgeschichtlichen Schule' zu (Probleme; II Kor, 1951 in der Sache abgeschlossen). - Nachwirkend war weiter R. Bultmanns Herausarbeitung von Glossen im -»Römerbrief. - Für die literarkritische Beurteilung der -»Pastoralbriefe ist gelegentlich Bultmanns Vermutung von im II Tim verarbeiteten Paulusbrief-Fragmenten (RGG Z 4,994) aufgegriffen worden. 4.2. Zum gegenwärtigen
Stand (seit 1950)
4.2.1. Zur Synoptikerforschung. Die klassische Zweiquellentheorie (-»Evangelien, Synoptische; Schmithals, Einleitung) konnte im wesentlichen - da und dort leicht modifiziert—als bestbegründete Arbeitshypothese ihre Stellung behaupten. Sie wurde vor allem durch differenzierte Bearbeitung der Quelle „ Q " einerseits bereichert (s. T R E 10,620 ff; dazu Sato; Strecker/Schnelle; E. Schweizer 39ff); andererseits aber wurde durch die Annahme von Q"11 und Q lk die Quellenbenutzung komplizierter, wogegen unter anderem H. Frankemölle und J . Gnilka (111) bei gleichzeitiger Betonung der redaktionsgeschichtlich relevanten Arbeit der Evangelisten Bedenken erhoben. Daß auch der Markusstoff, möglicherweise ein Mk in verschiedenen Fassungen, (wieder) diskutiert wurde (z.B.
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Literarkritik II
Fuchs), war die Folge (dagegen kritisch Merkel: T h L Z 97,190ff). Die Annahme einer zu eruierenden Grundschrift im M k (Schmithals) hat sich nicht literarkritisch begründen lassen und unterliegt zudem schwerwiegender Fehleinschätzung formgeschichtlicher Arbeit. — Als Rückschritt muß die besonders im angelsächsischen Raum erfolgte Wiederbelebung der Benutzungshypothese von Griesbach angesehen werden (vgl. Tuckett). 4.2.2. Johanneische Schriften. Die „Literarkritik am J o h " ist besonders in Abgrenzung, Widerlegung, aber auch Weiterführung von Bultmanns Kommentar ein Brennpunkt der Diskussion geblieben (Smith; Schnackenburg I,32ff; 111,463f; IV,14ff; Becker, Evangelium 30ff.32ff; ders.: ThR 51,1 ff; Schnelle, Christologie 12ff; -»Johannesevangelium). Eine zurückhaltend literarkritisch-quellenkritische Position (Schnackenburg), eine sich als „Variante zur Mehrquellentheorie von Bultmann" verstehende und mit Bultmann literarkritische Fragen in ihrer vorauszusetzenden Hilfsfunktion für die Erarbeitung theologischer Aussagen aufnehmende (Becker 35 u. ö.) und eine sich deutlich von literarkritischen Vorentscheidungen trennende, traditionsgeschichtlich und redaktionsgeschichtlich arbeitende Konzeption (zuletzt Schnelle, Christologie; ders., Abschiedsreden) stehen im variantenreichen Widerstreit. Sind nach letzterer Forschungsrichtung „auch bei Johannes die Mittel einer begrenzten Literarkritik anwendbar" (Schnelle, Christologie 85), so ist diese Anwendbarkeit nicht auf Einzelperikopen hin zu verkürzen, sondern das literarkritische Sachanliegen im Vollzug der Eruierung von Tradition und Redaktion am vorliegenden Gesamtbestand des Evangeliums zu bedenken, da nur so redaktionsgeschichtlich am Joh ausgerichtete Konzeptionen zur Herausarbeitung des theologischen Profils dieses Evangeliums beitragen, was ebenso für die Näherbestimmung einer ,johanneischen Schule' wie für das heute wieder diskutierte Zueinander von einer Grundschrift/Grundevangelium zur Redaktion gilt (zuletzt Fortna 1 ff.205 ff). Sinnvolle quellenkritische und damit weitgefaßt literarkritische Arbeit am Joh ist auch weiterhin geboten. Für I Joh (-»Johannesbriefe) zeichnet sich gegenwärtig literarkritisch ein Konsens ab (Überblick: Kümmel, Einleitung 385 ff), teilweise verbunden mit der neuen Diskussion um I—III Joh und Joh (Strecker). Die literarische Einheitlichkeit des Schreibens bis 5,13 ist plausibel, während 5 , 1 4 - 2 1 als „Anhang" zu werten ist (Schunack llf.lOOff). Für die -»Apokalypse des Johannes orientiert M . Karrer über den literarkritisch relevanten und diese Phase ablösenden Forschungsstand im Hinblick auf das Gesamtwerk (24 ff). 4.2.3. Die Paulusbriefe. Breite literarkritische Erörterung erfuhren seit den 50er Jahren die Paulusbriefe, extensiv betrieben durch W. Schmithals und von Schenke/Fischer und anderen gefördert. Methodisch oftmals in Durchführung und Ergebnis umstritten, führte sie zu grundsätzlicher Methodendiskussion mit bis heute meist offenem Ausgang (Kümmel, Einleitung 225ff.238ff; Beier 190ff; E. Schweizer 55f). Weder die Annahme einer ursprünglichen Sammlung von sieben Paulusbriefen (vielfach bestritten: Trobisch) noch die erst nachzuweisende ineinanderwürfelnde Zusammensetzung von antiken Schriftstücken, noch die tatsächlich erfolgte Verlesung von Apostelbriefen im urchristlichen Gottesdienst (besser: in der Gemeindeversammlung) (I Thess 5,27; Kol 4,16) rechtfertigen schon von sich aus Briefkompositionen. Sie lassen darüber hinaus ohnehin die Verfahrensweise eines Redaktors ungeklärt und erlauben die Vermutung, daß nicht dieser, sondern Paulus selbst so verfahren habe. Die Entscheidung des einzelnen Forschers muß darum dem „Hypothesen-Charakter der literarkritischen und redaktionsgeschichtlichen Operationen" Rechnung tragen. Denn „jede solche Erklärung bleibt notwendigerweise so hypothetisch und subjektiv wie die andere" (Vielhauer 155). Als methodisch hilfreich hat sich die Erforschung von Einheitlichkeit und Ganzheitlichkeit eines paulinischen Briefes erwiesen (für den -»Philipperbrief: Mengel), und die altphilologische Invektivenforschung (Köster 90 ff.398 ff) läßt vor raschen Teilungshypothesen warnen. Gegenwärtig findet die methodisch konsequente Ablehnung von Teilungshypothesen bei Kümmel (Einleitung) ihre Weiterführung z. B. bei Beier. Teilweise wird wieder die Einheitlichkeit stärker betont: I Kor (z.B. Wolff; Merklein); Phil (z.B.
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Mengel; Lindemann; Schnelle, Wandlungen); I Thess (z.B. Holtz; Lindemann). Am umstrittensten bleibt II Kor (zuletzt Betz; Martin XXXVIII ff; Aejmelaeus; E. Schweizer 65 ff; für Einheitlichkeit zuletzt Wolff), während der - • Römerbrief auch von seiner Textgeschichte her - abgesehen von 16,25-27 - als einheitliches Schreiben zu werten ist. Im übrigen hat sich die Aufteilung des -»Galaterbriefes (O'Neill; Widmann) als methodisch ebenso willkürlich erwiesen wie W. Munro's Versuch, zentrale Abschnitte paulinischer Theologie als later Stratum herauszudestillieren (Merk: ThLZ 114), obwohl die berechtigte Frage bleibt, ob durch literarkritische Erwägungen die Frühgeschichte des Christentums erhellt werden kann. - Vielfach unbewältigt ist die literarkritische Bestimmung von Glossen (Aland; Lindemann; Hübner zu Eph 2). 5. Schluß Die Literarkritik in ihrer methodischen Relevanz und die Notwendigkeit ihrer Anwendung werden bei unterschiedlicher Einschätzung ihrer Hilfsfunktion für die exegetisch-theologische Arbeit in heutiger neutestamentlicher Wissenschaft nicht bestritten. Die anzustrebende methodische Eindeutigkeit ist ein Desiderat. Es dient der Sache, wenn stärker, als es meist geschieht, -»'Textkritik und Textgeschichte einbezogen werden, wenn der Wechselbezug von Literarkritik und Linguistik (z.B. Theobald; Egger; McKnight) bewußter gesehen und kritisch hinterfragt ausgewertet wird und der Bezug von „Literarkritik und Textkohärenz" „im Rahmen einer übergeordneten textwissenschaftlichen Analyse" eine methodisch durchdachte Kontrollfunktion erhält (Merklein 348 ff). Dies führt nicht - entgegen H. Schweizer 25 ff - zu einer Unterschätzung, sondern zu geschärfterem Blick für literarkritische Probleme. Es mag offenbleiben, ob dadurch die herkömmliche Literarkritik modifiziert oder - so richtiger - lediglich differenziert wird. Jedenfalls bleibt auch für die Exegese neutestamentlicher Zeugnisse - und der ihrer Umwelt - als weiter zu bedenkende Aufgabe, daß die Synchronie vor der Diachronie im Gesamtbereich interdisziplinärer historischer und literaturgeschichtlicher Wissenschaft konsensfähiger wird. Quellen Friedrich Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik u. Kritik, Landshut 1808. - Georg Lorenz Bauer, Entwurf einer Hermeneutik des AT u. NT, Leipzig 1799. - Siegmund Jacob Baumgarten, Unterricht v. Auslegung der hl. Sehr. f. seine Zuhörer ausgefertiget, Halle 1742. - Ferdinand Christian Baur, Die Einl. in das N T als theol. Wiss. Ihr Begriff u. ihre Aufgabe, ihr Entwicklungsgang u. ihr innerer Organismus: ThJb(T) 9 (1850) 463-566. - Leonhard Bertholdt, Hist.-krit. Einl. in sämmtl. kanonische u. apokryphische Sehr, des alten u. neuen Testaments, 6. Theil, Erlangen 1819. - Cassiodori Senatoris Institutiones, ed. from the Manuscripts by R.A.B. Mynors, Oxford 1937 2 1961, Nachdr. 1963. - Joanni Clerici (Le Clerc) Historia ecclesiastica duorum primorum saeculorum, Amsterdam 1716. - Karl August Credner, Einl. in das NT, I.II. Theil, Halle 1836. - Wilhelm Martin Leberecht De Wette, Lb. der hist.-krit. Einl. in die kanonischen Bücher des NT, Berlin 5 1848. - Johann Gottfried Eichhorn, Einl. in das NT, Leipzig, I 2 1820, III/l 1812. - Io. Augusti Ernesti Institutio Interpretis Novi Testamenti, Leipzig 1761 3 1775. - Johann Philipp Gabler, Dissertatio Critica de capitibus ultimis I X - X I I I posterioris epistolae Pauli ad Corinthios ab eadem haud separandis: ders., Opuscula academica, ed. Filii Theod. Aug. Gabler et Io. Godofr. Gabler, Ulm, II 1831,61-158. - Johann Jacob Griesbach, Synopsis Evangeliorum Matthaei, Marci et Lucae, Halle 1776. - Ders., Synopsis Evangeliorum Matthaei, Marci et Lucae una cum iis Joannis pericopis quae historiam Passionis et resurrectionis Jesu Christi complectuntur, Halle 1797. - Hugo Grotius, Annotationum in NT, Tomus secundus, Paris 1646. - Ders., Annotationum in NT, pars tertia ac ultima. Cui subiuneti sunt eiusdem auctoris libri Pro Veritate Religionis Christianae, ita digesti ut annotata suis quaeque Paragraphis sint subnexa, Paris 1650. - Ders., De Veritate Religionis Christianae ad virum amplissimum Hieronymum Bigonium advocatum regium in Summo auditorio Parisiensi. Editio novißima, in eiusdem Annotationes suis quaeque Paragraphis ad facilorum usum subjectae sunt, Paris 1650,109-136. - Ders., Annotationes in NT. Editio nova. Recensuit... Ch.E. de Windheim, Erlangen/Leipzig, I 1755, II/l 1756, II/2 1757. - Heinrich Carl Alexander Haenlein, Hb. der Einl. in die Sehr, des NT, Erlangen, I 1794, II/l 1794, II/2 1800. - Christoph August Heumann, Erklärung des NT. 7. Theil, in welchen die Epistel an die Rom. Christen betrachtet u. erläuten wird, Hannover 1755. - Helmut Merkel, Die Pluralität der Evangelien als theol. u. exegeti-
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233
Literatur und Religion I
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Otto Merk Literatur und Religion I. II. III. IV. V. VI.
Religionsgeschichtlich Judentum Alte Kirche Mittelalter Von der Reformation bis in die Gegenwart Praktisch-theologisch
240 261 268 280 294
I. Religionsgeschichtlich 1. Heiliges Wort (Urlaut) und heilige Schrift (Hieroglyphen) - Heilige Sprachen 2. Kanon und Deuterokanon 3. Frühe Typisierungen 4. Literatur und Kult 5. Religiöse Dichtung als Weiterführung der Tradition 5.1. Literatur im Dienste Gottes 6. Religiöse Indifferenz in der Literatur 7. „Sakrale" und „säkulare" Literatur (Literatur S. 238)
1. Heiliges Wort (Urlaut) und heilige Schrift (Hieroglyphen)
- Heilige
Sprachen
1.1. „Die Vermittlung von Religion und die Weitergabe von Informationen über Religion erfolgt immer auch durch Sprache, wenn auch nicht durch Sprache allein". Dieser ebenso programmatische wie zutreffende Satz Walter Burkerts (Griechische Religion, 1977 [RM 15], 27) gilt für alle Religionen, die ihre Überlieferungen fixiert bzw. kodifiziert haben. Unter welchen Kriterien allerdings Phänomene wie Offenbarungen, Visionen, Auditionen und Ekstasen bereits als eine Art „Ur-Literatur" bezeichnet werden können, bleibt umstritten, und numinose Urlaute wie Om, Hunt oder Hü (und auch die vokalreichen Laute der griechischen Tragödienchöre) lassen sich in ihrer magisch-meditativen Archetypik allenfalls als „Göttersprache" deuten, die sich jeglicher literarischen Aufbereitung entzieht. Von der „aufgeschriebenen", nicht von einer „mündlich überlieferten Literatur" (LA 3,1067) hängt das Schicksal von Kulturreligionen ab. Entstehen und Vergehen vieler neureligiöser Bewegungen der Gegenwart (-»Neue Religionen) - besonders in der neueren japanischen Religionsgeschichte - bieten dafür Beispiele: Die Logien der Religionsstifter, der -»Mythos und der -»Ritus, bedürfen der Kanonisierung, wenn sie Bestand haben und das Überleben der betreffenden Religion sichern sollen. Das geschriebene Wort ist auch das verewigte Wort. 1.2. Heilige Sprachen. Diesem Anspruch werden z.B. die Hieroglyphen gerecht, die als „sinnträchtige Zeichen einer Metasprache" (Erik Hornung, Der Eine und die Vielen, Darmstadt 1971, 113) gelten können und als solche Metaphern des Geheimnisses der Götter und deren Symbole sind. In den ägyptischen Hieroglyphen, aber auch in der altmexikanischen Ikonographie, in der Symbolik der chinesischen Schriftzeichen und in den germanischen Runen wird zum ersten Male „das Sprechen künstlerisch geformt" (vgl. H . Brunner, Grundzüge 9). Das ist die Geburtsstunde der Literatur in der Religionsgeschichte. Dem heiligen Wort entspricht eine heilige Sprache. In ihr haben sich die Offenbarungen der Götter und die Logien der Stifter und Stifterinnen inkarniert (so besonders eindrucksvoll im Granth, der heiligen Schrift der Sikhs); in ihr geben die Priester Antwort auf die großen Fragen von Leben und Tod. So wurde das Sumerische zur heiligen Sprache und blieb es auch, nachdem die Assyrer das Land erobert hatten; ja, die Eroberer übernahmen sogar die Hymnen, Gebete und Psalmen (so auch das Gilgames-Epos) von den sumerischen Priestern und dichteten Neues hinzu, so daß das Sumerische schließlich einen ähnlich sakralen Rang einnahm wie das Kirchenlatein und das Kirchenslawisch.
234
Literatur und Religion I
Das eindrucksvollste Beispiel einer noch lebendigen Sakralsprache ist das Sanskrit (von samskrta = vollkommen, vervollkommnet), die heilige Sprache Altindiens, die — wie A. C. Yu (EncRel 8,559) sagt - geradezu „in den Veden eingeschreint" ist und als das Vedische schlechthin gelten kann. Der Grammatiker Pänini (4. Jh. vor Chr.) hat es zur Kult- und damit zugleich zur Literatursprache erhoben. Es ist die Sprache in ihrer göttlichen Dignität, die als sruti, als Offenbarung (wörtlich: „das, was man im sakramentalen Zustand vernommen hat") verehrt wird. Die Veden sind durch sie inspiriert; ihre Rezitation muß daher wortwörtlich, „vollkommen" geschehen. Auch das Arabisch des Qur'än, wiewohl es Umgangssprache der islamischen Ursprungsländer blieb, wurde in den Missionsgebieten des Islam zu einer Sakralsprache, die z.T. nur der Rezitation vorbehalten ist. Erst die AhmadTya-Bewegung hat dieses Tabu durchbrochen und rezitiert den Qur'än auch in den jeweiligen Landessprachen. 2. Kanon und
Deuterokanon
Die Heiligkeit ist Kriterium für die Kanonizität schriftlich fixierter religiöser Traditionen, die aus Logien, Hymnen, Ritualtexten, Lehrschriften oder mythischem Material hervorgegangen und schließlich in einer autorisierten Sammlung heiliger Bücher, dem Kanon, zum Abschluß gekommen sind. Für den Inhalt eines Kanons sind die Veden beispielhaft: Kgveda, die Sammlung priesterlicher Hymnen, Yajurveda, die Darstellung der Riten und Mantras, Sämaveda, die Gesänge, und der Atharvaveda, welcher Zaubersprüche und anderes apotropäisches Material enthält, bilden zusammen ein Corpus aus Literaturen unterschiedlichen Alters, das Antworten auf vielfältige religiöse Fragestellungen gibt. Der eigentliche Vorgang der Kanonisierung läßt sich z.B. bei der Entstehung der chinesischen Fünf Klassiker (Wu-king), nämlich Yi-king (Das Buch der Wandlungen, 7 . - 2 . Jh. v. Chr.), Shu-king (Das Buch der historischen Dokumente), Shi-king (Das Buch der Lieder, 1 0 0 0 - 6 0 0 v.Chr.), Li-ki (Ritenaufzeichnungen, 3 . - 1 . J h . v.Chr.) und Ch'ung-ts'iu (Frühling und Herbst, 2. Jh. v. Chr.), und noch deutlicher bei der Entstehung des buddhistischen Päli Kanons, dem Tipitaka, beobachten, der aus dem Vinaya-Pitaka (Korb der Ordnung), dem Sutta-Pitaka (Korb der Lehrvorträge) und dem Abhidhamma-Pitaka (Korb der höheren Lehre) besteht. Neben dem kanonischen Schrifttum steht die „Tradition" (Sanskr. smrti), eine Art Fortsetzung und Ergänzung des Kanon, wie es in der vedischen Literatur durch die Angliederung der Brähmanas, der Äranyakas und schließlich der Upanishads (6. Jh.) geschehen ist, oder eine Art Appendix mit z. T. volkstümlichen Kommentaren, die sich im Laufe der Religionsgeschichte um den eigentlichen Kanon bzw. die Stifterworte gerankt haben und nun einen „Deuterokanon" bilden. Dergleichen Sekundärliteratur haben wir im buddhistischen Milindapanha vor uns, einem Dialog zwischen dem Griechenkönig Menandros und dem Mönch Nägasena über ontologische Probleme, oder in Teilen des Jätaka, das Geschichten aus früheren Existenzen des Buddha enthält. Im tibetisch-mongolischen Buddhismus sind die kanonischen und die deuterokanonischen Bücher deutlich voneinander als Kanjur ( = das übersetzte Wort [des Buddha]) und Tanjur ( = die übersetzte Lehre) gekennzeichnet. Ein Beispiel für die Sammlung deuterokanonischen Materials haben wir aber vor allem in den HadTtsammlungen des Islam vor uns. Bei den HadTten handelt es sich um biographische Notizen, Nachrichten über Taten und Aussprüche des Propheten und Anekdoten, die sich um Muhammad ranken, sowie um dogmatische und juristische Mitteilungen, die in der sog. STra chronologisch geordnet sind und sich neben dem Qur'än äußerster Wertschätzung erfreuen. Der Vorgang einer solchen Deuterokanonisierung des religiösen Schrifttums läßt sich gegenwärtig noch an einigen japanischen Neureligionen beobachten, z.B. an der Tenrikyö und der Omotokyö, die im 19. Jh. entstanden sind und deren Kanon (Ofudesaki) ständig durch Worte und Weisungen der jeweiligen Patriarchen ergänzt wird. Die Hochschätzung, die man dieser Sekundärliteratur entgegenbringt, unterscheidet sich in der Regel nicht von der Ehrfurcht gegenüber den authentischen Offenbarungszeugnissen der Stifter und Stifterinnen.
Literatur und Religion I 3. Frühe
235
Typisierungen
Die Strukturen des Heiligen durchziehen auch die literarischen Formen und Gattungen der religiösen Texte. Metrik, Stile und bestimmte Formelemente führten zur Entstehung von Sprüchen und Liedern. Es entstand die religiöse Epik und Lyrik. Bereits in der altägyptischen Literatur, die noch „ a n o n y m " war, lassen sich bestimmte Gattungen - wie Hymnen, Prophezeiungen, Klagelieder, Liebeslieder, Lebenslehren und eine reiche Weisheitsliteratur - feststellen, für die sich je eigene Sprachtypen (Wortspiele, bildliche Ausdrücke, Doppelungen, der Parallelismus membrorum usw.) herausgebildet haben. Auf die Entwicklung von Literaturgattungen hat natürlich die Art der Tradierung eingewirkt: O b es sich um die Hieroglyphen an den Tempelwänden handelt, die Pyramidentexte, das Totenbuch, das literarische Werk Imhoteps, dieses ersten Ägypters, der Texte niedergeschrieben hat, oder die Lehre des Ptahhotep (ca. 2350 -2310), die mehr als zweitausend Jahre lang in den Schulen gelehrt und gelernt wurde, - ob die Lebenslehren durch fahrende Sänger verbreitet wurden, — meistens waren es die jeweiligen politischen Zustände oder die biographischen Verhältnisse des Autors, die sich auf die literarische Arbeit auswirkten (Gespräch eines Lebensmüden mit seinem Ba-, Lehre für König Merikare). 4. Literatur und Kult Wenn auch die griechische Religion keine heiligen Texte hervorgebracht hat und ihre Rituale und Liturgien nirgends in einer heiligen Schrift kodifiziert wurden, so sind uns doch die wichtigsten religiösen Zeugnisse als literarische Kultur erhalten: Dichter schufen zu den Götterfesten jeweils neue Lieder; „fast die gesamte archaische Chorlyrik ist Kultlyrik" (Burkcrt, a. a. O. 27). Alle großen Themen im Himmel und auf Erden aber sind in der Theogonie des Hesiod oder in den 28000 Hexameter umfassenden Epen llias und Odyssee des Homer enthalten. „ H o m e r und Hesiod sind es, die den Griechen eine Genealogie der Götter geschaffen haben, den Göttern ihre Beinamen gegeben, ihre Ehren und Zuständigkeiten eingeteilt und ihre Gestalt geprägt h a b e n " (Herodot, Historiae 2,53). Das Verhältnis zwischen Göttern und Menschen, die Problematik von Schuld und Tod, wie sie in archaischer Zeit im Mythos erzählt wurde, erfährt schließlich in der antiken Tragödie (-»Tragik/Tragödie) ihre Fortsetzung: Bei Sophokles ist es der einzelne, der in tragisch-schuldhaften Gegensatz zu den Götterordnungen gerät, bei Euripides k o m m t es zum Konflikt der Menschen untereinander und zur Klage über die Weltordnung. Das heilige Drama hat - wie die Homerischen Hymnen - seinen Ursprung im Kult; es ist im Mythos und im Ritus beheimatet und setzt fort, was dort angelegt ist. 5. Religiöse Dichtung
als Weiterführung
der
Tradition
Das führt uns schließlich zu der Frage, inwieweit sich überhaupt literarische Zeugnisse, die innerhalb eines religiösen Systems entstanden sind, nach Kriterien wie „heilig" und „profan", „sakral" und „säkular" beurteilen lassen. Was Jan Rypka für den iranischen Bereich feststellen kann, gilt im Grunde für alle kulturellen und literarischen Zeugnisse des Altertums und des Mittelalters: Immer schloß die Religion „auch die autoritative Begründung des Rechts . . . , der öffentlichen Moral, der Kultur und der wirtschaftlichen Ordnungen in sich" (Iranische Literaturgesch. 3). Das heißt aber auch: Die Autorität der Religion bleibt unbestritten und wirkt sich konstitutiv auf -»Kultur und Literatur aus. Ein Beispiel dafür ist die traditionsgebundene Literaturgeschichte Indiens. Auf indischem Boden hat sich nicht nur eine außerordentlich bedeutsame Sanskritliteratur entwickelt, wie sie uns im 100000 strophigen Mahäbhärata-Epos („der fünfte Veda"), das im 6. Buch die Bhagavadgtta enthält, und in dem bei allen Hindus so beliebten volkstümlichen Rämäyana des VälmTki überliefert ist, sondern dort ist auch eine reiche „einheimische" Literatur in Hindi, Bengali und in den dravidischen Sprachen entstanden. Die bhakti-Literatur bzw. die Rämachandra- und
236
Literatur und Religion I
Krsna-Literatur, deren Hauptvertreter Tulsl Das (1532-1623) die Liebe zu Räma preist, und die Maräthi-Mystiker N i m Dev (1270-1350), Caitanya (1485-1533) und Tukäräm (1608-1649), die die Liebe zu Krsna besingen, sowie die großen sivaitischen Hymnendichter tamilischer Sprache, wie Mänikkaväsagar (9. Jh.) und Täyumänavar (1705-1742), legen Zeugnis davon ab, daß die heiligen Schriften Indiens immer wieder neue Interpreten fanden und - um nur den Namen Sri Aurobindo (1872-1950) zu nennen — auch immer wieder neue Initiatoren. Zudem erfuhren die schriftunkundigen Gläubigen durch Lieder und Gesänge und die im gesamten hinduistischen Kulturraum so beliebten -»Mysterienspiele, daß ihre Götter lebendig sind. In der Neuzeit ist es vor allem der Neohinduist Rablndranäth T h ä k u r (Tagore 1861-1941) gewesen, der - wie sein Hindi schreibender Zeitgenosse Prem Chand (1880-1936) - die altindische Kultur- und Gesellschaftsordnung sozialkritisch hinterfragte und sie zugleich westlichem Gedankengut öffnete.
5.1. Literatur im Dienste Gottes. Wie eindeutig die Literatur eines ganzen Kulturkreises der Religion verpflichtet ist und darum am Kanon gemessen werden muß, läßt sich an der islamischen Dichtung deutlich machen. Schon die Einteilung in „Dichter der Heidenzeit" (gahilTya) und „Dichter des Islam" läßt eine bestimmte Klassifizierung erkennen. In der Tat hat die „Reimprosa" des Qur'än seit der 2. Hälfte des 8. Jh. die ädäb, die „Schönen Künste", hervorgebracht, die sich in der Abbassidenzeit zu einer bedeutenden Literaturgattung entwickelten und geradezu synonym mit dem Begriff „Literatur" gebraucht wurden. In den Akademien von Basra, Kufa, Bagdad und Kairo (gegründet 972) wurden nicht nur Kommentare zum Qur'än und zu Rechtsfragen verfaßt, sondern auch die literarischen Arbeiten der Vergangenheit in Diwanen und Anthologien gesammelt und kommentiert. In der Zeit des Mongolensturms (13. Jh.) stagnierten die schöpferischen Leistungen, und man beschränkte sich auf Imitationen und Interpretationen der arabisch-islamischen Klassiker. Häufig trat in dieser Zeit die enzyklopädische Arbeit an die Stelle von Neuschöpfungen. Der Bezug zum Ursprung wurde aber nirgends verlassen, auch wenn man zuweilen den Eindruck hat, daß beispielsweise die Süfis Qur'än und HadTt nur als Folie für ihre Botschaft von der Unio Mystica benutzten. Es gibt jedoch „kaum einen Vers in der Dichtung der größten Meister persischer, türkischer oder Urdu-Dichtung, der nicht in irgendeiner Weise den religiösen Hintergrund der islamischen Kultur widerspiegelt" (Schimmel, Mystische Dimensionen 408 f). Alle Dichtung steht im Dienste Allahs oder geschieht zur Ehre des Propheten. So überträgt etwa die persische Lyrik theologische Grundgedanken, manchmal sogar zentrale Qur'änverse in ästhetisch-mystische Symbole. „Damit öffnet die Dichtung fast unbegrenzte Möglichkeiten für neue Verbindungen zwischen weltlichen und himmlischen Bildern, zwischen religiösen und profanen Gedanken. Der . . . Dichter kann ein vollkommenes Zusammenspiel beider Ebenen erreichen und auch dem profansten Gedicht einen ausgesprochen religiösen Ton geben" (Schimmel, ebd.). Eine solche Synthese bereicherte die islamische Literatur außerordentlich.
Der in Urdu schreibende PangabI Muhammad Iqbäl (1877-1938) bediente sich dazu der westlichen Lebensphilosophie, um den Islam als eine sich ständig weiterentwickelnde Größe darzustellen. Gegen die orthodoxen Reformer behauptete er, daß Gott und Welt sich nicht als zwei voneinander getrennte Wesenheiten gegenüberstehen, sondern aufeinander bezogen sind. Der Mensch ist Mitschöpfer Gottes, und als solcher beschreitet er den Weg der Vereinigung mit Gott. In seiner Botschaft des Ostens (übers, v. A. Schimmel, Tübingen 1977) fordert er die Menschen im Orient und Okzident dazu auf, sich ihrer Teilhaberschaft am Weltprozeß bewußt zu werden und damit die Unio Mystica zu vollziehen.
Der -»Islam ist - abgesehen von den unterschiedlichen theologischen Richtungen ein geschlossenes System, das alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens umfaßt. Innerhalb dieses Systems konnte es keine Aufteilung in eine religiöse und eine weltliche Sphäre geben. Unterscheidungsmerkmale wie „heilig" und „profan" oder gar „sakral" und „säkular" sind daher auf die im islamischen Kulturkreis entstandene und von Musli-
Literatur und Religion I
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men verantwortete Literatur nicht anwendbar. Das erklärt möglicherweise auch, warum hier bisher eine eigentlich „atheistische Literatur" nicht entstehen konnte. In diesem Sinne sind selbst die so heiß umstrittenen und indizierten Satanischen Verse des Salman Rushdie (deutsch im Artikel 19 Verlag, 1989) nur eine einzige Klage über die Leere und den abwesenden Gott, der „nie auftaucht", „während wir in seinem Namen leiden und dulden" (a. a. 0 . 1 1 7 ; vgl. 39). Hier scheint selbst die Gottlosigkeit bzw. die „Gotteslästerung" nur ein literarisches Stilmittel zu sein, um der Theodizeefrage einen alternativen Akzent zu geben.
6. Religiöse Indifferenz in der
Literatur
Ganz anders liegen die Verhältnisse in der chinesischen Literatur, die den konfuzianischen Kanon nicht als Offenbarungsquelle verstand, sondern ihn nur im Sinne ethischer und ritueller Anweisungen tradiert hat. Darum kommt es mit T'ao Ts'ien (365 -427) und besonders in der Sung-Zeit (10.-13. Jh.) zu einer Blütezeit der Belletristik, einer reichen Novellen- und Roman-Literatur und Lyrik und bald darauf (in der Mongolenzeit, 13.-14. Jh.) zur Entstehung des chinesischen Dramas, dessen Thematik mythologische Themen mit moralischer Tendenz verknüpft. Dennoch wird man die Ausgangsposition der modernen chinesischen Literatur nicht für die Entstehung des - a-religiösen - „sozialistischen Realismus" in der Volksrepublik verantwortlich machen dürfen, sondern allenfalls für eine religiöse Indifferenz, die der synkretistischen Grundhaltung chinesischer Religiosität entspricht. 7. „Sakrale"
und „säkulare"
Literatur
Dagegen hat die japanische Literaturgeschichte - offenbar wegen des hohen Anteils an (shintöistischer) Naturfrömmigkeit einerseits und buddhistischer Leidensfähigkeit andererseits - religiöse Phänomene durchaus integriert. Weniger das Kojiki oder das Nihongi, diese erste japanische Reichsgeschichte und die Annalen von 720, haben dabei im Sinne eines Kanons stimulierend auf die Literatur gewirkt, als vielmehr die Norito, die Ritualgebete, welche von Priesterfamilien rezitiert wurden und aus dem Anfang des 10. Jh. im Engishiki überliefert sind; ebenso die Monogatari, die Sagen und Erzählungen, aus denen sich seit der Heian-Zeit die hauptsächlich von Frauen geschriebenen „Essays" (zuihitsu) entwikkelten. Unter westlichem Einfluß, aber unter Beibehaltung typisch japanischer Themen und Sinnfragen entstand nach 1868 die Romanliteratur, die in Kawabata Yasunari (Nobelpreisträger von 1968) und Kikuchi Kan (1888-1948) ihre bedeutendsten Vertreter fand.
Anders auch als in der chinesischen Kulturgeschichte ist die Entwicklung des japanischen Dramas und Theaters verlaufen: Beides entwickelte sich unter dem Einfluß buddhistischer Priester im 14. Jh. und fand mit den Götter- und Kultdarstellungen als No Eingang in die oberen Schichten, als Kabuki mit seinen Alltagsproblemen Eingang in die breiten Volksschichten. Die eigentlich religiösen Themen kommen aber in der Lyrik Japans (Nagauta [Langgedicht], Tanka oder Waka [Kurzgedicht], Renga [Kettengedicht]), die in der Zehntausend Blätter-Sammlung, dem Manyoshu, zum ersten Male zusammengefaßt wurde (750-800), vor allem jedoch in den unzähligen Haiku oder Hokku mit ihren 5 : 7 : 5 Silben zur Sprache. Matsuo Basho (gest. 1784), Kobayashi Issa (gest. 1826) und viele andere Lyriker handhabten das Haiku meisterhaft und verliehen ihm eine tiefe Religiosität, indem sie sowohl die kosmische Dimension als auch den Kreislauf von Werden und Vergehen zu wenigen knappen Silben vereinten. Diese vom Zenbuddhismus beeinflußten Kurzgedichte erfreuen sich in der japanischen Bevölkerung auch heute einer großen Beliebtheit. Und es gehört zu den lebendigen Zeugnissen dieser Kultur, daß auch der moderne „säkularisierte" Japaner, der seinen religiösen Gefühlen Ausdruck verleihen oder Unausgesprochenes zur Sprache bringen möchte, immer wieder diese Stilform wählt. Damit bestätigt sich einmal mehr, daß religiöse Strukturen selbst dann noch fortbestehen und in die Literatur Eingang finden, wenn kein unmittelbarer Zusammenhang mehr
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Literatur und Religion I
zwischen der originären Schriftquelle einer Religion, dem Kanon nämlich, und späteren literarischen Zeugnissen gegeben sein sollte. Das aber bedeutet, daß es keine geeigneten Kriterien dafür gibt, die uns berechtigen könnten, eine Literatur, welche vor einem religiösen Hintergrund entstanden ist und sich auf diesen beruft, als „sakral", hingegen eine Literatur, die diesen Hintergrund bewußt oder unbewußt leugnet, als „säkular" einzustufen. Beides ist nicht voneinander zu trennen. Literatur Allgemein: Erich Auerbach, Literary Language and Its Public in Late Latin Antiquity and in the Middle Ages, London/New York 1965. - Robert H. Ayers/William T. Blackstone (Hg.), Religious Language and Knowledge, Athens/Georgia 1972. - Joseph Campbell, The Masks of God, 3 Bde., London 1973-1974.—J. Chaine/RenéGrousset, Littérature religieuse. Histoire. Textes choisis, Paris 1949. - Mircea Eliade, Gesch. der rel. Ideen, 4 Bde. u. ein Bd. 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Peter Gerlitz II. Judentum 1. Anfänge im Zeitalter des Hellenismus 1.1. Herausforderungen im 2. J h . v. Chr. 1.2. Neue Torot 1.3. Nachbiblisches Bewußtsein 1.4. Die Bibel: Referenz für neue Identität 2. Literaturbildende Auswirkungen der rabbinischen Reform 2.1. Wertung der Hebräischen Bibel 2.2. Die mündliche Tora als Distinktivum 2.3. Liturgie 2.4. Halakha/Haggada 2.5. Esoterik 2.6. Übersicht 3. Weiterführungen vom Mittelalter bis zur Moderne 3.1. Die zu gestaltende Vielfalt 3.2. Poseqim 3.3. Parschanim 3.4. Philosophisch-theologische Literatur 3.5. Kabbalistische und chasidische Literatur 3.6. Jiddische Literatur 3.7. Abschließende Bemerkungen (Quellen/Literatur S. 258) Die jüdische Religion war zu allen Zeiten Literatur produzierend. Unter Literatur wird hier jede schriftlich vorliegende, vom Kontext der jüdischen Religion her verstehbare Äußerung in nachbiblischer Zeit verstanden. Es geht um halakhisches, liturgisches, haggadisches, mystisch-esoterisches, ethisch-erbauliches, die Bibel übersetzendes und kommentierendes, apologetisches, polemisches und philosophisch-theologisches Schrifttum. Die Unverwechselbarkeit ergibt sich vor allem daraus, daß die „Weisung" der Religion, die Tora, nicht nur in einer zeitfernen Offenbarungsschrift gesucht und gedeutet wird, sondern auch im praktizierten und damit als praktikabel ausgewiesenen jüdischen Leben jeder Epoche. Die religiöse Literatur ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, gemeindebezogen und damit jüdisch-partikularistisch. Die vorliegende Untersuchung will keine Geschichte der jüdischen Religion und keine umfassende Geschichte der jüdischen Literatur sein (dazu: Maier, Religion; Stemberger, Literatur; Dexinger: T R E 1 3 , 3 3 1 - 3 7 7 ) . In ihr werden auch nicht Fragen nach dem literarischen Rang der jüdisch-religiösen Schriften aufgeworfen. Z . B. die bisweilen erörterte Frage, ob das als mündliche Tora bezeichnete rabbinische Schrifttum überhaupt als Literatur bezeichnet werden kann, wird beiseite gelassen. Dieses bestehe - so die Bestreiter - nur aus Widerspiegelungen von der Hebräischen Bibel her und sei außerdem nur kompiliert, nicht einheitlich und zielgerichtet verfaßt. Solchen Einwänden gegenüber wird ohne eigene Beweisgänge der Auffassung zugestimmt, daß auch die mündliche Tora ihre literarischen und inhaltlichen Eigenständigkeiten besitzt und daher als Literatur bezeichnet werden kann.
Es geht hier um einen theologiegeschichtlichen Überblick über das nachbiblische religiöse Schrifttum des Judentums. Die originalen Impulse der jüdischen Religion für das Werden und Wachsen dieser Literatur sollen aufgezeigt und beurteilt werden. Historisch-literarische Befunde sollen unter historischen und theologischen Rücksichten gese-
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hen werden. Dies kann angesichts des ungeheuren Ausmaßes und der ebenso erstaunlichen inhaltlichen Tiefe und formalen Breite der religiösen jüdischen Literatur nur in einigen Hauptpunkten geschehen. Aber lohnend ist ein theologiegeschichtlicher Durchblick allemal. Einerseits waren jüdische Lehrer und Schriftsteller immer wieder willens, die biblische Offenbarung aus Rücksicht auf anstehende Gegenwartsnöte umzudeuten und anzupassen, damit die Mehrheit der Juden diese im Licht ihrer religiösen Traditionen ertragen konnte (nach bBB 60b). Immer aber, wenn Um- und Neudeutungen mit vollem Anspruch auftraten, meldeten sich Opponenten zu Wort, die zur Rückkehr zum Ursprünglichen, zur Abkehr vom Zeitgeist und zur Absonderung von den Nichtjuden aufriefen.
Eine theologiegeschichtliche Untersuchung hat die in der jüdischen Literatur herrschende Dialektik zwischen Anpassung und Distanznahme zu beobachten, zu ergründen und zu werten. Sie muß auch in der Lage sein, nicht vorschnell jüdische Polemik gegen Christentum oder Islam zu vermuten. Die innerjüdische Polemik war in den jüdischen literarischen Bemühungen meist stärker und ausgeprägter als die Polemik nach außen. Es ist im Verlaufe dieser Arbeit darzulegen, wie die Ausgangslage für die religiöse jüdische Literatur zur Zeit des ungefähren Abschlusses des biblischen Kanons (bes. im 2. Jh. v.) war und welche literarisch-religiösen Impulse das rabbinische Judentum zu vermitteln vermochte. Auf dieser frühjüdischen und rabbinischen Grundlage kann weiter nach den einzelnen Sparten der jüdischen Literatur gefragt werden: nach dem halakhischen Schrifttum, nach biblischen Ubersetzungen und Kommentaren, nach philosophisch-theoIogischen Werken, nach esoterisch-mystischen Schriften und nach der jiddischen Literatur. 1. Anfänge im Zeitalter des
Hellenismus
1.1. Herausforderungen im 2. Jh. v. Chr. Seit dem Siegeszug Alexanders des Großen in den Orient und damit auch nach Jerusalem (332 v.) war die jüdische Welt eine andere geworden. Die interpretatio graeca orientalischer religiöser Traditionen - auch der jüdischen — war zum großen Losungswort geworden. Die Juden konnten sich diesem Trend nicht entziehen. Je stärker sie aber von ihm fasziniert waren, desto schwieriger wurde das Verständnis und die Observanz der eigenen Tradition. Der griechische Trend blieb aber nicht eine Modeerscheinung, sondern wuchs sich aus zur machtpolitischen Konfrontation zwischen heidnisch-hellenistischer Weltmacht und Judentum und zu unerbittlichen innerjüdischen Streitigkeiten, so daß von der „hellenistischen Krise" zu sprechen ist. M a n versteht darunter die gewaltsame Hellenisierung Jerusalems und Judäas während der Regierungszeit des Seleukiden Antiochos IV. Epiphanes (175-164 v.) und die sich fast unmittelbar daran anschließende Zeit der „hasmonäischen Usurpation", in der sich die jüdische Herrscherfamilie der Hasmonäer, ihren antihellenistisch-antiseleukidischen Ursprung vergessend, das herrscherlich-hohepriesterliche Doppelamt in Personalunion anmaßte und zur Hauptförderin der hellenistischen Lebensart wurde. Die akute Krisenzeit endete mit dem Tod des Hohenpriester-Königs Alexander Jannai (103 - 7 6 v.) und dem Regierungsantritt seiner Witwe Salome Alexandra ( 7 6 - 6 7 v.). Die hundert Jahre von ca. 175 bis ca. 75 v. waren für die Juden gekennzeichnet durch Tempelfrevel und -entweihungen (Dan 9,25 - 2 7 ) , durch den Zwang, nach griechischer Art leben zu müssen (II M a k k 6,8.24), und durch schwere Auseinandersetzungen wegen der Amtsanmaßung der Hasmonäer ( l Q p H a b : Ant 13,290-299). Wohl noch tiefer als diese gesellschaftlich-religiösen Nöte griffen Krisenphänomene im Zusammenhang mit der Überlieferung und Weitertradierung der heiligen Schriften Platz. Nachdem die prophetischen Schriften des Alten Testaments im 4./3. Jh. v. zunehmend durch redaktionelle Fortschreibungen und Anhänge ausgeweitet und im 3./2. Jh. v. erzählende und weisheitliche Partien der Bibel von apokalyptischen Deutungen überlagert worden waren, wurde weithin das Bewußtsein wach, daß die Zeit vorbei war, da neue Schriften kanonische Geltung erhalten könnten. Wohl alle frühjüdischen Gruppen
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empfanden zur Zeit des Aufkommens dieser Erkenntnis (im 3./2. Jh. v.) das ihnen vorliegende biblische Schrifttum aus Tora, Propheten und Hagiographen einerseits als unentbehrliches, das Volk zusammenbindendes Gut, andererseits aber auch als unausgedeutet und in der Gefahr, in die Zeitfremdheit abzusinken. Damals wurde man besonders schmerzlich auf die „gaps" (Lücken) und „blanks" (Leerstellen) aufmerksam, von denen das schriftliche Offenbarungsgut durchzogen war (Thoma/Wyschogrod). Zwei sich teilweise überschneidende Wege wurden nun gewählt, um die heilige Literatur einer neuen, von schweren Krisen geschüttelten Generation erneut nahezubringen. 1.2. Neue Torot. Um 190/180 v. enthüllte der priesterliche, geistig-religiös ganz im traditionellen Jerusalem beheimatete Schriftgelehrte Ben Sira, aus welchen Motiven heraus er seine religiöse Schriftstellerei betreibe. Im Anschluß an seinen großen Weisheitshymnus schrieb er: „Ich selbst war wie ein Kanal vom Strom, wie eine Bewässerungszuleitung zum Garten. Ich sagte: Ich will meinen Garten tränken und mein Beet bewässern. Da wurde mein Kanal zum Strom und mein Strom zum Meer. Und auch jetzt will ich wie eine Morgenröte Unterweisung ausstrahlen - weit bis in die Ferne! Meine Lehre will ich in Zukunft wie eine Prophetie ausgießen. Ich will sie allen Geschlechtern dauernd hinterlassen. Seht also, daß ich mich nicht nur für mich allein abgemüht habe, sondern für alle, die Weisheit suchen" (Sir 2 4 , 3 0 - 3 4 ) .
Ben Sira betrieb also zunächst für sich Toraforschung. Er wollte Weisheit und Einsicht aus der Tora gewinnen. Unversehens aber wurde das Ergebnis seines Torastudiums zur Tora für andere. Ben Sira zitierte in seinem Werk die ihm vorliegende Bibel nirgends wörtlich in ganzen Sätzen. Er versah es aber mit Anspielungen auf die Tora, mit Zusammenfassungen und Neuinterpretationen. Er hielt sich für einen vom Geist Gottes getragenen Neuinterpreten der Offenbarung. Dies wird auch aus Sir 3 3 , 1 6 - 1 9 deutlich: „Ich bin als letzter wachsam gewesen. Ich war wie einer, der Nachlese hält unter den Winzern. Durch Gottes Segen bin ich an die Spitze gekommen. Wie ein Winzer habe ich die Kelter gefüllt. Beachtet, daß ich mich nicht für mich allein abgemüht habe, sondern für alle, die Unterweisung suchen. Hört auf mich, ihr Fürsten des Volkes, und ihr Vorsteher der Gemeinden merkt auf!"
Ben Sira betrachtet sich hier als letzten Propheten (so auch 24,33). Gegenüber seinen Adressaten hat er einen hohen Anspruch: Sein Werk sei ähnlich verpflichtend wie die Tora! Ben Sira ist als Toraaktualisierer selbst Verfasser einer Tora. Er steht damit in der langen Tradition jerusalemischer Priestergruppen und Traditionskundiger, die seit Davids Zeiten für die jeder Generation angepaßte Auffüllung und Auffrischung überkommener gesetzlicher, prophetischer, geschichtlicher und weisheitlicher Schriften gesorgt hatten. Wie Michael Fishbane (Biblical Interpretation) gezeigt hat, waren (vor allem priesterliche) Schriftgelehrte nicht erst seit —>Esra/—»Nehemia, sondern schon lange vor dem babylonischen Exil in einer pivotal Position (24), von der aus sie überkommenes Textmaterial in jeder Generation überarbeiteten (reworking, contemporisation). Israel konnte vor allem deswegen seinen großen Lauf in die Geschichte antreten, weil es sich im Besitz von transformative revelations (veränderungsfähige, auf Umdeutung angelegte Offenbarungen) wußte (18). Das Bewußtsein der Offenheit biblischer Traditionsstücke auf Neudeutung hin muß bei Ben Sira in starkem Maße vorhanden gewesen sein; andernfalls wäre sein hoher Selbstanspruch nicht möglich gewesen. Das Wort Tora (plur. Torot) ist etwa im Sinne von Ps 119 und Jes 2,3 als Sammelbegriff für alle biblischen Weisungen und Verheißungen gebraucht. Ben Sira ist der klassische Fall eines Konservativen, der die Möglichkeit, daß der Kanon heiliger Schriften an sein Ende gekommen sein könnte, beiseite schob und das Werk der Aktualisierung der Tora unbeirrt weiter betrieb. Daß diese Haltung auch literaturproduzierend war, kann man auch in andern frühjüdischen Schriften sehen, deren Verfasser in der hellenistischen Notzeit ebenfalls jerusalemzentriert dachten: die apokalyptischen Passagen des -»Danielbuches (bes. Dan 7 / 8 - 1 2 ) , die Schafsapokalypse (äthHen 8 3 - 9 0 ) , Tobit, Judit, I u. II Makk. Dan 7/8—12 und äthHen 8 3 - 9 0 verdanken jedoch ihr Entstehen im Unterschied zu Sir und I und II Makk einer starken Verschiebung des Denkens. Zwar ist die Jerusalemer Tradition mit ihrem Kult immer noch ein zentraler Anknüpfungspunkt. Noch wichtiger
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wird aber das Hoffen auf (und das Erschrecken vor) eine(r) absolute(n), von Gott bereitet e ^ ) Zukunft. Damit bilden diese und andere apokalyptische Stücke (z.B. AssMos) den Übergang zu jerusalemkritischen, ja -feindlichen Literaturen, deren Torot nicht in Anpassung, sondern in Diskordanz zu den bisherigen jerusalemzentrierten Torot geschaffen wurden: äthHen 1 - 3 6 ; Jub; Test XII Patr, versch. Qumranschriften. Im Zusammenhang mit diesen oppositionell gegen das Jerusalemer Establishment gerichteten Schriften wird von heutigen Literaturtheoretikern oft der Begriff reu/ritten Tora (neu- bzw. umgeschriebene Tora: so besonders in „Mikra", in Anlehnung an Geza Vermes, Scripture and Tradition) verwendet. Als typische rewritten Tora gilt die (vor-?)qumranische Tempelrolle (11QTR). Diese erst seit den 70er Jahren zugängliche Schrift (Yadin, Maier; -»Qumran) kann als verschärftes -»Deuteronomium umschrieben werden. Deuteronomisch-deuteronomistische Sätze und redaktionelle Kommentierungen derselben werden zu direkten Gottesreden umformuliert. Wie stark die Richtungsänderung von 11QTR gegenüber Dtn ist, kann 11QTR 2 9 , 4 - 1 0 zeigen: „An jenem Tag wird als Tora der Verordnung ein beständiges Opfer von den Söhnen Israels sein . . . zu meinem Wohlgefallen . . . Und ich werde an ihnen Wohlgefallen haben, und sie werden mir zum Volk sein, und ich werde immer für sie dasein . . . Ich werde dort für immer und ewig wohnen und werde den Ort meines Heiligtums mit meiner Herrlichkeit heiligen, die ich dort wohnen lassen werde - bis zum Tag des Segens, an dem ich (sc. Gott) meinen Tempel erschaffen werde, um ihn mir zu bereiten alle Tage als Bund, den ich mit J a k o b in Bet-El geschlossen h a b e " .
Nach Auffassung von 11QTR und des gesamten Qumranschrifttums sind - ganz im Gegensatz zum Dtn - der derzeitige Tempel und sein Kult wegen jüdischer und heidnischer Frevel verunreinigt und daher zu meiden. Noch in geschichtlicher Zeit wird es aber einen Gott wohlgefälligen Tempel geben, und zwar dann, wenn Israel sich in großer Mehrheit zu Gott bekehren wird. Aber auch dieser dritte Tempel wird nicht die endgültige Heilsrealität sein. In einem exklusiven Schöpfungsakt wird Gott in eschatologischer Zeit einen vierten Tempel schaffen, der weder mosaisch noch davidisch sein wird, sondern an die Vision Jakobs in Bet-El anknüpfen wird (Gen 28,10-22; 35,1-15; vgl. Jes 65,17; CD 5,15-6,21; 1QS 9,3-6). Eine rewritten Tora ist also oft eine gegen die Jerusalemer Tradition gerichtete Protest-Tora. Ihr anstachelnder Charakter regt zu Spekulationen und Phantasien an, wie sie uns im apokalyptischen Schrifttum des Judentums vorliegen. Zur Zeit der hellenistischen Krise vermochten sich rewritten Torot schreibende Gruppen in den Vordergrund zu drängen und den traditionellen Jerusalemer Kult-Denkern schw.ere geistig-religiöse Schläge zu versetzen. Man ordnet diese Gruppen gewöhnlich der essenischen Richtung zu. Auch die essenische Welle blieb nicht das Letzte, zumal die Verwirklichung des mit ihr verbundenen Gesetzesrigorismus nur einer Elite möglich war. An diesem Punkte setzte die Bewegung der -»Pharisäer an. Sie wollten sowohl das jerusalempriesterliche Monopol auf Schriftbewahrung und -ausweitung brechen als auch um realistische Tora-Verwirklichung kämpfen. Der Pharisäismus kann daher umschrieben werden als eine die Jerusalemer Priesterschaft und die apokalyptischen Bewegungen eindämmende Genossenschaft {chavüra: mDem 2,3), deren Hauptziele die Erlangung der Kontrolle über die heiligen Schrifttraditionen Israels und die Ausweitung und Anpassung der in ihnen enthaltenen Vorschriften an das ganze jüdische Volk in nachbiblischer Zeit war (so auch Maier, Auseinandersetzung 12-22). -»Josephus Flavius charakterisiert die Pharisäer zutreffend als eine volksverbundene Gruppe, „deren Auslegung alle Gebete und priesterlichen Kultfunktionen unterworfen werden" (Ant 18,15). Ihre „torakonformen Vorschriften (vöfii/M) aus der väterlichen Überlieferung, die nicht in den Gesetzen (vöfioi) des Mose aufgeschrieben sind" (Ant 13,297), können als rewritten Torot aufgefaßt werden. Damit wären die autoritativen pharisäischen SpezialÜberlieferungen (jtapdSoaeiQ, vgl. Mk 7 , 1 - 2 3 ; Mt 15,1-14) als sich der Bibel gegenüber anknüpfend-widersprechend-überbietend und der Gegenwart gegenüber als anpassend verhaltende frühjüdische Literatu-
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ren zu kennzeichnen. Diese pharisäischen vöftifia sind uns jedoch nicht erhalten geblieben. Wohl aber wissen wir um ihre enorme literarische Anstoßkraft in rabbinischer Zeit. 1.3. Nachbiblisches Bewußtsein. In einem gewissen Gegensatz zur aufgewiesenen Tendenz, das biblische Offenbarungsgut weiter auszudehnen oder Protest- und Überbietungsformen zu schaffen, stand in frühjüdischer Zeit die religiöse Strategie, durch bewußt verfremdende Formulierungen die neue, nachbiblische Zeit literarisch zu markieren. Bisweilen ist nicht zu entscheiden, ob eine ausgeweitete Tora, eine rewritten Tora oder eine auf die nachbiblische Entstehung Wert legende Literatur vorliegt. In frühjüdischen Liturgie-Entwürfen (-»Liturgie) ist aber die Tendenz unverkennbar, einen Strich zwischen biblischer Tradition und nachbiblischen Gebets-Bedürfnissen und Formulierungen zu ziehen. Im Qumranschrifttum liegen uns die ältesten Bezeugungen einer beginnenden Neuregelung des festlichen, sabbatlichen und täglichen Gebetslebens vor. Die sezessionistischen Qumranleute gestalteten ihr Gemeinschaftsleben nach einer tempelund opferlosen Gebetsfrömmigkeit. Nach ihrer Auffassung war ihre Frömmigkeit und Lebensweise den (früher!) gottgefälligen Opfern im Tempel nicht nur gleichwertig, sondern überlegen: „Wenn jene in Israel sind und entsprechend allen jenen Anordnungen (leben) als Fundamente f ü r den Geist der Heiligkeit zu ewiger Wahrheit: um zu sühnen (le-kapper) für die Schuld des Abfalls und die Tat der Sünde, und um der Gottwohlgefälligkeit des Landes willen, dann ist das mehr als Fleisch von Tieropfern. Das Hebeopfer der Lippen nach der Vorschrift ist wie ein Opferduft der Gerechtigkeit. Und vollkommener Wandel ist wie ein wohlgefälliges freiwilliges O p f e r " (1QS 9,3-5).
Das „Hebeopfer der Lippen", d . h . das gemeindliche Gebet, war also angesichts des entweihten und verunreinigten Tempels die einzige Möglichkeit, um die Aufgaben Israels Gott gegenüber zu erfüllen. Es bewirkt das Wohlgefallen Gottes und kann daher an die Stelle des Tempelkultes und damit auch der biblischen Gebetsfrömmigkeit treten. Wenn das Gemeindegebet zur religiösen Grundfunktion wird, dann müssen sein Wortlaut, die Zeit der Persolvierung und die das Gebet sprechenden Personen festgelegt werden. Außerdem müssen angesehene Gebetsteile und Riten des verschmähten Tempeldienstes in einer den Gruppenmitgliedern angepaßten Weise neu kommentiert werden. Ein Beispiel dafür ist der Aaronssegen (Num 6,23-26). Er wurde übernommen und so ausgeweitet, d a ß er nicht mehr als Tempelkultrelikt betrachtet werden konnte. Ihm wurden spezifisch qumranische Rubriken vorangestellt, so daß er nicht mehr der Beliebigkeit oder der bloßen Bibelgemäßheit anheimfallen konnte. In 1QS 2 , 1 - 1 0 lautet die einleitende Rubrik: „Die Priester sollen segnen alle Männer des Loses Gottes, die vollkommen auf allen seinen Wegen wandeln. Sie sollen sagen . . . " (1QS 2,1 f). Die liturgische Komposition des -»Segens ändert sich ebenfalls gegenüber der biblischen Vorlage. Es wird um Bewahrung vor dem Bösen, Erleuchtung des Herzens und um anhaltendes Wissen gebetet. Die auffälligste Änderung besteht aber im anschließenden Fluch, der gegen alle Männer des Loses Belials geschleudert wird (1QS 2 , 4 b - 1 0 ) . Davon ist in N u m 6,23 - 2 6 keine Rede! Das Segensformelgut ist in Qumran, wie Parallelstellen (z.B. 1QS 3,13; 1QM 14,2-4) zeigen, noch nicht halakhisch festgelegt. Die Gattung „nachbiblisches Gebet" formiert sich also erst, ohne d a ß sie schon feste Strukturen hätte. Das neue Gebetsbewußtsein konnte sich in Qumran u. a. deshalb konsolidieren, weil sich die Qumranleute Jerusalem und dem Tempel gegenüber auch durch starke ideologische Vorstellungen profilieren konnten. Sie allein seien im Bund. Als „Volk der Erlösung Gottes" stünden sie auch den zur Vernichtung bestimmten Völkern gegenüber (1QM 14,5) und seien daher zum dankenden Lobpreis besonders motiviert. Die Überzeugung vom Erlöstsein und die damit verbundene Hoffnung auf noch größere Erlösung wirkte in der jüdischen Liturgie weiter. So heißt es z. B. in der (sogenannten sefardischen) Version des Mussaf-Gebetes (18. Jh.) am Sabbat: „Siehe ich habe euch erlöst (ga'alti) auf die Vollerfüllung hin, ich, der H e r r " . Ebenso wichtig wie das Erlösungs- und Bundesbewußtsein war auch die Überzeugung, daß die irdische Gebetsliturgie mit dem himmlischen Gottesdienst im Einklang sei.
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Biblische Vorbilder (bes. Jes 6,1—3; Ez 1;8 u. a.) wirkten ideenspendend in die Qumrangemeinschaft hinein. Die Gesänge des Sabbatopfers (4Q ShirShab; aber auch 1QH 3,19—23 u.a.) sind dafür typisch. Laut 4 Q 400/2, Zeile 1 - 8 (Newsom 110-117) reihten sich die Qumranleute in den Gesang der himmlischen Heerscharen ein: „Um zu preisen deine wunderbare Herrlichkeit unter den Göttlichen des Wissens und die Preiswürdigkeit deines Reiches unter den Allerheiligsten. Sie sind geehrt unter allen Zelten Gottes, und sie sind furchtgebietend für die menschlichen Gründungen, ein Wunder, das die Göttlichen und die Menschen übersteigt. Sie künden die Pracht seines Reiches entsprechend ihrem Wissen. Sie erhöhen seine Herrlichkeit über alle Himmel seines Rciches. Wie aber werden wir unter ihnen eingestuft, und wie unser Priestertum in ihren Wohnungen? Und wie kann unsere Heiligkeit verglichen werden mit der Heiligkeit ihrer Heiligkeiten? Und was ist die Opfergabe der Sprache unseres Staubes im Vergleich mit dem Wissen der Göttlichen?... Wir wollen erhöhen den Gott des Wissens"!
Dieser himmlisch-irdische Sabbatgesang ist teilweise Ps 19 nachempfunden. Auch Anklänge an das Tempelresponsorium „Gepriesen N a m e der Herrlichkeit seines Reiches für immer und ewig" (mYom 3,8 u.ö.) sind darin enthalten. 4 Q 400/2 ist aber vor allem eine Ausprägung des ma'ase merkava (Thron-Gottes-Esoterik), der in frühjüdischer, frührabbinischer und neutestamentlicher Zeit in den Liturgien blühte. Danach ist der jüdische Gottesdienst Teilnahme und Teilhabe an der Gottespreisung im Himmel. Sie geschieht vor allem bei der Qeduscha (Trishagion, Sanctus). Der Preis Gottes geschieht zunächst durch die Engel im Himmel. Die irdischen Gottesdienstteilnehmer reihen sich demütig bei den Engeln ein und stimmen mit ihnen in das Gotteslob ein. Das entfaltete Dreimal-Heilig erhält dadurch einen kosmisch-überkosmischen Charakter (vgl. 1QH 16,3; äthHen 61,9-11; bHag 11 b - 1 6 a ; Lk 2,14; Apk 4 - 5 ; I Clem 34,7; IgnEph 4,2 u.ö.). Die Idee des himmlisch-irdischen Gottesdienstes erfuhr vor allem in der Hekhalot-Esoterik und in der Kabbala eine weite Ausprägung. (Zum esoterischen Qumran-Gebet und seinem Verhältnis zur Liturgie in biblischer Zeit vgl. Bilha Nitzan, Hat-tefilla.) 1.4. Die Bibel: Referenz für neue Identität. Sowohl die pharisäischen als auch die qumranischen Sondertraditionen waren, sofern sie für ihre Mitglieder verpflichtend waren, identitätsbestimmend (vgl. dagegen die Ablehnung des Verbindlichkeitscharakters von Sondertraditionen durch die Sadduzäer laut Ant 13,297). Darüber hinaus war die Schaffung von verpflichtenden Sondertraditionen neben den und über die überkommenen heiligen Schriften hinaus die einzige Chance, die ein religiös jüdisches Schreiben und Leben in hellenistischer Zeit ä la longue überhaupt noch möglich machte. Die Qumranleute und die Pharisäer gingen über den Inhalt der Bibel hinaus und deuteten ihn auch um. Die Überbietungen und die Sinnverlagerungen bilden die Schwerpunkte qumranischer Aussagen. Die Bibel bzw. das biblische Zitat wird dadurch zur typologischen Referenzgröße, die nur von der Seite her in die wirklich zentralen Aussagen eingreift. Ein Beispiel einer Überbietung findet sich in l Q p H a b 7 , 2 - 5 , wo die Deutung von H a b 2,2 auf den Lehrer der Gerechtigkeit bezogen wird, „dem Gott alle Geheimnisse der Worte seiner Knechte, der Propheten, kundgetan h a t " . Das Bibelwort ist hier nur Anknüpfungspunkt für neue, typisch-qumranische Vorstellungen. Was der Prophet H a b a kuk noch nicht gewußt hat, weiß der Lehrer der Gerechtigkeit, die Leitfigur der Gemeinde. Er entschlüsselt das bisher Verschlossene. Es gibt aber auch Umdeutungen, die keinen überbietenden Charakter haben. Dies zeigt sich in 1QS 8,14 f, wo Jes 40,3 zitiert und kommentiert wird: „ ,In der Wüste bereitet einen Weg — macht eben in der Steppe eine Straße unserem Gott* (Jes 40,3). Dies ist das Studium der Tora (midrasch Tora), welches er durch Mose zu tun befohlen hat, gemäß allem was geoffenbart wird von Zeit zu Zeit, wie dies die Propheten durch den Geist der Heiligkeit geoffenbart haben". „Midrasch" Tora bedeutet in Qumran Nachsinnen in der Tora, um daraus einen qumranspezifischen Sinn zu erhalten. M a n kann heute nicht mehr verantwortbar von einem angeblich biblizistischen frühjüdischen Grundverständnis ausgehen. Alle uns zur Verfügung stehenden frühjüdischen Texte und Nachrichten weisen darauf hin, d a ß sich zwar die hebräische bibeltextliche
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Situation im 3./2. Jh.v. konsolidiert hatte (Emanuel Tov in Mikra 161-188), daß aber von da ab das Gewicht der Um- und Neudeutungen im damaligen jüdischen Religionsgefüge zunahm. Damit erledigen sich verschiedene Forschungsprobleme, die in der Vergangenheit oft schweres Kopfzerbrechen verursacht haben: Wenn frühjüdisch-hellenistische Schriftsteller (Pseudo-Aristeias, Jason von Kyrene, -»Philo von Alexandrien, ->Josephus Flavius u. a.) die Bibel allegorisch umdeuteten oder alte biblische Erzählungen mit andern Sinnhorizonten versahen, um auch von nichtjüdischen Hörern verstanden zu werden oder um nicht mehr in ihre Zeit hineinpassende Topoi ins Abseits zu drängen, dann waren dies für damals normale Vorgänge. Und wenn damals neue Gesetze, zusätzlich zu den biblischen, verfaßt oder bisherige abgeändert wurden, dann wurde auch dies damals höchstens von einigen - nicht von allen - als frevlerische Abweichung taxiert, und man braucht sich daher auch wegen evtl. neutestamentlicher „Gesetzesänderungen" nicht mehr aufzuregen (dazu: K. Müller, Religionsgesch. Arbeit). Im Frühjudentum befinden sich Beharrung und Neuansatz, Tradition und Fortschritt in steter Spannung zueinander. Bezeichnend bleibt aber, daß nicht in der Spekulation, sondern in der Gebetstradition damals die mutigsten Neuschritte gewagt wurden. Das Volk Gottes ist eben vor allem Sinnieren und zwischenmenschlichen Dialogisieren ein Volk des andauernden und stets neuen Gesprächs mit dem Ewigen. Die jüdische Literatur hat aus der monolatrischen, exklusiven Gottesbeziehung heraus ihre stärksten Impulse erhalten, wenn auch der Weg vom Gebet zur Hilfestellung in der Gemeinde oft weit war. Die frühjüdischen Umdeutungen des biblischen Materials waren bedingt durch die politische und sozialreligiöse Lage besonders im 2. Jh. v. Chr. Massive Bedrohung durch die Seleukiden (I Makk 1), Aufstand unter Mattathias und Judas Makkabaeus (I Makk 2,39-70), die dadurch ermöglichte Wiederherstellung des Tempeldienstes (I Makk 4,36-61; II Makk 10,1-8), die vielen Siege des Judas über die heidnische Weltmacht und die nachfolgende Pervertierung des Erreichten durch die späteren Hasmonäer waren Ereignisse, die das Bewußtsein von der Wichtigkeit des Heute gegenüber dem biblischen Gestern stärkten. Nachdem alle Gruppen davon erfüllt waren, entstanden vielfältigste innerjüdische Polemiken. Judas wurde von bestimmten apokalyptischen Kreisen quasi messianisch gedeutet (äthHen 90,9ff). Dasselbe geschah mit seinem Bruder, dem Hasmonäer Simon, den national gesinnte Juden in messianischer Diktion priesen (I Makk 14), der aber von den Qumranleuten als Frevelpriester (1 QpHab; 4 QpNah) bekämpft wurde (ähnliche Absagen finden sich auch in PsSal 17-18). Die frühjüdische Zeit war eine literaturreiche Zeit. Die jüdisch-religiöse Literatur aller folgenden Generationen baute bejahend und korrigierend auf der frühjüdischen Literatur auf. Alle literarischen Formen, Probleme und Themen (Midrasch, Halakha, Kommentierung der Tora, Esoterik, spezielle Gruppenliteratur, Geschichtsschreibung im Dienste der jüdischen Identität etc.) finden sich bereits in frühjüdischer Zeit. Es gelang allerdings noch nicht, eine Literatur zu schaffen, die allgemein von der Mehrheit der gesamten Judenheit akzeptiert wurde. Diese Meisterleistung schaffte erst das rabbinische Judentum. 2. Literaturbildende
Auswirkungen
der rabbinischen
Reform
Die rabbinische Literatur ist das sehr umfangreiche und vielfältige Ergebnis des von den Rabbinen (-»Rab/Rabban/Rabbi/Rabbiner) geleiteten Prozesses der Fortführung und Reform der frühjüdischen Traditionen. Die rabbinische Zeit dauerte von ca. 70 n. (Tempelzerstörung) bis ca. 638 n. (Eroberung Jerusalems durch die Araber). Die Rabbinen waren Interpreten und Aktualisierer von Bibel und Tradition. Sie knüpften besonders an die von den Pharisäern überlieferte Geisteshaltung an und versuchten, möglichst alle jüdischen Strömungen (priesterliche, apokalyptische, esoterische) sich und ihren Idealen dienstbar zu machen. Die rabbinische Literatur gibt biblischen und nachbiblischen Traditionen ein neues Gesicht, das in ihre eigene Zeit und in ihre religionsstrategischen Interessen hineinpaßt. Sie ist nicht von Konzepten einzelner Autoren geprägt, sondern besteht
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aus zusammengesetzten Diskussionen über religionsrechtliche Bestimmungen, Predigtskizzen, Schülerunterweisungen, Ansichten über den Sinn einzelner Bibelverse, Episoden, Kurzerzählungen u.ä. Sie hat auch dadurch ihr eigenes Gepräge, daß sie einen (oft unverbundenen) Einblick in möglichst alle Ansichten von Rabbinen und in möglichst alle Lebensbereiche mit ihren Beziehungen zur Religion vermitteln will. Man verkennt dieses monumentale Schrifttum, wenn man die Zeitumstände nicht bedenkt: Judäa war verwüstet, der Tempel zerstört, das Volk zerstreut. Viele waren in den drei Aufständen ( 6 6 - 7 0 / 73.117.132-135 n.) umgekommen. Volks- und religionsauflösende Ideologien und Machtstrukturen machten sich breit (Gnosis, anarchistischer Messianismus, auf Nivellierung aller Religion tendierende Ideen aus dem griechisch-römisch-philosophischen Bereich). Ein Gebet aus der Zeit bald nach der Tempelzerstörung (von Yehuda ben Teman) gibt an, welche Anliegen in dieser Zeit die brennendsten waren: „Möge es wohlgefällig sein vor dir, Herr unser Gott und Gott unserer Väter, daß der Tempel wieder aufgebaut werde: schnell, in unseren Tagen! Und gib uns Anteil an deiner Tora" (mAv 5,24). 2.1. Wertung der Hebräischen Bibel. In rabbinischer Zeit wurde die Hebräische -»Bibel, besonders die Tora, als Basis für das jüdische Leben in all seinen Abschnitten und Bereichen aufgefaßt. Dies war nichts Neues. Bereits in der qumranischen Damaskusschrift (CD 16,1 f) heißt es, in der Tora des Mose sei „alles genau festgelegt" bzw. aus ihr könne „alles gelernt (abgeleitet) werden". Von einem gewissen Ben Bagbag (wohl ein Pharisäer des 1. Jh. n.) ist der Spruch überliefert: „Wende sie (sc. die Tora) um und wende sie nochmals um, denn alles ist in ihr enthalten. Durch sie wirst du klar sehen. Werde in ihr alt und verbraucht. Und weiche nicht von ihr, denn es gibt für dich keinen besseren Anteil als sie" (mAv 5,26). Ihre Hochschätzung der Tora drückten die Rabbinen u.a. dadurch aus, daß sie diese als den ersten Gedanken des Schöpfers bezeichneten (BerR 1,1; 8,2). Die Tora als primum prineipium von Schöpfung und Weltgeschichte wird so zum Bezugsort allen menschlichen Denkens und Tuns. Alle menschliche und kosmische Wirklichkeit erhält einen torabezogenen und damit übernatürlichen Charakter (vgl. bBer32a, wo die Tora als „Lebensbaum" bezeichnet wird). Auch die Erwählung Israels bekommt von der Schöpfungstora her einen universalen Charakter (mAv 3,18). Der Israelit verhält sich nur dann schöpfungs- und torakonform, wenn er sich mit ihr um ihrer selbst willen (lischemah) in allen seinen Lebensabschnitten beschäftigt (mAv 5,24) und nach ihren Vorschriften lebt. Die Rabbinen hatten keinen fundamentalistischen Zugang, sondern einen totalistic approach zur Bibel (Mikra 5 7 5 - 5 7 7 ) . Ihr Verhältnis zur schriftlichen Tora (töra schebikhtav) war kaum meditativ und nur nebenher von heils-unheilsgeschichtlichen Fragestellungen bewegt. Sie glaubten, daß jedes Bibelwort viele Bedeutungen hat (bSan 34 a, im Anschluß an Jer 23,29) und setzten daher in ihren Diskussionen und Homilien Tora-Stellen mit prophetischen und hagiographischen Versen in Beziehung, um einen möglichst gefüllten und in ihre Zeit hineinpassenden Sinn zu erhalten. Den rabbinischen Chiddusch (Neuheit, das zum bisherigen Passende und in die Gegenwart hineinwirkende Neue) zu entdecken, bedeutet geradezu, den hermeneutischen Schlüssel zum rabbinischen Bibelverständnis zu finden (Thoma/Lauer, Gleichnisse 21 f). Unrabbinisch ist demgegenüber jede Form von Entleerung, Beiseitestellung und Abschaffung der Tora (bittül; vgl. bQid 66a). Das intellektualistische, totalistische und gemeindeangepaßte rabbinische Tora-Verständnis wurde zum Startzeichen sowohl für die Schaffung von jüdisch-exegetischer Fachliteratur als auch für Übertragungen der Hebräischen Bibel in andere Sprachen. Nur der Kompetente, der auch in der jüdischen Gemeinde geschätzt war, konnte sich an die Toradeutungen und Toraübersetzungen heranwagen. Die rabbinische Toradeutung und -ausgestaltung wird -*Midrasch genannt. Die Uberzeugung, daß in der Tora im Sinne von mAv 5,26 alles verschlüsselt enthalten sei, wurde zum Ausgangspunkt für viele Midrasch-Werke: tannaitische Midraschim (MekhY, Sifra, Sifre), in denen (fast) nur Autoritäten vor 220 n. zitiert werden, und amoräische
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Midraschim (Rabbot, homiletische Midraschim), in denen auch Autoritäten nach 220 n. zu Wort kommen. Der Midrasch ist ein stetes Bemühen, ein immer neues Gespräch mit der Tora, ihrem Wortsinn (peschat) und ihrem inkludierten Sinn (derasch) zu führen, um aus ihr einen weiteren, traditionskonformen und zeitangepaßten Sinn herauszubekommen. Auch die Targumim (Bibelübersetzungen ins Aramäische) sind Tora-Deutungen und Zeugnisse der hohen Wertschätzung der Hebräischen Bibel (Stemberger, Literatur 80—83). Die ältesten Targumim stammen aus frühjüdisch-qumranischer Zeit: l l Q t g J o b und GenApc. Die rabbinischen Targumim (TJ, T O , CN, TPsJ u. a.) reichen in ihrer basic linguistic form teilweise bis ins 1./2. Jh. n. zurück (Mikra 249). Sie wurden nicht verfaßt, um biblische Anthropomorphismen zu vermeiden, und sind auch nicht als folk-literature einzustufen. Sie sind vielmehr deeply learned versions, the work of scholars (ebd.), die in der privaten Frömmigkeit, in der Synagoge und im Midraschhaus ihren Ort hatten. Vermutlich waren sie in der Anfangszeit religionspädagogisch gemeint: Ein in ihrer aramäischen Alltagssprache verfaßter, die Hebräische Bibel paraphrasierender Text sollte die Leute auf den Synagogengottesdienst mit seiner Lesung und Predigt {derascha) aus Tora und Propheten vorbereiten (bBer 8 a, unten; Philipp S. Alexander: Mikra 217—254). Allmählich wurde der Targum zum unentbehrlichen Vergleichstext der Tora und wurde in traditionellen Bibeln neben diesem (samt späteren Kommentatoren) angeführt. Er gilt dem orthodoxen und weithin auch dem konservativen Judentum als Bestandteil der mündlichen Tora. Der Targum ist dafür verantwortlich, daß die Neigung im Judentum erhalten blieb, die Heiligen Schriften im Kontext der jeweiligen Volkssprache und des zeitgenössischen Tora-Verständnisses zu erklären. 2.2. Die mündliche Tora als Distinktivum. „Die Worte der Ältesten sind gewichtiger als die Worte der Propheten" (yBer 1,4/3b). Dieser Satz weist auf die Tragweite der rabbinischen Auffassung von der mündlichen Tora (töra schebe'al pe) hin. In den weisenden Worten der rabbinischen Gremien ( = der Ältesten) liegt mehr Offenbarungssubstanz als in jenen der Propheten (vgl. Shmuel Safrai, Literature). Die mündliche Tora geht ebenso wie ihre schriftliche Schwester auf die Gottesoffenbarung am Sinai zurück und hat sich von dort gleichsam unterirdisch zu den Rabbinen begeben, wo sie mitten in deren Diskussionen hintergründig aufleuchtet (bEr 54b; bNed 37b). Sie ist wie die schriftliche Tora „im Glauben zu empfangen" und ermöglicht den Zugang zum Sinn der schriftlichen Tora, die für sich allein blind und dunkel wäre (ARN A 15, ed. Schechter 61). Man kann sie daher als noch wichtiger — jedenfalls als für das Judentum typischer - als die schriftliche Tora einstufen. Im 3. Jh. n. sagte Rabbi Yochanan von Tiberias in diesem Sinn: „Der Heilige, gelobt sei er, schloß mit Israel einzig wegen der mündlich überlieferten Worte einen Bund" (bGit 60b). Dieses äußerst starke Traditionsbewußtsein war auch von der religiösen Konkurrenzsituation, in der sich das rabbinische Judentum befand, bestimmt. In bTem 14 b findet sich der diese Situation reflektierende Satz: „Weniger schlimm ist es, wenn die Tora ausgerissen wird, als wenn sie vergessen wird, weg von Israel". Das Ausgerissenwerden der Tora ist wohl ein Hinweis auf deren Übernahme durch nichtjüdische Völker in der Form der Septuaginta. Demgegenüber komme es, um das Unterscheidende Israels gegenüber allen übrigen religiösen Bewegungen auszudrücken, darauf an, daß die mündliche Tora intakt bleibt. An ihr ist das einzig wahre Volk Gottes zu erkennen. Die rabbinische Lehre von der mündlichen Tora hat auch doktrinäre und Veränderungen einschließende Aspekte. In bBer 12a ist davon die Rede, daß die tägliche Lesung der Zehn Gebote im Gottesdienst wegen „Dreinredereien" (tar'omet) von Ketzern (yBer 1,8/3 c: wegen Einwänden - ta'anat — von Ketzern) abgeschafft wurde. Die Rabbinen übten ihre Würde und Autorität als Träger der mündlichen Offenbarung nicht absolutistisch oder hierarchisch aus, sondern ließen innerrabbinische Gegenargumente nach Möglichkeit gelten. Die Diskussionen der Hilleliten und Schammajiten (s.TRE 15, 326-330) blieben für das religiöse Gesprächsklima maßgebend. Bei dialogischen Pattsitua-
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tionen ertönte bisweilen eine „kleine Himmelsstimme" (bat qol). Ihre Kompetenz als Schiedsrichterin war aber umstritten (mNaz 1,1; ySot 3,4/19a; bSan I I a ; bEr 13b). 2.3. Liturgie. Wie, wann und was soll die rabbinische Gemeinde beten? Diese Fragen standen im Zentrum der Reform-Gedanken und pastofalgesetzlicher Vorkehrungen der Rabbinen. Sie schufen Halakhot für Sabbat- und Festtagsgottesdienste, für Gebetszeiten und -orte. Es ging um Anknüpfungen an den Tempelgottesdienst und an frühjüdische Gebetsvorstellungen, aber auch um momentane Anliegen und Hoffnungen. Nichts von früher sollte verloren gehen, aber alles sollte ein typisch rabbinisches Gepräge erhalten und halakhisch bis ins Detail geregelt sein (TRE 1 1 , 1 0 7 - 1 1 5 ; T R E 12, 4 2 - 4 7 ; -»Liturgie). Die Institutionalisierung von Pflichtgebeten, liturgischen Leseordnungen, Glaubensbekenntnissen und die Schaffung bzw. Redigierung bedeutsamer Einzelgebete (Achtzehngebet, Qaddisch, 'avinü malkenü, 'alenu etc.) ist eine der großen spirituellen Leistungen des rabbinischen Judentums. Mit viel Recht kann man aufgrund der rabbinischen Gebetsinitiativen und dem Gewicht, welches sie diesem beilegten, sagen, das Judentum habe drei heilige Bücher: die Bibel, den babylonischen Talmud und das Gebetbuch (siddür, machsor). Während Gott sich in Bibel und Talmud den Israeliten offenbart, offenbart sich Israel in den Gebetbüchern seinem unendlichen Gott (Millgram 6 - 8 ) . Trotz halakhischer Festlegungen der rabbinischen Pflichtgebete blieb noch freier Raum für kreative Gebetsformulierungen übrig. Zunehmend fanden poetische liturgische Stücke rund um das „Höre Israel", das Achtzehngebet und die Qeduscha Platz. Poetisch-spirituell begabte Vorbeter und Gottesdienstleiter bereicherten den Gemeindegottesdienst mit synagogaler Poesie. Bereits im beginnenden 2. Jh. wurde von Rabbi Eliezer erkannt, daß ein Gebet aus bloßem halakhischen Pflichtbewußtsein heraus noch keine Gottesbeziehung ist: „Wer sein Gebet zur bloßen Pflicht macht, dessen Gebet ist kein flehentliches Gebet" (mBer 4,4). Im palästinischen Talmud (yBer 4,4/8 a) finden sich darüber folgende Zusatzbemerkungen verschiedener Rabbis: „Der Beter soll aber nicht wie der Leser eines Briefes sein . . . Man muß (sc. zum Achtzehngebet) jeden Tag Neues hinzufügen . . . Rabbi Zeira sagte: Jeden Tag, an dem ich dies tat, irrte ich mich; daher soll es nicht so sein . . . Rabbi 'Abbahu hat jeden Tag eine neue Berakha gesagt
Hier zeigt sich die Spannung zwischen Pflichtgebet (qeva') und Gebetsintention (kawwatia), zwischen Beharren und Wachstum, zwischen Tradition und Ausweitung. Es ist anzunehmen, daß außer den eigentlichen Pflichtgebeten (Achtzehngebet, verschiedene Berakhot) und dem Schema 'Israel die meisten Gottesdiensttexte vor dem 8./9. Jh. nur inhaltlich festgelegt waren. Die Freiheit für Einzelformulierungen wird durch die Werke der frühen synagogalen Dichter (payetanim) illustriert. Der älteste namentlich bekannte Payetan (von griech. noirjzric;) war Yose ben Yose (4./5. Jh.). Er schrieb u. a. ein liturgisches Poem zum Versöhnungstag (seder 'avodat yom hak-kippürtm): „Die mächtigen Taten Gottes, meines Glorreichen, will ich in Erinnerung rufen ('azkir). Er ist einzig, es gibt keinen andern. Keinen gibt es neben ihm, keinen Zweiten. Nach ihm gibt es keinen auf der Welt, wie es vor ihm keinen im Himmel gab. Niemand außer ihm ist alt, noch wird dies jemand am Ende sein. Herr des Denkens ist er. Gott des Tuns ist er. Er läßt sich beraten, hat es aber nicht nötig. Er verordnet, verpaßt aber nichts. Er gibt Ratschläge und richtet auf. Kühn ist er im Fragen, kraftvoll im Dulden. Aus dem Munde seiner Geschöpfe wallt Frohlocken zu ihm hin. Von oben und von unten empfängt er Huldigung. Er ist der eine Gott auf Erden und der Heilige im Himmel. Er ist der Mächtige in der Höhe. Aus dem Wasser und vom Wesen der Urtiefe und des Lichts erschallt Lob für ihn. Worte vom Tag und Melodien der Nacht steigen zu ihm empor. Das Feuer kündet seinen Namen. Die Bäume des Waldes sind entzückt. Die Tiere belehren einander über die Macht seiner furchterregenden Taten" (Text: Carmi 209 f).
Poesie im synagogalen Verständnis ist also Berakha (Lobpreis) und Glaubensbekenntnis. Das Glaubensbekenntnis dient der Abwehr vor vage ins Gemeindebewußtsein eindringenden Bestreitungen der Allmacht, Weisheit und Güte Gottes.
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Bedeutender als Yose ben Yose ist der Payetan Yannay (5. Jh.), von dem Menachem Zulay über 800 Poeme aufgrund der vor I. Davidson 1896 in der Kairoer Geniza entdeckten Werke herausgegeben hat. Yannays Gebet um Liebe zeigt, daß auch Zeitnöte (byzantinische Judenfeindschaft) im synagogalen Gebet Platz fanden: „Unsere Augen sind zu schwach, um deine Liebe zu sehen, du Liebender! Wir werden gehaßt von hassenden Feinden. Sieh doch auf unsere Jämmerlichkeit - Wir sind weg vom Haus! Ein von außen her stoßender Ochse ist H a ß gegen uns. Du hast Leah in ihrer Jämmerlichkeit gesehen... Ihre Hasser waren außerhalb ihres Hauses. Nicht jeder, der geliebt wird, ist ein Geliebter. Nicht jeder, der gehaßt wird, ist ein Gehaßter. Auf Erden Gehaßte sind im Himmel Geliebte. Die dich hassen, sind Gehaßte. Die dich lieben, sind Geliebte. Wir werden gehaßt, weil wir dich lieben. Du Heiliger" (Text: Zulay
399).
Bis heute haben sich die jüdischen Liturgien viel Poesie bewahren können. Das halakhische und das poetische Element wirkten über die Grenzen der Synagogen und Feste hinaus und inspirierten die religiöse Lyrik auch außerhalb des Gottesdienstes. 2.4. Halakha/Haggada. Halakha (wörtlich der vom Juden zu gehende Weg: TRE 14, 384-388) und Haggada (Erzählung: T R E 14, 351) sind zwei Sammelbegriffe, die das rabbinische Schrifttum rudimentär-inhaltlich bestimmen. Halakha bildet den Hauptbestand, Haggada ist der sich nicht in einen gesetzlichen Zusammenhang bringen lassende Rest. Formal ist die Halakha eine Ableitung aus den 613 Weisungen der Tora und eine Anpassung an Umstände und Situationen in rabbinischer Zeit. Sie hat damit eine kategorische und eine ethische Komponente. Theologisch gesehen ist sie mündliche Tora und geht damit auf ein Gespräch zurück, das Gott mit Mose auf dem Berge Sinai geführt hat (bBer 63b). Ihr gegenüber bleibt die Haggada (in der Form von folklorehaften Lebensund Erfahrungsweisheiten, von Episoden, Fabeln, Gleichnissen u.a.) eher am Rande der Aufmerksamkeit der Rabbinen (vgl. bQid 49b; Thoma/Lauer 15-62). Das halakhische Grundwerk der Rabbinen ist die -»Mischna. Sie wurde vom Patriarchen Yehuda Hannasi (gest. ca. 220 n.) in Bet Schearim und Sepphoris als Lehrbuch oder Gesetzeskodex aufgrund früherer Rechtstraditionen konzipiert bzw. redigiert. Ab der Mitte des 3. Jh. erhielt die Mischna zunehmend kanonischen Rang und wurde zum Grundbuch, an das die späteren Rabbinen ihre Gesetzesdiskussionen anknüpften (Stemberger, Einleitung 111-149). Die Mischna gehört zur tannaitisch-rabbinischen Literatur, d.h. es werden in ihr (mit wenigen Ausnahmen) nur Tannaiten (Gesetzlehrer zwischen 70 n. und 220 n.) zitiert. Ihr steht die Tosefta gegenüber, die gewöhnlich als eine Art Para-Mischna aufgefaßt wird. Sie enthält verschiedene, von der Mischna nicht berücksichtigte halakhische und haggadische Traditionen und ist als ein späteres Korrektur- und Ergänzungswerk zur Mischna aufzufassen, das ähnlich wie die talmudische Gemara (Diskussionen der Amoräer in den beiden Talmuden über die Mischna) zeigt, daß die Gesetzesdiskussionen in rabbinischer Zeit stets mit größter Intensität und Akribie betrieben wurden. Das Studium der Halakha bzw. das „Lernen" wurde zur rabbinischen Hauptbeschäftigung. Das halakhische Material wuchs in amoräischer Zeit (220-638 n.) ins Riesenhaft-Unübersichtliche, so daß spätere jüdische Generationen ihre ganze Kraft für Sichtungen, Interpretierungen und Zusatz-Formulierungen verwenden mußten, wollten sie die rabbinische Grundleistung an ihre Generation weiter vermitteln. Das ungeordnete talmudisch-halakhische Material evozierte in nachtalmudischer Zeit eine Fülle von Systematisierungen der Halakha (vgl. u. 3.2). Die Haggada darf aber nicht im Sinne eines exklusiven Halakhismus unterbewertet werden. Die erzählenden Partien des rabbinischen Schrifttums sind Reminiszenzen, deren Konservierung meistens apologetischen und identitätsaufbauenden Bedürfnissen entsprach. Sie haben daher größten kultur- und theologiegeschichtlichen Wert. Sie wirkten später außerdem anregend für die pointierte jüdische Kunst des Erzählens. 2.5. Esoterik. Die schon im Frühjudentum aufgeblühten mystisch-esoterischen Spekulationen (s. T R E 15,42—54) wurden im 1./2. Jh. n. in pharisäisch-rabbinischen Kreisen in zwei Disziplinen gepflegt: in der Thronwagen-Gottes-Esoterik (ma'ase merkava; Begriff
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aus Sir 49,8) und in der Schöpfungswerk-Esoterik (tna'ase bere'scbit). Im Schülerkreis des Rabbi Schimon ben Yochai (ab Mitte des 2. Jh. n.) wurde die Thronwagen-Esoterik zur Hekhalot-Esoterik (Himmelshallen-Mystik) ausgebaut und (ab dem 4./5. Jh.) zur Schi'ür-Qoma-Esoterik. In der Hekhalot-Esoterik ging es um den mysterialen Aufstieg/Abstieg in die verschiedenen Himmel, während die Schi'ür-Qoma-Esoteriker Gott in kraß anthropomorphistischer Weise mit körperlichen Ausdrücken schilderten und so aus spirituellen Rücksichten heraus einen organischen Zusammenhang zwischen physischer und metaphysischer Welt konstruierten. Bereits die Mischna (mHag 2,1) wollte die überbordende frührabbinische Esoterik religionsgesetzlich eindämmen. Aber die Gemara zu mHag 2,1 zeigt, daß Restriktionen nichts halfen (bHag l l b - 1 6 a ; s. TRE 10, 368-374). Die amoräische Auslegung von Gen 1 - 1 1 in BerR zeigt ferner, daß die haggadische Auslegung oft unvermittelt ins Esoterische umschlug und daß dem Esoterischen ein starker Hang zum Mythologischen inhärent war. Im 3./4. Jh. entstand in Palästina als Frucht von ma'ase bere'sch it-Traditionen der Sefer ->Jesira. Dieses Buch mit seinen Sefirot-Vorstellungen (Sefirot = Zahlen als Weltprinzipien oder Schöpfungsstufen) wurde später zum wichtigsten Grundbuch der —•Kabbala. Seine ersten Wirkungen hatte es in Babylonien, seinen Haupteinfluß übte es im 12.-15. Jh. in Spanien und Frankreich aus. Die verschiedenen Arten der rabbinischen Esoterik sind zwar im rabbinischen Schrifttum bezeugt. Hauptsächlich entfalteten sie sich aber in der Form einer Untergrundliteratur abseits von der rabbinischen Tradition. 2.6. Übersicht. Die folgende zeitlich-systematische Übersicht der Literatur in rabbinischer Zeit kann einen abschließenden Eindruck ihrer Vielfalt vermitteln.
(bis ca. 200 n.)
i
Mischna Tosefta
{
Mekhilta deRabbi Yischma'el (Ex) Sifra (Lev) Sifre (Num, Dtn)
babylonischer Talmud palästinischer Talmud
{ { ( ( (
Midrasch Rabba Avot deRabbi Nathan (zu mAv)
Pcsiqta deRav Kahana Pesiqta Rabbati Tanchuma (B)
2) Amoräische Literatur (ab ca. 220 n.)
Yalqut Schim'oni Yalqut Mekhiri Midrasch hag-gadöl Onkelos Neophiti Pseudo-Jonathan
Targumîm
Jonathan Esther I und II
45
3) Gebetsliteratur
Kaddisch Qedûscha und Berakhôt Achtzehngebet 'alenû 'avinû malkenû f Sefer Jesira Pirqe deRabbi Eliezer
4) Esoterisch-mystische Literatur I Hekhalôt [Schi'ûr Qòma 5) Magische Texte; Sefer ha-razîm
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3. 'Weiterführungen vom Mittelalter bis zur Moderne 3.1. Die zu gestaltende Vielfalt. Das jüdische Mittelalter reicht vom Zeitalter der Gaonen bzw. der islamischen Expansion bis zur Französischen Revolution bzw. der Judenemanzipation (Mitte des 7.—Mitte des 18. Jh.). Es ging nun der Reihe nach darum, in der orientalischen (Mesopotamien/Ägypten), sefardischen (Spanien/Portugal/Südfrankreich), aschkenasischen (Nordfrankreich/Deutschland/Norditalien) und osteuropäischen Diaspora das multiform, kaum geordnet vorliegende religiöse Traditionsmaterial aufzubereiten. Das erste nachtalmudische jüdische Geisteszentrum befand sich besonders im 9./10. Jh. im heutigen Irak, wo -•Saadja ben Joseph Gaon (882—942) wirkte. Nach dem Niedergang des Gaonats verschob sich das Schwergewicht der jüdischen Kultur im beginnenden 11. Jh. nach Nordafrika und vor allem nach Südfrankreich und Spanien/ Portugal. Im 12.-15. Jh. entstand auf der iberischen Halbinsel eine veritable jüdische Hochkultur, eingemengt in islamische und christliche Machtstrukturen. Nach der Vertreibung der Juden aus Spanien/Portugal (1492/1497) verlagerten sich die jüdischen Geisteszentren nach Italien, Nordfrankreich, Deutschland und Palästina (Safed). Ab dem 16. Jh. gewann Osteuropa (Polen/Rußland) zunehmende geistige Zentralität. Betrachtet man die literatur- und geistesgeschichtlich besonders bedeutsam gewordenen jüdischen Autoren, fällt sogleich ihre Vielseitigkeit auf. Jeder wollte möglichst alle Traditionen und alle damit verbundenen Disziplinen aufgreifen, verarbeiten und mit gegnerischen Ansichten konfrontieren. Saadja Gaon war Grammatiker, Bibelübersetzer und -kommentator, Gutachter zu halakhischen Fragen (Poseq), synagogaler Poet, Philosoph und Theologe. Er setzte sich mit dem islamischen Kalam, den -»Karäern und den Christen auseinander. -»Jehuda Hallevi (ca. 1075-1141) war Apologet des Judentums gegen Islam und Christentum (Kusari), begnadeter religiöser (und profaner) Dichter (Zionslieder) und Theologe der jüdischen Tradition. -»Mose ben Maimon (1135-1204) war Arzt, Berater des Kalifen und der jüdischen Gemeinden, hochintellektueller Scholastiker, der aristotelische, neuplatonische und christliche philosophische Traditionen aufgriff und ihnen ein neues Gesicht gab (More nevukhim), und Halakhist erster Güte (Mischne Tora). -»Mose ben Nachman (1194-1270) war als Midraschist, Haggadist, Kontroverstheologe (in der Disputation von Barcelona 1263) und als Kabbaiist eine jüdische Leitgestalt. Moses de Leon (1240-1305) war der mystisch begabte Verfasser eines Teils des Zohar und ein Traditionskenner von besonderem Rang. ->Salomon ben Isaak (Raschi) (1040-1105) war sowohl der erste Talmudist seiner Zeit als auch ein genialer Zusammenfasser und Deuter der jüdischen Exegese in ihrem Gegenüber zu den christlichen exegetischen Traditionen. —»Isaak ben Salomon Luria (1534-1572) und Joseph Karo (1488-1575) waren nicht nur messianisch-kabbalistische Denker, sondern auch Theologen der Halakha. Elia, der Gaon von Wilna (1720-1797), war Bibelkommentator, Talmudist, Dichter und profunder Kenner von Kabbala und Chasidismus. Der bei den „Großen des Zeitalters" anzutreffende feste Wille zur Integrierung möglichst aller überkommenen Traditionen erleichtert die Lektüre ihrer Werke für Außenstehende nicht. Was davon im Judentum zu permanent-überzeitlicher Bedeutung gelangt ist, ersieht man am besten aus den Rabbiner-Bibeln (miqra'ot gedölot) und aus den traditionellen Talmudausgaben. In der zweiten Rabbiner-Bibel des Jakob ben Chajjim steht neben dem masoretischen Bibeltext der Targum (TO und TJ). Darum herum sind auf jeder Seite Bibeldeutungen der „Großen" angeführt, vor allem jene von Raschi und von Abraham ibn Esra. In den traditionellen Talmudausgaben sind Ansichten von Mose ben Maimon, Raschi, Mose ben Nachman und anderer - je nach Ausgabe — beigedruckt. Die „Großen" des Volkes wurden als Zeugen der mündlichen Tora akzeptiert. Daraus ergibt sich die Pflicht für die Juden, sie mit Bibel und Targum zu ihrem eigenen Bibelverständnis und zum Auffinden ihrer halakhischen Verpflichtung mitzulesen und mitzubedenken. Wenn dies der jüdische Fromme tut, dann liest er die Bibel richtig und steht im Strahlkreis der mündlichen und schriftlichen Tora.
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3.2. Poseqim. Es handelt sich hier um Autoren, (poseqim = Rechtsentscheider, Rechtsgutachter), die die biblische Weisung und die talmudische Halakha für die jeweils neuen Zeiten und Probleme auslegten. Dieser halakha-auslegende Strang bildet die jüdisch-traditionelle Hauptliteratur. Da sie so exklusiv wie keine andere religiöse Literaturgattung auf die Verpflichtungen der jüdischen Lebensweise eingeht, ist sie die den Nichtjuden unbekannteste Literatur. Ihre Verfasser standen aber innerhalb des Judentums zu allen Zeiten in höchstem Ansehen, weil sie die Wegweiser zu Buchstabe und Sinn der Sinai Offenbarung waren. Ihre Entscheide galten als chiddüsche hat-Torä, als erneuerte Weisungen vom Sinai her. Das nachtalmudische Halakha-Schrifttum ist formal weithin „Responsenliteratur". Auf Anfragen hin wurden von kompetenten Gesetzes- und Traditionskennern verbindliche Antworten gegeben (sche'elöt uteschüvöt). Der eigentliche Beginn der Responsenliteratur liegt in der gaonäischen Zeit (ca. 6 3 8 - c a . 1038). Die gaonäischen Responsen sind gesammelt in Scha'are zedeq (ed. Nissim ben Chayim, Saloniki 1792). Es ging um Beantwortung von Anfragen über die Begründung der rabbinischen Autorität gegenüber den karäischen Bestreitern, um den liturgischen Kalender, um rituelle Reinheit, aber auch um Astrologie, Zauberwesen, etc. Die Anfragen kamen nicht nur aus der näheren Umgebung der Gaonen, sondern auch aus dem fernen Nordafrika. In späteren Responsen wurden Entscheidungen der früheren Gaonen autoritativ angeführt. Isaak ben Jakob ha-Kohen Alfasi (1013-1103) wollte einen Weg aus dem Wirrwar von Fragen und Antworten heraus weisen. Er schrieb in Spanien das Werk Halakhot als ein Kompendium zum Talmud. Er wollte damit die Halakha aus den komplizierten Abhandlungen und kasuistischen Debatten der Gemara herausschälen, um eine bessere Übersicht zu liefern. Nicht mehr aktuelle Halakhot ließ er aus und von vielen Halakhot brachte er nur den Wortlaut, nicht auch die Entscheidung. Er nahm auch Halakhot von Gaonen auf. Mit seinem 14-bändigen Werk Mischne Tora bzw. yad ha-chazakha wollte Mose ben Maimon die ganze talmudische und nachtalmudische Halakha übersichtlich darstellen und zwar so, daß sich das schwierige Studium der talmudischen Gemara erübrigen sollte. Mischne Tora wird am besten übersetzt mit Vize-Tora, stellvertretende Tora. Jakob ben Ascher, Ba'al ha-Türim (ca. 1270-1340), der Sohn des Ascher ben Jechiel, lebte (von Deutschland herkommend) hauptsächlich in Toledo. Er steht in der Linie der Kritiker der Mischne Tora des Maimonides bzw. jener Poseqim, die die Werke von Alfasi und Maimonides korrigieren und weiterführen wollten. Von seinem Vater, dem „Rosch" lernte er vor allem, daß Maimonides nur im Zusammenhang mit der Gemara interpretiert werden kann. Sein Hauptwerk sind die 'arba'a türim (vier Säulen). Der Titel ist von den vier Hauptteilcn des Werkes genommen: 1. 'Orach Chayyim (Lebensweg), 2. YoreDe'a (Wissensanleitung), 3. '¡Lven ha-'ezer (Stein der Hilfe), 4. Choschen mischpat (Brusttasche des Rcchts). Unter diesen vier Teilen wollte Jakob ben Ascher alle Halakhot erfassen und sie in den talmudischen und zeitgenössischen Zusammenhang hineinstellen. Joseph Caro (1488-1575) ist der Verfasser des Schulchan 'Arukh (gedeckter Tisch). Dieses Kompendium ist in der Form ähnlich (mit den gleichen vier Hauptteilen) aufgebaut wie die 'arba'a turim des Jakob ben Ascher, aber konziser und ohne Angabe von Quellen. Der Schulchan 'Arukh ist eine halakhische Synopse von Joseph Caros eigenem früheren Kommentar zu der 'arba'a turim: Beit Joseph. Joseph Caro bezog sich aber auch auf Alfasi und Maimonides. Moses Isseries (ca. 1525-1572) ergänzte den Schulchan 'Arukh des Joseph Caro besonders durch Einfügung der aschkenasischen minhagim (Bräuche, Gewohnheiten) im nordfranzösisch-deutschpolnischen Bereich. Seine Ergänzungen tragen den Titel mappa (Tischtuch). Damit erschien der „gedeckte Tisch" des Joseph Caro zusammen mit der „Tischdecke" als vollkommenes Werk. Es wird bis heute als unentbehrliche Referenz zu praktischen täglichen Fragen der Halakha gewertet. Israel Meir ha-Kohen (Chafez Chayyim) (1838-1933) schrieb die sechsbändige Mischna Berura (1894—1907), einen umfassenden Kommentar zum 'Orach Chayyim des Schulchan 'Arukh. Dieses Buch wird als weiteres unentbehrliches Referenzbuch zum Schulchan 'Arukh in praktischen Fragen der Halakha akzeptiert. Die Reihe der Poseqim setzt sich bis heute kontinuierlich fort. Z u nennen ist u.a. Moshe Feinstein (geb. 1895), ein Führer der amerikanischen Orthodoxie mit seinen Iggerot Mosche. Die religiösen Rechtsfragen betreffen heute z. T. den Staat Israel, greifen somit stark ins heutige politische Leben Israels hinein. Die halakhische Literatur des Judentums stellt somit ein riesiges Gebäude dar, das in jeder Generation repariert und
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erweitert wurde und viele, teils verwinkelte Gänge hat, die alle zur Weisung am Berge Sinai hinführen. 3.3. Parschanim. Es geht um traditionelle jüdische Bibelexegeten, Bibelerklärer, Bibelkommentatoren (prsch = erklären, deuten). Auch die jüdischen Bibelübersetzer sind den Parschanim zuzuordnen. Sie alle ließen sich bei ihrer Deutung oder Übertragung der Heiligen Schriften in erster Linie vom einfachen, grammatikalischen Wortsinn (Peschat) leiten und ließen demgegenüber den Derasch (rabbinische Ausdeutungsmethoden) eher beiseite. Bereits die Septuaginta ist im Grunde Parschanut-Literatur (parschanüt; abstr.: literarische Frucht der Parschanim). Auch die Auslegungen der Bibel durch -»Philo von Alexandrien und die aramäisch-rabbinischen Targume gehören dazu. Sie werden aber im Judentum nicht dazu gerechnet. Aus folgenden Gründen: Die Septuaginta ist an die Christen verloren gegangen. Die Bibelkommentare Philos wurden ebenfalls auf christlicher Seite benutzt. Die Targume der rabbinischen Zeit (besonders T O und TJ) gelten mehr als die Parschanut-Literatur; sie sind verbindliche Aktualisierungen der Bibel und haben daher den Rang einer mündlichen Offenbarungsquelle. Schon im 7./8. Jh. gab es Versuche, die Hebräische Bibel ins Arabische zu übersetzen. Anerkennung fand aber erst jene von —>Saadja ben Joseph (Gaon). Durch die Hinwendung zu Grammatik und Philologie konnte Saadja die midraschische homiletisch-allegorische Auslegung überwinden, die Hinwendung zum Wortsinn der Bibel fördern und ihr Achtung unter den Muslims verschaffen. Damit gerieten zugleich die traditionsfeindlichen —»Karäer ins Hintertreffen. Als größter Parschan gilt Raschi (1040-1105) (-»Salomo ben Isaak). Er verfaßte Kommentare zu fast allen biblischen Büchern. Sie zeichnen sich sowohl durch philologische Exaktheit als auch durch profunde Kenntnis der talmudischen Bibeltraditionen aus. Fortan wurde der Raschi-Kommentar weithin mit dem Bibeltext zusammen gelernt und in die Rabbiner-Bibeln aufgenommen. Den zweiten Rang neben Raschi nimmt -»Abraham ben Meir ibn Ezra (1089—1164) ein. Er hatte deshalb große Wirkung, weil er nichts als den Wortsinn bieten wollte, Ansätze zur Bibelkritik machte und alles in traditionsfreundlicher Art (gegen die Karäer) darbot. Auch die Qimchi-Familie gehört zu den großen Parschanim des 12./13. Jh. in Spanien: Joseph Qimchi (ca. 1105-1170) und seine Söhne David (1160—1235) und Mose (gest. 1190). Alle drei waren (wie das große Vorbild Saadja Gaon) Grammatiker und Bibelausleger. Eine neue Dimension erhielt die Parschanüt-Literatur durch -»Mose ben Nachman (1194—1270) und später durch —»Isaak Abravanel (1437—1508). Kabbalische und akut-messianische Gedankengänge vermischten sich bei ihnen mit profunder Traditionskenntnis. Im 18.—20. Jh. entstanden bedeutsame Bibelübersetzungen und -kommentare ins Deutsche von -»Moses Mendelssohn (1729-1786), Leopold Zunz (1794-1886), Samson R. -»Hirsch (1808-1888) und Franz -»Rosenzweig (1886-1929)/Martin -»Buber (1878—1965). Am wenigsten beachtet blieb die Zunzsche Übersetzung. Mendelssohn schrieb seine Übersetzung in hebräischen Lettern, um den nach Deutschland eingewanderten Juden, die die lateinische Schrift nicht kannten, eine Hilfestellung auch zum Lernen der deutschen Sprache zu bieten. Samson R. Hirsch verstand seine Übersetzung und Kommentierung als Beitrag zur Konstituierung und Konsolidierung der jüdischen Neo-Orthodoxie. Hinter der Buber-Rosenzweig-Übersetzung („das letzte jüdische Gastgeschenk an die Deutschen") steht eine existentialistische Einstellung zur Bibel. Sie wird als Meisterleistung der Einfühlung ins Hebräische und ins Deutsche gewertet. 3.4. Philosophisch-theologische Literatur. Oft wird gesagt, die jüdische religiöse Literatur sei erst ab ca. Saadja Gaon (9./10. Jh.) theologisch geworden. Zuvor habe es fast nur Traditions-Registrierungen gegeben ohne viel theologische Durchdringung (so noch Kellner, Dogma). Man soll aber nicht Theologie mit theologischer Systematik verwechseln. Bisweilen denken jüdische Autoren außerdem bei ihrer Begriffswahl an die mittelalterlichen Zwangsdisputationen und vermeiden deshalb das Wort Theologie. Es ist aber nicht
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abzustreiten, d a ß die qumranische, die jüdisch-hellenistische und die rabbinische Literatur eminent theologisch waren. Es ging immer wieder um Schöpfer und Schöpfung, um Betonung des ungekündigten Bundes, der Herkunft der Tora vom Himmel, der Auferstehung der Toten, der endzeitlichen Zusammenführung aller jüdischen Exulanten etc. Im 9./10. Jh. entstand in den orientalischen Zentren des Judentums ein neues geistiges Klima. Ihr Hauptvertreter war ->Saadja Gaon. Von der islamischen Philosophie/Theologie und von den —»Karäern herausgefordert, trat die Vernunftserkenntnis neben Offenbarung und Traditionswissen als Maßstab für die Darstellung der jüdischen Glaubensgeschichte und der Glaubensinhalte in den Vordergrund. Damit erhielt die entsprechende jüdische Literatur im Mittelalter ähnliche Konturen wie die islamische und die christliche. Es ging um Adaptierungen besonders von Neupiatonismus und neuplatonisiertem Aristotelismus in ihren arabischen Versionen (Kalam, Mutaziliten). Den entscheidenden Schritt tat Saadja Gaon (vor ihm in gewisser Weise auch schon David al-Moqammes). Sein arabisch verfaßtes, später ins Hebräische übersetzte Werk 'emunot we-de'ot ist eine fundamental-theologische Auseinandersetzung mit dem islamischen Monotheismus, dem Christentum (Trinitätslehre, Menschwerdung) und der jüdischen seht'ür-QomaEsoterik. Saadja war ein philosophierender Theologe. Der Ausdruck „Religionsphilosophie" ist weder für ihn noch für seine geistigen Nachfahren günstig. Der erste bedeutende Vertreter des jüdischen Neuplatonismus in Nordafrika war Isaak Israeli (ca. 860-955). Nach ihm gibt es fünf Quellen der Erkenntnis: die sinnliche Wahrnehmung, die Tradition, die angeborene Vernunft, die Offenbarung und den geübten Intellekt. Philosophische und prophetische Erkenntnis seien von ebenbürtiger Qualität. -»Salomon ibn Gabirol (ca. 1025-ca. 1058) und -»Bachja ibn Paquda (2. Hälfe des 11. Jh.), beide poetisch und philosophisch begabt, vertraten die neuplatonisch-jüdische Theologie im Spanien des 11. Jh.: ibn Gabirol u . a . durch sein lateinisch und teilweise hebräisch erhaltenes Hauptwerk Fons vitae (meqör chayytm) und Bachja durch sein arabisch geschriebenes Werk Herzenspflichten (hebr. Sefer chovöt hal-levavot: T R E 5, 94 - 96). Die Herzenspflichten wurden zu einem der meist gelesenen Erbauungsbücher des Judentums und teilweise auch des Christentums. Im Spanien des 11. Jh. wirkten auf dieser Linie ferner Joseph ibn Zaddik mit seinem Werk Der Mikrokosmos (Sefer ha-'ölam haq-qatön), Moses ibn Esra, Abraham bar Chijja (1065-1143) u.a.
Der Höhepunkt jüdischen philosophisch-theologischen Denkens wurde in Spanien/Portugal jedoch im 12. Jh. erreicht: durch ->Jehuda Hallevi (1075-1141), - • A b r a ham ibn Daud (1110-1180) und besonders durch ->Mose ben Maimon (1135-1204). Jehuda Hallevi wollte die Überlegenheit des Judentums über alle anderen Anschauungen, die religiösen und die philosophischen, zeigen (vgl. Simon, Geschichte 108-119). Abraham ibn Daud führte als erster die aristotelische Richtung der arabischen Philosophie ins jüdische Denken ein (Ha-Emuna ha-Rama). Moses Maimonides bildet die Spitze des mittelalterlichen jüdischen Denkens. Nach ihm läßt sich die Offenbarung vollkommen mit der menschlichen Erkenntnis zur Deckung bringen. Seine dreizehn Grundlehren ('iqqarim: Kommentar zu mSan 10) wollte er als Dogmen im strikten Sinn verstanden wissen (dazu bes. Kellner 10-65). Sein philosophisch-theologisches Hauptwerk Führer der Unschlüssigen (möre nevukim, dux neutrorum) kann als Entfaltung der Grundlehren interpretiert werden. Ebenso wirkungsreich wie mit den dreizehn Grundlehren war Maimonides durch seine theologia negativa. Keine positiven Attribute Gottes träfen auf Gott zu. Die extreme Intellektualisierung des Gottesbegriffes durch Maimonides brachte die jüdische Philosophie zu einem Abschluß, spaltete das Judentum aber auch in Maimonidisten und Antimaimonidisten. Im 13. Jh. wurde der Kampf zwischen beiden Lagern mit äußerster Heftigkeit geführt. Gegenseitige Bannsprüche und Hilferufe bei der -»Inquisition waren die schlimmsten Waffen. Erst im 14./15. Jh. setzte die solide Maimonides-Adaption ein, zunächst durch Simon ben Zemach Duran (1361 — 1444) in seinen Werken 'ohev mischpat und magen avot. Auch ->Chasdai Crescas (gest. 1412) in Saragossa schrieb u. a. ein Werk, das sowohl das Werk des Maimonides kommentiert als auch eine deutliche Antichristlichkeit in sich trägt: 'or adonai (Licht des Herrn). Chasdai
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Crescas und Simon ben Zemach beeinflußten beide -»Joseph Albo (ca. 1380-ca. 1444). Joseph Albos Hauptwerk ist das Buch der Grundlehren (sefer ha-'iqqarim), in dem er die dreizehn Grundlehren des Maimonides auf drei (Existenz Gottes, Offenbarung, Lohn und Strafe) reduzierte. Joseph Albo ist auch deshalb bedeutungsvoll, weil er ein jüdischer Teilnehmer an der Disputation von Tortosa (1413-1414) war, wodurch seine Argumentationen auch in die christliche Auseinandersetzung hineingerieten. Abraham Bilbago (gest. ca. 1489) schrieb sein derekh 'emuna (Weg des Glaubens) ebenfalls als kritische Auseinandersetzung mit den Grundlehren des Maimonides. Auch Isaak Abravanel war nicht nur Parschan, sondern auch Kommentator des Maimonides. Mit diesen beiden letzten philosophisch-theologischen Hauptgestalten geht die spanische Blütezeit zu Ende, bedingt durch die Vertreibungen der Jahre 1492 und 1497. Die neuzeitliche und moderne jüdische Theologie/Philosophie, repräsentiert u.a. durch Baruch -»Spinoza (1632-1677), Moses -»Mendelssohn (1729-1786), Salomon Maimon (1753-1800), Martin -»Buber (1878-1965) und Franz -»Rosenzweig (1876-1929), ging gewiß neue Wege. Sie wahrte aber ihr unverwechselbares Gesicht u.a. dadurch, daß sie immer wieder Rückbezüge auf die Großen des jüdischen Mittelalters herstellte. 3.5. Kabbalistische und chasidische Literatur. (Zu dieser Literatur samt der dahinter steckenden Geistigkeit vgl. T R E 7, 705 - 7 1 0 : aschkenasischer Chasidismus; TRE 16, 304-310: Isaak Luria; T R E 17, 377-386: osteuropäischer Chasidismus; ebd. 487-509: jüdische und christliche Kabbala). Nachzutragen bleibt das erstaunliche Phänomen, d a ß diese esoterisch-mystische Literatur sowohl im heutigen Judentum als auch im Christentum enormen Einfluß hat - trotz der starken Antichristlichkeit, trotz der in ihr vorherrschenden Irrationalität und trotz der in ihr geforderten rigorosen Lebensweise. Dies scheint hauptsächlich dadurch zu erklären zu sein, daß heute religiöse Antworten gesucht werden, die jenseits der kausal und historisch denkenden, intellektuellen Theologie/Philosophie im Bereich von Theosophie, Anthroposophie und Historiosophie liegen. 3.6. Jiddische Literatur. Jiddisch ist eine in mehreren Dialekten und Mischformen vorkommende Amalgam-Sprache aus hebräisch-aramäischen, deutschen, slavischen, und romanischen Sprachelementen. Das Aufkommen des Jiddischen ist durch gruppcnund sozialpsychologische Faktoren bedingt. Wenn Juden in ein neues Gebiet zogen, ging es ihnen im allgemeinen nicht darum, die Tora, das Gebetbuch oder gar die talmudische Literatur in die betreffende Landessprache zu übersetzen. Die heiligen Schriften wurden vielmehr in den Gottesdiensten hebräisch vorgelesen; auch der Talmudunterricht geschah in hebräisch/aramäisch. Da aber die Knaben bevorzugt in hebräisch/aramäisch geschult wurden, mußte sich der weibliche Teil der Judenheit mit einer Mischsprache behelfen, d . h . mit Gehörtem und Mitgelerntem aus dem Tora- und Talmudunterricht und mit Sprachteilen, die im unvermeidlichen Kontakt mit Nichtjuden aufgegriffen wurden. Daß Jüdinnen und Juden im Mittelalter nicht in der Lage waren, die Sprache der eingesessenen Bevölkerung gründlich zu lernen, hing auch mit der judenfeindlichen Stimmung (Kreuzzugszeit) zusammen. Konstituierend für das Jiddische wurde das Zusammenkommen von hebräisch/aramäischen mit mittelhochdeutschen Sprachelementen im 1 0 , / l l . J h . im aschkenasischen Rhein- und Donautal (Trier, Worms, Koblenz, Regensburg). Mit der originellen Kompilation hebräischer und deutscher Wörter und Konstruktionen durchlief das Jiddische (auch Judendeutsch genannt) die bis Mitte des 13. Jh. dauernde Formationsphase. Jiddische Eintragungen in den Wormser Machsor von 1272 gehören zu den ältesten Bezeugungen. - Zwischen 1250 und 1550 konsolidierte sich das Jiddische (Alt-Jiddisch). Charakteristisch für diese Zeit ist das Bovo-Buch (Original in Zürich), das 1541 erschien, eine Liebesgeschichte zum Inhalt hat und sich an „alle frommen Frauen" richtete. Eliahu Levita (ca. 1469-1549) schuf in dieser Zeit ein mehrsprachiges Wörterbuch mit Einbezug des Jiddischen und legte so die Grundlagen für die jiddische Lexikographie. Am besten
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reflektiert das heutige West-Jiddisch (Elsaß, Baden-Würtemberg, Nordwestschweiz) das Alt-Jiddische. Es ist jedoch am Aussterben. Ca. 1550-1700 ist die erste Phase des Ost-Jiddischen, auch Mittel-Jiddisch genannt. Sie hängt mit dem Siedeln der Juden in slawischen Ländern zusammen. Zur Verbindung zwischen Mitteldeutschem und Hebräisch-Aramäischem gesellten sich nun slawische Sprachen (Polnisch, Russisch, Ukrainisch). Das Mittel-Jiddische reifte allmählich zu einer modernen jüdischen Volks- und Kultursprache, zum Standard-Jiddisch, heran. Ein charakteristisches Werk dieser Zeit ist Zenerene (abgeschliffene Aussprache eines Teils des hebräischen Textes von Cant 3,11), das um 1600 in Krakau herauskam (Verfasser: Jakob ben Isaak Aschkenasi von Janow, gest. ca. 1620): ein sehr populäres Werk bestehend aus biblischen und talmudischen Geschichten. Auch das Ein schejti Majsse-Buch, eine Sammlung jiddischer Legenden (in west-jiddisch) stammt aus dieser Zeit (Basel 1602). Ab etwa 1750 bis zum Zweiten Weltkrieg war die Blütezeit des Jiddischen. Unter dem Druck der -»Aufklärung und mit Förderung des -»Chasidismus entwickelte sich das Jiddische zu einer Kultur- und Literatursprache mit liturgischer und profaner Poetik, privater Gebetsliteratur, Dramen, Erzählungen, Predigten, Gesängen, ethischen Traktaten, Erbauungsbüchern und Ubersetzungen von hebräisch geschriebener Literatur. Viele Autoren wandten sich zum Jiddischen, um das einfache jüdische Volk zu erreichen; z.B. Isaak Ber Lewinson (1788-1860) mit seiner Satyre Die Hefker Weit (die zügellose Welt, 1828). Die drei großen Sterne am Himmel der jiddischen Literatur sind Mendele Mocher Sforim (1836-1917), Isaak Leib Peretz (1851-1915) und Schalom Alejchem (1859-1916). Alle drei waren jiddische Romanautoren, Verfasser von Gedichten und Kritiker der Aufklärung, des westlichen Zionismus und der Mißstände im Schtetl. Mendeles berühmteste Werke sind seine Erzählung Dos kleine Menschele (1864), sein Drama Di Takse (Die Steuer), sein Roman Dos Winschfitigerl (Der Wunschring: 1865) und seine allegorische Erzählung Di Klatsche (Die Mähre, 1873). Peretz war stark von der Uberzeugung der jüdischen Eigenständigkeit durch die jiddische Sprache getragen: „Jiddisch ist eine nationale Sprache des jüdischen Volkes" (1909 an der Czernowitzer Konferenz). Scholem Alejchems launige Geschichte Tewje der Milchiger gehört bis heute zur beliebten Weltliteratur (The Fiddler on the Koof). Er hat dem Frohsinn in den jüdischen Gassen literarischen Ausdruck gegeben. Heute gibt es in den USA (z. B. das Yivo-Institut in New York), in Israel und in Europa (z.B. in Mühlhausen) bedeutende Forschungsinstitute, die die reiche jiddische Literatur, die vor dem Zweiten Weltkrieg besonders im Jiddischer Visttschaftlecher Institut in Wilna registriert und aufbewahrt worden war, erforschen und das Jiddische neben dem Hebräischen zu fördern suchen. Die jiddische Sprache hat in der Tat eine außergewöhnlich reiche Literatur hervorgebracht, in der Leiden und Freuden, Beschränkungen und Größe des einfachen, gottbegeisterten und an Gott verzweifelnden jüdischen Volkes in großer Kraft zum Vorschein kommen. Sie ist ein Ereignis von der jüdischen Basis (besonders von den Frauen) her. Sie artikulierte das Selbstverständnis dieser z. T. religiös vernachlässigten Basis gegenüber der intellektuellen religiösen Oberschicht und bewirkte auch Versöhnung zwischen den Eliten und den verarmten Volksmassen. 3.7. Abschließende Bemerkungen. Seit der Aufklärung wurde die jüdische Religion vermehrt auch durch Autoren, die weltliche Sujets behandelten, transparent gemacht: Schmuel J. Agnon (1888-1970), Chayyim N. Bialik (1873-1934), Max Brod (1884-1968), Franz Kafka (1883-1924), Lion Feuchtwanger (1884-1958), Heinrich Heine (1797-1856), Joseph Roth (1894-1939), Isaak Baschewis Singer (geb. 1904) u.a. Sie und andere zeigen, daß die jüdische Religion heute in unverminderter Kraft das religiöse und kulturelle Leben des Judentums und der Menschheit belebt. In der Hitler-Zeit mußte das jüdische Volk durch das dunkle Tal der Tränen und des Todes wandern (vgl. Ps 23,4). Seine heutigen Hauptzentren sind Israel und die USA. Die literarische Produktion auf allen Sektoren blüht erneut. Ein Schwerpunkt der religiösen Literatur liegt heute in der Holocaust-Literatur, die zum Mahnmal für Juden und Nicht-
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juden geworden ist, und in den Darstellungen der jüdischen (religiösen, politischen, kulturellen) Identität gegenüber Christentum, Deutschtum und andern Religionen und Mächten. Die dargestellte Ubersicht über die Motivationen der jüdischen Literatur mußte unvollständig bleiben. Es wären noch weitere Unterteilungen zu machen: zionistische Literatur, Auseinandersetzungsliteratur, homiletische Literatur, Leidensliteratur, religiöse Hintergründe der jüdischen Profanliteratur, jüdische Beiträge zur arabischen und christlichen religiösen Literatur. A u c h auf die wissenschaftliche Erforschung der religiösen Literatur w ä r e ein Augenmerk zu richten. Die „Wissenschaft des J u d e n t u m s " des 19. und die -»Judaistik des 2 0 . J h . haben viel zum Verständnis des Judentums, seiner exzeptionellen Geschichte und seiner großen religiösen Literatur beigetragen. Quellen/Literatur Es ist unmöglich, alle Werke der religiösen jüdischen Literatur hier anzuführen. Sie sind z. Teil bei andern TRE-Stichwörtern aufgeführt, besonders bei den Stichworten -»Gott, -»Gottesbeweise, -»Judentum, -»Judentum und Christentum, -»Kabbala usw. Die hier getroffene Auswahl besteht aus sekundärliterarischen Einführungen in die einzelnen Literaturgruppen und aus wichtigen Editionen oder kritischen Übersetzungen samt Kommentierung [ = üb./ko.] der letzten Zeit. Vernachlässigt werden Werke von Primärautoren, die ein eigenes Stichwort in der T R E haben (z.B. Philo, Josephus). 1. Allgemeine und besondere Einführungsliteratur Sie berücksichtigt Werke, die Akzente auf literaturgeschichtliche und theologische Beurteilungen setzen. Jacob B. Agus, The Jewish Quest. Essays on Basic Concepts of Jewish Theology, New York 1983. - Gedalyahu Alon, Jews, Judaism and the Classical World. 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2. Sprache
3. Rhetorik und Stil
(Literatur S. 268)
Aspekte
1.1. Auch eine Untersuchung zum Verhältnis von Literatur und Religion in der Alten Kirche, mithin zur Frage, wie das Christentum literarisch wirksam wurde und wie es sich in der Literatur, seiner eigenen wie der seiner Gegner, manifestierte, gehört problemgeschichtlich in den Komplex -»Antike und Christentum, der das spannungsreiche Hineinwachsen der neuen, unantik exklusiven Lehre in ihre geistige Umwelt insgesamt erfaßt (vgl. Chr. Gnilka, Die vielen Wege und der Eine: L W J NS 31 [1990] 9 - 5 1 ) . Dabei divergieren die Resultate und Folgerungen der theologischen und der philologischen Analyse mitunter beträchtlich. Denn die Dramatik der inhaltlichen Auseinandersetzung - die Adaption der hellenistischen Ethik im Urchristentum (s. T R E 3,56—59), ferner das Konkurrenzverhältnis der .wahren' Philosophie zu den philosophischen Systemen, zumal der alternativen Soteriologie des -»Neuplatonismus seit dem Einsetzen der -»Apologetik, schließlich die Ausbildung der zentralen trinitarischen, christologischen und anthropologischen Glaubenssätze in der Kontroverstheologie des 2 . - 5 . Jh. als innerkirchliche Fortführung dieses Konflikts, kurz: die ganze literarisch faßbare Spannweite zwischen integrativem Modell, kritischem Dialog und notwendiger, vereinzelt rigoristischer Abgrenzung - läßt leicht die Tatsache in den Hintergrund treten, daß die Christen nahezu alle Formen und Gattungen der paganen Literatur überraschend bruchlos rezipierten und in den Dienst von Theologie und Kerygma stellen konnten, bis schließlich die Kirche selbst zur Hüterin des antiken Erbes wurde. Insofern läßt sich das schöpferische Potential, das in dem spannungsreichen Ringen um eine sinnvolle und verantwortete Aneignung der klassischen Paideia freigesetzt wurde, angemessen nur beschreiben, wenn die christliche Literatur von ihren Ursprüngen an als integraler Bestandteil der antiken Literaturgeschichte verstanden wird. Dies soll an den Bereichen Sprache, Rhetorik und Stil skizziert werden. 1.1.1. Eine Behandlung der literarischen Gattungen kann hier unterbleiben, da sie in ausführlichen Darstellungen an anderen Stellen geboten wird (-»Homiletik, -»Hymnus etc.).
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1.1.2. Die von Franz Overbeck begründete Scheidung zwischen .christlicher Urliteratur' (bis zur Herausbildung des neutestamentlichen Kanons) und .altkirchlicher Literatur' ist als Versuch einer Periodisierung durchaus sinnvoll (vgl. Vielhauer 2 ff) und theologiegeschichtlich notwendig, gleichwohl unter literarhistorischem Aspekt zu starr (hierzu J . Dummer, Die Stellung der griechischen christlichen Schriften im Rahmen der antiken Literatur: Das Korpus der griechischen christlichen Schriftsteller, 1977 [TU 120], 6 5 - 7 6 ) .
1.2. Als erster Versuch einer Ortsbestimmung der christlichen Literatur innerhalb der antiken Literaturgeschichte bleiben Nordens Beobachtungen erwägenswert (Antike Kunstprosa II, 4 5 2 - 4 6 0 ) , auch wenn gleichgeartete Strömungen und Tendenzen in der gesamten kaiserzeitlichen Literatur wirksam werden. Seine Feststellungen sind, unbeschadet möglicher Kritik im einzelnen, geeignet, den Blick von der Textoberfläche auf Wesensmerkmale christlichen Denkens und Sprechens zu richten. Das christliche Selbstverständnis, die unbedingte, vertrauensvolle Hingabe an den Willen Gottes (Mt 26,39), die Gewißheit, daß Gott dem Menschen in Not und Verfolgung beisteht (Mt 10,19f), führte zu einer Umwertung des antiken Freiheitsbegriffes: Julian schreibt (Gregor von Nazianz, or.
4,102) ijfdzepot oi Xöyoi xai r6 ¿V.rjviCeiv, (bv xai ro ocßeiv xovq Oeoög. üftöiv de tj äXoyia xai ij äypoixia, xai ovSev vnep To iJiazEvaov Ti}g vpetepaq ¿axi ooipiat; [Uns gehört Wissenschaft und Bildung, denn wir verehren die Götter. Für euch paßt Dummheit und Roheit, euer oberster Grundsatz und eure Weisheit ist: Glaube! (BKV 2 59, 139)]. Gregors Retorsionsargument - die Glaubenspflicht der Pythagoreer - weist auch auf ein allgemeines Phänomen spätantiker Literatur: ihren exegetischen Charakter, gespeist aus einer Tradition, die die klassischen Autoren - Dichter und Philosophen - zu auslegungsfähigen Autoritäten erhob und teilweise mit dem Christentum um den radikalen Anspruch einer unüberholbaren Offenbarung konkurrierte. Hiermit eng zusammen hängt die Aufhebung der antiken Formschönheit. Von immenser Wichtigkeit für den Anspruch der Christen ist ferner die Überwindung der sozialen Exklusivität der antiken Literatur in Erfüllung des biblischen Missionsauftrages sowie als Konsequenz der apologetischen Schriftexegese und des zu keiner Zeit völlig gelösten Formproblems christlicher Verkündigung. Positiv bedeutet dies nichts weniger als die Schaffung einer volkstümlichen Literatur, die im Rahmen einer neuen Politeia Bedingungen fand bzw. wiederfand, wie sie in idealer Form und scheinbar unwiederbringlich im Athen des 5./4. Jh. v.Chr. oder im republikanischen Rom bestanden hatten. Äußerungen -»Augustins etwa und ungezählte andere dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß in den Predigten der Kirchenväter immer auch ein beachtliches M a ß an sprachlichem Anspruch, rhetorischer Kunst und sophistischer Epideixis steckt. Doch bleibt festzuhalten: Kunst ist (im Idealfall) stets Korrelat von Funktionalität, zweckgebunden in den didaktischen und protreptischen Wirkungsabsichten. Diesem Ideal verpflichtet und dennoch verliebt in die Formvollendung seines Logos, hingegeben an die Größe seines Talents zeigt -»Gregor von Nazianz die extreme Spannweite eines Kompromisses zwischen Antike und Christentum in der Literatur.
2.
Sprache
2.1. Eine Beurteilung der Sprachform christlichen, zunächst speziell griechischen, Schrifttums hat auszugehen von den Entwicklungen, denen die Literatursprache im Verlauf des hier darzustellenden Zeitraums unterworfen ist. 2.1.1. Die christliche Literatur wurde auf Dauer beeinflußt von der durch griechische Rhetoriklehrer in Rom unter Augustus programmatisch formulierten attizistischen Theorie, die eine Rückwendung zu den attischen Autoren des 5./4. J h . v. Chr. propagierte. Fundamentale Bedeutung für die Schriftsprache erlangte dieses prinzipiell auf stilistische fiißrjan; ausgerichtete Programm in seiner extremen Ausprägung im 2. nachchristlichen Jahrhundert, als es Einfluß auf den Schulbetrieb gewann und die semantische, morphologische und syntaktische Struktur der hellenistischen hochsprachlichen Literaturprosa nachhaltig veränderte, die der subliterarischen und Fachprosa immerhin beeinflußte. Kennzeichnend für den extremen Klassizismus der frühen Zweiten Sophistik sind allerdings eine gewisse Regellosigkeit, Experimentiersucht und individuelle Willkür, die in einem naturgemäß konservativen Gebilde, wie es jede artifizielle Hochsprache darstellt, auf Ausgleich drängten. Dieser Prozeß ist in der späten Zweiten Sophistik des 4. J h . , die mit der Blütezeit der patristischen Literatur zusammenfällt, weitgehend abgeschlossen. Wir treffen jetzt auf eine eigenständige, gemäßigt klassizistische Hochsprache, die auf der Grundlage eines mehr oder minder umfangreichen Autorenkanons in langjähriger Ausbildung erlernt werden muß und jeden Schriftsteller, der sich in ihr bewegt, mit einer Reihe von festen Konventionen versieht, auf deren Auswahl er keinen Einfluß hat und die seine individuellen Ausdrucksmöglichkeiten beschränken. Dieser
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Reglementierung steht positiv entgegen, daß eine solche, allgemein als verbindlich a n e r k a n n t e H o c h s p r a c h e einen k a u m zu überschätzenden Wert für die schriftliche und mündliche K o m m u n i k a tion besitzen mußte.
2.1.2. Von den genannten Entwicklungen völlig unbeeinflußt sind die Schriften des neutestamentlichen Corpus und die Apostolischen Väter. Sie gehören sprachlich in eine Zwischenschicht unterhalb der hellenistischen Hochsprache, aber oberhalb der Volkssprache, und stehen der Fachprosa nahe, was je nach individuellem Stilwollen die Tendenz zur Annäherung an die Literaturkoine (-»Lukasevangelium, -»Apostelgeschichte, -•Hebräerbrief) einschließt. 2.1.3. Es ist keineswegs selbstverständlich, daß sich die christliche Literatur seit der Mitte des 2. Jh. der klassizistischen Hochsprache öffnete; näher gelegen hätte eine Beibehaltung der sprachlichen Zwischenschicht, der die Grundschriften des Christentums entstammen, mit der Möglichkeit zur Ausbildung einer Sondersprache. Durch den Gebrauch der Hochsprache stärkten die Christen die Position ihrer Opponenten - Philosophen wie Rhetoren - und gerieten demzufolge bald in eine Kontroverse um die adäquate Sprachform ihrer Literatur (s.u.), die in Julians Rhetorenedikt vom 17. Juni 362 (Cod. Theod. 13,3,5, mit dem kaiserlichen Reskript ep. 61 Bidez) gipfelte. Doch war die Entwicklung bis hin zur schließlichen Dominanz einer christlichen Literatur in der Hochsprache folgerichtig. Mit den Apologeten kam ein Prozeß in Gang, in dem die Kirche zwar im Bemühen, mit allen sie umgebenden Gruppen in einen Dialog einzutreten, eine aktive Rolle spielte, der ihr dabei aber den Gebrauch der Hochsprache als eines Mediums gepflegter Literatur und seriöser Publizistik geradezu auferlegte, wenn sie zur Kenntnis genommen und gehört werden wollte. An der sachlichen Notwendigkeit einer hochsprachlichen christlichen -» Apologetik änderte sich trotz des Wegfalls der staatlichen Repressionen auch im 4. Jh. nichts. Das klassizistische Gepräge der inncrkirchlichen Literatur dieser Zeit spiegelt den tiefgreifenden sozialen Wandel, den das Christentum erfuhr. Eine wachsende Zahl von Theologen hatte das mehrheitlich noch von Heiden beherrschte Bildungssystem der Spätantike durchlaufen, in dem der Klassizismus längst eine unangefochtene und maßgebliche Konstante darstellte. Nichts allerdings spricht dafür, daß ihre Predigten, Briefe und Traktate dem allgemeinen Verständnis unzugänglich blieben; im Gegenteil wurde eine hochrhetorische klassizistische Kunstprosa in der Praxis erwartet und zum Signum der uns erhaltenen patristischen griechischen Literatur des 4. J h . Als die Kirche wenig später auch über die Bildungsinstitutionen verfügte, ließ sich diese von maßgeblichen Kirchenvätern legitimierte Kunstsprache nicht mehr durch eine andere ersetzen. 2.2. Eine wesentlich andere Entwicklung nahm der Westen des Imperiums. Die Missionssprache des Christentums war Griechisch, die faktische Zweisprachigkeit der Kaiserzeit Grundlage seiner Ausbreitung zumindest in den Städten. Griechisch blieb als Sprache des Gottesdienstes, der -»Predigt, der Katechese bis zur Mitte des 3. Jh. in Gebrauch, neben dem vordringenden Latein (zur selben Zeit schrieb -»Novatian in Rom nur noch lateinisch), die -»Liturgie wurde erst nach dem Tode des Papstes Damasus (384) latinisiert. Die sprachliche Isolierung der beiden Reichshälften voneinander ist ein stetiger, aber nicht dramatischer Vorgang, erst im 5. Jh. sind Griechischkenntnisse die Ausnahme. Eine Trennung von der griechischen Literatur war damit nicht verbunden. 2.2.1. Den Bedürfnissen der nur lateinisch sprechenden Gemeindemitglieder dienten schon früh -»Bibelübersetzungen. Um 200 lag die Bibel teilweise, gegen 250 vollständig vor. In ihrer spezifischen umgangssprachlichen Gestalt spiegelt sie das soziale Milieu der ersten lateinsprachigen Christen. Mit ihr war ein Bibelstil geschaffen, an dem auch die Neuübersetzungen bzw. Bearbeitungen des -»Hieronymus grundsätzlich nichts änderten; sie setzten sich im übrigen nur langsam durch (vgl. Augustin, doctr. ehr. 2,15,22). Die erste datierbare lateinische Prosaschrift christlichen Inhalts, die Acta Scilitanorum von 180, weist bezeichnenderweise nach -»Afrika; dort entstand mit -»Tertullians Apologettcum (197) das erste christliche Werk in lateinischer Sprache von literarischem Rang.
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2.2.2. Tertullians Individualität und sprachschöpferische Kraft führen auf das Problem der „christlichen Sondersprache". In beiden Sprachen entfernt sich die Kunstprosa vom gesprochenen Idiom, bleibt aber bis zum Ausgang der Spätantike für den Hörer rezipierbar, für den Sprecher aufgrund der institutionellen Beständigkeit des Bildungswesens erreichbar. Somit sind drei Faktoren in Rechnung zu stellen: die Sprache der Bibel als gegebene Größe, die gesprochene Sprache der Gläubigen und die Hochsprache der theologischen Literatur. Sie alle wirken in der Prosa der lateinischen Kirchenväter auf eine komplizierte Weise zusammen, wobei die Formung eines christlichen Wortschatzes als das eigentliche Kennzeichen der christlichen Sondersprache zu gelten hat. 2.2.3. Die hochsprachliche griechische Literatur der Christen ist infolge des beschriebenen dogmatischen Sprachpurismus gegenüber syntaktischen und morphologischen Einflüssen aus den unteren Sprachschichten abgeschottet. Nur im semantischen Bereich handeln die Kirchenväter den Konventionen zuwider, indem sie, von ihren Briefen an gebildete Heiden abgesehen, den Wortschatz der Bibel konsequent integrieren. Hochsprachliche Bindungen hindern keineswegs an einem intimen Umgang mit biblischen Wendungen und biblischer Metaphorik, aber unter rein linguistischem Aspekt bleibt die Hereinnahme der Bibelsprache ein Oberilächenphänomen und berührt nicht die grundlegende Struktur ihres exegetischen Mediums, der klassizistischen Kunstprosa.
2.3. Erich Auerbachs Feststellung: „So blieb das Corpus der Heiligen Schriften ein Fremdkörper in der lateinischen Literatur klassischer Tradition, solange es noch eine solche Tradition gab, und solange noch Menschen lebten, die ein Gefühl für klassischen Sprachausdruck bewahrten" (Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958, 39), gilt nicht weniger für die griechische Literatur. Dies ist einer der Gründe, warum die Bibel von gebildeten Heiden meist ignoriert wurde. Entsprechend ist die Praxis der Apologeten: Sie zitieren die Bibel gar nicht (-»Minucius Felix) oder, gegen jede gute schriftstellerische Gewohnheit, ausführlich (-»Justin) und zeigen übereinstimmend, daß bei den Adressaten keine Kenntnis der Heiligen Schrift vorausgesetzt werden kann (vgl. Gregor von Nyssa, ep. 14 an Libanius). Literarisch gebildeten Christen fiel es mitunter schwer, ihre ästhetischen Vorurteile zu überwinden (Hieronymus, ep. 22,30). Augustin beschreibt in den Confessiones (vgl. 3,5 mit 6,5) seinen schwierigen Weg zum Verständnis der Schrift und ihrer formalen Gestalt. Bemerkenswerterweise wurden keine Versuche zu einer Umschreibung in klassische Prosa unternommen. 2.3.1. Beachtung verdienen indessen die poetischen Versionen (vgl. Hb. der lat. Lit. 5 § 542 Lit. zu Motiven und Stellung im Kontext der spätantiken lateinischen Dichtung; ebd. §561 Juvencus, $ 562 Cento Probae; R. Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, München, I 1975). Als Evangelienparaphrasen stehen dem Werk der Proba die Homercentonen der Kaiserin Eudokia (um 450) zur Seite. Für -»Apollinaris von Laodicea bezeugt Sozomenus (h.e. 5,18,3-4) eine reiche poetische Produktion zur Sicherung eines christlichen Unterrichts als Reaktion auf Julians Rhetorenedikt.
2.3.2. Der paganen Kritik an der Sprache der Bibel (vgl. Origenes, C. Cels. 1,62; Hieronymus, in Gal. 1,12 coeperunt nobis de novitate et vilitate sermonts illudere) begegneten die Christen auf zweierlei Weise. Seltener durch den Versuch, mit grammatischer Gelehrsamkeit (Arnobius, adv. nat. 1,58 f) in den Heiligen Schriften künstlerische Formen nachzuweisen (vgl. Ambrosius, ep. 8; Hieronymus, ep. 53,8 u. ö. zur,Metrik' der poetischen Bücher des Alten Testaments). Vorbildhaft wirkten -»Augustins rhetorische Bibelanalysen (doctr. ehr. 4,7,11-20), deren Veranlassung und Tendenz er 4,7,14 nennt, deren Ergebnisse er 4,6,9 zusammenfaßt: ita est quaedam eloquentta, qtiae viros summa auetoritate dignissimos planeque dtvinos decet. hac Uli locuti sunt nec ipsos decet alia nec alios ipsa; ipsis enim congruit; alios autem, quatito videtur humilior, tanto alttus non ventositate, sed soliditate transcendit [So gibt es eine Beredsamkeit, die sich für Männer schickt, die das allerhöchste Ansehen verdienen und geradezu göttlichen Charakter an sich tragen. Mit dieser Beredsamkeit sprechen sie, für sie paßt keine andere, so wenig wie die ihrige für andere Menschen paßt. Für sie paßt sie nun einmal, und je niedriger sie anderen zu sein scheint, um so höher ragt sie in Wirklichkeit empor nicht an Aufgeblasenheit, sondern an fester Kraft (BKV 1 49,168)]. Auf ihn beruft sich -»Cassiodor (Norden, Kunstprosa 2,527; gemeint ist Augustins Heptateuchkommentar), doch weist das Bil-
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dungsprogramm von Institutiones und Expositio Psalmorum bereits auf das die inhaltlichen Modelle der spätantiken Bildung tradierende, aber in der Konzentration auf die biblische Exegese eigenständige frühmittelalterliche Schulwesen voraus. Häufiger wurde der Vorwurf des sermo piscatorius theoretisch akzeptiert und zum apologetischen Argument umgedeutet. Die Gegeneinwände der Christen kreisen immer wieder um die Frage der aacpfiveia (Lactantius, div. inst. 6,21,3; ähnlich Theodoret, Affect. 8) und, davon kaum zu trennen, der dX^9eia des Wortes Gottes (Origenes, C. Cels. 1,62). Aus seiner spezifisch apologetischen Zielsetzung wurde das Argument gelöst und fand Eingang in die Diskussion um den Stil der christlichen Literatur. 3. Rhetorik und Stil 3.1. Die frühen Christen begriffen sich als näpoixoi (ep. ad Diogn. 5,5) in einer Welt, die sie vielfach als feindlich empfanden (ebd. 5,11 -17; 6,9; 7,8) und der sie im Bewußtsein der biblischen Antinomien von Weisheit und Torheit (Mt 11,25; I Kor 1,18-31; 3,18-21) skeptisch gegenüberstanden. Dem eigenen Gefühl der Ausgrenzung und Fremdheit respondiert von Anfang an die antichristliche Polemik. In ihr begegnet wiederholt der Vorwurf der Bildungsfeindlichkeit (Origenes, C. Cels. 3,44-58), der, wie gezeigt, nicht zuletzt auf die illiterati homines der Heiligen Schriften Bezug nahm. Im Zuge der Ausbreitung des Christentums und der damit verbundenen inneren und äußeren Wandlungen wurde ein Ausgleich unumgänglich. Eine positive Einschätzung der griechischen Kultur bahnte sich mit Justin an; das Programm einer Synthese zwischen Glaube und Paideia wurde in -»•Alexandrien um 200 entwickelt und durchgeführt und behielt in der Spätantike und in Byzanz Gültigkeit. Gestützt auf die allegorische Deutung autoritativer Bibelstellen (z.B. Origenes, ep. ad Greg. Thaum.: SChr 148,188,19—192,79), erlaubte es einen kritisch reflektierten (Vorbehalt des Glaubens!), aber nahezu unbeschränkten Umgang mit den paganen Bildungsinhalten und schuf der sich entwickelnden christlichen Literatur eine theoretische Grundlage. 3.2. Keines der christlichen Bildungsmodelle hat die Struktur des antiken Schulwesens angetastet (-»Bildung). In ihrer mehr oder minder idealisierenden Form ersetzen sie das vorgegebene Zweierschema Propaideumata-Philosophie in Anlehnung an Philo durch ein dreistufiges System, in dem die Theologie die oberste Stelle einnimmt und als wahre Sophia ihre Überlegenheit dokumentiert. Die apologetische Absicht, die geoffenbarte Schrift über alle philosophischen Denkrichtungen zu stellen, erwies sich für die Praxis der christlichen Ausbildung in der Folge als problematisch. Da die nponaiöevpaxa unter Hinweis auf die Bedürfnisse der Exegese gerechtfertigt wurden, konnten sie einer frühen Beschäftigung mit der Bibel den Weg verstellen (eine Ausnahme bilden Proverbien und Psalter, die fester Bestandteil der Kindererziehung im familiären Rahmen sind: Gregor von Nyssa, VMacr 3). Unter diesen Bedingungen blieb die grammatische und rhetorische Ausbildung bis weit ins 4. Jh. eine Domäne des Heidentums (Basilius, adol.), mit nur geringen christlichen Korrekturmöglichkeiten. Dies wurde um der sachlichen Vorteile willen in Kauf genommen, ein sprechendes Zeugnis sind die Leistungen der Bibelexegese. Am Ende seiner Ausbildung verfügte der Christ über das notwendige Rüstzeug zur Bewältigung der textlichen und historischen Schwierigkeiten der Schrift in unterschiedlichen Formen der Kommentierung; ihre Bestandteile stammen sämtlich aus der Schultradition (Schäublin, Neuschäfer). Die Methodik der christlichen und paganen Exegese fügt sich nahtlos zusammen.
3.3. In der lateinischen Literatur bezeichnet die Neukonzeption der Apologetik durch -•Lactantius (div. inst, vom Jahre 303) den entscheidenden Wendepunkt. Laktanz versteht seine Aufgabe als Kombination aus Apologetik und Protreptik, als eine an römische Kreise gerichtete Gebildetenmission (div. inst. 5,4,3-8; vgl. opif. 20,1) und setzt sich darin von seinen literarischen Vorgängern Minucius Felix, Tertullian und -»Cyprian ab, die er 5,1,22-27 nennt. Dieser Zielsetzung dient ein anspruchsvolles literarisches Programm. Laktanz fordert und begründet die Verwendung einer gepflegten Sprache und künstlerischen Form (1,1,10; 5,1,15-17) und bekennt sich zum klassizistischen Stilideal in der Nachfolge Ciceros (1,1,11-12; 3,1,1). Die Auseinandersetzung wird auf dem Bildungsniveau des Gegners geführt (5,1,9-28) und sucht den Anschluß an die pagane
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L i t e r a t u r und R e l i g i o n III
F o r m - und B i l d u n g s t r a d i t i o n , indem sie a u f Vorstellungswelt, R e d e - und D e n k w e i s e n der anderen Seite eingeht ( 5 , 4 , 5 - 6 ) und von ihnen profitiert: D e r interpretatio christiana r ö m i s c h e r o d e r p h i l o s o p h i s c h e r Vorstellungen ( 2 , 1 , 1 4 - 1 8 ) steht die interpretatio Romana christlicher Begriffe gegenüber (4,2,1 - 2 3 ; 7 , 6 , 1 ) . D i e Konsequenzen dieses P r o g r a m m s sind in z w e i f a c h e r H i n s i c h t b e d e u t s a m . D i e p a g a n e L i t e r a t u r erfährt insgesamt eine A u f w e r t u n g (vgl. H e c k ; d o c h s. B u c h h e i t ) , sie wird n u t z b a r für die A r g u m e n t a t i o n wie für den ornatus elocutionis und k a n n als R e c h t f e r t i g u n g s i n s t a n z für alle F o r m e n der christlichen L i t e r a t u r (einschließlich der Poesie) fungieren. D e m christlichen Schriftsteller wiederum erschließt sich unter den Leitlinien von imitatio und aemulatio ein b e a c h t l i c h e r G e s t a l t u n g s s p i e l r a u m , dessen b e s t i m m e n d e s Kriterium die Verbindung von R h e t o r i k und Bibelexegese darstellt. 3.4. Während Laktanz in der Breite seiner Argumentation und der protreptischen Absicht mit seinen Vorgängern, namentlich Clemens, durchaus Übereinstimmungen aufweist, hat die literarische Reflexion, speziell die bewußte Rückwendung zur klassischen Literatur, keine Entsprechung auf griechischer Seite. Der Grund dürfte in den unterschiedlichen Ansätzen der Schule zu suchen sein. Die griechische Rhetorikausbildung hatte die autoritative Geltung der klassischen Autoren zur Voraussetzung ihres Unterrichts. Da der Klassizismus wesenhaft mit der Schule verbunden war, wurde er auch den Christen während ihrer Ausbildung bzw. durch sie vermittelt. Der zweite Faktor ist die soziale Stellung vieler griechischer Kirchenschriftsteller. Sie gehörten zur Klasse der atriales, die sich, wie Libanius erklärt (or. 11,133-141; 1 4 , 5 - 8 ) vor allem zu drei Wertvorstellungen bekannte: bürgerlichem Patriotismus, griechischer Paideia und familiären Traditionen. Kirchenväter und Sophisten bilden unter diesen Voraussetzungen einen homogenen Personenkreis, sie stehen oft in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis und pflegen einen regen geistigen Austausch. Das Bewußtsein eines gemeinsamen Bildungsbesitzes bleibt bei den Christen bestehen, wenn es auch unter dem Anspruch des Glaubens neu bewertet werden muß; die Trauerreden und Heiligenpanegyriken nach den Gattungsregeln Menanders bezeugen die Macht der Tradition gerade auch in ihren christlichen Modifizierungen und Korrekturen, die Vita Macrinae Gregors von Nyssa wurzelt in ihr und setzt doch Maßstäbe für die Hagiographie. 3 . 5 . Auslösendes M o m e n t der christlichen Stildiskussion w a r die D i s k r e p a n z zwischen h ö c h s t e m Inhalt und .kunstloser' F o r m der Heiligen Schriften, die sich auf den ersten Blick keiner der b e k a n n t e n Stiltheorien fügte. D a ß für die p a g a n e Kritik die F o r m den Inhalt diskreditierte, rief die o b e n (2.3.2) genannten Erklärungsversuche h e r v o r , die ihrerseits theoretische Überlegungen zum Stil der christlichen L i t e r a t u r in G a n g b r a c h t e n und beeinflußten. Vereinfacht gesagt, wird jeweils einer der beiden P a r a m e t e r , F o r m oder Inhalt der Bibel, für die L ö s u n g konstitutiv: die F o r m in der F o r d e r u n g eines einfachen Stils ( z . B . Basilius, ep. 3 3 9 ; G r e g o r d . G r . , m o r . , ep. dedic. 5) - auf solche und ä h n l i c h e Äußerungen gründet der oft k o n s t a t i e r t e B r u c h zwischen T h e o r i e und Praxis - , der Inhalt in der seltener propagierten F o r d e r u n g eines e r h a b e n e n Stils (Hilarius, trin. 1,38; Isidor von Pelusium, ep. 5 , 2 8 1 ) . 3.5.1. Im Westen wird Augustins De doctrina christiana zum Grundbuch der christlichen Literatur und vor allem der Homiletik, vielfach benutzt und ausgeschrieben. Augustins Lösung des Stilproblems fußtauf Cicero, Orator (bes. 69ff) und folgt damit dem peripatetischen Schema der drei genera dicendi: genus submissum, genus temperatum, genus grande. Praktikabel wird das traditionelle System durch strikte Reduktion und, weit wichtiger, Modifikation: Die Stilarten werden von den ihnen zugeordneten Stoffen/Themenbereichen gelöst und ausschließlich auf die Wirkungsziele des christlichen Schriftstellers bzw. Redners bezogen. Ziel des christlichen Schriftstellers muß es sein, die Stilarten entsprechend seiner dreifachen Aufgabe (docere, delectare, flectere) zu mischen (ausführliche Vorschriften 4,22,51-26,58), um dadurch evidentia (Augustins Leitbegriff für die Lehre) und Pathos (in der Protreptik) zur Wirkung zu bringen. Hierin sieht Augustin das Gleichgewicht zwischen Inhalt und Form verwirklicht. 3.5.2. Nicht das System der genera dicendi, sondern die komplexe rhetorische Ideenlehre der Kaiserzeit mit ihrem profiliertesten Vertreter Hermogenes von Tarsus (2./3. Jh.) lieferte der griechischen christlichen Literatur ihre ästhetischen Wertmaßstäbe. Dank ihrer detaillierten Strukturierung und enormen Vielfalt (Hermogenes nennt insgesamt 20 Einzelideen in 7 Hauptgruppen) überwindet die Ideenlehre das starre Raster der genera und erschließt der literarischen Ästhetik ungleich subtilere Formen der Analyse. Sie erlangt im 4. Jh. Bedeutung für die rhetorische Ausbildung. Die Kinder-
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katechese des Johannes Chrysostomus (lib. educ. 39) verrät Vertrautheit mit ihrer Terminologie; Kenntnis des Hermogenes beweist Gregor von Nyssa in seiner Kritik am Stil des Eunomius, CE 1,11-17. Die verstreuten Zeugnisse (eine zusammenfassende Untersuchung fehlt bislang) lassen erkennen, daß die Stildiskussion auf zwei Ideen des Systems konzentriert wird: aipeÄEia ,Einfachheit' zur Bezeichnung der Stilebene des Neuen Testaments und der idealen Form der Verkündigung, aepvÖTtjg ,Erhabenheit' für den erhabenen Stil der rhetorischen Prosa. Für beide Ideen nimmt Hermogenes Plato als Muster in Anspruch. Indem Plato und die Heilige Schrift unter gemeinsamen Stilkategorien subsumiert wurden, konnte die christliche Didaskalie weiterhin die biblische Norm für sich beanspruchen und zugleich ihren (in der Praxis davon völlig unterschiedenen) stilistischen Anspruch legitimieren. Weitere Faktoren begünstigten die Ausbildung eines an Plato orientierten christlichen Rhetorikmodells, so vor allem die paränetischen Elemente, die Neuplatoniker wie Christen gleichermaßen beeindruckten: Die Predigt ersetzte den platonischen Mythos durch die narratio, die Poesie durch das Schriftzitat. Entsprechend diesem Konzept wird die alte Unterscheidung zwischen den Stilarten allmählich aufgehoben; den Christen stehen alle literarischen Formen und Genera offen, auch alle Stile, wenn sie der Behandlung des Themas angemessen sind.
3.6. Um einiges schwieriger gestaltete sich die literarische Praxis. Daß Rhetorik für die Christen sinnvoll und notwendig sei, wird im allgemeinen anerkannt, doch hätten die Griechen Augustins pragmatische Wertung der Rhetorik als einer im Prinzip neutralen Techne (doctr. ehr. 4,2,3) schwerlich akzeptieren mögen. Der Wahrheitsanspruch der christlichen Verkündigung, der unabdingbar aus der Wahrheit des Glaubens folgt, brachte sie in direkte Konfrontation mit den etxöra der epideiktischen Rhetorik und ihren Trägern, den Sophisten. Es war die platonische Forderung nach philosophischer und ethischer Fundierung der Beredsamkeit, die den Christen das begriffliche Instrumentarium in die Hand gab, sich von ihren paganen Zeitgenossen abzugrenzen (so seit Clemens von Alexandrien, Strom. 1,39-42). Uber Plato noch hinausgehend, konnten sie sich das Ideal der Stoa zu eigen machen, deren Definition der Redekunst als cmartjprj tov eJ Aeyeiv = tö dlrjdfj Aeyeiv (aus Aristoteles' aatpijvEia-BegiiH entwickelt) den eigenen Vorstellungen genau entsprach. So ließ sich mit dem vom Glauben wie von der Philosophie hergeleiteten Anspruch der a^Oeia ein auf das Kriterium der aaKlopstocks Messias und der im Zusammenhang mit diesem Werk entwickelten Poetik Von der heiligen Poesie (1755) beizubringen. Klopstocks Poetik ist in der Auffassung von der .höheren Poesie', welche die Kräfte der menschlichen Seele erhebe und stärke, nicht zu verstehen ohne den Pietismus und die trotz seiner Kritik der Künste im Verlauf der
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Säkularisierung dieser Bewegung ausgelöste Verschiebung des Geschmacksideals sowie die Veränderung der Ästhetik. Auch für Klopstock haben Poesie und Theologie die Aufgabe, zur Erziehung des Menschen beizutragen, doch mit einer charakteristischen Veränderung. Es geht Klopstock nicht mehr um eine bürgerliche Moral, sondern um eine Erziehung zur moralischen Schönheit, die Poesie und Religion nur in enger Verbindung miteinander bewirken könnten, weil erst die neutestamentliche Themen behandelnde Poesie die Seele zu dem Endzweck der moralischen Schönheit - in einem Akt des „Gefühlsdenkens" (vgl. Gerhard Kaiser 96 ff) — bewegen könne. Die Probleme, welche sich aus dieser Entwicklung sowohl für die Theologie als auch für die Literaturkritik ergeben, werden in den zeitgenössischen Auseinandersetzungen über den „Messias" greifbar; von der Theologie aus gesehen, betreffen sie vor allem Klopstocks Verständnis der Bibel, genauer, des Neuen Testaments; vor dem Hintergrund seiner Überzeugung, daß auch der Dichter sich vor der Religion zu verantworten habe - trotz der von Klopstock beförderten Autonomie der Dichtung also noch immer eine Instanz, vor der Dichtung sich zu rechtfertigen hat - , biete die neutestamentliche Offenbarung nur Grundrisse, die vom tatsächlich Geschehenen abstrahiert seien; dieses gebe dem Dichter das Recht, den Grundriß, nach genauem Studium mit Schönheit und Erhabenheit auszuschmücken. Die höhere Poesie könne, da sie die Seelenkräfte in der Weise bewege, daß diese sich zum moralischen Endzweck erheben, deshalb mehr bewirken als die Religion. Des weiteren gelten die Bedenken der Theologen dem von ihnen nicht mehr steuerbaren Rezeptionsprozeß, da viele Hörerinnen und Hörer/Leserinnen und Leser sich von der Bibeldichtung mehr bewegen lassen als von der Bibel selbst. Befördert wird diese Entwicklung durch die Literaturkritik, die sich von einer Beurteilung der falschen Anwendung oder der geglückten Erfüllung poetologischer Regeln zu einer Beobachtung der Wirkung verschiebt, die von einzelnen Stellen des literarischen Textes oder von ihm als ganzem ausgeht; der Kritiker gibt seelische Momentaufnahmen des Hörers und Lesers in bestimmten Augenblicken des Kunsterlebnisses wieder und ermuntert gleichzeitig zu solchen. Der hier an einem Beispiel der Bibeldichtung ablesbare Prozeß entfaltet seine volle Wirksamkeit in dem Moment, in dem Johann Gottfried -»Herder die Übertragung eines ursprünglich religiösen gefühlsbetonten Verstehens auf das Verständnis für Dichtung mit der Literarisierung der Bibel als dem bedeutendsten ästhetischen Dokument aus der Frühzeit der Menschheit verbindet. Herders Erkenntnisse zu den Schriften des Alten und Neuen Testaments sind nicht denkbar ohne die Einflüsse Jean-Jacques -»Rousseaus, Johann Georg - • H a m a n n s , Robert Lowth's und Moses -»Mendelssohns. Herder nimmt Hamanns Anschauung von Gott als dem ,,Poet[en] am Anfang der Tage" und von der Poesie als „Muttersprache des Menschengeschlechts" auf, löst aber die Poesie im Gegensatz zu H a m a n n als erste Sprachstufe der Menschheit aus dem engen Zusammenhang mit der Offenbarung und betrachtet sie als die erste natürliche Stufe einer rein menschlich-geschichtlichen Entwicklung, analog zu der auch der Sprache ein Zeitalter der Kindheit zugeschrieben werden muß. Wenn aber Poesie als Ausdruck unmittelbaren, natürlichen und ungebrochenen Empfindens bestimmt wird, so hat jedes Volk in seiner Kindheit solche Poesie mit dem hebräischen gemeinsam. Da alle Völker in ihrer Kindheit die ihnen verständlichen Phänomene in Bilder fassen, da aus der Mythologie eines jeden Volkes bestimmte Stoffe von Dichtern aufgenommen und in ihrer Darstellung überliefert werden, ist eine poetische Färbung solcher Theologien beziehungsweise eine theologische Färbung der frühen Dichtung bei jedem Volk natürlich. Weil das hebräische hierin keine Ausnahme macht, verliert die Bibel die für sie als einmalige und übernatürliche Offenbarung beanspruchte theologische Ausnahmestellung, gewinnt aber überragende Bedeutung als frühestes ästhetisches Kunstwerk, das als weltliche Literatur gelesen und mit Methoden der profanen Literaturkritik untersucht werden kann und muß. Daß es sich bei der hebräischen Poesie um das schriftliche Zeugnis des frühesten und von Gott ausge-
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zeichneten Volkes der Menschheit handelt, hat nur einen graduellen, nicht aber einen wesenhaften Unterschied zu den poetischen Zeugnissen der Frühzeit anderer Völker zur Folge. Die Gleichsetzung von religiösem Text und weltlicher Literatur bei gleichzeitiger Erklärung ihrer Qualität aus den historischen Bedingungen ihres Entstehens, diese historisch-genetische Sehweise erfordert auch ein neues Verstehen, ein Sich-Zurückversetzen des Lesers in das jugendliche Zeitalter der Menschheit im Orient, ist aber gleichzeitig gebunden an eine bestimmte Konstitution des Seelenlebens. Denn da Herder die älteste und eigentliche Poesie als Sprache des unmittelbaren Empfindens charakterisiert, kann auch nur das Gefühl des Lesers den Weg zum Verstehen öffnen. Das Organ des Verstehens ändert sich; an die Stelle des intellektuellen Begreifens tritt das gefühlvolle Verstehen. Diese Art des Leseerlebnisses ist aus dem Pietismus, seiner Forderung nach Beobachtung der Affekte der einzelnen biblischen Schreiber und dem Vergleich der unverbildeten Seele der Gläubigen, denen das gefühlvolle Nacherleben der Bibel den Weg zum Glauben öffnete, bekannt. Das pietistische Bibelverstehen bereitet das neue Geschmacksideal vor, das mit Johann Joachim Winckelmann, Herder und dem —•Sturm und Drang für die deutsche Literatur maßgeblich wird. Daß gerade Erbauungsschriften des radikalen Pietismus — in weit größerem Umfang als bisher bekannt war - an der offiziellen Bücherzensur vorbei den Lesestoff breitester Bevölkerungskreise im protestantischen Deutschland vom Ende des 17. bis weit ins 18. Jh. hinein gebildet haben, hat Hans-Jürgen Schräder nachweisen können; damit ist gleichzeitig eine bislang nicht vermutete und deshalb unbeachtete Quelle für den Reichtum gerade aus diesem Bereich herrührender Bilder, Vorstellungsmuster und Argumentationsformen bei weltlichen Autoren bis weit ins 19. Jh. entdeckt worden. Wie auf dem Gebiet der Religion zu der Ausbildung einer „Privatreligion" auf der Grundlage der aufgeklärten individuellen Vernunft mit dem Pietismus eine zweite Strömung auftritt, die den Glauben statt an das Dogma an das gefühlsbetonte Erleben der Offenbarung bindet, so erfährt die Literatur eine Wendung vom Objektiven zum Subjektiven in einem Prozeß, dessen Textzeugen man unter der Epochenbezeichnung ,Empfindsamkeit' zu sammeln pflegt. Als die einmal entbundenen Gefühlskräfte sich nicht mehr auf den geistlich-religiösen Bereich beschränken, werden in der Dichtung auf gleiche Weise bisher gültige objektive Normen der Poetik aufgegeben, und der Gefühlswert wird zum Maßstab eines Kunstwerks gemacht. Untersuchungen der Erfahrung zeitgenössischer Leser mit Klopstocks Messias zeigen, wie empfindendes Erleben von der Bibel auf das Verstehen von Dichtung übertragen wird. Aus dem Lese-Erlebnis des pietistischen Gläubigen wird das des poetisch empfindenden Lesers, dessen Seele nun aber keiner religiösen Wiedergeburt mehr bedarf, um die Wahrheit des Textes auffassen zu können, sondern nur der unverbildeten Jugendlichkeit. In Herders Behandlung der Bibel laufen beide Strömungen, sowohl die religiöse als auch die poetische Verlagerung ins Subjektive zusammen, erweitert jedoch um das hermeneutische Prinzip des historisch-genetischen Verstehens. Zu einem Zeitpunkt, zu dem den Gläubigen die religiöse Unmittelbarkeit in der Begegnung mit der Bibel auf Grund der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sowie der historischen Erklärung der Bibelwissenschaft genommen war, zu dem das Alte Testament aber weiten Kreisen der Bevölkerung noch als Lese- und Geschichtenbuch dient, nimmt die Literaturkritik den von der Theologie geräumten Platz ein und rettet die alttestamentlichen Schriften, von denen keine Glaubenskraft mehr auszugehen scheint, für das gebildete Publikum der Zeit. Sie vermag dieses, weil sie ursprünglich theologische, in der pietistischen Hermeneutik ausgebildete exegetische Verfahrensweisen auf das Verstehen weltlicher Literatur überträgt und zur gleichen Zeit die Schriften des Alten Testaments als Literatur, als Nationalliteratur der Hebräer entdeckt. Auf dem Gebiet der Dichtung führt Herders neue Sehweise an Texten der Bibel zu einer entscheidenden Erweiterung des Literaturbegriffs, öffnet den Zeitgenossen die Augen für die bisher unbeachteten oder verachteten Dichtungen anderer
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Völker und prägt damit nicht zuletzt in einem entscheidenden M a ß Goethes Idee der Weltliteratur. Die Bibel selbst ist damit in den Vorgang der Säkularisation einbezogen worden. Das Besondere und nahezu Paradoxe an Herders ästhetischer Interpretation der Bibel, die einen neuen Zugang zur unmittelbaren Erfahrung der Religion öffnen wollte, liegt darin, daß sie einerseits eine solche Säkularisierung auslöst, die, wie Schleiermachers Reden über die Religion (1799) zeigen, sehr bald in einer „Theologie des frommen Gefühls" (Karl Barth) münden wird, andererseits aber erst eine Sakralisierung der Dichtung bewirkt, wie sie an der romantischen Kunstreligion zu beobachten ist. Die völlige Auflösung des Religionsbegriffs im Gefühl, an dessen Stelle auch von Unendlichkeit oder Ursprünglichkeit zu sprechen wäre, macht ihn, wie sich bei Friedrich Schlegel zeigen läßt (vgl. Rüdiger v. Tiedemann 213ff), nahezu beliebig verwendbar für die Füllung durch die Begriffe Kunst bzw. Poesie. Unter Rückgriff auf ursprünglich platonische, dann aber in der Renaissance christlich gewendete Vorstellungen von der Inspiration des Dichters, die sich mit der Auffassung von dem poeta als alter deus verbinden, erfahren der Dichter und die dichterische Schöpfungskraft eine bis zu diesem Zeitpunkt nicht für möglich gehaltene Aufwertung: „ H a t man das Wesen der Dichtkunst in eine Nachahmung der Natur gesetzt, so dürfe [...] man es noch kühner in eine Nachahmung der nennenden Gottheit setzen - " (Johann Gottfried Herder, Vom Geist der Ebräischen Poesie, XII,7); diese Formulierung Herders zeigt noch einmal deutlich den unmittelbar biblischen Ursprung einer wesentlichen Vorstellung der Kunstreligion. Wilhelm Heinrich Wackenroders und Ludwig Tiecks Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796) können dieses Ineinanderübergehen von Kunstbetrachtung in religiöses Empfinden ebenso deutlich machen wie Beobachtungen zu dem zunehmend innerweltlich-subjektiven Gebrauch der Kategorie .heilig' in der Kunst- und Literaturkritik der Zeit. In diesen Zusammenhang gehören -»-Novalis' Hymnen an die Nacht (1800) ebenso wie die Hymnen -»Hölderlins, dessen Werk einfach der Kunstreligion zuzuordnen allerdings zu einseitig wäre. Denn sein Versuch, -»Antike und Christentum für seine Gegenwart in einem Zustand neuer Lebendigkeit miteinander zu verschmelzen, nachdem Christi Tod die Versöhnung von antiker und neuer Weltzeit in der allumfassenden Liebe verheißen habe, muß auch als Gegenentwurf zu seinen gescheiterten politischen Hoffnungen gesehen werden. Die Bibel selbst kann nach dem Prozeß der Säkularisierung die Autonomie als literarisches Kunstwerk beanspruchen; denn nachdem die Literaturkritik ihre ästhetischen Qualitäten freigelegt hat, steht es in der Entscheidungsfreiheit eines jeden einzelnen Subjekts, ob es ihre Texte als Literatur oder als zu glaubende Offenbarung, als Religion betrachtet. Die Bindung des Menschen an die Religion ist lockerer geworden, wenn nicht geschwunden; aber Literatur hat die Religion nicht zerstört, sondern tritt an ihre Stelle, und zwar dort, wo Rezipienten sie in diese Funktion einsetzen. Die Bibel selbst ist damit ein Beispiel für den Prozeß, der die Literatur — und allgemein die Kunst - zu ihrer Autonomie in der Weimarer -»Klassik geführt hat. Diese Autonomie der Literatur ist Vorbedingung für die von ihr ausgehende ästhetische Erziehung, in der -»Goethe und -»Schiller die einzige Möglichkeit sehen, den Menschen zu der -»Humanität zu führen, in und aus der er seine Freiheit zu gewinnen vermag. Kunst und Philosophie nehmen so schon in der Klassik und endgültig dann in der -»Romantik Raum und Funktion der Religion dort ein, wo die dogmatischen Lehren dem religiösen Bedürfnis nicht mehr genügen. Religiosität kann sich darum an der poetischen Wahrheit ebenso entzünden wie an der geoffenbarten. Bedarf es, wie an Luthers Hermeneutik deutlich wurde, der lebendigen Glaubenserfahrung als Voraussetzung zum Verständnis der biblischen Texte, so macht Herder das Gefühl zur Voraussetzung für ihr ästhetisches Verstehen; er legt damit den Grundstein für die Überzeugung der Romantiker, daß der Glaube an das Göttliche der Kunst ihrem Verstehen immer vorangehen muß:
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„Rechter Verstand der Worte, Bilder und Sachen giebt denen, die Gefühl haben, ohne viel Rede und Anpreisung, Begrif [!] der Schönheit. Wers nicht hat [das Gefühl], dem kann es durch Ausruffungen, durch Herbeiholung vieler ähnlicher Stellen aus andern Dichtern, geschweige durch allgemeine Betrachtungen über die Poesie und ihre mancherlei Arten schwerlich gegeben werden" (Johann Gottfried Herder, Vom Geist der Ebräischen Poesie XI, 219).
Mit der Sakralisierung der Literatur in der romantischen Kunsttheorie wie auch in der literarischen Praxis hat sich das Verhältnis von Literatur und Religion, geht man von Luthers Auffassung aus, umgekehrt. Dieses Ergebnis ist auch ein Spiegel der allgemeinen Veränderung, der die Bedeutung und Funktion von Religion unterliegt. Sie werden auf zweierlei Weise für das Verhältnis von Literatur und Religion im 19. und 20. Jh. bestimmend und wirken sich sowohl auf die Literatur als auch auf einen bestimmten Ansatz in der Wissenschaft von der Literatur aus. Wenn von Sakralisierung der Poesie zu sprechen ist, muß festgehalten werden, daß diese nicht mehr in dem Sinn der mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen allgemeinen Verbindlichkeit zu sehen ist, sondern daß - nach der Überantwortung der religiösen Erfahrung in das Gefühl des einzelnen Subjekts - auch der ,Sakralitäts'-Begriff der Religion sich in die Unverbindlichkeit aufgelöst hat, aus der das Gefühl für das ästhetische Erlebnis bzw. die Poesie selbst als Ergebnis eines Gefühlszustandes eine der Religion entlehnte und mit religiösen Bildern, Metaphern und Gestus beschriebene Weihe empfängt. Mit der Verwendung des Inspirationsgedankens für die weltliche Dichtung gerät die Literaturtheorie in Anschauungsformen über die Entstehung von Dichtung zurück, die am Beispiel der althebräischen Texte durch die Erklärung mit der natürlichen Sprachstufe überwunden waren; denn mit diesem Argument wird der Grund gelegt für den Anspruch und die Zuschreibung einer besonderen Stellung, die der Dichter im bürgerlichen Literaturverständnis des 19. Jh. einnimmt. Wenn der Gegenstand Poesie auf diese Weise geheiligt wird, umgibt auch den Schöpfer dieser Poesie eine besondere Aura, die nicht nur aus der Berufung auf die - säkularisiert zu verstehenden - Propheten und Sänger der Bibel, sondern gerade in Zusammenhang mit dem neu aufgewerteten Glauben an die dichterische Inspiration ihre Wirkung entfaltet. So läßt sich ein Bogen schlagen von der romantischen Kunstreligion zur Begründung einer geistesgeschichtlich verfahrenden Literaturwissenschaft durch Wilhelm -»Dilthey, der dieses Konzept gegen den -»Positivismus entwickelt. Wenn es bei Dilthey heißt: „Da die Religion den Halt metaphysischer Schlüsse auf das Dasein Gottes und der Seele verloren hat, ist für eine große Anzahl gegenwärtiger Menschen nur noch in der Kunst und der Dichtung eine ideale Auffassung von der Bedeutung des Lebens vorhanden. Das Gefühl durchdringt die Poesie, daß sie die authentische Interpretation des Lebens selber zu geben habe [...]" (GS VI, 237), so lassen sich aus dieser Auffassung zwei Beobachtungen ableiten. Die erste gilt der Auffassung von der Rolle und Aufgabe des Dichters, den eine gesteigerte Empfänglichkeit und Erlebnisweise aus der Masse der Menschen herausheben. Nur diese Begabung ermöglicht es ihm, seine Aufgabe, die Vorgänge des Lebens auszudeuten, zu erfüllen. Zwischen ihm und seiner Mitwelt besteht eine eigentümliche Wechselbeziehung: „Die Menschenwelt ist für den Dichter da, indem er in sich Menschendasein erlebt und, wie es von außen ihm entgegentritt, es zu verstehen sucht" (165). Sein Verfahren ist also einmal abhängig von der gesteigerten Sensibilität, zum anderen von seiner Umgebung, der er mit seinem besseren Verstehen dann wiederum zu dienen vermag, weil sich der „Seherblick des wahren Dichters ins Unendliche steigert" (165). Hier kehrt der Begriff wieder, der an die Stelle der Religion getreten war, und wird verbunden mit der geistigen Schau, aus der heraus der Dichter dann die notwendige Wahrheit verkündet. „Die Dichtung ist Organ des Lebensverständnisses, der Poet ein Seher, der den Sinn des Lebens erschaut" (391). Die Auffassung von dem Dichter als Führer und Vorbild hat in einem solchen Dichtungsverhältnis ebenso ihre Ursache wie die Gemeindebildung um Rainer Maria -»Rilke, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George.
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Dieses Verständnis von Dichtung und Dichter kann zweitens aber den Bedeutungsund Funktionswandel anschaulich machen, den die Religion erfahren hat: Denn die Einsetzung der Dichtung als Instanz der Lebensdeutung und des Dichters als eines Verkünders dieser Deutung zeigt, daß die Religion ihre Stellung als einziges System der Weltdeutung, vor dem sich jedes gesellschaftliche Handeln zu legitimieren hatte, verloren hat. Neben sie tritt die Literatur als ein weiteres System, das Anspruch und Angebot der Lebensdeutung mit eben den Zeichen und Bildern des religiösen Systems zu beschreiben weiß. Der Prozeß der Angleichung von Literatur und Religion im Rahmen der Veränderung des Religionssystems läßt sich durch eine weitere Beobachtung bestätigen. Das Verhältnis von Literatur und Religion ist für das 19. Jh. kein Thema mehr. Die Selbstverständlichkeit des Eingebundenseins in den religiösen Kosmos ist geschwunden; der Begriff Kulturprotestantismus' für die Religion großer Teile des gehobenen Bürgertums am Ende des 19. und Beginn des 20. Jh. läßt diese Entwicklung schon in der Zusammensetzung seines Namens erkennen. Verfügbar bleibt der gesamte Sprach-, Bilder- und Geschichten-Bereich der Bibel für alle, die in irgendeiner Weise noch in dieser Tradition stehen; die Bibel wird zu einem frei handhabbaren Zitatenfundus, wie sich an den verschiedenen Untersuchungen zur Verwendung der Bibel bei Autoren des 19. Jh. - Georg Büchner, Heinrich Heine, Karl Marx, Theodor Fontane, Wilhelm Raabe - zeigen läßt, deren Art und Weise, mit biblischen Stoffen, Redewendungen und Formeln umzugehen, jeweils auch Aussagen über ihre Nähe und Ferne zur Religion zuläßt. Eine Auseinandersetzung mit der Bibel als Grundlage einer geoffenbarten Religion findet von der Literatur her nicht statt. Allerdings wird der von der Religion bereitgestellte Deutungsrahmen von der Literatur zu Beginn des 20. Jh. noch einmal in der Weise in Anspruch genommen, daß er im -•Expressionismus einen bestimmten Grundzug der Werke bildet. Vor allem Dramatiker wie Reinhard Johannes Sorge, Ernst Barlach und Max Brod versuchen, dem Gefühl einer von Gott verlassenen und zerbrechenden Welt ihre Idee einer neuen und besseren Zukunft entgegenzusetzen. Die Absage an ein traditionelles Gottesbild bestimmt viele expressionistische Dramen, in denen das Bild eines „unfähigen, müden oder auch senilen Gottes" (Karl S. Guthke 38) oder des „Diabolischen Gottes" (53) gezeichnet wird. Doch läßt sich am Beispiel Barlachs zeigen, daß der Gedanke an eine Transzendenz nicht aufgegeben worden ist, daß diese Transzendenz aber als ein entpersönlichtes Anderes verstanden wird, das sich menschlichem Begreifen und jeder Festlegung entzieht. Man kann in diesem Vorgang eine Entsprechung zu einer Entwicklung in der protestantischen Theologie sehen, in der Karl Barths Römerbrief-Exegese, die 1918, ein Jahr vor der Menschheitsdämmerung überschriebenen wirkungsreichen Anthologie expressionistischer Lyrik erscheint, die unendliche Ferne und das völlige Anderssein Gottes herausarbeitet. Im Expressionismus werden Enttäuschung und Hoffnung noch eng aneinander gebunden, und über das Bild des geschmähten Gottes, über den „Jüngsten Tag", die „Sündflut" und das „Gericht" führt die Vorstellung von einer Erneuerung der Erde, verbunden mit der Lichtmetaphorik des Christentums, noch hinaus zu einer fast verzweifelten Erwartung an ein jenseitiges Anderes, das ein religiöses Bewußtsein widerspiegelt, aber von christlichem Inhalt nicht mehr gefüllt ist. Eine solche Erwartung lassen die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs nicht mehr zu. Der Ruf des Heimkehrers Beckmann in Wolfgang Borcherts Drama Draußen vor der Tür verhallt ungehört; mit dem „Gott ist tot", das hier ausgesprochen wird, verschwindet das Interesse an ihm. Für das Verhältnis von Literatur und Religion ist hier die Gelenkstelle erreicht, an der einzig der Literatur noch die Fähigkeit zugestanden wird, Erfahrung zu gestalten, Welt zu deuten und in dieser ästhetischen Funktion über die Verzweiflung an der Welt auf das eigentliche Humanum vorauszuweisen.
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Dieter Gutzen VI. Praktisch-theologisch 1. Systematische Aspekte 2. Zur Theoriebildung 3. Selbstaussagen der Schriftsteller/innen 4. Einzeluntersuchungen 5. Die biblische Tradition als Gegenstand poetischer Analyse 6. Praktisch-theologische Konsequenzen (Quellen/Bibliographien/Literatur S. 304)
1. Systematische
Aspekte
Eine derzeitige Verhältnisbestimmung von Religion und Literatur kann sich an die voranstehenden Leitlinien der historischen Aufarbeitung anschließen. Der von D. Gutzen beschriebene Prozeß der Emanzipation der Literatur von Theolo-
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gie und Kirche im Interesse künstlerischer Autonomie hat sich fortgesetzt. Gottfried Benns Verdikt „Gott ist ein schlechtes Stilprinzip" (Doppelleben 1950, G W in 2 Bden., Zürich 1968, 2026) hat seine Wirkung gezeigt. Dieser Prozeß entsprach der zunehmend fehlenden Plausibilität eines metaphysisch gedachten Gottesbildes. Das hinderte aber nicht daran, die Gottesfrage in anderer Weise neu zu thematisieren. Selbst bei Benn war dies der Fall (Die Stimme hinter dem Vorhang, G W 1589-1621). Die beschriebene Tendenz der Säkularisierung führte oft, wie schon in der -»•Klassik und -»Romantik, zu einer insgeheimen Sakralisierung des nun eindeutig weltlich Gewordenen. Was bei F. G. —»Klopstock und J. G. -»Herder vorbereitet war, fand seine Fortsetzung. W. v. -»Goethe schrieb: „Die wahre Poesie kündigt sich dadurch an, daß sie als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen uns von Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken" (Dichtung und Wahrheit, Artemis-Ausgabe, dtv Bd. 10, 634). Die Inhalte und die Perspektiven konnten wechseln, die Konstellation für eine Dichtertheologie, wie wir sie bei F. -»Schlegel, -»Novalis und F. -»Hölderlin finden, war gegeben. Gegenüber traditioneller Kirchlichkeit war damit eine Öffnung in religiöse Dimensionen der Kultur ermöglicht, die später mit dem allerdings durchaus komplexen Begriff des -»Kulturprotestantismus summarisch zusammengefaßt wurde. Doch wurde die Verhältnisbestimmung selten zu einem praktischen Problem, Lyrik drang nur selten in die Liturgie ein. Uber Goethe und F. Schiller wurde nur selten gepredigt. Auch in der Theoriebildung gab es hier wenig Ansätze. Das Problem einer theologischen Ästhetik wurde wenig gesehen; vorherrschend waren die Fragen der Ethik und Moral, wie des Atheismus bzw. der Blasphemie. Neue Konstellationen ergaben sich mit dem -»Expressionismus, weil hier die Erschütterung der klassischen Formen in Konvergenz mit den Neuansätzen negativer Theologie, sei es nun R. - » O t t o oder K. -»Barth, verstanden werden konnte, und mit der radikalen Gottesaporie, wie sie nach 1945 bei R. Borchert sich paradigmatisch ausdrückte. Dies wurde, besonders durch die Erkenntnis der Greuel des Massenmordes an den Juden innerhalb einer sich christlich nennenden Kultur, noch gesteigert. Literatur nach Auschwitz, das war und ist eine zugleich theologische wie poetische Grundfrage. Man wird aber die Konstellation von Literatur und Religion nicht nur am Leitfaden der Gottesfrage erörtern müssen, bei der es zudem nicht nur um dogmatische Inhalte, sondern die Sagbarkeit Gottes überhaupt geht. Gerade christliche Theologie betont die Notwendigkeit einer Theologie von unten. Christologie und Anthropologie könnten möglicherweise eher zu den Exponenten von Wirklichkeit werden, in denen das Wort Gottes und die Kunst der Sprache in Dialog oder Diastase stehen. Das führt zu den Themen Tod und Schuld, neuerdings auch wieder zu dem Phänomen Natur. Letztlich zeigt sich aber immer wieder das Thema Kirche als besonders sperrig. Der Emanzipationsprozeß der sprachlichen Kunst hat hier seine besonderen Widerlager. Im Rahmen eines weiteren Literaturbegriffs sind auch Liturgie und Predigt literarische Formen. Außerdem fragt sich, ob die Kirche ein Auslegungsmonopol für die Bibel hat. Religion als Privatsache entspricht einer Neigung der Verwurzelung der Kunst in autonomer Subjektivität, so daß Schriftsteller als eigene weltanschauliche Gruppe selbst bei dem Interesse an Nonkonformität auch religiös von Bedeutung werden. O b die christliche Kirche solche Prozesse als neue Formen religiöser Erfahrung bejaht oder ablehnt, den Dialog fördert oder prinzipiell Nichtverstehen praktiziert, ist dabei noch keineswegs ausgemacht. Mit dem steigenden Interesse an Korrelationstheologie im Gefolge P. -»Tillichs, aber auch anderer Spielarten ist das Interesse an neuen Verhältnisbestimmungen von Theologie und Literatur im 20. Jh. im deutschen Sprachraum deutlich angewachsen. Das führte sogar zu der Forderung, so etwas wie eine „Literaturtheologie" zu entwickeln. In England und in den USA spricht man von „joint study of theology and literature" (Wright 233). Die Geltung und Grenze theologischer Interpretation von sprachlichen Kunstwer-
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ken ist lebhaft umstritten wie auch die Aufnahme literaturwissenschaftlicher Methoden zur Analyse und Praxis biblischer und liturgischer Texte. Die Darstellung der verschiedenen Tendenzen darf nicht davon absehen, wer sich alles an diesen Diskursen beteiligt. Von fachtheologischer Seite werden immer wieder, wenn auch eher marginal, Bemühungen um Dialog spürbar, die allerdings schnell unter Instrumentalisierung, d.h. Eingemeindungsverdacht gestellt werden können. Daß die Literaturwissenschaft derzeit weniger den Dialog sucht, liegt möglicherweise daran, daß das Problem interdisziplinärer Methodik große Schwierigkeiten in sich schließt, aber auch das Thema Religion sowohl dem Inhalt wie der sprachlichen Form nach, gerade auch bei den zeitgenössischen Autoren, eher diffus präsent zu sein scheint. Daß die Autoren selbst wesentlich mehr zu dem Thema beitragen, als Kirche und auch Literaturwissenschaft im allgemeinen gewärtig ist, haben zahlreiche Analysen erwiesen, insbesondere die Arbeiten von K.-J. Kuschel. Es gibt aber auch einzelne namhafte Autoren, die gelegentlich theologische Verkündigung und schriftstellerische Arbeit beruflich nebeneinander realisiert haben, wie z. B. K. Münk und K. Marti. Folgt man den Ansätzen der Rezeptionsästhetik, erweitert sich das Spektrum der Meinungsäußerungen noch. Im folgenden soll versucht werden, eine Skizze der Tendenzen und Entwicklungen auf der Ebene der Theoriebildung, der Werkinterpretation sowie der praktischen Rezeption zu geben. 2. Zur
Theoriebildung
Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu theologischen Annäherungen an die zeitgenössische Literatur, aber kaum zu grundsätzlichen Aufarbeitungen des Problems. W. Knevels verfaßte 1927 eine Studie: Das Religiöse in der neuesten lyrischen Dichtung, die die damalige Situation exemplarisch kennzeichnete. Nicht das Wort Gottes, sondern die Religion - Knevels orientiert sich an R . Otto und G. Wobbermin - ist die erkenntnisleitende Perspektive. Die Situationsbestimmung ergibt: „Durch die ganze Kulturwelt geht eine neue 'Welle der Religion, genauer: der Religiosität, des Gesrimmtseins und Gerichtetseins auf das Religiöse hin" (5). In der neuesten Lyrik, die Spiegelbild der Zeit ist, wird Religion ungewohnt neu lebendig. „Die neueste Lyrik ist letztlich religiös, nicht im christlichen Sinn, nicht so deutlich bestimmt und betont - aber doch durchaus religiös . . . und vielleicht auch - ich glaube es - auf dem Wege zum Christlichen" (6). Solch ein Ansatz führt zu methodischen Konsequenzen: „Ausgeschaltet ist selbstverständlich die ausgesprochene und bewußt christliche Dichtung, da sie für unsere Zwecke nicht in Betracht kommt und ja auch - leider - in der Gegenwart ziemlich und bedeutend i s t . . . Maßgebend für die Auswahl ist der religiöse, nicht der ästhetische Gesichtspunkt (obwohl ich natürlich möglichst die künstlerisch höchststehenden Erzeugnisse berücksichtige)" (6).
Solche einfache Verbindung von Religion und christlichem Glauben und die großzügige Behandlung der ästhetischen Fragen sind für einen sinnvollen literaturtheologischen Ansatz nicht tragfähig. Daß Knevels für bestimmte Richtungen typisch war, zeigt sich daran, daß er zahlreiche Artikel über Dichter in der 2. Auflage der RGG verfaßt hat. Für die andere Fragerichtung literaturtheologischer Erörterung - die Anwendung ästhetischer Betrachtung auf Bibel und Frömmigkeit - ist eine Studie von O. Frommel, Die Poesie des Evangeliums Jesu (Berlin 1906), charakteristisch. Anknüpfend an die Arbeiten der religionsgeschichtlichen Schule, insbesondere A. Jülicher, J . -•Weiß, W. Bousset und H. Weinet, versuchte der Autor, die „poetischen Formen der Worte J e s u " ( 3 8 - 7 0 ) zu erfassen, das religiöse, in Symbolen sich kundtuende Erlebnis Jesu nachzuzeichnen, um schließlich „Jesus als Künstler des Lebens" ( 1 5 7 - 1 7 6 ) darzustellen. M a g diese Studie auch wenig bedeutend und sicher ohne Nachwirkung geblieben sein, so ist doch ihr methodischer Ansatz bemerkenswert. Das einleitende Kapitel „Die Sprache der Religion und die Sprache der Poesie" identifiziert nicht, behauptet aber Verwandtschaft, erinnert an Wackenroder und Novalis und natürlich auch an Goethe „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat auch Religion" (die Fortsetzung: „wer beides nicht besitzt, der habe Religion" wird allerdings weggelassen), stützt sich aber vor allem auf F. Hebbel: „Der Dichter wie der Priester trinkt das geweihte Blut, und die ganze Welt fühlt die Gegenwart Gottes . . . Gott spiegelt sich in der Welt, die Welt im Menschen, der Mensch sich in der
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Kunst" (19). Auch hier ist die Aufmerksamkeit auf das religiöse Erlebnis und die ihm entsprechende Sprache gerichtet, wobei aber nun eben die biblische Literatur von diesen Kategorien her analysiert wird: „Wann werden wir dahin kommen, das Gemälde, das Jesus uns von Gott und Welt, von Erde und Himmel, Zeit und Ewigkeit geschaffen hat, nicht durch die Brillengläser der Dogmatik, sondern mit dem Blick der Poesie, der Liebe und der echten Andacht schauen?", fragt der Autor (156), tut aber solcher Erwartung dann schon erheblichen Abbruch im Blick auf die Inhalte der Verkündigung Jesu, wenn er fortfährt: „Es wird ein wonniges Schauen sein" (156).
Wo so Reich Gottes, Glauben als eschatologische Existenz und Wort Gottes als Gericht und Gnade neutralisiert werden, mußte solch ein Ansatz wirkungslos bleiben, obwohl es nicht verkehrt war, gerade das Hauptaugenmerk auf Jesu Gleichnisreden zu legen. -»Dialektische Theologie und Kirchenkampf (-»Nationalsozialismus und Kirchen) förderten eher die Abgrenzung. S. -»Kierkegaards Unterscheidung von Genie und Apostel, seine Frontstellung - wiewohl dichterisch vorgetragen - gegen ästhetische Lebensauffassung und F. -»Overbecks Polemik gegen die moderne Theologie wirkten sich aus. Formgeschichtlich wurde die neutestamentliche Überlieferung genauer untersucht, was auch Distanzierungen von dem üblichen Kunstbegriff der Literatur erlaubte. M . -»Dibelius ordnete die Evangelien in die „Kleinliteratur" ein, die zwischen privatem Schrifttum und großer Literatur angesiedelt ist (Formgeschichte, Tübingen 1919, l f ) . Die Tatsache, daß sehr viele Schriftsteller von Rang ins Exil gehen mußten, daß die Beziehungen von jüdischen Dichtern und deutscher Literatur gewaltsam unterbrochen wurden (vgl. dazu den Sammelband: Im Zeichen Hiobs, hg. v. G.E. Grimm/H.-P. Bayerdörfer, 1 1986), führte nur in gewissen Fragen zur Förderung der Verhältnisbestimmung von Theologie und Literatur. Immerhin bieten Autoren wie R. A. Schröder, R. Schneider, J. Klepper und K. Ihlenfeld bemerkenswerte Erkenntnisse, die in der nach 1945 einsetzenden Debatte um die Kennzeichen und Begriffe christlicher Literatur nicht immer gut aufgehoben waren. Zuerst hielt sich nach 1945 eine Weile noch das Bild von einer christlichen Literatur, die durchaus die Frage nach der dichterischen Qualität nicht zu scheuen hatte. M a n verwies auf internationale Größen wie P. -»Claudel, G. Bernanos und T.S. Eliot. Kennzeichnend waren das von 1950 bis 1964 in fünf Auflagen erschienene Werk von W. Grenzmann Dichtung und Glaube, Sammelbände wie Christliche Dichter im 20. Jh. (hg. v. O. M a n n , M968) oder die vier Bände der Reihe HOMO VIATOR: Moderne christliche Erzählungen/Modernes christliches Theater. In diesen Zusammenhang gehört auch G. Kranz* Beitrag Christliche Literatur der Gegenwart (1961). Entsprechend ist die Problematik in der 3. Auflage der R G G , für die O. M a n n den Artikel „Literatur der Gegenwart. I. Deutsche Literatur der Gegenwart" verfaßte. M a n n beginnt seinen Artikel mit dem markanten Satz: „Die deutsche L. [Literatur] der Gegenwart steht im Banne der durch die Säkularisation im 19. und 20. Jh. geschaffenen Tatsachen" (390). Maßgeblich ist die Gegenüberstellung von Offenbarung im christlichen Sinn und der davon abhebbaren Position vieler Autoren, wie z.B. -»Materialismus, Marxismus (-»Marx/Marxismus) oder -»Nihilismus und Existentialismus (-•Existenzphilosophie/Existentialismus) im Sinne -»Sartres. Probleme ergeben sich dabei verständlicherweise in dem jeweils verwandten Begriff von Glaube (Grenzmann: „Glaube bedeutet dabei zunächst nichts anderes als die in überrationalen Uberzeugungen wurzelnde Anschauung vom Ganzen der Welt" [5. Aufl. 11]) bzw. in dem Verhältnis von Religion und Christentum. M a n n rekapituliert die Geschichte der Säkularisation, kann durch den internationalen Ansatz auch katholische Autoren von Weltruf heranziehen und ist an der Gegenbewegung zum Säkularismus interessiert. In solche Tendenzen wird dann auch H. Boll eingegliedert, sicher nicht in seinem Sinne. Divergenzen zwischen G. Grass und seinem Lehrer A. Döblin bleiben unberücksichtigt.
G. Kranz sieht christliche Literatur immer mit Gott und dem Menschen befaßt. Derzeit sei der Mensch in den Mittelpunkt gerückt. Er vermutet aber: „Vielleicht dürfen wir das entscheidende Merkmal der christlichen Literatur des zwanzigsten, schon nicht mehr zur Neuzeit gehörenden Jahrhunderts, daran erkennen: daß in ihr allmählich wieder Gott in den Mittelpunkt rückt" (Gegenwart 7).
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Gegen diese Sicht richtete sich nicht nur der Widerstand von Autoren, sondern auch von Theologen mit Interesse an der Literatur. Maßgeblich wurde ein eher christologischer Ansatz, der gerade die Weltlichkeit positiv zu fassen lehrte und der Literatur ideologie- und kirchenkritische Funktion zumaß. Als die Bahnbrecher zu einer neuen Würdigung der theologischen Relevanz der Literatur sind auf evangelischer Seite H. J . Baden (1911-1988) und Fr. Hahn (1910-1985) zu nennen. Baden verknüpfte in zahlreichen Studien Theologie und Literatur, wobei weniger das Problem der Säkularisation, sondern „des verschwiegenen Gottes" für ihn maßgeblich wurde. Nicht weltanschauliche Prinzipien, sondern Erfahrungen waren für ihn wichtig. Verbindend war das Thema: „Was ist der Mensch?" (Der verschwiegene Gott 9). Poesie und Theologie, dies auch ein Titel seiner Essaysammlungen, wurden von ihm weniger theoretisch-systematisch bestimmt, sondern individuell durch die Interpretation zahlreicher Werke und Autorenschicksale. Seit 1963 hatte er — einzigartig in Deutschland - einen Lehrauftrag an der Universität Münster und wurde dort auch Honorarprofessor. Hahn kam von religionspädagogischen Wirkungsfeldern dazu, Theologie und zeitgenössische Literatur in Beziehung zu setzen. Sein Werk Bibel und moderne Literatur (1966) wurde vielfach genutzt, legte aber auch die Gefahr des apologetischen Mißbrauchs nahe. Für Hahn war jedoch die Gemeinsamkeit der Lebensfragen in biblischer Tradition und moderner Literatur maßgebend. Eine Theorie solchen Umgangs mit der Literatur entwarf er nicht, es genügte wie bei Baden eine Hermeneutik der existentialen Interpretation, die durch die Korrelation von Offenbarung und Erfahrung im Sinne Tillichs verstanden werden konnte. Für die Theoriebildung maßgeblich wurde zuerst H. E. Bahrs Studie Poiesis. Theologische Untersuchung der Kunst (1961). Die Weltlichkeit zeitgenössischer Literatur wurde als von der Christologie her zu bejahende Diesseitigkeit zusammen mit „Wahrhaftigkeit als Stilprinzip" neu gewertet. So wichtig dieser Ansatz — von Bahr auch „als Strukturgesetz der Inkarnation" bezeichnet - war, so eröffnete er auch neue kritische Fragen: poetologisch nach dem Verhältnis von Ethos und Ästhetik, theologisch von Christologie und Pneumatologie. 1963 kam K. Marti dazu, der ansonsten den Ansatz, in Christus eine Befreiung der Künste zur Profanität zu sehen, teilte, und drang in seinem vorzüglichen Essay über Moderne Literatur zu einer „Theologischen Definition der Literatur" vor, die bis heute tragfähig erscheint: „ L i t e r a t u r ist L o b der Sprache, M o d e r n e Literatur ist im besonderen L o b der Sprache vor dem H o r i z o n t der Sprachlosigkeit. D a m i t haben wir eine Definition von Literatur g e w o n n e n , die alle literarischen T e x t e einschließt. Zugleich hoffen wir so die theologische Funktion aller, auch nicht christlicher literarischer T e x t e , einsichtig zu m a c h e n " ( M a r t i , Literatur 154).
Hier wird die Aufmerksamkeit sowohl auf die besondere Sprachqualität poetischer Texte gelenkt als auch auf ein damit verbundenes existentielles Motiv: das Loben angesichts der Möglichkeit von Sprache, auch wenn sie inhaltlich Klage, Frage oder Lästerung ausdrückt. Paradoxe Doxologie wird möglich, Lob der Sprache und Sprache des Lobes treten, wenn auch unterscheidbar, in Beziehung. In seinem Essay: Wie entsteht eine Predigt? Wie entsteht ein Gedicht? (1968) wird die Gemeinsamkeit deutlich: Beide sind sprachliche Arbeit. Aber Voraus- und Zielsetzungen sind verschieden. Der Prediger geht im Auftrag seiner Kirche von einem Text aus, hat eine zugeordnete Gemeinde, der Lyriker muß seinen Text erst finden und hört auf sich, auf sein „Es", folgt also seiner Subjektivität. Der Prediger muß verständlich sein, der Lyriker wird sprachlich unangepaßt sein. Das Gedicht gewinnt eine feste Gestalt, die Predigt bleibt eher offen. Scharf ist die theologische Abgrenzung, die freilich etwas gezwungen wirkt: „Der Lyriker vermittelt im Gedicht nicht Gotteserfahrung, sondern Welterfahrung" (189). Trifft diese Abgrenzung z. B. auf Martis eigene Lyrik, etwa auf seine Gedichte am Rande (des Markusevangeliums) zu? Marti zögerte, die von seinen Kriterien her durchaus mögliche okkasionelle
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Koinzidenz von Offenbarung und dichterischer Äußerung zuzugeben. Ist nicht auch eine solche Befreiung von Christus her möglich, ohne daraus einen Predigtkanon zu machen? Das Verhältnis von Geist und Buchstaben im Wort bedarf hier wohl der erneuerten theologischen Klärung im Kontrast von Linguistik bzw. Semiotik. Am wirkungsvollsten für eine Theorie der theologischen Interpretation literarischer Texte wurde D. Solle. 1969 veröffentlichte sie einen grundlegenden Aufsatz Zum Dialog zwischen Theologie und Literaturwissenschaft und fügte 1973 mit ihrer Habilitationsschrift Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung eine bis heute maßgebliche Untersuchung hinzu. Daß der deutsche Germanistentag 1968, der sich dem Thema interdisziplinärer Forschung widmete, nicht die Fragestellung „Germanistik und Theologie" aufnahm, war für sie mit Recht ein Indiz, den vernachlässigten Dialog neu zu beleben. Für sie ergibt sich eine doppelseitige kritische Funktion. Theologie hat zu erkennen, daß auch sie ein Teil der Literatur ist, andererseits muß sich die Literaturwissenschaft, über die übliche werkimmanente Analyse hinaus, auch den theologischen Implikationen literarischer Texte öffnen. Als theologisches Paradigma für solche kritischen Dialoge nimmt Solle Tillichs Konzept einer „Theologie der Kultur" in Anspruch, fordert eine theologische Ästhetik, in der die Autonomie und das Für-andere-Dasein nicht zur gegenseitigen Negation führen dürfen, und rekurriert auf die Wirksamkeiten biblischer Tradition in dichterischen Werken. Nicht das Stoffliche ist dabei im Sinne dringlicher Identität wirksam, sondern auch der Prozeß der „nicht religiösen Interpretation" des biblischen Erbes. D. -»Bonhoeffers bekannte Fragestellung wird in ein neues Feld gelenkt. Damit kann auch der Vorgang der Säkularisierung positiv und theologiekritisch zugleich verstanden werden. Ihre Habilitationsschrift bringt an dieser Stelle als neuen Leitbegriff das Stichwort Realisation. „ D i e H a u p t t h e s e dieser Arbeit lautet: Die Funktion religiöser Sprache in der Literatur besteht d a r i n , weltlich zu realisieren, was die überlieferte religiöse Sprache verschlüsselt aussprach. Realisat i o n ist die weltliche Konkretion dessen, was in der Sprache der Religion ,gegeben' oder versprochen i s t " (29).
Alte Tradition wird so wieder flüssig und zugleich weltlich konkret. Die einfache Rückkehr zu einer früheren religiösen Sprache ist durch die Denkerfahrungen der -»Neuzeit verstellt; das Problem der Entmythologisierung, aber nun auch der Entideologisierung läßt sich nicht umgehen. Freilich muß dieser Ansatz einen Leitbegriff des Religiösen aufnehmen, wozu eben Tillichs bekannte Formel vom ultimate concern dient. Solle hält an der Vorstellung von Totalität des Menschen im Sinne authentischen Lebens fest. Sie kennt den Vorwurf H. Blumenbergs, Sprache und Dichtung seien eo ipso theologieverdächtig (32), aber sie scheut ihn nicht, weil sich so gerade - hier zeigt sich eine Parallele zu Marti - am Thema Sprache zeigt, daß Sprachwissenschaft wie Reflexion über Rede von Gott ein gemeinsames Bedingungs- und Erwartungsfeld haben. Daß dieser Ansatz sich zwischen Klerikalismus und Universalismus erstreckt, ist Solle bewußt; sie reduziert aber faktisch die Analysen auf die Wahrnehmung der biblisch religiösen Erfahrungen. Das zeigt sich an ihren ausführlichen Analysen von G. Büchner, W. Faulkner und A. Döblin, die die Last der Realisationsthese tragen sollen. Es ergibt sich allerdings die Frage, wie es mit den Autoren steht, bei denen dieser Hintergrund nicht wirksam ist? Hier müßte eben eine Theorie der metaphorischen Sprache etwa, eine Theorie von Unendlichkeit (nicht Beliebigkeit) und Endlichkeit der Sprache oder des Sprechens maßgeblich werden. In dieser Richtung bewegt sich in der Tat derzeit die weitere Debatte. Wesentliche neue Akzente brachte K.-J. Kuschel, der mit seiner Untersuchung Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (1978) Literatur und Theologie ebenfalls als gegenseitige Herausforderung versteht, dabei aber besonders scharf in die Debatte um den Begriff einer christlichen Literatur eingriff. Kuscheis Beitrag gibt Gelegenheit, die Theoriebildung auf katholischer Seite zu skizzieren. Hier waren schon früh durch R. -»Guardini mit dessen Büchern über -»Dante,
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-•Dostojewski, -»Hölderlin und —•Rilke Maßstäbe gesetzt worden, die schon von der Form und nicht nur vom Inhalt her religiöse Qualität aufzeigten. Auch Hans Urs von Balthasar war mit seinen Studien über R. Schneider, G. Bernanos, mehr noch aber durch seine theologische Ästhetik Herrlichkeit (1961-1969) und seine Theodramatik (1973-1976) sehr wirksam. Auf katholischer Seite hat auch G. Kranz (geb. 1921) eine Vielzahl von Studien und sogar 1978 als Alleinverfasser ein Lexikon der christlichen Weltliteratur veröffentlicht. In vielfacher Weise trug auch P. K. Kurz zum Dialog bei. Ein besonders bemerkenswerter Vorstoß waren E. Krzywons Aufsätze zu dem Programm einer „Literaturtheologie" (1973 ff) als Teildisziplin der Literaturwissenschaft - für ihn ist die Heliand-Dichtung ein maßgebliches Beispiel —, welchen Begriff auf evangelischer Seite R.P. Crimmann übernahm (1978). Kuschel gelang es, durch eine fast repräsentative Analyse aufzuzeigen, daß das Thema Jesus durchaus nicht nur randständig in der zeitgenössischen Literatur vertreten ist. Freilich zeige sich dabei ein anderes Jesus-Bild als das traditionelle der Dogmatik: „Die entscheidende Frage der Theologie an die Dichtung hinsichtlich ihrer Darstellungsmöglichkeit der Figur Jesu lautet: Ist Chalcedon literarisierbar?" (312). Die Antwort lautet für Kuschel offenbar: nein. Doch ist für ihn auch der traditionelle Leben-Jesu-Roman nicht nur theologisch, sondern auch ästhetisch überholt. Hier verteilt Kuschel entschieden gute und schlechte Zensuren, ohne wohl dem klassischen Problem des biblischen Christus genügend Rechnung zu tragen. Er wehrt sich zwar gegen einen jesulogischen Ansatz, bejaht dementsprechend „christophorische Literatur", die aber von „jesuphorischer" zu unterscheiden sei, bleibt jedoch hier Wesentliches schuldig. Die Absicht, fast geradezu naiv einfach der Tendenz des Evangeliums zu folgen, löst ja nicht die Probleme einer ästhetischen Hermeneutik der Sprachgestaltung des Jesus-Themas. Maßstab wird bei ihm eine bestimmte theologische Auffassung, die als Zensor fungiert. Ob P. Hüchel demnach gegenüber R. Schneider den Vorzug verdient (34-41) bleibt (man vgl. G. Kranz' an dieser Stelle zutreffende Kritik [Kafkas Lachen 396-402]), doch sehr fraglich. Ursprünglich wollte Kuschel mit seiner Arbeit auch die Frage nach den Kriterien für den Begriff „christlicher Literatur" lösen, später hat er diese Intention (Nachwort in der Taschenbuchausgabe 1986) hinter sich gelassen, aber das Problem besteht weiterhin. Immerhin ist auch hier wie bei D. Solle das Verhältnis von Theologie und Literatur in Richtung einer Christologie, die auf weltliche Realisation der Tradition zielt, gelöst worden. W. Jens urteilt im Vorwort der Arbeit von Kuschel: „Der Jesus der Literaten: das ist gewiß nicht der ganze, wohl aber der andere, der verkannte und vergessene Jesus . . . " (XVIII), aber hier wäre eben zu klären, ob es eine sprachliche Grenze der Literatur zur Liturgie, zur Doxologie wirklich gibt, oder ob hier nicht doch E. Langgässers oder auch J. Kleppers Versuchen mehr Recht gegeben werden müßte, als es eine entmythologisierte Christologie erlauben möchte. Die derzeitige literarische Entwicklung respektiert diese Grenze nicht, weil sie das alte Thema von Kerygma und Mythos erneut aufrollt und keineswegs einfach so löst, wie kerygmatische Theologie das möchte. Kuschel hat das Problem der theologischen Interpretation seither vielfach weiter gefördert, durch Essays, durch Interviews mit Schriftstellern und auch durch einen lexikalischen Überblick (Wörterbuch des Christentums, Art. Literatur 733-736). Sein Theorieansatz zielt jetzt mehr auf die Kategorie der indirekten oder verborgenen Religiosität und das weite Spektrum der Rezeptionsmöglichkeiten. Diese rezeptionsästhetische Wendung ist kennzeichnend für die Entwicklung, öffnet aber mit dem Grundsatz: „Alle Literatur ist religiös relevant" (735) einem Universalismus die Tür, der angesichts bestimmter Werkstrukturen etwas großzügig wirkt. Das Problem steckt darin, daß alle Literatur als Verdichtung von Wirklichkeit angesprochen wird, es aber doch fraglich ist, ob hier ein naiver Begriff von der Einheit aller Wirklichkeit vorausgesetzt wird. Auseinandersetzungen mit den Sprachspieltheorien im Gefolge -»Wittgensteins wären hier noch zu leisten. Auf evangelischer Seite hat ferner noch U. Baltz-Otto sich gründlich dem Thema
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gewidmet, folgt aber poetologisch weitgehend D. Sölles Konzeption. Auch hier bleibt das Verhältnis von christlichem Glauben und Religion ungeklärt offen. 1984 fand zum ersten Mal ein Kongreß zum Thema Literatur und Theologie in Tübingen statt, doch zeigt der Berichtband, daß, zumal wenn sich die Literaturwissenschaft einschaltet, man gerne Theologie auf ihren klassischen Bereich beschränken möchte, wohl um damit die gegenseitige Herausforderung konstant zu halten. Vergessen wird dabei, ob nicht beide Wissenschaftsbemühungen sich gemeinsamen Herausforderungen ausgesetzt sehen, die hier auch Gemeinsamkeiten erfordern. Insbesondere scheinen die Autoren solche Demarkationslinien zu unterlaufen. Die Schwierigkeiten, etwa B. Strauß' und P. Handkes neuere Arbeiten einzuordnen, ist unverkennbar, wenn nicht sogar die ganze sog. Postmoderne darin ein Wahrheitsmoment anmeldet, da die bisherigen Mittel wissenschaftlicher Reflexion Wesentliches auslassen. Von daher gewinnt, wie H. Timm zeigt, auch die Frage nach der Sprache der Natur wieder neue Bedeutung (Sperrgut Literatur 129-147). Auf evangelischer Seite wird zunehmend, der Anregung R. Bohrens folgend, der Frage nach einer theologischen Ästhetik nachgegangen, die den Unterschied von Pneumatologie und Christologie zur Geltung bringt. Bohrens Predigtlehre hat hier wesentliche Anregungen zu bieten, auch wenn poetologisch die Dinge verwickelter liegen, als er sie mit seinen Verweisen auf die konkrete Poesie darstellt. Wichtige Hinweise hat A. Grözinger gegeben, der das Bilderverbot als Zentrum einer theologischen Ästhetik auffaßt, allerdings die Konsequenzen für die Problematik ästhetischer Spracherfahrung noch nicht aufgewiesen hat. Doch zeigen seine Modelle „Blick", „Maske" und „ O r t " durchaus neben seinem deutlichen Interesse an einer Theologie der Metapher in die Richtung einer auch semiotisch ausgewiesenen theologischen Ästhetik, in der Literaturtheologie ihren Platz finden könnte. Sinnvoll erscheint es mir zu erwägen, ob nicht besser als der Begriff der Realisation die Kategorie der Gleichzeitigkeit in ihrer sprachlichen Dimension, also der Begriff der Synchronisation, maßgeblich werden sollte. Nötig wäre es sicher auch, Verbindungen zur angloamerikanischen Diskussion herzustellen, wo das Thema Theologie und Literatur reiche Tradition hat (vgl. die Bibliographie: IDZ 2 1969,383 f) und den Problemaufriß von T. R. Wright: Theology and Literature [1988]). Hier wird die Zielrichtung „towards a Poetics of faith" bejaht, Theologie als „a matter of language" verstanden und zu Recht das Problem der semantischen bzw. semiotischen Referenz zum Thema gemacht. Narrative und metaphorische Theologie und die Zusammenhänge von Theologie und Drama, insbesondere im Blick auf das absurde Theater - „Godotology" (187) - sind exemplarische Themen, die auch die hiesige Diskussion bestimmten. Die Theoriebildung zu einer tragfähigen Literaturtheologie, mag man nun dieses Wort als Wortungeheuer ablehnen oder nicht, ist der Sache nach unentbehrlich. Sie hat wesentliche Aufgaben der Fundierung und Entwicklung noch vor sich, kann aber auch auf viele Äußerungen der Schriftsteller selbst, zahlreiche Einzelanalysen, Tendenzen in der biblischen Forschung und Erfahrungen theologischer Praxis zurückgreifen. Die Rolle der Literatur bei der Wende zum Ende der DDR ist dabei mit einzubeziehen (vgl. neben J. Henkys und K.H. Bieritz dazu die Dissertation von G. Wiesemann). 3. Selbstaussagen der
Schriftsteller/innen
Gewichtig für das Verhältnis von Theologie und Literatur sind Aussagen der Autoren selbst. So wurde der Ausspruch von G. Eich zum vielfach wiederholten Zitat: „Von Gott kann man nicht sprechen, wenn man nicht weiß, was Sprache ist. Tut man es dennoch, so zerstört man seinen Namen und erniedrigt ihn zur Propagandaformel" (Büchner-PreisRede 1959,83). Damit war eine Warnung vor der Etablierung einer perfekt funktionierenden Informationsgesellschaft verbunden. Ähnlich markant war die These W. Weyrauchs: „Die Schriftsteller sind die Stellvertreter der Propheten, die verschollen sind" (Mein Gedicht ist mein Messer, München 1961, 25). Das Prophetische ist vielfach als eine
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Theologie und Literatur gemeinsame Kategorie in Anspruch genommen worden (vgl. P.K. Kurz, Heinrich Heines Auffassung vom Dichterberuf, München 1967, 129-139; M . Biesel, Dichtung und Prophetie; ders.: EvErz 27 [1975] 345-347). Aus der langen Reihe der Büchnerpreisreden ist M. Walsers Dankrede Woran Gott stirbt (1981) literaturtheologisch außerordentlich bedeutsam, weil sie die Literatur in die Auseinandersetzung um „das erste Gebot des jetzt herrschenden Gottes" (173) gestellt sieht. Sie kann aufmerksam darauf machen, daß der wahre Gott fehlt. So ist der Deus absconditus vielfach das Thema literarischer Äußerungen. In einem Interview mit K.-J. Kuschel sagte M. Walser: „Wenn wir Gott hätten, hätten wir kein Wort dafür. Nur für den Mangel braucht man die Wörter" (Weil wir, auf Erden . . . 146). Walser vertritt die These: „Die Literatur ist die aktuelle Religion" (147). Bei H. Boll, für den der Mensch „ein Gottesbeweis" ist, „weil wir hier auf Erden nicht zu Hause sind, nicht ganz zu Hause sind" (65), geht das Interesse auf die leibhaftige Offenbarung Gottes „als einer eminent literarischen Äußerung", die auf eine Theologie der Zärtlichkeit hin tendiert. Untersucht man das weite Spektrum der Aussagen, so ist die Gottesfrage in der geschilderten Weise als Frage an die Menschlichkeit in der Rede von Gott präsent. Neben der Kategorie des Prophetischen finden wir die Rückkehr zum -»Mythos und zur -•Mystik. „Die Passion des Wortes Gottes" (K. Marti) ist noch nicht zu Ende (vgl. dazu die Beiträge von K.-J. Kuschel und P. Härtling: Sperrgut Literatur). Die unbedingte Korrelation mit dem Bild vom Menschen ist ebenso kennzeichnend. A. Andersch läßt den Funktionär Gregor in dem Roman Sansibar sagen: „Gott oder nicht, sagte Gregor, es kommt nur darauf an, ob es Menschen sind, die sich treffen können. Es gibt fast nur noch Plätze für die andern" (vgl. H. Schröer, Moderne dt. Literatur 53). Daß Schuld und Tod weitere geometrische Orte der provokativen Begegnung von Theologie und Literatur sind, läßt sich ebenfalls zeigen. Im Werk vom M.L. Kaschnitz ist dies besonders deutlich. Die cschatologische oder apokalyptische Zukunft bzw. Utopie ist schließlich ebenso ein markantes Thema, deutlich sowohl bei I. Bachmann (vgl. dazu Baltz, Theologie und Poesie 114—129) wie bei F. Dürrenmatt mit seiner Erzählung Der Tunnel, aber auch in seiner Neubearbeitung der mythischen Stoffe vom Turmbau und Labyrinth (Stoffe I V - I X , Zürich 1990). Die neue Hinwendung zu anderen Tendenzen ohne Scheu vor Affirmation dokumentieren Aussagen wie die von B. Strauß: „Es ist lachhaft, ohne Glaube zu leben . . . Gott ist von allem, was wir sind, wir ewig Anfangende, der verletzte Schluß, das offene Ende, durch das wir denken und atmen können" (Paare, Passanten, München/Wien 1981, 177). Insgesamt zeigt sich: Gott ist jedenfalls nicht ein unbedingt schlechtes Stilprinzip. 4.
Einzeluntersuchungen
Zahlreiche Monographien und Aufsätze zur theologischen Interpretation einzelner Autoren liegen vor. Das gilt für Arbeiten, die sich auf das 19. Jh. beziehen, wie die von Ch. Bunners Fritz Reuter und der Protestantismus, von J. Hamel über Th. Fontanes ethische und pastoraltheologische Relevanz und von R. Frick über W. Raabes Menschenbild. Auf die Klassiker des 20. Jh. beziehen sich hinsichtlich der religiösen Aspekte auch nicht wenige Arbeiten aus der Literaturwissenschaft. Zu nennen sind H. Göhlers gründliche Kafka-Interpretation, die Studie von R. Eppelheimer zu Mimesis und Imitatio Christi bei Loerke, Däubler, Morgenstern, Hölderlin, H. Beckmanns Analyse der Werke F. Barlachs, sowie E. Albertsens Studie ,Ratio und Mystik' im Werk Robert Musils, außerdem B. Allemanns Essay Rilke und der Mythos. W. Jens und H. Küng haben mit Dichtung und Religion (1985) ein bemerkenswertes Beispiel der Doppelinterpretation klassischer Autoren gegeben, darunter auch von Dostojewski - dem schon 1925 E. Thurneysen, 1957 auch M. Doerne maßgebliche Studien gewidmet hatten - und Kafka. Von den zeitgenössischen Autoren haben besonderes Interesse gefunden H. Boll (vgl. besonders die Dissertation von H. Jürgenbehring, aber auch die Analyse von H.-R. Müller-Schwefe), F. Dürrenmatt (dazu bedeutsam E. Webers Analyse der frühen Schriften), G. Grass (H.-R. Müller-
Literatur und Religion VI
303
Schwefe deutete ihn unter dem Stichwort „Dichtung als Therapie unbewältigter Vergangenheit" [Sprachgrenzen 17-121]). Besonderes Interesse fand wiederholt P. Celans Lyrik; am wichtigsten ist literaturtheologisch hier bisher H . M . Krämers Studie. J. Bobrowski und M . L. Kaschnitz erweisen sich auch als paradigmatisch, zum ersteren haben sich J. Henkys und K. P. Hertzsch eindrücklich geäußert; das Werk von M . L. Kaschnitz würdigten u.a. B. Gajek, A. Kelletat und H. Schröer. Die neuere Entwicklung P. Handkes zeigt kenntnisreich St. Kaufmann auf. Von ausländischen Autoren wurden im deutschen Sprachraum besonders S. Beckett (Beckmann; vgl. auch T.R. Wright [189-197]) und H . Laxness theologisch interpretiert. Auf die besondere Bedeutung der Literatur in der ehemaligen DDR wurde schon hingewiesen. Neben der bereits erwähnten Dissertation von Wiesemann, die die Sinnfrage als gemeinsames Feld von Theologie und Literatur gerade auch im Kontext des offiziellen Marxismus anvisiert hat, ist P. Sängers Essay unter dem Titel Spiegelbild (1983) sehr instruktiv, insbesondere die Untersuchung Christus und sein Kreuz in deutscher Gegenwartsprosa. Erzählmotive bei Ingeborg Bachmann und Christa Wolf (82-119). Im übrigen ist für einen Uberblick auf G. Kranz' bibliographische Arbeiten zu verweisen. Eine genauere Erfassung der jeweils leitenden literaturtheologischen Methodenprofile existiert bisher nicht; der Aufbau eines Sonderforschungsbereichs wäre wünschenswert.
5. Die biblische Tradition als Gegenstand
poetischer
Analyse
Hatten schon -»Formgeschichte und -»Hermeneutik im Sinne existentieller Interpretation die Frage der ästhetischen Qualität und Funktion biblischer Texte angerührt (vgl. E. Fuchs, Hermeneutik, Bad Cannstatt 3 1963, §22: Das Lied, 262-265), so ist besonders durch die Gleichnisforschung, hier zuerst durch O. Via und dann vor allem auch durch W. Harnisch Einfluß auf die Exegese ausgeübt worden. Die breite Auseinandersetzung um den theologischen Sinn von Metaphern kann hier nicht dargestellt werden (vgl. P. Biehl, Symbol und Metapher: Jb. der Religionspädagogik 1 [1984] 29-64). Neben dem Gleichnis dürfte vor allem die Gattung Psalm (-»Psalmen/Psalmenbuch) literaturtheologisch zu würdigen sein, da sich viele Autoren, auch bei Distanz oder Negation gegenüber traditionellen Gottesvorstellungen und Glaubensformen doch dieser Gattung bedienen (z.B. P. Celan, P. Hüchel, T h . Bernhard). Eine vorzügliche Sammlung hier noch genauer zu würdigender lyrischer Texte hat P. K. Kurz herausgegeben. M a n kann daran besonders deutlich das Problem des Umgangs mit Tradition studieren im Blick auf Verfremdung, Transformation, Interpolation und Parodie. Die Hiobdichtung (-»Hiob/ Hiobbuch), -»Kohelet und -»Hoheslied stehen aus dem alttestamentlichen Kanon im Vordergrund des Interesses. Dagegen ist die Würdigung der Propheten bisher weniger im Blick auf Literaturtheologie entwickelt worden. Aufschlußreich für das Gesamtthema ist die dänische Erinnerung an Northrop Frye durch J. F. Jensen, nicht ohne Hinweis auf J. S. -•Grundtvig, der für das Thema Poesie und Theologie im deutschen Sprachraum noch unerschlossen ist. 6. Praktisch-theologische
Konsequenzen
Breiter als die Theorie ist kirchliche Praxis vom Umgang mit Literatur bestimmt. Das zeigt sich schon in Hilfen zur -»Meditation, Andacht, in Kalendern und Spruchkarten. Die Bedeutung für die Seelsorge ist weitgehend noch nicht untersucht, desgleichen das Verhältnis zu Bildbetrachtungen. Am stärksten sind die Einflüsse im Religionsunterricht und der Erwachsenenbildung. Hier liegen auch poetologisch ergiebige Arbeiten vor. Besonders ist auf R. Sistermanns Studie Literatur und Ideologie im Religionsunterricht (1979) hinzuweisen, die neben werkimmanent-formalistischer, dialektisch-materiaIistischer und weltanschaulich-existentieller Methode eine theologische Methode der Interpretation von Literatur vorschlägt, die sich auf strukturalistische und semiotische Analyse des Mythos bei C. Lévi-Strauss und R. Barthes stützt. Inzwischen ist das Interesse
304
Literatur und Religion VI
an Klärung der theologischen Bedeutung von Mythos und Mythologie noch gestiegen (vgl. z.B. F. Dürrenmatts Einschätzung der Mythen als der maßgeblichen Stoffe für poetische Phantasie). Es existieren zahlreiche Arbeitshilfen, die allerdings oft Gefahr laufen, apologetische oder polemische Überinterpretation zu werden. Vorbildlich haben H. und U. Halbfas mit Das Menschenhaus ein Lesebuch geschaffen, das literarische Texte und religiöse Tradition offen zueinander stellt. Für die Predigt spielt die Literatur ebenfalls keine ganz geringe Rolle, wie schon die Analyse von E. Grözinger zeigt, die erstmals eine Predigthilfenreihe - die Predigtstudien — auf den Umgang mit Literatur ausgewertet hat. B. Brecht, M. Frisch und K. Marti erwiesen sich, zumindest statistisch, als die derzeit homiletisch meist zitierten Autoren. Aufschlußreich ist auch der Versuch, Schriftsteller predigen zu lassen, sie also der Gattung auszusetzen, gegen die besonders große Widerstände bestehen. Die bisher vorliegenden Dichterpredigten verdienen eine genauere homiletische Analyse, die dem Thema Laienpredigt neue Impulse geben könnte. Daß die Predigt selbst, gerade im Horizont rezeptionsästhetischer wie überhaupt semiotischer Analyse im Sinne v. U. Eco als „offenes Kunstwerk" aufgefaßt werden kann, hat G. M . Martin gezeigt. Dabei werden auch Zusammenhänge und Kontraste zur -»Liturgie neu deutlich. Insgesamt ergibt sich gerade praktisch-theologisch ein sich in erheblicher Ausdehnung befindliches Arbeitsfeld gegenseitiger Herausforderung von Literatur und Theologie im Zusammenhang einer kulturell sensiblen Theologie. Daß der ausgezeichnete Almanach für Literatur und Theologie, 1968 gegründet, mit der 15. Ausgabe 1981 eingestellt werden mußte, ist jedoch ein bedauerliches Zeichen dafür, daß die literarischen Zeichen der Zeit praktisch-theologisch noch nicht intensiv wahrgenommen werden. Akademien, Kirchentage, aber auch Gemeinden haben hier ein Aufgabenfeld, das einer Kirche des Wortes besonders gut und dringlich ansteht. Denn anspruchsvolle Literatur ist das sprachliche Gewissen, notwendige Provokation und ein unentbehrlicher Seismograph für Theologie und Kirche. Quellen Detlev Block (Hg.), Das zerrissene Netz, Hamburg 1968. - Ders. (Hg.), Gott im Gedicht, Hamburg 1972. - Ders. (Hg.), Nichts u. doch alles haben, Hamburg 1977. - Büchner-Preis-Reden 1 9 5 1 - 1 9 7 1 , Stuttgart 1972 (Reclam 9 3 3 2 - 9334). -Büchner-Preis-Reden 1 9 7 2 - 1 9 8 3 , Stuttgart 1984 (Reclam 8011). - Erhard Domay/Johannes Jourdan/Horst Nitschke (Hg.), Rufe, Gütersloh 1979ff. - Wolfgang Fietkau (Hg.), Poeten beten, Wuppertal 1969. - Günter Kunert, Dichter predigen, Stuttgart 1989. - Karl-Josef Kuschel (Hg.), Der andere Jesus, Zürich/Gütersloh 1983. - Ders., Und Maria trat aus ihren Bildern, Freiburg 1990. - Christi. Lit. des 20. Jh., hg. v. Carsten Peter Thiele, Wuppertal, I 1985. - Kurt Marti (Hg.), Stimmen vor Tag, München/Hamburg 1965. - Julius Schwaber, Die Bibel im dt. Gedicht des 20. Jh., Basel/Stuttgart 1958. - Herbert Vin^on, Spuren des Wortes, 3 Bde., Stuttgart 1 9 8 8 - 1 9 9 0 . - Jürgen P. Wallmann, Christi. Dichtung, Gütersloh 1981. Bibliographien Gisbert Kranz, Was ist christl. Dichtung?, München 1987, 1 0 3 - 1 1 3 . - T . R . Wright, Theology and Literature, Oxford/New York 1988, 233 - 2 3 7 . Literatur Beda Allemann, Rilke u. der Mythos: Rilke heute, Frankfurt, II 1976 (st 355), 7 - 2 7 . - Hans v. Arnim, Christi. Gestalten neuerer dt. Dichtung, Berlin o. J . - Erich Auerbach, Mimesis (1946), Bern 1971. - Hans Jürgen Baden, Der verschwiegene Gott, München 1963. - Ders., Poesie u. Theol., Hamburg 1971. — Hans-Eckehard Bahr, Poiesis. Theol. Unters, der Kunst, Stuttgart 1960, München/Hamburg 1965. - Ursula Baltz, Theol. u. Poesie, Frankfurt/M. 1983 (Lit.). - Dies./G. BaltzOtto, Poesie wie Brot, München 1989. - Heinz Beckmann, Godot o. Hiob, Hamburg 1965. - Ders., Ich habe keinen Gott, München 1974. - Herbert Biesel, Dichtung u. Prophetie, Düsseldorf 1972. -Wolfgang Binder, Das Bild des Menschen in der modernen Lit.: Das moderne Menschenbild u. das Evangelium, hg. v. Oscar Cullmann/Otto Karrer, Zürich/Einsiedeln 1969. - Josef Blank (Hg.), Der Mensch am Ende der Moral, Düsseldorf 1971. - Huldrych Blanke, Das Menschenbild der modernen Lit. als Frage an die Kirche, Zürich/Stuttgart 1966. - Wolfgang Böhme (Hg.), „Gott nicht gelobt", Karlsruhe 1981. - Christine Bourbeck, Schöpfung u. Menschenbild in dt. Dichtung um 1940, Berlin 1947. - Dies., Trost u. Licht des Wortes, Berlin 2 1948. - Henning Brinkmann, Methodische Zugänge
Literatur und Religion VI
305
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Literaturgeschichte, Biblische I
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338
I. Altes Testament 1. Geschichte und Aufgabe 2. Die Voraussetzungen der alttestamentlichen Literatur 3. Die Geschichts- und Erzählwerke 4. Die Prophetenerzählungen und Prophetenbücher 5. Die Liedund Psalmendichtung 6. Die Weisheitsliteratur 7. Die Sammlung Heiliger Schriften des Alten Testaments oder der Kanon (Anmerkungen/Literatur S.332)
1. Geschichte und Aufgabe Die Literaturgeschichte des Alten Testaments bildet die notwendige Ergänzung der analytischen Einleitungswissenschaft, deren Ergebnisse sie aufnimmt und im organischen Zusammenhang mit der politischen, sozialen, kulturellen und vor allem religiösen G e schichte Israels und des frühen Judentums darstellt. Sie überwindet damit die sich aus der besonderen Aufgabenstellung der Einleitungswissenschaft ergebende Schwierigkeit, die grundlegende Quellenkunde für jede weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alten Testament zu sein und gleichzeitig ein in sich zusammenhängendes Bild von seiner Entstehung zu vermitteln. Es ist nicht verwunderlich, daß die erste Blütezeit der literarkritischen Forschung zu der Erkenntnis führte, daß deren Analysen eine dem Lebenszusammenhang Israels verpflichtete Synthese in Gestalt einer Literaturgeschichte folgen müsse. Als erster hat der Tübinger Orientalist Ernst Meier die besondere Aufgabe der alttestamentlichen Literaturgeschichte erkannt und ihre Grundsätze in der Vorrede zu seiner Geschichte der poetischen National-Literatur der Hebräer (1856) in Abgrenzung gegenüber der Einleitung dahingehend formuliert, daß sie den Gang der Literatur im Zusammenhang mit der politischen, religiösen und sittlichen Bildung und Entwicklung in weltgeschichtlicher Perspektive bis zur Abschließung und Sanktionierung des Kanons darzustellen habe (V). Sein eigener Entwurf übertrifft alle nachfolgenden in der geistigen Durchdringung des Stoffes. -»Hegels Religionsphilosophie verpflichtet, deutet er den Weg der hebräischen Dichtung als den des sich stets erneuernden Freiheitskampfes des Geistes gegen die Naturreligion. Als diesseitige Volksreligion des sittlichen Sollens wurde die Religion der Hebräer durch den Gang der Weltgeschichte als des unerbittlichen Weltgerichts zu ihrer Transzendierung des Endlichen in die als Jenseits vorgestellte Gedankenwelt gezwungen, die vom Christentum zu der ganzen Freiheit der innerlichen Welt oder der Idee des Reiches Gottes erhoben wurde. - Erst ein knappes Vierteljahrhundert später legte der Straßburger Bibelwissenschaftler Eduard Reuß eine umfassende Geschichte der Heiligen Schriften Alten Testaments vor (1881). Er setzte sich in ihr das Ziel, die Literaturgeschichte im Zusammenhang mit der Geschichte des Volkes Israel, seiner Sitten, Institutionen und Gebräuche („Alterthü-
Literaturgeschichte, Biblische I
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mer"), seinem Land und vor allem seiner Religion darzustellen. Dem Vorbild beider sind alle folgenden Entwürfe grundsätzlich verpflichtet, auch wenn sie anders als Meier auf einen religionsphilosophischen Ansatz und anders als Reuß auf die volle Darstellung der Geschichte und Religionsgeschichte Israels verzichtet haben. Dabei macht sich seit Gerrit Wildeboer (1895) und Karl Budde (1906) zunehmend der Aufschwung der Ägyptologie und Assyriologie bemerkbar: Die Forderung Meiers, daß die spezielle Literaturgeschichte Israels in Beziehung zur allgemeinen Kultur- und Geistesgeschichte zu setzen sei, ist dank der Anstöße der religionsgeschichtlichen Schule (-»Bibelwissenschaft) grundsätzlich anerkannt, wenn ihre umfassende Einlösung auch aufgrund der bis heute nicht abschließend gelösten genetischen Probleme des Alten Testaments und der sich ständig erweiternden Kenntnis der Literaturen der Vorwelt und Umwelt Israels noch aussteht. D i e Literatur eines Volkes, dessen Territorium ein Teil der Landbrücke z w i s c h e n Kleinasien, Vorderasien u n d Ä g y p t e n bildet und d a s später in die hellenistische u n d römische Welt einbezogen w u r d e , ist o h n e die geistigen u n d literarischen Einflüsse der entsprechenden Kulturen schwerlich zu verstehen. A b e r i m gleichen A t e m gilt es festzustellen, d a ß die alttestamentlichen Schriften das Ergebnis einer speziellen, Israel durch den G a n g seiner Geschichte a u f g e n ö t i g t e n religiösen E n t w i c k l u n g sind. H a t Israel a u c h bei seinen N a c h b a r - und G a s t v ö l k e r n Sagen, M y t h e n , G e b e t e , Sprüche und Lehren der Weisen und schließlich a u c h p h i l o s o p h i s c h e S y s t e m e kennengelernt und in der 2. H ä l f t e d e s 1. Jt. v . C h r . an d e m allgemeinen Kulturaustausch der V ö l k e r d e s östlichen Mittelmeerraumes t e i l g e n o m m e n , s o hat es d o c h d e m Entlehnten d e n Stempel seiner geistig-sittlichen Jahwereligion aufgeprägt und dadurch im Blick auf d a s einzelne w i e das G a n z e e t w a s unverwechselbar Eigenes geschaffen. Die Aufgabe der alttestamentlichen Literaturgeschichte hat sich weiterhin dadurch ebenso erweitert wie kompliziert, daß ihr Hermann —»Gunkel in seiner programmatischen Skizze Die israelitische Literatur und dem sie erläuternden Vortrag Die Grundprobleme der israelitischen Literaturgeschichte (beide 1906) ein neues Ziel gesetzt hat. Er gelangte zu der fundamentalen Einsicht, daß die alttestamentliche Literatur ihre Wurzeln in den Gattungen ( - • Formgeschichte/Formkritik) der mündlichen Uberlieferung besitzt und ihre Ausdrucksformen durch deren sprachliche Konventionen bestimmt sind. Durch ihre Verschriftung entfernen sie sich nicht nur von ihrem ursprünglichen „Sitz im Leben", sondern sie werden gleichzeitig fortschreitend transformiert. Daher bestimmte er die Aufgabe der israelitischen Literaturgeschichte dahingehend, daß sie die Geschichte der Gattungen von ihrem vorliterarischen Stadium in vor- und frühgeschichtlicher Zeit über ihre Aufnahme in die alttestamentlichen Literaturwerke der Königszeit bis zu ihrer schließlichen Auflösung in den auf das Exil folgenden Jahrhunderten darzustellen habe. Gunkel und sein geistiger Weggefährte Hugo - • G r e ß m a n n sind durch die Verfolgung dieses Ansatzes u.a. im Rahmen der Schriften des Alten Testaments 1 - 2 / 2 (1920-.M923) zu den Vätern der sich aus der Formgeschichte ergebenden Uberlieferungs-, Institutions- und Sozialgeschichte geworden. Gunkels Programm hat seine konsequente Ausarbeitung freilich nur in der Althebräische(n) Literatur und ihr(em) hellenistisch-jüdische(n) Nachleben von Johannes Hempel (1930-1934; M968) gefunden. Seit O t t o -»Eißfeldts monumenta3 4 ler Einleitung (1934; 1964 = 1976) läßt sich Gunkels Einfluß zwar in allen Einleitungen (-»Einleitungswissenschaft I), Einführungen und Literaturgeschichten verfolgen, indem sie die mündlichen Vorstadien der alttestamentlichen Literatur und zunehmend auch ihre institutionelle und sozialgeschichtliche Einbettung in die Darstellung einbeziehen. Aber davon abgesehen, folgen sie dem herkömmlichen geschichtlichen Aufriß oder dem nicht weniger traditionellen Dreischritt von Text, Büchern und Kanon. Gegen die Beschränkung auf den formgeschichtlichen Ansatz im Sinne Gunkels ist und wird eingewandt, d a ß er dem Charakter der alttestamentlichen Geschichtswerke und Bücher als eigenständiger Gattungen mit einem prinzipiell polyvalenten Sitz im Leben nicht zureichend gerecht wird und zudem ihre Beurteilung unter dem Gesichtspunkt des Epigonalen ihrer Eigenart und Bedeutung unangemessen sei (Rendtorff, Das AT, 131-138) 1 . Daher sind nicht nur die alttestamentlichen Geschichts- und Erzählwerke, sondern auch die Propheten und sonstigen Bücher in ihrer Eigenart sowie schließlich auch der Kanon als intentionale Einheiten zu würdigen. Die alttestamentliche Literaturgeschichte erreicht ihr Ziel erst, wenn sie die Entstehung des Alten Testaments nicht nur erklärt, sondern auch versteht. So ist es nicht verwunderlich, daß die seit der Mitte des Jh. vorgelegten Darstellungen von Adolphe Lods (1950) bis zu Georg Fohrer (1988) sich grundsätzlich an den von Meier und Reuß eröffneten Weg halten und dabei formgeschichtliche Gesichtspunkte zwar geltend machen, aber nicht in den Mittelpunkt stellen. Grundsätzlich läßt es sich denken, Gunkels Programm den Einwänden gemäß zu modifizieren und unter Berücksichtigung weiterer literatursoziologischer (Rendtorff,
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Literaturgeschichte, Biblische I
Das A T ; einseitiger Gottwald), literaturwissenschaftlicher 1 und selbst sprachgeschichtlicher und sprachphilosophischer 3 Gesichtspunkte zu erweitern. Aber einer umfassenden Einlösung aller im Laufe der Geschichte der Disziplin geltend gemachten Gesichtspunkte steht nicht zuletzt der gegenwärtige Stand der alttestamentlichen Wissenschaft entgegen. Vollends ist von der folgenden Darstellung nicht mehr zu erwarten, als daß sie die Grundlinien der Entstehung des Alten Testaments als eines Ganzen skizziert. Eine Geschichte der israelitisch-jüdischen Literatur ist von dieser begrenzten Zielsetzung zu unterscheiden. Sie hätte außer dem epigraphischen Material (H. Weippert, Palästina 266f.580 - 5 8 7 . 6 9 3 - 6 9 7 ) auch die sog. -»Apokryphen und —»Pseudepigraphen sowie das in der Wüste Juda gefundene jüdische Schrifttum (-»Qumran/Qumranschriften) in ihre Darstellung einzubeziehen.
2. Die Voraussetzungen der alttestamentlichen
Literatur
2.1. Sprachen, Schriften und Schriftwesen. Die Sprache des Alten Testaments ist das Biblische oder Althebräische (-•Hebräisch I), eine landschaftsgebundene Dialektgruppe (Jdc 12,5f) des Kanaanäischen (vgl. Jes 19,18), das seinerseits zum nordwestsemitischen Sprachkreis gehört. Als Schrift (—•Schrift/Schreibmaterial/Schreiber) benutzten die Israeliten das althebräische bzw. altphönizische Alphabet, das aus 22 Konsonantenzeichen besteht. Nach dem Ende des Bar-Kochba-Aufstandes (-»Geschichte Israels) 135 n.Chr. wurde sie gänzlich durch die zwischen dem 4. und 3. Jh. v.Chr. zur Quadratschrift umgebildete Kursive ersetzt. Lediglich die -»Samaritaner behielten die ältere Schrift bei. Während das Hebräische noch in der 2. Hälfte des 5. Jh. v. Chr. unter dem Namen des Jüdischen in Jerusalem als Volkssprache galt (Neh 13,24), wurde es in der Folge ebenfalls durch das Reichsaramäische in seiner Sondergestalt als Biblisches Aramäisch verdrängt (-»Aramäisch). Doch läßt sich in den späten Schriften und Schichten des Alten Testaments ein zunehmender Einfluß des Aramäischen auf das Hebräische verfolgen. Dieses behielt seine Geltung als Kult- und Literatursprache, begann sich aber unter aramäischem Einfluß seit dem vorgerückten 3. Jh. deutlich zum Mittelhebräischen umzubilden. Gleichzeitig damit läßt sich das Entstehen einer jüdisch-aramäischen Literatur in Palästina beobachten. Das Hebräische selbst hat wie jede Sprache, deren Träger im Verkehr mit anderen Völkern und Kulturen steht, mannigfache Beeinflussungen durch Lehn- und Fremdworte zumal aus dem Akkadischen, Ägyptischen, Aramäischen, Persischen und schließlich auch aus dem Griechischen erfahren. Die Beeinflussung durch das Lateinische fällt dagegen erst in das neutestamentliche Zeitalter. Die längst aus biblischen Hinweisen auf verlorene Schriften erschlossene und durch die Existenz der Apokryphen und Pseudepigraphen bezeugte Tatsache, daß es sich bei den im Alten Testament zusammengeschlossenen Büchern nur um eine Auswahl aus einer breiteren israelitisch-jüdischen Literatur handelt, ist jetzt durch die Textfunde aus der Wüste Juda in unvermuteter Weise bestätigt worden (Vermes, Dead Sea Scrolls). So darf man sich auch die vermuteten Büchersammlungen nicht nur mit dem biblischen Schrifttum ausgestattet vorstellen. Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen wird deutlich, daß es sich beim Alten Testament nicht um die bloßen Trümmer der israelitisch-jüdischen Nationalliteratur, sondern um eine bewußte Auswahl aus ihren Schätzen handelt. 2.2. Die Träger der alttestamentlichen Literatur. Bei der Beantwortung der Frage nach den Autoren, Tradenten und Adressaten der alttestamentlichen Literatur bleibt die Forschung fast ausnahmslos auf literatursoziologische Rückschlüsse angewiesen; denn der alttestamentlichen Zeit war ein Autorenbegriff, wie er sich im klassischen Griechenland ausgebildet hat und in der Neuzeit selbstverständlich geworden ist, durchaus fremd. Erst Ben Sira (-»Apokryphen 1.11) bekannte sich in einem Postskript als Verfasser seines Buches (Sir 50,27-29). Dem kann man das 1. Postskript des -»Koheletbuches (Koh 12,9-11) an die Seite stellen, in dem ein Dritter den Verfasser unter dem Decknamen des Kohelet als einen Mann vorstellt, der das Volk Wissen lehrte (Fishbane 29-31). Auf die traditionellen Zuweisungen der alttestamentlichen Bücher an große Männer der Geschichte ist dagegen kein oder nur in beschränktem Umfang Verlaß. Soweit ihre Namen
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nicht überhaupt erst aus frühjüdischer bzw. rabbinischer Tradition stammen (vgl. BB Fol. 14 b - 1 5 a), sind sie eher als Unterstellung des jeweiligen Buches unter eine bestimmte Autorität denn als Verfasserangaben im modernen Sinne zu bewerten (Meade 4 2 - 4 3 . 7 1 - 7 2 . 1 0 1 - 1 0 2 ) . Selbst wenn man bei den Prophetenbüchern mit einem auf ihren Namengeber zurückgehenden Traditionskern zu rechnen hat, bleibt die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß dieser erst im Umkreis des Tempels oder der Propheten zu suchender Zeugen ihrer mündlichen Verkündigung oder Bearbeitern primärer prophetischer Aufzeichnungen seinen überlieferten Wortlaut erhalten hat (vgl. z.B. -»Hosea/ Hoseabuch). Hinter der Zuweisung von Prov, Cant, Koh und Weish an Salomo (-»Salomo/Salomoschriften) läßt sich geschichtlich am sichersten seine Bedeutung für die höfische Schriftkultur ausmachen. Doch ist es angesichts der formelhaften Rede von den „Salomo Sprüchen" (vgl. z . B . Prov 25,1), nicht ausgeschlossen, daß die literarische Kunstweisheit schon an seinem H o f eine Pflegestätte besessen hat (zu I Reg 5 , 1 2 f vgl. Würthwein, A T D 11/1 z.St.). In dem Maße, in dem sein Nachruhm als des weisen Königs schlechthin wuchs, ist er zur legitimierenden Autorität der sapientiellen Literatur geworden. D a ß man am judäischen Königshof die weisheitliche Spruchdichtung pflegte, bezeugt die von den „Männern Hiskias" veranstaltete Spruchsammlung Prov 25 - 2 9 (s.u. S . 3 2 9 ) . Die Bestimmung der älteren Spruchsammlungen, Prov 1 0 - 2 4 (s. u. S. 329), für eine gebildete Oberschicht läßt sich aus ihren Königssprüchen, Beispielen, Metaphern und Realien ablesen. Darf die Verwendung der Lehren Prov 2 2 , 1 7 - 2 4 , 2 2 und Prov 1 - 9 im Unterricht als gesichert gelten (s.u. S.328), ist die zumindest sekundäre schulische Verwendung auch der Spruchsammlungen (s. u. S. 329) wahrscheinlich (Hermisson, Studien 1 2 2 - 1 2 5 ) . Auf die Frage nach der Verwendung der primären und der redaktionell vielfach erweiterten Prophetenbücher und der frühen Geschichtswerke gehen wir weiter unten ein (vgl. S.311f.319ff). Zunächst gilt es noch, einen Blick auf die Verfasserangaben der -•Psalmen, der Geschichts- und sonstigen Literaturwerke zu werfen. Bei der Zuweisung von 73 ( M T ) bzw. 83 ( L X X ) Psalmen an David verhält es sich vermutlich noch komplizierter als bei den salomonischen Schriften. Aus II Sam 22 ergibt sich, daß David jedenfalls schon in spätcxilischer Zeit als Psalmendichter galt (Veijola, Dynastie 1 2 0 - 1 2 2 ) . Inwieweit die expandierende, in H Q P s Dav Comp ihren Höhepunkt findende Zuweisung von Psalmen und Liedern an David sich an einer primär für den Gebrauch judäischer Könige bestimmten Psalmensammlung oder/und an seiner deuteronomistischen, später von der Chronik (-»Chronistische Theologie/Chronistisches Geschichtswerk) aufgenommenen Deutung als des exemplarisch frommen Königs festmacht, dürfte kontrovers bleiben. In den Psalmen Asaphs und der Korachiten wird man dagegen von den entsprechenden Sängergilden des Zweiten Tempels verwandte Dichtungen zu sehen haben. - Die mannigfach ineinander verschränkten und fortgeschriebenen Geschichtswerke (—»Gcschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie II) sind dagegen ebenso anonym wie die Bücher Threni (Klagelieder), Hiob, J o n a , Ruth, Esther und Daniel. Doch läßt sich aus dem -»Nehemiabuch die Gedenkschrift des in der 2. Hälfte des 5. J h . in Jerusalem wirkenden gleichnamigen Statthalters herauslösen.
Unsere literatursoziologischen Überlegungen setzen sachgemäß bei den eigentlichen Anfängen der Schriftkultur im Israel und Juda des davidisch-salomonischen Großreiches ein: Die Einrichtung von Hofämtern durch David (II Sam 8 , 1 6 - 1 8 ; 20,23 - 2 6 ) und der Ausbau der Reichsverwaltung durch Salomo (I Reg 4 , 2 - 6 . 7 - 1 9 ; Mettinger) hatten notwendig den Aufschwung des Schriftwesens zur Folge. Dürfte es schon vorher vereinzelte Schreiberschulen im Lande gegeben haben (Lang, Schule; Lemaire 7 - 3 3 ; vgl. aber auch Haran), so bedurfte jetzt die Reichsverwaltung einschließlich des Jerusalemer Reichstempels schriftkundiger und gebildeter Beamten, zu denen wir auch die Offiziere und Priester zu rechnen haben. Dem als Leiter der Zivilverwaltung anzusprechenden Hofbeamten mit dem Titel des Schreibers muß ein ganzes Netz von Schreibern im Lande unterstanden haben (Fishbane 25). Daß dabei die Erblichkeit eine Rolle gespielt hat, versteht sich bei den Priestergeschlechtern von selbst und läßt sich bei den weiteren Familien der Oberschicht im Rahmen einer sich herausbildenden feudalen Klassengesellschaft nicht nur vermuten, sondern auch exemplarisch belegen (Rüterswörden 1 1 5 - 1 1 7 ) . Obwohl wir im Alten Testament nur indirekte Hinweise für die Existenz von Schulen besitzen (Hermisson, Studien 1 1 7 - 1 2 2 ; Lemaire 3 4 - 7 1 ) , ist aus sachlichen Gründen und gestützt durch den Befund in der Umwelt auch in Israel mit dem Hof bzw. dem Tempel verbundenen Schulen zu rechnen. Darüber hinaus dürfte der sich entwickelnde gehobene wirt-
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schaftliche Bedarf auch die Existenz freier Schulen in den Haupt- und Verwaltungsstädten befördert haben. Demgemäß hat sich seit der davidisch-salomonischen Zeit eine gewiß zunächst nicht sehr breite, aber doch für die Entstehung einer israelitischen Literatur ausreichende gebildete Oberschicht entwickelt. Nach den uns erhaltenen Proben der Erzählkunst aus dem Reich Israel als dem wirtschafts- und verkehrsgeographisch günstiger gelegenen Staat dürfte sie jedoch nicht nur größer, sondern auch lebendiger als im Südreich gewesen sein (Würthwein, A T D 11/2, 502f). Als die Träger der alttestamentlichen Literatur haben wir dem Gesagten gemäß in vorexilischer Zeit die Beamten und unter ihnen zumal die Schreiber, die Priester und Tempelsänger und eine vermutlich relativ schmale gebildete Oberschicht anzusehen. In den höfischen und den ihnen nahestehenden Kreisen der Oberschicht dürften außer sapientiellen Schriften auch Geschichtserzählungen entstanden und rezipiert worden sein. Der Ubergang von der Schiedsgerichtsbarkeit zur Sanktionsgerichtsbarkeit dürfte zudem in der mittleren Königszeit zur Aufzeichnung grundlegender Rechtsbestimmungen, möglicherweise im Sinne eines Rechtslehrbuches, geführt haben, wie es Ekkart O t t o für d a s - » B u n d e s b u c h vorgeschlagen hat (Wandel; Rechtsgesch. der Redaktionen). Setzt man hierbei die M i t w i r k u n g beamteter Schreiber in Rechnung und bemerkt man gleichzeitig, daß nach nicht unbegründeter Vermutung höfische Schreiber und deren N a c h k o m m e n die Träger der deuteronomisch-deuteronomistischen Bewegung gewesen sind (Weinfeld 158 ff; Preuß, Deuteronomium 3 1 - 3 3 ) , wird deutlich, welche Bedeutung dem judäischen H o f und seinen Beamten für die Entstehung des Alten Testaments z u k o m m t (vgl. auch S. 309). In beiden Reichen haben beamtete Schreiber Annalen geführt und damit die Grundlage für die spätere Geschichtsschreibung der Königszeit geschaffen. Nicht zu unterschätzen ist aber auch die literarische Tätigkeit der Priester und Tempelsänger, welche die Rituale und die von ihrem Ursprung her rituelle Psalmendichtung verschriftet, bewahrt und fortgebildet haben, ein Prozeß, der in der exilisch-nachexilischen Zeit seinen H ö h e p u n k t in Gestalt der -»Priesterschrift (vgl. u. S. 312) und des Psalmenbuches (vgl. u. S. 326 f) gefunden hat. Schließlich ist d a m i t zu rechnen, daß die Aufzeichnungen der Prophetenworte von nationaler Bedeutung in die Archive des Jerusalemer Hofes und Tempels Eingang gefunden haben 4 . D a s schließt die Möglichkeit nicht a u s , d a ß es daneben prophetische Zirkel g a b , die ihrerseits Sammlungen von Prophetensprüchen angelegt haben (vgl. J e s 8,16). In nachexilischer Zeit ist sowohl die Bedeutung der Priester als auch die der Leviten für die sich in diesem Zeitraum präformierende S a m m l u n g der Heiligen Schriften gewachsen. D a die Königshöfe und besonders der Jerusalemer nicht mehr bestanden, mußte den Priestern des Zweiten Tempels als des Kultzentrums des sich bildenden J u d e n t u m s im Laufe der Zeit von selbst die führende Rolle in der Bewahrung und Pflege der religiösen Uberlieferung zuwachsen. In vergleichbarer und vermutlich oft auch konkurrierender Weise haben jetzt die Leviten an Bedeutung gewonnen. Sie haben d a s Erbe der deuteronomisch-deuteronomistischen Schule angetreten und sind so zu Bewahrern und Fortbildern der geschichtlichen und prophetischen Uberlieferung geworden. Schließlich ist an die Rolle der nachexilischen Sängergilden zu erinnern, denen wir d a s Psalmenbuch (-»Psalmen/Psalmenbuch) verdanken (vgl. auch u. S . 3 2 6 f ) . Für die Ausbreitung der literarischen Kultur im nachexilischen J u d e n t u m war freilich nichts so bedeutend wie die Einführung der jüdischen Eigengerichtsbarkeit auf der Grundlage der T o r a , die in der Westhälfte des Perserreiches durch Esra 398 v. Chr. eingeführt wurde (vgl. Rendtorff, Esra; Gunneweg, K A T 1 9 / 1 , 1 4 0 - 1 4 3 ) . Ihre Verwirklichung setzte den Besitz von Torarollen und die Existenz von Schriftgelehrten in allen jüdischen Gemeinden voraus. In der Folge bildete sich der synagogale Gottesdienst heraus, in dessen Mitte die Verlesung und die Ausleg u n g der T o r a stand. Die Verlesung w u r d e im Idealfall von Priestern, die Auslegung durch Leviten vorgenommen (vgl. N e h 7 , 7 2 b - 8 , 8 ; und dazu Gunneweg, K A T 19/2, 1 0 9 - 1 1 2 ) . D a im L a u f e der nächsten anderthalb Jahrhunderte auch die Verlesung von Abschnitten aus den Prophetenbüchern (Jos - II Reg: Vordere; J e s , J e r , Ez, Z w ö l f : Hintere Propheten) üblich wurde (vgl. u. S. 324), haben wir allen Anlaß, den Priestern und Leviten des Zweiten Tempels die entscheidende Bedeutung für die Entstehung der sich im Schatten der T o r a bildenden S a m m l u n g Heiliger Schriften zuzuschreiben. A m Beispiel des priesterlichen Schriftgelehrten und Weisheitslehrers Ben Sira (Stadelmann) läßt sich beobachten, welche Breite der Bildung in diesen Kreisen im Jerusalem der hellenistischen Zeit möglich war, in der sich auch der alttestamentliche Kanon zu schließen begann. Vermutlich selbst weit gereist, war er nicht nur mit den biblischen, sondern auch mit griechisch-hellenistischen Schriften vertraut ( M i d d e n d o r p ; Kaiser, Judentum). Daß es neben den an den Tempel und die Schriftauslegung gebundenen Bildungsstätten im Jerusalem der frühhellenistischen Zeit auch andere g a b , läßt sich immerhin vermuten 5 . Auf alle Fälle sind in der Spätzeit auch die geistigen Zentren des J u d e n t u m s in der östlichen und alexandrinischen D i a s p o r a in die Überlegung mit einzubeziehen. Dabei kann man d a v o n ausgehen, daß die östliche D i a s p o r a ihre Bedeutung als Pflegestätte der jüdischen Literatur seit ihrer Entstehung durch die 597 und 587 erfolgten Deportationen zu keiner Zeit vollständig eingebüßt hatte.
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2.3. Die Voraussetzungen der alttestamentlichen Literatur in der mündlichen Überlieferung. Auch heute noch ist grundsätzlich davon auszugehen, d a ß die alttestamentliche Literatur ihre Wurzeln in der mündlichen Uberlieferung besitzt (vgl. o. S. 307): Es ist unmittelbar einsichtig, daß die in den Geschichtsbüchern enthaltenen Sagen, Legenden, M y t h e n und Märchenmotive prinzipiell nicht als freie Schöpfungen der Autoren der in jenen aufgegangenen primär selbständigen Werke und der an ihrer Entstehung beteiligten Bearbeiter beurteilt werden können. Dasselbe gilt für die rechtliche, kultisch-rituelle und prophetische Überlieferung wie für die Lied- und Psalmendichtung. D e n n die Bildung v o n Sagen, Legenden, Mythen und Märchen ist bei allen Völkern älter als das Entstehen einer Literatur. Weiterhin sind Propheten bei ihrer Kündung der Z u k u n f t keineswegs n o t w e n dig auf das Vehikel der Schrift angewiesen. Auch die Sippenältesten fällen schon in vorliterarischen Gesellschaften ihre Schiedssprüche und sorgen für die Aufrechterhaltung der Sitte. Spruch und Sprichwort finden bis heute primär mündlich ihre Verbreitung. Und für den Umgang mit der Gottheit gelten auch in vor- und frühgeschichtlichen Zeiten feste Regeln und Riten. - Was uns im Alten Testament über die Vor- und Frühgeschichte Israels erzählt wird, verweist auf eine Vergangenheit, für die Israel keine schriftliche Überlieferung besitzen konnte, weil der Übergang zur Geschichtsschreibung an den zur Staatlichkeit gebunden ist. So gilt auch für Israel der allgemeine Grundsatz, daß die Sage die Form der Erinnerung eines Volkes an seine Vergangenheit in vor- und frühgeschichtlicher Zeit ist. Er erweist sich angesichts der Beobachtung als zutreffend, d a ß für die Königszeit erst seit S a l o m o annalistische Quellen zur Verfügung standen (—•Königsbücher). Seit Gunkels programmatischen Arbeiten (vgl. o. S. 307) sind acht Jahrzehnte verflossen. Inzwischen haben ethnologische Forschungen ergeben, daß der Rückschluß von den im Alten Testament vorliegenden Sagen (und in vergleichbarer Weise auch den Prophetensprüchen) auf ihre mündlich überlieferten Vorlagen wesentlich unsicherer ist, als man es selbst noch vor kurzem meinte. Denn schon in der mündlichen Überlieferung bedeutet jede Nacherzählung zugleich eine Anpassung an die jeweilige Situation. So werden die Erzählstoffe selektiert, an die bestehende Interessenlage adaptiert und mithin notwendigerweise auch transformiert (Kirkpatrick). Daraus folgt, daß der geschichtliche Anlaß des Erzählten zunehmend in den Schatten der Erzählung tritt: Je länger der mündliche Überlieferungsprozeß währt, desto ungreifbarer wird die ursprüngliche Gestalt der Sage und zugleich ihr geschichtlicher Hintergrund. In ähnlicher Weise ist jedoch auch bei den Erstverschriftungen und den von ihnen abhängigen literarischen Neugestaltungen verfahren worden. In der gegenwärtigen Situation der alttcstamentlichcn Forschung wiegt diese Einsicht besonders schwer, weil z. B. nicht nur die Zeit und die Art und Weise der Entstehung des sog. Jahwistischen Geschichtswerkes J (-»Jahwist), sondern auch die der meisten anderen vordeuteronomistischen Geschichtswerke kontrovers ist. Daher gewinnt neben der -»Literarkritik und der Überlieferungsgeschichte die Tendenzkritik zunehmend an Bedeutung, welche die Frage nach dem cui bono des Textes stellt und von daher unter Berücksichtigung aller historischen und gegebenenfalls auch archäologischen Aspekte' auf seine Zeitstellung und soziale Einbettung ihre Rückschlüsse zieht 7 .
3. Die Geschichts-
und
Erzählwerke
3.1.1. Der Pentateuch. In den als -»Pentateuch bzw. als Tora bezeichneten 5 Büchern M o s e bzw. Gen - Dtn wird der Verlauf der Geschichte v o n der Schöpfung bis z u m Vorabend der Landnahme Israels im Westjordanland erzählt. Nachdem die Urgeschichte Gen 1 - 1 1 die kosmologischen, anthropologischen und ethnologischen Voraussetzungen der Welt- und der Heilsgeschichte unter theonomem Gesichtspunkt entwickelt hat, setzt die Heilsgeschichte mit der Vätergeschichte und der sie mit der Erzählung vom Auszug aus Ägypten verklammernden -»Josephnovelle in Gen 1 2 - 5 0 bzw. 37 + 39-50* ein. Beide zeigen, daß das spätere Zwölfstämmevolk Israel seine Existenz ausschließlich dem providentiellen Handeln seines Gottes verdankt, der weiterhin die den Vätern gegebenen Land- und Nachkommenverheißungen (Köckert) und seine Selbstverpflichtung (Kutsch 102-115), für immer der Gott Abrahams und seiner Nachkommen zu sein (Gen 17), erfüllt und die Väter wie später sein Volk auf ihren Wegen leitet und begleitet. Die Erzählung vom Auszug Israels aus Ägypten Ex 1,1-15,21 bezeugt zugleich die Kraft Jahwes, sein von einer Weltmacht geknechtetes Volk zu befreien. Die durch die Erzählung von der Stiftung und der Einrichtung des Zeltheiligtums und des sühneschaffenden
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Opferkultes breit gedehnte Sinaiperikope Ex 1 8 , 1 - N u m 10,10 besitzt ihre Mittelpunkte in der Verpflichtung Israels auf den im -»Dekalog Ex 2 0 , 1 - 1 7 , im Bundesbuch Ex 20,22- 23,19(33) und im Privilegrecht Jahwes Ex 34,12-26 (-»Recht/Rechtswesen) offenbarten Willen seines Gottes sowie in der Besitznahme des Zeltes der Begegnung durch die Herrlichkeit Jahwes, der in dieser Gestalt inmitten seines Volkes wohnt, hier mit den Mittlern Mose und Aaron verkehrt und durch seine Anwesenheit die Wirksamkeit des Kultes ermöglicht, vgl. Ex 29,42 b—46; 40,34 (Janowski 317-328). Hatte J a h w e Moses Fürbitten angesichts des murrenden Volkes auf dem Wüstenzug vor der Ankunft am Sinai straflos erhört (vgl. Ex 15,25; 17,6), so ändert sich das nach dem Bundesschluß (-•Bund) in Ex 24: Seither werden alle, die den Alleinverehrungsanspruch Jahwes verletzen (Ex 32) oder sich gegen Mose und Aaron und damit zugleich gegen Jahwe auflehnen, mit dem Tode bestraft (vgl. N u m 11-12; 16). Und schließlich wird über die ganze sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehnende Auszugsgeneration mit der Ausnahme von Josua und Kaleb der Tod während der vierzigjährigen Wanderschaft verhängt (Num 13,1-14,31; vgl. dazu auch Aurelius und Blum, Studien). An ihrem Ende erobert Israel das Ostjordanland vom Arnon bis nach Basan. Die in N u m 2 2 - 24 eingeschobene Bileamerzählung (Timm 61-157) von dem durch den König von M o a b zur Verfluchung herbeigerufenen, von J a h w e aber zum Segnen gezwungenen aramäischen Seher (—»Bileam) zeugt ebenso von der Macht und dem Schutz Jahwes für sein Volk wie die Sehersprüche von dessen künftiger Größe". Unmittelbar vor dem Zug durch den Jordan hält Mose eine gewaltige, fast das ganze Deuteronomium ausfüllende Abschiedsrede, in der er das Israel aller Zeiten und in allen Orten in einem Bundesschluß erneut auf den Dekalog vom Horeb (Sinai) und seine ihn auslegende Gesetzesverkündigung verpflichtet (vgl. Dtn 2 9 , 9 - 1 4 , Knapp 141-146). Dem gehorsamen Volk verheißt Mose Jahwes umfassende Segnungen, dem ungehorsamen droht er in furchtbaren Flüchen seine schließliche Exilierung an (vgl. Dtn 28,1-68). Doch anschließend verheißt er dem unter die Völker zerstreuten Israel für den Fall der Umkehr zu Jahwe die Heimführung durch seinen Gott, vgl. Dtn 3 0 , 1 - 6 . Der Pentateuch schließt mit dem Bericht von der Einsetzung Josuas zum Nachfolger Moses, der Aufzeichnung des deuteronomischen Gesetzes, seiner Überantwortung an die Priester bzw. die Leviten sowie nach dem Moselied in Dtn 32 und dem Mosesegen in Dtn 33 mit dem Bericht von Moses Tod im Anblick des verheißenen Landes. - Schon diese großzügige Inhaltsangabe läßt erkennen, daß es sich bei dem Pentateuch um die Ätiologie der Existenz Israels und der Tora, der in ihm enthaltenen göttlichen Weisungen als der verbindlichen Lebensordnung Israels und gleichzeitig um ein Stück paradigmatischer Geschichtserzählung handelt, die in ihrer überlieferten Gestalt an das unter dem Exilsgeschick leidende Israel gerichtet ist. 3.1.2. Die Entstehung des Pentateuchs. D u b l e t t e n , S p a n n u n g e n und Brüche in der Erzählung w e i s e n auf die komplizierte Entstehungsgeschichte des Pentateuchs hin. Gem ä ß der im letzten Drittel d e s 19. Jh. ausgearbeiteten sog. N e u e r e n U r k u n d e n h y p o t h e s e ( - • P e n t a t e u c h ) d e n k t m a n sich seine Entstehung als das Ergebnis der redaktionellen Anreicherung eines älteren J a h w i s t i s c h e n G e s c h i c h t s w e r k e s J (—»Jahwist) mit A u s z ü g e n aus e i n e m eher jüngeren Elohistischen G e s c h i c h t s w e r k E ( - » E l o h i s t ) . Der für die Z u s a m m e n f ü g u n g der beiden Quellenschriften verantwortliche Jehovist hätte dabei in der Regel J die Führung gegeben. D a s s o e n t s t a n d e n e Jehovistische Geschichtswerk JE w ä r e später in den R a h m e n der —•Priesterschrift P eingebettet w o r d e n ( N o t h , Überlieferungsgeschichte 11—16). D i e H y p o t h e s e basiert auf d e m Befund, d a ß sich in den Büchern G e n - N u m eine mit G e n 1,1 einsetzende, priesterlich orientierte und bis Ex 6,2 v o n E l o h i m b z w . El Schaddaj und erst d a n n v o n J a h w e redende Textschicht v o n z w e i weiteren unterscheiden läßt. Von ihnen v e r w e n d e t die eine den G o t t e s n a m e n J a h w e v o n ihrem Einsatz in G e n 2 , 4 b an, w ä h r e n d die andere, nach derzeitiger Einsicht erstmals in Gen 2 0 bezeugte, bis E x 3 , 1 4 ausschließlich v o n E l o h i m (Gott) spricht. M i t d e m Unterschied i m G e b r a u c h des G o t t e s n a m e n s sind gleichzeitig das P h ä n o m e n der Dublettierung s o w i e signifikante Unterschiede in W o r t s c h a t z , Stil u n d G o t t e s v o r s t e l l u n g verbunden. M a n pflegt im R a h m e n dieser H y p o t h e s e in J w e i t h i n die t h e o l o g i s c h e Legitimation des d a v i d i s c h - s a l o m o n i s c h e n Großreiches zu sehen und d a s Werk entsprechend zu datieren (vgl. z . B . W . H . Schmidt, T h e o l o g e ; Berge 3 1 1 - 3 1 3 ) . D e m im Südreich entstandenen J a h w i s t e n stellt m a n d a n n d e n vor der M i t t e des 8. Jh. v. Chr. im N o r d r e i c h entstandenen Elohisten g e g e n ü b e r . D a s Jehovistische G e s c h i c h t s w e r k pflegt m a n entsprechend n a c h 7 2 2 und die Priesterschrift im 6. - 5 . Jh. zu datieren. D a s v o n der S c h ö p f u n g der Welt bis zu M o s e s T o d reichende G r o ß g e s c h i c h t s w e r k PJE w ä r e d a n n im Laufe des 5. Jh. mit d e m D e u t e r o n o m i s t i s c h e n G e s c h i c h t s w e r k D t r G verzahnt w o r d e n , das v o n D t n 1 - I I Reg 25
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reicht. Dieses Modell ist in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten auf unterschiedlichste Weise modifiziert und teilweise durch ein überlieferungs- und redaktionsgeschichtliches (Rendtorff, Problem; Blum, Vätergeschichte; Studien) ersetzt worden, ohne daß sich gegenwärtig eine auch nur annähernde Übereinstimmung in der Forschung abzeichnet. Sucht man die verschiedenen Entwürfe auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, so kann man festhalten, daß die Verschriftung der Sagenüberlieferung des Pentateuchs in der frühen Königszeit einsetzte und im Laufe der folgenden Jahrhunderte ihre sukzessive Ergänzung und zunehmend deutlichere theologische Akzentuierung gefunden hat. Die Theologisierung scheint nicht zuletzt auf einen vermutlich erst exilisch-nachexilischen Jehovisten oder gar mit ihm gleichzusetzenden Jahwisten zurückzugehen. In der Frage, ob die ihm vorliegende schriftliche Uberlieferung bereits die Gestalt einer von den Vätergeschichten bis zur Bileamerzählung (oder Moses Tod?) reichenden älteren jahwistischen Geschichtserzählung besaß oder ihm lediglich themengebundene Einzelerzählungen vorlagen, gehen die Ansichten auseinander. Deuteronomistischen Bearbeitungen ist jedenfalls die Ausgestaltung der vorpriesterlichen Sinaierzählung zur Bundesschlußerzählung zu verdanken. Auch an der Wüstenwanderungserzählung sind deuteronomistische und nachdeuteronomistische Hände beteiligt (Aurelius; Blum, Studien). Einheit, Alter und Herkunft der elohistischen Texte sind besonders umstritten (vgl. dazu auch Kaiser, Einleitung 105 f und z. B. Veijola, Paradigma). Mit ihrer Betonung der Gottesfurcht stehen sie der theologisierten Weisheit nahe. Die Entscheidung über ihren quellenhaften oder lediglich redaktionellen Charakter fällt deshalb so schwer, weil ihre Zahl insgesamt gering, aber gleichzeitig ihre Massierung in der Abraham- und in der Josephgeschichte auffällig ist. Dabei sprechen die hier gemachten Beobachtungen auch weiterhin für die Annahme ihrer quellenhaften Natur (Wellhausen, Composition 16; L. Schmidt, Jakob; Studien). Ob man den Elohisten noch vorexilisch oder nicht doch erst nachexilisch anzusetzen hat, ist kontrovers. Daß das Jehovistische und das Deuteronomistische Geschichtswerk einander ergänzten, konnte nicht verborgen bleiben. Im Bereich von N u m 21,25-36,13 ist die Verbindung offensichtlich sekundär hergestellt worden. Spätestens gegen Ende des 5. Jh. v. Chr. sind die Bücher Gen-Num mit priesterlichen Texten gerahmt und aufgefüllt* worden. Dabei hat der Pentateuchredaktor auch seinerseits theologische Neuakzentuierung vorgenommen. Wiederum ist es umstritten, ob es sich bei den einschlägigen priesterlichen Texten um Teile einer zuvor selbständigen Priesterschrift oder lediglich um eine aus priesterlichem Uberlieferungsbestand schöpfende Redaktion handelt (vgl. bes. Blum, Vätergeschichte 424-427; Studien). Angesichts der zwischen P und JE bestehenden Spannungen und des sich bei Isolierung der priesterlichen Texte ergebenden Zusammenhanges dürfte es die einfachste Hypothese sein, an der Existenz einer ursprünglich selbständigen Priesterschrift festzuhalten (vgl. auch Lohfink, Priesterschrift 197-200; Koch, P 446-467). Es ist verständlich, daß man angesichts des Eigengewichts der Priesterschrift als der Legitimation der Jerusalemer Priestertheokratie des Zweiten Tempels nicht auf sie verzichten konnte, aber angesichts ihrer bis Ex 7 reichenden Abstraktionen auch nicht auf die farbigen und zudem theologisch gewichtig ausgestalteten Sagenerzählungen von JE verzichten wollte. Zudem waren die legislativen Teile des älteren Geschichtswerkes aus religionspolitischen Gründen unentbehrlich. Durch die Abtrennung der Bücher Jos—II Reg von dem Deuteronomistischen Geschichtswerk und die Vereinigung von PJE mit dem Dtn entstand der Pentateuch bzw. die Tora, die der Mission Esras zugrunde lag 10 . Mit der Möglichkeit, d a ß die Priesterschrift im Bereich der Gola entstanden und auch ihr redaktioneller Zusammenschluß mit JE dort erfolgt ist, ist demgemäß zu rechnen. - Dank der Vorordnung einer universalen Urgeschichte vor die spezielle Heilsgeschichte, der Offenheit der Abraham Gen 1 2 , 1 - 3 gegebenen Segensverheißung, nach der sich Segen und Fluch für die Völker an ihrem Verhältnis zu Israel entscheiden soll, und der auf ihre endgültige Erfüllung wartenden Landverheißung besitzt die Tora ein auf Israel konzentriertes eschatologisches Konzept der Weltgeschichte als Heilsgeschichte. Aber sie enthält von ihrer Genese her auch eine unausgeglichene Span-
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nung zwischen deuteronomistischer Gehorsams- und priesterlich-kultischer Sühnetheologie, die erst durch die Zerstörung des Zweiten Tempels aufgehoben wurde. 3.2. Das Deuteronomistische
Geschichtswerk
3.2.1. Seine Quellen. Man kann das von Dtn 1—II Reg 25 reichende Deuteronomistische Geschichtswerk DtrG mit gleichem Recht als das große Sammelbecken der Überlieferungen aus der frühgeschichtlichen und staatlichen Zeit Israels wie als eine große Ätiologie für das Exilsgeschick Israels verstehen. Beide Aspekte verlangen auch in unserem Abriß ihr Recht. Verfolgt man den in dem Werk dargestellten Weg vom Vorabend der Landnahme Israels bis zum Untergang des Reiches Juda unter quellenkritischen Gesichtspunkten, so spiegelt sich in seiner Berichterstattung der Übergang von den ätiologischen Landnahmesagen und spärlichen Kriegserzählungen in J o s 2—11* (-»Josua/Josuabuch) zu den Heldensagen der vorstaatlichen Epoche (-> Richter/Richterbuch) und den Anfängen des Königtums unter Saul und David zu einer geradezu novellistisch entwickelten Geschichtserzählung in Gestalt der sog. Thronnachfolgeerzählung oder, wie wir zu sagen vorziehen würden, der Geschichte vom König David in II Sam 2 - 2 0 * + I Reg 1 - 2 * (—•Samuel/Samuelbücher). Fehlt es nicht an ersten Listen aus der Regierungszeit Davids (vgl. II Sam 8 , 1 6 - 1 8 ; 2 0 , 2 3 - 26 und 23,8 - 3 9 * ) , so setzen die als Quellen für die Darstellung der Königszeit dienenden Annalen (-»Königsbücher) doch erst bei Salomo ein, I Reg 11,41, um dann für das Nordreich bis zur Regierung Pekachs II Reg 15,31 und für das Südreich bis zu der Jojakims II Reg 24,5 zur Verfügung zu stehen.
Ob die Deuteronomisten für die Landnahme auf eine ältere, möglicherweise quellenhafte Erzählungs- oder eine Sagensammlung zurückgreifen konnten, ist umstritten (Kaiser, Einleitung 140—142). Die Darstellung der Richterzeit scheinen sie aus Einzelerzählungen komponiert zu haben (U. Becker 300 f). Für die Zeit Sauls und Davids konnten sie auf eine zusammenhängende Geschichtserzählung zurückgreifen, die in ihrer Grundschicht und teilweise auch noch in ihren Ergänzungen (vgl. z. B. I Sam 17) auf lebendig erzählte Einzelsagen zurückgriff (Kaiser, David). Ihren Höhepunkt erreichte die alttestamentliche Erzählkunst in der Geschichte vom König David II Sam 2 - 2 0 + I Reg 1 - 2 * (Gunn). Das spannungsvolle Verhältnis zwischen David und den Sauliden, David und Joab, Joab und Abner, Amnon und Absalom, Adonija und Salomo und vor allem den inneren Konflikt Davids als Vater, leidenschaftlichem Mann und als König ausnutzend, führt sie den Leser bis zu dem Punkt, an dem der greise König und seine Getreuen den Intrigen Nathans und der kühlen Berechnung Salomos zum Opfer fallen. Dabei zeichnet sich die Erzählung durch eine kunstvolle Prosa (Rost 111-126) sowie eine Darstellungsweise aus, die fast fortgesetzt bei dem Leser Vermutungen über die Motive der handelnden Personen provoziert, ohne sie jedoch zu bestätigen. Daher ist es nicht verwunderlich, daß die meist unter dem Titel der Thronnachfolgeerzählung behandelten Kapitel in der Forschung ganz unterschiedliche Bewertungen erfahren haben. Obwohl sie in der Regel in das 10. Jh. datiert wird, dürfte sie kaum vor dem letzten Drittel des 8. Jh., wenn nicht später, anzusetzen sein (Kaiser, Beobachtungen). Doch schließt das nicht aus, daß sie sich älterer Vorlagen bedient. Ob sie, wie zumeist angenommen, im Nord- oder nicht doch im Südreich entstanden ist, bedarf weiterer Untersuchungen. Es spricht für das geistige Klima des Nordreiches, daß der größte Teil der im Königsbuch aufgenommenen Erzählungen aus ihm stammt (Würthwein, A T D 11/2, 502). Als Musterbeispiele seien die von Abimelech j d c 9 und die von der Revolution Jehus II Reg 8 , 2 8 - 1 0 , 1 7 * (Würthwein, A T D 11/2 z.St; Minokami) genannt. Bedenkt man, daß die Heldensagen des Richterbuches, die Kriegserzählungen 1 Reg 20 und die Elia- und Elisaerzählungen (-»Elia; -»Elisa) ebenfalls aus dem Nordreich stammen, wird deutlich, welchen Beitrag es für das Deuteronomistische Geschichtswerk geleistet hat. Daß selbst das kleine Benjamin den Grundbestand der ätiologischen Landnahmesagen des Josuabuches und der Erzählungen von Sauls Aufstieg zum König und seinen ersten Philistersiegen beigesteuert haben dürfte, ist ebenfalls der Erwähnung wert. Beides zusammen erinnert daran, daß die unter jüdischem Gesichtswinkel erfolgte alttestamentliche Traditionsbildung selektiven Charakter besitzt.
3.2.2. Deuteronomium und Deuteronomistisches Geschichtswerk (-»Deuteronomium/Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule). Der ge-
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schichtstheologische Entwurf des DtrG basiert auf dem Deuteronomium. Die Deuteronomisten haben es als den programmatischen Einsatzpunkt ihrer Darstellung gewählt. Daher ist hier der angemessene Ort, seine Eigenart und die mit seiner Entstehung verbundenen Probleme zu skizzieren. Es prägt in seinen Einleitungsreden Kap. 4 - 1 1 immer erneut das Hauptgebot (Lohfink, Untersuchung) der ausschließlichen Jahweverehrung ein. In seinem privilegrechtlichen, das ius divinum enthaltenden ersten legislativen Teil 1 2 , 1 - 1 6 , 1 7 verlangt es den ausschließlichen Jahwedienst an dem einen, von Jahwe erwählten Ort zur rechten Zeit und auf die richtige Weise. Der in 1 6 , 1 8 - 1 8 , 2 2 folgende „gewaltenteilig konzipierte Verfassungsentwurf" (Braulik, Neue EB 15,7) besitzt in seinem Königsgesetz 1 7 , 1 4 - 2 0 utopischen Charakter. Der dritte legislative Teil Kap. 1 9 - 2 5 enthält straf-, kriegs- und vor allem sozialrechtliche Bestimmungen. Sachlich greift das Deuteronomium auf mannigfache ältere Rechtstraditionen, Rechtsreihen und selbst das -*Bundesbuch zurück. Seine formale Eigenart besteht darin, daß es all seinen Materialien den Stempel der Abschiedsrede Moses aufgeprägt hat. Die immer wieder in den paränetischen Erweiterungen der rechtlichen Bestimmungen enthaltene Mahnung zum Gehorsam gegen den hier verkündeten Gotteswillen als der Voraussetzung für Israels Bleiben im Land fassen die Segensverheißungen und Fluchandrohungen in Kap. 28 und die Schlußreden Kap. 2 9 - 3 0 bündig und teilweise mit ausdrücklichem Hinweis auf das Exilsgeschick zusammen (vgl. S.324).
Trotzdem dürfte es verfehlt sein, das Deuteronomium als Ganzes in der Exilszeit anzusetzen. Auch bei ihm ist mit deuteronomischen Fortschreibungen und deuteronomistischen Bearbeitungen zu rechnen. Sieht man in seiner zentralen monojahwistischen Tendenz (vgl. 6 , 4 - 5 ) primär eine Reaktion auf die assyrische Religionspolitik und erst sekundär auf die Gefährdung der Identität des Gottesvolkes nach dem Ende der beiden Reiche (Spieckermann, Juda), so wird man seine Anfänge zwischen dem Untergang des Nordreiches 722 und der Restaurationspolitik König Josias suchen. Nach II Reg 2 2 - 2 3 soll seiner im Jahre 622 durchgeführten Kultreform das Deuteronomium zugrunde gelegen haben (vgl. aber Würthwein, Reform). Der am assyrischen Vasallenvertrag orientierte Aufbau des Buches verweist ebenfalls in diese Zeit (Nicholson, God 56—82; Texte aus der Umwelt des AT, hg. v. O. Kaiser u. a. [ = TU AT], 1 / 2 , 1 5 5 - 1 7 7 ; State Archives of Assur II). Doch ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß es in einem den drei legislativen Teilen entsprechenden Fortschreibungsprozeß entstanden ist (Braulik, Abfolge 270—272 = 253—255), der sich möglicherweise bis in das frühe 5. Jh. erstreckte. Die Deuteronomisten haben seinem Aufbau eine angemessene Ausdeutung gegeben, indem sie es als Grundlage eines von Mose mit dem Israel aller Zeiten geschlossenen Gottesbundes interpretiert (vgl. z. B. 28,69; 29,1 - 1 4 * ) , es als die im Buch aufgezeichnete Tora angesprochen (vgl. z. B. 28,56-64) und schließlich mit der Umkehrforderung verbunden haben (vgl. z. B. 30,1 - 1 0 und Knapp). Damit haben sie das Verständnis der zwischen Jahwe und seinem Volk bestehenden Beziehung als eines Bundesverhältnisses (—>Bund) wirkmächtig begründet (Perlitt, Bundestheologie 54.128) und zugleich den Übergang von der israelitischen Kultzur jüdischen Buchreligion vorbereitet. Sie haben vom Deuteronomium her das Auf und Ab der Geschichte Israels von der Landnahme bis zum Untergang des Südreiches als Folge des Gehorsams bzw. Ungehorsams gegenüber dem Hauptgebot und den Weg des Nordreiches speziell als eine Folge der „Sünde Jerobeams", seiner Einführung eines angeblich häretischen Jahwedienstes in Bethel und Dan und damit des „Abfalls" von dem einen, von Jahwe erwählten Heiligtum gedeutet, das sie mit dem salomonischen Tempel identifizierten (vgl. Dtn 12,2—7; II Sam 7,13; I Reg 8 , 1 6 - 2 0 ) . Ob die Deuteronomisten ihre Tätigkeit bereits zur Zeit Josias, nach der Deportation Jojachins oder nicht doch erst nach dem Untergang des Südreiches und vor der Mitte des 6. Jh. begonnen haben (vgl. z.B. Provan 1 5 7 - 1 7 3 ; Seitz 1 0 3 - 1 2 0 und Würthwein, ATD 11/2,503), ist umstritten. (Sie hat sich vermutlich bis in das 5. Jh. hinein erstreckt.) Als Ort ihrer Wirksamkeit nach der Eroberung Jerusalems 587 kommt zumal —>Mizpa in Frage (Jepsen, Quellen 96; Noth, Studien 97 Anm. 6; Veijola, Dynastie 198-200). Angesichts der sich über rund ein Jahrhundert erstreckenden Entstehung des Werkes ist es nicht verwunderlich, daß sich in den redaktionellen Schichten ihres Geschichtswerkes unterschiedliche Tendenzen spiegeln,
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denen man in der Forschung teilweise mittels der Unterscheidung zwischen einem dtr. Historiker (DtrH) und prophetentheologisch (DtrP) bzw. nomistisch orientierten Bearbeitern (DtrN) gerecht zu werden sucht (Smend; Dietrich; Veijola; Würthwein; U. Bekker). M a n wird dem Befund jedenfalls am besten gerecht, wenn man Martin Noths Hypothese von dem im wesentlichen einen Deuteronomisten aufgibt und das Werk statt dessen als Ergebnis der Tätigkeit einer deuteronomistischen Schule deutet (W. H. Schmidt, Einführung 139; zur Diskussion vgl. H. Weippert, Geschichtswerk). Jedenfalls können wir festhalten, daß das Bild von den Propheten als den ihren Königen furchtlos gegenübertretenden Mahnern zur Treue gegenüber dem Hauptgebot wohl erst auf Fortschreiber des Werkes (DtrP) zurückgeht. In ähnlicher Weise stammt die Nachzeichnung des Geschichtsverlaufes als Folge der Einstellung des Volkes gegenüber der Tora von noch späteren Bearbeitern (DtrN; vgl. z.B. Jos 1,8; 23,6f; II Reg 17,13-17.20; 21,7-9.14-15). Die von den Nomisten ebenfalls vorgenommene Deutung der Propheten als Mahner zum Gehorsam gegenüber dem Gesetz (vgl. II Reg 17,13-17.20) ist von kanongeschichtlicher Bedeutung; denn sie hat nicht nur den Büchern J o s - I I Reg als den Vorderen oder Früheren Propheten, sondern auch den Hinteren oder Späteren Prophetenbüchern Jes, Jer, Ez und dem Dodekapropheton die Zuordnung zur Tora und damit ihre Stellung im Kanon ermöglicht. 3.2.3. Das Deuteronomistische Geschichtswerk als spannungsvolle Einheit. Blickt man auf das von Dtn 1—II Reg 25 reichende Gesamtwerk zurück, erweist es sich als eine spannungsvolle Einheit. Seine Fortschreiber waren bemüht, es den sich wandelnden Situationen des Volkes anzupassen und ihm schließlich eine neue Identität als dem auf die Tora verpflichteten Bundesvolk Jahwes zu geben. M a n kann sich den Wechsel der Perspektiven zumal an der Einstellung zum Königtum vergegenwärtigen: Für den (oder die) deuteronomistischen Historiker war das Königtum prinzipiell eine notwendige und gute Gabe Gottes (vgl. z.B. I Sam 8 , 1 - 5 ; 10,17-27a*) und das davidische Haus die von Jahwe erwählte ewige Dynastie (vgl. z.B. I Sam 25,28; II Sam 7,16; I Reg 2,45b). Dem steht die königskritische Haltung nomistischer Bearbeiter gegenüber, die in dem Verlangen nach einem irdischen König den Abfall von Jahwe als dem eigentlichen König Israels sahen (vgl. z.B. I Sam 8,8; 12,12; Veijola, Dynastie 127-142; Königtum 115-122). O b Jdc 19—21 schon von D t r H (Veijola, Königtum 21.115) oder erst von einem im Umkreis des Pentateuchredaktors R p zu suchenden Bearbeiter aufgenommen wurde (U. Becker), ist umstritten. Möglicherweise sind die Hinweise auf die königslose als schreckliche Zeit in z.B. Jdc 17,6 und 21,25 Folge einer Neubewertung des Königtums aus größerem zeitlichen Abstand". Es entspricht dem vielstimmigen Chor, wenn in der weiteren Geschichte des Judentums sowohl messianische als auch auf die Vollendung der Königsherrschaft Jahwes gerichtete Erwartungen ihre Stelle behielten, wobei die zuletzt genannten dominierten (Gray, Kingdom; Jeremias, Königtum; Loretz, Königspsalmen; Ugarit-Texte). 3.3. Nachexilische Geschichts- und Erzählwerke 3.3.1. Das Esra-Nehemiabuch. Es ist verständlich, daß das um den zwischen 520 und 515 v.Chr. wiederaufgebauten Jerusalemer Tempel zentrierte Judentum nach einer Geschichte der Neubegründung seines kultischen Mittelpunktes verlangte. Sie wurde ihm in spätpersischer oder gar erst frühhellenistischer Zeit in Gestalt des Esra-Nehemiabuches gegeben. Seine Erzählung beginnt mit dem Tempelbau- und Heimkehrerlaß Kyros* II. 538 v. Chr., erzählt von dem allen äußeren Widerständen zum Trotz abgeschlossenen Wiederaufbau des Tempels und endet mit dem Bericht von der feierlichen Weihe der Mauern Jerusalems und den kultischen Reformen des Statthalters Nehemia (445/4-433/2). Es ist durch die Verzahnung des -»Esrabuches Esr 1 - 1 0 + Neh 8 mit der apologetischen Gedenkschrift Nehemias (—•Nehemia/Nehemiabuch) entstanden. Durch sie erhalten wir einen unersetzlichen Einblick in die innere und äußere Lage der Provinz Juda in der 2. Hälfte des 5. Jh. v. Chr. Sie liegt allerdings nur in einer bearbeiteten Form vor. So sind zumal die Wiederholung der Heimkehrerliste Esr 2 in Neh 7 und der große Einschub Neh
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9-12,30 als redaktionell zu betrachten. Im Blick auf die Originalität der im Esrabuch verarbeiteten Quellen ist weithin Skepsis angebracht. Handelt es sich bei den sog. Esramemoiren Esr 7,27-9,15 um einen fingierten Ich-Bericht, so ist die Authentizität der religionsgeschichtlich wichtigen aramäischen Bestallungsurkunde Artaxerxes (II.!) für Esra in Esr 7 , 1 2 - 2 6 * umstritten12. Zusammen mit der Erzählung von der feierlichen Verlesung der Tora durch Esra und ihrer Erläuterung durch die Leviten erlaubt sie jedenfalls einen Rückschluß auf die Mission Esras, der mit persischer Autorisierung in der Westhälfte des Reiches und zumal der Provinz Juda die jüdische Selbstgerichtsbarkeit auf der Grundlage der Tora eingeführt hat (vgl. o. S. 310). Neh 8 , 1 - 8 kann als Ätiologie für den synagogalen Gottesdienst bewertet werden. Diskutiert werden besonders die beiden folgenden Probleme: 1., ob Nehemias Wirksamkeit der hier vertretenen Meinung gemäß und entgegen der jetzigen Darstellung vor der Esras anzusetzen ist, und 2., ob es sich bei E s r l - 1 0 + Neh 8 um die genuine Fortsetzung der Chronik handelt. Ist diese Frage zu bejahen, können wir mit M a r t i n N o t h (Studien 1 1 0 - 1 3 1 ) mit der Existenz eines Chronistischen Geschichtswerkes rechnen. Andernfalls ist zu erwägen, o b die Chronik nicht jünger als das Esrabuch ist (vgl. dazu Ackroyd, Chronicles und künftig Japhet und Pohlmann, Congress Volume Leuven 1989, VT.S).
3.3.2. Die Chronik. Die Chronikbücher (-»Chronistische Theologie/Chronistisches Geschichtswerk) fassen in I Chr 1—9 die Geschichte von Adam bis Saul in Gestalt einer „genealogischen Vorhalle" (Rudolph, HAT 1/21 VIII) zusammen. In I Chr 10—29 folgt die Epoche vom Tode Sauls bis zum Tode Davids. Dabei stehen Davids Maßnahmen zur Ordnung des Kultpersonals und seine Vorbereitungen für den Bau des Jerusalemer Tempels im Mittelpunkt. In II Chr 1 - 9 schließt die Geschichte Salomos, in II Chr 1 0 - 3 6 allein die des Reiches Juda bis zu seinem Ende und dem Tempelbau- und Heimkehrerlaß des Kyros an. Schon die Stoffverteilung läßt erkennen, daß die davidisch-salomonische Epoche (und später die Hiskias) für den Chronisten die ideale Zeit gewesen ist: Nachdem Jahwe Israel aus den Völkern ausgesondert hatte, erwählte er Juda und Jerusalem mit der ewigen davidischen Dynastie und dem Tempel als Mittelpunkt seiner Theokratie, die, wie II Chr 30 zeigt, auch nach dem Abfall des Nordreiches grundsätzlich das ganze Israel einschloß (Williamson, Israel 89-131). Obwohl die Theokratie „wegen des Versagens der späteren Davididen" scheiterte, läßt „Jahwe in seiner Gnade aus der Katastrophe die neue Gottesgemeinde entstehen, die nun die Theokratie verkörpert" (Rudolph, HAT 1/21, VIII f). - Außer dem Pentateuch und dem Deuteronomistischen Geschichtswerk standen dem Chronisten zumal Priester-, Leviten- und Tempelsängergenealogien zur Verfügung (Oeming). Darüber hinaus verfügte er über wenige zusätzliche Nachrichten über Baumaßnahmen der judäischen Könige. Handelt es sich beim Deuteronomistischen Geschichtswerk um eine sekundäre, so bei der Chronik um eine tertiäre Geschichtsschreibung mit dem Charakter der Auslegung (Willi). Kennzeichnend für ihr Geschichtsverständnis ist der Glaube an die unmittelbare göttliche Vergeltung Jahwes, der denen, die ihn anrufen und ihm vertrauen, aus allen Nöten hilft. Die Datierung des Werkes schwankt zwischen dem 5. und dem 3. Jh. v. Chr. Ernsthaft kommt für seine Entstehung aus sachlichen und sprachlichen Gründen nur die spätpersische oder frühhellenistische Zeit in Frage. 3.3.3. Nachexilische und frühhellenistische Erzählungen. Entgegen einem verbreiteten Vorurteil ist die lebendige Erzählkunst auch im nachexilischen Judentum nicht abgestorben. Davon zeugen in der Hebräischen Bibel zumal die Bücher —>Ruth, —»Jona und -> Esther. Das proselytenfreundliche Büchlein Ruth erzählt von der Treue seiner gleichnamigen Heldin, einer Moabiterin, zu ihrer aus Bethlehem stammenden Schwiegermutter N a e m i und deren Gott Jahwe (vgl. Ruth 1 , 1 6 - 1 7 ) . Dank Naemis Klugheit und der H o c h a c h t u n g des Lösers Boas vor ihrer Treue wird sie durch die Ehe mit ihm belohnt. Der ihr entsprungene Sohn Obed ist nach dem genealogischen Epilog 4 , 1 8 - 2 2 der Großvater Davids und die Moabiterin mithin die Ahnfrau der Davididen geworden. - Auch das Jonabüchlein beschäftigt sich mindestens indirekt mit dem Verhältnis zwischen Israel und den Heiden. E s spielt ebenfalls in der Vergangenheit; denn der Prophet
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J o n a von Amittai lebte nach II Reg 14,25 wohl in den Tagen Jerobeams II. ( 7 8 7 - 7 4 7 ) . Dem Büchlein liegt jeder Fremdenhaß fem. Es kontrastiert die Flucht Jonas vor seinem göttlichen Auftrag, gegen Ninive zu predigen, mit der Frömmigkeit der heidnischen Seeleute und schließlich seinen Lebensüberdruß anläßlich des Verdorrens des ihn beschattenden Rhizinus mit Gottes Barmherzigkeit gegenüber den bußfertigen Einwohnern von Ninive. Einerseits zeigt die Erzählung in ihrem mythisch-märchenhaften Zug von der Rettung Jonas aus dem Leibe des großen Fisches, daß es gegenüber Gottes Willen kein Entrinnen gibt. Andererseits gibt der Gehorsam dem Propheten (und also' dem Juden) kein Recht, sich gegen Gottes auch den Heiden geltende Güte aufzulehnen. Die Erzählung schöpft aus dem biblischen Sprachschatz. Sie schließt mit der an Jona und zugleich an den Leser gerichteten Frage, die Gottes Erbarmen mit Ninive als angemessen erkennen läßt. Mithin besitzen wir im Jonabüchlein eine Lehrerzählung, die von der Weisheit seines perserzeitlichen Verfassers zeugt (Kaiser, EvTh 33, 9 1 - 1 0 3 = B Z A W 161, 4 1 - 5 3 ; Magonet).
In den Bereich des östlichen Diasporajudentums führen uns die im -»Danielbuch überlieferten Erzählungen von dem Exulanten Daniel, der den babylonischen Königen Nebukadnezar und Belschazzar ihre beunruhigenden Träume und Erscheinungen deutet und selbst (wie seine drei Freunde) ob seines Gehorsams gegenüber der Tora dem sicheren Tode ausgeliefert und doch von Jahwe errettet wird. Das in der Qumranhöhle 4 gefundene Gebet Nabonids (Beyer, Texte 223 f) gewährt einen Einblick in die Vor-, die aus der gleichen Höhle stammenden pseudo-danielischen Fragmente (ebd. 224f) und die Zusätze zum griechischen Daniel ( J S H R Z 1/1, 6 2 - 8 7 ) einen solchen in die Nachgeschichte der Danielüberlieferung (Vermes: Schürer III/l, 4 4 0 - 4 4 2 ; Vermes/Goodman: III/2, 722-730).
In die Welt des Perserhofes führt außer der Pagenerzählung des 3. Esra (III Esr 3 , 1 - 4 , 6 3 ; JSHRZ 1/5, 3 9 7 - 4 0 2 ) auch das biblische Estherbuch. Es erzählt von der Gefährdung der Juden im Perserreich durch den Vezier Haman und der durch ihren Oheim Mardochai zu ihrer Rettung gedrängten Jüdin Esther, die zur Gemahlin des Königs Ahasveros (Xerxes) aufgestiegen war. Auffallend ist, daß das Buch weder von Jahwe noch von G o t t spricht, sondern sein im Hintergrund stehendes Handeln nur indirekt andeutet (vgl. Esth 4,14; 6,13). O b das Buch vom erotischen hellenistischen Roman beeinflußt ist, bleibt umstritten.
Die sprachlich zum Mittelhebräischen überleitende Erzählung ist in ihrer überlieferten Form als Ätiologie für das Purimfest (-»Feste und Feiertage II.6.1) anzusprechen und vermutlich in frühhellenistischer Zeit entstanden. Bei Ben Sira nicht erwähnt und in den Textfunden von Qumran als einziges biblisches Buch nicht belegt, gehört es zu den jüngsten Schriften, die in die Hebräische Bibel Eingang fanden. Als Spätlinge romanhafter jüdischer Erzählkunst seien hier auch das Tobit- und das Judithbuch (Deselaers; J S H R Z 1/6; -»Apokryphen 1 . 4 - 5 ) erwähnt, die beide Beziehungen zum aramäischen Achiqar (Kottsieper, Sprache) besitzen.
4. Die Prophetenerzählungen
und
Prophetenbücher
4.1. Phänomen und Formen der alttestamentlichen
Prophetie
4.1.1. Phänomen und Eigenart. Das Verlangen, sich seiner Zukunft mit oder ohne Beistand der Götter zu vergewissern, gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Demgemäß ist die mediale Praekognition und mantische Zukunftserhellung ein weltweites Phänomen, das freilich in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen unterschiedliche Ausprägungen erfahren hat. Herrschte bei den Völkern des Alten Orients, Ägyptens und der Ägäis die technische Mantik vor, so läßt sich schon im Reich von Mari am mittleren Euphrat (18./17. Jh. v.Chr.; Texte aus der Umwelt des AT, hg. v. O. Kaiser u.a., II/l, 8 4 - 9 3 ; A. Schmitt, Gottesbescheid), seit der Mitte des 2. Jt. auch bei den Kanaanäern (Ta c anak 1, ANET, 490, Wen-Amun 1 , 3 8 - 4 0 ; 3 TGI 45) und dann seit dem 9 . - 7 . Jh. v. Chr. im kanaanäisch-aramäischen Grenzgebiet des Ostjordanlandes (Bileam-Inschriften vom Teil Deir c Alla, TUAT II/l, 1 3 8 - 1 4 8 ) , in Nordsyrien (Inschrift des Königs Zakkur von Hamath, KAI 2 0 2 , 1 2 - 1 7 ; T U A T 1/6,627) und im Neuassyrischen Reich zur Zeit der Könige Asarhaddon und Assurbanipal (TUAT II/l, 56—65) eine göttlich inspi-
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rierte Prophetie nachweisen. So ist es nichts Ungewöhnliches, daß es auch in Israel neben der in den Texten nur schwach bezeugten Mantik (de Vaux, Institutions II, 200-206; Loretz, Leberschau 13-34) Propheten und Prophetinnen gab (-• Propheten/Prophetie), die Hoch und Niedrig befragt und unbefragt im Namen Jahwes Bescheid erteilten. Die Besonderheit liegt vielmehr darin, daß wir als Erbe der lebendigen Prophetie literarische Prophetenbücher besitzen. Ihre Voraussetzungen, ihr Entstehen und ihre literarische wie theologische Eigenart darzulegen, stellt die eigentliche Aufgabe der Literaturgeschichte auf diesem Gebiet dar. 4.1.2. Vom Prophetenspruch zum Prophetenbuch. Die alttestamentlichen Prophetenbücher gehen in ihrem Kern auf die in der Regel zunächst mündlich übermittelten Sprüche der Propheten zurück, deren Namen sie tragen. Diese richteten die ihnen von Jahwe aufgetragenen Botschaften bei den unterschiedlichsten Anlässen und in den verschiedensten Situationen aus: Sie traten im Heiligtum auf (Am 7,12f), wirkten dort, wie vermutlich die Propheten Nahum, Habakuk und Joel als Kultpropheten (-»Propheten/Prophetie), traten dabei als Fürbitter für ihr Volk ein (vgl. z.B. Am 7 , 1 - 6 ; Aurelius203), erteilten Opferbescheide (vgl. z.B. Jes 1,10-17»; Würthwein: FS Weiser, 115-131 = ders., Wort 144-160). Sie wurden von Königen aufgesucht (II Reg 13,14ff), herbeigerufen (Jer 38,14), beantworteten ihre Anfragen wie z.B. die Prophetin Hulda (II Reg 22,12ff), und traten ihnen ungerufen in den Weg (Jes 7,3). Daß sich auch der kleine Mann an sie wenden konnte, belegt die Erzählung von Sauls Suche nach den verlorenen Eselinnen seines Vaters I Sam 9. Wenn wir in den alttestamentlichen Prophetenerzählungen und Prophetenbüchern fast ausschließlich mit ihrer dem Schicksal der Könige und des Volkes geltenden Wirksamkeit konfrontiert werden, hängt das mit der Eigenart der Bibel als dem Buch von der Herkunft und Zukunft Israels ab. Da bereits die Prophetensprüche des -»Arnos um die Mitte des 8. Jh. v.Chr. feste Redeformen aufweisen, dürfen wir annehmen, daß diese sich bereits im Laufe der frühen Königszeit herausgebildet haben. Es ist kein Zufall, daß die Schriftprophetie mit den um die Mitte des 8. Jh. v. Chr. im Nordreich wirkenden Propheten Arnos und Hosea einsetzt, da ihm beide das Gottesgericht vorausgesagt hatten. Sein Untergang 722 bestätigte ihre Worte und machte sie so zu Zeugen dafür, daß Jahwe den Göttern der Assyrer nicht unterlegen war, sondern in der Katastrophe seine Macht und Gerechtigkeit erwiesen hatte. Ebenso ist es kein Zufall, daß die Schriftprophetie nach der Durchsetzung der Tora um die Wende vom 5. zum 4. Jh. v. Chr. ihr Ende fand. Denn die Tora sagte deutlich genug, was Israel tun und was es meiden mußte, um der Erlösung würdig zu werden. Der Prozeß der Fortschreibung der Prophetenbücher erreichte im 6. und 5. Jh. v.Chr. seinen Höhepunkt, um dann vereinzelt noch bis in die frühhellenistische Zeit anzudauern. Zwischen dem späten 6. und dem frühen 3. Jh. v. Chr. formierte sich der Prophetenkanon. Die Heils- und Endgerichtserwartungen der eschatologisch gesinnten Kreise der Folgezeit fanden in pseudepigraphischen Apokalypsen ihren Niederschlag. Abgesehen vom Danielbuch, blieb ihnen jedoch auf die Dauer die biblische Autorität versagt (vgl. u. S. 325). Schließlich ist es wiederum kein Zufall, daß sich die vorexilische Prophetie in der kritischen Forschung vor allem als Unheilsprophetie darstellt; denn die Perspektive der Traditionsselektion wurde durch das katastrophale Ende der beiden Reiche bestimmt. Sehen wir von den das Ende Assurs ankündigenden Worten eines Nahum und Zephanja ab, können wir zwischen 722 und 587 allenfalls mit einer Restitutionsprophetie für das Nordreich rechnen, wie sie im -»Hosea- und im -»Jeremiabuch bezeugt ist. Demgemäß dominieren bei den vorexilischen Propheten die Arten des Droh- und des Gerichtswortes in Gestalt des einfachen Droh- oder Gerichtswortes, vgl. z.B. Am 7,11 (vgl. zum Folgenden grundsätzlich Gunkel: 2 SAT 2/2, X X X I V - L X X und Westermann, Grundformen), und des durch die Verbindung mit einem Scheltwort (Markert) oder einer Anklage gebildeten begründeten Drohwortes oder Urteils (vgl. z.B. Am 4 , 1 - 3 ) . Dabei
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L i t e r a t u r g e s c h i c h t e , Biblische I
k a n n U n h e i l s a n k ü n d i g u n g a u c h d i e F o r m einer U n h e i l s b e s c h r e i b u n g a n n e h m e n (vgl. z. B. A m 5 , 1 6 - 1 7 ) . E i n e v e r s c h ä r f t e F o r m d e r U n h e i l s a n k ü n d i g u n g stellt d e r v e r m u t l i c h d e r T o t e n k l a g e e n t l e h n t e p r o p h e t i s c h e Weheruf d a r ( J a n z e n ) , d e s s e n sich z . B . d e r im letzten Drittel d e s 8. J h . v. C h r . in J e r u s a l e m w i r k e n d e P r o p h e t - » J e s a j a b e v o r z u g t b e d i e n t e (vgl. z . B . Jes 5 , 8 - 2 8 * ; 1 0 , 1 - 4 * ; 2 8 , 1 - 3 1 , 3 * ) . D i e p r o p h e t i s c h e G e r i c h t s b o t s c h a f t erhielt i h r e L e b e n d i g k e i t d u r c h d e n R ü c k g r i f f auf e n t l e h n t e G a t t u n g e n o d e r G a t t u n g s e l e m e n t e w i e z. B. die Streit- o d e r P r o z e ß r e d e rib (vgl. z. B. H o s 4 , 1 - 2 ; Jes 1 , 1 8 - 2 0 ; 4 1 , 2 1 - 2 4 ; B o e c k e r , R e d e f o r m e n ; N i e l s e n [vgl. a b e r a u c h Daniels]; S c h o o r s ) , die T o t e n k l a g e o d e r Qittä (vgl. z. B. A m 5,1), d a s T r i n k l i e d (Jes 22,13 b) u n d selbst d a s Spiel m i t d e m Liebeslied (Jes 5,1 ff). Die G r ö ß e des b e v o r s t e h e n d e n (oder des in W a h r h e i t bereits eingetretenen) U n h e i l s k o n n t e mittels des A u f r u f e s z u r F l u c h t (vgl. z. B. J e r 4,5 f) u n d z u m K a m p f (vgl. z. B. H o s 5 , 8 f ; J e r 6 , 4 - 6 ; Bach), d e r S c h i l d e r u n g d e s A n m a r s c h e s d e r F e i n d e , d e r Flucht u n d d e s A u f r u f e s z u r b z w . d e s Berichts v o n d e r Klage (vgl. z . B . M i 1 , 8 - 1 6 ; Jes 1 0 , 2 8 - 3 2 ) u n t e r s t r i c h e n w e r d e n . D e r L e g i t i m i e r u n g d e r p r o p h e t i s c h e n B o t s c h a f t d i e n t e n die Beruf u n g s - (Richter, B e r u f u n g s b e r i c h t e ) u n d V i s i o n s b e r i c h t e ( H o r s t ) . Die Berichte v o m W i r k e n d e r P r o p h e t e n , wie sie u n s ü b e r Arnos, J e s a j a u n d v o r allem J e r e m i a e r h a l t e n sind, d i e n t e n d e m S c h u l d a u f w e i s . Gleichzeitig b e z e u g t e n die Berichte ü b e r s y m b o l i s c h e H a n d l u n g e n ( F o h r e r , H a n d l u n g e n ) die u n h e i m l i c h e D y n a m i s d e s p r o p h e t i s c h e n R e d e n s u n d W i r k e n s . Solche sind u n s v o n J e s a j a , J e r e m i a , Ezechiel u n d S a c h a r j a als Selbst- u n d v o n J e s a j a u n d J e r e m i a a u c h als F r e m d b e r i c h t e ü b e r l i e f e r t (vgl. z . B . J e s 8,1—4; Jer 1 3 , 1 - 1 1 ; Ez 4 , 1 - 6 , 1 4 * ; Sach 6 , 9 - 1 5 * b z w . J e s 20 u n d z.B. J e r 28). D a b e i ist g r u n d s ä t z l i c h festzustellen, d a ß es sich bei e i n e m Selbstbericht fallweise u m ein n a c h p r o p h e t i s c h e s literarisches Stilmittel h a n d e l n k a n n . D e r literarische Z y k l o s d e r N a c h t g e s i c h t e - » S a c h a r j a s (Sach 1 , 7 - 6 , 8 * ) m a r k i e r t bereits d e n U b e r g a n g v o n d e r lebendigen P r o p h e t i e zur literarischen A p o k a l y p t i k . In ä h n l i c h e r Weise k e n n z e i c h n e t d a s d u r c h die V e r b i n d u n g v o n D r o h w o r t u n d M a h n w o r t (Tangberg) g e b i l d e t e b e d i n g t e G e r i c h t s w o r t (vgl. z. B. A m 5,5) die Schwelle z u r n a c h p r o p h e t i s c h e n P a r ä n e s e (vgl. z.B. Ez 18; 33; W e s t e r m a n n , Heilsw o r t e 141 f). D a s e r s t m a l s bei D e u t e r o j e s a j a z u r A b s t ü t z u n g seiner H e i l s b o t s c h a f t a u f g e n o m m e n e D i s p u t a t i o n s - o d e r D i s k u s s i o n s w o r t (Streitrede; vgl. J e s 4 0 , 1 2 - 3 1 ) ist bei d e m a m E n d e d e r lebendigen a l t t e s t a m e n t l i c h e n P r o p h e t i e s t e h e n d e n P r o p h e t e n - » M a l e a c h i z u r b e h e r r s c h e n d e n F o r m g e w o r d e n (Pfeiffer). Uber die sog. vorklassische Prophetie (-»Propheten/Prophetie) wie z.B. die -»Elias oder -»Elisas sind wir nur durch Fremdberichte teils legendären Charakters unterrichtet. Während deuteronomistische Redaktoren Elia nach dem Bild des Wort- und Gerichtspropheten Jahwes ausgestaltet und dabei sein Eintreten für das Hauptgebot besonders unterstrichen haben (vgl. I Reg 18; Würthwein, ATD 11/2,269-272), zeichnet die vielschichtige und erst nachdeuteronomistisch in das Königsbuch aufgenommene Elisaüberlieferung sein Bild als des Hauptes einer Prophetengilde in —»Gilgal (vgl. z. B. II Reg 4,38-41), eines wundertätigen Gottesmannes (vgl. z. B. II Reg 4,1 - 3 7 ) und eines Helfers in den Aramäerkriegen (vgl. z.B. II Reg 6,8-23; 13, 14-19; Würthwein, ATD 11/2, 366-368 und Stipp, Elischa). Die W o r t e d e r v o r d e r M i t t e d e s 8. J h . im N o r d r e i c h w i r k e n d e n P r o p h e t e n zu b e w a h r e n , b e s a ß m a n v e r s t ä n d l i c h e r w e i s e keinen A n l a ß . D a g e g e n ist es n a c h v o l l z i e h b a r , d a ß m a n die gegen J e r u s a l e m u n d J u d a g e r i c h t e t e n U n h e i l s w o r t e d e r im letzten D r i t t e l des 8. J h . w i r k e n d e n P r o p h e t e n J e s a j a u n d M i c h a , d i e vielleicht v o n i h n e n selbst aufgezeichn e t w o r d e n w a r e n , d e r B e w a h r u n g w e r t e r a c h t e t e u n d im G e d ä c h t n i s behielt (vgl. z. B. Jer 2 6 , 1 7 f f ) . Z u m e i n e n w a r e n d i e gegen d a s N o r d r e i c h g e r i c h t e t e n W o r t e J e s a j a s schnell in E r f ü l l u n g g e g a n g e n , z u m a n d e r e n h a t t e die im letzten A u g e n b l i c k a b g e w e n d e t e K a t a s t r o p h e d e s Südreiches im J a h r e 701 ( - » G e s c h i c h t e Israels 4.2) d e n E r n s t d e r gegen J u d a gerichteten W o r t e J e s a j a s u n d M i c h a s u n t e r s t r i c h e n . Als d a n n die J u d a v e r g ö n n t e R u h e p a u s e mit d e m N i e d e r g a n g d e s N e u a s s y r i s c h e n Reiches in d e n 20er J a h r e n d e s 7. J h . v . C h r . ihr E n d e f a n d , k ü n d e t e d e r P r o p h e t - » N a h u m d e n U n t e r g a n g des v e r h a ß t e n N i n i v e a n , w ä h r e n d - » Z e p h a n j a d e n G e r i c h t s t a g J a h w e s a u c h auf d a s v o n U n r e c h t e r f ü l l t e J e r u s a l e m z u k o m m e n s a h 1 3 . K a u m h a t t e K ö n i g J o s i a 6 2 2 die E m b l e m e d e r assyri-
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sehen H e r r s c h a f t a u s d e m J e r u s a l e m e r T e m p e l beseitigt, (II R e g 23,1 ff; vgl. a b e r a u c h Levin, J o s c h i a ) , als sich a u c h s c h o n die b a b y l o n i s c h e G e f a h r a m H i m m e l a b z e i c h n e t e . D e m literarisch s c h w e r zu b e u r t e i l e n d e n - » H a b a k u k b u c h g e m ä ß k ö n n t e d e r g l e i c h n a m i ge K u l t p r o p h e t d a m a l s nicht n u r d e n Finger wie v o r i h m J e s a j a u n d M i c h a auf die sozialen M i ß s t ä n d e gelegt (Jeremias, K u l t p r o p h e t i e 6 1 - 7 5 ) , s o n d e r n a u c h in d e n als C h a l d ä e r b e z e i c h n e t e n N e u b a b y l o n i e r n die S t r a f w e r k z e u g e J a h w e s gegen J e r u s a l e m e r k a n n t h a b e n ( O t t o , W e h e w o r t e ; ders.: T R E 14, 303; vgl. a b e r a u c h Kaiser, E i n l e i t u n g 2 4 4 - 2 4 6 ) . M i t d e r D e p o r t a t i o n des n a c h J o s i a s T o d 609 v . C h r . zur H e r r s c h a f t e r h o b e n e n Königs J o a h a s / S c h a l l u m d u r c h d e n P h a r a o N e c h o II., seiner D e p o r t a t i o n n a c h Ä g y p t e n u n d E r s e t z u n g d u r c h seinen B r u d e r E l j a k i m / J o j a k i m b e g i n n t d a s geschichtlich g r e i f b a r e W i r k e n J e r e m i a s (vgl. J e r 22,10—12.18 f; Levin, A n f ä n g e ; vgl. a b e r a u c h S. H e r r m a n n : T R E 16, 569). N a c h J e r 36 soll er seine d a s schimpfliche E n d e J o j a k i m s u n d die Z e r s t ö r u n g J e r u s a l e m s v o r a u s s a g e n d e n W o r t e im 4. J a h r des Königs (605/04) d e m Schreiber B a r u c h , S o h n d e s N e r i j a , d i k t i e r t h a b e n . M a n geht k a u m fehl, w e n n m a n diese N a c h r i c h t d a h i n g e h e n d a u s w e r t e t , d a ß wir mit d e r A u f z e i c h n u n g u n d B e w a h r u n g seiner W o r t e d u r c h B a r u c h u n d schließlich a u c h weitere Schreiber zu r e c h n e n h a b e n . Suchen w i r die T r ä g e r d e r d e u t e r o n o m i s c h - d e u t e r o n o m i s t i s c h e n Schule mit R e c h t im Kreise p r i m ä r königlicher Schreiber (s. o. S. 310), die n a c h d e r E r o b e r u n g J e r u s a l e m s in M i z p a w i r k t e n (vgl. o. S. 315), w i r d v e r s t ä n d l i c h , w a r u m d a s j e r e m i a n i s c h e E r b e in einer d e u t e r o n o m i s t i schen R a h m u n g u n d A u s g e s t a l t u n g als R e c h e n s c h a f t s a b l e g u n g ü b e r die eigentlichen G r ü n d e d e r K a t a s t r o p h e des j u d ä i s c h e n Reiches auf u n s g e k o m m e n ist ( N i c h o l s o n , P r e a c h i n g ; T h i e l , R e d a k t i o n [ W M A N T 41.52]), die m a n m i t E r n e s t W. N i c h o l s o n als „ P r e a c h i n g t o t h e E x i l e s " bezeichnen k a n n (vgl. a u c h Seitz, T h e o l o g y ) . In einer rélecture h a b e n D e u t e r o n o m i s t e n w ä h r e n d d e r Exilszeit e b e n s o d a s - > A r n o s - (Vermeylen, P r o p h è t e II, 5 1 9 - 5 6 9 ) , - » H o s e a - (J. J e r e m i a s : T R E 15, 593; Lust) u n d d a s - > M i c h a b u c h (Vermeylen, II, 5 7 0 - 6 0 1 ) b e a r b e i t e t u n d auf d a s i n z w i s c h e n e r f ü l l t e Geschick des j u d ä ischen Reiches b e z o g e n . A u c h d a s j e s a j a n i s c h e E r b e ist v e r s t ä n d l i c h e r w e i s e so a k t u a l i s i e r t w o r d e n , d a ß es n i c h t allein deutlich die U r s a c h e n d e r i n z w i s c h e n e i n g e t r e t e n e n K a t a s t r o p h e a u f d e c k t e , s o n d e r n zugleich d e m f r ü h n a c h e x i l i s c h e n J u d e n t u m d e n Weg z u m Vert r a u e n ( G l a u b e n ) w i e s (vgl. Kaiser, L i t e r a r k r i t i k ) . A u c h diese B e a r b e i t u n g ist z w a r n o c h d e u t e r o n o m i s t i s c h beeinflußt, a b e r s c h o n nicht m e h r im eigentlichen Sinne d e u t e r o n o m i stisch (vgl. a u ß e r Kaiser, e b d . , a u c h B r e k e l m a n s ) . 4.1.3. Die Heilsprophetie. D a ß es bereits in vorexilischer Z e i t H e i l s p r o p h e t i e n gegeb e n h a t , unterliegt k e i n e m Z w e i f e l (vgl. z.B. II R e g 14,25; Jes 28). Z u m a l im k u l t i s c h e n R a h m e n g a b es f ü r sie m a n c h e r l e i Bedarf u n d G e l e g e n h e i t , die v o m E r h ö r u n g s o r a k e l als A n t w o r t auf eine Bittklage - a m R e i c h s h e i l i g t u m z u m a l einer Königs- o d e r einer Volksk l a g e - bis z u m p r o p h e t i s c h e n O p f e r b e s c h e i d (S. 319) r e i c h t e n . W i e d e r u m e r l a u b t die G a t t u n g s g e s c h i c h t c einen Einblick in die G e s c h i c h t e d e r P r o p h e t i e u n d d e r exilischen u n d n a c h e x i l i s c h e n B e a r b e i t u n g e n d e r P r o p h e t e n b ü c h e r ( W e s t e r m a n n , H e i l s w o r t e ) . Die G e stalten d e r H e i l s p r o p h e t e n d e r Exilszeit sind h i n t e r d e n n a m e n l o s e n , d e n P r o p h e t c n b ü c h e r n e i n g e f ü g t e n S a m m l u n g e n u n d E i n z e l w e r k e n v e r b o r g e n . Erst m i t d e n z u r Z e i t des W i e d e r a u f b a u s des J c r u s a l e m e r T e m p e l s 520 a u f t r e t e n d e n P r o p h e t e n - > H a g g a i u n d - • S a c h a r j a b e g e g n e n u n s w i e d e r f e s t u m r i s s e n e G e s t a l t e n . W e n d e n w i r u n s d e r exilischen H e i l s p r o p h e t i e z u , ist a n erster Stelle d e r A n o n y m u s zu n e n n e n , d e n m a n d a n k seiner U b e r l i e f e r u n g im J e s a j a b u c h (Jes 4 0 - 5 5 ) d e n Z w e i t e n o d e r - » D e u t e r o j e s a j a zu n e n n e n pflegt. Am Beispiel dieser Sammlung läßt sich der nachprophetische Fortschreibungsprozeß in seiner Vielschichtigkeit gut veranschaulichen: Den Kern bildet dort in Kap. 40 - 4 6 * die den Exilierten geltende Rückkehrbotschaft des Zweiten Jesaja, die in dem Perserkönig Kyros II. das Werkzeug Jahwes zur Befreiung der Gola und zum Wiederaufbau des Tempels sieht. Sie hat eine zionstheologische Bearbeitung und Erweiterung in Jes 40 -52,10* erfahren, die von der Heimkehr Jahwes an der Spitze der Befreiten zum Zion kündet. Weiterhin wurden die Gottesknechtlieder Jes 42,1-4; 49,1-6 und wohl auch schon 52,13-53,12 eingefügt, die den Leidensweg Israels als Mittel seiner göttlichen
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Literaturgeschichte, Biblische I
Sendung deuteten. Gleichzeitig wurde in einer im Bereich von 42,5-55,7* greifbaren Fortschreibung die Nähe des Heils unterstrichen. Eine die Gültigkeit des Jahwewortes betonende weitere zionstheologische Bearbeitung hat dann den Kap. 40-55 im wesentlichen ihre jetzige Gestalt gegeben (van Oorschot; vgl. auch Kiesow). Deckt dieser Wachstumsprozeß die Zeitspanne zwischen der Mitte des 6. und dem Ende des 5. Jh. ab, erstreckt sich die Geschichte der tritojesajanischen Sammlung (—•Tritojesaja/Tritojesajanische Sammlung) vermutlich bis in die spätpersische oder frühhellenistische Zeit (Jes 56-66). Erst damals scheint die redaktionell entstandene Großsammlung Jes 4 0 - 6 6 mit der protojesajanischen unter Einfügung von Jes 35 gebildet worden zu sein (Steck, Heimkehr). Die Naherwartung der Verherrlichung Jahwes vor allen Völkern mittels der Befreiung der Gola und der Heimkehr der Diaspora verlangte nicht nur immer erneut ihre Aktualisierung, sondern zugleich auch ihre Begründung für die Verzögerung ihrer Erfüllung (Carroll, Prophecy).
Auf diesem Hintergrund ist die komplizierte Redaktionsgeschichte der Prophetenbücher zu verstehen, in denen sich die Gerichtserwartung gegen die Zwingherren und N a c h b a r n in Völkersprüchen wie z.B. in der Assurbearbeitung des -»Jesajabuches (vgl. dazu jetzt Clements, Isaiah), die Erwartung eines den Z i o n einbeziehenden Weltgerichts, unter Umständen in Gestalt des von J a h w e vor den Toren Jerusalems zerschlagenen Völkersturms und schließlich die innere Spaltung der Gemeinde in eschatologisch gesinnte F r o m m e und ihre als gottlos betrachteten Gegner in immer neuen Einschüben und Überarbeitungen niederschlugen. Am Ende dieses Prozesses kamen auch noch apokalyptische Z u k u n f t s e r w a r t u n g e n zu Wort, wie sie in den Kreisen eschatologisch gesinnter Leviten beheimatet gewesen zu sein scheinen. Ehe wir abschließend einen paradigmatischen Blick auf die drei großen Prophetenbücher werfen, sei gezeigt, wie auch die Formgeschichte des Heilswortes nachprophetische Fortschreibungen spiegelt (Westermann, Heilsworte). Als Grundgattungen sind die aus dem Heilsorakel für den König erwachsene und nur bei Deuterojesaja begegnende Heilszusage (vgl. z.B. Jes 4 1 , 8 - 1 3 ) , die Heilsankündigung (vgl. z.B. Jes 41,17-20) und die bereits nachprophetische, literarische G a t t u n g der Heilsschilderung anzusehen (vgl. z.B. Jes 2 , 2 - 4 [ 5 ] par Mi 4 , 1 - 5 ; Jes 3 2 , 1 5 - 2 0 ) . Eine besondere Form stellen die mcssianischen oder Königsverheißungen (Westermann) dar (vgl. z.B. Sach 9,9f; Mi 5 , 1 - 3 [5]). Durch ihre Motive und öfter noch ihren zusammengesetzten Charakter geben sie sich in ihrer überlieferten Gestalt als nachprophetische Bildungen zu erkennen (vgl. z.B. Jes 9 , 1 - 6 ; 11,1 - 5 [ 9 ] ; 1 6 , 4 - 5 ; 3 2 , 1 - 5 ; Jer 3 3 , 1 4 - 1 8 ; vgl. 2 3 , 5 - 6 ; ferner Jer 3 3 , 1 9 - 2 2 . 2 3 - 2 6 ) . Ebenso sind die Heilsworte, die von der Befreiung, Sammlung und H e i m f ü h r u n g der Exilierten und Zerstreuten (vgl. z.B. H o s 11,10-11; Mi 2 , 1 2 - 1 3 ; Jer 3 1 , 1 0 - 1 4 und Sach 1 0 , 6 b - 7 ) , von der Wiederherstellung und Segnung des Volkes oder von dem Wiederaufbau Jerusalems und des Tempels reden (vgl. z.B. H o s 2 , 1 - 3 ; Sach 2 , 1 0 - 1 7 ; 8 , 4 - 6 und Am 9,11 — 12), in den auf einen vorexilischen Kern zurückgehenden und weithin auch in den Sammlungen der exilisch-frühnachexilischen Propheten als literarische Fortschreibungen zu beurteilen. Mit derartigen Spuren der relecture ist dem Gesagten g e m ä ß prinzipiell auch in der deutero- und tritojesajanischen Sammlung, im Ezechiel- und im Sacharjabuch zu rechnen. - Die bedingte, Heilswort und M a h n w o r t zusammenschließende Verheißung (vgl. z. B. Am 5,6 f; Jes 1 , 1 9 - 2 0 ; 5 5 , 6 - 7 ) gehört in den Prozeß der literarischen Umgestaltung der Prophetie zur Paränese (vgl. z.B. Jes 5 8 , 1 - 2 ; Ez 18 und 33 [vgl. S. 320]). Dem sei hinzugefügt, d a ß auch die eigentümlichen, teils allegorisierenden, teils kompendienhaft auf deuteronomistisches und priesterliches Gedankengut zurückgreifenden Untergangspredigten des Ezechielbuches (vgl. z.B. Ez 16; 23 bzw. 20; 22) als nachprophetische literarische Bildungen zu betrachten sind (vgl. auch Garscha; Pohlm a n n , Ezechielstudien). In den literarischen Ausgestaltungsprozeß gehören auch die zweiseitigen Heilsworte, die entweder den Völkern Unheil und Israel Heil (vgl. z.B. Jes 14,24-27; Joel 4 , 1 8 - 2 1 ) oder aber, die Spannungen innerhalb des Judentums spiegelnd, den F r o m m e n Heil und den Gottlosen das Gericht weissagen (vgl. z.B. Jes 1,27f; 3,10f; 33,14f und 63,1 - 1 6 a ) . Bei den letztgenannten Worten ist der Einfluß der -»Weisheit (vgl. S. 327 ff) mit ihrer traditionellen Entgegensetzung des Gerechten/Frommen mit dem Frevler/Gottlosen offensichtlich (vgl. z.B. Prov 12,7).
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Was oben am Beispiel der deuterojesajanischen Großsammlung vorgeführt wurde, läßt sich auf die tritojesajanische (Jes 56-66) sowie die deutero- und tritosacharjanischen Sammlungen (Sach 9—11 bzw. 12-14) ausdehnen: Sie verdanken ihre Entstehung einer Kette von Fortschreibungen, die immer neue Aspekte der Situation des Judentums und der Völkerwelt in die prophetische Botschaft integrierten. Dieser Prozeß läßt sich, wenn auch in unterschiedlicher Weise, bei allen Prophetenbüchern beobachten, selbst bei dem kleinsten, dem -»Obadjabuch (Weimar, Obadja) und den beiden jüngsten, dem -•Joel- (Wolff, BK.AT XIV/2) und dem -»Maleachibuch (Renker).
In den exilisch-nachexilischen Fortschreibungs- und Ausgestaltungsprozeß der Prophetenbücher gehört auch der Ausbau oder überhaupt erst die A u f n a h m e von Fremdvölkersprüchen (Höffken). Das durch deuteronomistische und nachdeuteronomistische H ä n d e erweiterte Völkergedicht des Arnos in Am 1 , 3 - 2 , 1 6 zeigt, d a ß es sich bei dem Fremdvölkerspruch um eine genuine prophetische G a t t u n g handelt. Es ist grundsätzlich einsichtig, d a ß sich die Propheten der Königszeit auch mit dem Schicksal der Nachbarvölker und schließlich der Israel und Juda bedrohenden G r o ß m ä c h t e der Assyrer, Ägypter und Babylonier befaßten. Sie könnten ihre gegen die Völker gerichteten Worte z.B. anläßlich eines bevorstehenden Krieges oder einer erlittenen Niederlage im Heiligtum verkündet haben. Bei den uns überlieferten Fremdvölkersprüchen läßt sich wie bei den anderen prophetischen Gattungen der Übergang von knappen und formal in sich geschlossenen Texten, wie wir sie bei Arnos beobachten können, zu längeren und formal uneinheitlichen Gedichten verfolgen, die wiederum auf eine nachprophetische, literarische Entstehung verweisen. Solche finden sich zumal in den Zyklen von Fremdvölkerworten in Jes 13—23, Jer46—51 und Ez 25 - 3 2 + 35. Auch hier stand den Bearbeitern eine farbige Palette zur Verfügung, um den Feinden das Ende und damit zugleich (in der Regel unausgesprochen) dem eigenen Volk die Befreiung anzukündigen: Sie konnten auf die Totenklage (vgl. z.B. Jes 14,4b—21; Ez 27) oder das Spottlied (vgl. Jes 47) selbst in der Gestalt eines solchen auf eine alternde H u r e (vgl. Jes 23,15 - 1 6 ) zurückgreifen. Aufforderungen zur Flucht und zum Kampf (vgl. z.B. Jer 4 8 , 6 - 8 ; 49,30 bzw. Jer 4 6 , 3 - 6 ; Jes 1 3 , 2 - 4 ; Joel 4 , 9 - 1 2 [Bach]), Beschreibungen der Verwüstungen (Jes 13,19-22; 16,8), Aufforderungen zur Klage (Jes 23,1), Beschreibungen der Flucht und der Klage (Jes 15,1-9), mythische Anspielungen (Ez 28,2.12 ff; 29,3) und selbst Untcrwcltsschildcrungcn (Jes 14,9-16; Ez 32, 1 7 - 3 2 ) geben diesen Gedichten ihre Farbe. Dabei fällt den Auslegern die Entscheidung oft schwer, ob die Fremdvölkersprüche eine bevorstehende Katastrophe ankündigen oder eine bereits eingetretene besingen. Angesichts der Poly valenz ihrer oft geradezu impressionistisch wirkenden Texte, der strukturellen Gleichheit historischer Situationen und unserer noch immer relativ lückenhaften Kenntnis der Geschichte z. B. von - » M o a b und -»Edom bleibt ihre zeitliche Einordnung vielfach ungewiß. Doch vermag die formgeschichtlichc Untersuchung in solchen Fällen wenigstens ihre relative Datierung zu ermöglichen und ihren nachprophetischen, literarischen Charakter zu erweisen.
4.2. Das Prophetenbuch als eschatologische Schrift. N a c h dem bisher Ausgeführten bedarf es kaum noch der Hervorhebung, d a ß es sich bei den Prophetenbüchern um etwas anderes als von ihren N a m e n - und Autoritätsgebern verfaßte Schriften handelt. Die genuin prophetischen Traditionselemente, die auf primäre oder sekundäre Verschriftung zurückgehen, sind in allen Fällen erweitert w o r d e n . Dabei kann man davon ausgehen, d a ß die Bearbeitungsschichten eines Buches um so zahlreicher sind, je größer seine Bedeutung für das J u d e n t u m im Ganzen oder seine regionalen G r u p p e n gewesen ist. Da der Zion den Mittelpunkt des ganzen J u d e n t u m s bildete und das Jesajabuch von seinen Anfängen her in besonderer Weise mit dem Schicksal Jerusalems befaßt w a r , ist es verständlich, d a ß es mit seinem Zeugnis von der Bedrohung, dem Untergang und seiner Botschaft von der Wiederherstellung des Zion und der H e i m k e h r der Verbannten und Zerstreuten das vielschichtigste und umfangreichste geworden ist. Neben es treten das -»•Jeremia- und das -•Ezechielbuch als die großen prophetischen Ätiologien f ü r das Exilsgeschick und zugleich als Zeugen der H o f f n u n g auf die Wiederherstellung ganz Israels einschließlich Jerusalems. Schon ihr A u f b a u gibt zu erkennen, d a ß sie über das
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Exil als die Zeit der erfüllten Gerichtsworte auf die Wiederherstellung Jerusalems und Israels wie die Verherrlichung Jahwes vor und an den Völkern hinausblicken. Ist die Komposition des Jesajabuches dank seiner sich vielfältig überschneidenden redaktionellen Konzepte besonders verwickelt (-»Jesaja/Jesajabuch), so bezeugt es doch deutlich die Erwartung, daß dem Gericht an Israel, Jerusalem und Juda ein die Völker und den Zion umfassendes Weltgericht folgen wird, in dessen Verlauf der Zion gerettet und den Verbannten und Zerstreuten die Heimkehr ermöglicht wird. Apokalyptische Zusätze deuten das erwartete Weltgericht als die Stunde des Antritts der Königsherrschaft Jahwes über alle irdischen und kosmischen Mächte (vgl. Jes 24,21-23) und der Vernichtung des Todes (vgl. Jes 25,8 a). - Das -+Jeremiabuch ist stärker auf die Zerstörung Jerusalems und die Exilierung hin konzentriert. Seine Fremdvölkersprüche betrachten die Niederwerfung der Nachbarvölker und zumal Babels als die Ermöglichung der Wiederherstellung Israels und der Befreiung der Verbannten. Das -»Ezechielbuch besitzt dank seines primär literarischen Charakters (Kaiser, Einleitung 259 -268) den klarsten Aufbau. Es handelt in den Kap. 4 - 2 4 vom Gericht an Jerusalem und Juda, in den Kap. 25 - 3 2 + 35 von dem gegen die Nachbarreiche - gegen Babel gerichtete Worte fehlen dem in der Gola entstandenen Buch bezeichnenderweise - , in den Kap. 34 + 37 (39) von der Wiederherstellung Israels und schließlich folgt in den Kap. 4 0 - 4 8 der sog. Verfassungsentwurf mit der Beschreibung eines Neuen Tempels und heiligen Landes. Dabei dienen die Gerichte an Jerusalem und Juda wie die an den Völkern und schließlich auch die Heimführung des unter ihnen wohnenden Gottesvolkes der Erkenntnis Jahwes in aller Welt. - Bei dem Großjesajabuch handelt es sich in seiner Anfangs- und seiner um die dcutero-tritojesajanische Sammlung erweiterten Endgestalt um eine Jerusalemer Schöpfung. Das Jeremiabuch hat seine grundlegende und seine abschließende Gestalt im Mutterland erfahren, ist aber zwischendurch in Kreisen der Gola fortgeschrieben worden (Pohlmann, Jeremiabuch 183-191; Ferne Gottes 98-100). Das Ezechielbuch hat zumindest seine entscheidende Bildungsphasc in der Gola durchlaufen, die es als das eigentliche Israel betrachtet. Den a m Beispiel der drei g r o ß e n P r o p h e t e n b ü c h e r skizzierten eschatologischen C h a r a k t e r k ö n nen wir auf die kleinen (mit A u s n a h m e des J o n a b u c h e s , s. S. 317f) a u s d e h n e n . Auch sie sind in je spezifischer Weise D e u t u n g e n des Exilsgeschickes des Gottesvolkes, dessen Weg d u r c h Gericht z u m Heil f ü h r t . Diese G e s c h i c h t s k o n z e p t i o n h a t in ihnen wie im J c s a j a b u c h im sog. zweigliedrigen eschatologischen Schema (Fohrer) seinen Niederschlag g e f u n d e n . Es besteht d a r i n , d a ß einzelnen o d e r einer G r u p p e von G e r i c h t s w o r t e n ein H e i l s w o r t angeschlossen ist. Vermutlich h ä n g t diese S t r u k t u r i e r u n g mit der abschnittsweisen Verlesung der P r o p h e t c n b ü c h e r z u s a m m e n , wie sie im synagogalen G o t t e s d i e n s t als die sog. H a f t a r a ( „ A b s c h l u ß " ) die Schriftlesungen beendet, ein Brauch, der älter als die jüngsten Bearbeitungen der P r o p h e t e n b ü c h e r sein m u ß (Elbogen, Gottesdienst 1 7 4 - 1 7 6 ) . So k ö n n e n wir rückblickend die P r o p h e t e n b ü c h e r insgesamt als D e u t u n g e n des Exilsgeschicks Israels bezeichnen.
4.3. Die Propbetenbücher im Kanon. Das Lob der Väter Ben Siras ist die älteste äußere Bezeugung für die Existenz des Prophetenkanons (vgl. Sir 48,22-49,10). Daß die Prophetenbücher ihren Platz hinter der Tora und den Früheren oder Vorderen als die Späteren oder Hinteren Propheten gefunden haben, ist sachlich verständlich: Einerseits mußte ihnen ihre erfüllte Gerichtsbotschaft ihre Dignität als Jahwewort (vgl. Dtn 18,22) und zugleich als konkrete Interpretation der Fluchandrohungen des Deuteronomiums (vgl. S.315) und des -»Heiligkeitsgesetzes (vgl. Lev 26) sichern; dazu mußte auch beitragen, daß die die prophetische Gerichtsbotschaft begründenden Anklagen wegen Verletzung des Alleinverehrungsanspruches Jahwes und des Bruches der sozialen Solidarität in der Tora ihre Parallelen besaßen. Zudem hatten deuteronomistische und nachdeuteronomistische Bearbeiter diese Beziehungen ausdrücklich hergestellt, indem sie die prophetischen Gerichtsankündigungen ausdrücklich mit der Verwerfung der Tora begründet hatten (vgl. Jes 5,24b; 30,9; 42,21; Jer 6,10; 8,8; 9,12; 16,11; 44,23; Am 2,4-5). Ebenso ließen sie keinen Zweifel daran bestehen, daß es ohne den Gehorsam gegenüber der Tora kein Heil für das Gottesvolk gibt. So ließen sich denn auch die Heilsworte der Propheten-
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bücher als konkrete Auslegungen der Segensverheißungen der Tora verstehen. Angesichts des ausbleibenden vollkommenen Gehorsams richtete sich daher die Hoffnung darauf, daß ihn Jahwe Israel selbst ins Herz schreiben bzw. sein Herz verwandeln werde (Jer 3 1 , 3 1 - 3 4 [Levin, Verheißung]; Ez 11,19f; 36,26f). Nach der erwarteten Weltenwende aber würden auch die Völker zum Zion pilgern, um dort Jahwes Weisung zu empfangen, so daß ewiger Friede auf Erden herrscht (Jes 2 , 2 - 4 [5] par Mi 4,1 - 5 ) . Dabei konnte man in den gesetzestreucn Proselyten bereits den Beginn der Erfüllung der Völkerverheißung erkennen (Jes 5 6 , 6 - 7 ) . Schließlich unterstreicht das aus frühhellenistischer Zeit stammende Nachwort zum Maleachibuch und damit zum ganzen corpus propheticum Mal 3 , 2 2 - 2 4 noch einmal die Bedeutung der Tora, indem es zum Gedenken an sie ermahnt und die Wiederkehr Elias als des wirkmächtigen Umkehrpredigers vor dem großen und schrecklichen Tag Jahwes verheißt. 4.4. Das Danielbuch als Zeuge der Apokalyptik. Wenn das Danielbuch als einzige der apokalyptischen Schriften des Judentums in die Sammlung Heiliger Schriften Eingang gefunden hat, verdankt es dies seiner Eigenart, daß es sich von ihnen allen am wenigsten in kosmologischen und jenseitigen Spekulationen ergeht, sondern neben seiner auf das Ende der Geschichte hinausblickenden Weltzeitalterlchre eine konsequente Torafrömmigkeit vertritt. Seine Endgestalt hat es erst in den Jahren der makkabäischen Erhebung 1 6 7 - 1 6 4 v.Chr. (-»Geschichte Israels 6.2) erhalten. D o c h gemäß dem in den Danielerzählungen in den Kap. 1 - 6 vorausgesetzten prinzipiell positiven Verhältnis zwischen den Juden und ihren hellenistischen O b e r h e r r e n ist mit einer noch aus der Ptolemäerzcit stammenden literarischen G r u n d l a g e dieser und möglicherweise auch des 7 . Kapitels zu rechnen (Collins 43 - 4 6 ; Weimar, Daniel 7). Die Lehre von den vier Weltreichen ist erstmals bei H c s i o d , O p . 1 0 9 f f bezeugt. Da das neubabylonische R e i c h in Dan 2 entgegen der judäischen Geschichtserfahrung als das goldene gilt, dürfte eine aus Babylonien s t a m m e n d e antihellcnistische Ausgestaltung des Schemas im Hintergrund stehen (Collins 4 0 - 4 3 ) . D a m i t findet die oben S. 3 1 8 ausgesprochene Vermutung, d a ß dem Danielbuch eine in der östlichen Diaspora entstandene Tradition zugrunde liegt, eine weitere Bestätigung.
Gelehrte Beschäftigung mit der kanaanäischen Mythologie (vgl. Kap. 7), mit antiker astraler Geographie (vgl. 8 , 2 - 8 ; Hcngel 3 3 6 - 3 3 7 ) , mit der Engellchre der Apokalyptiker (vgl. äthHen 20) und selbst mit einer hinter den vaticinia ex eventu in Dan 11,1—30 stehenden hellenistischen Geschichtsqucllc (Hcngel 336 Anm.492) sind von dem brennend auf das Ende der Fremdherrschaft wartenden eschatologisch gesinnten Lehrer (Dan 11,33; 12,3) in den Dienst seiner Botschaft gestellt: Nach ihr steht die Vernichtung Antiochos IV. und damit der Anbruch der ewigen Herrschaft der Heiligen des Höchsten, der Engel, und des Volkes der Heiligen des Höchsten, Israels (Dan 7,18.27), ebenso unmittelbar bevor wie die Auferstehung der Toten und das mit ihr verbundene Totengericht (Dan 12,1-3). 5. Die Lied- und
Psalmendichtung
5.1. Die Lieddichtung. Aus den im Alten Testament enthaltenen Zitaten und Hinweisen läßt sich unschwer entnehmen, daß es in Israel nicht anders als bei seinen Nachbarvölkern eine blühende Volks- und Kunstlieddichtung gegeben hat: Lieder und Gesänge, zu denen gegebenenfalls Saiten-, Blas- und Schlaginstrumente ertönten (Rüger: BRL 2 , 2 3 4 - 2 3 6 ) , begleiteten das ganze Leben. So erklang bei der Arbeit das Arbeitslied (vgl. Jdc 5,11; Neh 4,4 und als Beispiel das Brunnenlied, Num 21,17f). In der fröhlichen Zeit der Weinlese durchzogen Jungfrauen tanzend und gewiß auch singend die Weingärten (Jdc 21,21; Jes 16,10). Kampf und Krieg wurden von Liedern begleitet, welche den Mut der Angreifer stärken und den der Feinde zerstören sollten (vgl. das als Prahllied einzustufende Lamechlied Gen 4,23 [Westermann, BK.AT 1/1, 457] und das den Fremdvölkersprüchen verwandte Spottlied auf Hesbon, Num 21, 2 7 - 3 0 [H.-Chr. Schmitt, Hesbonlied]). Den Siegern zogen die Frauen im Siegestanzlied entgegen (vgl. Ex 15,21; I Sam 18,7 f; Crüsemann, Studien 206 - 2 0 8 ) . Vom Kampf und Sieg wie dem Schicksal der Feinde berich-
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tete das Heldenlied (vgl. den Grundbestand des Deboraliedes J d c 5 , 6 - 8 . 1 4 - 2 2 . 2 4 - 3 0 [Soggin, Bemerkungen] und das Z i t a t J o s 1 0 , 1 2 f [Kang 156]). Beim Gelage erklang das Trinklied (Jes 5 , 1 1 f; 2 2 , 1 3 b), und gewiß fehlte das Liebeslied nicht, für das wir in der vermutlich erst in hellenistischer Zeit veranstalteten Sammlung des H o h e n Liedes so schöne Beispiele besitzen. Und schließlich ertönte an der Bahre der Toten die Qiná, die Totenklage oder das Leichenlied (Jer 2 2 , 1 8 ; J a h n o w ) . F ü r sie sind uns zwei eindrucksvolle Beispiele in Gestalt der Klagen Davids über Saul und J o n a t h a n (II Sam 1 , 1 9 — 2 7 ) und über Abner (II Sam 3 , 3 2 f) erhalten. Wir können zwar aus der Psalmenüberlieferung und schließlich einer Nachricht in den Annalen des assyrischen Großkönigs Sanherib über den ihm von König Hiskia von Juda 701 geleisteten Tribut, zu dem auch Sänger und Sängerinnen gehörten (TGI\ 69; T U A T 1/4, 390), erschließen, daß die Sangeskunst am judäischen Hof und seinem Tempel eine besondere Pflegestätte besaß, aber den der alttestamentlichen Traditionsbildung zugrundeliegenden religiösen Auswahlkriterien gemäß ist das profane Liedgut in keinem seiner einstigen Lebensbedeutung entsprechenden Umfang überliefert worden. Auch das kultische Liedgut der vorexilischen Zeit ist nur in einer zudem zumeist überarbeiteten Auswahl erhalten. Immerhin wissen wir aus Quellenangaben, die mindestens teilweise erst von exilischen Verfassern stammen, daß es in vorexilischer Zeit Liedsammlungen gegeben hat. So wird II Sam 1,18 als Ursprungsort für Davids Klage über Saul und Jonathan ein „Buch des Wackeren" (seper hajjasar) und in Num 21,14 als solcher für ein als Grenzbeschreibung benutztes Zitat ein „Buch der Kriege Jahwes" (seper milhamöt) genannt. Bei dem ersten dürfte es sich um eine Sammlung von Heldenliedern, bei dem zweiten um eine solche von sakralen Kriegsliedern gehandelt haben. Schließlich benennt L X X III Reg 8,53 a ein „Buch der Lieder" als Quelle für den sog. Tempelweihspruch Salomos. Liegt der Übersetzung der L X X kein Schreibfehler der Vorlage zugrunde (Verwechselung von jsr mit s/V), besitzen wir hier einen Hinweis auf eine alte Sammlung von Kultsprüchen und möglicherweise auch Kultliedern. 5 . 2 . Die Psalmendichtung. Die alttestamentliche Psalmendichtung ist uns vor allem im Psalmenbuch ( - » P s a l m e n / P s a l m e n b u c h ) erhalten, das wir als Erbauungsbuch der eschatologisch gesinnten F r o m m e n der Spätzeit des Z w e i t e n Tempels (Füglister; M. S. Smith) bezeichnen können. Angeregt durch die kultische Lieddichtung der Nachbarvölker ( T U A T I I / 5 - 6 ) , besitzt sie ihre Wurzeln im Gottesdienst der vorexilischen Zeit und besonders in dem des Jerusalemer Tempels. Bei der gattungs- und kultgeschichtlichen R e k o n s t r u k t i o n wie bei der Psalmenauslegung ist jedoch zu berücksichtigen, daß im Psalter überlieferte vorexilische Lieder später unter U m s t ä n d e n selbst mehrfach bearbeitet w o r d e n sein können, und darüber hinaus, daß es schon seit der späten Königszeit eine nachkultische Psalmendichtung gegeben haben dürfte (Stolz). T r o t z d e m können wir sagen, daß die Psalmen die G r u n d v o r g ä n g e des kultischen Gottesdienstes in sprachlicher Konstanz spiegeln (Stolz 12). D a h e r sind die Psalmen religions- und kultgeschichtliche D o k u m e n t e von k a u m zu überschätzendem Wert. Z u d e m sind sie bis heute für das Judenwie das Christentum eine unerschöpfliche Quelle des Gebets und der Frömmigkeit. 5.2.1. Die Grundgattungen der Psalmendichtung. Das mit dem täglichen Opfer verbundene Gotteslob (vgl. Sir 5 0 , 1 1 - 1 9 ) besitzt die beiden Formen des imperativischen und des partizipialen Hymnus. Der imperativische besingt Jahwe als den Herrn der Geschichte, der Israel vor seinen Feinden beschützt, es vor ihnen errettet und ihm den Sieg verleiht (vgl. z. B. Ex 15,21; Ps 100,1 ff; Jes 42,10ff). Der partizipiale preist ihn als den Schöpfer der Welt und Wahrer der Gerechtigkeit, der Israel heilvolles Leben ermöglicht (vgl. z.B. Ps 104; 145; 146; Jes 40,21 ff; Am 4,13 + 5 , 8 - 9 + 9,5f). Beide Formen sind später miteinander verbunden worden (vgl. z. B. Ps 33; 113 und 136; Crüsemann, Studien 8 0 - 8 2 [vgl. auch Aejmelaeus 78 f]. 1 5 2 - 1 5 4 ) . In der Situation des Heilsentzuges ertönte die Klage mit ihrer Bitte um die Wiederherstellung heilvollen Lebens. War sie erhört, erklang das Danklied. Beide Grundgattungen sind in individueller und kollektiver Ausprägung überliefert. Dabei stellen die Klagelieder des einzelnen mit rund 40 Belegen die größte im Psalter vertretene Gattung dar (vgl. z.B. Ps 3; 5; 6; 7; 22; 28; 51; 69 und 130). Die Zurückführung des Unheils auf den göttlichen Zorn oder die Sünde des Beters scheint den älteren Belegen zu fehlen. In ihnen erscheint lediglich die Feindklage. Auch in den jüngeren Texten begegnen derartige Begründungen für das Leid eher spärlich (Ballentine, God 4 9 - 6 5 ; Spieckermann, Heilsgegenwart 2 4 6 - 2 4 8 ) . Der mehrfach in den Liedern auftretende Stimmungsumschwung des Beters in Gestalt des unvermittelten Überganges von der Klage zum Danklied dürfte als Folge teils eines dazwischen gehörenden kultischen Erhörungs-
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Orakels, teils späterer Bearbeitung anzusehen sein. Aus dem neben der Anrufung Gottes, der Klage und der Bitte für die Gattung charakteristischen Vertrauensmotiv hat sich im Laufe der Zeit das Vertrauenslied entwickelt (vgl. z. B. Ps 16 und 23). Die Klagelieder des einzelnen dienten ursprünglich als Rituale für eine teils am Heiligtum, teils außerhalb desselben abgehaltenen Bittzeremonie (Gerstenberger, Der bittende Mensch 134.160). Ob zumindest ein Teil der allein die Feinde als Verursacher des Leides namhaft machenden Lieder primär Königsgebete gewesen sind (Birkeland, Feinde; Eaton, Kingship), ist umstritten. Als Untergattung verdient der Krankengebetspsalm Erwähnung (vgl. z.B. Ps 38; 39 und 88; Seybold, Gebet). Von diesen gehört Ps 39 bereits der nachkultischen Psalmendichtung an (Stolz 3 9 - 4 2 ) . - Das anläßlich der Darbringung des Gelübdeopfers (vgl. z. B. Ps 56,13; Kaiser: T h W A T 5, 2 6 4 - 2 6 6 ) im Heiligtum gesprochene Danklied des einzelnen ist mit rund zwanzig biblischen Beispielen belegt (vgl. z. B. Ps 18; 32; 41; 66; 118; Jes 3 8 , 1 0 - 2 0 ; Jon 2 , 5 - 1 0 und Sir 51). Einen Einblick in seine Kasuistik gewährt der 107. Psalm (Beyerlin, Werden). Mittels des Dankliedes vollzog sich die Wiedereingliederung des Beters in die heilvolle Lebensgemeinschaft mit Jahwe und Israel. Lediglich durch ihre Beziehung auf den König werden eine Reihe von Individualpsalmen als Königslieder in einer Gruppe zusammengefaßt. Von ihnen sind Ps 2; 101 und 110 als Inthronisationslieder, Ps 20; 21 und 72 als Fürbitten für den König, Ps 144,1 - 7 * als Klage- und Ps 18 als Danklied des Königs anzusprechen. Auch sie sind in exilisch-nachexilischer Zeit bearbeitet worden (Loretz, Königspsalmen). Bei Ps 89 und 132 handelt es sich bereits um nachkultische Dichtungen aus spätexilischer Zeit, wobei in Ps 89 ein älterer Hymnus verarbeitet ist (Veijola, Verheißung 113.116.72-75). In allen Notzeiten erklang in einer öffentlichen Bittfeier das Klagelied des Volkes (vgl. z. B. Ps 60; 74; 79; 80; 83; 90 und Thren 5). O b ihm ein Danklied des Volkes korrespondierte oder an seiner Statt lediglich das während der Notzeit unterbrochene Gotteslob wiederaufgenommen wurde, bleibt problematisch, da die Gattung bestenfalls durch die beiden späten Ps 124 und 129 belegt ist (Westermann, Lob 61; vgl. ders., Psalmen 46, und vor allem Crüsemann, Studien 208 f). 5.2.2. Die nachkultische und späte Psalmendichtung. Die nachkultische und späte Psalmendichtung wird deutlich durch eine ganze Reihe von Psalmcngruppcn repräsentiert, die teilweise Lieder unterschiedlicher Gattungen umfassen. Dabei ist bei den Wallfahrtsliedern Ps 1 2 0 - 1 3 0 * (Seybold, Wallfahrtspsalmen), den Zionsliedern der Korachiten, Ps 4 2 - 4 3 ; 46; 48; 84 und 87 (Wanke), den Einzugsliturgien Ps 15 und 24 (vgl. auch Loretz, Ugarit-Texte 2 4 9 - 2 7 4 ) und nicht zuletzt bei den Liedern vom Königtum Jahwes Ps 2 4 , 7 - 1 0 ; 29; 47; 93; 9 5 - 9 9 (Kloos; Jeremias, Königtum; Loretz a.a.O.) die Verbindung zum Kult und in vielen Fällen auch die Abhängigkeit von älteren Kultliedern deutlich. So erlaubt eine behutsame Abhebung der Bearbeitungszusätze in den Ps 24; 29; 47 und 93 einen gewissen Einblick in Mythen und Riten des vorexilischen Neujahrsfestes, an dem auch in Jerusalem die Thronbesteigung Jahwes als des Siegers über das Meer begangen worden ist. - G a n z offensichtlich ist der nachkultische Charakter bei den alphabetischen und alphabetisierenden Kunstdichtungen, die ebenso an das Auge wie an das Ohr appellieren: Außer den Rollendichtungen der -»Klagelieder/Threni (Kaiser, A T D 1 16/2) seien hier die weisheitlich beeinflußten Ps 9 - 1 0 ; 25; 34; 37 und 119 genannt. Ähnlich verhält es sich mit den Geschichtspsalmen Ps 78; 105 und 106 (Kühlewein), denen auch Neh 9 , 5 - 3 7 und Dan 9 , 4 - 1 9 nahestehen (Reventlow 2 7 5 - 2 8 6 ) . Die persönliche Frömmigkeit des Judentums des ausgehenden persischen und frühhellenistischen Zeitalters spiegeln die syrischen Ps 1 5 1 - 1 5 5 , deren hebräischer Urtext jetzt teilweise durch l l Q P s " bezeugt ist. Auch der Psalm Ben Siras Sir 51 und die 18 Loblieder 1QH (TQu 112-175) sind hier zu nennen. Schließlich bezeugen weisheitliche Lehrdichtungen wie Ps 1; 37; 49; 73 und 119 die Notwendigkeit der Selbstvergewisserung eines angefochtenen Glaubens, die der Kult ihren Betern nicht mehr fraglos gewährte. 6. Die
Weisheitsliteratur
6.1. Weisheit als intellektuelle Geisteskultur. Das hebräische, traditionell mit „Weisheit" übersetzte W o r t häkmä bezeichnet eigentlich jedweden technischen oder intellektuellen Sachverstand (vgl. z . B . E x 31,1 ff; 3 5 , 2 5 ; I C h r 2 2 , 1 5 ; II Sam 14,2). Im Alten Testament dominiert freilich die spezifische Beziehung auf die durch Tradition und Erfahrung gewonnene Einsicht in die Kunst einer erfolgreichen Lebensführung, so d a ß Weisheit und Lebensweisheit als geradezu identische Begriffe erscheinen. D e m entspricht der Befund in den kanonischen und deuterokanonischen oder apokryphen Weisheitsschriften, dem -»Proverbien-, - > H i o b - und - » K o h e l e t b u c h sowie der Weisheit des Jesus Sirach und der Weisheit Salomos ( - » A p o k r y p h e n 1.10.11). Die in ihrem Hintergrund stehende intellektuelle Geisteskultur w a r im Altertum eine internationale Erscheinung, deren Ausbreitung von ihren ältesten uns bekannten mesopotamischen und ägyptischen
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Z e n t r e n in d i e v o r d e r a s i a t i s c h - ä g ä i s c h e W e l t sich seit d e m 3. J t . b e o b a c h t e n l ä ß t . Sie w a r keineswegs auf die Lebensweisheit beschränkt, s o n d e r n schloß Realien- und Sprachk e n n t n i s s e , M a t h e m a t i k , G e o m e t r i e , A s t r o n o m i e u n d n i c h t z u l e t z t a u c h d i e M u s i k ein. S t e h t im A l t e n T e s t a m e n t a u c h d i e L e b e n s w e i s h e i t s e i n e m r e l i g i ö s - p r a k t i s c h e n I n t e r e s s e g e m ä ß im V o r d e r g r u n d , s o g i b t es in i h m d o c h d i r e k t e u n d i n d i r e k t e Z e u g n i s s e z. B. f ü r die m i t d e n R e a l i e n b e s c h ä f t i g t e L i s t e n w i s s e n s c h a f t , vgl. z. B. G e n 10, d i e N a t u r w e i s h e i t , vgl. z . B . I R e g 5,13; G e n 1 u n d H i 3 8 , 1 - 4 1 , 26 (v. R a d ) u n d d i e m a n t i s c h e W e i s h e i t (H.-P. M ü l l e r , Weisheit). - A l s T r ä g e r d e r i n t e l l e k t u e l l e n K u l t u r ist k e i n b e s o n d e r e r S t a n d d e r Weisen a n z u s e t z e n ( W h y b r a y , T r a d i t i o n 54). Es ist v i e l m e h r d a v o n a u s z u g c h e n , d a ß sie i h r e P f l e g e s t ä t t e in d e r s c h r i f t k u n d i g e n , l i t e r a r i s c h u n d w e i t h i n a u c h p ä d a g o g i s c h e n g a g i e r t e n O b e r s c h i c h t b e s e s s e n h a t (S. 309 f). I h r e r e l i g i ö s - e t h i s c h e n G r u n d s ä t z e s t a n d e n k a u m in e i n e m t i e f e r e n G e g e n s a t z zu d e n e n d e r Volks- o d e r S i p p e n w e i s h e i t . T r o t z d e m ist sie als B i l d u n g s - o d e r K u n s t w e i s h e i t v o n d i e s e r a b z u s e t z e n . D a d i e K o n t i n u i t ä t einer S c h r i f t - u n d B i l d u n g s k u l t u r a u f d e m K o n s e n s d e r G e n e r a t i o n e n b e r u h t , spielte d i e s c h u lische B i l d u n g s v e r m i t t l u n g a u c h in Israel d i e ihr g e b ü h r e n d e R o l l e (S. 309). Die ägyptisierende Lehre Prov 22,17-24,22, die Väterlichen Lehren Prov 1 - 9 und die Mütterliche Lehre für König Lemuel Prov 31,1 - 9 geben ihre pädagogische Absicht unmittelbar durch das an den Sohn gerichtete Mahn wort (vgl. z.B. Prov 1,8; 23,26; 31,2 ff) oder den Aufmerksamkeitsruf (vgl. z.B. Prov 4,1; 23,19) zu erkennen. Dasselbe gilt für Kohelet und Ben Sira (vgl. Koh 11,9 bzw. Sir 3,1; 13,11; 32,7). Weisheitliches Denken und weisheitliche Redeformen sind nicht auf das eigentliche sapientielle Schrifttum begrenzt, sondern haben auch die Geschichts- und Erzählwerke, die Prophetenbücher und Psalmen und nicht zuletzt die apokalyptischen Schriften beeinflußt (Morgan, Wisdom; McKane, Prophets; vgl. aber auch Vermeylen, Proto-Isai 39-58). 6.2. Die Formen der weisheitlichen Überlieferung. Das weisheitliche D e n k e n bedient sich als eine v o r w i s s e n s c h a f t l i c h e Weise d e r Welt- u n d E x i s t e n z e r h e l l u n g p r i m ä r d e s E i n z e l s p r u c h s u n d w e i t e r h i n d e r L e h r r e d e , d e r S t r e i t r e d e u n d d e r R e f l e x i o n . In s e i n e m a s p e k t h a f t e n u n d aphoristischen C h a r a k t e r versucht das weisheitliche D e n k e n , die erfahr e n e S p a n n u n g z w i s c h e n O r d n u n g u n d U n o r d n u n g d e r Welt u n d d e s L e b e n s a u f z u h e b e n , i n d e m es m i t s e i n e n S p r ü c h e n auf eine a l l g e m e i n g ü l t i g e E r f a h r u n g v e r w e i s t ( W i l l i a m s 89 f). Am Anfang der wcisheitlichcn Uberlicferungsbildung dürfte das einreihige volkstümliche Sprichwort stehen. Ihm fiel die Aufgabe zu, befremdliche Situationen als grundsätzlich bekannte zu identifizieren, soziale Konflikte zu lösen und damit zur Lebensbewältigung und zum sozialen Frieden beizutragen (Fontaine 170). Durch die Ergänzung zum Bikolon konnte es in den Kunstspruch umgeformt werden (Eißfeldt, Maschal 45f). Als Grundform des Kunstspruchs ist der Aussage- oder Wahrspruch (Sentenz) zu betrachten, der bestimmte Erscheinungen, Verhaltensweisen und ihre Folgen im synthetischen und synonymen Parallelismus identifiziert (vgl. z. B. Prov 21,23; 19,17) oder mittels des antithetischen kontrastiert (vgl. z.B. Prov 10,1; 14,11; Hermisson, Studien 141-160). Der komparative iöfc-Spruch (Zimmerli: Z A W 51, 192f) stellt vergleichend fest, was wertvoller, nützlicher und heilvoller ist (vgl. z.B. Koh 9,4b; Prov 19,1; 15,16). Der Mahnspruch erscheint positiv als Rat (vgl. z.B. Prov 24,17) und negativ als Warnspruch oder Abmahnung (Vetitiv; vgl. z.B. Prov 22,28); beiden ist in der Regel eine Begründung beigefügt (vgl. z.B. Prov 19,20; 25,21; 23,9). Eine Sonderform des Mahnspruchs stellt der Aufmerksamkeitsruf dar (vgl. z.B. Prov 23,19; Richter, Recht 4 1 - 6 7 ) . Mittels der Erweiterung durch eine Begründung können Wahrspruch und M a h n spruch zum Vierzeiler ausgebildet werden (vgl. z.B. Prov 25,9-10). Wird der Rat wie im Fall von Prov 27,23 - 2 7 durch eine Begründung und eine Beschreibung der Folgen zum Zehnzeiler erweitert, geht der Spruch in die Lehrrede über. Doch sei vor ihr noch der mit einem 'asre eingeleitete Glückwunsch oder Makarismos erwähnt, der indirekt eine Handlungs- oder Verhaltensweise als erfolgreich oder von Jahwe gesegnet der Nachahmung empfiehlt (vgl. z. B. Prov 3,13; 29,14; Hi 5,17; Ps 1,1; 119,1 f; Sir 14,1 f; Käser). Die weisheitliche Lehrrede kann mit einer Lehreröffnungsformel (vgl. z.B. Prov 4,1) eingeleitet und mittels einer summarischen Zusammenfassung (sutnmary appraisal, Childs, Isaiah 128-136) abgeschlossen werden (vgl. z.B. Prov 1,19; Hi 8,13; Koh 7,23f; Jes 17,14b). Außer den oben bereits genannten Spruchformen bedient sie sich z.B. der Beschreibung (vgl. Prov 5 , 3 - 6 ; 6,12-15), der Beispielerzählung (vgl. Prov 7,6-23) und des noch gesondert zu besprechenden Zahlenspruchs (vgl. z.B. Prov 6,16-19). Auch die rhetorische (didaktische) Frage (vgl. z.B. Hi 8,11-13) und das Frage-
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329
und Antwortspiel mit Anklängen an das Rätsel (Prov 23, 29-30) können in ihr begegnen (vgl. z.B. die Formanalysen von Murphy, Wisdom Literature 54f.60f). Schließlich sind die Kohelet eigentümlichen Reflexionen zu erwähnen, in denen Beobachtungen mit traditionellem Spruchgut kontrastiert und auf dieser Grundlage Schlüsse gezogen und Räte erteilt werden (Ellermeier 48-93; Whybray, Quotations). Als Sonderfälle sind die Streitreden des Hiobdialogs zu betrachten, weil sich in ihnen weisheitliche, juridische und den Psalmen (Klage und Hymnus) zugehörende Redeformen durchdringen (Westermann, Aufbau; vgl. auch die Formanalysen bei Murphy, Wisdom Literature 23 -36). Wie das didaktische Frage- und Antwortspiel besitzt auch der Zahlenspruch eine gewisse Nähe zum Rätsel (vgl. Jdc 14,12-18; H.-P. Müller, Rätsel). Fordert dieses zu einer Ebenbürtigkeitsprobe heraus, stellt auch jener mit seiner Titelzeile, in der die gemeinsamen Merkmale und die Zahl der sie besitzenden Objekte genannt wird, eine intellektuelle Herausforderung an den Rezipienten dar, die in der folgenden Liste ihre Beantwortung findet. Der Zahlenspruch begegnet als einfacher (vgl. Prov 30,24-28), als einfacher reflektierter (vgl. Prov 30,7-9) und als gestaffelter (vgl. z. B. Prov 30,29-31; 6,16-19; Roth; Rüger, Zahlensprüche). Auch an die Allegorie als geheimnisvoll spielerische Einkleidung eines Sachverhalts (Bultmann 214; vgl. z.B. Ez 17 und 19) und an die Fabel ist in diesem Zusammenhang zu erinnern. Letztere ist uns im Alten Testament nur als Pflanzenfabel überliefert (vgl. Jdc 9,8-15; II Reg 14,9 [Vater Solomon, Fable und Jehoash's Fable; TUAT HI/1,180-188]). Sie diente ebenso der Stabilisierung wie der Infragestellung bestehender sozialer Verhältnisse und Handlungsweisen.
Die weisheitliche Überlieferung hat literarisch vor allem zwei Gattungen hervorgebracht, die Spruchsammlung und die Lehre. Die Spruchsammlung ist durch eine weithin assoziative Aneinanderreihung des Spruchgutes gekennzeichnet. In ihr kann es, wie besonders deutlich in der Hiskianischen Sammlung Prov 25 - 2 9 , zu unter sachlichen Gesichtspunkten erfolgten Gruppenbildungen k o m m e n . Formale und sozialgeschichtliche Kriterien erlauben eine ungefähre zeitliche und gesellschaftliche O r t u n g der Sammlungen. Demgemäß ist die Salomonische Sammlung Prov 10,1 - 2 2 , 1 6 älter als die Hiskianische, die aus dem letzten Drittel des 8. Jh. v. Chr. stammt. Vor der Mitte des 8. Jh. d ü r f t e auch die von der Lehre des Amenemope beeinflußte ägyptisierende Lehre Prov 22,17 - 2 3 , 22 und vermutlich auch die kleine, „Worte von Weisen" genannte Sammlung Prov 2 4 , 2 3 - 3 4 entstanden sein (vgl. auch Römheld 184). Die Väterlichen Lehren Prov 1 - 9 scheinen in ihrer vorliegenden Gestalt erst dem frühen 3. Jh. v. Chr. anzugehören. Relativ spät sind auch Worte des Agur Prov 30, die in V. 1 5 - 3 3 aus Zahlensprüchen bestehen (vgl. Plöger, BK.AT 17 z. St.), und die Mütterliche Lehre für Lemuel, den König von Massa, Prov 3 1 , 1 - 9 zu datieren. Beide weisen durch ihren Verfasser bzw. Adressaten auf nordarabische Entstehung hin. An die Mütterliche Lehre ist nachträglich ein alphabetisches Lob der tüchtigen Frau angeschlossen (V. 1 0 - 3 1 ) . Das - + H i o b b u c h stammt unbeschadet einer vermutlich längeren Vorgeschichte in seiner überlieferten Gestalt aus dem 5 . - 3 . Jh., das -»Koheletbuch aus dem 3., das als Lehre zu bezeichnende Sirachbuch aus dem 1. Viertel des 2. und die als Protreptikos, als Werbeschrift anzusprechende Weisheit Salomos (A. Schmitt, Weisheit 7 f) aus der Zeit um die Wende vom 2. zum 1.Jh. v . C h r . Dabei spiegeln die Väterlichen Lehren mit ihrer Personifikation der Weisheit (vgl. Prov 1,20-33; 8,1-9,18; Lang, Frau; Sandelin 1 9 - 2 6 ) , Kohelet mit seinem Partizipieren am Schicksalsglauben (Kaiser, Determination) und Ben Sira mit seiner Kenntnis griechisch-hellenistischer Literatur unübersehbar den Einfluß des Hellenismus wider (Middendorp, Stellung; Kaiser, Mensch 135—153). So wie es Ben Sira letztlich d a r u m ging, der durch die hellenistische Kultur angefochtenen Jugend ihre jüdische Identität zu erhalten (Hengel 2 5 2 - 2 7 5 ) , ging es auch dem in Alexandrien lebenden Verfasser der Weisheit Salomos bei all seinen Anleihen aus der hellenistischen Literatur und Philosophie d a r u m , dem Diaspora-Judentum seine Selbstgewißheit zu bewahren (A. Schmitt, Weisheit 8 - 1 5 ) . Abschließend sei d a r a u f h i n g e w i e s e n , d a ß dem alttestamentlichen Traditionsprozeß entsprechend auch bei den Weisheitsschriften mit redaktionellen Zusätzen und Veränderungen zu rechnen ist. Als Beispiel d a f ü r seien die Elihureden des Hiobbuches Hi 3 2 - 3 7 genannt. 6.3. Welt und Theologie der Weisheitsschriften. Die Lebenswelt der alttestamentlichen Weisheitsbücher besitzt in der Familie und Sippe ihren Mittelpunkt. Ihre M e t a p h o -
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Literaturgeschichte, Biblische I
rik ist dem Ackerbau und der Viehzucht, dem Handwerk und Handel sowie dem Leben der Natur und der Jagd entnommen. Dabei verweist oft schon die Exotik der gewählten Vergleiche und Bilder auf den Sitz im Leben der Spruchdichtung in einer gehobenen städtischen Oberschicht. Sprüche vom Reden und Schweigen (Bühlmann), vom Gerechten und vom Frevler, vom Weisen und vom Toren bezeugen das Idealbild des Weisen als des selbstbeherrschten und gemeinschaftsverbundenen Menschen, der sich auf dem Weg des Lebens befindet. Königssprüche verweisen auf das Leben in einer Monarchie oder auch unmittelbar in der Nähe des Hofes. Jahwesprüche erinnern nachhaltig an den, der die Entscheidung über Erfolg und Mißerfolg, Leben und Tod des Menschen fällt (Hermisson, Studien 6 4 - 7 6 ) . Dem entspricht die Maxime, daß die Furcht Jahwes der Anfang der Weisheit ist (vgl. z.B. Prov 1,7; 9,10; Ps 111,10; Sir 1,14; ferner Prov 15,33; 23,17; Hi 28,28 und Koh 5,6; J . Becker). Religions- und sozialgeschichtlich läßt sich beobachten, daß die bis in die mittlere Königszeit bestehende Deckung zwischen weisheitlicher Lehre, sozialer Wirklichkeit und ihrer religiösen Sanktion (vgl. z.B. Prov 22,22f; Römheld 184), sich in der 2. Hälfte des 8. Jh. aufzulösen beginnt, so daß eine Verinnerlichung der Normen einsetzt (vgl. z.B. Prov 28,6). Vermutlich unter dem Einfluß der deuteronomisch-deuteronomistischen Theologie kam es in der exilisch-nachexilischen Zeit zu einer fortschreitenden Theologisierung der Weisheit und zugleich einer Dogmatisierung des Vergeltungsgedankens (vgl. z.B. Ps 37). Die in der Hiobdichtung erfolgte Bestreitung der Durchschaubarkeit des Gotteshandelns am Menschen (vgl. Hi 21) konnte an den göttlichen Vorbehalt der älteren Weisheit anknüpfen (vgl. z. B. Prov 16,9.33; Gese, Lehre). Sie fand bei Kohelet im 3. Jh. v.Chr. ihre Wiederaufnahme und ihren Endpunkt (vgl. z.B. Koh 7,15; 3 , 1 0 - 1 5 ) . Seiner Relativierung des Nutzens der Weisheit (vgl. z.B. Koh 2,14; 7,23 f) steht ihre ungebrochene Empfehlung in den Väterlichen Lehren Prov 1—9gegenübcr (vgl. Prov 3,13—26). Gleichzeitig garantiert die personifizierte himmlische Frau Weisheit die göttliche Ordnung der Welt samt ihrer Entsprechung zwischen menschlichem Tun und göttlicher Schicksalslenkung (vgl. z.B. Prov 8,22-31). Ben Sira dachte auf dieser Grundlage weiter und löste das Theodizeeproblem noch einmal immanent mittels der Deutung des Todes als Akt des göttlichen Richtens (Sir 11,20-28). Vor allem aber vollzog er die Dtn 4,6 angebahnte Gleichsetzung der Tora mit der Weisheit, indem er sie zum Inbegriff aller Weisheit erklärte (Sir 2 4 , 2 3 - 2 9 ; Blenkinsopp, Wisdom; Schnabel 8 9 - 9 2 ) . Spätestens dadurch wurde den alttestamentlichcn Weisheitsschriften der Weg in den Kanon geöffnet (vgl. auch Koh 12,13 f). 7. Die Sammlung
Heiliger Schriften
Alten Testaments
oder der
Kanon
Die in der Hebräischen Bibel zusammengeschlossenen 24 bzw. nach unserer Aufteilung 39 Bücher verdanken ihre autoritative Stellung als Heilige Schrift des Judentums einem im 6. Jh. v. Chr. einsetzenden und im frühen 2. Jh. n. Chr. abgeschlossenen Traditionsbildungs- und Selektionsprozeß, in dessen Verlauf zuerst die Tora, dann die Propheten und schließlich auch die Schriften kanonische Geltung erlangten (-»Bibel I). Der Bedeutung der Tora als der seit der Zeit Esras für das Judentum verbindlichen Lebensordnung gemäß, hat man in ihr den eigentlichen Kristallisationspunkt und zugleich die Mitte der Schrift zu sehen (Kaiser: FS Talmon): Sie begründete die Existenz Israels als des für immer von Jahwe zu seinem Eigentum erwählten und am Sinai/Horeb und im Lande Moab für alle Zeiten auf seine Gebote, Rechtssätze und Satzungen verpflichteten Volkes sowie Israels für immer gültigen Anspruch auf den Besitz des Landes Kanaan. Zumal durch die prophetentheologische und die nomistische Bearbeitung des Deuteronomistischen Geschichtswerkes vorbereitet, traten die Bücher J o s - I i Reg, die Früheren oder Vorderen Propheten, als die konkrete Auslegung der Segensverheißungen und Fluchandrohungen der Tora und zugleich als die Begründung des Exilsgeschicks Israels an ihre Seite. Die vorexilische Gerichtsprophetie hatte ihren Anspruch, Wort Jahwes zu sein, im katastrophalen Untergang der beiden Reiche 722 und 587 bewährt. Die Restitution der Jerusalemer Tempel-Bürgergemeinde im späten 6. und 5. Jh. hatte die Heilsworte der
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exilischen und frühnachexilischen Propheten und ihrer Erben hinreichend legitimiert, um auch ihren Schriften göttliche Autorität zu verleihen. Deuteronomistische und nachdeuteronomistische Fortschreiber hatten überdies den Zusammenhang zwischen der Gerichtsprophetie und der Tora ausdrücklich hergestellt. So war es unvermeidlich, daß auch die Prophetenbücher der Tora zugeordnet wurden und den Charakter Heiliger Schriften erhielten. Das Psalmenbuch lehrte das Judentum des Zweiten Tempels beten, die Weisheitsbücher den einzelnen in der Furcht Jahwes leben. Die weisheitlichen Lehrerzählungen, als die wir die Bücher Ruth und Jona bezeichnen können, traten mit ihrer je besonderen Botschaft an ihre Seite. Das allegorisch verstandene Hohelied diente als Spiegel für das innige Verhältnis zwischen Jahwe und seinem Volk. Das Esra-(Nehemia)buch bezeugte die Treue Gottes zu Israel über das Exil hinaus. Das Estherbuch forderte die Juden der Diaspora zum Eintreten für die Glaubensgenossen auf und begründete das Purimfest. Das Danielbuch bezeugte die Treue Jahwes gegenüber denen, die auch in der Fremde der Tora gehorsam blieben, und richtete den Blick auf das Ende der Geschichte und die Auferstehung der Toten. Die Chronik berichtete von der Erstverwirklichung der Theokratie auf dem Boden des Reiches Juda und ihrem Ende. Sie rief ihre Leser ebenso zum Vertrauen in Gottes Hilfe wie zum Ernstnehmen seines Anspruchs auf, Israels einziger Helfer zu sein. In den mittelalterlichen Handschriften an das Ende der Bibel gestellt, lenkte sie mit ihren Schlußsätzen die Gedanken auf die verheißene universale Heimkehr zum Zion. Die Vorrangstellung der T o r a h a t sich in ihrer f ü r den Synagogengottesdienst zentralen abschnittsweisen Verlesung niedergeschlagen, die N e b e n o r d n u n g der P r o p h e t e n in der an sie anschließenden Lektion. W ä h r e n d sich die Verlesung der Estherrolle a m P u r i m f e s t bis in rabbinische Z e i t zurückverfolgen läßt, h a t sich die des H o h e n l i e d e s a m 8. Tag des Passa, des Büchleins R u t h a m 2. T a g des Wochenfestes, der Klagelieder a m 9. A b als d e m G e d e n k t a g an die Z e r s t ö r u n g des Ersten und Zweiten Tempels und die des Kohelet a m 3. T a g des L a u b h ü t t e n f e s t e s erst im Frühen Mittelalter durchgesetzt. Sie f ü h r t e d a z u , d a ß m a n diese Büchlein z u s a m m e n mit d e m E s t h e r b u c h als eine b e s o n d e r e G r u p p e in den Megillot o d e r Festrollen z u s a m m e n f a ß t e . Z u v o r h a t t e n d a s Buch R u t h u n d die Klagelieder ihren Platz hinter J d c b z w . Jer besessen, wie es im Gefolge der L X X in den alten u n d den m o d e r n e n Bibelübersetzungen üblich ist. Die Tatsache, d a ß die restlichen „ S c h r i f t e n " - sieht m a n von den Psalmen a b - n u r gelegentlich im Synagogengottesdienst verlesen w e r d e n (Elbogen 1 8 4 - 1 8 6 ) , spiegelt die a b g e s t u f t e Kanonizität der Bücher der H e b r ä i s c h e n Bibel wider. Für die von den Pharisäern v e r a n t w o r t e t e abschließende A u s w a h l der Schriften a u s d e m d u r c h die L X X , die von ihr abhängigen Übersetzungen u n d die S c h r i f t f u n d c aus der W ü s t e J u d a bezeugten u m f a s s e n d e r e n jüdischen S c h r i f t t u m sind zwei G e s i c h t s p u n k t e v e r a n t w o r t l i c h : Z u m einen w a r e n sie d a v o n überzeugt, d a ß die Inspiration der Heiligen Schriften mit Esra a u f g e h ö r t h a t t e (vgl. auch IV Esr 1 4 , 3 7 - 4 8 ) ; d a h e r blieben alle Bücher ausgeschlossen, deren s p ä t e E n t s t e h u n g allzu offensichtlich w a r o d e r die geeignet erschienen, die Konsolidierung des J u d e n t u m s nach der Z e r s t ö r u n g des Z w e i t e n Tempels zu e r s c h w e r e n . Z u m a n d e r e n ging es ihnen u m die A b g r e n z u n g gegenüber sektiererischen, eschatologisch gesinnten G r u p p i e r u n g e n ( T R E 6,4).
Weil die jüdische Bibel die Heilige Schrift Jesu und des Urchristentums gewesen ist, ist sie es auch geblieben, als im Laufe des 2. Jh. n.Chr. die Evangelien und die Briefe der Apostel neben und vor sie gestellt wurden. Weil das Urchristentum seit dem Ausbruch des Jüdischen Aufstandes der Jahre 66 - 7 0 / 7 4 n. Chr. seinen Mittelpunkt in Jerusalem verloren hatte und die Zentren des griechisch sprechenden Heidenchristentums an dessen Stelle getreten waren, ist die Septuaginta zur Heiligen Schrift der Alten Kirche geworden. Erst die Forderung der Humanisten (-» Humanismus), die Texte der Alten in ihren Ursprachen zu lesen, veranlaßte die Reformatoren, ihren Neuübersetzungen der Bibel in die Nationalsprachen die Hebräische Bibel zugrunde zu legen (-»Bibelübersetzungen III.1). —Aissich um die Mitte des 2. Jh. der neutestamentliche —»Kanon formierte, hat der Bischof Melito von Sardes erstmals von den Büchern des Alten Testaments gesprochen (Euseb, h.e. 4, 26,13 f). Aber erst bei Clemens von Alexandrien heißt es (ström. 5, 85,1), man müsse dem Sohn Gottes glauben, „wie er durch das Alte und das Neue Testament verkündigt und bezeichnet wird." So ist aus der jüdischen Bibel das Alte Testament der Christen geworden (vgl. —»Bibel III). Seither fordert die spannungsvolle Einheit der
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Literaturgeschichte, Biblische I
beiden Testamente Theologie und Kirche immer neu heraus, ihr Verhältnis zum Alten Testament und zum Judentum zu bestimmen (Kaiser, Bedeutung). Anmerkungen 1
Vgl. schon Eißfeldt,
3/4
Einleitung, 5 f.
Vgl. dazu R . C . Culley, Exploring N e w Directions: T h e H e b r e w Bible and Its M o d e r n Interpreters, ed. D . A. K n i g h t / G . M . T u c k e r , 1 6 7 - 2 0 0 . 1 Vgl. K. K o c h , 3 F o r m g e s c h i c h t e 3 3 6 - 3 4 2 . 4 Vgl. z . B . die prophetischen T e x t e in den Palastbibliotheken von M a r i und Ninive, T U A T I I / l , 5 6 - 6 8 . 8 3 - 9 3 , und zu den Texten aus M a r i auch A. S c h m i t t , B W A N T 114, 1982. I Vgl. dazu die Vermutungen von J . T . M i l i k , T h e B o o k s o f H e n o c h , 25 f über den A u t o r des W ä c h t e r b u c h e s ä t h H e n 1 - 3 6 . Z u r Einrichtung der Ephebie und eines G y m n a s i u m s in J e r u s a l e m im J a h r e 1 7 5 / 4 v . C h r . vgl. K. B r i n g m a n n , A A W G . P H 132, 80. ' Vgl. z . B . die Bedeutung des archäologischen Befundes in Beer Seba für die überlieferungsgeschichtliche Bewertung der dort angesiedelten Vätererzählungen und dazu L . A . A x e l s s o n , C B . O T 25, 1 2 . 9 5 - 1 0 1 . 7 Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind nicht nur für die Literaturgeschichte, sondern auch für die katechetische und homiletische Verwendung der T e x t e von Bedeutung. Denn sie ermöglichen es, angemessene Analogien zwischen ihrer und der Situation der Auslegung zu ziehen. " Z u r Bileamüberlieferung vgl. auch die einem Buch des Bileam, des Sohnes Beors, angehörenden inschriftlichen Kompositionen vom Teil D e i r c Alla: T U A T I I / l , 1 3 8 - 1 4 8 . ' Z u m Problem der Abgrenzung der Priesterschrift vgl. L. Perlitt, B E T h L 6 8 , 1 4 9 - 1 6 3 . 1 0 Die F r a g e , o b die Mission Esras vor oder nach der Nehemias anzusetzen ist, ist umstritten. Vgl. dazu Kaiser, 'Einleitung 167 f. II Wenn Veijola, AASF.B 198, 121, J d c 8 , 2 2 f D t r N , U. B e c k e r , B Z A W 192, aber D t r H zuweist, meldet sich hier das Problem der Einheit des D t r G : D t r H in J d c ist vermutlich nicht mit dem D t r H von R e g identisch. 1 1 Vgl. Rendtorff: Z A W 9 6 , 1 6 5 - 1 8 4 , und G u n n e w e g , K A T 19,1, 1 2 7 - 1 4 3 . 1 1 Vgl. dazu Ehud Ben Zvi, T h e B o o k o f Z e p h a n i a h , 1991 ( B Z A W 198). 1
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Otto Kaiser
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Literaturgeschichte, Biblische II
II. Neues Testament 1. Geschichte und Aufgabe 2. Briefliteratur 3. Evangelien 4. Apostelgeschichte hannesapokalypse 6. Der Kanon des Neuen Testaments (Literatur S. 353)
1. Geschichte und
5. Jo-
Aufgabe
1.1. Geschichtlicher Überblick. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jh. wird in Auseinandersetzung mit Karl August Credner (vgl. seine Definition der Einleitung als die „kritische Geschichte der neutestamentlichen Sammlung, von ihren ersten Anfängen an, bis auf die Gegenwart herab, und nach ihren Bestandtheilen eben so wohl, als nach ihrer Gesammtheit" [2]) der Begriff der „Biblischen Literaturgeschichte" durch den Alttestamentier Hermann Hupfeld eingeführt (36). Weitergehend unterscheidet Eduard Reuß zwischen der Geschichte der Hl. Schriften Neuen Testaments (s.a. Friedrich Bleek: „Geschichte der im N.T. vereinigten Schriften" als „Theil der Geschichte der christlichen Literatur" [5]) und der Geschichte der Hl. Schriften Alten Testaments (s.o. Abschn. 1.1) und zeigt im Zusammenhang der sich entwickelnden Einleitungswissenschaft die Tendenz, diese als geschichtliche Disziplin zu begreifen. - Franz -»Overbeck stellte sich in seiner Untersuchung Über die Anfänge der patristischen Literatur auf den Standpunkt, daß diese von den Schriften des Neuen Testaments abgegrenzt werden müsse. So entspricht es seiner grundlegenden Definition der Literaturgeschichte als „Formengeschichte": „Ihre Geschichte hat eine Literatur in ihren Formen, eine Formengeschichte wird also jede wirkliche Literaturgeschichte sein" (12). - Daß Albert Eichhorn bereits unter seinen Habilitationsthesen von 1886 den Satz verteidigt: „3. Die NT1. Einleitung muß urchristliche Literaturgeschichte sein" (abgedruckt bei Barnikol 144), verdeutlicht, daß die literaturgeschichtliche Erforschung wichtige Impulse der -»religionsgeschichtlichen Schule verdankt. Die neutestamentliche Literaturgeschichte erlangt in dieser Periode wesentlich eine kanonkritische Relevanz (vgl. die Forderung von G. Krüger, an die Stelle der Einleitung eine Geschichte der urchristlichen Literatur zu stellen [Dogma 37); gegen eine isolierte Betrachtung der neutestamentlichen Schriften a . a . O . 5f; ders., Geschichte 9; s. z.B. auch van Manen; Wrede 85-91).
Mit der Ausarbeitung dieser Fragestellung begann eine Blütezeit der literaturgeschichtlichen Forschung, in der Fragen nach Sprache, Form und Stil der Schriften stärker in den Vordergrund traten. Zu nennen sind die Arbeiten von Adolf -»Deißmann, C.F. Georg Heinrici, Eduard Norden, Hermann von Soden, Johannes -»Weiß (Darstellung des ,,nt.liche[n] Schrifttum[s] wesentlich unter literarischem Gesichtspunkt, d . h . vor allem hinsichtlich der Formen"-, es ist seine Absicht, die „christliche Urliteratur in ihren Formen und nach den Motiven ihrer Entstehung zu schildern" [2175]) und Paul Wendland. Wenn dieser feststellt, daß die „Einsicht in das frühere Stadium der mündlichen Tradition und in ihre E i g e n a r t . . . eine wesentliche Voraussetzung für das Verständnis der späteren literarischen Produktion" ist (261), so findet sich diese Einsicht auf unterschiedliche Weise bei Karl Ludwig Schmidt, Rudolf -+ Bultmann und Martin Dibelius reflektiert, deren Arbeiten die literaturgeschichtlichen Überlegungen Hermann —» Gunkels (s. o. Abschn. 1.1) für die neutestamentliche Exegese fruchtbar machen. K. L. Schmidt versteht die Evangelien als,Sammelwerke', in denen ganz verschiedenartige, ursprünglich isoliert umlaufende Einzelstücke locker miteinander verknüpft worden sind. - R. Bultmann unterscheidet zwischen der Literaturgeschichte des Neuen Testaments im allgemeinen, die er mit der Einleitung in das Neue Testament identifiziert, und der im „eigentlichen Sinn". Letztere ist nach seinem Urteil für das Neue Testament „unmöglich" (ThR 17, 79). Dennoch ist „es möglich, im Stoff der synoptischen Tradition einige bestimmte literarische Formen mit eigenen Stilgesetzen zu unterscheiden" (WdF 81, 239). Auch betont Bultmann, daß „die literarischen Äußerungen des Urchristentums . . . weitgehend in feste Formen gefaßt" sind. Sie können nur dann wirklich verstanden werden, „wenn man die Gattungen, ihre Formen und Lieberlieferungsgesetze kennt" (RGG 2 3, 1680). In der 1926 verfaßten Geschichte der urchristlichen Literatur berücksichtigt M . Dibelius, ohne sich an die Kanongrenzen zu binden (TB 58,20f), die mündliche Uberlieferung. Die Frage, wie die Traditionen, die in den Schriften enthalten sind, entstanden sind, ist ebenso zu klären wie das Problem, „wie aus diesen Anfängen Bücher w u r d e n . . . " (a. a. O. 17f; s. auch Formgeschichte 3f). Damit sollen diese als „Kleinliteratur" bezeichneten Schriften (d. h. Schriften, die für einen bestimmten Leserkreis verfaßt sind) literarhisto-
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risch, unter „form- und gattungsgeschichtlichem Gesichtspunkt" untersucht werden (TB 58, 21). Zusammenfassend beschreibt Dibelius seine Aufgabe: „Der Literarhistoriker des Urchristentums, der die Entstehung dieser Schriften verständlich machen will, hat also zu zeigen, wie es zu dieser schriftlichen Betätigung der ersten Christen kam und in welcher Weise die Bücher die Eigenart ihrer Verfasser und die Bedingtheit ihrer Abfassungsverhältnisse widerspiegeln" (a.a.O. 15; vgl. ThR 3, 241). - Unter Berücksichtigung der mündlichen Überlieferung werden in der Geschichte der urchristlichen Literatur von Philipp Vielhauer die literarischen Gattungen in geschichtlicher Abfolge, die Grenzen des Kanons konsequent überwindend, dargeboten. - Neuere Untersuchungen zur literaturgeschichtlichen Fragestellung stellen der Artikel Early Christian Literature von Helmut Köster sowie die Werke von Klaus Berger und David E. Aune dar. So verdankt die Forschung Berger zahlreiche kritische Anregungen; er versteht die Formgeschichte als „Literaturgeschichte der einzelnen Gattungen" sowie als Geschichte der „Beziehungen zwischen Gattungen und historischen Abläufen", so daß sie „Bezug zur wirklichen Gemeindegeschichte" erhält (Formgeschichte 12). Allerdings ist im Unterschied zur älteren Formgeschichte die mündliche Vorgeschichte nicht Gegenstand der Darstellung. Das Werk The New Testament in its Literary Environment von David E. Aune vergleicht die literarischen Gattungen im Neuen Testament mit denen der antiken Mittelmeerwelt, besonders des Hellenismus. Indem Aune Form- und Stilmerkmale der neutestamentlichen Gattungen auf diesem Hintergrund zu erhellen sucht, steht seine Darstellung, die die Ergebnisse der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft voraussetzt, einer „Literaturgeschichte im eigentlichen Sinn" (s.o. S.338, 42ff) nahe. 1.2. Aufgabe und Eingrenzung. Im Unterschied zur -»Formgeschichte, die primär über die Formen der mündlichen Tradition handelt, und zur -»Literarkritik, welche insbesondere die schriftlichen Vorlagen der literarischen Überlieferung untersucht, befaßt sich die neutestamentliche Literaturgeschichte mit den Ergebnissen solcher Bemühungen um den Text des Neuen Testaments, indem sie die verschiedenen Literaturformen einander zu- und nach Möglichkeit in den Rahmen einer geschichtlichen Entwicklung einordnet. Es sind daher auch die vorliterarischen Formen zu beachten, die als Vorstufe und Sachvoraussetzung der Schriftwerdung der Überlieferungen gewürdigt und, insofern sie zu einem großen Teil in die urchristlichc Literatur Eingang gefunden haben, für die Literaturgeschichte thematisiert werden müssen. Obwohl solche Formen nicht auf das Neue Testament beschränkt sind, sondern außerhalb des neutestamentlichen Kanons Entsprechungen haben, wird sich das Folgende im wesentlichen nur auf die neutestamentlichen Schriften beziehen. Dieses Vorgehen ist vornehmlich aus praktischen Überlegungen motiviert. Keineswegs kann methodisch hinter die grundsätzliche Öffnung des neutestamentlichen Kanons zurückgeschritten werden (vgl. Strecker, Neues Testament 36). 2.
Briefliteratur
2.1 Neutestamentlicher Befund 2.1.1. Übersicht. Die am häufigsten im Neuen Testament begegnende, nach Umfang, Inhalt und Absicht verschiedenartigste literarische Form ist die des Briefes. Hierher gehören Schriftstücke, in denen der Absender mit einer historischen Persönlichkeit der neutestamentlichen Zeit identisch ist (Paulus: I Thess, I/II Kor, Gal, Rom, Phil, Phlm; Presbyterbriefe: II/III Joh), sowie pseudepigraphe Schriften, in denen unter dem Namen einer bedeutenden Persönlichkeit bestimmte Gemeinden oder/und die Gesamtkirche angesprochen werden (II Thess, Kol, Eph, I/II Tim, Tit, Jak, I/II Petr, Jud; auch I Joh, vgl. I Joh 1,1-4). Ein Teil dieser Schriften wird auf die Arbeit von Schulen zurückzuführen sein (z. B. die Deuteropaulinen, die aus dem Zusammenhang einer Paulusschule zu erklären sind; vgl. bes. Conzelmann, Paulus; ders., Schule; zur johanneischen Schule Strecker: KEK 14, 19—28). Person und Theologie der schulgründenden Persönlichkeit nehmen
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hierbei eine maßgebende Rolle ein (vgl. Culpepper 259). Ein solches Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Paulus und seinen Mitarbeitern lassen schon das als literarisches Zeugnis der Schuldiskussionen gewertete, sogenannte ,Revelationsschema' (vgl. Conzelmann: KEK 5 2 , 80 f; Dahl: B Z N W 21, 4f) sowie esoterische Abschnitte der Paulusbriefe (z. B. geschlossene Abhandlungen als Ergebnisse von Schulgesprächen, die alttestamentlich-jüdische Texte oder Motive aufnehmen: Rom 5,12ff; I Kor 10,1-10; II Kor 3 , 7 - 1 8 u. ö.) erkennen. - Einige der genannten Schreiben zeigen enge literarische Abhängigkeiten (z.B. Eph von Kol; II Thess von I Thess; II Petr von Jud). Je nach Abfassungszweck und Adressatenkreis überwiegt brieflicher (so allgemein), homiletischer (vgl. I Joh, Hebr) oder Traktat-Charakter (vgl. Eph). 2.1.2. Probleme der literarischen Integrität der Paulusbriefe. Gegenstand der Literarkritik ist die Frage, ob die vorliegende Gestalt der neutestamentlichen Briefe ihrer ursprünglichen Abfassung entspricht. Vermutet und im einzelnen wahrscheinlich zu machen sind Glossen, Interpolationen, d . h . absichtsvolle Einfügungen (z.B. II Kor 6,14-7,1), und Anhänge, die dem Briefkorpus nachträglich hinzugefügt worden sind (z.B. die Schlußdoxologie Rom 16,25-27). Auch die innere Einheitlichkeit der Schreiben wird in Frage gestellt (begründet für II Kor) und das Problem von Anzahl und Umfang der vermuteten Brieffragmente kontrovers diskutiert. Das literarkritische Kriterium von sprachlichen und sachlichen Differenzen zwischen Quelle und ihrer Verarbeitung läßt sich im einzelnen nur bedingt zur Anwendung bringen, da für die verschiedenen postulierten Brieffragmente jeweils Paulus als Verfasser vorausgesetzt ist.
2.2. Der Brief als literarische Gattung 2.2.1. Aufbau und Struktur. In formaler Hinsicht schließen sich die urchristlichen Briefe der „brieflichen Konvention ihrer Umwelt" an (Vielhauer, Gcschichte 64; Texte antiker Briefe bei Stowers, Letter Writing); diese gibt ein dreigliedriges Grundschema vor: Präskript, Briefkorpus und Abschluß. - Das griechische Präskript (dreigliedrig mit superscriptio, adscriptio und salutatio) findet sich Jak 1,1 und in Act 15,23; 23,26. E. Lohmeyer (Grußüberschriften) wies auf die Bedeutung des orientalischen Briefstils für das paulinische Briefpräskript hin (wesentliches Merkmal: Zweiteilung des Präskripts, dessen zweiter Teil einen Segenswunsch in direkter Anrede enthält; z.B. I Kor 1,1-3; II Kor 1,1-2). Dabei mag auch christliche Formung, etwa liturgischer Brauch, auf den Briefeingang einwirken. — Analog dem profanen Briefstil folgt das in den Briefzusammenhang einführende „ P r o ö m i u m " (vgl. Schubert; Lohse: KEK 9/2*, 40f mit Beispielen aus hellenistischen Briefen). Die Ausführung bzw. die Sprache des Proömiums schließt sich nicht nur jüdischer Gebetssprache (Robinson: FS Haenchen 201 f), sondern auch dem urchristlichen Gottesdienst und der apostolischen Predigt an (vgl. O ' Brien 264). - Das Briefkorpus enthält wie in den griechischen Privatbriefen den eigentlichen, nicht selten komplexen Inhalt. Trotz des verschiedenen Umfangs unterscheiden sich die paulinischen Briefe insgesamt durch ihre Länge von den kürzeren griechischen Privatbriefen. - Gewöhnlich wird der Brief (außer Gal) durch Grüße des Absenders und seiner Umgebung an den Empfänger sowie an dessen Verwandte und Freunde (donACeaSoci; vgl. White: ANRW II/25.2,1735) abgeschlossen (I Thess 5,26; I Kor 16,19 f u. a.). Außerdem wird ein Schlußwunsch angefügt: Das profane Eppiocro/eppcoaSe (vgl. Koskenniemi 151-154; White, a . a . O . 1734) hat in Act 15,29 (23,30 v.l.) eine neutestamentliche Parallele. Religiöse Prägung erhält der Schlußwunsch durch den alttestamentlich-jüdischen Friedenswunsch (I Petr 5,14; III Joh 15) und den variablen paulinischen Schlußsegen (I Thess 5,28; Rom 16,20; I Kor 16,23 u.ö.; s.a. I Tim 6,21; II Tim 4,22; Hebr 13,25 u.ö.). 2.2.2. Stil, Epistolographie und Rhetorik. Nach Deißmann (Licht 193-198) sind zu unterscheiden: wirkliche Briefe (Gelegenheitsschriften) und andererseits Kunstbriefe, für die Deißmann den Begriff der .Epistel' einführt. Gegenüber einer starren Unterscheidung beider Formen ist auf die Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit der Briefform zu verweisen (so schon Bultmann: RGG* 1,1255; kritisch auch Dahl: IDB Suppl. 540; Doty: CBQ 31; Koskenniemi 8 8 - 9 1 u.a.). Wiesen schon J. Weiß (Beiträge) und R. Bultmann (FRLANT 13) auf die rhetorische Bildung und insbesondere auf die Bedeutung des Diatribenstils für
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die paulinischen Briefe hin (ihre Benutzung durch Paulus ist nunmehr weitgehend anerkannt, vgl. z.B. Schoon-Janßen, passim; Stowers, Diatribe 80f), so wird in der neueren Diskussion verstärkt auf Vorbilder in der antiken Rhetorik, der zufolge zwischen forensischer, deliberativer und epideiktischer Rhetorik geschieden wird, und Epistolographie (bezüglich der Frage nach dem Brieftyp) aufmerksam gemacht (Forschungsüberblick und Einführung z. B. bei Watson: SBL.DS 1 0 4 , 1 - 2 8 ) . So interpretierte H. D. Betz II Kor 1 0 - 1 3 als „Apologie des Paulus" (BHTh 45; vgl. Gal: „apologetic letter" [NTS 21, 354; ders., Gal 55ff; zur Kritik vgl. Schoon-Janßen 7 2 - 7 8 . 8 0 - 8 2 ; Stowers, Letter Writing 173]). Dieser Ansatz wurde auf andere Briefe auch außerhalb des Corpus Paulinum übertragen mit dem Versuch, die rhetorische Analyse (,rhetorical criticism') zu einer Bestimmung des historischen Hintergrundes auszuwerten (vgl. Schüssler-Fiorenza: NTS 33, 387f; s. auch Hughes 30). Wird damit die Frage nach der inneren Struktur der neutestamentlichen Briefe zu Recht forciert, so sind allerdings die Schwierigkeiten nicht zu übersehen: Problematisch ist die Abgrenzung der Passagen im einzelnen (zu Gal vgl. Hübner 244.245f.249), die Zuordnung der Paränese zu den vorgeschlagenen Brieftypen sowie das Fehlen einer überzeugenden Klassifikation der neutestamentlichen Briefe im Vergleich mit der antiken Briefliteratur (Vorarbeiten zur Theorie: Malherbe, Theorists). Eine schematisierende Anwendung der rhetorischen Analyse aufgrund der Theorie der rhetorischen Handbücher wird weder den antiken noch den neutestamentlichen Briefen gerecht. Primäre Bedeutung kommen vielmehr der genuinen Strukturierung und Argumentation des jeweiligen Autors zu. - Werden die Apostelbriefe als „schriftlich fixierte, adressierte apostolische Rede" (Berger: ZNW 65, 231.219) verstanden, so ist demgegenüber die antike Unterscheidung von Rede und Brief (vgl. Koskenniemi 43; Stowers, Letter Writing 52; Aune, New Testament 159) zu beachten. Auch bleiben bei der Heranziehung von bestimmten antiken Briefgattungen Fragen offen (z.B. zum hellenistischen Freundschaftsbrief: Bünker; Lührmann: FS Greeven; s. auch Thraede: Zetcmata 48). — Fast alle neutestamentlichen Briefe richten sich an eine (begrenzte) christliche Öffentlichkeit (Ausnahme: III Joh); sie wurden nicht nur im Gottesdienst der Adressaten verlesen (vgl. I Thess 5,27), sondern auch an andere Gemeinden weitergegeben (II Kor 1,1; Kol 4,16). 2.3.
Traditionsgut
In der neutestamentlichen Briefliteratur ist frühchristliches Formelgut mit einer eigenständigen Geschichte nachzuweisen (zu den Rekonstruktionskriterien für Traditionsgut vgl. Dibelius: T h R 3, 210f; Strecker/Schnelle 95; über die Probleme derartiger Bestimmungen und dem daraus resultierenden Vorgehen vgl. Schnelle: GTA 24 1 , 33 f; Rese: VF 15, 9 3 - 9 5 ) . 2.3.1. Bekenntnisformeln (—• Glaubensbekenntnisse]). Bezeichnung und Abgrenzung im einzelnen sind umstritten. Künstlich ist die Unterscheidung in Credo-(Conzelmann) bzw. Pistisformeln (Kramer) und Homologien; sie läßt sich aus dem Parallelismus membrorum in Rom 10,9 nicht überzeugend ableiten (gegen Conzelmann, Christenheit 109; Vielhauer, Geschichte 13ff; zur Kritik vgl. Strecker, Befreiung 238 mit Anm.26). Eindeutiger ist die Differenzierung zwischen eingliedrigen, ausschließlich christologischen (z.B. I Thess 4,14), zweigliedrigen (z.B. I Kor 8,6; I Thess l , 9 b - 1 0 ; I Tim 2,5f) und (selten) dreigliedrigen Formeln (II Kor 13,13; Mt 28,19). Ältestes christliches Uberlieferungsgut findet sich in Bekenntnisformeln, die den Tod und/oder die Auferweckung Jesu (-•Auferstehung II/1.2; klassisch: I Kor 15,3 b - 5 a ) thematisieren. Altes Uberlieferungsgut stellen auch die Formeln dar, die die Würdestellung Jesu als Kyrios (Rom 10,9; Phil 2,11) oder als Davids- und Gottessohn (Rom 1,3 f) zum Gegenstand haben. Wichtig sind zudem die vorpaulinischen Tauftraditionen in I Kor 1,30; 6,11 u.a. (vgl. Schnelle: GTA 24 2 ). Der Sitz im Leben der Bekenntnisformeln ist verschiedenartig (Cullmann 13; anders v. Campenhausen: ZNW 63,231, der ihre Bindung an einen „bestimmten Ort und Text" bestreitet).
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2.3.2. Liturgische Formeln (-»Formeln, Liturgische II). Aufgrund der Pluralität der „Sitze im Leben" wird zumindest ein Teil der genannten Bekenntnisformeln im urchristlichen -»Gottesdienst in Gebrauch gewesen sein. Sicher entstammt der Gebetsruf „ M a r a n a t a " (I Kor 16,22 [TRE 3,607,33 ff]; vgl. Apk 22,20) dem Gottesdienst der aramäischen Gemeinde. Die Einsetzungsworte zum Herrenmahl (-» Abendmahl II.3) in I Kor 11,23—25 kennzeichnet Paulus selbst als Traditionsgut; ihre älteste Fassung ist durch Vergleich mit M k 1 4 , 2 2 - 2 5 par. zu erheben. - Der Liturgie zuzuordnen sind auch Akklamationen (vgl. xvpioq 'Irjaoöq [Rom 10,9; I Kor 12,3, in erweiterter Form Phil 2,11], äßßä o naxrip [Gal 4,6; Rom 8,15] sowie die e/g-Akklamationen [z. B. I Kor 8,6; I T i m 2,5 f; Eph 4,5]; weiterhin: -»Amen [vgl. I Kor 14,16], Halleluja, Hosianna), Doxologien (z.B. R o m 11,36b; Phil 4,20; I T i m 1,17; stark ausgebaut: R o m 16,25 - 2 7 ) und Eulogien (vgl. R o m 1,25; II Kor 11,31), die in den Briefen oftmals einen Sinnabschnitt abschließen. Auch Segens- und Fluchformeln, wie sie bereits Paulus kennt (I Kor 16,22: ijzco äväSefia-, - • B a n n II/2.1.), sind als gottesdienstliche Formeln zu bewerten. 2.3.3. Hymnen und Lieder (-»Jesus Christus I.2.5.). Von dem umfangreichen urchristlichen Liedgut (vgl. I Kor 14,26; Kol 3,16) werden in den neutestamentlichen Briefen einige Christuslieder überliefert (I Tim 3,16; I Petr 1,20; 2 , 2 2 - 2 4 ; 3 , 1 8 - 2 2 ; u.a.). Sie beschreiben Erniedrigung und Erhöhung Jesu Christi (Phil 2 , 6 - 1 1 ) , seine Schöpfungsmittlerschaft (Kol 1,15-20) und Inthronisation (Hebr 1,3). Auch die neutestamentlichen Evangelien enthalten hymnisches Überlieferungsgut (im Stil der Psalmen: Lk 1,46-55. 6 8 - 7 9 ; hymnischer Charakter zeichnet auch Joh 1 , 1 - 1 8 aus). 2.4. Paränetische
Texte
Die frühchristliche literarische Überlieferung ist weitgehend durch eine paränetische Intention bestimmt. So ist die Logienquelle (Q; s.u. S. 345f) ein Beispiel für eine Spruchreihe mit paränetischer Zielsetzung (vgl. z.B. Dibelius, Formgcschichte 244ff). Auch die neutestamentlichen Briefe besitzen oftmals eine paränetische Struktur (I Kor; Jak; vgl. die weithin anerkannte Zweiteilung, wonach auf einen „theoretischen" jeweils ein „praktischer" Hauptteil folgt: Gal 5,13-6,10; R o m 12,1-15,33). - Im einzelnen ist zwischen usueller und aktueller ethischer Weisung zu unterscheiden. Z u erstcrcr gehören Ttigendund Lasterkataloge (z.B. R o m 1,29-31; 13,13; I Kor 5,10f; 6,9f; Gal 5 , 1 9 - 2 3 ; Kol 3 , 5 - 8 . 1 2 - 1 4 ; vgl. M k 7,21 f), die die christliche Tradition aus dem hellenistischen Jud e n t u m übernommen hat, w o sie besonders in der Weisheitsliteratur (Weish 14,25 u.a.) und bei Philo (Sacr 32 u. ö.) nachzuweisen sind. Vermutlich wurde die hellenistisch-jüdische Tradition durch die kynisch-stoische Popularphilosophie beeinflußt (vgl. Diog. Laert. VII, 1 1 0 - 1 1 4 u.a.; s. auch Conzelmann: KEK 5 2 , 128-130). - Auch die neutestamentlichen Haustafeln (im eigentlichen Sinn des Wortes nur Kol 3 , 1 8 - 4 , 1 und Eph 5 , 2 2 - 6 , 9 ) , die als gleichförmige, paränetische Aufreihungen die Pflichten der Glieder des christlichen Hauses zum Gegenstand haben (G. Strecker, Haustafeln 349), haben einen weitgesponnenen, nicht zuletzt profangriechischen Hintergrund. Hinzuweisen ist auf die Tradition nepi oixovofiiaq bzw. 6 oixovofiixöq (vgl. X e n o p h o n , oik.; Aristoteles, pol. I u.a.; dazu z.B. Lührmann: WuD 13, 7 6 - 8 0 ; ders.: N T S 27; Thraede: FS Kötting 362ff; Gielen 55 ff), die in der antiken Tradition zu einer sinnvollen F ü h r u n g einer Hauswirtschaft anleitet. Gegenüber einer einseitigen Betonung des Einflusses der Oikonomikos-Tradition bindet P. Fiedler die Haustafelüberlieferung an „volkstümliche, auch philosophisch ,verarbeitete' Ethik". Die formalen Kennzeichen der Haustafeln (Dreiteilung, Paare, Reziprozität, apodiktische Form und ,Haus'-Situation; vgl. Strecker, Haustafeln 356 mit Belegen) waren schon in der vorchristlichen griechischen und hellenistisch-jüdischen Überlieferung vorhanden (gegen Gielen 125-128); die Verchristlichung im Neuen Testament ist an der Einfügung von £v xvpiq» (Kol 3,18.20) und der christologischen Motivierung (Eph 5,23 f) erkennbar. Parallelen bietet die ,sozialethische Pflichtenlehre' I Petr 2 , 1 3 - 3 , 7 , die über das Haustafelschema hinausgeht, da sie auch von der Unterordnung unter die Staatsgewalt spricht und eine nichtchristliche o/xo^-Situation reflektiert;
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ferner die eklclesiologisch ausgerichtete Gemeindetafel in I Joh 2,12—14 sowie standesethische Mahnungen in den Pastoralbriefen (z. B. I Tim 5,1 ff; Tit 2,1 ff; 3,1 ff; vgl. Weiser). 2.5. Die Sammlung der Paulusbriefe. Die Frage nach dem Sammlungsprozeß der Paulusbriefe wird divergent beantwortet. W. Schmithals nimmt eine älteste [Haupt-]Sammlung von sieben Paulusbriefen an, in der Reihenfolge I Kor, II Kor, Gal, Phil, I/II Thess, Rom, die ein Sammler aus 25 Briefen an sechs verschiedene Adressaten „verdichtet" habe (Briefe 1 3 - 1 5 . 1 7 f ) . K. Aland sucht demgegenüber die schwer erklärbaren Differenzen der Reihenfolge des paulinischen Schrifttums in den Handschriften durch die Annahme von Sammlungen („Ur-Corpora", etwa 90 entstanden), zu denen I/II Kor, Hebr, Rom, Gal, Eph und Phil gehört haben sollen, zu erklären; ihnen seien unterschiedlich umfangreiche, „einander überlappende" „Klein-Corpora" mit den an diese Gemeinden ergangenen Briefen und Briefen aus Nachbargemeinden vorausgegangen (335f. 342f). - Davon ausgehend, daß „fast alle Briefsammlungen, die auf echte Korrespondenzen zurückgehen,... sich auf Ursammlungen zurück[-führen], die zu Lebzeiten des Briefverfassers entweder von ihm selbst oder auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin veröffentlicht wurden", reklamiert Trobisch (100) für Paulus die Gattung sogenannter Autorenrezensionen, die dieser aufgrund der Parusieverzögerung und Gefahren von Verfolgung und Tod anfertigte mit dem Ziel der Bewahrung seiner Lehre für die Nachwelt (verwiesen wird auf 1 Kor; I Thess; Phil; II Kor). - Schwerlich ist diese Hypothese, deren stärkstes, aber einziges Argument die Analogie der antiken Sammlungen darstellt, mit der in den überlieferten Briefen zu beobachtenden Wandlung im Denken des Paulus (vgl. Schnelle: SBS 137) auszugleichen. Die zu beobachtenden Differenzen im Verständnis von Gesetz und Rechtfertigung in den frühen Briefen hätten in der Perspektive von Trobisch einer Überarbeitung zum Opfer fallen müssen. Mit Sicherheit kann anhand der unterschiedlichen Reihenfolge der paulinischen Schriften in der handschriftlichen Uberlieferung lediglich die Variabilität des Corpus Paulinum erschlossen werden (vgl. Strecker: T h L Z 106, 67).
3.
Evangelien
3.1. Die Form des
Evangeliums
3.1.1. Das Wort Eüayyefaov und die Evangelienschreibung. Der christliche Sprachgebrauch bezeichnet mit ,Evangelium' sowohl die ,Christusbotschaft' als auch die Schriften, die „von Jesu Leben und Wirken, Leiden, Tod und Auferstehung" berichten (Vielhauer, Geschichte 252). - Weder das Substantiv noch das Verb haben im Neuen Testament eine literarische Bedeutung (vgl. u.a. Köster: NTS 35). Die Bezeichnung „cvayyeAiov" für die literarische Gattung ist erst gegen Ende des 2. Jh. eindeutig zu belegen (Irenaeus, haer. V, 26,6; Clemens Alex., ström 1,136,1; Diog. 11,6). Belege in der frühchristlichen Literatur, die den „Ubergang zu dem späteren christl. Sprachgebr., für den eö. Bez. eines Buches ist" (Bauer/Aland 644), bilden, sind in Did 8,2; 11,3; 15,3f; II Klem 8,5; MartPol 4,1, s. auch IgnPhld 8,2; IgnSm 7,2, zu finden. Ist die „inhaltsbezogene Verwendung des Wortes .Evangelium' für Evangelienbuch" (Vielhauer, Geschichte 255) noch lange Zeit durchgehalten worden, so kann sich andererseits schon mit -»Marcion die Wende im Umgang mit dem aus der christlichen Tradition übernommenen Begriff ,Evangelium' abgezeichnet haben. Dieser identifizierte das paulinische Evangelium (vgl. Gal 1,11; Rom 2,16 u.a.) mit dem Buch des Lukas und könnte diesem in der von ihm redigierten Fassung die Bezeichnung ,Evangelium' gegeben haben (vgl. v. Harnack: TU 45,184*; Köster: NTS 35, 376f.381; v. Campenhausen: BHTh 39, 183). Allerdings lassen die indirekten, späten Zeugnisse über Marcion sichere Schlüsse nicht zu. 3.1.2. Die Form des Evangeliums. Das Evangelium begegnet als literarische Gattung erstmals mit dem Markusevangelium und ist eine genuin christliche Schöpfung (so z.B. Bultmann: RGG 2 2,419; Dibelius: T B 58,41 f). Allerdings sollte damit die Bedeutung von Analogien für die Gattung Evangelium nicht bestritten werden. Festzustellen ist eine übereinstimmende Grundstruktur und damit eine gemeinsame Evangelienform bei den Synoptikern (mit Einschränkung auch beim vierten Evangelisten). Nicht nahegelegt ist eine formale Differenzierung, etwa zwischen Mk und den übrigen Evangelien (Marxsen: FRLANT 67 2 , 1 4 1 - 1 4 7 ; zwischen Lk als einem durch Act ergänzten Gesamtwerk und den übrigen Evangelien unterscheidet z.B. Talbert, Gospel 107f). - Was die Entstehung angeht, so ist trotz gelegentlicher chronologischer und geographischer Angaben in vor-
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synoptischen Einzeltraditionen und Sammlungen eine hieraus abzuleitende vorneutestamentliche Evangelienstruktur nicht zu erkennen. Eine Ableitung der Gattung Evangelium ist auch weder aus den Reden der Act (10,36-43; 13,23 - 3 1 u. ö.; z. B. Stuhlmacher: EKL 3 1,1220) noch aus der Kerygma-Tradition möglich; in letzterer finden sich nur historische Einzelaussagen (z.B. I Kor 11,23—25; 1 5 , 3 - 7 ; gegen Dodd, Framework; ders., Preaching 4 6 - 5 5 u.a.). Die Evangelisten haben auch keine „Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung" (Kahler 59f Anm. 1) geschrieben, sondern disparate Überlieferungseinheiten in einen zeitlich (von den Anfängen bis zum Ende des Auftretens Jesu) und geographisch (Galiläa und Jerusalem) ausgerichteten Rahmen gestellt, in dem die Passion Jesu einen wichtigen, aber nicht einmal zentralen Teilabschnitt einnimmt. Das „evolutionäre Modell" (Vorster) kann folglich die Strukturen und die Form der Gattung,Evangelium' nicht hinreichend erklären. Ein gewachsenes Interesse an antiken Analogien zu den Evangelien zeigen zahlreiche Beiträge und Verweise von allerdings unterschiedlichem Wert (vgl. die Forschungsberichte von Vorster; Dormeyer: EdF 263; ders./Frankemölle: ANRW11/25.2). Mit Ausnahme von Lk (vgl. 1 , 1 - 4 ; Act 1,1) wird in den ncutestamentlichcn Evangelien kein literarischer Anspruch erhoben, so daß als Ausgangspunkt der Gattungsanalyse die Bezeichnung der Evangelien als „volkstümliche Kultbücher" gelten kann (mit Schmidt: T B 69, 118), die die Uberlieferung der (anonymen) Gemeinde, nicht die Aktivität einer Schriftstellerpersönlichkeit widerspiegeln. Als Exponenten ihrer Gemeinden und für ihre Gemeinden wurden von den Evangelisten umlaufende, ursprünglich isoliert überlieferte Einzeltraditionen oder Perikopen- und Wortfolgen der Jesusüberlieferung gesammelt (Strecker, Redaktionsgeschichte 23), mit kerygmatischem Inhalt verbunden und in eine gemeinsame Form gegossen, wie diese der volkstümlichen Vorstellung von einer Biographie im hellenistischen Bereich (Beispiele solcher populärer Biographien sind z.B. das Leben des Äsop, Lebensbeschreibungen von Dichtern, z.B. Leben des Homer [vgl. Aunc: New Testament 63 f; Votaw]) und den theologischen Anforderungen der heidenchristlichen Gemeinden von der zweiten Hälfte des 1. Jh. bis in das 2. Jh. hinein am besten entsprechen konnte. Die Parallelen zwischen Evangelienschreibung und Biographie sind nicht zu übersehen (vgl. z.B. Aune, New Testament 22 u.ö.; Theilsen, Lokalkolorit 246): Hier wie dort steht ein ,Held' im Vordergrund; es geht jeweils um die Darstellung eines Lebensbildes, versehen mit chronologischen und geographischen Details. Entsprechendes gilt für Sprache und Stil der Evangelien (nahe sprachliche Parallelen in der griechischen Volksliteratur bei Reiser, Alexanderroman 136-152; vgl. ders.: W U N T 11/11, 166) und für auch in den (populären) hellenistischen Biographien nachzuweisende Elemente des Mythos (vgl. Talbert: Semeia 43,57.60). Auch das Problem der Weltverneinung ist als Differenzpunkt nicht geeignet, da die Evangelien eher Ausdruck der Orientierung des Glaubens in der Welt sind als einer Flucht aus der Welt heraus. Zu beachten ist aber auch das Eigengewicht der Gattung ,Evangelium', wie dies in Motivation und theologischer Gewichtung der Evangelienschreibung zu erkennen ist (vgl. Strecker, Jesusfrage 178-181). Insbesondere ist die heilsgeschichtliche Tendenz der Darstellung zu berücksichtigen, die als ein zentraler Faktor wahrgenommen werden muß, der zwischen den Gattungen .Evangelium' und .Biographie' unterscheiden läßt. 3.2. Literarische
Überlieferungen
in den synoptischen
Evangelien
3.2.1. Die Zwei-Quellen-Theorie und ihre Modifikationen. Die sogenannte „synoptische Frage" ist eine der wichtigsten quellenkritischen Fragestellungen der neutestamentlichen -»Literarkritik. Eine Lösung wurde nach verbreiteter Forschungsmeinung mit der „Zwei-Quellen-Theorie" gefunden (zur Geschichte der Erforschung der synoptischen Frage vgl. Strecker/Schnelle 48—51; Schmithals, Einleitung 4 4 - 2 3 3 ; vgl. T R E 10,575-599). D a n a c h haben den voneinander unabhängig schreibenden Evangelisten M a t t h ä u s und L u k a s als Quellen vorgelegen einerseits M k , andererseits eine zweite Vorlage ( Q ) , die vorwiegend Redestoff
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enthielt. Die Abweichungen im M t und Lk gemeinsamen Logiengut machen es wahrscheinlich, daß beide Evangelisten verschiedene Q-Versionen (Q M | bzw. Q L k , s.u. Abschn. 3.2.3) vor sich hatten. Darüber hinaus ist weiteres Sondergut bei M t und Lk (Perikopen, die jeweils nur beim ersten oder dritten Evangelisten vorhanden sind) einzurechnen, über dessen Herkunft sichere Angaben nicht möglich sind (teilweise vermutlich aus Q , s.u. Abschn. 3.2.3). - Die „minor agreements", Übereinstimmungen zwischen Mt und Lk gegen M k innerhalb des beiden gemeinsamen Mk-Stoffes, lassen vermuten, daß hierbei nicht das überlieferte zweite Evangelium, sondern ein revidiertes Exemplar (Deuteromarkus; so vor allem Fuchs anhand sprachstilistischer Analysen) benutzt wurde. Möglich ist aber auch die Annahme eines „ U r m a r k u s " (vgl. T R E 10,594f; Wendling), dessen spätere Überarbeitung dann kanonisch wurde. - Alternativ zur Zwei-Quellen-Theorie versuchte Streeter eine Vier-Quellen-Theorie zu begründen, wonach Lk aus einem „Protolukas" ( = lukanisches Sondergut + Q) und M k entstanden sein soll, während M t neben M k und Q eine weitere Quelle „ M " benutzte. Farmer erneuerte die Benutzungs-Hypothese, wonach Lk von Mt, M k von M t und Lk abhängig sei (Problem 199ff; Jesus 93-176), während im französischsprachigen Bereich die strukturgeschichtliche Lösung von Gaboury (Mk 1,1-13; 6,14-16,8 als gemeinsame Quelle der Synoptiker) einflußreich ist.
3.2.2. Die Frage nach den Quellen des Markusevangeliums. Da die Markuspriorität als gesichert zu gelten hat, stellt die Frage nach schriftlichen Quellen des Mk ein besonderes Problem dar. Anders als bei Mt und Lk ist keine der Quellen bekannt oder kann aus einem Vergleich eruiert werden. - Die formgeschichtliche Forschung hat aufgezeigt, daß Mk vorgegebene mündliche Uberlieferungen aufgenommen und seinen Stoff weitgehend in der Tradition vorgefunden hat (anders Schmithals, der eine Grundschrift [GS] des Mk erschließt, die keine Sammlung, sondern ein „literarisches Werk" eines Theologen, „der neben Paulus und Johannes genannt zu werden verdient", gewesen sei [TRE 10, 623; ders., Mk 1, 44]). Weiterhin wurde die Frage nach vormarkinischen Sammlungen gestellt (vgl. Kuhn). Im Einzelfall wird allerdings zu fragen sein, ob formal gleiches Uberlieferungsgut nicht auch durch den Evangelisten zusammengestellt werden konnte. Anders ist in Mk 13 eine vormarkinische Quellenschrift zu erheben, die auf ein christlich überarbeitetes jüdisches Flugblatt zurückzuführen ist. - Gegenstand gegenwärtiger Diskussion ist das Verhältnis von Markus zu Q aufgrund des von beiden gemeinsam gebotenen literarischen Stoffes (vgl. bes. Mk 3,22-26 par.; 4 , 2 1 - 2 5 . 3 0 - 3 2 par.; 6,6 b—13 par.; 8,11-12 par.; 12,38-40 par; 13,14-16 par.). Eine Abhängigkeit des Mk von Q (z.B. Schenk) ist kaum anzunehmen, vielmehr ist mit einem literarisch unabhängigen Zugang des Markus und der Logienquelle zur gemeinsamen älteren Jesusüberlieferung zu rechnen. 3.2.3. Die Spruchquelle Q in den Evangelien (vgl. T R E 10, 597f. 620ff). Die weitgehenden Ubereinstimmungen zwischen Mt und Lk lassen mit großer Wahrscheinlichkeit vermuten, daß die Q-Quellc schriftlich, und zwar in griechischer Sprache vorlag. Im Zuge der Verschriftlichung hat ein griechischsprachiger Redaktor im palästinischen Raum tradierte Spruchsammlungen zusammengefügt und so ein Werk mit einem chronologischen Aufriß gestaltet, das eine paränetische Abzweckung hatte. Daß aramäisches Spruchgut, noch ohne chronologische Gliederung, am Anfang des Traditionsprozesses stand, ist zu vermuten. Abweichungen im Mt und Lk gemeinsamen Logiengut (zum vermutlichen Umfang der Logienquelle vgl. Strecker/Schnelle 5 7 - 5 9 ) , ferner sekundäre Fortbildungen in diesem Stoff, die nicht der Redaktion zuzuweisen sind, z.B. im Zusammenhang der Makarismen der Bergpredigt, machen wahrscheinlich, daß beiden Evangelisten verschiedene Rezensionen der Logienquelle zur Verfügung standen. In diese Rezensionen wurden weitere Traditionsstücke eingetragen; daher ist auch für manche Bestandteile des Sondergutes (z.B. Lk 15,8-10.11-32; M t 5,21 ff.27ff.33ff; vgl. Strecker, Bergpredigt 65f) Herkunft aus Q anzunehmen. Dennoch stellt sich die Entwicklung der Q-Quelle nicht als anonymer Traditionsprozeß, sondern auch als Komposition von aufeinander folgenden Redaktionen dar (so z. B. Lührmann: W M A N T 33). Traditionsgeschichtlich ist Q keine Einheit. Auch religionsgeschichtlich bietet sich ein komplexes Bild, in dem weisheitliche (vgl. Lk 7,35; 10,21; 11,31.49) und apokalyptische (vgl. M t 7,24-27; 19,28; 25,14-30; Lk 13,26-27; 17,22-37), palästinisch-judenchristliche und helleni-
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stisch-heidenchristliche Elemente zu einer spannungsvollen Einheit verbunden sind. — Q besteht überwiegend aus Redestoff und nur wenigen Erzählungen (Versuchungen Jesu: Mt 4,1 — 11; Lk 4 , 1 - 1 3 ; eine Wundergeschichte: Hauptmann von Kapernaum: Mt 8,5-10.13; Lk 7 , 1 - 1 0 ; auch die Täufersprüche Mt 1 1 , 2 - 1 9 ; Lk 7 , 1 8 - 3 5 tragen berichtartige Züge). Eine Passions- und Auferstehungsgeschichte fehlt - was jedoch nicht den Schluß auf eine Gemeindetradition, für die Passion und Auferstehung bedeutungslos war, gestattet - , so daß A. Jülicher die Logienquelle als ein „Halbevangelium" bezeichnen konnte (347; auch Schulz, Q 2 4 ) . Häufig wurde Q als weisheitliche Spruchsammlung verstanden, ähnlich den Spruchsammlungen, wie sie in gnostischen Schriften, z.B. dem Thomasevangelium, nachzuweisen sind (Robinson, LOGOI). Für die Geschichte der Gattung sind jüdische Analogien (z.B. Prov 30; 31; 22,17-24,22) aufschlußreich. Jedoch tritt bei solcher Gattungsbestimmung das biographische Moment zu Unrecht in den Hintergrund. Stärkere Beachtung erhält dieser Aspekt in neueren Arbeiten zu Q. Zweifellos lassen sich Parallelen zwischen der Logienquelle und Prophetenbüchern in den Formen wie auch in der Gattung nachweisen (Sato). Allerdings spricht gegen eine entsprechende Auswertung auf die ,Q-Theologie', daß Jesus schwerlich betont als Prophet dargestellt wird. Zutreffender ist dem narrativen Anspruch der Q-Quellc gerecht zu werden, wenn man von der Versuchungsgeschichte ausgeht und dieser eine gattungsspezifische Funktion zuweist, um von hier aus verschiedene Stadien der Entwicklung der Q-Quelle zu konstatieren (die Versuchungsgeschichte als späteste Rahmung deutet in die Richtung einer biographischen Gattung; vgl. Kloppenborg 326; auch Dormeyer: EdF 236, 189: „Zwischenstadium"). 3.3. Traditionen
in den synoptischen
Evangelien
Für den Uberlieferungsprozeß, der in die Komposition der Evangelien mündet, ist das Stadium der mündlichen Tradierung einzelner „Herrenworte" und Erzählungen in der und durch die urchristliche Gemeinde von großer Bedeutung. fc3.3.1. Formen des Redestoffes, a) Logien (Bultmann: FRLANT 29', 73 ff) bzw. heitsworte (Dibclius, Formgeschichte 247). Bultmann unterteilt die Logien in Grundsätze (z.B. Mt 6,34; 24,28; Lk 10,7), Mahnworte (z.B. Mt 8,22 par.; Lk 4,23) und Fragen (z.B. Lk 6,39 par.). Durch Verwendung dieser - alttestamentlicher und hellenistisch-jüdischer Weisheitsliteratur entlehnten - Spruchweisheiten erscheint Jesus in der Überlieferung als Weisheitslehrer. Einzelne Logien werden in der Überlieferungsgeschichte oft mit ähnlichen zu größeren Kompositionen zusammengestellt (z.B. Mk 8 , 3 4 - 3 7 ) . - b) Prophetische und apokalyptische Worte. Ähnlich wie bei den Weisheitsworten sind auch hier jüdische und christliche Einzeltraditionen Jesus sekundär zugeordnet worden (so z.B. in der „Apokalypse" Mk 13,5-27). Es lassen sich Heilspredigten, z.B. in der Form der Makarismen (Mt 11,6 par.; Lk 6 , 2 0 - 2 3 par. u.ö.), Drohworte (Mt 11,21-24; 1 2 , 4 1 - 4 2 u. ö.), Mahnreden (Mk 13,33-37) und apokalyptische Weissagungen (Mk 13,2; 14,58 par. usw.) unterscheiden (zu weiteren Formen vgl. Bultmann: FRLANT 29 Erg.-H. 5 , 51 f). Im Zusammenhang mit seiner Verkündigung der nahen Gottesherrschaft tritt Jesus als (endzeitlicher) Prophet auf. - c) Ich-Worte. Diese Worte kennzeichnen Jesus als den von Gott Gesandten sowie seinen Auftrag. In ihnen spricht Jesus von seinem Kommen (z.B. Lk 12,49) und von seiner Person (z.B. Lk 14,26.27 par.). Sie sind größtenteils den hellenistischen Gemeinden zuzurechnen. - d) Gesetzesworte und Gemeinderegeln. Gesetzesworte beziehen sich auf das alttestamentliche Gesetz (Mk 3,4; 7,15) und haben als gesetzliche Bestimmungen oftmals einen imperativischen Charakter (Mk 10,11; 11,25). Zur Bildung von Gemeinderegeln wurden in den urchristlichen Gemeinden Herrenworte gesammelt, für die Gegebenheiten und Bedürfnisse einer religiösen Gemeinschaft uminterpretiert oder auch unter Berufung auf die Autorität des Erhöhten von christlichen Propheten neu geschaffen (z.B. Mk 9 , 3 3 - 5 0 ; Mt 18,1-35). - e ) G l e i c h n i s s e . Die Gleichnisüberlieferung kann sowohl für die Verkündigung Jesu als auch für Situation und Selbstverständnis der urchristlichen Gemeinden in Anspruch genommen werden. Versu-
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che, im einzelnen einen historischen Kern bzw. den „Sitz im Leben Jesu" in den Gleichnissen zu rekonstruieren, bleiben hypothetisch. Innerhalb der Gattung „Gleichnisse" sind zu unterscheiden: das einfache Bildwort, bei dem Bild und Sache ohne Vergleichspartikel nebeneinandergestellt werden (z.B. Mk 2,17.21; M t 5,14), die verwandte Metapher (Mt 5,13; 7,13 f), welche die sachliche Vorform der Allegorie ist; letztere enthält mehrere Vergleichspunkte zwischen Bild und Sache, wobei die Sache das Bild sprengt (vgl. Mk 4,13-20; M t 13,36-43). Steigerungen des Bildwortes sind die Hyperbel (Mt 5,29 f; 6,3; 10,30) und die Paradoxie (Mt 10,39; Mk 4,25; 10,44). Das Gleichnis im engeren Sinne ist ausführlicher angelegt als das Bildwort und fordert den Hörer bei der Schilderung eines häufig zu beobachtenden Sachverhaltes aus dem alltäglichen Leben zu eigenem Urteil heraus (Mk 4,26-29; Mt 11,16-19 par.). Es besitzt ebensowenig wie die unbildhafte Beispielerzählung notwendig (vgl. Lk 10,30-37) nur ein ,tertium comparationis'. Anders die Parabel, die einen .interessierenden' Einzelfall schildert und im Unterschied zum Gleichnis in der Vergangenheitsform erzählt wird. 3.3.2. Formen des Erzählstoffes (-»Formgeschichte/Formenkritik II.4). a) Wundergeschichten. Sind nach R. Bultmann Heilungs- von seltener berichteten Naturwundern (z.B. Mk 4,37-41; 6,45-52 par.) zu unterscheiden, so definierte M . Dibelius die Wundergeschichten teils als Paradigmen, teils als Novellen (vgl. Formgeschichte 55 f). Weitergehende Klassifizierungen (vgl. Theißen: StNT 8) sind: -»Exorzismen (Mk 1,21-28; M t 9,32-34), Therapien (Mk 1,29-31; Mt 8,5-13; Lk 7,11-17), wobei die Grenzen zwischen beiden Formen fließend sind; ferner Epiphanien (Mk 6,45-52; 9,2-10), Rettungs(Mk 4,34-41), Geschenk- (Lk 5 , 1 - 1 1 ; Mk 6,32-44) und Normenwunder (Mk 3 , 1 - 6 ; 2,1-12; Lk 13,10-17). - Die Intention der Wundergeschichten ist der Erweis der Macht des „Gottessohnes". Abgesehen von Heilungswundern (besonders Exorzismen) ist es wegen der allgemeinen Beliebtheit von Wundergeschichten in der antiken Welt wenig aussichtsreich, die Erzählungen mit historischem Geschehen um Jesus identifizieren zu wollen. - b) Legenden sind fromme Geschichten (Dibelius, a. a. 0 . 1 0 1 ff), die durch ihren erbaulichen Charakter von profanen Novellen zu unterscheiden sind (vgl. Heiligenlcgenden). Zu unterscheiden sind ätiologische Kultlegende (z.B. Einsetzung des Abendmahls: Mk 14,22 - 2 5 ) und Personallegende (z.B. Kindheitsgeschichte: Lk 1 - 2 ; M t 1,18-2,23; Auffindung des Reittieres: Mk 11,1 ff, und des Saales: Mk 14,12ff). - c) Leidensgeschichten (-» Leidensgeschichte Jesu). Entsprechend der besonderen Bedeutung von Jesu Leiden und Tod für den urchristlichen Glauben (s.o. Abschn. 2.3.1) wurde die Passionsgeschichte frühzeitig als selbständige Einheit tradiert. Ohne Konsens in der Forschung wird die Frage nach Anfang, Umfang und Entstehungsprozeß des vormarkinischen Passionsberichtes behandelt. Die Frage nach einem traditionsgeschichtlich eigenständigen johanneischen Passionsbericht wird in dem Maße zurückhaltend beantwortet werden müssen, in dem man mit einer Kenntnis der synoptischen Evangelien rechnet; so wird das Postulat einer übergreifenden vorsynoptischen Passionstradition wie auch einer separaten vorjohanneischen Passionsüberlieferung fraglich. Damit erübrigen sich alle Versuche, die postulierten Traditionen bei der Fahndung nach historisch älterem und zuverlässigerem Material auszuwerten. Die verschiedenartigen Fassungen der Passionsgeschichten in den neutestamentlichen Evangelien zeigen in einem hohen Ausmaß die gegenseitige Durchdringung von historischer Uberlieferung und glaubender Aneignung, so daß das Vertrauen in die historische Zuverlässigkeit als Illusion entlarvt ist. Vielfach wird auf das Alte Testament als den entscheidenden Darstellungshorizont des Passionsberichts zurückgegriffen. Einer einzelnen Tradition kommt keine exponierte Bedeutung zu. In Wahrheit sind verschiedenartige alttestamentlich-jüdische Traditionen für die Darstellung nutzbar gemacht worden. 3.3.3. Apophthegmata/Paradigmata/Chrien (—•Formgeschichte/Formenkritik II.3). Apophthegmata bzw. Chrien, als deren Variante sich die neutestamentlichen Apophthegmata betrachten lassen, sind in der Antike in zahlreichen Variationen nachzuweisen. Ihr
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kritischer Charakter, der Schwächen, Überzeugungen und allgemeine Konventionen in Frage stellt (Theißen, Lokalkolorit 123; vgl. Tannehill: ANRW 11/25.2, 1826, s. auch 1795), ließ sie zur bevorzugten Überlieferungsform der kynischen Diatribe werden. - Die literargeschichtliche Zuordnung dieser Gattung ist umstritten (Dibelius: Erzählstoff; Bultmann: Redestoff). Am zweckmäßigsten erscheint es, diese Gattung als Zwischenform in der Literaturgeschichte gesondert aufzuführen (vgl. Vielhauer, Geschichte 298 ff). Es handelt sich um kurze Erzählungen (Bultmann unterscheidet Streitgespräche, Schulgespräche und biographische Apophthegmata), in die ein Herrenwort als Pointe eingebettet ist bzw. die jeweils als Einleitung oder Erklärung von Herrenworten geschaffen worden sind; daher lassen sie sich als „gerahmte Herrenworte" bezeichnen. Den Anlaß zu ihrer Entstehung kann ein Ausspruch (Aussage oder Frage), eine Handlung (z. B. Mk 1,16-20) oder eine Mischform aus beidem (z.B. Mk 7 , 1 - 2 3 ) darstellen. Es ist mit jüdischem und hellenistischem Einfluß auf die Entstehung der synoptischen Apophthegmata zu rechnen, wobei die Frage, ob der überlieferte Stoff auf Jesus zurückgeht, am ehesten in Hinsicht auf das den Entstehungsvorgang initiierende Logion positiv zu beantworten ist. 3.4 Das
Johannesevangelium
3.4.1. Die Quellen des Johannesevangeliums. Einflußreich sind bis heute die Arbeiten von R. Bultmann, der als Vorlagen des vierten Evangelisten eine Sammlung von Wundergeschichten (Semeia-Quelle), eine Sammlung von Offenbarungsreden und die Passionsund Ostergeschichten vermutete. Das entstandene Werk sei durch einen kirchlichen Redaktor überarbeitet worden (Anfügung von Kapitel 21 und Einfügung kleiner Einheiten). Diese Theorie ist in ihrem rein quellenkritischen Ansatz ebenso überholt wie die Annahme, daß vorhandene Unstimmigkeiten auf Blattvertauschungen zurückgehen. Die Vermutung einer Quelle der Offenbarungsreden ist wegen fehlender Parallelversionen unbeweisbar, zumal eine sprachliche Abgrenzung zum Stil des Evangelisten nicht gelungen ist. Auch die Annahme der Semeia-Quelle hat in jüngerer Zeit begründeten Widerspruch erfahren. So wurde durch Schnelle die Einheit von „Doxa und Wunder" in der Theologie des vierten Evangelisten, die auch die „Semeia Jesu" umgreift, nachgewiesen (FRLANT 144,168 ff. 182ff). - Einen anderen Versuch, die Aporien des Joh zu lösen, stellt die Hypothese einer Grundschrift dar (schon Wellhausen). Gegenüber der Überproportionierung von literarkritischen Thesen wurde auf eine weitgehende sprachlich und stilistisch einheitliche Prägung des Joh aufmerksam gemacht (z. B. Schweizer: FRLANT 56 2 , 8 2 - 1 1 2 ; Ruckstuhl). Wenn auch der Evangelist Traditionen aufgenommen hat, die literarkritisch zu ermitteln sind, so ist als anerkennenswerter Kern der Grundschrifthypothesen im wesentlichen nur die Tatsache festzuhalten, daß die Abfassung des Joh die synoptischen Evangelien voraussetzt. Diesem Verhältnis wird in der neueren Forschung verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt, nachdem zumeist vermutet wurde, daß lediglich vorsynoptische Evangelientradition im Joh benutzt wurde (z.B. Bultmann: R G G 3 3, 841; Becker, Joh 1, 3 6 - 3 8 u.a.). Nachweise für die literarische Abhängigkeit des vierten Evangeliums von den synoptischen Evangelien finden sich bei M. Sabbe, F. Neirynck (vgl. Barrett, Joh 3 3 - 3 5 . 5 9 ff; Kleinknecht 364. 382 für Joh 13). Mag dies auch im einzelnen zu hinterfragen sein, so ist doch zu folgern, daß zwischen den synoptischen Evangelien und dem Joh eine Abhängigkeit besteht, die dem weiten Feld lebendiger, mündlicher interpretatorischer Bemühung um die Evangelienüberlieferung zuzuordnen ist. Was die Divergenz zwischen dem gemeinsamen Material angeht, so sind die Schuldiskussionen des johanneischen Kreises in Anschlag zu bringen. Leitende Kriterien für Entstehung und Gestaltwerdung dieses Stoffes, angewendet nicht erst durch den vierten Evangelisten, sondern schon durch die johanneische Schule, sind: Auseinandersetzung mit der Sekte Johannes des Täufers, den Juden', vor allem mit doketischen Lehrern, die schon in I Joh bekämpft werden (vgl. Strecker: NTS 32, 42). Das Joh ist ein konsequentes Ergebnis der johanneischen Schultheologie: Es ist das Evangelium des johanneischen Kreises. — Neben der Diskussion des
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Verhältnisses zu den synoptischen Evangelien ist die Unterscheidung von verschiedenartigen mündlichen und schriftlichen Traditionen im Vorstadium der Komposition des vierten Evangeliums eine bisher nur unzureichend bewältigte traditions- und redaktionsgeschichtliche Aufgabe. Für den sachgemäßen Zugang zum gegebenen Text ist die Differenzierung von Überlieferung und redaktioneller Arbeitsweise eine notwendige Voraussetzung. Ein offenes Problem bleibt darüber hinaus die Nachgeschichte des Joh (z. B. Joh 7,53-8,11; 21). Es müßte genauer untersucht werden, in welchem Ausmaß und mit welchem Bedeutungsgehalt die verschiedenen Repräsentanten der johanneischen Schule auf die dem Joh zugrundeliegende wie auch folgende Tradition eingewirkt haben; denn zweifellos spiegeln die Spannungen im vierten Evangelium die Diskussionen dieser Schule und Vorgänge in ihrer Geschichte wider. 3.4.2. Traditionen und literarische Gattungen im Johannesevangelium. Stellt das vierte Evangelium im Vergleich mit den synoptischen und außerkanonischen keine eigenständige Gattung dar, so sind auch die dort vorhandenen Literaturformen in ihm zu einem großen Teil nachzuweisen. Beachtet werden sollte für weitergehende Untersuchungen insbesondere, ob und inwieweit Formen der Tradierung mündlicher oder schriftlicher Uberlieferungen in antiken Schulen (wie sie in der Umwelt der frühen Christenheit sowohl im Hellenismus als auch im Judentum begegnen; vgl. Bousset; Culpepper) auf das Joh eingewirkt haben. Hiervon ist eine weitere Erhellung der Probleme der johanneischen Schulüberlieferung und ihrer Geschichte zu erwarten. 3.4.2.1. Formen des Redestoffes (-• Formgeschichte/Formenkritik II.3). Neben den Formen des Redestoffes, die in den synoptischen Evangelien begegnen, prägen die Struktur des Joh: a) „Ich-bin-Worte" (z.B. 6,35; 8,12). Diese Selbstaussagen des Logos-Offenbarers Jesus Christus lassen sich differenzieren in ausgeführte Bildwortc (6,35; 8,12; 10,11.14; 14,6; 15,1.5), indirekte Worte (mit Bezug auf Vorausgehendes: 6,41), eyä> Et'fti absolut (8,24.28: elliptisch) oder im Sinn einer (ursprünglich) profanen Rekognitionsformcl (vgl. 6,20). - b) Amen-amen-Worte. Das nur beim vierten Evangelisten belegte dfujv äfujv erweitert in feierlicher Sprache die entsprechende synoptische Amen-Formel (1,51; 3,3.5 u. ö.). - c) Reden des Offenbarers Jesus Christus. Auch hier ist nach einem Sitz im Leben in der johanneischen Schule zu fragen, nachdem sich die Rekonstruktion einer Quelle der Offenbarungsreden durch R. Bultmann nicht durchsetzen konnte. Mit den Offenbarungsreden sind die Abschiedsreden Joh 1 4 - 1 6 zusammenzufassen, wobei zu beobachten ist, daß die johanneischen Abschiedsreden formal verschiedenartiges Material enthalten. - d) Dialogszenen und Streitgespräche (z.B. 3,1 ff; vgl. 7,50; 19,38 ff). Wie bei den synoptischen Streitgesprächen (s. o. Abschn. 3.3.3) sind bei den johanneischen sowohl Erzählelemcnte als auch Redeelemente festzustellen. Allerdings zeigen insbesondere die Dialogszenen eine große Nähe zu den Offenbarungsreden, so daß von einer „durch Zwischenfragen untcrbrochene(n) Offenbarungsrede" gesprochen werden kann (Beutler 2554). Dem entspricht, daß auch in den Streitgesprächen die Antworten in Form längerer Reden vorgetragen werden. Beide Formen lassen sich aus einem Schulzusammenhang verstehen. - e) Rätsel und Mißverständnisse. Die Mißverständnisaussagen des vierten Evangeliums wurden schon von H. Windisch als johanneische Stileigentümlichkeit erkannt (199). H. Leroy (BiLe 9, 200) wies diese Technik der Gattung des Rätsels zu. Die Antworten auf die unwirklichen Rätsel des Joh sind abstrakt; sie können ohne eine entsprechende Aufklärung nicht verstanden werden. — f ) Gebete. Besondere Aufmerksamkeit wurde dem ,hohepriesterlichen Gebet' Jesu (Joh 17) gewidmet. Dabei wurde häufig auf Formen der gnostischen Literatur zurückgegriffen. - g) Predigt. Wenig aussichtsreich sind die Versuche, die johanneischen Texte auf die Formen der Predigt zurückzuführen. Gegenüber pauschalen Klassifizierungen ist eine differenzierende Bezeichnung einzelner Gattungen vorzuziehen (z. B. Reden des Offenbarers usw.). 3.4.2.2. Formen des Erzählstoffes,
a) Wunder (,Semeia').
Ein Vergleich mit den syn-
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optischen Wundergeschichten zeigt eine fortgeschrittene Interpretation, welche die Wunder als „Zeichen" der Offenbarung des Logos-Gottessohnes versteht (z.B. Joh 2,1 ff). - b) Legenden. Aufgezeigt werden können z. B. Berufungsgeschichten (Joh 1.35-51; vgl. Hahn: FS Schnackenburg 1974) und Erscheinungsgeschichten (Joh 20,14-18. 1 9 - 2 3 . 2 4 - 2 9 und im Nachtrag 21,1-14.15-17). Die Geschichte vom reichen Fischfang (Joh 21,1-14) wurde von Bultmann als ursprüngliche Ostergeschichte gedeutet, die Lk 5 , 1 - 1 1 in das öffentliche Leben Jesu zurückübertragen wurde. Sowohl die Motivierung des Fischfangs als auch die anschließende Mahlzeit sind als „novellistische Ausmalung" zu erkennen (KEK 2 20 , 545ff). Darüber hinaus sind mit der Nennung des Petrus und des Lieblingsjüngers (21,7) Züge der Personallegende verbunden. In 20,1-18 wird ein Erscheinungsbericht mit der Geschichte vom leeren Grab verknüpft (Bultmann: F R L A N T 29', 313). — c) Passionsgeschichte (s.o. Abschn. 3.3.2.c). 3.4.2.3. Der Prolog des Johannesevangeliums (-»Formeln, Liturgische, II.4.2.4). Trotz zahlreicher Untersuchungen zum Prolog des Joh ist wenig Konsens erreicht worden. Die Fragen nach literarischer Einheitlichkeit, schriftlicher oder mündlichcr Vorlage und religionsgeschichtlicher Herleitung sind mit dem Problem der Form und dem Verständnis des ganzen vierten Evangeliums eng verbunden. - Daß in den ersten Versen des Joh ein „ H y m n u s " (Deichgräber: StUNT 5, 118 Anm.3; vgl. Bultmann: KEK 2 " , 2. 4: „kultisches Gemeindelied"; ähnlich Wengst: S t N T 7 , 204 - 2 0 6 ) zitiert wird, ist weitgehend anerkannt. Umstritten ist jedoch, ob und wie ein vorchristliches Lied (Bultmann, Hintergrund: Täuferlied; vgl. Becker, Joh 1,75: „Strom des hellenistisch-jüdischen Weisheitsmythos") oder eine christliche Vorlage (z. B. Käsemann, Aufbau 166 u. ö.) rekonstruiert werden können. Eindeutigkeit ist im einzelnen nicht zu erreichen, zumal mit der Einflußnahme der johanneischen Schultradition bereits vor der abschließenden Redaktion durch den vierten Evangelisten zu rechnen sein wird. Immerhin scheinen V. 1 . 3 - 5 ein nahezu wörtliches Zitat zu sein, das vom Evangelisten in V. 6 - 8 sekundär interpretiert worden ist. Das Stichwort g (V. 9) nimmt V. 5 auf. Nicht eindeutig sind die Ursprünglichkeit und Ordnung von V. 10-12. Auf jeden Fall hat V. 12c.13 als sekundär zu gelten. Unsicher ist auch die Rekonstruktion des ursprünglichen Bestandes in V. 14-18. Die inhaltlichen Aussagen von V. 14 und 16 (auch von V. 18?) sind, da sie einen altertümlichen Eindruck machen, am ehesten auf die Vorlage zurückzuführen. Die Vorlage repräsentiert eine frühe Schicht der johanneischen Schultradition; so belegt es der Vergleich mit den Presbyterbriefen und dem I Joh. Gegenstand des Hymnus ist der göttliche Logos. Der philosophische und religiöse Synkretismus des 1. Jh. stellt die Strukturelcmcnte bereit, aus denen der Christushymnus des Johannesprologs geschaffen werden konnte. Erfolgte dies vor der Abfassung des Evangeliums, so handelt es sich um eine geprägte christliche Einheit; sie bildet einen grundlegenden Auftakt, in dem Joh 1,14 eine Schlüsselposition nicht nur für die Christologie des Hymnus, sondern für das gesamte vierte Evangelium wahrnimmt (gegen Becker, Joh 1, 77f). 4.
-»Apostelgeschichte
Ein wichtiges Thema der Acta-Forschung ist mit der literarkritischen Frage gegeben. Zustimmung erlangten in der Forschung der Vorschlag einer antiochenischen Quelle (in Act 6 - 1 5 ; z.B. v. Harnack, Apostelgeschichte; Bultmann, Frage421-423; H a h n , Quelle 327f) und einer Vorlage für die Schilderung der Reisen des Paulus („Wir-Quelle", die wiederum von einem „Itinerar" zu unterscheiden ist; zu den Quellentheorien der Act vgl. Dupont; Plümacher: T h R 49, 120-138; Schneider: H T h K V/1, 82-103; vgl. TRE 3,491-501). Läßt sich der Stoff der Wir-Quelle stilistisch zutreffender als ein literarisches Stilmittel verstehen (vgl. Plümacher: Z N W 68), so ist auch die von M. Dibelius (FRLANT 60) begründete These eines Itinerars der Paulusreisen kritisch zu bewerten (z. B. Conzelmann: H N T 7 2 , 6 f ; Haenchen: ZThK 58; Schille; anders z. B. Vielhauer: GGA 221,6-12). Anstelle des Versuches, mehrere Quellenschriften der Act zu rekonstruieren, ist vor allem die Kompositionsarbeit des Verfassers als redaktioneller Akt zu würdigen; dieser hat
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mündliche (und schriftliche) Einzeltraditionen — wenngleich auch die F o r m u n g der Stoffe durch den Verfasser nicht unterschätzt werden sollte (vgl. z.B. Act 11,27-30: Strecker, Jerusalemreise) — aufgenommen und in den größeren Z u s a m m e n h a n g eingefügt. Aufgen o m m e n e Traditionen sind z.B. Namenslisten (Act 1,13; 6,5; 13,1; 20,4), Wundergeschichten (z.B. Act 3 , 1 - 1 0 ; 9 , 3 6 - 4 3 ) , an f r o m m e n Personen interessierte (Personal-Gegenden (vgl. die Korneliuserzählung Act 10,1-11,18, die man zu den verschiedenen Bekehrungsgeschichten [s.auch Act 8 , 2 6 - 3 9 ; 9 , 1 - 9 ] rechnen kann). Weiter läßt sich außerchristliche (jüdische) Tradition nachweisen (Act 12,20-23; vgl. Josephus, Ant 19, 3 4 3 - 3 5 0 ) . Profane Anekdoten wie die von den Söhnen des Skeuas (Act 19,14-16) dienen „der Unterhaltung und keinerlei religiösem oder persönlichem Interesse" (Dibelius: F R L A N T 60, 23). Auch wenn man von der Rekonstruktion längerer Quellenschriften absieht, bleibt die Frage nach möglichen Sammlungen des Traditionsgutes gestellt (vgl. H a h n , Quelle 323). Offen ist, o b der Überlieferungsprozeß durch vorlukanische Sammlungen oder durch die Sammlung des Lukas selbst, der d a n n das Ergebnis seiner N a c h f o r schungen seiner Darstellung zugrunde gelegt hätte, zu erhellen ist. Lange Zeit herrschte in der neutestamentlichen Forschung die Meinung vor, d a ß Lukas mit Act (neben dem dritten Evangelium als einem Beispiel f ü r die G a t t u n g .Evangelium') eine in der zeitgenössischen Literatur analogielose Schrift geschaffen hat (vgl. z. B. Kümmel, Einleitung 132). Doch läßt die N u t z u n g literarischer Konventionen (vgl. den Prolog Lk 1,1—4 und dessen A u f n a h m e in Act 1,1) die Frage nach analogen antiken Gattungen begründet stellen. Der Nachweis von formalen Analogien für die Act m u ß die Bestimmung des gesamten lukanischen Doppelwerkes einschließen (z. B. Radi 352 f: Parallelen zu den vitae parallelae bei Plutarch; Talbert: SBL.MS 20, 125-140: Philosophenbiographien mit Bezug zur Schulgeschichte, wie sie in den Viten des Diogenes Laertius zu finden sind). Allerdings kann Act dem Kontext der antiken biographischen Literatur nicht spannungsfrei zugeordnet werden. Beachtenswert ist jedoch der Hinweis auf hellenistische Tendenzen (s.auch „hellenistic r o m a n c e " : Barrett: Luke 15; vgl. Köster: IDB Suppl. 555; ders., Einführung 755; anders Pervo, Profit: „historical novel"). Es ist wahrscheinlich, daß ,Lukas* durch hellenistische Konventionen beeinflußt war und sich in den „historiographischen Gepflogenheiten seiner Zeit a u s k a n n t e " (Plümacher: S t U N T 9). So zeigt es Plümacher auch durch die literaturgeschichtlichc Einordnung der Bildungsmotive, der Reden der Act, an der lukanischen Septuaginta-Nachahmung, dem archaischen Sprachstil, den Summarien u . a . (Einzelnachweise bei Plümacher: S t U N T 9, 32ff; vgl. ders.: T R E 3, 501 - 5 1 3 ; ders.: PRE Suppl. 14, 243 - 2 6 1 ) . Lukas stellt das Evangelium und die Act in einen literarischen Z u s a m m e n h a n g (vgl. den Rückbezug auf das Evangelium als npwxoQ köyoq in Act 1,1). Der erste Teil des spannungsvollen historischen Werkes besteht aus dem der populären Biographie analogen Evangelium, der andere aus Act, die bei deutlicher theologischer Motivation und Zielsetzung in Analogie zur historischen Monographie (Plümacher: T R E 3, 515; ders.: BEThL 48; Conzelmann: H N T 7l, 7; Hengel, Geschichtsschreibung 37) geschrieben w u r d e (gegen die Behauptung eines gemeinsamen „ g e n r e " von Act und Lk [Aune, N e w Testament 77.80] vgl. Pervo: SBL.SP 28; Roloff: T h R 55, 399). Theologische Geschichtsschreibung realisiert das Doppelwerk insofern, als der Verfasser eine qualifizierte (d. h. heilsgeschichtlich orientierte) Historie darstellen will, in der die Einwirkungen des Eschatons verifizierbar sind. 5.
Johannesapokalypse
Die Bezeichnung des letzten Buches des Neuen Testaments als -*,Apokalypse des Johannes' bzw. »Offenbarung des Johannes' (so auch die sekundäre inscriptio djioxäXüy/iQ 'Icüävvov) entspricht der .Uberschrift' in Apk 1 , 1 - 2 ; allerdings bezeichnet änoxäAvy/ig ursprünglich keine literarische G a t t u n g , sondern die (göttliche) Enthüllung von Verborgenem (vgl. Gal 1,12; 1 Kor 1,7 u.ö.; -»Apokalyptik/Apokalypsen). Auch wenn umstritten ist, o b ein durchgehendes „Formgesetz" f ü r die Literaturgattung Apokalypse nachgewiesen werden k a n n , so sind doch die folgenden Stilmerkmale weitgehend
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anerkannt (vgl. die Übersicht bei Vielhauer, Geschichte 4 8 7 - 4 9 0 ) : Pseudonymität, Visionsberichte (selten Audition), Bildersprache, Entschlüsselungen (Reflexionen und Deutungen der Bilder), Systematisierung (Schematisierung, häufig Zahlensymbolik) und Kombination kleinerer Formen (Geschichtsüberblicke in Futurform, Jenseitsschilderungen, Thronsaalvisionen und die ursprünglich nicht apokalyptischen Gattungen Paränese [s.o. Abschn. 2.4.], Gebete bzw. liturgische Texte [s.o. Abschn. 2.3.2] und Hymnen [2.3.3.]; zu neueren Versuchen, die Gattung ,Apokalypse' hinsichtlich Form, Inhalt und Funktion zu definieren, vgl. Aune: Semeia 36). Darüber hinaus wird der briefliche Rahmen (l,4f.[6]; 22,21) zum Anlaß genommen, die Apk als „Rundbrief" zu deuten (Karrer; vgl. Roloff: Z B K . N T 18, 15 f u.ö.; auch Schüssler-Fiorenza: CBQ 39, 358; dies.: NTS 23, 425). Allerdings begegnet der briefliche Charakter nur in den Rahmenpartien und in den Sendschreiben Apk 2 - 3 . Außerhalb dieser Passagen fehlt die typische briefliche Anrede. Wegen ihres Hauptteils, der eine Folge von Visionsberichten darstellt, wie auch der benutzten apokalyptischen Formen, die für die Bestimmung der Gattung ausschlaggebend sind (gegen Köster, Einführung 684; Mazzaferri 223 ff. 382 f), ist die Apk als eine ,Apokalypse' zu klassifizieren, die mit Briefelementen versehen ist. Unbestreitbar ist die Apk ein christliches Buch, das auf der Grundlage des Bekenntnisses zum Christusgeschehen geschrieben ist (vgl. Moore; Lohse: NTS 34; anders Bultmann, Theologie 525; vgl. Collins 342f). Als Quelle (vgl. die Übersicht bei Böcher: EdF 41 3 , l l f ) benutzt der wahrscheinlich Pseudonyme Verfasser (vgl. Joachim Becker; Vanni 28 Anm. 26; angespielt ist mit der Autorenangabe „Johannes" [Apk 1,1.4.9] wohl auf den auch bei Papias bezeugten Verfasser der kleinen Johannesbriefe, den Presbyter Johannes, nicht auf den Evangelisten Johannes, da eine Bezugnahme auf diesen angesichts der Unkenntnis des vierten Evangeliums beim Apokalyptiker unwahrscheinlich ist) das Alte Testament, aber auch gängige jüdische und christliche apokalyptische Überlieferungen. Besonders in 7,1—8; 1 1 , 1 - 1 3 und 12, außerdem in 13f; 17f und 21 f ist Traditionsgut eingearbeitet worden, ohne daß im einzelnen zu entscheiden ist, ob es sich um mündlich oder schriftlich überlieferte Fragmente handelt. Auffällig sind die Parallelen zu der synoptischen Apokalypse (vgl. Schüssler-Fiorenza: NTS 23, 4 2 0 - 4 2 4 ) . Dabei sollte keineswegs die durchdachte Komposition des Apokalyptikers übersehen werden, wie auch die schöpferische Gestaltung des Autors kaum zu überschätzen ist. Kennzeichnend hierfür sind Akklamationen, Doxologien und Lieder, die sich an Gott oder das Lamm richten und dem Glauben und der Hoffnung der bedrängten Gemeinde Ausdruck geben (z. B. 4,8; 5,9 f; 11,15; 12 f; 15,3 f; vgl. Jörns). Dies gilt auch für andere liturgische Formen-, allerdings ist vor einer Überbetonung der Bedeutung gottesdienstlicher Formen zu warnen (vgl. Taeger: VF 29, 67 Anm. 17). Wenngleich die Formen urchristlicher prophetischer Rede verhältnismäßig unbekannt sind, wird versucht, die sieben Sendschreiben Apk 2 f auf dem Hintergrund der urchristlichen Prophetie zu verstehen (vgl. Hahn: FG Kuhn 366-391; Müller: StNT 10, 47ff; ders., Bestimmung 601 mit Anm. 6a; Berger: ZNW 65, 214ff: Sendschreiben als Prophetenbriefe). Zur Bezeichnung der dem Gericht Verfallenen verwendet der Seher Lasterkataloge (Apk 9,21; 21,8; 22,15; s.o. Abschn. 2.4.). Weitere Formen sind Visionen, Makarismen (Apk 1,3; 14,13; 16,15; 19,9; 20,6; 22,7.14), Paränese, Gebete u.ä. Noch nicht überzeugend ist das Verhältnis der Apk zum übrigen johanneischen Schrifttum dargestellt worden (z.B. Taeger: BZNW 51, 82, der die Apk lediglich als Zeugen für die „Nachgeschichte der johanneischen Bildworte", nämlich vom Wasser des Lebens heranziehen kann). Sind auch zahlreiche Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, so haben diese doch eine unterschiedliche Wertigkeit (vgl. Böcher, Verhältnis; ders., Johanneisches). Sie müßten in den größeren Rahmen der Traditionsgeschichte der johanneischen Schule eingeordnet werden. 6. Der Kanon des Neuen
Testaments
Die hier behandelten Schriften wurden in einem bis in die Mitte des 4. Jh. andauern-
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den Sammlungsprozeß zum neutestamentlichen Kanon (-»Bibel III.2) zusammengefügt. Die Anfänge dieser Entwickung, die in das 1. Jh. zurückreichen (s. T R E 6,26), liegen trotz verschiedener Überlegungen zur Entstehung eines Vier-Evangelien-Kanons (v. Campenhausen: BHTh 39,201-207) oder zum Corpus Paulinum (s.o. Abschn. 2.6.) weiterhin im dunkeln. Auch über die weitere Entwicklung konnte noch kein Konsens erreicht werden (zur Kanonforschung vgl. Metzger 11-36). Der Versuch, den Ausgangspunkt der Kanonwerdung bei Marcion zu suchen (nach v. Harnack: T U 45 und Knox, wieder v. Campenhausen: BHTh 39, 174; vgl. Vielhauer, Geschichte 785), überzeugt angesichts vormarcionitischer Ursprünge nicht (zur Kritik vgl. T R E 6,37 f). Allerdings verweist diese These zu Recht darauf, daß die Auseinandersetzung um die rechte Lehre, wie sie im 2. Jh. besonders mit der -»Gnosis geführt wurde, für die Kanonbildung einflußreich gewesen ist (möglicherweise ist auch die kirchliche Konfrontation gegenüber dem -»Montanismus einzubeziehen; vgl. Paulsen 22); dies gilt, auch wenn der Nachweis nur partiell geführt werden kann und die Deutung manche Variation offenläßt (dazu Bauer/Strecker: BHTh 102, 205-230.249-252.261-263). Zurückhaltung ist daher auch gegenüber der klassischen Auffassung geboten, daß durch Amt, Bekenntnis und Kanon die frühkatholische Kirche angesichts häretischer Bedrohung konstituiert wurde (v. Harnack, Dogmengeschichte I, 353 -425); sie ist durch die Berücksichtigung der umfangreichen frühchristlichen Traditionsgeschichte zu modifizieren, ohne daß die Kanonbildung stringent aus innerkirchlicher Entwicklung deduziert werden könnte (so Kümmel, Notwendigkeit 69 f). Das Moment der Verbreitung, aber auch der Zufall mögen neben der überwiegend behaupteten apostolischen Herkunft für die Anerkennung einer Schrift mitverantwortlich sein. Sind die Entstehung und Entwicklung des Kanons im einzelnen undurchschaubar, so ist doch gesichert, daß wesentliche Teile des neutestamentlichen Kanons gegen Ende des 2. Jh. anerkannt waren. Die Schriften des neutestamentlichen Kanons sind Teil der frühchristlichen Literaturgeschichte. Obwohl wegen ihrer besonderen Bedeutung für die kirchliche Verkündigung bis in die Gegenwart hinein ihre gesonderte literarhistorische Betrachtung verantwortet werden kann, ist die frühchristliche Literaturgeschichte nicht grundsätzlich auf die Darstellung der kanonischen Schriften des Neuen Testaments zu beschränken; denn die Kanonbildung hat seit dem 2. Jh. eine künstliche Grenze zwischen gleichartigen Schriften gezogen, die es zu überwinden gilt. So entspricht es der schon von G. Krüger und W. Wrede vorgebrachten Forderung, daß die Grenze des Kanons bei der Auslegung des Neuen Testaments konsequent überschritten werden müsse (s.o. S.338); dem ist in verschiedenen neueren Arbeiten Folge geleistet worden (z.B. Vielhauer, Geschichte). Im Interesse der literarhistorischen Fragestellung ist eine Zurücksetzung der außerkanonischen Schriften verfehlt (so z.B. Metzger 271.287). Theologisch entscheidend ist das Kriterium der Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi. Diese ist das zentrale Anliegen der frühchristlichen Autoren. Nach Maßgabe ihres Zeugnisses lassen sich die theologischen Aussagen der frühchristlichen Schriften werten und ist die Frage nach Einheit und Verschiedenheit des neutestamentlichen Kanons gestellt. Literatur Allgemein: David E. Aune, T h e N T in its Literary Environment, 1987 (Library of Early Christianity 8). - Walter Bauer, Rechtgläubigkeit u. Ketzerei im ältesten Christentum, mit einem Nachtrag hg. v. G. Strecker, '1964 (BHTh 10). - D e r s . , Griech.-dt. Wb. zu den Sehr, des N T u. der frühchristl. Lit., hg. v. Kurt u. Barbara Aland, Berlin/New York '1988. - Klaus Berger, Hell. Gattungen im N T : A N R W II/25.2 (1984) 1 0 3 1 - 1 4 3 2 . 1 8 3 1 - 1 8 8 5 . - D e r s . , Formgesch. des NT, Heidelberg 1984. - Hans v. Campenhausen, Die Entstehung der christl. Bibel, 1968 (BHTh 39). - Adolf Deißmann, Licht vom Osten. Das N T u. die neuentdeckten Texte der hell.-röm. Welt, Tübingen *1923. - Martin Dibelius, Z u r Formgesch. des N T (außerhalb der Evangelien): T h R 3.NF 3(1931) 207 - 2 4 2 . - Ders., Gesch. der urchristl. Lit. Neudr. der Erstausg. v. 1926 unter Berücksichtigung der Änderungen der engl. Übers, v. 1936, hg.v. Ferdinand H a h n , 1975 (TB 58 = Kaiser-Taschenbücher 89, 3 1990). - Ders., Die Formgesch. des Evangeliums, hg.v. Günther Bornkamm, Tübingen '1971. - G r e c o - R o m a n Literature and the NT. Selected Forms and Genres, hg. v. David E. Aune, 1988 (SBibSt 21).- Adolf Jülicher,
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Carl Andresen u.a., Tübingen 1979, 85 - 9 6 . - Ders., Der erste Brief an die Korinther, 2Pietismus hat, indem er den auf Bekehrung und Heiligung ausgerichteten Glauben des einzelnen betont, die liturgischen Auflösungstendenzen begünstigt, ohne daß aus dem von ihm favorisierten Gottesdienst der kleinen Gruppe neue positive Ansätze für den Gemeindegottesdienst erkennbar geworden wären. Die Agenden wurden zwar kaum verändert, geschweige denn abgeschafft; aber an die Stelle eines strengen Agendenzwangs trat die Ermunterung zu einem lockeren Umgang. Das Abendmahl wurde mehr und mehr aus der Liturgie des Hauptgottesdienstes ausgegliedert — eine Entwicklung, die schon im 16. Jh. eingesetzt hatte. Einen Sonderfall pietistischer Liturgie stellt der Gottesdienst der -•Brüdergemeine des Grafen -•Zinzendorf dar. Im Unterschied zur allgemeinen Zeitstimmung verteidigte er die „heiligen Zeremonien", rühmte er die alten Kirchengebete, wandte er sich gegen allzu lange Predigten und forderte er das Singen im Gottesdienst. Die beiden gottesdienstlichen Bücher für die Zusammenkünfte der Brüdergemeine hießen „Liturgienbuch" und „Litaneienbüchlein", auch wenn von einer Wiederherstellung alter gottesdienstlicher Formen nicht die Rede sein konnte.
Die - » A u f k l ä r u n g schließlich bedeutete in der evangelischen Liturgiegeschichte einen vorher so noch nicht festgestellten Niedergang. Doch werden selbst in den vom Geist der Aufklärung bestimmten Gottesdiensten Impulse erkennbar, die in der Folgezeit Be-
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achtung verdienten. Im Unterschied zum Pietismus kann man hier von einer liturgischen Bewegung sprechen, die allerdings von fragwürdigen theologischen Voraussetzungen ausging und darum unklare Zielvorstellungen entwickelte. Zunächst wurde das liturgische Erbe als mit der Vernunft nicht vereinbar radikal abgebaut. Doch wurde nach wie vor der -»Predigt große Bedeutung, wenn auch vor allem unter pädagogischen Gesichtspunkten, beigemessen. Die Gemeinde wird dabei zum „Publikum". Obwohl man sich in dieser Epoche am wenigsten der überkommenen Liturgie verpflichtet fühlte, dringen (wie schon bei Zinzendorf) die Worte „Liturgie" und „Liturg" nach mehr als 1000 Jahren wieder in den kirchlichen Sprachgebrauch des Abendlandes ein. Es erscheinen Publikationen wie Liturgische Blätter, Liturgische Beyträge, Liturgische Journale, Liturgische Magazine. Dafür wurde nun der Ausdruck „Gottesdienst" verdächtig. Man ersetzte ihn durch „Gottesverehrung" (Basedow, Salzmann) oder später durch „öffentlicher Religionskult". Im Ablauf des Gottesdienstes sollte alles mit der Predigt „in harmonische Verbindung" gebracht werden. Die Inhalte der nun „Kanzelrede" oder „Religionsvortrag" genannten Predigt wurden in praktische Lebensfragen hinein säkularisiert. Dem Altarsakrament stand man verständnislos gegenüber. Zahlreiche Privatagenden haben im Prinzip der liturgischen Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. Doch ist nicht erwiesen, daß die vielgestaltigen Vorschläge und Entwürfe allesamt in die Praxis umgesetzt wurden. Man kann nicht bestreiten, daß die Liturgik der Aufklärung den Menschen ihrer Zeit „das alte Evangelium auf neue Weise" sagen und die Gebete dem Sprachempfinden der Zeitgenossen angleichen wollte. Doch konnte dies nicht überzeugen, wenn die theologischen Grundlagen nicht mehr stimmten. Die Gottesdienste auf dem Land waren von dieser geistlichen Aushöhlung weniger betroffen als in den Städten. Die allgemeine Absage an den Geist der Aufklärung, wie sie zum Ende des 18. Jh. einsetzt, führte auch zu einer Neubesinnung auf das Wesen des Gottesdienstes und zu einer Restauration alter gottesdienstlicher Formen. Die theologische Arbeit am Gottesdienst geschah sowohl durch Friedrich Schleiermacher und seinen Schülerkreis als auch durch die Vertreter eines von der Erweckungsbewegung getragenen lutherischen -*Konfessionalistnus. Schleiermacher sieht den Gottesdienst nicht mehr als Mittel sittlich-religiöser Erziehung (wirksames Handeln), sondern als eine notwendige Lebensäußerung der religiösen Gemeinschaft: „Kultus" ist darstellendes Handeln, insofern er im Sinne einer präsentischcn Eschatologie Lobpreis der Liebe Gottes ist. Bei Schleiermacher bricht zum ersten Mal sehr konsequent das terminologische Gegenüber von Liturgie und Predigt auf, so daß Liturgie nicht mehr den ganzen Gottesdienst, sondern nur alle die der Predigt vorausgehenden und die ihr nachfolgenden gottesdienstlichen Stücke bezeichnet. Dieses Mißverständnis hat sich bis in die Gegenwart nicht ausräumen lassen. Neben Schleiermacher befaßte sich auch die lutherische Theologie des 19. Jh., in der sich die Liturgik als Teil der Praktischen Theologie auszubilden begann, neu mit dem Gottesdienst. Theodosius -»Harnack spricht vom Gottesdienst wieder als dem „Cultus", durch den die „Selbsterbauung der Kirche" stattfindet und in dem „Gottes Gabe und des Menschen Hingabe" gleichermaßen bestimmend sind. Historische Untersuchungen und Entwürfe einzelner (-»Kliefoth, Höfling, Ae. L. Richter, -»Löhe) werden zur Grundlage für die alsbald zahlreichen neuerstellten Agenden. Die Agende, die die stärksten Anstöße für gottesdienstliche Reformen vermittelte, war die vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. inspirierte und teilweise auch unter seiner Mitwirkung entstandene Kirchenagende für die Hof- und Domkirche in Berlin (1821, in verbesserter Gestalt 1822). Aus seiner Agende für die Hofgottesdienste, mit der er auch der Union zwischen Lutheranern und Reformierten ihr gottesdienstliches Fundament geben wollte, wurde allmählich eine Agende für die preußische Landeskirche (1829-1838), wobei für die verschiedenen Provinzen deren besondere Traditionen berücksichtigt wurden. Der Widerstand, der ihrer Einführung entgegengesetzt wurde, gründete u. a. in der Abneigung gegen die theologisch nicht ausgereifte Union. Auch andere Landeskirchen schufen sich Zug um Zug ihre Liturgien: Bayern 1854/79
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(durch Höfling), Baden 1836/58/77, Hannover 1889/1901, Sachsen 1880, Mecklenburg 1867 (die von Kliefoth neu aufbereitete Kirchenordnung von 1650). Württemberg hatte in seinem Kirchenbuch nur eine Sammlung von Gebeten. Einige Landeskirchen ohne feste Liturgie griffen auf die Agenden anderer Kirchen zurück. Die Einführung solcher Agenden war jetzt nicht mehr alleiniges Recht des Landesherrn als des summus episcopus, sondern gehörte in die Zuständigkeit der in ihrer kirchenleitenden Verantwortung aufgewerteten (General- oder Landes-)Synoden. Daß „Liturgie" trotz um die Jahrhundertwende abgeschlossener Agenden als bleibende Gestaltungsaufgabe erkannt wurde, ist den -*Liturgischen Bewegungen zu danken, die von unterschiedlichen Positionen aus die Frage nach der rechten Ordnung und Gestalt des evangelischen Gottesdienstes wachhielten. Eine bedeutsame Rolle spielt dabei die 1923 von Wilhelm -»-Stählin und Karl Bernhard Ritter (1890-1968) begründete Berneuchner Bewegung (mit der 1931 aus ihr hervorgegangenen -*Michaelsbruderschaft). Sie versteht ihre liturgische Arbeit als einen wesentlichen Bestandteil der inneren Erneuerung der evangelischen Kirche und der praxis pietatis im Alltag. Von ihrer Ordnung der Deutschen Messe (1948) gingen wichtige Anstöße aus. Das gilt in ähnlicher Weise für die kirchliche Arbeit von —• Alpirsbach. Sie will, auf der Arbeit am Gottesdienst gründend (Verbindung von Liturgie und Dogma, Pflege der Gregorianik), die ganze Breite kirchlichen und menschlichen Lebens erfassen. Einen Markstein in der liturgischen Entwicklung der deutsch-lutherischen Kirche stellt das vierbändige Agendenwerk der VELKD dar. Es ist die Frucht langjähriger Arbeit der unter dem inspirierenden Vorsitz von Christhard Mahrenholz (1900—1980) gegründeten und aus namhaften Experten sich zusammensetzenden Lutherischen Liturgischen Konferenz Deutschlands (LLKD). Es wurde in den Jahren 1951-1963 veröffentlicht und nach den jeweils notwendigen Synodalbeschlüssen in allen der zu dieser Zeit der VELKD angehörenden Gliedkirchen verbindlich eingeführt. U.a. hat es der Einbeziehung des Abendmahls in die Liturgie und der Ausbildung des Eucharistischen Gebets vorgearbeitet, die Möglichkeit der Mitwirkung verschiedener Personen und Gruppen im liturgischen Dienst in Erinnerung gerufen und dem Ordinarium ein an traditionellen Leseordnungen ausgerichtetes Proprium de tempore zugeordnet. Die lutherische Kirche hat mit ihrer Leitagende auch in die liturgische Arbeit nichtlutherischer Kirchen (Evangelische Kirche der Union und andere) und der Freikirchen eingewirkt, da in der Lutherischen Liturgischen Konferenz deren Vertreter als vollgültige Mitglieder mitarbeiten. In kurzem zeitlichen Abstand erschien die Agende für die Evangelische Kirche der Union (I 1959, II 1963). Auch die Landeskirchen der Pfalz, von Baden, Hessen-Nassau, Kurhessen-Waldeck, Württemberg und Oldenburg brachten neue Agenden (bzw. „Gottesdienstliche Gebete") heraus. Schon 1951 hatte das Moderamen des reformierten Bundes (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) das Kirchenbuch („Gebete und Ordnungen für die unter dem Wort versammelte Gemeinde") vorgelegt. Ebenso sind in der Herrnhuter Brüdergemeine, in der Evangelisch-methodistischen Kirche, bei den deutschen Altkatholiken und in den evangelischen Kirchen außerhalb Deutschlands neue Agenden erschienen. Bemerkenswert ist, daß die meisten Schweizer Kirchengemeinden ihren Agenden die Bezeichnung „Liturgie" gaben. Das gilt auch für die reformierten und lutherischen Gemeinden Frankreichs. Diesem liturgischen Willen zur Ordnung, zur kirchlichen Gemeinsamkeit und zur Bindung an die Tradition stehen seit Beginn der sechziger Jahre Bestrebungen gegenüber, die den Willen zur Freiheit, zur Vielfalt und zur Rücksicht auf den Menschen unserer Zeit mit seinen Fragen und Nöten, seinem Empfinden, seinen soziologischen Einbindungen, seinen Verstehens- und Darstellungsmöglichkeiten bekunden. Diese Gruppen, die sich vor allem auf den Kirchentagen und in der kirchlichen Jugendarbeit zu Wort meldeten und ihren Glauben mit politischem Engagement verbanden, hätten sich mißverstanden gefühlt, wenn man sie als eine von vielen liturgischen Bewegungen bezeichnet hätte. Im Gegenteil kündigte sich hier ein Protest gegen Liturgie an, insofern darunter eine formale
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Ordnung mit starren Vorschriften, präformierten Texten und traditionsgebundenen Ausdrucksformen gemeint war. „In alledem ist aber nicht daran gedacht, den offiziellen Gottesdienst abzuschaffen, vielmehr entweder zu reformieren oder eigene Formen daneben zu setzen" (Müller 54). Dennoch war es bezeichnend, daß die Bezeichnung Liturgie als diesem Bemühen nicht angemessen den agendarischen Gottesdiensten zugewiesen wurde und dabei einen kritisch abwertenden Beiklang bekam. Es ging jetzt um Gottesdienste „mit modernen Stilmitteln" oder „in neuer Gestalt" (Fantasie für Gott), um Kommentargottesdienste, Themengottesdienste, Familiengottesdienste. Es gab das „Politische Nachtgebet" und die „Liturgische Nacht". Zweifellos blieben auch solche ohne überkommene Rituale ablaufende Gottesdienste bestimmten Ordnungsschemata unterworfen. Sie liefen im Stil „erweiterter Predigtgottesdienst" ab. Das Politische Nachtgebet entwickelte die Schritte „Information, Meditation, Reflexion, Aktion". Diese Gottesdienste konnten aber nicht in sonntäglicher Regelmäßigkeit, sondern wegen des notwendigen Aufwands der Vorbereitung nur von Fall zu Fall gehalten werden. Dabei konnten die Mitwirkenden die Vorbereitung („Gottesdienst als Lernprozeß") als in sich besonders geistlich ertragreich empfinden. Diese Gottesdienste standen unter hohem Erwartungsdruck bei denen, die sich unbefriedigt von der Liturgie bzw. vom agendarischen Gottesdienst abgewandt hatten. Sic lösten zeitweise eine Euphorie aus, die nicht lange durchzuhalten war. Denn der mit der Neugestaltung von Gottesdiensten verbundene schöpferische Aufwand kann nicht permanent geleistet werden und läßt nach dem Gesetz der Wiederholbarkeit fragen. Außerdem boten nicht voll ausgereifte Entwürfe theologisch-inhaltlich Angriffsflächen. Dennoch wurde dadurch ein legitimes gottesdienstliches Verlangen der Menschen unserer Zeit bewußt gemacht. Diese neue Gottesdienstbewegung wird in zunehmendem Maße reflektiert (Werner Jetter, Peter Cornehl, Karl-Heinrich Bieritz). Im Gefolge psychoanalytischer Deutung wird neu über Fest und Feier nachgedacht (TRE 11,134ff). „Hier spielt vor allem dasjenige Verständnis des Festes eine Rolle, das im Fest nicht die Flucht aus dem Alltag, sondern im Gegenteil die festliche Darstellung dessen, was gerade im Alltag gilt, ausdrücklich zu machen sucht" (Rössler 361 f). Es wird die Aufgabe der Zukunft sein, die Konzeptionen der Liturgie und der kreativen gottesdienstlichen Feier wieder einander zuzuführen und die Berechtigung dessen, was sich als Liturgie bewährt hat, an der rechtcn Stelle herauszuarbeiten. Ansätze dazu sind gemacht. Die Revision des lutherischen Agendenwerks ist in Gang gekommen und zielt auf einen flexiblen und schöpferischen Umgang mit der Agende. Sic bietet Texte an, die dem Sprachempfinden des Zeitgenossen gerecht zu werden versuchen. Man praktiziert ein Nebeneinander (und Ineinander) von Gottesdiensten in gebundenen und solchen in freien Formen. Die Denkschrift Versammelte Gemeinde wurde zu einer Erschließungshilfe für den Gebrauch der Liturgien. Sie zeigt auf, daß sich bei den scheinbar unterschiedlichsten Gottesdienstordnungen gleichartige Grundmuster erkennen lassen und daß sie von dieser Grundstruktur dennoch in Beziehung zueinander gesehen werden können. Mit dem Grundsatz, daß bei jeder Liturgie „Grundstrukturen" und „Ausformungsvarianten" zu unterscheiden seien, werden falsche Alternativen abgebaut. Man spricht von der „schmiegsamen Liturgie" (Versammelte Gemeinde 6f) und von der Möglichkeit der „Verflüssigung" verfestigter liturgischer Form. Allenthalben wird eine Stärkung der liturgischen Kompetenz der den Gottesdienst Verantwortenden und Vollziehenden angestrebt, damit der Gottesdienst zeitgemäß und situationsgerecht vor sich gehen kann. 6. Ökumenische
Konvergenzen
(Die
Lima-Liturgie)
Die 1982 erfolgte Verabschiedung der Konvergenzerklärung über Taufe, Eucharistie und Amt des Weltrats der Kirchen (Lima-Papier) wurde mit einem gemeinsam gefeierten Gottesdienst abgeschlossen, in dessen Liturgie die in den Konvergenztexten erreichte Gemeinsamkeit ihren Ausdruck finden sollte (Lima-Liturgie). Sie beansprucht als „Konvergenzliturgie" nicht, eine zukünftige Einheitsliturgie zu sein. Sie lädt vielmehr dazu ein,
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daß sich die Konfessionen mit ihrer unterschiedlichen liturgischen Tradition in ihr wiederentdecken, und will zum A n s t o ß für die F r a g e werden, welche liturgischen R e f o r m e n für eine Konfession jeweils angezeigt sein könnten (vgl. Eucharistie 2 8 ) . Eine „gewisse liturgische Vielfalt" wird als eine „bereichernde Tatsache a n e r k a n n t " . Die Eucharistie wird trinitarisch entfaltet als Danksagung an den Vater, als Anamnese oder Gedächtnis Christi, als Anrufung (Epiklese) des Geistes, dann als Gemeinschaft ( C o m m u n i o ) der Gläubigen und als M a h l des Gottesreiches (eschatologischer Aspekt). Die Lima-Liturgie, in englischer Sprache gefeiert, hat vor allem die Einflüsse der anglikanischen Tradition und R e f o r m a u f g e n o m m e n . Das gilt besonders für das Eucharistische Gebet. D o c h haben auch die Liturgiereformen des II. Vatikanischen Konzils und die Ordnung der Eucharistie von Taize sowie der Rückgriff a u f die altkirchliche Tradition die Gestaltung des Abendmahlsteils beeinflußt. So ergeben sich aus einer ökumenischen Z u s a m m e n s c h a u gegenwärtiger Liturgien folgende wesentliche Gestaltungselemente, in denen „Liturgie als Ausdruck ökumenischer K o n v e r g e n z " (Frieder Schulz) sichtbar wird. (Die Bezifferung der liturgischen Stücke folgt der Lima-Liturgie. Bei der Bezeichnung ist an erster Stelle der traditionelle Terminus technicus eingesetzt.) (1) Introitus - Einzug. Die ostkirchliche Liturgie kennt zwei besondere Formen des Einzugs, die nicht den Beginn des Gottesdienstes ausformen, sondern im Ablauf des Gottesdienstes das Kommen Gottes in die Welt symbolisieren: den „kleinen Einzug" bei der Liturgie der „Katechumenen" (Wortteil) und den „großen Einzug" bei der „Liturgie der Gläubigen" (Sakramentsteil). Beim kleinen Einzug schreiten Priester und Diakon, der das Evangelienbuch trägt, von der nördlichen Türe kommend durch das Schiff und die „königliche T ü r " zum Altar. Brennende Lichter werden vorangetragen. Gebete, Segensworte und Gesänge („Trishagion") begleiten diese Prozession. Beim „großen Einzug", der den Gang Christi zu Kreuz und Auferstehung symbolisiert, trägt der Priester den Kelch, der Diakon auf seinem Haupt den Diskos mit dem geweihten Brot. Nach Durchschreitung des Kirchenraums werden die geweihten Gaben auf dem Altar abgelegt. - In der katholischen Liturgie zieht der Priester (mit den Ministranten) zu Beginn des Gottesdienstes ein. Er erweist, bevor er Platz nimmt, dem Altar Verehrung. Im evangelischen Gottesdienst erfolgt ein Einzug nur bei festlichen Anlässen. Mit Introitus bezeichnet man insbesondere den Gesang zum Eingang. Darunter wird (neben dem Eingangslied) ein gregorianisch oder motettisch ausgeführter Psalm verstanden. Dieser Psalm (oder Psalmteil), an den sich eine Doxologie (Lobpreis) und zwar das Kleine Gloria, das Gloria Patri, anschließt, wird von einem Leitvers (Antiphone) umrahmt. (Auch das Präludium der Orgel und das Läuten der Glocken gehören im weitesten Sinn zum Introitus.) (2) Salutatio - Begrüßung. Die aus biblischen Grußformeln gebildete Salutation begegnet mehrmals im Gottesdienst (jeweils am Beginn eines neuen Abschnitts). Ihre Zahl wurde in der römischen Messe inzwischen verringert. Der Gruß kann grundsätzlich auch mit freien, aber biblisch geprägten Worten geschehen und mit einer knappen Einführung in die Feier verbunden werden. Auch für die evangelische Liturgie wird die Verlegung der jetzt noch vor dem Kollektengebet stehenden Salutation an den Beginn des Gottesdienstes erwogen. Der evangelische Gottesdienst kennt auch den Kanzelgruß und -segen. (3) Confiteor - Sündenbekenntnis. Ein allgemeines Schuldbekenntnis. Dieses liturgische Stück hat sich verhältnismäßig spät ausgebildet. Es ist aus den priesterlichen Gebeten des Accessus und des Stufengebets herausgewachsen. Das Confiteor begegnet auch als „Offene Schuld" der Gemeinde nach der Predigt oder als Hinführung zum Kyrie. (4) Absolutio - Lossprechung. Sie erscheint in den Liturgien sowohl als deprekative oder optativische Formel (Misereatur Dominus tui/vestri), dann indikativisch als allgemeine Gnadenverkündigung (Gott erbarmt sich unser) und schließlich als persönliche Lossprechung (Absolvo te/vos). Letztere ist nur innerhalb einer geschlossenen Beichthandlung gerechtfertigt. Eine in den Hauptgottesdienst einbezogene „allgemeine Beichte" (mit ausführlichem Confiteor und Absolution) wird von römisch-katholischer wie evangelischer Seite als problematisch empfunden. (5) Kyrie eleison - Herr, erbarme dich. Der biblisch bezeugte Ur-Ruf um Gottes Erbarmen und Huld. Er kann allein stehen, trinitarisch erweitert werden (mit einem eingefügten Christe eleison) wie auch mehrmals wiederkehrender Gebetsruf sein, der jeweils litaneiartig vorgetragene Anliegen aufnimmt (Ektenie). Dieses mit einem kollektenartigen Lobpreis durch den Liturgen abgeschlossene Fürbittgebet ist als Chrysostomusgebet im 19. Jh. auch in die evangelische Liturgie übernommen und als Fürbittgebet nach der Predigt gesprochen worden. Die Litanei als längeres Fürbittgebet, bei dem der Chor oder der Liturg die Anliegen nennt und die Gemeinde refrainartig mit dem Kyrie antwortet, nennt man Kyrielitanei; vgl. auch (16).
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(6) Gloria in excelsis - Ehre sei Gott in der Höhe, Hymnus angelicus. Ein mit dem weihnachtlichen Lobgesang der Engel verbundener Hymnus, der als Große Doxologie oder Großes Gloria von dem Kleinen Gloria des Gloria Patri (Introitus) zu unterscheiden ist. Ursprünglich im Stundengebet gesungen, wird das Gloria heute allgemein an Sonn- und Feiertagen außerhalb der Advents- und Fastenzeit angestimmt. (7) Oratio - Kollektengebet, Tagesgebet. Das die Gebete des Anrufungsteiles (ritus initiales) zusammenfassende Gebet des Leiters des Gottesdienstes (oratio collecta). Sein Inhalt ist vom Kirchenjahr bestimmt. In der Lima-Liturgie bereits zum „Wortgottesdienst" gehörig und dort breiter als üblich ausgeformt. (8) Lectio - „Erste Schriftlesung" (Altes Testament bzw. Apostelgeschichte). Die Bibellesung im Gottesdienst hat sich in bis zu vier Lesungen von Abschnitten der Heiligen Schrift entfaltet. Uber die mittelalterliche Messe hatte sich die Lesepraxis auf eine „Epistel" (10) und das „Evangelium" (12) eingespielt. Die Wiedergewinnung wichtiger, in der Liturgie bisher nicht berücksichtigter Abschnitte (besonders aus dem Alten Testament und der Act) war Anliegen der katholischen Liturgiereform. Deren Leseordnung ist auf drei Jahre (Lesejahr A, B, C) ausgelegt. Das Missale weist jetzt eine 1. und eine 2. Lesung sowie das Evangelium aus. In der lutherischen Liturgie, die zwei Schriftlesungen (einschließlich Evangelium) kennt (daneben oft noch die zusätzliche Verlesung des Predigttextes), ist die nötige Vielfalt biblischer Texte durch eine auf sechs Jahre ausgelegte „Ordnung der Predigttexte" gesichert. Statt der Epistel kann von Fall zu Fall die alttestamentliche Lesung vorgetragen werden. Nach den Erfahrungen evangelischer Praxis könnten drei Lesungen (davon mindestens zwei ohne Auslegung) fast eine Uberforderung der Gemeinde sein. (9) Graduale -Psalmgcsang oder Mcditationslied (Zwischengesang = Antwortpsalm, Gradualoder Wochen- oder Hauptlied). Die liturgische Tradition weist eine Vielzahl von musikalischen Antwortmöglichkeiten auf das gehörte Wort Gottes auf. Das Graduale hat seinen Namen davon, daß nach der 1. Lesung ursprünglich ein Psalm vom Kantor von den „Stufen" des Ambo vorgetragen wurde. In diesem Zusammenhang wäre auch die Sequenz, ein aus dem Halleluja erwachsener Gesang und ursprünglich ein wortloser Jubilus, als Wurzelboden des späteren Kirchenliedes zu nennen. (10) Epistel (2. Lesung). In der katholischen Liturgie sind in der Osterzeit die bisher nicht berücksichtigten Lesungen aus der Apostelgeschichte vorgesehen. (11) Halleluja - Lobet den Herrn. Eine Akklamation, mit der Christus in vielen Liturgien vor dem Evangelium begrüßt wird. In der evangelischen Liturgie wurde das Halleluja durch seine Einordnung vor dem Graduallicd nur noch als Antwortgesang auf die Epistel verstanden. (12) Evangelium. Diese Lesung wird in vielen Liturgien von einem auf Christus bezogenen doxologischen Rahmen umgeben. (13) Hontilie - Predigt. Während im evangelischen Gottesdienst fast ausschließlich auf der einen biblischen Text auslegenden Predigt bestanden wird, unterscheidet man im römisch-katholischen Sprachgebrauch zwischen der Homilie, die „aus einem heiligen Text die Geheimnisse des Glaubens und die Richtlinien für das christliche Leben" (Liturgiekonstitution Nr. 52) darlegt, und dem Sermo, der eine Predigt über einen Heiligen, über ein Fest oder aktuelle Ereignisse darstellt. Die Homilie ist an Sonn- und Feiertagen vorgeschrieben. Die Stellung der Predigt vor dem Credo ist in der evangelischen Liturgie nicht üblich, aber als möglich vorgesehen. (14) Meditative Stille. Sie soll in der Lima-Liturgie an dieser Stelle dem vielfach vorgebrachten Anliegen entsprechen, dem Gottesdienstteilnehmer mehr Zeit zur Ruhe, zu persönlichem Gebet und zur Verarbeitung des Gehörten zu lassen. Die Gebetsstille ist im Ordo Missae beim einleitenden Bußgebet und vor dem Tagesgebet vorgesehen. Im evangelischen Gottesdienst wird sie oft vor Beginn der Predigt (Suspirium) und zum Ende des Fürbittgebets praktiziert. (15) Credo - Nicänokonstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis. Die Ostkirche akzeptiert das Symbol nur ohne das filioque. Im evangelischen wie im katholischen Gottesdienst kann das Credo auch in der Form des -»Apostolischen Glaubensbekenntnisses gebetet werden. Da im evangelischen Gottesdienst das Credo vor der Predigt steht, ist das Predigtschlußgebet und vor allem das Predigtlied eine Form der Antwort auf das gehörte Wort Gottes. (16) Oratio fidelium - Oratio universalis, Fürbitten, Allgemeines Kirchengebet. Verschiedene Ausführungsmöglichkeiten, bei denen sich mehrere Beter abwechseln können, sind alte Tradition (Prosphonese, Ektenie, Litanei, Diakonisches Gebet; vgl. auch [5]). (17) Offertorium - Vorbereitung, Gabenbereitung, Proskomidie, Dankopfer. In der orthodoxen Liturgie geschieht sie in stark symbolisierter Form vor dem Beginn der Liturgie. In der römischen Liturgie wird sie als feierliche Herbeibringung von Brot und Wein sowie Wasser unter Gebet zum Altar gehalten. Die Reformation hat das vorgefundene Offertorium samt dem größten Teil des Kanons mit gutem Grund beseitigt. Eine evangelisch zu rechtfertigende Gabenbereitung bedarf noch der Ausgestaltung. Vorläufig ist das Offertorium bisher nur in Rudimenten vorhanden: Das während eines Liedes eingesammelte Dankopfer wird vom Liturgen am Altar niedergelegt. Dieser Vorgang
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kann mit einem Gebet abgeschlossen werden. Die bereits auf dem Altar stehenden Abendmahlsgeräte werden (unter stillem Gebet) für die Feier zugerüstet. (18) bis (26): Eucharistisches (Hoch-)Gebet - Prex eucharistica. (18) Dialog. Eine (seit -»Hippolyt von Rom bezeugte) dreigliedrige Gebetsaufforderung mit Responsen, eingeleitet mit der Salutatio (2), dem das Sursum corda folgt. In der katholischen wie in vielen evangelischen Liturgien im Gebrauch. (19) Präfation. Sie knüpft an die vorausgegangene Akklamation Vere dignum an und hat einen dreigliedrigen Aufbau: Dank, Darstellung der Heilstaten Gottes und Einladung zum Sanctus. (20) Sanctus. Der Lobgesang Jes 6,3 und M t 21,9/Ps 118,26. Mit ihm beteiligt sich die Gemeinde am Eucharistischen Gebet. Sie schließt sich damit in den Lobgesang der Vollendeten und der himmlischen Mächte ein. (21) Epiklese I. Epiklese ist die Anrufung Gottes bzw. das feierliche Ausrufen seines Namens und insoweit eine Gesamtdimension des Gottesdienstes, im besonderen aber die Bitte um den Heiligen Geist. Er wird für Menschen und für Gottes Gaben erbeten. Die Epiklese I ist in der Lima-Liturgie die der „göttlichen Liturgie" zugehörige Bitte um Gottes Geist für die Abendmahlselemente mit dem Ziel der Wandlung. In ähnlicher Weise wird sie im Ordo Missae gebraucht. Die Gabenepiklese und erst recht die Bitte um „Wandlung" können keine Bestandteile der evangelischen Liturgie sein. Die evangelische Frömmigkeit kennt aber durchaus die Bitte um Gottes Segen für die von ihm empfangenen Gaben, allerdings immer im Zusammenhang mit Personen: Benedic nobis dona, oder: Benedic ttos donis. (22) Konsekration - Einsetzung, Wandlung. Die Worte der Einsetzung nach den vier biblischen Berichten (im Missale z.T. etwas erweitert) in gebetsmäßiger Einbindung. Sie bezeichnen in der römischen Messe den Augenblick der Wandlung. Im evangelischen Gottesdienst haben sie auch Verkündigungscharakter. An sie wird oft der Ruf „Geheimnis des Glaubens" und eine Akklamation der Gemeinde angefügt („Deinen Tod, o Herr, verkünden wir . . . " ) . (23) Anamnese - das Gedächtnis (der großen Taten Gottes). Sowohl eine Gesamtdimension des Gottesdienstes, im besonderen dann auch das sich an den Einsetzungsbericht anschließende (und das Schlußwort „Gedächtnis" aufnehmende) Gebet, das auf Tod, Auferstehung und Erhöhung Christi Bezug nimmt. Die Anamnese ist ein in der lutherischen Liturgie bisher fakultativer Gebetsteil, mit dem das Eucharistische Gebet vervollständigt wird. (24) Epiklese II (vgl. [21]). Hier die Bitte um den Heiligen Geist für die Empfänger des Sakraments. Sie ist besonders ausgeprägt im Dritten Hochgebet der römischen Messe. Eine in der lutherischen Liturgie vor den Einsetzungsworten stehende Bitte (fakultativ), die auf den gläubigen Empfang des Abendmahls zielt. Die in diesem Gebetsteil der Lima-Liturgie enthaltene Bitte um „gnädige Annahme der Eucharistie bzw. der Opfergaben" (Darbringung), die auch die römischen Hochgebcte kennzeichnet, ist in der evangelischen Liturgie nicht denkbar. (25) Kanonfürbitten - Gedenkbitten, Intercessiones. Sie sind Fürbitten, die die Dimension der Communio Sanctorum (einschließlich des Gedächtnisses der Heiligen) zur Geltung bringen. In der katholischen Liturgie werden im Eucharistischen Gebet die Namen derer genannt, „die an der Eucharistiefeier besonders beteiligt sind, weil sie Oblationen dargebracht haben oder weil Oblationen für sie dargebracht worden sind" (Adam/Berger 110). Diese Fürbitten werden Diptychen genannt. Die evangelische Tradition kennt an dieser Stelle keine Fürbitten, zumal in der orthodoxen und katholischen Liturgie hier eine Verbindung mit der Darbringung von Opfergaben hergestellt wird. (26) Doxologie - Abschluß, Lobpreis. Das Eucharistische Gebet mündet in einen eschatologischen Ausblick und in eine Doxologie. Damit schließt sich der große Bogen der Danksagung. Zu (18) bis (26). Die Ausformung eines Eucharistischen Gebets wird in der lutherischen Theologie als eine „nicht notwendige", aber „angemessene" Entfaltung des „Stiftungswortes im Abendmahl" gesehen (Brunner 350). In reformiert geprägten protestantischen Kirchen wird dies jedoch als ein Verlassen der reformatorischen Linie empfunden. Selbst in lutherischen Kirchen erscheint die Liturgie der Abendmahlsfeier nach wie vor oft verkürzt auf die Stücke (18) (19) (20) (22) und (27), wobei gemäß Luthers Deutscher Messe und den ihr folgenden Bugenhagenschen Ordnungen Norddeutschlands auch die Reihenfolge (27) + (22) begegnet. (27) Gebet des Herrn - Vaterunser. Mit einer kurzen Einleitung; hier besonders im Sinne eines Gebets zur Kommunionsvorbereitung. (28) Pax - Friedensgruß. Möglich ist die Einleitung durch ein Friedensgebet. Der Gruß wird bekräftigt durch ein „Zeichen der Versöhnung und des Friedens". (29) Fractio panis - Brechen des Brotes. Mit den Worten von I Kor 10,16. Aus einer einst praktischen Notwendigkeit wurde ein symbolischer Vorgang, der in der römischen Liturgie bei den Einsetzungsworten konstitutiv ist. Das Zerbrechen einer großen Zelebrationshostie (während der Konsekration) war hier und da auch lutherischer Brauch. Vor Beginn der Austeilung und verbunden mit dem Agnus Dei würde dieser Vorgang wieder seine ursprüngliche Funktion gewinnen. (30) Agnus Dei - Anrufung Jesu als des Gotteslammes (Joh 1,29) mit der Bitte um Erbarmen
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bzw. Frieden. Ursprünglich (in vielfacher Wiederholung vorgetragene) Akklamation zur Brotbrechung, später Gesang zum Beginn der Austeilung. (31) Kommunion - Austeilung. Die Spendung des Altarsakraments (mit festgelegten Spendeformeln). Sie kann eingeleitet werden mit kurzen Gebeten und Einladungsformeln. Während der Kommunion sind Lieder und Musica sub communione vorgesehen. (32) Postcommunio - Dankgebet, Schlußgebet. In der knappen Form einer Kollekte. (33) Lied — Dankpsalm, Loblied. Es könnte auch nach (31) eingeordnet werden. (34) Sendungswort - Entlassungsruf. Die Grußformel „Gehet hin in Frieden" (Ite, missa est) kann durch biblische oder freie Mahnungen erweitert werden. (35) Segen. Als trinitarischer oder Aaronitischer Segen. Die römische Messe hat den Segen vor dem Sendungswort.
Bei den evangelischen „Amtshandlungen" (einschließlich des Sakraments der Taufe) bzw. bei den Sakramenten und Sakramentalien der katholischen Kirche begegnet der Segen (im Sinne der Einheit von Zuspruch und Fürbitte) auch als auf Einzelpersonen verdichtete Segenshandlung (Einsegnung) mit dem Kreuzeszeichen und der Handauflegung. 7. Katholisches
und evangelisches
Liturgieverständnis
Das Liturgieverständnis der Ostkirchen und der römisch-katholischen Kirche stimmt trotz einiger durch die unterschiedliche Tradition begründeten Verschiedenheiten weithin überein. In den christlichen Kirchen des Ostens ist Liturgie nicht ein Teilbereich des Glaubens und der Theologie, nicht eine Ausdrucksform geistlichen Lebens neben anderen, sondern: „Orthodoxe Denkweise, Theologie und Spiritualität finden ihren genuinen orthodoxen Ausdruck in der Liturgie" (Kallis 42). Theologie besteht letztlich in der Beschreibung und Erklärung der „göttlichen Liturgie". „Das Verständnis der Liturgie ist die Krone der geistlichen Erbauung. Orthodoxie und Liturgie sind im Verständnis der Väter der Ostkirche nahezu identisch. Wenn überhaupt, dann kann sich die Rechtgläubigkeit der Kirche nicht anders als in ihrem Gottesdienst darstellen. An der Liturgie wird die Orthodoxie einer Kirche gemessen, „d. h. die Berechtigung ihres Anspruchs, Theologie der orthodoxen Kirche zu sein" (Felmy 12). Der Gottesdienst hat Theophaniecharakter. In ihm findet eine „cschatologische Aufhebung der Grenzen zwischen Himmel und Erde" (Felmy 16) statt. Die Liturgie, die etwas von der Schönheit der Ewigkeit widerspiegelt, bringt die Gemeinschaft von himmlischer und irdischer Kirche zum Ausdruck. Sie ist ein ganzheitlichcr Vorgang, ein den ganzen Menschen umfassendes Ereignis, das nicht allein durch intellektuelle Bemühung erfaßt werden kann. Dieses Liturgieverständnis wird grundsätzlich von der römisch-katholischen Kirche geteilt. Von Papst -»Paul VI. wurde die Liturgie der östlichen Kirchen als „Schule der Wahrheit und Feuerbrand der Liebe" gerühmt (Schmidt 124). Liturgie wird in unzähligen Variationen als „heiliges Geschehen", als „Feier der Mysterien Christi" und ähnlichen Formulierungen beschrieben. Analog zu evangelischem Verständnis wird sie dann auch als Ineinander von Wort und Antwort, als „Dialog zwischen Gott und Mensch" (E.J. Lengeling) definiert. Übereinstimmung besteht auch darin, „daß die Initiative bei der Liturgie von Gott ausgeht", daß Liturgie deshalb „primär von der absteigenden (katabatischen) Strukturlinic geprägt" (Adam 13) ist, daß es in ihr aber auch die aufsteigende (anabatische) Linie gibt und geben muß. Noch zur Zeit des II. Vaticanum wurde formuliert: „Während die meisten neueren Autoren die Liturgie vor und nach ,Mediator Dei' nur latreutisch definieren, beziehen andere auch ihre soterische Seite in die Definition ein" (Lengeling: HThG 2,82). Diese Komplementarität hat sich inzwischen voll durchgesetzt. Der noch nicht überwundene Dissensus zur reformatorischen Liturgieauffassung besteht in der Feststellung, daß Liturgie „Vollzug des Priesteramtes Christi" ist (Art. 7), daß die Kirche mit ihrer Liturgie in der „Aktionsgemeinschaft des Hohenpriesters Jesus Christus und seiner Kirche zur Heiligung des Menschen und zur Verherrlichung des himmlischen Vaters" (Adam 13) steht. Auch die unterschiedliche Auffassung über die
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Verbindlichkeit der Liturgie trennt die Konfessionen. Das Recht, die Liturgie zu o r d n e n , liegt in der römisch-katholischen Kirche weiterhin beim Papst und nach M a ß g a b e des Rechts auch beim Bischof oder bei Bischofsvereinigungen (Art. 22). Letztere können regional „Anpassungen festlegen" (Art. 38). Andererseits darf niemand sonst, auch wenn er Priester wäre, nach eigenem G u t d ü n k e n in der Liturgie etwas hinzufügen, wegnehmen oder ändern (Art. 22,3). Doch werden davon abgesehen viele Gemeinsamkeiten erkennbar. Liturgie ist die heilige H a n d l u n g , deren Wirksamkeit kein anderes Tun der Kirche nach Rang und M a ß erreicht (Art. 7). M a n vergleiche damit die Äußerung Karl -»Barths: „ D e r christliche Gottesdienst ist das Wichtigste, Dringlichste und Herrlichste, was auf Erden geschehen k a n n " (Barth 190). Doch darf d a r a u s auch nach katholischem Verständnis kein Ausschließlichkeitsanspruch der Liturgie abgeleitet werden. „Die im Gottesdienst empfangene G a b e darf nie zur Selbstgenügsamkeit führen, sondern m u ß zur Hingabe im und am Reich Gottes werden. Damit wird der Vorwurf, die Hochschätzung der Liturgie führe zur ,Verkultung des christlichen Lebens', eindeutig e n t k r ä f t e t " (Adam 16). „Liturgie" bezeichnet primär die Eucharistie (gegliedert in liturgia verbi und liturgia eucharistica), wird aber nicht auf die eucharistische Feier eingegrenzt gesehen. Diese steht im Mittelpunkt. Um sie herum liegen wie konzentrische Kreise die anderen Sakramente, die Sakramentalien, Wortgottesdienste, das Stundengebet (liturgia horarum), Andachten, Feierstunden, Prozessionen als Liturgie im weiteren Sinne. Im Sprachgebrauch der evangelischen Kirche begegnet das Wort Liturgie mit unterschiedlichen Bedeutungsgehalten. Sehr weit gefaßt kennzeichnet es neben Martyria und Diakonia eine der drei Lebensäußerungen der christlichen Kirche. Neben „ Z e u g n i s " und „Dienst", die sich an die Menschen wenden, steht der „Lobpreis", der auf Gott gerichtet ist. Er darf - wie Zeugnis und Dienst - nicht auf einen Akt im Leben eingeschränkt werden, sondern ist eine seiner Grundbestimmtheiten. „Liturgie" wird dann auch als Gebet der Kirche verstanden und in Verbindung damit zunehmend (wie im katholischen Sprachgebrauch) mit dem „Gottesdienst" im engeren Sinn identifiziert als Bezeichnung für die „Versammlung im N a m e n Jesu", insofern diese eine ausgeprägte Gestalt hat und einer bestimmten O r d n u n g folgt. Für Liturgie ist charakteristisch, daß sie nach Gestalt und Inhalt neben dem Zeugnis der Schrift besonders der Tradition und der Ökumenizität der Kirche verpflichtet ist. Hier liegen ihre Stärke und ihre Grenze. Die Begriffe Liturgie und Gottesdienst sind also vielfach austauschbar, weil Liturgie wie Gottesdienst verstanden wird im Sinne des „gläubigen Empfangens dessen, was Gott t u t " und der gläubig betenden Antwort darauf „in der Gegenwart und Vermittlung Christi und seines Geistes" (Lengeling: H T G 2,79). Das seit Schleiermacher in der evangelischen Kirche begegnende Mißverständnis der Liturgie als des die Predigt umgebenden (und mehr oder weniger entbehrlichen) R a h m e n s von Liedern und Gebeten oder gar das Verständnis der Liturgie als „Altardienst" und als gregorianischer Altargesang des Pfarrers (im Wechsel mit der Gemeinde) ist d a r u m heute im Schwinden. Dennoch ist der Terminus „Liturgie" innerhalb der evangelischen Kirche ein Reizwort geblieben, das die Frage auslöst, o b diese Bezeichnung, weil zu „sehr zur Bezeichnung kultischer Verrichtung in Anspruch g e n o m m e n " (Mezger 92), statt klärend zu wirken, nicht Verwirrung stiftet und o b d a r u m auf seinen Gebrauch nicht überhaupt verzichtet werden sollte. Ein weiterer Einwand: Im Unterschied zur Bezeichnung „Gottesdienst", der als „der Dienst Gottes an der G e m e i n d e " und als „der Dienst der Gemeinde vor G o t t " (Brunner 194 ff. 253 ff) verstanden werden k a n n , lasse das Wort „Liturgie" (wie auch die mehr und mehr sich durchsetzende Bezeichnung „Eucharistie") einseitig oder bevorzugt den Menschen bzw. die Kirche als das Subjekt des Gottesdienstes erscheinen. Solche Einwände würden zum einen auch die Ersatzbezeichnungen „ F e s t " und „Feier" betreffen. Z u m andern lebt gottesdienstliches H a n d e l n unbestritten davon, „die einmalige, vollkommene Leiturgia Jesu Christi zu verkündigen" (Strathmann 235). Christus ist der Liturg schlechthin (Hebr 8,2). Sein Erlösungswerk wird durch menschliches Handeln hindurch („Solches tut zu meinem Gedächtnis") für uns wirksam, aber nicht beeinträch-
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tigt oder ergänzt. Denn dem menschlichen „Liturgen" kommt nach evangelischem Verständnis keine besondere, von seinem Amt abzuleitende sacerdotale Qualität zu, wenn er auch durch das rite vocatus (CA 14) mit besonderer Verantwortung für den stiftungsgemäßen Vollzug des Gottesdienstes betraut ist. So wird das Wort Liturgie heute auch im evangelischen Bereich wieder mit zunehmender Unbefangenheit gebraucht, zumal seit sich das römisch-katholische Verständnis nach dem Vaticanum wieder stärker dem evangelischen angenähert hat. Außerdem wird in der Ökumene, zumal in der englischsprachigen Welt, der Begriff liturgy mit unbekümmerter Selbstverständlichkeit verwendet (bis hin zur Kenntnis genommenen Lima-Liturgie). Schließlich tragen gerade in den reformierten Gemeinden des deutschen Sprachraums die Gottesdienstordnungen die Bezeichnung „Liturgie" (im Sinne von Agende), so daß es nicht mehr theologische oder konfessionelle Gründe sind, aus denen heraus eine Vermeidung dieses Begriffes angeraten oder praktiziert wird. In der Tat sind es oft emotionale Gründe, die eine Aversion gegen Liturgie auslösen. Das Wort Liturgie assoziiert im Protestantismus Ordnung, wo nach Freiheit und Kreativität verlangt wird. Es assoziiert Einheit und Einheitlichkeit, wo Vielfalt und Verschiedenheit zu ihrem Recht kommen wollen. Liturgie assoziiert Überzeitlichkeit, wo Wirklichkeitsnähe und Konkretion gefragt sind. Es assoziiert spröde Fremdheit, wo Beheimatung und Vertrautheit ersehnt werden. Es assoziiert umgekehrt Gewohnheit und Verkrustung, wo der Aufbruch zum Außerordentlichen und Unerwarteten ersehnt wird. Es assoziiert Stilisierung und Symbolisierung, wo ungezwungene Natürlichkeit geboten erscheint. Es assoziiert reine Objektivität, wo Aktualität und Konkretion nottun. Der Begriff hat also eine Wirkungsgeschichte, die wahrscheinlich durch Fremdheitserfahrungen im ostkirchlichen und römisch-katholischen Gottesdienst mitbestimmt ist. Eben um der Gefahr einer historisierenden und mystifizierenden Vereinseitigung des Gottesdienstes zu begegnen, wurde Liturgie als angemessene Bezeichnung in Frage gestellt und dafür „Fest oder Feier" vorgeschlagen. Doch auch diese Begriffe können einerseits nicht vor mißverständlicher anthropozentrischer Interpretation bewahrt werden. Andererseits werden in der katholisch-orthodoxen Spiritualität diese im deutschen Protestantismus als Gegensätze oder Alternativen aufgebauten Begriffe „Liturgie" und „Fest" bzw. „Feier" in der Formel „die liturgische Feier als Fest" (Corbon 104) unverkrampft zusammengebunden. Wichtiger ist, der Aversion gegen „das Liturgische" auf den Grund zu kommen. Es will tatsächlich beachtet sein, daß der christliche Gottesdienst immer im Spannungsfeld von Ordnung und Freiheit, von Wahrheit und Liebe, von Tradition und Situation (Ernst Lange) gefeiert wird. Der Blick in die jüngste Liturgiegeschichte lehrt, daß mit den Agendenreformen nach dem Zweiten Weltkrieg vornehmlich (und damals wohl auch notwendig) die Aspekte der Ordnung (I Kor 14,40), der Wahrheit (Evangeliumsgemäßheit) und der Tradition (Bewahrung des Bewährten) zur Geltung gebracht worden sind. Doch sind dies nicht die einzigen Gestaltungselemente. Primär ist das schöpferische Wirken des heiligen Geistes. Der Gottesdienst wird von der Zusage Jesu getragen, die Gaben des Geistes zu schenken und wirksam werden zu lassen. Die Versammlung im Namen Jesu kann deshalb nur ein sich in der Freiheit des Geistes vollziehendes Geschehen sein. Die das gottesdienstliche Geschehen ordnenden und strukturierenden Elemente konnten aber von Anfang an aus überkommenem Ritual gewonnen werden (jüdische Synagogenliturgie, Psalmentradition) oder haben sich als Neuschöpfung aus dem Geist des Evangeliums entwickelt. Der Ordnungsruf des Apostels I Kor 14,40 ergeht unter der Voraussetzung, daß Gottes Geist am Werk ist. Umgekehrt ist festzuhalten, daß das Wirken des Geistes Gottes an das von Christus ausgerufene Evangelium und an die von ihm gestifteten Sakramente gebunden ist. Die Liturgie ist daher nicht immer nur ein zweiter Akt, der dem Wirken des heiligen Geistes folgt. Der heilige Geist wirkt vielmehr im Vollzug der von Christus gestifteten „Agenda", doch nur insoweit, als die sie Vollziehenden offen sind und bleiben für den verheißenen Geist. Nur so werden dann auch die
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Formen gefunden werden, die einerseits eine „Identität" des Evangeliums verbürgen und andererseits eine „Relevanz" in der jeweils vorgegebenen Situation gewährleisten (vgl. Moltmann 12). Das Spannungsfeld, in dem sich Liturgie vollzieht, hat man in den Begriffspaaren Doxologie und Diakonie, Ritual und Kreativität, Tradition und Situation, Distanz und Engagement, Entlastung und Tat, Ecclesia und Diaspora, Segnung und Sendung auszudrücken versucht (Voigt 461 ff). Im Bemühen um die rechte Liturgie können nicht Form und Inhalt, Ordnung und Geist, Äußeres und Inneres, Ewiges und Aktuelles als Gegensätze gegeneinander ausgespielt werden. Beides muß sich in der notwendigen Weise ergänzen und durchdringen. Es will auch bedacht sein, daß in der Liturgie Strukturen, Texte (bzw. Sprache), Musik und nonverbale Kommunikation (Ritual und Symbol) ineinanderwirken. Das zwingt zur Differenzierung. Die evangelische Liturgie der Gegenwart bedarf weniger hinsichtlich ihrer Strukturen und ihrer Musik als vielmehr hinsichtlich ihrer Texte und ihrer nonverbalen Elemente einer Überprüfung. Wer sich mit Fragen der liturgischen Ordnung befaßt, neigt dazu, sie überzubewerten und sich in Details zu verlieren. Die „Satzungen der Menschen" (Mt 15,2.6) werden wichtiger als der Gehorsam gegen Gottes Willen und die Liebe zu den Menschen. Andererseits tendierte der Protestantismus im Wissen um diese Gefahr zu einer Vernachlässigung und „Vergleichgültigung" der Formen und Ordnungen (Braun 84 f). So mußte der Protestantismus im Urteil katholischer Liturgiker zeitweise als die „hérésie antiliturgique" (Guéranger 105) erscheinen. „Vergleichgültigung" ist geboten, wenn liturgische Entscheidungen, sofern sie nicht die Grundsubstanz des Evangeliums berühren, zu heilsnotwendigen Fragen gesteigert bzw. zu Notae confessionis erklärt werden und deshalb Kirchengemeinschaft verhindern. „Die Frage, in welcher Gestalt die Kirche im einzelnen ihren Gottesdienst hält, ist ein für allemal aus der Heilsfrage herausgenommen" (Brunner 271). Andererseits: „Vergleichgültigung" ist lieblos, sofern sie dem Menschen Hilfen zum angemessenen Ausdruck seines Glaubens und das Angebot der dem Evangelium gemäßen Ordnung schuldig bleibt in der Sorge, man könne ihn bevormunden. Hier liegt das Wahrheitsmoment der pädagogischen Intentionen in Luthers Gottesdienstentwürfen. Peter Brunner führt über die rein pädagogische Begründung hinaus, wenn er von der „Unentrinnbarkeit der Gestalt" (Brunner 269) spricht. Evangelische Liturgie gehört (entgegen katholischem Liturgieverständnis) in den Bereich der Freiheit. Die durch sie bewirkte Gemeinsamkeit muß auf dem Boden der Wahrheit und der Liebe erwachsen. In ihr wird zwischen „unverfügbaren Grundelementen" und den „Gottesdienstordnungen" unterschieden (Bischofskonferenz der VELKD 1977). „ Gottesdienstordnungen . . . sollen der Klarheit und Verständlichkeit der Handlungen dienen, die Verbundenheit der Gemeinden fördern und vor Unordnung und Willkür schützen. Gottesdienstordnungen sind als menschliches Werk unvollkommen und wandelbar." Darum darf nicht „mehr Verbindlichkeit der Formen gefordert werden, als um der Liebe und des Friedens willen nötig ist" (Agende 7). „Von den Ordnungen soll nur abgewichen werden, wenn und soweit dieses nach der Überzeugung der Gemeinde in ihrer besonderen Situation geboten ist und ohne Anstoß bei ihren Gliedern und bei anderen Gemeinden geschehen kann"(a.a.O. 8). Die Frage nach der rechten Liturgie erweist sich damit nicht nur als die Frage nach der rechten Ordnung, sondern ebensosehr als die ihres rechten Vollzugs. Sie setzt eine ganzheitliche Einübung, eine liturgische praxis pietatis und den Erwerb einer liturgischen Kompetenz voraus. Liturgie umgreift auch in evangelischer Sicht nicht nur die „Messe", nicht nur die Eucharistie, nicht nur die Hauptgottesdienste, sondern auch die Tauffeiern, die Predigtgottesdienste, Gebetsgottesdienste, Amtshandlungen, die Ordinations-, Einsegnungs-, Einführungs- (Introduktions-) und Einweihungshandlungen. Selbst gottesdienstliche Feiern in offenen Formen, die der freien Gestaltung viel Raum bieten, sind dennoch als Ausdruck liturgischen Geschehens zu werten. Auch bei den ->Jungen Kirchen wird „Liturgie" akzeptiert und praktiziert. Dort ist der Gottesdienst weiterhin „geprägt von einem christozentrischen Ansatz sowie be-
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s t i m m t e n V a r i a t i o n e n eines festen, r e g e l m ä ß i g w i e d e r k e h r e n d e n l i t u r g i s c h e n G r u n d m u s t e r s " ( T R E 1 4 , 9 3 , 5 1 ff). N i c h t n a c h d e r N o t w e n d i g k e i t l i t u r g i s c h e r F o r m e n w i r d g e f r a g t , vielmehr d a n a c h , o b die v o n den e u r o p ä i s c h e n Kirchen überlieferte liturgische T r a d i t i o n m i t d e n ü b e r k o m m e n e n religiösen R i t u a l e n u n d S y m b o l e n v e r b u n d e n w e r d e n k a n n o d e r o b nicht genuin eigene F o r m e n gottesdienstlicher Gestaltung entwickelt w e r d e n sollten. D i e a b e n d l ä n d i s c h e n K i r c h e n w e r d e n sich n a c h ihrer B e r e i t s c h a f t f r a g e n lassen m ü s s e n , o b sie l i t u r g i s c h e I n n o v a t i o n e n d e r j u n g e n K i r c h e n a u f ihre e i g e n e g o t t e s d i e n s t l i c h e P r a x i s zurückwirken lassen. Literatur S. die umfangreichen Literaturangaben zu Abendmahlsfeier, Agape, Agende, Gottesdienst. (Zu den gegenwärtig geltenden Gottesdienstordnungen s. T R E 2, 86 f.) Im vorliegenden Artikel wird auf folgende (z. T. erst nach Abfassung der o. a. Artikel erschienene) Literatur Bezug genommen: Adolf Adam, Grundriß Liturgie, Freiburg i . B r . 1985. - Ders./Rupert Berger, Pastoral-liturgisches Lexikon, Freiburg i . B r . 1980. - Agende f. ev.-luth. Kirchen u. Gemeinden, Teilabdruck-Übergangsausg., Hamburg, 1 1981. - Karl Barth, K D 1V/2, 8 0 3 - 8 0 5 ; I V / 3 . 2 , 9 9 1 - 9 9 7 . - Herbert Braun, Jesus 1969 ( T h T h 1 ) . - P e t e r Brunner, Z u r Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde: Leit., I 1954, 8 3 - 3 6 1 . - O d o Casel, AEITOYPriA-Munus, R o m 1932 ( O r C h r 111,7). - Jean C o r b o n , Liturgie de source, Paris 1980; dt.: Liturgie aus dem Urquell. Übertr. u. eingel. v. Hans Urs v. Balthasar, Einsiedeln 1981 (Theologie romanica 12). - Karl Christian Felmy, Die Deutung der Göttlichen Liturgie in der russ. T h e o l . , Berlin 1984. - Leonhard Fendt, Einf. in die Liturgiewiss., 1958 ( S T ö . H 5). - D o m Prosper Guéranger, Institutions liturgiques, 1 8 4 0 - 1 8 5 1 . - J o s e f Andreas J u n g m a n n , Das Konzil v. Trient u. die Erneuerung der Liturgie: Das Weltkonzil v. Trient, hg. v. Georg Schreiber, Freiburg i . B r . , I 1 9 5 1 , 3 2 5 - 3 2 6 . - Ders., Missarum Sollemnia, 2 B d e . , Freiburg 1948 4 1958 (Lit.). - Anastasios Kallis, T h e o l . als Doxologie. Der Stellenwert der Liturgie in der orth. Kirche u. T h e o l . : Liturgie - ein vergessenes T h e m a der Theol.?, hg. v. Klemens Richter, 1986 ( Q D 107), 4 2 - 5 3 . - Emil Joseph Lcngeling, Art. Liturgie: H T h G 2 (1963) 7 5 - 9 7 . - Ders., Liturgie - Dialog zw. G o t t u. M e n s c h , Freiburg i . B r . 1981. - Liturgie - ein vergessenes T h e m a der Theologie?, hg. v. Klemens Richter, 1986 ( Q D 107). - Die eucharistische Liturgie v. Lima. M i t einer Einl. v. M a x T h u r i a n , Frankfurt a. M . 1 9 8 3 . - Manfred Mezger, Die Amtshandlungen der Kirche als Verkündigung, Ordnung u. Seelsorge, M ü n c h e n , 1 M963. — Jürgen M ö l l m a n n , Der gekreuzigte G o t t , München 1972. - Karl Ferdinand Müller, T h e o l . u. liturg. Aspekte zu den Gottesdiensten in neuer Gestalt: J I . H 13 (1968) 5 4 - 7 7 (Lit.). - William Nagel, Gesch. des christl. Gottesdienstes, 1970 (SG 1 2 0 2 / 1 2 0 2 a ) . - Dietrich Rössler, Grundriß der Prakt. T h e o l . , Berlin/New York 1986. - Hermann Schmidt, Die Konstitution über die hl. Liturgie. T e x t , Vorgesch., Komm. Übers, aus dem Holl. v. Alfred Schilling, 1965 (HerBü 218). - Frieder Schulz, Die Lima-Liturgie, Kassel 1983. - Rudolf Stählin, Die Gesch. des christl. Gottesdienstes v. der Urkirche bis zur Gegenwart: Leit. 1 (1954) 1 - 8 1 . - Hermann Strathmann, Art. Xcnovpyéu): T h W N T 4 (1942) 2 2 1 - 3 8 . - Taufe, Eucharistie u. Amt. Konvergenzerklärungen der Kommission f. Glauben u. Kirchenverfassung des ö k u m . Rates der Kirche, Frankfurt a. M./Paderborn 1982. - Versammelte Gemeinde. Struktur u. Elemente des Gottesdienstes. Vorgelegt v. der Luth. Lit. Konferenz, H a m b u r g 1974. - Martin Voigt, Z w . Verlegenheit u. Chance. Wir brauchen die breite Palette gottesdienstlicher Formen: L M 10 (1986) 4 5 8 - 4 6 3 . Friedrich Kalb II. j ü d i s c h e L i t u r g i e 1. Entstehung 2. Der liturgische Text 3. In T e x t und Praxis implizierte Liturgietheologie 4. M o d e r n e Entwicklungen (Literatur S. 383) 1.
Entstehung
J ü d i s c h e Liturgie w u r d e d u r c h A u t o r i t ä t e n , die v o n G e n e r a t i o n zu G e n e r a t i o n einand e r f o l g t e n u n d w e n i g e x a k t als „ d i e R a b b i s " b e k a n n t sind, definiert: d i e P h a r i s ä e r ( c a . 2 . J h . v . C h r . - 7 0 n . C h r . ) , die T a n n a i m (Sing.: T a n n a , 7 0 - 2 0 0 n . C h r . ) , die A m o r a i m (Sing.: A m o r a , 2 0 0 - c a . 6 . / 7 . J h . ) u n d die G e o n i m (Sing.: G a o n , c a . 7 . / 8 . J h . — 1 0 3 8 ) . T r o t z d e r L e g e n d e n , die d i e r a b b i n i s c h e L i t u r g i e E s r a , „ d e n M ä n n e r n d e r G r o ß e n Vers a m m l u n g " , o d e r s o g a r M o s e u n d A b r a h a m z u s c h r e i b e n , gibt es k e i n e n B e w e i s d a f ü r , d a ß sie v o r d e m 2 . J h . v. C h r . z u d a t i e r e n ist, u n d sie t r i t t e r s t bei d e n T a n n a i m d e u t l i c h ins Blickfeld. Sie erstellten die Struktur
d e r L i t u r g i e , u n d d i e G e o n i m legten eine b e s t i m m t e
A b f o l g e v o n G e b e t e n als d i e n o r m a t i v e L i t u r g i e für s p ä t e r e G e n e r a t i o n e n fest.
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Verschiedene Forscher im 19. Jh. glaubten, daß die Tannaim nicht nur die Struktur, sondern auch die Texte der Gebete erstellten, im allgemeinen als Antwort auf nationalpolitische Ereignisse wie die römische Besatzung. Sie suchten also angebliche „ursprüngliche Gebetstexte", aus denen die heutigen Varianten erwachsen seien, ebenso wie die genauen Daten und Umstände, die zu den späteren Texten geführt hätten. Wir wissen jetzt, daß man kein einziges autoritatives „Urgebet" finden kann. Tannaitische (und selbst amoräische) Liturgie läßt sich statt dessen als relativ freier Ausdruck spezifischer Themen und als eine Fülle gleichermaßen alter Gebetstexte charakterisieren, von denen die meisten im Verlauf der Geschichte verloren gegangen sind. Vor allem drei Institutionen trugen zur frühesten rabbinischen Liturgie bei: der Tempel, die Chavura und die Synagoge. Dazu gesellten sich später die rabbinischen Lehrakademien und Gerichtshöfe. Obwohl der Tempel vorrabbinisch ist, dauerte er bis zur Zeit der Tannaim, die seine Opfervorschriften als von der Schrift befohlen respektierten und ihre eigene Liturgie nach realen oder imaginären Kultmodellen erstellten; sie charakterisierten z.B. das wichtigste rabbinische Gebet, die Tefilla, als Ersatz für das untergegangene „tägliche O p f e r " im Tempel, den Tamid. Die Chavura (Plural Chavurot), ursprünglich eine pharisäische Tischrunde, bestand entweder aus spontanen Zusammenkünften oder ständigen Gemeinschaften, in denen Männer (aber nicht Frauen) solche Gelegenheiten wie Festtage, Beschneidungen und Hochzeiten feierten. Aus diesem Umfeld erwuchsen der Pesach-Seder, Lobpreisungen über die Speisen und die Danksagung nach dem Mahl (Birkat hammazon). Die Synagoge, den Evangelien, Paulus und Josephus bekannt, muß im 1. Jh. n.Chr. eine bekannte Größe gewesen sein. Quellen vor dem Aufstand der Hasmonäer (167 v.Chr.), einschließlich dem Danielbuch, das an seinem Vorabend geschrieben ist, wissen nichts von Synagogen, die deshalb sicherlich nicht in die Zeit der babylonischen Gefangenschaft datiert werden können, wie oft behauptet wird. Texte, die den Zustand im 2 . - 1 . Jh. v.Chr. widerspiegeln, zeichnen den öffentlichen Gottesdienst auf Dorfplätzen unter der etablierten Ägide einer Standmannschaft (Ma'atnad). Diese weitete den Tempelkult auf Versammlungen zum Gottesdienst aus, die am jeweiligen Ort zu eben der Zeit zusammenkamen, in der in Jerusalem das Tempelopfer dargebracht wurde. Wir hören aber z. B. ebenso in Zeiten der Trockenheit von ausgedehnten Liturgien dort, mit einer Tefilla (dem rabbinischen Gebet par excellence). Es ist also wahrscheinlich, d a ß sich die Synagoge aus dem Ma'atnad entwickelte. In ähnlicher Weise wurde das Haus zum Symbolort der Chavura. Tischgemeinschaften mit Gebet, Diskussionen und rituellen Reinheitsregeln wurden vom Haus überdacht und eingefaßt. Nach der Zerstörung des Tempels wurden die Synagoge und das jüdische Haus zu doppelten liturgischen Zentren mit Gottesdiensten, die mit bestimmten Anlässen verbunden waren. Obwohl Juden auch anderswo Gottesdienst feiern können, wird der Gottesdienst bis auf den heutigen Tag normalerweise zu festgesetzten Zeiten an einem dieser beiden Orte oder auch an beiden begangen. 2. Der liturgische
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2.1. Der Vorrang der Preisung. Rabbinische Liturgie mag früher aus ausführlicheren biblischen Zitaten, einschließlich den Zehn Geboten, bestanden haben; sie bevorzugte aber mehr und mehr einen neuartigen Prosastii, der als Berakha (Segnung oder Lobpreisung) bekannt ist. Stilistische Regeln für Segnungen entwickelten sich im Verlauf mehrerer Jahrhunderte, waren aber größtenteils bereits im 3. Jh. n . C h r . festgelegt. Segenssprüche gibt es in kurzer und langer Form. Kurze Segenssprüche sind einzeilige Formeln, die beginnen mit „Gepriesen bist du, Herr, unser Gott, Herrscher über das All, der . . . " Lange Segenssprüche können eine Einleitung enthalten, müssen es aber nicht („Gepriesen bist du . . . " ) , aber sie enden immer mit einer Chatima (wörtlich: „Siegel"), die das Thema der Segnung zusammenfaßt („Gepriesen bist du, der . . . " ) ; sie sind deshalb lang, weil sie im Mittelteil der Lobpreisung eine
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thematische Ausfaltung enthalten, so d a ß jede von ihnen eigentlich ein kurzer Essay über den einen oder anderen Aspekt rabbinischen D e n k e n s ist.
Jüdische Liturgie umfaßt auch anderes Material, vor allem aus nachamoräischer Zeit, als man zum großen Teil aufgehört hatte, neue Lobpreisungen zu verfassen; sie besteht vorrangig aus Gruppen von Segenssprüchen, die wie Perlen auf einer Kette aufgereiht sind. Von diesen ragen die Segenssprüche, die das Schema' umgeben, und jene, die die Tefilla gestalten, besonders hervor. Diese „Segenssprüche-Essays" stammen nicht von einzelnen Autoren. Sie sind vielmehr Zusammenfügungen, die Jahrhunderte mündlicher Uberlieferung und schriftlicher Redaktion widerspiegeln. Sie sind damit ein Hinweis darauf, daß die rabbinische Tradition alles andere als monolithisch ist. Ein größerer Strang z.B. ist die jüdische Gnosis der Yordei Merkava (die Mystiker des „Feuerwagens" oder „Thrones"), die bereits im 2. oder 3. Jh. n. Chr. mantraähnliche Formeln schufen, Wortgebilde von Synonymen, die in Apposition standen, so daß sie ein rhythmisches Regelmaß ergaben, ohne notwendigerweise auch inhaltlich gefüllt zu sein. Ihre Liturgie, die manchmal durch Fasten und körperliche Bewegung begleitet wurde, verleitete zu Trance, da sie zum Ziel hatte, sich mit den himmlischen Engeln, die Jesaja gesehen hatte (Kap. 6), zu vereinen, um Gott zu preisen. Zur selben Zeit betonten andere Schulen bei den Rabbinen die Erkenntnis als Grundfaktor des Lobpreises und stellten thematische Folgen für die Segnungsgruppen auf. Das Thema jedes Segensspruches war festgelegt; aber auch nachdem die Grundregeln für seinen Anfang und sein Ende akzeptiert waren, blieb noch der Mittelteil des Scgensspruches, in dem das Thema frei entfaltet werden konnte und die in ihren jeweiligen Fassungen eine erstaunliche Vorstellungskraft der Gebetsleiter demonstrierten. Da die gleiche Abfolge der Segenssprüchc (und deshalb der gleiche Fortgang der Themen) die Regel war, konnte selbst eine höchst ungewöhnliche Fassung der Liturgie als nur eine weitere interessante Variante der entsprechenden thematischen Elemente wiedererkannt werden. 2.2. Vom nicht fixierten Text zum Gebetbuch. Irgendwann zwischen dem 3. und dem 8. Jh. wuchsen diese verschiedenen Fassungen zu fixierten Liturgien zusammen. Langatmige poetische Versionen der Lobpreisungen, die man als Pijjutim kennt (ursprünglich möglicherweise alltägliche Alternativen), wurden mehr und mehr für Fast- oder Festtage reserviert. Die mystischen, mantraähnlichen Reihungen wurden mit an Information reichen theologischen Ausdrucksmöglichkeiten der Themen kombiniert, um Komposita hervorzubringen, die sowohl die mystische, affektive Seite des Gottesdienstes als auch den kognitiven Pol enthielten. Mehrere solcher Mischungen konnten sich jahrhundertelang behaupten, wobei sich zwei deutlich erkennbare Gruppen herausbildeten: der palästinische Ritus in Palästina und Ägypten und der babylonische Ritus im TigrisEuphrat-Becken. Der erste war besonders reich an Poesie; ihm war besonders daran gelegen, die Tradition weiterzuführen und auszugestalten sowie neuartige Ausdrucksmöglichkeiten der vorgeschriebenen Segenssprüche unter Hintanstellung eines einzigen „kanonisierten" Gebetstextes zu ermöglichen. Der letzte hatte sich Stabilität und Bewahrung zum Ziel gesetzt; er begrenzte die Poesie auf das äußerste Minimum und legte vorgeschriebene Texte fest, die von Anfang bis Ende der normalen Gottesdienste rezitiert werden mußten. In der Mitte des 9. Jh. ließ Amram Gaon, der nominelle Leiter des babylonischen Judentums, seine eigenen Lieblingstexte in das erste umfassende -»Gebetbuch einfließen, das uns bekannt ist; es trägt den Titel Seder Rav Amram („Der Seder [ = Die Ordnung der Gebete nach] Rav Amram"). Amrams Werk wurde schließlich die Grundlage für alle weiteren Riten, vor allem nach der Vernichtung des palästinischen Judentums durch die Hand der Kreuzfahrer; parallel dazu setzte sich die babylonische Gesetzestradition gegenüber der aus Palästina durch. Ihr Inhalt wird bis auf den heutigen Tag mit der eigentlichen jüdischen Liturgie identifiziert.
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2.3. Liturgische Struktur und Theologie. Der Seder Rav Amratn setzt die Traditionen der Tannaim und der babylonischen Amoraim fort. Für ihn ist deshalb die Bibel nicht der Hauptbestandteil der Liturgie. Z w a r setzt sich das wohlbekannte Schema' Israel, das morgens und abends rezitiert wird, aus drei Bibelzitaten zusammen (Dt 6,4—9; 11,13-21; N u m 15,37-41), und auch Psalmen erscheinen hier und da zur Gänze, besonders in den Sammlungen der Hallel-Psalmen. Das Schema' wurde aber nur als Mittelteil modelliert, das von Segenssprüchen am Anfang und Ende umgeben ist, und die Psalmodie ist völlig unerheblich, da sie abhängig ist von der Segensstruktur, die alles beherrscht. Die Theologie rabbinischen Gottesdienstes reflektiert demgemäß die rabbinische Lehre, d a ß die geschriebene Bibel einer Interpretation gemäß den Einsichten der mündlichen Tradition bedarf. Die wichtigsten Gottesdiensteinheiten sind 1. das Schema' und seine Lobpreisungen und 2. die Tefilla oder „Das Gebet [par excellence]", die einzeln oder gemeinsam zumindest seit dem 1. Jh. den größten Teil eines jeden Synagogengottesdienstes ausmachten. Das Schema' ähnelt dem jüdischen Glaubensbekenntnis, in dem die Bezeugung der Einheit Gottes durch die Begleitsegenssprüche entfaltet wird, welche Gottes Verantwortung für Schöpfung, Offenbarung und Erlösung anerkennen. Die historische Erinnerung ist dadurch anamnetisch mit der eschatologischen Erwartung verknüpft, daß Gottes Erlösungstat am Roten Meer der Archetypus für die endgültige Befreiung am Ende der geschaffenen Zeit ist. Noch zentraler steht die eschatologische Hoffnung in der Tefilla (Amida, Achtzehngebet), einer Reihe von Segenssprüchen, weitgehend als Bitten formuliert, die von ->Gamaliel II. am Ende des 1. Jh. festgelegt wurden. Gott wird gebeten, die notwendige Einsicht zu gewähren, die zu Buße führt und dadurch zu göttlicher Vergebung und Erlösung. Die darauf folgenden Segenssprüche definieren eine rabbinischc Lehre von der Erlösung: Gott wird die Kranken heilen, dem Land Israel die Fruchtbarkeit zurückgeben, die Verbannten in ihr Land zurückführen, das jüdische Gerichtssystem wieder aufrichten, die Häretiker bestrafen, die Gerechten belohnen, Jerusalem wieder aufbauen und dort die messianische Herrschaft beginnen. Zusammen mit dem Schema' und der Tefilla war in der tannaitischcn Liturgie die Lesung der Tora (der ersten fünf Bücher der Bibel) am Montag, Donnerstag und Sabbat ein Hauptmerkmal. Palästinische Juden bevorzugten das sogenannte dreijährige Lektionar (in Wirklichkeit trotz seines Titels ein dreieinhalb- bis vierjähriger Zyklus). Babylonische Amoraim nahmen später als Konsequenz der Vorherrschaft babylonischer Kultur einen Jahreszyklus an, der bis heute gilt. Der Samstagmorgen sah eine weitere Lesung vor (Haftara genannt), die den Propheten (und den erzählenden Büchern, die in der jüdischen Tradition ebenfalls als „Propheten" bekannt sind) entnommen war und in gewisser Weise mit dem vorrangigen Toratext in Verbindung stand. Auf die Schriftlesung folgte gewöhnlich eine auslegende Homilie (ein Midrasch), die mit einer Nechemta (einem Wort der Hoffnung) endete; darauf folgte mit dem Qaddisch ein Gebet, das um das Kommen des Reiches Gottes flehte. Ab dem 8. Jh. wurde das Qaddisch mit Trauer in Verbindung gebracht, aber sein frühestes Auftreten ist als Schlußgebet beim Studium der Tora. Die Rabbinen pflegten auch die private Spiritualität und führten deshalb Lopreisungen ein (gewöhnlich die Kurzform), die den alltäglichen Begebenheiten eine religiöse Bedeutung einflößen sollten: vom Essen eines Apfels bis zum Sehen eines Regenbogens oder auch bis zum Gang zur Toilette (hierbei sollte man staunen über das System der Gänge und Röhren, die den menschlichen Leib ausmachen). Ähnlich sprach man Lobpreisungen, bevor man die Gebote (oder Mitztvot) beachtete, da die Segenssprüche bestätigten, daß der zu vollziehende Akt — etwa das Entzünden der Chanukkalichter oder das Vornehmen einer Beschneidung - einen hohen Stellenwert im Bund hatte. Die vielleicht bedeutendste Mitzwa war das Studium der Tora, die man allgemein als die je fortschreitende Offenbarung des Wortes Gottes verstand und die das geschriebene Wort der Schrift und die mündliche Tradition umfaßte. Rabbinische Spiritualität nahm ein
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solches Studium mit Vorliebe jeden Morgen direkt nach dem Erwachen vor, besonders mit Texten, die den erloschenen Tempelkult beschrieben. Amram nahm in seinen Seder eine Sammlung solcher Texte auf: biblische und rabbinische Passagen über das Opfer, Segenssprüche über das Torastudium und Lobpreisungen, die sich auf das tägliche Wunder des Erwachens zur Welt bezogen; aber er fügte sie dem Beginn seiner Synagogenliturgie an und wandelte so häusliche Frömmigkeit in einleitendes Uberdenken und Studieren in der Synagoge. Dort bleibt es bis zum heutigen Tag, wie auch ein zweiter Einführungsblock, den Amram aufnahm: Lieder des Lobes, mit dem täglichen Hallet als Höhepunkt (Ps 145-150). Wir sahen oben die Bitte um Erlösung, wie sie in der Tefilla definiert wurde und sich in der Metapher der endgültigen Herrschaft Gottes widerspiegelt (aus dem Qaddisch). Aber das Kommen des verheißenen Reiches Gottes setzt voraus, daß zuvor die Sünden vergeben werden. Die Amoraim schlugen also ein tägliches Bekenntnis vor, das der Tefilla folgte. Amram ging weiter und nahm dort nicht nur eine private Frömmigkeitsübung auf, sondern auch eine offizielle Bittrubrik (den Tachanun), die die Niedrigkeit der menschlichen Natur ausdrückte. Diese Bitten nahmen später an Bedeutung zu, vor allem unter den westeuropäischen Chasidei Ashkenaz (s.u.), fanden sich aber bereits in Amrams Seder. Folglich standen mit nur einer Ausnahme (das Alernt; s.u.) die wichtigen Gebete des täglichen Morgengottesdienstes schon zu Amrams Zeit fest. Der Beter begann 1. mit Segenssprüchen zum Morgen und dem Studium der Opfertexte. Er rezitierte dann 2. ein Hallel und Lobgesänge. Diese leiteten die beiden wichtigsten Teile ein: 3. das Schema' mit seinen Segenssprüchen und 4. die Tefilla. Die Tefilla, technisch gesehen ein Ersatz für das Tamidopfer im Tempel, hatte liturgisch die Funktion einer Bußübung und führte so 5. zu persönlichem Gebet, besonders zu den Tachanunbitten. An dafür vorgesehenen Tagen folgten 6. Schriftlesung und 7. eine Predigt, in jedem Fall aber bat 8. ein Schlußqaddisch um Gottes verheißene Herrschaft auf Erden. Die im Verlauf der Jahre einzig wichtige Hinzufügung zur Ordnung des täglichen Morgengottesdienstes war das Alenu, das ursprünglich als Einleitung zum Schofarblasen an Rosch ha-Schana verfaßt, seit dem 14. Jh. aber als Schlußgebet adaptiert wurde. Auch dieser Text bittet um Gottes endgültige Herrschaft auf Erden. Mit nur geringen Änderungen charakterisiert das obige Schema des täglichen Morgengebets (Schacharit) jeden anderen Synagogalgottesdienst. Vorgeschriebene Gottesdienste am Nachmittag (Mincha) und Abend (Arvit oder Ma'ariv), die liturgisch ähnlich aufgebaut sind, sind in der Zwischenzeit zu unmittelbar aufeinander folgenden Gottesdiensten zusammengewachsen, die bei Sonnenuntergang gehalten werden. Diese täglichen Gebetszeiten werden in passender Weise für den Sabbat und für Fast- und Festtage verändert, wenn das Haus als Gottesdienstort hinzukommt und eine größere Rolle spielt als im täglichen Zyklus. Das Pesach z.B. verlangt noch weitere poetische Texte zum Thema des Exodus in der Synagoge, aber es wird auch durch den Sederritus zu Hause charakterisiert. Zur Liturgie für den Sabbat und die Festtage im Haus gehört vor allem 1. das Anzünden der Lichter, zusammen mit einem Gebet, das Qiddusch genannt wird und den Beginn der heiligen Zeit ankündigt, und 2. eine Havdala- oder „Trennungs"-zeremonie, die eine „Trennung" zwischen heiliger und profaner Zeit angibt, wenn der -»-Sabbat oder das Fest enden. 2.4. Mittelalterliche Entwicklungen in Europa—Struktur und Theologie. Die wichtigsten Neuerungen geschahen in der mystischen Tradition, die sowohl in Deutschland im 12. Jh. als auch in Spanien im 13. —14. Jh. teilweise fortgesetzt und wiederbelebt, teilweise bereichert wurde. Die frühere Bewegung, die unter dem generellen Einfluß der mittelalterlichen Frömmigkeit stand und unter dem Namen Chasidei Ashkenaz („Die Frommen [oder Pietisten] Nordeuropas") bekannt war, bevorzugte eine streng büßerische, ja asketische Haltung dem Gebet gegenüber; ihr Einfluß war in Nord- und Mitteleuropa jahrhundertelang entscheidend. Die spanische Schule, die —»Kabbala - eigentlich eine Philosophie, deren Wurzeln im provenzalischen Neuplatonismus lagen und südwärts
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über die Pyrenäen übertragen wurde breitete sich mit der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 im gesamten Mittelmeerraum aus, besonders im Land Israel. Was die schöpferische Kraft und den Wagemut angeht, so können sich nur die Gründerväter der Pharisäer und der Tannaim mit diesen Kabbalisten des 16. Jh. messen, die nicht nur eine völlig neuartige Liturgie zur Begrüßung des Sabbat zusammenstellten {Qabbalat Schabbat), sondern auch ekstatische Praktiken einführten, die an die zur Trance führenden Bräuche früherer Zeiten erinnerten. Z u diesen gehörten die mechanische Rezitation göttlicher N a m e n und die Verwendung von Musik zum Z w e c k der Selbsthypnose. Ihre Liturgie implizierte eine verwegene Theologie: 1. Gott und das All gelten als deckungsgleich; 2. der Z u s t a n d der menschlichen Existenz entspricht folglich dem Zustand Gottes; 3. als vorherrschende Metapher für den gebrochenen Zustand des Seins auf Erden (und in Gott!) finden wir die sexuelle Vorstellung einer androgynen Gottheit, deren männliche und weibliche Elemente voneinander getrennt sind und begierig nach Wiedervereinigung suchen. Da ihnen der Gottesdienst als das wichtigste Mittel galt, Gottes männliche und weibliche Teile zur Ganzheit wiederherzustellen, suchten sie die in der Liturgie zum Ausdruck kommende Theologie zu transzendieren zugunsten einer von ihnen angenommenen verborgenen mystischen Bedeutung. Teilnehmer am Gottesdienst wurden belehrt, sich nur der geheimen Bedeutung zu entsinnen und so zu beten. U m dies zu erleichtern, komponierte man einleitende Meditationen, Kawwanot (Sing.: K a w w a n a ) genannt, die m a n c h m a l den verborgenen Sinn eines Gebets ausdrücklich benannten und manchmal auch nur auf ihn anspielten.
3. In Text und Praxis implizierte
Liturgietheologie
Traditioneller Gottesdienst ist in seinem Ausdruck fast durchweg gemeinschaftlich. Der Jude mag zu jeder Zeit, an jedem Ort und mit jedweden Worten, Gesten oder Gesängen privat beten. Aber der Jude muß dreimal am Tag mit der Gemeinschaft beten, wenn möglich mit einer Mindestanzahl (oder Minyan) von zehn Teilnehmern, die das Volk Israel repräsentieren. In entsprechender Weise ist der Text fast unveränderlich in der 1. Person Plural: „Wir". Dieses „ W i r " beinhaltet den gemeinsamen Bund, der gefeiert wird. Der Gebetsleiter gehört mit zum Volk und fungiert technisch gesehen nur als ein Scheliach tzibbur, als „Vertreter der Versammlung", der den Lobpreis und die Bitte der Versammlung an Gott richtet. Ein impliziter Sozialvertrag liegt dem Verhältnis zugrunde, da das Volk diesen „öffentlichen Vertreter" mit der Vollmacht ausstattet, es oben zu repräsentieren. Normal wird die Liturgie antiphonisch gesungen, erst die Gemeinde, dann ihr beauftragter „Vertreter", in einem Dialogmodell, das bis auf die ersten Ursprünge rabbinischen Gottesdienstes zurückreicht. Die Liturgie ist dabei stillschweigend theologisch geformt nach dem „Dialog" der Engel in der Vision Jesajas, in der zwei Gruppen von Engeln abwechselnd das Lob Gottes singen. „Lobpreis" tritt also als dominierende Haltung des Juden vor Gott zutage. Juden können dankbar sein, ja sie müssen es; aber sie stehen in einer Bundespartnerschaft mit Gott, so daß eine Theologie reiner Gnade, die nur intensive Dankbarkeit für den Empfang dessen, was wesentlich unverdient ist, hervorruft, der jüdischen Tradition fremd ist. Zwar flehe das berühmte Gebet Avinu Malkenu: „Erbarme dich unser,... denn wir sind ohne Werke", aber eine Theologie der Mitzwot könnte diese extreme Auffassung wohl kaum unterstützen; die Mitzwot (göttlichen Gebote) waren nichts, wenn nicht Werke. Deshalb wendet sich Israel in einer Haltung Gott zu, die charakterisiert ist durch Bejahung - wiederum wie die Engel in Jesajas Vision und dankt nirgendwo mehr, als wenn es den Einen preist und anerkennt, von dem aller Segen kommt. Wenn wir das private Gebet betrachten, so sehen wir wiederum die zentrale Stellung der Gemeinschaft im Judentum wie auch seine Bewertung des Kosmos als genügend wertvoll, um menschliche Freude daran zu rechtfertigen. Private Gebete waren im wesentlichen Segenssprüche: 1. bevor Mitzwot ausgeführt wurden und 2. bei der sinnenhaften Erfahrung der Welt. Die ersten bezeugen wiederum das vorherrschende Bild des Juden als eines Mitglieds des Bundesvolkes, bedacht darauf, Bundeshandlungen zu vollziehen, wobei man sich voll bewußt ist, daß sie genau dies sind: Mitzwot, göttliche
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Aufträge. Die letzten setzen eine positive H a l t u n g gegenüber der Welt unserer Sinne voraus. Nicht nur das Sehen, sondern auch das H ö r e n und selbst das Riechen und Schmecken rufen Segenssprüche hervor, die feiern, was die Menschen tun: Schmecken der Speise; Sehen des Regenbogens, der Wiesen, des Blitzes oder der O r t e , an denen sich Wunder ereigneten; H ö r e n guter (oder schlechter) Nachrichten; Riechen wohlduftender Kräuter u . s . w . Jüdischc Liturgietheologie besteht darauf: „ D e m H e r r n gehört die Erde und was sie erfüllt" (Ps 24,1); dadurch d a ß die Mittel, durch die sich Phänomene uns darbieten, in einer H a n d l u n g a n e r k a n n t werden, werden die fraglichen P h ä n o m e n e freigesetzt zu angemessener menschlicher Freude an ihnen. 4. Moderne
Entwicklungen
Europäische Juden in der Zeit nach der Aufklärung reformierten ihre Liturgie durch Kürzungen, Hinzufügung von Predigten und Gebeten in der Muttersprache und Einführung einer Haltung schicklicher Ehrfurcht. Sie trennten sich von traditionellen, aber nur mehr schwer aufrecht zu erhaltenden Lehren wie dem Glauben an die körperliche Auferstehung oder an eine endgültige Rückkehr aus der „ V e r b a n n u n g " , und sie betonten allgemein gültige Linien im jüdischen Denken auf Kosten von Besonderheiten. Von den beiden Orten jüdischen Gottesdienstes n a h m das H a u s an Bedeutung ab, da das Judentum mehr zur Synagoge neigte, die moderne Juden als ihre „ K i r c h e " ansehen. Die amerikanische Reform w a r weitreichender, besonders in der Zeit der „Klassischen R e f o r m " , die ihren H ö h e p u n k t mit der Veröffentlichung eines Union Prayer Book 1894/95 erreichte. Der Trend geht jetzt dahin, traditionelle Praktiken wiederzugewinnen und sie mit heutigem Feingefühl (wie z. B. f ü r die Gleichheit von Frauen und M ä n n e r n ) in neu erstellten Liturgien zusammenzufügen, die auch die beiden Geschehnisse widerspiegeln, welche im modernen jüdischen Bewußtsein so zentral stehen: den Holocaust und die Geburt des modernen Staates Israel. Ausgewählte Literatur (ohne Werke in Hebräisch) Ismar Elbogen, Der jüd. Gottesdienst in seiner gesch. Entwicklung (1913), Hildesheim 1962. - Joseph Heinemann, Prayer in the Talmud. Forms and Patterns, 1977 (SJ 9). - Lawrence A. Hoffman, The Canonization of the Synagogue Service, Notre Dame 1979 (zum Beitr. der Geonim). - Ders., Land of Israel. Jewish Perpectivcs (Einführung), Notre Dame 1986 (eine theol. Abh. zu den Segenswünschen). - Ders., Beyond the Text. A Holistic Approach to Liturgy, Bloomington 1987. - Jakob J. Petuchowski, Prayerbook Reform in Europe, New York 1968 (Gottesdienstformen in Europa). - Richard Sarason, Religion and Worship. The Case of Judaism: Jacob Neusner (Hg.), Take Judaism, for Example. Studies toward the Comparison of Religions, Chicago 1983. Vgl. weiter die Literatur zu -»Gebet III u. -»Gebetbuch III.
Lawrence A. H o f f m a n Liturgiewissenschaft/Liturgik 1. Begriff 2. Zur Geschichte der Disziplin wärtige Theoriediskussion (Literatur S.399)
3. Liturgiewissenschaft im 20. Jh.
4. Die gegen-
1. Begriff 1.1. Der Begriff Liturgik deutet sich schon bei dem katholischen Vermittlungstheologen Georg Cassander (1513 - 1 5 6 6 ) an (Liturgica, de ritu et ordinatione Dominicae coenae celehrandae, Köln 1558), wird aber erst im Zuge der durch die Aufklärung bewirkten Herausbildung der -»Praktischen Theologie als selbständiger Wissenschaft zur Bezeichnung der sich mit d e m Gottesdienst befassenden theologischen Disziplin verwendet, zuerst von dem Sailer-Schüler Franz Xaver Schmid (Liturgik der christkath. Religion, 3 Bde., Passau 1832/33 2 1835). Der Terminus Liturgiewissenschaft w u r d e von R o m a n o - » G u a r d i n i - in Verbindung mit Leo Cunibert M o h l b e r g (Meyer, Liturgie 323, Anm. 21), O d o -»Casel (Häußling, Liturgiewiss. 3, Anm. 10) und wohl auch Anton Baumstark ( H a r n o n c o u r t , Liturgiewiss.
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145 Anm. 1) - analog dem Diltheyschen Begriff „Geisteswissenschaften" (-»Dilthey) geprägt und in seinem bahnbrechenden Aufsatz Über die systematische Methode in der Liturgiewissenschaft (1921) begründet. Zwar hatte schon Franz Xaver Schmid Liturgik als Wissenschaft bezeichnet (Grundriß der Liturgik, Passau 1836, 15; vgl. Kohlschein, Wandel 33 Anm. 7), doch verbleibt diese dort noch ganz in den Grenzen des pastoraltheologischen Ansatzes und erreicht erst mit Guardini die Qualifikation einer umfassenden theologischen Disziplin. Die beiden Begriffe Liturgiewissenschaft und Liturgik sind im Verlauf der neueren Diskussion einander unterschiedlich zugeordnet worden. So unterstellt Guardini die Liturgik als zur Praktischen (bzw. Pastoral-) Theologie gehörende Anwendung der eigentlichen, systematisch orientierten, wenn auch als eigener „Forschungsbezirk" begründeten, Liturgiewissenschaft (Methode 108). Umgekehrt wurde Liturgik auch als Oberbegriff gefaßt, dem Liturgiewissenschaft als der historischen Erforschung des Gottesdienstes zugewandte „Hilfswissenschaft" (Jannasch 419) untergeordnet wird (Fendt 1; Nagel/Schmidt 13). Darin mag sich die protestantische Reserve gegenüber der Tradition und zugleich die seit Schleiermacher immer wieder betonte Vorrangstellung der -»Predigt gegenüber der Liturgie manifestieren. Aus anderen Gründen gliedert Reifenberg das Fach in Liturgiewissenschaft als „mehr wissenschaftliche" und Liturgiekunde als „mehr informativ-rezeptive Beschäftigung" mit der Liturgie (63 f). Heute werden die Begriffe meist synonym verwendet (K. F. Müller, Liturgiewiss. 1140; Fischer, Gottesdienst 246 ff; Adam/Berger 321) bzw. entweder nur Liturgik gebraucht (Eisenhofer/Lechner 11 ff; Rietschel/Graff lff; Vagaggini l l f ) oder nur Liturgicwissenschaft (Jungmann, Liturgiewiss. 282ff; Richter, Liturgie 9ff; Häußling, Funktion 104ff). Da eine schlüssige Differenzierung nicht möglich ist, empfiehlt sich der alternative Gebrauch beider Begriffe, vorzugsweise Liturgiewisscnschaft. 1.2. Dem Forschungsstand entsprechend legt sich eine möglichst umfassende Definition von Liturgiewissenschaft nahe, in die das systematische Fragen nach dem Wesen des Gottesdienstes (begründen), die historischen und dogmcngeschichtlichen Ausformungen seiner Gestalt (verstehen), die seelsorgerliche Bedeutung (erleben) und die sach- wie gemeindegerechte Aktualisierung (gestalten) eingebunden sind. Wissenschaft vom christlichen Gottesdienst (Fischer, Gottesdienst 246.251) oder vom Gottesdienstlichen (Reifenberg 64) klären noch nicht das Verhältnis zur -»Homiletik, der anderen den Gottesdienst betreffenden Hauptdisziplin der Praktischen Theologie, und zu Bereichen wie -»Kirchenmusik oder -»Kirchenbau. Wissenschaft von der Liturgie (Jungmann, Liturgiewiss. 282) wäre vielleicht treffender, wenn man bei dem Begriff Liturgie von dessen Etymologie absieht. 1.3. Der Begriff -»Liturgie ist nämlich kaum geeignet zur Bezeichnung des Gegenstandes. Balthasar Fischer nennt Liturgie ein „von den Humanisten eingeschleustes unglückliches Fremdwort", das „den alten falschen Begriff Liturgie = Schale des Gottesdienstes verhängnisvoll verewigen" könnte (Gottesdienst 250f). Zuvor hatte schon Peter Brunner nachgewiesen, daß das Wort die Sache weder im Neuen Testament noch in der systematischen Reflexion zureichend zu benennen vermag (101 ff). Es wurde von der griechischen Kirche für die Eucharistiefeier adoptiert, drang zur Zeit der Reformation unter humanistischem Einfluß in den reformierten und den anglikanischen Raum ein und hat sich von dort aus im frühen 18. Jh. auch bei den Lutheranern eingebürgert zur Bezeichnung der sich entwickelnden wissenschaftlichen Liturgik (Johannes Friderici, Liturgia veteris et novi testamenti, Jena 1704/05). Friedrich Wilhelm III. konnte in seiner ersten preußischen Agende 1817 die Ordnung des Hauptgottesdienstes bereits mit „Liturgie" überschreiben. Im amtlichen Sprachgebrauch der römisch-katholischen Kirche taucht der Begriff wohl bei Pius VI. 1794 (DS 2633) auf, dann im CIC 1917 (1256), wird aber erst unter Pius XII. (DS 3840 ff) und dann vollends durch die Liturgiekonstitution des Vatikanum II aufge-
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nommen, dort vor allem in der Überschrift und in der Definition: Liturgie ist „Vollzug des Priesteramtes Jesu Christi" (7). Damit wird der dem Begriff Liturgie von Haus aus innewohnende Iatreutische (anabatische) Aspekt zugunsten des für die Reformation zentralen katabatischen zurückgedrängt. -»Gottesdienst ist primär Gottes Handeln an uns und erst in zweiter Linie Handeln der Gemeinde. Luther hat den Begriff Liturgie nicht gebraucht und dafür die traditionellen Bezeichnungen cultus Dei (Formula missac et communionis 1523, WA 12,206) - jedoch nicht im Sinne eines Gott geschuldeten Dienstes mittelalterlicher Tugendlehre, sondern in der Tradition von Augustins fide, spe, caritate colendus est Deus (Ench. 3; vgl. Wainwright, Gottesdienst 250 ff) - und officium/Amt sowie den von ihm eingeführten Begriff Gottesdienst verwendet. 1.4. Mit dem Gebrauch der Begriffe Liturgiewissenschaft/Liturgik bleibt also eine gewisse Unschärfe in der Bezeichnung des Gegenstandes, die nur durch entsprechende Interpretation ausgeglichen werden kann. Gottesdienst dagegen hat bei unbestreitbaren Vorteilen - auch die römisch-katholische Kirche und Theologie bedient sich inzwischen seiner, wobei Reifenbergs Bewertung als „schillernder Begriff, der zudem mißverständliche Assoziationen nahelegen kann," schwer verständlich bleibt (51 f) - den Nachteil der kaum vollziehbaren Ausgliederung der Verkündigung. Dennoch ist der Begriff Gottesdienst aussagekräftiger als Liturgie, und es ist verständlich, daß ihm heute von vielen Autoren der Vorzug gegeben wird (vgl. die neueren Handbücher, Hb. d. Prakt. Theol., Berlin, II 1974; Gottesdienst der Kirche, Regensburg 1983ff sowie die Zeitschrift Gottesdienst). Das Heilsgeschehen im Gottesdienst, sein dialogischer Charakter, die Sequenz göttliches und daraufhin menschliches Handeln, Wort und Antwort werden in keinem anderen Begriff so grundlegend angezeigt wie in dem des Gottesdienstes. Wenn Geoffrey Wainwright dann doch dem Begriff des christlichen Kultus im Anschluß an Augustin den Vorzug gibt (Gottesdienst 249 ff), dann liegt das wohl vor allem darin begründet, daß ein entsprechender übergreifender Begriff in der englischen wie in der lateinischen und in den romanischen Sprachen fehlt. Der Begriff -»Agende endlich konzentriert sich ganz auf das liturgische Formular unter Ausklammerung der systematischen Aufgabe der Liturgiewissenschaft, ohne die man der Sache nicht mehr gerecht werden kann. 2. Zur Geschichte der
Disziplin
Auch wenn von Liturgiewissenschaft im strengen Sinn des Wortes erst seit der Aufklärung die Rede sein kann, haben sich Kirche und Theologie von Anfang an um den Gottesdienst bemüht. 2.1. Das patristische Zeitalter ist, abgesehen von den frühen Quellen zur Entfaltung der christlichen Liturgie (vor allem Didache, Hippolyts Apostolische Tradition bis zu Egerias Bericht über die Heilige Woche in Jerusalem), geprägt von seelsorgerlichen Einführungen und Erklärungen der Liturgie zu Taufe, Salbung und Eucharistie im Rahmen der christlichen Initiation. -»Cyrillus von Jerusalem, -»Ambrosius von Mailand, -»Johannes Chrysostomus, -»Theodor von Mopsuestia und Narses von Edessa (gest. 502) haben, um nur die wichtigsten zu nennen, in „mystagogischen" Katechesen die Neophyten mit Gottesdienst und Sakramenten vertraut gemacht. Daneben enthalten, zum Teil erst in neuester Zeit edierte Homilien, vorwiegend zu den Hauptfesten, erste systematische Reflexionen zur Liturgik, so im 2. Jh. die Homilien des -»Melito von Sardes, dann die des Eusebius von Emesa (gest. 359), -»Faustus von Reji, -»Maximus von Turin, Chromatius von Aquileia (gest. 407), -»Petrus Chrysologus und -»Caesarius von Arles. Von besonderer Bedeutung für die spätere Entwicklung wurden die „ersten Liturgiken" des (Pseudo) -»Dionysius Areopagita, IJepi ¿KKhjaiaaTiKtjt; iepapyiaq (6. Jh.), und des -»Isidor von Sevilla, De ecclesiasticis offieiis, verfaßt für die Ausbildung der Liturgen, zugleich aber schon die folgende allegorische Liturgiedeutung einleitend (vgl. zum Ganzen Lengeling, Liturgiewiss. 43 f, Reifenberg 78). 2.2. Im frühen Mittelalter
wird die Allegorese
zum Deutungsprinzip der Liturgik,
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obwohl durchaus auch historische Bemühungen zu beobachten sind. Uberragenden Einfluß gewinnt der Liber officialis des Amalar von Metz (820), der „den wirklichen Sinn eher verdunkelte, zumal die Deutung sich auf die nonverbalen Zeichen konzentrierte" (Lengeling, Liturgiewiss. 44). Trotz heftiger Kritik dieser Methode durch den Diakon -•Florus von Lyon, den Reichenauer Abt Walahfried Strabo (gest. 849) in seinem De exordiis et incrementis rerum ecclesiasticarum libellus und den Verfassern des bislang -»•Albert d.Gr. zugeschriebenen Doppeltraktats über die Eucharistie (vgl. Albert Fries: BGPhMA NF 25 [1984]) beherrschte diese Methode das ganze Mittelalter und blieb über das Rationale divinorum officiorum des Bischofs von Mende Wilhelm Durandus bis weit in die Neuzeit in der römisch-katholischen Liturgik von Einfluß (vor 1291, letzte Aufl. 1859; Lengeling, Liturgiewiss. 44). Die Scholastik hat sich im übrigen kaum interessiert gezeigt an grundlegenden Arbeiten zur Liturgik. 2.3. Das ändert sich mit dem historischen Interesse des Humanismus. Im Reformationsjahrhundert wird eine Fülle von liturgischen Quellen, zunehmend auch orientalischen, ediert und kritisch kommentiert. Die Werke von Georg Cassander (gest. 1566), Melchior Hittorp (gest. 1584), Jacobus Pamelius (gest. 1587), dann in der Barockzeit die von Nicolas-Hugues Menard (gest. 1644), Jaques Goar (gest. 1653), Jean Morin (gest. 1659), Giovanni Bona (gest. 1674), Jean de Launoy (gest. 1678), Jean Mabillon (gest. 1707), Josef Maria Tommasi (gest. 1713), Edmond Martene (gest. 1739) und später Ludovico Antonio Muratori (gest. 1750) sowie Martin Gerbert (gest. 1793) sind bis in unser Jahrhundert hinein verwendet und erst dann durch neuere Editionen ersetzt worden. Die evangelische Theologie hat sich zunächst kaum an dieser eindrucksvollen Aufarbeitung der liturgischen Quellen beteiligt. Für die Reformation kam das historisch-kritische Erwachen zu spät; manche Entscheidungen wären anders ausgefallen, hätten sie an den Früchten der historischen Arbeit partizipieren können. Das 16. und 17. Jh. brachte allerdings - vor und im Unterschied zu der mit dem tridentinischen Meßbuch Pius' V. (1570) verordneten Einheitsliturgie - eine Vielfalt von -»Kirchenordnungen hervor und befaßte sich mit der Theologie des Gottesdienstes und der Auslegung von CA X V De ritibus ecclesiasticis. Als erste spezifisch liturgische Veröffentlichung werden oft die Caeremoniae Lutheranae des Tilsiter Erzpriesters Philipp Arnoldi (1616) genannt (Nagel/Schmidt 15). Die liturgische Ausbildung war minimal, die Pommersche Kirchenordnung 1569 bestimmt lediglich, „dat einer van den pastoribus de ordinanden etlike dage vor dem examine instituere, underwise, wo sie döpen, sacramente vorreken, mit bicht unde kranken besöken, mit vortruwen unde benediction der eelüde mit testament holden unde der geliken unmegan Scholen" (EKO 4,395). Erste wissenschaftliche Werke zur Liturgik sind die Liturgia veteris et novi testamenti von Johannes Friderici (Jena 1704/05) und das Rituale ecclesiasticum von Caspar Calvör (Jena 1705; vgl. Graff 1,78ff). Zur gleichen Zeit beginnen die Fakultäten mit liturgischen Vorlesungen, deren Gegenstand bis dahin beiläufig in Vorlesungen zur CA behandelt wurde (Graff 1,18). Doch verursachten Pietismus wie Aufklärung auf je eigene Weise Einbrüche in die evangelische gottesdienstliche Tradition, die Paul Graff mit dem Titel seines Werkes sehr scharf als „(Geschichte der) Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands" und als „Verfall" bezeichnet (1,15). Damit wird man der Sache kaum gerecht. Die liturgische Erosion des evangelischen Gottesdienstes setzt bereits mit der Orthodoxie ein und erreicht im späten 18. Jh. nur jenen Punkt, an dem „der öffentliche Gottesdienst als eine liturgisch geordnete Versammlung zum erstenmal in der Geschichte des Christentums grundsätzlich ein fragwürdiges Unternehmen geworden" ist (Ehrensperger, Theorie 13). 2.4. Die späte -* Aufklärung war es aber auch, die in der Zeit zwischen 1770 und 1815 mit Bemühungen um eine Theorie des Gottesdienstes und seiner Liturgie begann und damit die Entfaltung einer wissenschaftlichen Liturgik zumindest vorbereitete. In einer
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Fülle von Abhandlungen und Zeitschriften-Aufsätzen wird nach „ Z w e c k " und Wesen des Gottesdienstes gefragt, seine liturgische Konkretion vor allem hinsichtlich der Struktur und der Sprache reflektiert und die Auseinandersetzung mit der Tradition innovativ gepflegt. In der römisch-katholischen Theologie bricht die Forderung nach Muttersprache in der Liturgie, nach Vereinfachung, Beteiligung des Volkes, Beachtung der seelsorgerlichen Dimension und Reinigung des Brauchtums auf, so daß hier mit Recht Vorläufer der -»Liturgischen Bewegung (und damit auch der Liturgiereform des Vatikanum II) erkannt worden sind (Trapp 19). Da das „Zeitalter der Rubrizistik" (1614-1903; Martimort 1,50) der römisch-katholischen Liturgik noch keinen Eingriff in die vorgeschriebenen Texte erlaubt, bewegen sich die praktischen Auswirkungen der Aufklärungsliturgik auf der pastoralen und der homiletischen Ebene. In Theorie und Zielsetzung findet sich schon hier eine „ökumenische Liturgik". Die evangelische Liturgik, für die der Erlanger Georg Friedrich Seiler (gest. 1807) genannt zu werden verdient (Jordahn), versuchte, die Aufklärungsliturgik in zahlreichen offiziellen und noch mehr in Privatagenden, Gebetssammlungen und Gesangbüchern in die Praxis umzusetzen, doch weithin ohne bleibende Nachwirkung. Die Grundgedanken jedoch - thematische Durchformung (innere Einheit), so umstritten sie auch bleiben mag, Vielfalt, Originalität, Experiment, Einfachheit, Gemeindenähe und kritischer Umgang mit der Überlieferung, mit neueren Begriffen die Suche nach Plausibilität, anthropologischer Relevanz und Kontextualität - sind bis heute wirksam. Die Aufklärung wird somit zum „Ursprung der Liturgiewissenschaft in einem den Historismus überwindenden Sinn" (Kohlschein, Wandel 33; vgl. zum Ganzen Graff II; Ehrensperger, Theorie; Cornehl: T R E 14, 61 ff [Lit.]; Kohlschein, Reformanliegen). 2.5. Friedrich Daniel Ernst ~*Schleiermacher wird als „Erbe und Uberwinder der Aufklärung" (Cornehl: TRE 14, 64, 43 f) zum eigentlichen Begründer (wie der Praktischen Theologie als eigenständiger theologischer Disziplin so auch) der wissenschaftlichen Liturgik, hinter die seit 1815 kein Theologe mehr zurückgehen kann. In der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums (M830 §§277ff) und in den postum herausgegebenen Vorlesungen Die christliche Sitte (1843, 502-620) und Die praktische Theologie (1850, 68-210) entfaltet Schleiermacher eine umfassende Theorie des Kultus, den er als darstellende Mitteilung des religiösen Bewußtseins der versammelten Gemeindeglieder definiert (Prakt. Theol. 75; Kurze Darstellung §280). Damit wird jede Verzweckung des Gottesdienstes abgelehnt, ob sie sich nun in Belehrung (Orthodoxie), Bekehrung (Pietismus) oder moralischer Vervollkommnung (Aufklärung) artikuliert. Der anthropozentrische Ansatz, den Schleiermacher aus der Aufklärung übernimmt, darf aber nicht als reiner Subjektivismus mißdeutet werden, denn die Bindung an die „göttliche Offenbarung in der Person Christi" (Aus Schleiermachers Leben in Briefen, hg. v. Jonas/Dilthey, Berlin, IV 1863, 403) steht außer Frage und deshalb auch die überragende Bedeutung der Schrift und Bekenntnis verpflichteten Predigt (Der christl. Glaube §§133.135). M a n könnte von einem „elliptischen Denken" mit den Brennpunkten „Bewußtsein des Menschen, schlechthinnig abhängig zu sein" und „die Person Christi als des Offenbarers Gottes" sprechen (Albrecht 14). Im Kultus soll nicht missioniert und nichts bewirkt werden, das noch nicht in der „religiösen Affection" der Teilnehmer vorhanden ist (Prakt. Theol. 840). Jedoch bewirkt die „Circulation des religiösen Interesses" die Steigerung der religiösen Erregtheit, also Erbauung (ebd. 65.72.75.41). Schleiermachers Verständnis des Kultus als darstellendes und mitteilendes Handeln stellt unverkennbar den reformatorischen Ansatz beim Wort Gottes und den Gnadenmitteln - und damit Gottesdienst als Heilsgeschehen und somit auch als wirksames Handeln - zurück. Sein Konzept des Kultus als Fest und Feier (Prakt. Theol. 70ff), für die wie für alle Disziplinen „Kunstregeln" zu erstellen sind (Kurze Darstellung §5 u.ö.), prägt den ihm folgenden -»Neuprotestantismus (Carl Immanuel -»Nitzsch, Ernst Christian -»Achelis, dann vor allem aus der älteren -»Liturgischen Bewegung Julius Smend
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[gest. 1930] und Friedrich Spitta [gest. 1924]; vgl. neuerdings wieder Peter Cornehl), dem es vor allem um das „religiöse Erlebnis" geht. Ansätze zur Überschreitung der anthropozentrischen Schau finden sich bei Schleiermacher selbst, vor allem in seiner Abendmahlslehre: „Alle Wirkung geht also ohne besonderes Zutun irgendeines Einzelnen unmittelbar und ungeteilt von dem Wort der Einsetzung aus, in welchem sich die erlösende und gemeinschaftsstiftende Liebe Christi nicht nur darstellt, sondern immer aufs neue kräftig regt" (Christi. Glaube § 139 S. 428) und dann in der Definition „Gottesdienst ist also der Inbegriff aller Handlungen, durch welche wir uns als Organe Gottes verstehen". Auch wenn das wirksame Handeln sogleich ausgeschlossen wird, „denn das ist dasjenige, wodurch wir als Organe Gottes etwas hervorbringen, nicht uns nur als solche darstellen" (Die christl. Sitte 525 f), zeigt sich hier eine Brücke zum Verständnis des Gottesdienstes als Heilsgeschehen (vgl. Nagel/Schmidt 30 f). 2.6. Während sich die römisch-katholische Theologie zur gleichen Zeit kritisch mit der Reformliturgik der Aufklärung (besonders mit Vitus Anton Winter [gest.1814]) auseinanderzusetzen beginnt und seit Franz Xaver Schmid über die Quellenforschung hinaus nach Kriterien zur Beurteilung und möglichen Erneuerung der überlieferten Liturgie sucht - allerdings noch im Rahmen pastoralliturgischer Fragestellung - , entfaltet sich im Neuluthertum eine an reformatorischer Theologie und historischer Liturgieforschung orientierte neue Liturgik. Vorangegangen war die Preußische Agende Friedrich Wilhelms III. (Entwurf 1816; Kirchenagende für die [Militärgemeinden und die] Hof- und Domkirche in Berlin 1822, mehrheitlich eingeführt 1825, Provinzausgaben 1 8 2 9 - 1 8 3 4 , revidiert 1856, endgültig verabschiedet 1894; vgl. Georg Rietschel: RE 3 10, 349ff und Alfred Niebergall: T R E 2, 55ff). Mit ihr suchte der Monarch aufgrund eigener liturgiegeschichtlicher Studien, besonders der Reformation, den Protestantismus in seinem Land zu einigen. Umfassende Liturgieerneuerungen in fast allen deutschen Landeskirchen folgten (Niebergall a.a.O. 61 ff). Für die Liturgik besonders bedeutsam wurde Wilhelm —•Löhe (Agende für christl. Gemeinden des luth. Bekenntnisses 1844, bestimmt für nordamerikanische Auswanderergemeinden). Reformatorische Gottesdiensttheologie und ökumenische Weite (unter besonderer Beachtung der orthodoxen Tradition) verbinden sich bei Löhe mit neuen Einsichten, in denen wohl auch Gestaltungsprinzipien der Aufklärung und Schleiermachers nachwirken (Cornehl: T R E 14, 66, 45ff). Der Gottesdienst wird als dramatisches Geschehen mit dem Ersteigen eines zweigipfeligen Berges verglichen (GW VII, l,Neuendettelsau 1 9 5 3 , 1 3 - 1 5 ) . Löhe „hat stets das subjektive Erleben der Gemeinde im Blick . . . und führt eine szenische liturgische Regie, die Worte und Gesten, optische und akustische Signale genau aufeinander abstimmt. Im einzelnen enthielt Löhes Agende überzeugende Gestaltungsvorschläge, die den Handlungscharakter des Gottesdienstes konkretisierten" (Cornehl a . a . O . 66, 4 9 - 5 4 ) . Am deutlichsten wird die konfessionelle Liturgik in Erlangen entfaltet. Friedrich Höfling (1802-1853), Adolf G . C . von -»Harleß, Carl Adolf Gerhard von -»Zezschwitz und vor allem Theodosius ->Harnack treiben umfassende liturgiegeschichtliche und -theologische Studien, die bis ins altchristliche Zeitalter zurückführen und die Bayerische Agende von 1856 begründen. Dabei wird Schleiermachers Definition des Kultus als darstellendes und mitteilendes Handeln mit dem anthropologischen Ansatz der Glaubenserfahrung („subjectiver Factor") geteilt, letzterer allerdings dem Handeln Christi, dem Heilsgeschehen, untergeordnet (Harnack, Prakt. Theol., Erlangen, I 1877, 277 ff., 256ff; vgl. Kreßel 2 9 - 5 3 ) . In Mecklenburg wirkte Theodor —»Kliefoth, der als Liturgiker alle Zeitgenossen überragte (Holtz: R G G 3 3 1666). Das erste große evangelische Lehrbuch der Liturgik schrieb der Leipziger Georg Rietschel ( 1 8 4 2 - 1 9 1 5 ; 2 Bde., 1900/1909), noch heute eine Fundgrube liturgiegeschichtlicher Fakten, wenn auch die Neubearbeitung durch Paul
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Graff (1951/52) sowohl hinsichtlich der Kenntnis der römisch-katholischen Riten und Liturgiewissenschaft als auch hinsichtlich der neueren evangelischen Gottesdiensttheologie weit zurückbleibt (vgl. Gottfried Hoffmanns Rezension: LJ 8 [1958] 182ff). „Es ist das historische Verdienst des Neuluthertums gewesen, mit der Wiederherstellung des klassischen Meßordinariums ein wesentliches Element liturgischer Kontinuität und konfessioneller Identität vor dem Verschwinden gerettet und gegen die Aufklärung die Substanz der gottesdienstlichen Tradition sichergestellt zu haben. Ihre Stärke zeigt die konfessionelle Theologie außerdem in der Entdeckung des Handlungscharakters des Gottesdienstes . . . [Die] szenisch-dramatische Interpretation der lutherischen Wort-Antwort-Struktur hat Dimensionen des gottesdienstlichen Handelns erschlossen, die vorher weder von der rein dogmatischen noch von der rein darstellenden Deutung erreicht worden w a r e n " (Cornehl: TRE 14,66,33-44). Hier von „Restauration" zu reden (so zuletzt Kalb 39.42ff), wird der Sache kaum gerecht. Es handelt sich in der Liturgik des Neuluthertums um eine umfassende theologische Neubesinnung, die auf eine beachtliche Erschließung der Liturgiegeschichte zurückgreifen kann und erste Tendenzen zum ökumenischen Austausch wie zur Einheit des gottesdienstlichen Lebens zeigt. 3. Die Liturgiewissenschaft
im 20.
Jahrhundert
Theologische Neubesinnung und -»Liturgische Bewegung ergeben im 20. Jh. in beiden Kirchen, wenn auch zeitlich versetzt und streckenweise kontrovers, einen inhaltlich erstaunlich parallelen Neubeginn und eine generelle Aufwertung der Liturgiewissenschaft. Dabei kann ein erheblicher Unterschied zwischen den beiden Traditionen nicht übersehen werden: In der römisch-katholischen Kirche ist die Liturgie Gegenstand der kirchlichen Gesetzgebung und unterliegt fortlaufender Regelung - für den Geltungsbereich des römischen Ritus durch die Ritenkongregation (1588, seit 1969 Kongregation für den Gottesdienst). In den evangelischen Kirchen wird das ius liturgicum im Zusammenwirken aller Ebenen ausgeübt; hier spielt die Rezeption durch die Gemeinde eine wichtige Rolle. Doch handelt es sich kaum um einen prinzipiellen, sondern nur um einen graduellen Unterschied. Auch der Papst entscheidet nicht ohne Konsultation der Basis und kommissionelle Vorarbeit, wobei der teilkirchlichen Liturgie ein erheblicher Freiraum eingeräumt und die gemeindliche Praxis überdies flexibler gehandhabt wird. Andererseits folgt auch der evangelische Gottesdienst eingeführten Agenden, wenngleich deren Verbindlichkeit unterschiedlich betrachtet wird (vgl. Schmidt-Lauber, Z u k u n f t 104ff). 3.1. Die römisch-katholische Liturgiewissenschaft erlebt einen Aufbruch zur Theologie der Liturgie. Bis Anfang des 20. Jh. wurde Liturgik vornehmlich als Teilgebiet des Kirchenrechtes begriffen, befaßt mit der praktischen Anwendung der Rubriken (Rubrizistik), dann als historisches Fach. Die ->Liturgische Bewegung überwindet diese Engführung, indem sie zunehmend systematisch-theologische und pastorale Fragestellungen einführt. 3.1.1. Es war vor allem Romano -»Guardini, der der Liturgiewissenschaft eine primär theologische Aufgabe zuwies: „Gegenstand der systematischen Liturgieforschung ist die lebendige, opfernde, betende, die Gnadengeheimnisse vollziehende Kirche in ihrer tatsächlichen Kultübung und ihren auf diesen bezüglichen, verbindlichen Äußerungen" - n i c h t mehr nur der einzelne liturgische Akt gemäß kirchlicher Gesetzgebung, auch nicht nur die historische Genese (Methode 104). Die kritische Reflexion des liturgischen Erbes fehlt hier allerdings: Guardini erliegt einer Idealisierung der Vergangenheit und äußert deutliche Abneigung gegen die ungeistige Welt der Neuzeit (Vom Geist der Liturgie, 1918 "1924/25; vgl. Kohlschein, Wandel 34, Anm. 14), was ihm gelegentlich herbe Kritik einträgt („konservativ-antimodernistisch", Cornehl: Prakt. Theol. 452; vgl. jedoch ders., Bildung 38ff). Die im letzten Lebensabschnitt gestellte Frage nach der Liturgiefähigkeit des modernen Menschen (Kultakt 106) wird im Grunde von ihm selbst positiv beant-
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wortet: „Aus innerer Notwendigkeit wird unsere Zeit reif zur Liturgie. Mehr: es gehört zu den letzten Entscheidungen, die uns gestellt sind, ob jenes hervordrängende Leben sich zur Liturgie e r h ö h t . . . So ist das liturgische Problem, im rechten Rahmen gesehen, eines der dringlichsten unserer geistlichen wie kulturellen Zukunft" (Liturgie 28). Die Sehnsucht nach dem Objektiven, nach Gemeinschaft und nach Transzendenz begründet diese Erwartung (Schilson, R. Guardini 18 f). So wird Guardini zum „Wegbereiter und Wegbegleiter der liturgischen Erneuerung" (a. a. 0 . 3 ) und der als Theologie verstandenen neuen Liturgiewissenschaft. Kurz nach Guardinis bahnbrechendem Aufsatz von 1921 stellt Athanasius Wintersig (1900—1942) die — bereits in der Aufklärungszeit anzutreffende - Pastoralliturgik als dritten Zweig der Liturgiewissenschaft neben den historischen und den systematischtheologischen. Die Pastoralliturgik fragt, „ob und wie sich das liturgisch-priesterliche Gemeindeleben auferbauen und erhalten läßt" (158). Damit hat die Disziplin nun auch ihre Methoden gefunden: die historisch-kritische, die systematisch-theologische und die seelsorgwissenschaftliche. 3.1.2. Für die inhaltlich-theologische Ausprägung des neuen Ansatzes wird dann Odo —>Casels Werk zum Stimulans. Mit seiner nicht ohne Widerspruch gebliebenen Mysterienlehre sieht Casel in der Feier der Liturgie den Zugang zum Heilsgeschehen eröffnet: „Im Mittelpunkt der christlichen Religion s t e h t . . . das heilige Pascha, der Übergang des für uns im Fleische der Sünde als Mensch erschienenen Gottessohnes zum Vater" (Kultmysterium 29). Das Sakrament ist „für den Menschen . . . ein Mit-tun, Mit-leiden, Mitauferstehen, d. h. ein Tun und Erleiden, das sich einem objektiv vorhandenen, mächtigen Tun und Erleiden anschließt" (Glaube 251). So ist „das Sakrament in seiner Sichtbarkeit der unmittelbare Zugang zum Leben Christi" (a.a.O. 261). „Das Mysterium ist eine heilige kultische Handlung, in der eine Heilstatsache unter dem Ritus Gegenwart wird; indem die Kultgemeinde diesen Ritus vollzieht, nimmt sie an der Heilstat teil und erwirbt sich dadurch das Heil" (Kultmysterium 79). Nicht die Inkarnation, „nicht die Epiphanie Gottes, sondern das Kreuz unseres Herrn Jesus Christus (ist) der Inhalt des wahren und einzigen Festes der Christen geworden . . . Denn die Verherrlichung kommt erst durch die Passion" (Mysterium 213f; vgl. zum Ganzen Schilson, Theologie). Der einflußreiche Konzilstheologe Cyprian Vagaggini hat Casels Ansatz aufgenommen und in die Liturgiekonstitution 1963 eingebracht, und Joseph Ratzinger hält ihn für „die vielleicht fruchtbarste theologische Idee unseres Jahrhunderts" (5). 3.1.3. Josef Andreas -> Jungmann hat wie kaum ein anderer den Ertrag der historischen Erforschung der Liturgie unter dem Gesichtspunkt der Liturgie als Handeln des Gottesvolkes zusammengefaßt (Missarum Sollemnia; Der Gottesdienst der Kirche) und den pastoralliturgischen Ansatz von Wintersig weitergeführt. „Erneuerung der Liturgie aus dem Geiste der Seelsorge" war das Thema des 1. Internationalen Pastoralliturgischen Kongresses 1956 in Assisi, „Seelsorge als Schlüssel der Liturgiegeschichte" Jungmanns These (Seelsorge). 3.1.4. Die durch das —>Vatikanum II inaugurierte Liturgiereform hat als Frucht der Liturgischen Bewegung eine tiefgreifende Erneuerung des Verständnisses und der Praxis der Liturgie sowie eine Reform der liturgischen Ausbildung bewirkt und dabei entscheidende Anliegen der Reformation aufgenommen (Bugnini; Neunheuser, Liturgiereform). Das Gottesdienstverständnis der nachkonziliaren römisch-katholischen Kirche ist bestimmt durch: (1) Das dialogische Konzept der Vergegenwärtigung des Heils durch G o t t und der Antwort des Menschen in D a n k und Bitte (Liturgiekonstitution 1963, 33). (2) Die Liturgie ist „Vollzug des Priesteramtes Jesu Christi; durch sinnenfällige Zeichen (signa sensibilia, auch mit „ S y m b o l e " übersetzbar) wird in ihr die Heiligung des Menschen bezeichnet und in je eigener Weise b e w i r k t " (7). (3) Liturgie ist Vergegenwärtigung des Pascha-Mysteriums Christi ( 5 - 7 . 1 0 2 f f ) . Er selbst ist in vielfältiger Weise gegenwärtig: in der Versammlung der Gläubigen, in der ganzen Handlung, in den eucharistischen Gestalten, in der Person des Vorstehers und vor allem in seinem Wort (7).
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(4) Liturgie ist kein isoliertes Handeln des Priesters, sondern Handeln des ganzen Volkes Gottes und darin zugleich Quelle und Ziel alles Tuns der Kirche (10.26-29). (5) Das Wesen der Liturgie fordert die „volle, bewußte und tätige Teilnahme" aller Gläubigen (plena, conscia atque actuosa participatio). Hier wird ausdrücklich auf I Petr 2,9 verwiesen (14). (6) Der einen endzeitlichen Liturgie vor Gottes Angesicht entsprechen auf dieser Erde verschiedene teilkirchliche Liturgien. Dem Uniformitätsprinzip des nachtridentinischen Meßbuchs Pius' V. (1570) wird der Abschied gegeben zugunsten regionaler Inkulturation. Dazu gehört auch die Muttersprache (8.4.37-40.54). (7) Liturgie ist Wortgeschehen. Die Schrift hat ihre Sprache geprägt. Sie soll - vornehmlich durch Lesungen und Predigt, letztere als „Teil der Liturgie" verstanden und in jeder Sonn- und Feiertagsmesse zur Pflicht gemacht - „jenes innige und lebendige Ergriffensein von der Heiligen Schrift (fördern), von dem die ehrwürdige Uberlieferung östlicher und westlicher Riten zeugt" (24.35.52).
Dem entspricht eine umfassende Erneuerung der liturgischen Bücher und Praxis. 1970 erschien das Meßbuch Pauls VI. (deutsch 1975). Vom Kyriale simplex (1965) bis zum Benedictionale und zum Caeremoniale Episcoporum (1985) wurden sämtliche Bücher für die Eucharistiefeier, das Stundengebet, das Pontifikale und das Rituale in römischen editiones typicae neu herausgegeben und nachfolgend übersetzt und mit gewissen Modifikationen wie Ergänzungen in den Teilkirchen eingeführt (Adam 50ff). Es stehen lediglich das Martyrologium Romanutn sowie einige Ergänzungen noch aus. Damit ist die Liturgiereform zunächst abgeschlossen. Das Wort reformatum erscheint allerdings in den Titeln der erneuerten liturgischen Bücher nicht, sondern stets - gemäß dem Sprachgebrauch der Liturgiekonstitution (z. B. Teil III) - instauratum: Es handelt sich nicht um neue Ordnungen, wie Marcel Lefebvre dem Vatikan vorwirft, sondern um erneuerte, die ihrerseits immer wieder erneuerungsbedürftig sein werden (Lengeling, Jahrestag 122 f). Endlich hat das Konzil kräftige Impulse gesetzt zur Intensivierung der liturgischen Ausbildung an Universitäten und Priesterseminaren und allgemein zur liturgischen Bildung der Gläubigen. Liturgiewissenschaft gehört nicht mehr zu den Nebenfächern, sondern „ist in den Seminarien und den Studienhäusern der Orden zu den notwendigen und wichtigen Fächern und an den Theologischen Fakultäten zu den Hauptfächern zu rechnen. Es ist sowohl unter theologischem und historischem wie auch unter geistlichem, seelsorglichem und rechtlichem Gesichtspunkt zu behandeln" (Liturgiekonstitution 16). Der erste Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft wurde 1748 am Collegium Romanum, der zweite 1920 an der Gregoriana errichtet, Trier folgte 1947. Jetzt werden überall Institute für Liturgiewissenschaft errichtet, nur in Tübingen und Augsburg gehört Liturgiewissenschaft noch - wie seit der josefinischen Studienreform 1782 - zur Pastoraltheologie (Lengeling, Liturgicwiss. 49ff): Die Liturgicwissenschaft ist keine Hilfswissenschaft mehr, sondern disciplina principalis (Meyer, Hauptfach 316ff). Das Ausbildungskonzept und die Lehrpraxis haben in der römisch-katholischen Liturgicwissenschaft beachtliche Konkretion erlangt (vgl. Lengeling, Bilanz; Richter, Liturgiewiss.; Kohlschein, Ausbildung). Die „tätige Teilnahme des ganzen Volkes" erfordert eine entsprechende „,liturgische Bildung" der Gläubigen, die besonders den Seelsorgern aufgetragen ist (Liturgiekonstitution 14.19). Guardini hat dieses Thema in zahlreichen Schriften behandelt und dabei als „erste Aufgabe" bestimmt: „Der Mensch muß wieder symbolfähig werden" (Liturgie 39). Es ging ihm um die Wiederherstellung der Ganzheitlichkeit der liturgischen und erst recht der sakramentalen Vollzüge (Schilson, Erneuerung 24ff). 3.2. Die neuere evangelische -»Liturgische Bewegung hat der Liturgiewissenschaft nicht den gleichen Rang innerhalb des Kanons der theologischen Disziplinen verschaffen können wie die römisch-katholische. Gründe dafür sind weniger im reformatorischen Ansatz zu suchen; dieser gibt dem Gottesdienst als dialogischem Geschehen zwischen Gott und seiner Gemeinde die gleiche zentrale Bedeutung. Vielmehr werden die oftmals einseitige Betonung der Predigt und die Frömmigkeitsgeschichte dafür verantwortlich zu machen sein. Im deutschen Sprachraum gibt es bis heute keinen liturgiewissenschaftli-
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chen Lehrstuhl und kein Liturgisches Institut. In den Lehrplänen der theologischen Fakultäten und meist auch der Seminare der zweiten Ausbildungsphase ist Liturgiewissenschaft eines von vielen praktisch-theologischen (Neben-)Fächern. Infolgedessen ist auch die personelle wie quantitative Forschungskapazität begrenzt (Schulz, Schrifttum 51). Dennoch hat sich eine evangelische Liturgiewissenschaft entwickeln können, die mit der römisch-katholischen nicht nur konvergiert, sondern weitgehend konform geht. Es ist ein breiter Grundkonsens festzustellen. Theologie ist auch in diesem Fach nur mehr ökumenisch sinnvoll (Bieritz, Chancen; Wainwright, Doxology). Die einschlägige Literatur ist (bis 1986) zuverlässig zusammengestellt von Frieder Schulz (Schrifttum). 3.2.1. In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts setzte eine theologische Neuorientierung ein, die Theologie und Praxis miteinander verbindet und der evangelischen Liturgiewissenschaft ein klares Profil gibt. Während die jüngere Liturgische Bewegung anfangs mit Rudolf - » O t t o noch Nachwirkungen der älteren Liturgischen Bewegung zeigte (das Wesen des „Heiligen" in der „Welt der Religion", das „Sakrament des heiligen Schweigens"), wird das reformatorische Erbe neu entdeckt und zugleich Verbindung gesucht zur Alten Kirche (-»Alpirsbach; -»Gregorianik in Hauptgottesdienst und Stundengebet als den Text unverfälscht zur Geltung bringende Dienerin des Wortes, Friedrich Buchholz [1900-1967]), zur Ökumene (-*Hochkirchliche Bewegung: „Evangelische Katholizität" aus Begegnungen mit der Schwedischen Kirche, den Anglikanern, der orthodoxen Liturgie und der frühkatholischen Messe, Friedrich -»Heiler), zur -•Jugendbewegung mit ihrem Drängen nach umfassender Erneuerung und Gestalthaftigkeit (Berneuchen, -»Michaelsbruderschaft: Messe, Tagzeitengebct, Beichte, Wilhelm Stahlin, Karl Bernhard Ritter [1890-1968] als dem „wirksamen Gestalter moderner Gebetssprache" [Nagel 192]) und zur Singbewegung (reformatorischer Choral, Gemeindesingearbeit und neue Kirchenmusik, Oskar Söhngen [1900-1983]). Das neu gewonnene Verständnis der reformatorischen Theologie (Karl -»Barth, Eduard -»Thurncysen) konzentrierte sich zunächst auf Inhalt und Vollmacht der Verkündigung in Frontstellung sowohl gegen den neuprotestantischen Modernismus als auch gegen den „katholischen Sakramentalismus" (Cornehl: TRE 14, 73, 49f), wandte sich dann aber auch, vor allem im Kirchenkampf (Barmen 1934, These 3), der Gottesdiensttheologie und -liturgie zu (Asmussen, Beckmann). Gleichzeitig mit der -»Dialektischen Theologie erweckte die Lutherrenaissance neues Interesse an reformatorischer Gottesdienstlehre und -praxis (Althaus; Dietz; Knolle, Bindung; Luthers Reform). 3.2.2. Zu Beginn der umfassenden Liturgiereform nach dem zweiten Weltkrieg legte Peter Brunner (1900-1981) eine Gottesdiensttheologie vor, „die bisher in unserem Jahrhundert einzigartig geblieben ist" (Nachruf: JLH 25 [1981] X): Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde (Leit. I, 1954). Bereits der Titel gab als Ertrag der neutestamentlichen Begriffsanalyse (99-112) ein zentrales Stichwort, das künftig in der Liturgiewissenschaft beider Kirchen eine wichtige Rolle spielt. Der dreifachen Ortsbestimmung des Gottesdienstes (innerhalb der universalen Heilsökonomie Gottes, in der Existenz des einzelnen Christen [anthropologischer Ort] und zwischen dem Gotteslob der außermenschlichen Kreatur und dem der Engel [kosmologischer Ort], 116-180) folgt das „Heilsgeschehen im Gottesdienst", das in Wortverkündigung und Abendmahl pneumatisch Ereignis wird (181—267). In der Wortverkündigung, die mit dem „grundlegenden Wort" die „Taufgrenze" zur Gemeinde hin überschreiten hilft und mit dem „auferbauenden Wort" die Gemeinde erinnert und erweckt, geschieht „Christusanamnese", die gleichfalls - verbunden mit der Handlung - als „effektive repraesentatio" des Christusgeschehens und als „anticipatio"des noch Ausstehenden das Wesen des Abendmahles ausmacht (194 f.209 ff.229 ff). Mit dem biblisch begründeten Begriff der „Identitätsverknüpfung" deutet Brunner die Konsekration. Für sie ist im Sinne der Alten Kirche der Gehorsam gegenüber dem Stiftungswort, genauer die Abendmahlseulogie, grundlegend. Letztere umfaßt also nicht nur die Rezitation der Herrenworte, obwohl diese sie begründen (238 ff.341.346 f; vgl. Schmidt-Lauber, Eucharistie 145 f). Nachdem die liturgische Konkretion schon vorher ständig mitbedacht worden ist (bes. 195ff.235ff), wendet sich Brunner zuletzt der „Gestalt des Gottesdienstes" zu, gibt deren dogmatische Begründung (Unentrinnbarkeit der Formgebung, eschatologische Freiheit, Wortgebundenheit, Zeichenhaftigkeit, konkrete Geschichtlichkeit und Unterwerfung unter
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die Liebe, 268 ff), untersucht die Verwirklichung mit ihren gestaltenden Faktoren einschließlich des Problemkreises Gottesdienst und Kunst und schließt mit dem Entwurf einer eigenen Abendmahlseulogie mit Anamnese und Epiklese (283ff). Wichtig für Reform und Gebrauch von Agenden ist das Postulat der „pneumatischen Angemessenheit des Zeichens" (277).
Neben Brunners Arbeit verdient die gründliche Studie von Vilmos Vajta (geb. 1918) zur Gottesdiensttheologic Luthers Beachtung, in der das Verhältnis von beneficium und sacrificium und das von Gottesdienst als Werk Gottes und Gottesdienst als Werk des Glaubens dargelegt wird. 3.2.3. Unlängst hat die evangelische Gottesdiensttheologie einen neuen Impuls erhalten durch Geoffrey Wainwrights (geb. 1939) Systematische Theologie, die ganz aus der Liturgie entwickelt wird (Doxology). Damit nimmt Wainwright den alten Grundsatz lex orandi - lex credendi bzw. lex supplicandi (-»Prosper von Aquitanien, DS 246) wieder auf - wie vor ihm Casel und Vagaggini. Die klassischen loci der evangelischen Dogmatik (15-146), die Vermittlung der christlichen Botschaft (Schrift, Credo und Hymnen, lex orandi/lex credendi-, 149-283) und kontextuelle Aspekte (Ökumenismus, Erneuerung, Kultur und im Schlußkapitel „ R e w a r d s " , 287-462) werden so bearbeitet, daß dieses Werk sowohl als dogmatische Theologie aus liturgischer Perspektive wie auch als Gottesdiensttheologie gelesen werden kann (Vorwort). Die fundamentale Interdependenz von Theologie und Liturgie wird in weiteren Aufsätzen entwickelt, unter denen sich „Der Gottesdienst als ,Locus Theologicus' oder Quelle und Thema der Theologie" (.Locus Theologicus', vgl. auch Christian Worship) als eminent ergiebig für die neuere Liturgiewissenschaft erweist.
3.2.4. Die Liturgiewissenschaft hat auf weitere wichtige interdisziplinäre Beiträge zurückgreifen können: Aus der Exegese sind vor allem Arbeiten von -»Lohmeyer, Cullmann, -»Mowinckel, Reicke und Hahn hervorzuheben, aus der Kirchengeschichte solche von -»Lietzmann, Fendt, Graff, Kunze, Mahrenholz, Dix und Kretschmar, aus der Hymnologie die von Gabriel, Ameln und Blankenburg und aus der Dogmatik die Tauflehre von Schlink. Hier deutet sich die immer wichtiger werdende interdisziplinäre Forschung zur Liturgiewissenschaft an. Die Geschichte des Gottesdienstes schrieben in neuerer Zeit Rudolf Stählin und Nagel. Die einzige Einführung stammt von Fendt. Und als Lehrbuch liegt - abgesehen von dem Grundriß von Kalb und entsprechenden Abschnitten in praktisch-theologischen Lehrbüchern (Achelis, Fendt, Alfred Dedo Müller, Hertzsch, Haendler, Nagel/Schmidt und Rössler) - lediglich das von Graff bearbeitete Werk von Rietschel vor. 3.2.5. Die Agendenreform der Nachkriegszeit konnte so auf eine breite theologische Basis gestellt werden. Sie hat ihre Impulse aus der Notwendigkeit des kirchlichen Wiederaufbaus wie aus den sich anbahnenden größeren Zusammenschlüssen (VELKD, EKD) bezogen. Die Lutherische Liturgische Konferenz (seit 1941) leistete als unabhängige, bald auch nicht-lutherische Vertreter einbeziehende Arbeitsgemeinschaft von Fachleuten unter Christhard Mahrenholz (1900-1980) die Vorarbeiten für die VELKD Agenden I - I V (1951-1962) und die EKU Agenden I—II (1959-1963). Der Hauptgottesdienst übernimmt die Meßstruktur (in der EKU Agende I wegen der konfessionellen Verschiedenheit der Gemeinden nur in der Ersten Form). Das Eucharistiegebet findet wieder Eingang (EKU: Postsanctus, Anamnese, Epiklese vor den verba testamenti und dem Vaterunser - V E L K D [nur Form B]: Postsanctus, Epiklese, verba testamenti, Anamnese, eschatologische Bitte und Schlußdoxologie mit nachfolgendem Vaterunser). In anderen Kirchen vollzogen sich ähnliche Liturgiereformen (s. TRE2,69ff; dazu kritisch [„verordnete Einheit"] Cornehl: TRE 14, 77 f). Jedoch äußerte sich trotz stetig wachsender Akzeptanz der Einheit von Wort und Sakrament und Kommunionfreudigkeit bereits im folgenden Jahrzehnt ein deutliches Unbehagen an Form, Sprache und (vermeintlicher) Unbeweglichkeit der eben eingeführten Ordnungen. Gottesdienst als Experiment, Alternativen, Gegenmodelle, Improvisation und Kreativität, die sich in einer Fülle von Versuchen und Publikationen äußerten, forderten eine grundlegend neue Revision (Schmidt-Lauber, Z u k u n f t 139ff). Die
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Liturgiewissenschaft/Liturgik
Lutherische Liturgische Konferenz antwortete 1974 mit ihrer Denkschrift Versammelte Gemeinde. Struktur und Elemente des Gottesdienstes, in der zunächst Verständnisund Erschließungshilfen zum flexiblen Gebrauch vorhandener Agenden geboten werden sollten. Bleibende G r u n d s t r u k t u r (Eröffnung - A n r u f u n g - Verkündigung und Bekenntnis — Abendmahl — Sendung) und variable Ausformungsvarianten vermitteln zwischen Tradition und Innovation. „Die Ausformungsvarianten erweisen die Schmiegsamkeit der Liturgie, w ä h r e n d die feste G r u n d s t r u k t u r Ursprungsbindung, Kontinuität und Identität des christlichen Gottesdienstes b e w u ß t m a c h t " . Das sogenannte „ S t r u k t u r p a p i e r " will wesentliche Aspekte der liturgischen Gestaltung „deutlicher u n d einsichtiger m a c h e n " (Gottesdienst als Gestaltungsaufgabc 10; vgl. Schulz, Struktur 78 ff). Der Begriff Struktur blieb nicht ohne Kritik: Er sei „zu abstrakt, um . . . liturgische Phänomene erfassen zu k ö n n e n " (Bieritz, Struktur 37), das Modell zeige eine „bedenkliche Unschärfe der verwendeten Kategorien" (Cornehl, Aufgaben 25), Struktur sei „syntaktisch-formal" und zum Ausschluß von Deformationen unfähig, die die Soteriologie gefährden (Jörns, Problemlösung 352). Doch ermöglichte dieses Modell eine neue Agendenrevision, die 1980 von der VELKD und der EKU in Ost und West eingeleitet und 1990 mit dem Entwurf einer Erneuerten Agende zum Abschluß gebracht wurde. Er zeichnet sich vor allem durch einen sprachlich wie inhaltlich breit gefächerten Textteil aus. Beschlußfassung und Rezeption stehen noch aus (Stalmann 162ff; Schmidt-Lauber, Z u k u n f t 111 ff). Die liturgische Ausbildung der evangelischen Theologen entsprechend dem crreichtcn Stand der Liturgiewissenschaft bleibt ein Fernziel. Joachim Beckmanns Forderung auf dem Theologentag 1954, Liturgiewissenschaft als theologische Lehre vom Gottesdienst zu einer eigenen Disziplin innerhalb der systematischen Theologie zu erheben (ThLZ 79 [1954] 519ff), blieb bislang ohne Erfolg. In der Regel werden Kirchenmusiker in liturgicis besser ausgebildet als Theologen. Uber Gottesdienstdidaktik und liturgische Bildung im allgemeinen liegt eine Reihe von Arbeiten vor (Meyer zu Uptrup; Cornehl, Bildung). Ansätze zur Aufarbeitung des Defizits finden sich auch in allgemeinverständlichen Einführungen (Kalb; Albrecht; Dietz; Bieritz; Stalmann; vgl. Schulz, Schrifttum 61). Schulung und Aktivierung der Gemeinde zur M i t w i r k u n g im Gottesdienst werden intensiviert, und an den Universitäten ist ein neues Interesse am Studienfach Liturgiewissenschaft zu beobachten. Die Generalsynode der VELKD (Malente 1990) erwog die Begründung eines Liturgischen Instituts. 3.3. Die Konvergenzen evangelischer und römisch-katholischer Liturgiewissenschaft sind nicht zu übersehen. 3.3.1. Konzil und Liturgiereform ermöglichten einen breiten Grundkonsens: Gottesdienst als Heilsgeschehen, dialogischer Charakter unter Vorrang des katabatischen Aspektes (vgl. Casel und Peter Brunner), Gottesdienst als „Versammlung" des ihn gestaltenden Volkes Gottes (Jungmann), „Deutlichkeit und Durchschaubarkeit liturgischer Vollzüge (zum) sinnvollen Mitvollzug", Rücknahme juridischer Kategorien zugunsten einer „heilsgeschichtlichen, biblischer Theologie verpflichteten Begrifflichkeit" und „der breite Raum, der dem Worte Gottes eingeräumt wird" (Bieritz, Chancen 473). Die konziliare Definition der Liturgie (Liturgiekonstitution 33) entspricht fast wörtlich Luthers klassischer Torgauer Formel (WA 49, 588). Schließlich wird die Vielfalt teilkirchlicher Riten ausdrücklich anerkannt (Liturgiekonstitution 4; dazu Fischer, Liturgie). Evangelischerseits ist auf die wachsende Realisierung der Einheit von Wort und Sakrament zu verweisen, auf die „inklusive Christologie" mit einem neuen „Uberdenken der eigentlich eucharistischen Dimension im Geschehen des Abendmahls" und auf die Entdeckung des Zeichencharakters der Liturgie wie der symbolischen Kommunikation (Bieritz, Chancen 474). 3.3.2. Während die Amtsfrage weiterhin offenbleibt, sind folgende Einzelprobleme weitgehend geklärt: (1) Die Bezeichnung des Gottesdienstes als Kultus, die den Reformatoren noch unproblematisch war (s.o. zu 1.3), ist keineswegs sicheres Indiz für die Bevorzugung des latreutischen Aspektes der Liturgie (so noch Harnoncourt, Liturgiewiss. 151; vgl. dazu Richter, Liturgie 13), sondern Augustinischer Terminus, der durchaus den Bedeutungsgehalt des deutschen Begriffes Gottesdienst in sich
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bergen kann (vgl. Wainwright, Gottesdienst 49ff). Bereits Otto Haendler hat den Begriff Kultus für unentbehrlich erachtet (Grundriß Prakt. Theol., Berlin 1957,144 ff.245 ff). Als notwendige religionssoziologische und -psychologische Kategorie leistet er „die Kommunikation mit den nichttheologischen Wissenschaften und mit artikulierter Alltagserfahrung" (Daiber 47; vgl. Volp 2; römischkatholisch: Mußner 50ff; Khoury). (2) Das In- und Miteinander von Gottes Handeln und menschlichem Glaubensgehorsam, von Wort und Antwort, wird in der evangelischen Theologie nur zögernd reflektiert. In der Definition der
„Liturgie als Vollzug des Priesteramtes Jesu Christi" (Liturgiekonstitution 7) kommt das reformato-
rische Anliegen zur Geltung: Gott handelt, aber er bedient sich dabei des Handelns der Gemeinde. Diese Aussage wird nur dann bedenklich, wenn das aufgetragene menschliche Handeln verselbständigt und Gott gegenüber als Leistung geltend gemacht wird. Ein solcher Verdacht der römischkatholischen Theologie gegenüber wird nach dem Vatikanum II nicht mehr aufrecht erhalten werden können. Dem Verständnis der -»Praktischen Theologie als Handlungswissenschaft käme im Gegenteil die konziliare Formulierung entgegen, weil sie Gottes Handeln in unserem Handeln absichert (zum Ganzen Ulrich Kühn, Sakramente [HSystTh 11, 1985], 213 - 2 2 5 ) . (3) Endlich darf der Streit um das -»Opfer im Gottesdienst als geklärt bezeichnet werden. Kein römisch-katholischer Theologe vertritt (mehr) die Theorie eines Opferhandelns der Kirche im Unterschied von und zusätzlich zum e'(fäna£ des Kreuzesgeschehens. Die aus der Frühzeit der Kirche herrührende liturgische Formel offerimus tibi bezeichnet nichts anderes als das Gegenwärtigwerden Christi und seines Opfers für uns im zakar/äväfivr;(7l = und, oder, wenn . . . so:), auch Funktoren genannt. Diese werden im sog. Matrizenkalkül mittels „Wahrheitstafeln" definiert: Es wird festgelegt, welchen Wahrheitswert eine aus zwei Buchstaben (p, q) und dem sie verknüpfenden Funktor gebildete Formel hat, und zwar für jede der vier möglichen Kombinationen der Wahrheitswerte von p und q. Z.B.: p
q
PAq
Pvq
w w f f
w f w f
w f f f
w w w f
p A q ist also wahr dann und nur dann, wenn p wahr ist und q wahr ist. p Vq ist falsch dann und nur dann, wenn p falsch ist und q falsch ist.
Die Negation ( ~ p) ist definiert als die Aussage, die den p entgegengesetzten Wahrheitswert hat. Daneben gibt es je nach dem gewählten System weitere Funktoren. Da die Verknüpfung von mehr als zwei Aussagen (Argumenten) auf diejenigen von je zweien zurückgeführt werden kann, lassen sich alle zusammengesetzten Aussagen als Wahrheitsfunktionen auffassen und untersuchen. Für die Logik sind die Verknüpfungen wichtig, die bei jeder Kombination der Wahrheitswerte ihrer Argumente „ w a h r " ergeben (Tautologien). Sie liefern Schemata für das Schließen. Nicht alle Verknüpfungen zweier Aussagen sind „Wahrheitsfunktionen". So ist z. B. der Wahrheitswert von „p, weil q " nicht eindeutig durch die Wahrheitswerte der Argumente festgelegt. Die in der Aussagenlogik unbeachteten, aber für die Folgerichtigkeit anderer Schlüsse wichtigen Bestandteile einer Aussage werden in Logikkalkülen berücksichtigt, die entsprechend reichhaltiger sind. Man benötigt dazu weitere Symbole, so für die in Aussagen benannten Objekte (x,y,...), für Prädikate, die ausgesagt werden (a, b,...), für die Quantität der Aussage (A, E, sog. Quantoren) und weitere Regeln. Der
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einfachste Prädikatenkalkül kommt damit aus. Die Aussage: „Jeder Mensch ist sterblich" wird dargestellt: A (x). ax -» bx (Für jedes Objekt [x] gilt: Ist x ein Mensch [a], so ist x sterblich [b]); die Aussage „Mindestens ein Mensch ist sterblich": E ( x ) . a x A b x (Für mindestens ein Objekt [x] gilt: Es ist ein Mensch und es ist sterblich). Zu den Grundlagen des Kalküls gehören Regeln für die Bildung zulässiger Ausdrücke, Axiome (als gültig angesehene Formeln), Definitionen und Regeln für die Ableitung gültiger Formeln. Die Gestaltung eines prädikatenlogischen Kalküls hängt von Erwägungen über Zweckmäßigkeiten, insbesondere Einfachheit der Darstellung und Handhabung, ab. Das Ziel ist immer die Gewinnung von gültigen Formeln, die als logische Gesetze aufgefaßt werden können. So lassen sich z.B. die syllogistischen Schlußweisen als gültige Formeln der Prädikatenlogik erweisen. Der Schlußweise Barbara entspricht die Formel: A(x). bx -» cx. A . A(x). ax -» bx: : A(x). ax -» cx. Der Kalkül führt aber über die traditionelle Syllogistik hinaus. Auch die Modallogik ist inzwischen mit den Methoden des Kalküls wesentlich erweitert und präzisiert worden. Literatur Innocent Maria Joseph Bochenski, Formale Logik, Freiburg M970. - George Boole, The Mathematical Analysis of Logic, being an Essay toward a Calculus of Deductive Reasoning, London 1951. — Rudolf Carnap, Symbolische Logik, Wien 1954. - Josef Dopp, Formale Logik, Einsiedeln 1969. — Johann Fischl, Logik, Graz M967. - Hans Freudenthal, Einf. in die Sprache der Logik, M ü n chen/Wien 2 1968. - G i s b e r t Hasenjäger, Einf. in die Grundbegriffe u. Probleme der modernen Logik, Freiburg 1962. - Hans Hermes, Einf. in die mathematische Logik. Klassische Prädikatenlogik, Stuttgart "1969. - Wilhelm Kamlah/Paul Lorenzen, Logische Propädeutik, Mannheim 1967. - Georg Klaus, Moderne Logik, Berlin 1972. - Franz v. Kutschera, Elementare Logik, Wien 1967. — Ders./Alfred Breitkopf, Einf. in die moderne Logik, Freiburg/München 1971. - Jan Lukasiewicz, Aristotele's Syllogistic from the Standpoint of Modern Formal Logic, Oxford 2 1957. - Benson Males, Elementare Logik, Göttingen 1969. - Albert Menne, Einf. in die Logik, München 2 1973. — Günther Patzig, Die aristotelische Syllogistik, Göttingen M963. - Alexander Pfänder, Logik, Tübingen "1963. - Willard van Orman Quine, Methods of Logic, New York 2 1964; dt.: Grundzüge der Logik, Frankfurt a . M . 1969. - Helmut Seiffert, Einf. in die Logik. Logische Propädeutik u. formale Logik, München 1973. - Werner Strombach, Die Gesetze unseres Denkens, München 3 1975. — Ders./Helmut Emde/Walter Regersbach, Mathematische Logik. Ihre Grundprobleme in Theorie u. Anwendung, München 1972. - Alfred Tarski, Einf. in die mathematische Logik, Göttingen J 1969. — Alfred N. Whitehead/Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 Bde., Cambridge 2 1925-1927.
Albert Zimmermann II. Transzendentale/spekulative Logik 1. Formale und transzendentale Logik bei Kant 2. Transzendentalphilosophie und Metaphysik 3. Metaphysik als Logik bei Hegel 4. Logik und Dialektik (Quellen/Literatur S. 432)
1. Formaie und transzendentale
Logik bei Kant
Der Terminus „transzendentale Logik" wurde erstmals 1781 durch Kants Kritik der reinen Vernunft in die Philosophie eingeführt. Diese Logik wurde in genauer Entsprechung zur überlieferten Logik konzipiert, die -»Kant „allgemeine reine Logik" oder auch „formale Logik" (B170) nennt. Die letztgenannte Bezeichnung hat sich bis heute durchgesetzt, ohne daß Kants Auffassung von dem, was die Worte „Logik" und „ f o r m a l " bedeuten, allgemein oder auch nur überwiegend von anderen Philosophen geteilt würde. Die Logik ist nach Kant ein Teil der Philosophie, nämlich derjenige Teil, der sich mit der Form des Verstandes (in dem weiteren Sinne des Wortes, in welchem es die Urteilskraft und die Vernunft mitumfaßt: B 169) selbst und d . h . den allgemeinen und notwendigen Gesetzen des Denkens überhaupt befaßt und dabei von allem Unterschied der Objekte des Denkens absieht. Als formale Philosophie ist die Logik seit -»Aristoteles den sicheren Gang einer Wissenschaft gegangen, und sie scheint nach Kant auch im wesentlichen durch ihren Gründer abgeschlossen und vollendet zu sein. Diesen einzigartigen
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Status verdankt sie der Begrenztheit ihres Gegenstandsbereichs. Denn da sie ausschließlich die formalen Regeln allen Denkens untersucht und streng beweist, hat der Verstand es in ihr mit nichts als sich selbst und seiner eigenen F o r m zu tun. Also kann und muß der Verstand in der Logik davon abstrahieren, o b sein Denken dem Ursprung nach a priori oder empirisch ist, auf welche Art von Gegenständen er seinem Inhalt nach geht und welches die U m s t ä n d e oder Hindernisse des Stattfindens dieses Denkens in unserem G e m ü t sein mögen. Die formale Logik ist also nicht selbst eine Wissenschaft von O b jekten, sondern sie dient zur Beurteilung der eigentlichen (materialen) Wissenschaften, indem sie einen K a n o n zur Prüfung der Richtigkeit des Denkens in ihnen aufstellt. Als Wissenschaft von den Verstandesregeln überhaupt ist sie aber nicht in dem Sinne subjektiv, d a ß sie erforschte, wie das Denken im G e m ü t der Menschen wirklich stattfindet und ob d a r a n Regelmäßigkeiten festzustellen sind, die sich verallgemeinern lassen. Eine solche empirische Erkenntnis dessen, wie wirklich gedacht wird, gehört in die - » P s y c h o logie. Die Logik liefert vielmehr ein R i c h t m a ß (Kanon) der - » K r i t i k , das für alles mögliche Denken gilt, in dem Sinne, daß jedes davon abweichende Denken unrichtig und d a m i t nicht wahrheitsfähig ist, d . h . nicht mit seinen Gegenständen übereinstimmen kann. Die Formalität der Logik bei Kant wird noch deutlicher, wenn man ihre Allgemeinheit und Reinheit in Betracht zieht und sie als eine Wissenschaft von Wahrheitskriterien möglicher Erkenntnis, auffaßt. Als Logik des allgemeinen Verstandesgebrauchs geht sie auf die schlechthin notwendigere Regeln des Denkens in Begriffen, Urteilen und Schlüssen, ohne die gar kein Gebrauch des Verstandes, stattfinden kann, während eine Logik des besonderen Verstandesgebrauchs die Regeln enthält, über eine gewisse Art von Gegenständen richtig zu denken. Das Formale der Logik beruht also auf ihrer Unabhängigkeit von Objekten des Denkens, auf die sich der Inhalt der Gedanken bezieht und die durch diesen Inhalt voneinander unterschieden werden können. Daß es eine solche für alles Denken gültige allgemeine Form des Denkens überhaupt unangesehen der Verschiedenheit der inhaltlich bestimmten Gegenstände gibt, hat als erster Aristoteles in seiner Syllogistik als der Lehre von den Formen der Schlüsse erwiesen. Kant steht aber nicht nur hinsichtlich der Allgemeinheit der Logik in der durch Aristoteles begründeten Tradition. Das gilt vielmehr auch für die formale Logik als „reine" Logik, in der von allen psychischen Bedingungen abstrahiert wird, unter denen unser Verstand seine Operationen ausübt. Reinheit bedeutet Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen des Denkens und Abgesondertheit von allen Bedingungen des Gebrauchs des Verstandes in concreto. Dazu gehören die Aufmerksamkeit, psychische Irrtumsquellen, Zweifel, Überzeugungen, Vorurteile etc. Derartige Bedingungen des Denkens gehören nach Kant in die angewandte Logik, die als eine Art Reinigungsmittel („Kathartikon des gemeinen Verstandes": B78) dienen kann. Die reine Logik handelt ausschließlich von denjenigen Prinzipien a priori des Denkens, die einen Kanon hinsichtlich des Formalen im Gebrauch des Verstandes darstellen. Da die allgemeine Logik von allem Inhalt des Denkens und Erkennens und somit von aller Beziehung aufs Objekt abstrahiert, hat sie es nur mit der Form der Begriffe, Urteile und Schlüsse im Verhältnis der Erkenntnisse zueinander zu tun. Da der Verstand im weiteren Sinn seine Vorstellungen, die Begriffe, im Verhältnis gegeneinander nach gewissen Gesetzen gebraucht, so stellt sich die Frage, wieso nach Kant diese allgemeinen und notwendigen Regeln des Verstandes zugleich Form des Denkens überhaupt und „Form der Wahrheit" (B 83) sein können. -»Wahrheit besteht nach überlieferter und von Kant geteilter Auffassung in der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstande ( B 8 2 f , B 1 9 6 f , B236). Da es in der Logik nur um den Anteil des Denkens an der Erkenntnis der Gegenstände geht, kann die Ubereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstande hier nur den Verstand als Vermögen der Urteile über Gegenstände betreffen. Das bloß logische Kriterium der Wahrheit ist demnach die Übereinstimmung einer Erkenntnis (eines Urteils) mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft. Eine Erkenntnis, die mit den formalen Verstandesgesetzen übereinstimmt, muß darum aber nicht wahr sein, denn die Logik kann einen Irrtum hinsichtlich des Inhalts einer Erkenntnis nicht entdecken. Dieser Inhalt betrifft ja gerade dasjenige, wodurch sich ein Gegenstand von einem anderen unterscheidet, und was wahr von einem Gegenstande ist, kann falsch von einem andern Gegenstande sein. Die Allgemeingültigkeit eines Wahrheitskriteriums hat also dessen Formalität zur Folge, und diese steht im Widerspruch zum Objektbezug vermittelst des Inhalts einer Erkenntnis. Die Logik enthält also in ihren Verstandesgesetzen zwar negative Kriterien der Wahrheit, aber diese gehen nur auf die Form des wahren Denkens überhaupt und garantieren für sich nur, daß das, was diesen Regeln widerspricht, falsch sein müsse. Kant nennt in seiner Logik-Vorlesung als formale Kriterien der Wahrheit in der Logik: (1) den Satz des Widerspruchs und der Identität, (2) den Satz des zureichenden Grundes und (3) den Satz des ausgeschlossenen Dritten (Akademie Ausg. IX, 52f). Ein Urteil muß also diesen formalen
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Verstandesgesetzen gemäß sein, um inhaltlich wahr sein zu können. Denn wenn der Verstand in seinen Urteilen sich selbst widerstreitet, so kann daraus kein möglicher Begriff entspringen, dessen es aber bedarf, um einen Gegenstand zu denken, mit dem sein Urteil inhaltlich übereinstimmen könnte. Das logisch Unmögliche ist also auch objektiv unmöglich. Aber die formalen Kriterien der Wahrheit sind für sich nicht hinreichend, um einer mit ihnen übereinstimmenden Erkenntnis positiv Übereinstimmung mit dem Gegenstand zu sichern. Die allgemeine Logik kann ebendarum keine Erkenntnis a priori von Objekten liefern; wird sie aber zu diesem Zwecke mißbraucht, so heißt sie „Dialektik" (B85). 2. Transzendentalphilosophie
und
Metaphysik
Die transzendentale Logik dagegen ist zunächst nur die Idee einer möglichen Wissenschaft von den Regeln und Prinzipien reiner Verstandes- und Vernunfterkenntnis, durch die wir Gegenstände völlig a priori denken (B 81). Sie würde eine Logik sein, weil sie von den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft handelte, und sie müßte „ t r a n s z e n d e n t a l " heißen, weil sie diese Gesetze des Denkens a priori auf Gegenstände bezöge, also eine Untersuchung der Möglichkeit einer reinen Erkenntnis von Objekten überhaupt, d . h . einer Ontologie, wäre. Die Wirklichkeit einer solchen transzendentalen Logik wird garantiert durch die Existenz reiner Verstandesbegriffe, die sich a priori auf Gegenstände beziehen, der Kategorien. Diese Begriffe beruhen auf Handlungen des reinen Denkens, die unabhängig von der Affektion der Sinne stattfinden können und müssen, und zwar Handlungen der Synthesis des Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung. Denn ohne daß uns Gegenstände in der Anschauung gegeben werden, haben Begriffe überhaupt, also auch Kategorien, keine Bedeutung für die Erkenntnis. Nun kommt Beziehung a priori auf Gegenstände nicht beliebigen Begriffen, sondern nur solchen zu, ohne welche überhaupt kein Gegenstand der Anschauung gedacht werden kann. Die Kategorien werden von Kant als diejenigen Begriffe erwiesen, denen die Beziehbarkeit empirisch gegebener Anschauungen auf Objekte erst verdankt wird. Demnach sind sie Begriffe, die nicht zufällig von Objekten gelten, sondern solche, die es erst und allein möglich machen, Vorstellungen im Subjekt als Bestimmungen von Objekten zu denken. Kategorien sind also wesensnotwendige Bedingungen der Objektivität von Objekten der empirischen Anschauung. Daraus folgt aber auch, daß eine allgemeine -»Ontologie, die von der Möglichkeit der Dinge überhaupt (ob sie nun in unserer Anschauung gegeben werden können oder nicht) handelt, nicht möglich ist. Mit der Ontologie fällt zugleich die Möglichkeit einer speziellen —»Metaphysik, d.h. einer nichtempirischen Erkenntnis der menschlichen Seele, der Welt im ganzen und Gottes, obgleich die Unmöglichkeit von Gegenständen, die nicht in der Erfahrung gegeben werden können, nicht behauptet werden kann. Die transzendentale Logik bildet zusammen mit der transzendentalen Ästhetik (die von den reinen Bedingungen der sinnlichen Anschauung, d . h . von R a u m und Zeit handelt) den Hauptteil der Kantischen Transzendentalphilosophie, soweit sie in der Kritik der reinen Vernunft als der Wissenschaft von der Möglichkeit der Metaphysik vorgetragen wird. Das Ergebnis dieser transzendentalen Untersuchung und Kritik für die Kategorien als Grundbegriffe der nichtempirischen Erkenntnis von Gegenständen ist, d a ß sie eine Erkenntnis a priori nur von Gegenständen möglicher Erfahrung begründen, d a ß sie also keinen transzendentalen Gebrauch zur Erkenntnis von Gegenständen überhaupt erlauben. F ü r die transzendentale Logik heißt das, daß sie aus zwei Teilen besteht: (1) der transzendentalen Analytik, welche die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis überhaupt vorträgt und die Prinzipien, ohne die überhaupt kein Gegenstand der uns möglichen Erkenntnis gedacht werden kann, und (2) der transzendentalen Dialektik als der Kritik des dialektischen Scheins, in den die Vernunft in ihrem hyperphysischen G e b r a u c h gerät, wenn sie die reinen Verstandesprinzipien als Prinzipien der Erkenntnis von Dingen überhaupt ansieht und mit ihrer Hilfe das Unbedingte, das nur als außerhalb der Grenzen der Erfahrung liegend gedacht werden kann, zu erkennen vermeint. Der Beitrag der transzendentalen Logik zur Begründung einer nichtempirischen Erkenntnis von Gegenständen besteht demnach darin, die Begriffe und Grundsätze des reinen Verstandes anzugeben und in ihrer objektiven Gültigkeit zu rechtfertigen. Dazu bedarf es zunächst eines Prinzips für das Aufsuchen solcher Begriffe, die dem Verstände als absoluter Einheit rein und unvermischt entspringen sollen und die deshalb einen Zusammenhang haben müssen, in dem sie alle ihre bestimmte Stelle
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haben und durch den ihre Vollständigkeit gewährleistet ist. Kant hat in den Prolegomena (§39: Vom System der Kategorien) geschildert, wie er dieses Prinzip für die von Aristoteles nur unvollständig und ohne Prinzip aufgefundenen Kategorien gesucht habe. Dieses Prinzip, das erstmals ein System der Kategorien statt der Aristotelischen Rhapsodie ermöglichte, ist nach Kant die Verstandeshandlung des Urteilens bzw. der Verstand selbst als ein Vermögen zu urteilen. Denn auf diesen Akt lassen sich alle übrigen Verstandeshandlungen zurückführen. Die logischen Funktionen zu Urteilen sind also der Leitfaden zur Aufsuchung der Kategorien in einem vollständigen System, vorausgesetzt, daß die Tafel der Urteilsformen ihrerseits ein vollständiges System darstellt. Kant hat einen Beweis für die Vollständigkeit seiner Urteilstafel nur angedeutet, aber nirgends vorgeführt. Das Prinzip der Ableitung der Urteilsformen ist der Verstand selbst als Vermögen der intellektuellen Synthesis, sofern diese Synthesis unter dem Gesetz der Einheit des Selbstbewußtseins in allem besonderen Bewußtsein steht. Deshalb nennt Kant die „synthetische Einheit der Apperzeption" den höchsten Punkt allen Verstandesgebrauchs und sagt von ihm, daß man an ihn „die ganze Logik und nach ihr die Transzendentalphilosophie" heften müsse (B134n). Durch die synthetische Einheit der Apperzeption als gemeinsames Prinzip der allgemeinen und der transzendentalen Logik ist auch die Korrespondenz von Urteilsformen und Kategorien begründet, die das Ergebnis der metaphysischen Deduktion (Ableitung) der letzteren aus den ersteren ist. Die Tafel der Urteilsformen ist also zwar eine logische Tafel; da aber die Kritik der reinen Vernunft nicht nur über die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft entscheidet, sondern auch das Prinzip der allgemeinen Logik mit ihren Begriffen und Urteilen anzugeben hat, ist die Tafel der dort angeführten Urteilsformen auch eine transzendentale Tafel, die zugleich der Leitfaden für die transzendentale Tafel der Kategorien und die physiologische Tafel der allgemeinen Grundsätze der Naturwissenschaft ist (ebd. IV, 302f).
Die Metaphysik erhält demnach von der transzendentalen Logik, der die transzendentale Ästhetik zum O r g a n o n dient (B63), den vollständigen G r u n d r i ß eines Systems reiner Erkenntnisse, durch das sie sich zur Wissenschaft qualifiziert, aber nur zur Wissenschaft von Gegenständen möglicher Erfahrung. Von diesen Gegenständen kann der reine Verstand a priori etwas erkennen, indem er seine Kategorien auf Erscheinungen der Sinne anwendet und so synthetische Urteile a priori zustandebringt, d . h . solche, deren Prädikatsbegriffe nicht schon in ihren Subjektbegriffen enthalten und dennoch notwendig mit ihnen verbunden sind. Die Beweise der Wahrheit dieser Grundsätze der allgemeinen Naturwissenschaft gehen also alle von den Kategorien aus und geben zugleich durch Kriterien a priori der Sinnlichkeit (die sog. Schemata) den Fall unter den Erscheinungen an, von denen sie gelten müssen. Der Beweisgrund f ü r die transzendentale Wahrheit dieser Grundsätze liegt jeweils darin, d a ß sie allein Erfahrungserkenntnis der objektiven Beschaffenheit der Erscheinungen in der Zeit im Unterschied zur bloß subjektiven Verbindung von Vorstellungen im Bewußsein möglich machen. Auf diese Weise bringt der reine Verstand zwar nicht die Erscheinungen als Gegenstände hervor, er bewirkt aber diejenige Ubereinstimmung a priori seiner selbst mit den Erscheinungen, die hinreichend ist, um aus gegebener Wahrnehmung Erfahrungserkenntnisse von empirischer Wahrheit zu machen. Die Erklärung der Möglichkeit solcher synthetischer Urteile a priori als wahrer Erkenntnise ist die einzige Aufgabe einer transzendentalen Logik. 3. Metaphysik
als Logik bei Hegel
Hegel hält seine spekulative Logik f ü r eine konsequente Fortsetzung und Kritik der Kantischen transzendentalen Logik. In Hegels Wissenschaft der Logik (1812-1816) entspricht gleichwohl nur der erste Teil, die „ o b j e k t i v e " Logik, die die Lehre vom Sein und vom Wesen u m f a ß t , Kants transzendentaler Logik, w ä h r e n d der zweite Teil, die „subjektive" Logik oder Lehre vom Begriff, dem entspricht, was bei Kant „ f o r m a l e " Logik heißt. Diese Entsprechungen lassen allerdings eine weit größere Übereinstimmung mit Kant erwarten, als sie tatsächlich besteht. Jedenfalls hat Kant nach Hegel „bereits" ( L I , 45) die Metaphysik zur Logik gemacht, und Hegels Wissenschaft der Logik versteht sich ihrerseits als Metaphysik. Als solche bedarf sie einer Einleitung oder Hinführung, die in der Phänomenologie des Geistes (oder in der Abhandlung über die drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität als Vorbegriff zu Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse) vorliegt. Sie enthält die Rechtfertigung der Grundkonzeption der „reinen Wissenschaft" oder des „objektiven Denkens",
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durch die der Gegensatz von Begriff und Gegenstand, von Gedankenbestimmung und Objektbestimmung, aufgehoben wird und die von dem Kantischen Satz, daß die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erkenntnis seien, einen von der Einschränkung auf Erfahrung und ihre Gegenstände, die Erscheinungen, befreiten und somit unbedingten Gebrauch macht. Der Gegensatz zu Kants Konzeption der formalen Logik, die von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert, und zur transzendentalen Logik, deren reine Erkenntnisse nur von Gegenständen der Sinne und nicht von Dingen an sich selbst gelten sollen, ist für Hegels spekulative Logik konstitutiv. Sowohl die formale als auch die transzendentale Logik Kants machen nach Hegel das Denken zu etwas Subjektivem und Wahrheitslosem, setzen es selbst zur Erscheinung herab. Hegels „objektives Denken" als Inhalt seiner Logik soll dagegen Gedanken bezeichnen, die nicht nur nichts Subjektives sind, das von allem Objektiven abstrahiert, sondern wirkliche und wahre Erkenntnisse, da das „Reich des reinen Gedankens" nichts anderes ist als „die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst" ist ( L I , 44). Nachdem die Phänomenologie des Geistes erwiesen hat, daß wir die Dinge an sich und in ihrer Wahrheit erkennen können, ist nunmehr die Logik das von Kant verfehlte „System der reinen Vernunft" oder die „Darstellung Gottes, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist" (ebd.). Das ist der Logik möglich, weil sie Wissenschaft der absoluten Form ist, d. h. solcher notwendiger Formen und eigenen Bestimmungen des Denkens, die selbst „der Inhalt und die höchste Wahrheit" (ebd.) sind. Die im reinen Wissen erreichte Einheit des Subjektiven und des Objektiven, die selbst w e d e r einseitig subjektiv n o c h objektiv g e n a n n t w e r d e n k a n n , besagt s o m i t , d a ß in der L o g i k das Sein selbst als reiner Begriff g e d a c h t und dieser Begriff als das w a h r h a f t e Sein g e w u ß t wird. Diese u n t r e n n b a r e Einheit von Begriff und Sein als der beiden G r u n d m o m e n t e des L o g i s c h e n b e s t i m m t alle Inhalte der L o g i k . Sie handelt in ihrem ersten Teil, der objektiven L o g i k , v o m Begriff als Sein und in ihrem zweiten Teil, der subjektiven L o g i k , v o m Begriff als Begriff, o h n e d a ß dieser Unterschied a u f eine reale Verschiedenheit v o n Begriff und Sein hinwiese. Weil diese nicht besteht, m u ß a u c h Kants W i d e r l e g u n g des ontologischen G o t t e s b e w e i s e s , die nach Hegel auf der falschen A n n a h m e einer solchen prinzipiellen G e t r e n n t h e i t von Begriff und Sein b e r u h t , scheitern. Die innerhalb des Begriffes zu unterscheidenden B e s t i m m u n g e n , sofern sie als Begriffe des Seins g e d a c h t w e r d e n , bilden eine S p h ä r e d e r Vermittlung, das System der R e f l e x i o n s b e s t i m m u n g e n o d e r des z u m Insichsein des Begriffs übergehenden Seins. Dieser zweite Teil der objektiven Logik ist die L e h r e v o m Wesen, die die L e h r e v o m Sein mit der v o m Begriff vermittelt. Die Begriffslehre wird von Hegel „ s u b j e k t i v e " L o g i k g e n a n n t , nicht weil diese Logik von b l o ß subjektiven D e n k f o r m e n handelte, s o n d e r n weil der Begriff nun selbst den C h a r a k t e r eines freien, selbständigen und sich selbst b e s t i m m e n d e n Subjekts h a t . 4. Logik
und
Dialektik
Im letzten Kapitel d e r Wissenschaft
der Logik
handelt Hegel v o n der „ a b s o l u t e n I d e e "
als h ö c h s t e r B e s t i m m u n g des Begriffs. H i e r findet sich a u c h die ausführlichste E r ö r t e r u n g v o n Hegels philosophischer M e t h o d e . Hegel beansprucht, als erster die wahrhafte Methode der philosophischen Wissenschaft gefunden zu haben. Diese Methode ist nichts, was äußerlich an einen schon vorliegenden Inhalt der Erkenntnis herangetragen und irgendwie auf ihn angewandt wird, sondern nur „das Bewußtsein über die Form der inneren Selbstbewegung ihres Inhalts" ( L I , 49). Für den Fortgang der philosophischen Wissenschaft ist zunächst nur die einfache logische Einsicht erforderlich, daß das Negative ebensosehr ein Positives ist, sofern es die bestimmte Negation eines Besonderen ist. Im Falle des Widerspruches bedeutet das, daß das sich Widersprechende sich nicht in das abstrakte Nichts, sondern nur in die Negation dieser bestimmten Sache auflöst. Diese bestimmte Negation enthält also als Resultat wesentlich das, woraus sie resultiert. Sie ist ein neuer Begriff, dessen Inhalt den vorhergehenden Begriff und seine Negation enthält. Dadurch entsteht nach Hegel nicht nur ein inhaltsreicherer, sondern auch ein höherer Begriff als der, aus dem er entsteht. Durch diese Behauptung steht Hegel im Widerspruch zur gesamten traditionellen Logik, nach welcher Inhalt und Umfang eines Begriffes reziprok zueinander sind, ein höherer Begriff also ein inhaltsärmerer Begriff und ein dem Umfang nach niederer Begriff ein inhaltsreicherer ist. Der durch Negation entstandene bestimmte Begriff enthält also bei Hegel seinen Vorgängerbegriff und dessen Entgegengesetztes, aber nicht, wie der Gattungsbegriff der traditionellen Logik, unter sich, sondern vielmehr in sich. Diese einfache
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Logos
Einsicht ist nach Hegel der Grundgedanke seines philosophischen Systems der Begriffe in der Logik und in der Realphilosophie. Das System erhält durch die bestimmte Negation einen rein immanenten und unaufhaltsamen Gang, in welchem die Methode nichts von ihrem Gegenstande und Inhalte Unterschiedenes ist. Denn es ist vielmehr die „Dialektik", die der Inhalt an ihm selbst hat, welche den Inhalt fortbewegt ( L I , 50). Diese Dialektik ist also zugleich die logische Methode der philosophischen Wissenschaft und der Gang der Sache selbst. Das Negative, das jeder bestimmte Begriff als bestimmte Negation in sich selbst hat, macht das wahrhaft Dialektische aus, das durch Negation des Negativen zu einem neuen Resultat als einem Positiven führt. „In diesem Dialektischen und damit in dem Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit oder des Positiven im Negativen besteht das Spekulative" ( L I , 52). Das Fortgehen des Begriffs in den drei Teilen der Logik ist also insofern einheitlich, als es auf der bestimmten Negation und der Auffassung der Entgegengesetzten in ihrer Einheit beruht. Aber in der Lehre v o m Sein ist dieses Fortgehen des Begriffs ein Ubergehen in ein Anderes, in der Lehre v o m Wesen ist es das Scheinen in das Entgegengesetzte der Reflexionsbestimmungen und schließlich in der Lehre v o m Begriff die Entwicklung des Allgemeinen zum Besonderen und Einzelnen. Die Begriffslehre ist die Darstellung dessen, wie der Begriff sich in sich und aus sich bildet. Sofern der Begriff einen durch ihn selbst gesetzten und d a d u r c h ihm völlig angemessenen Inhalt hat, ist er absolute F o r m , die ihren Inhalt nicht von einem außer ihr vorhandenen Gegenstand erhält, sondern aus sich selbst erzeugt. Hegels spekulative Logik gipfelt in der absoluten Idee eines höchst konkreten Allgemeinen, das zugleich Begriff und Ursache des Anderen seiner selbst, nämlich seiner Realität in der Unmittelbarkeit des Seins, d. h. in R a u m und Zeit, ist. Somit endet Hegels Logik in einer „ l o g i s c h e n " Erklärung der N a t u r oder des Nichtlogischen als einer außer dem Begriff seienden „ T o t a l i t ä t des Begriffs", die sich wiederum in der Logik als dem „sich begreifenden reinen Begriff" erkennt (L 2 , 5 7 3 ) . Quellen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bdn., Redaktion Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1971 ff. - Kants GS, hg. v. der Königlich-Preußischen Akademie der Wiss. Bd. I - X X 1 I , v. der Dt. Akademie der Wiss. Bd. X X I I I - X X X I , Berlin 1902/1910ff. - Christian Wolff, Vernünftige Gedanken v. den Kräften des menschlichen Verstandes u. ihrem richtigen Gebrauch in Erkenntnis der Wahrheit, hg. u. bearb. v. Hans Werner Arndt, Hildesheim 1965. Literatur Manfred Baum, Deduktion u. Beweis in Kants Transzendentalphil., Königstein/Ts. 1986. - Ders., Die Entstehung der Hegeischen Dialektik, Bonn 2 1989. - Walter Bröcker, Formale, transzendentale u. spekulative Logik, Frankfurt 1962. - Douglas P. Dryer, Kant's Solution for Verification in Metaphysics, London 1966. — Klaus Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, Bonn M984. - Dieter Henrich, Anfang u. Methode der Logik: ders., Hegel im Kontext, Frankfurt/M. 1971, 73 - 9 4 . - Ders., Hegels Grundoperation: Der Idealismus u. seine Gegenwart, hg. v. Ute Guzzoni/Bemhard Rang/Ludwig Siep, Hamburg 1976, 208 - 2 3 0 . - Ders., Hegels Logik der Reflexion. Neue Fassung: Hegel-Stud., Beih. 18 (1978) 2 0 3 - 3 2 4 . - Ders., Die Formationsbedingungen der Dialektik: RlPh 36 (1982) 1 3 9 - 1 6 2 . - Ernst Kapp, Der Ursprung der Logik bei den Griechen, Göttingen 1965. - Wolfgang Krohn, Die formale Logik in Hegels ,Wiss. der Logik', München 1972. - Hans Lenk, Kritik der logischen Konstanten, Berlin 1968. - Albert Menne, Einf. in die Logik, München J 1973. - Herbert J . Paton, Kant's Metaphysics of Experience, London/New York 1961. - Günther Patzig, Art. Logik: Das Fischer Lexikon Phil., hg. v. Alwin Diemer/Ivo Frenzel, Frankfurt 1958, 1 4 7 - 1 6 0 . - Klaus Reich, Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel, Hamburg 3 1986. - Wilhelm Risse/Kuno Lorenz/Ignazio Angelelli/Andres R. Raggio, Art. Logik: H W P 5 (1980) 3 5 7 - 3 8 3 . - Andries Sarlemijn, Hegeische Dialektik, Berlin/New York 1971. - Peter Schulthess, Relation u. Funktion, Berlin/New York 1981. Manfred B a u m L o g o s ( s . a . - * J o h a n n e s e v a n g e l i u m , - » W o r t Gottes) 1. Etymologie und Verwendung 2. Griechische Philosophie 3. Altes Testament 4. Umfeld des Neuen Testaments 5. Neues Testament 6. Nachapostolische Zeit 7. Logos in der christlichen Literatur 8. Logos-Christologie (Literatur S. 443)
Logos 1. Etymologie
und
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Verwendung
Aöyoq ist Verbalsubstantiv zu Xeya>. Das Verb bedeutet ursprünglich „sammeln", sodann „zählen", „aufzählen" sowie allgemeiner „sagen" im Sinn einer bedeutungsbesetzten Aussage, etwa im Gegenüber zu kaM> („sprechen"), so daß ri XtyciQ heißt: „Was meinst du?" Der Bedeutungsgehalt des Substantivs entfaltet sich entsprechend dem des Verbs, teils unter Beibehaltung des aktiven Sinnes als Akt des Zählens usw., teils verobjektiviert als Darlegung, Aussageinhalt, externalisiert als offengelegte Struktur oder subjektiv als Erläuterungsvermögen. Bedeutungsverschiebungen dieser Art stellen sich leicht ein, so daß eine genaue Sinnerfassung oft schwierig ist. Das wissenschaftliche Bemühen um eine präzise Bedeutungsbestimmung kann dabei Gefahr laufen, sich selbst im Wege zu stehen, wenn es Differenzierungen unterstellt, die bei der ursprünglichen Begriffsverwendung gar nicht wahrgenommen worden sind. Eine allgemein anerkannte semantische Beschreibung besagt: Die selten begegnende G r u n d b e deutung des Z ä h l e n s entwickelt sich fort zu der einer Aufzählung von T a t s a c h e n oder Gegenständen aus dem G e d ä c h t n i s und sodann zu der eines erzählenden Berichtes (vgl. H o m e r , IL 2 , 5 8 4 f f ) . W o die Bedeutung des Z ä h l e n s beibehalten bleibt, kann koyoq o b j e k t i v eine b e s t i m m b a r e Verhältnisbeziehung bedeuten oder einen R e c h e n s c h a f t s b e r i c h t über das, was j e m a n d aufwendet oder tut. Allgemeiner kann es in aktiver Bedeutung den Sinn von „ E r w ä g u n g " , „ Ü b e r p r ü f u n g " , „ B e w e r t u n g " und verobjektiviert den von „ W e r t " haben. D e r Sinngehalt „ E r l ä u t e r u n g " ist noch in folgenden Bedeutungen a u s z u m a c h e n : Vorwand oder Entschuldigungsgrund; Beweisführung oder T h e o r i e ; die darin erfaßte regelmäßige O r d n u n g ; Handlungsgrund; die Grundlage, auf der eine Einrichtung beruht, und als Bedeutungserweiterung dazu die Weltordnung (s.u.).
Bei Homer begegnet ).öyo$ nur zweimal im Plural für eine ansprechende oder überzeugende Rede (II. 15,393; Od. 1,56). Auch bei Hesiod ist das Wort selten, wird aber dann rasch zum geläufigen Ausdruck für „das Gesagte" und verdrängt als solcher inoq und fiüOog, die jetzt eine Sonderbedeutung erhalten („Epos", -•„Mythos"). In diesem Sinn bezeichnet Aöyog die inhaltsbesetzte Rede jeder Länge, vom Leitsatz bis zur ausführlichen Darlegung, aber nur sehr selten ein einzelnes Wort (so bei Aristoteles, rhet. 1406 a 37 für XpovoTpißeiv). Es meint dabei eher die beschreibende als die expressive Rede, aber nicht unbedingt einen wahren Bericht; denn ).6yoq tritt häufig als „begriffliche Anschauung" in Gegensatz zu epyov als „wirkliche Gegebenheit". Es kann für eine Diskussion, eine Verhaltensregel, weniger häufig für ein Gebot verwendet werden. Grammatisch bedeutet es „Prosa" wie auch „Redewendung", „Satz" oder „Sprache" überhaupt. Eine bedeutsame Weiterentwicklung ist eine Verinnerlichung des Begriffs als „ein der Seele eingeschriebener besserer und machtvollerer AöyoQ" (Plato, Phaedr. 276 a gegenüber Soph. 263e), als Denken oder Urteilen entweder im Vollzug oder als Vermögen; und da das menschliche Denken dem vernünftigen Aufbau des Alls nachgeht und ihn nachzeichnet, kann köyoQ leicht dahingehend verobjektiviert werden, daß es, wie in der stoischen Vorstellung von der ratio seminalis, dem aneppaxiKÖQ Xöyoq (s.u.), den Sinn von „Weltvernunft" erhält. 2. Griechische
-*Philosophie
2.1. Heraklit (ca. 5 4 4 - 4 8 4 v.Chr.) hat in paradoxen Begriffen ein bemerkenswert eigenständiges Denken zur Geltung gebracht. Er lehrte, daß die Welt ungeachtet offensichtlicher Gegensätze eine Einheit ist (fr. 50 Diels-Kranz); denn (a) scheinbar gegensätzliche Größen stehen in wechselseitiger Abhängigkeit (fr. 57: „Tag und Nacht sind eins") ; (b) alle Erscheinungen leiten sich aus dem Grundelement her, dem Feuer, und werden wieder in es verwandelt (fr. 60; 90). Die Welt ist daher ein Prozeß beständigen Wandels (fr. 12; 126; vgl. die bekannte Veranschaulichung in 91: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen"). Dieser Wandel unterliegt jedoch einer regelmäßigen Abfolge (fr. 30, das Feuer kommt und geht „nach Maßen"); er ist demnach einem göttlichen Gesetz unterworfen (fr. 114), seine gegensätzlichen Phasen sind „ G o t t " (fr. 67).
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Logos
Heraklits Verwendung von köyoq ist viel erörtert worden; s. bes. fr. 1: „Obwohl dieser köyoQ ewig bleibt, werden die Menschen seiner nicht inne" (oder: „ . . . bleibt, werden die Menschen ewig . . . " ) ; vgl. fr.50. Aöyoq kann entweder die Weltordnung selbst meinen oder ihre zutreffende Beschreibung, die „allgemein" (fr.2), d . h . für alle zugänglich ist, aber tatsächlich nicht wahrgenommen wird (fr. 17; 34). Heraklit hat darin wohl keinen Unterschied gemacht; der scharfe Gegensatz von begrifflicher Anschauung und Wirklichkeit (s. o.) war noch nicht geläufig; s. auch fr. 45; 115 (der „tiefe" XöyoQ der Seele); in fr. 87; 108 jedoch bedeutet köyoq offensichtlich „ausgesprochenes Wort", „Mitteilung", in fr. 31B „Verhältnis", vgl. die „ M a ß e " von fr. 30. 2.2. Eine beträchtliche Bedeutungserweitung erfuhr Xoyoq durch die Sophisten, die die Kunst des öffentlichen Redens lehrten und eine rhetorische Theorie ausbildeten. Eine Stelle aus dem „Lob der Helena" von Gorgias (Diels-Kranz 2, '1952, 82.11.8) personifiziert den köyog geradezu als „großen Machthaber", der „wahrhaft göttliche Dinge vollbringt", indem er Furcht austreibt, Fröhlichkeit verleiht usw. Isokrates preist den köyoQ als Grundlage der menschlichen Kultur (or. 15,254). Selbstverständlich ist diese Personifizierung bei Gorgias nur ein literarisches Stilmittel und keine wirkliche Entsprechung zum späteren theologischen Sprachgebrauch. 2.3. -»Plato verwendet den Begriff Aöyog in nahezu allen oben unterschiedenen Bedeutungen. Er läßt Sokrates den Anstoß zu Gesprächen geben, die zu einem „wahren und sicheren und einsichtigen köyoq" (Phaedo 90 c) ethischer Begriffe und damit zum rechten Handeln führen sollen. Nach dem Phaedo ist der XöyoQ in der Seele als solcher unter Absehen von den Leidenschaften des Leibes zu suchen. Wirkungsgeschichtlich bedeutsamer ist jedoch die Auffassung der Seele als eines dreiteiligen Ganzen, das in der Gegenspannung von maßloser Begierde {¿7ti9ofir]riK6v), affektivem Willen (9vfiOEiSei;) und ordnender Vernunft (XoyiatiKÖv) lebt (rep. 4.439-441; Phaedr. 237f). Das Gespräch ist erforderlich, weil ein geschriebener Text nicht auf Zweifel oder Mißverständnisse eingehen kann (ep. 7,344; Phaedr. 275 d); sein Ziel ist es, „durch köyoq nach der wesentlichen Natur eines jeden Dinges zu streben" (rep. 7,532a), ein Programm, das in der „Anschauung der Formen" oder „Ideen" entfaltet wird. Form (lÖEa/d&oq) hat bei Plato eine vielfache Bedeutung (Allgemeingültiges, Vorbild, Urbild, Wesensgestalt), aber sie ist ausdrücklich faßbar in einem Logos oder einer Formulierung entweder in Worten (durch dialektische Abgrenzung) oder — wie Plato später meinte - mathematisch (nach Maßgabe der Idealzahlen). Gleichwohl ist die höchste Idee, die iöea xov äyaSoü, jenseits aller begrifflichen Sagbarkeit {¿neKEiva rijg ovaiaq, rep. 6, 509 b). 2.4. -»Aristoteles definiert Logos (im Sinne von Namen, övofia) als eine Lautäußerung, die etwas - gemäß Übereinkunft und Übung - bedeutet (cat. 16 a 19), und er bestimmt (16 a 3—4) das, was sich in der Verlautbarung der Rede zeigt, (unzutreffend) als Erleidnisse der Seele (und der sie „betreffenden" Sachen), unzutreffend insofern, als Worte unsere Gedanken zwar wohl ausdrücken können, aber nur psychologische Worte sie benennen. In der Ethik geht Aristoteles darauf aus, einen Logos für das rechte Verhalten zu finden (eth. Nie. 1138 b 20), nicht einfach ein vernünftiges Prinzip, sondern eine gleichsam mathematische Formel als die Mitte zwischen zwei Extremen. In seinen Analytiken legt er die Grundsätze der richtigen Urteilsbildung und (vermeintlich) der wissenschaftlichen Methode dar; doch deren moderne Bezeichnung als „-»Logik", ij koyiKt] (sc. x¿xvt}), kommt erst später auf. 2.5. Die Stoiker (-»Stoa/Stoizismus) betrachteten wie Heraklit die Welt als einen Entwicklungsprozeß, in dem das Element des Feuers eine bestimmende Rolle spielt; es ist zugleich der Ursprung, aus dem in einem endlos sich wiederholenden Kreislauf die anderen Elemente hervorgehen und in das sie wieder aufgelöst werden (v. Arnim II, 596-620). Sie waren der Meinung, daß lediglich stoffliche Dinge wirklich seien; auch die Vernunftkraft sei ein leibliches Organ, und ihre Tugenden werden nicht für sich betrachtet, sondern mit dem in rechter Verfassung sich befindlichen Verstand selbst gleich-
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gesetzt; dementsprechend sind Tugenden „Lebewesen", d.h. lebendes Gewebe (a.a.O. III, 3 0 5 - 3 0 7 ) . In ähnlicher Weise ist der das gesamte All bestimmende Logos eine physische Substanz mit einem eigenen ihn kennzeichnenden TÖVOQ („Spannung" oder „Schwingung"); als anepfiaziKÖq Xöyoq (auch im Plural; entweder „erzeugender" oder „ausgestreuter" Xöyoq) durchdringt er die gesamte Materie „wie Honig eine Wabe" (a.a.O. 1,155). Er ist auch durch die Einzelwesen hindurch ausgebreitet und bestimmt sie als konsistent Unorganisches (E^IQ), pflanzliches und tierisches Leben (Book of Common Prayer enthaltenen 39 Artikel (vgl. T R E 13,424,28 ff) beruhte. Zu diesem Zweck stellte ein vermögender Stifter 1863 Mittel zur Gründung von St. John's Hall zur Verfügung, wo die Anhänger der evangelikalen Richtung studieren konnten, um die Voraussetzungen zur Ordination zu erwerben. Drei Jahre später wurde das College - auch The London College of Divinity genannt - aus einer vorläufigen Unterkunft in ein Gebäude nach Highbury verlegt.
Im 19. Jh. wurden auch nonkonformistische Colleges in oder in der Nähe von London gegründet. 1843 wurde das erste methodistische theologische College eröffnet, um dem Bedarf an ausgebildeten Predigern gerecht zu werden. Das College, das nach seinem Standort Richmond benannt wurde, befand sich in einem stattlichen Gebäude, das an ein altes Herrenhaus grenzte. Ein kostbarer Besitz des Richmond College war die Privatbibliothek von John -»Wesley (1703-1791), dem Begründer des -»Methodismus. 1850 schlössen sich drei schon längere Zeit bestehende nonkonformistische akademische Einrichtungen — Homerton, Highbury und Coward's College — zum New College London zusammen, dessen Ziel es war, junge Männer auf den Dienst in kongregationalistischen Gemeinden vorzubereiten (-»Kongregationalismus). 1810 wurde ein College zur Ausbildung baptistischer Pfarrer in Stepney eröffnet, das später in den Regent's Park und schließlich nach Oxford verlegt wurde. In Newington Butts im Süden Londons gründete der gefeierte Prediger C. H. -»Spurgeon das nach ihm benannte College. 3. Die Entwicklung
im 20.
Jahrhundert
Für all diese im 19. Jh. gegründeten Einrichtungen stellte das 20. Jh. zunächst eine Zeit der Weiterentwicklung dar. Das King's College mit seiner theologischen Abteilung, St. John's Hall in Highbury, Richmond College und New College wurden als theologische Schulen der Universität London zugeordnet, wodurch die Studenten der Colleges nun die Berechtigung erhielten, sich als „interne" Studenten zu den Abschlußprüfungen der Universität - im besonderen zu der des neu geschaffenen Bachelor of Divinity (B. D.) - zu melden. Obwohl Spurgeon's College, das 1923 nach South Norwood verlegt wurde, eine solche Anerkennung nicht erhielt, konnten dessen Studenten die Abschlüsse der Universität als „Externe" erlangen. Unter denen, die hohe akademische Auszeichnungen erhielten, ragt W.R. Matthews (1881-1973) heraus, der am King's College studierte. Er wurde später Dekan des Colleges und schließlich Dekan von St. Paul's Cathedral. Jedes College verfügte über Gelehrte in seinem Lehrkörper, die nicht nur zur theologischen Ausbildung in London beitrugen, sondern auch internationales Ansehen erlangten, wie z.B. E.L. Mascall (geb. 1905), Professor für Theologiegeschichte am King's College von 1962-1973.
Während des späten 20. Jh. fand eine rückläufige Entwicklung statt: Zum einen sank die Zahl der Anwärter für das geistliche Amt in allen Denominationen, zum andern führten die zunehmenden finanziellen Schwierigkeiten, denen sich sowohl die Universität als auch die Colleges gegenübersahen, zu einschneidenden Maßnahmen. Wegen der im Zweiten Weltkrieg entstandenen Schäden an den Gebäuden in Highbury mußte St. John's Hall schließlich nach Nottingham umziehen und beendete damit seine Verbindung zu London. Richmond College mußte 1972 schließen, New College fünf Jahre später. Kein anderes methodistisches College war so eng mit einer Universität verbunden wie Rieh-
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London
mond. Seine Schließung wie a u c h die des New College, die beide beträchtliche Verdienste e r w o r b e n h a t t e n , bedeutete einen s c h w e r e n Verlust. D i e Ungewißheit ü b e r den F o r t b e stand des Z u l a s s u n g s v e r f a h r e n s für e x t e r n e Studenten zu den Abschlußprüfungen der Universität L o n d o n v e r a n l a ß t e n Spurgeon's College, die Anerkennung seiner Studenten a n d e r e n o r t s zu suchen. F ü r eine gewisse Z e i t überstand King's College die Krise und k o n n t e s o g a r zusätzliche t h e o l o g i s c h e Lehrstühle einrichten. D a r u n t e r befand sich a u c h ein Lehrstuhl zum G e d e n k e n an F . D . M a u r i c e , der ein J a h r h u n d e r t zuvor so ungerecht behandelt w o r d e n w a r . O b w o h l eine neue Satzung des College 1976 die Auflösung der theologischen Abteilung mit sich b r a c h t e , k ö n n e n sich Studenten a m King's College auf universitäre Abschlüsse in der F a k u l t ä t für T h e o l o g i e und Religionswissenschaft v o r b e reiten. 1970 zog das römisch-katholische Heythrop College aus Oxfordshire in ein Gebäude am Cavendish Square in London um und erlangte mit der Unterstützung des King's College die Anerkennung als theologische Schule der Universität. Doch obgleich Heythrop hohes Ansehen wegen seiner Bibliothek und seiner theologischen Forschung gewonnen hatte, blieb es nicht von den neuesten Sparmaßnahmen verschont. Einen bemerkenswerten Beitrag für die theologische Ausbildung hat auch die Abteilung für Fernstudien der Universität London geleistet, die in verschiedenen Zentren Tageskurse und Abendvorlesungen abhält und einen eigenen Abschluß in Bibel- und Religionswissenschaft verleiht. 4. Theologische
Bibliotheken
Kein U b e r b l i c k über das t h e o l o g i s c h e Bildungswesen in L o n d o n w ä r e vollständig o h n e eine ausdrückliche E r w ä h n u n g der ihm dienenden B i b l i o t h e k e n . Die Bibliothek des Lambeth Palace entstand aus dem Nachlaß eines Erzbischofs von Canterbury, Richard Bancroft (1544-1610). Ihre einzigartige Sammlung erzbischöflicher Register und anderer Akten ist für das Studium der Geschichte der Kirche von England eine Quelle von unschätzbarem Wert. Das von einem anglikanischen Geistlichen namens Dr. Thomas White (ca. 1550-1624) gegründete Sion College mit einer umfangreichen theologischen Bibliothek heute am Victoria Embankment gelegen, stammt ebenfalls aus dem 17. Jh. Mit Hilfe der testamentarischen Stiftung des presbyterianischen Geistlichen Daniel Williams (ca. 1643-1716) wurde in den späten zwanziger Jahren des 17. Jh. in der Red Cross Street ein Gebäude für eine öffentliche Bibliothek errichtet. Die heutige Dr. Williams Bibliothek befindet sich am Gordon Square in Bloomsbury. Zusätzlich zu den gedruckten Büchern, einschließlich vieler aus dem ehemaligen Besitz des New College London, verfügt die Bibliothek wohl über die wertvollste Sammlung von nonkonformistischen Handschriften und Traktaten in England. Literatur John Burrows, University Adult Education in London, London 1976. - F. H. Cumbers (Hg.), Richmond College 1 8 4 3 - 1 9 4 3 , London 1944. - G . C . B . Davies, Men for the Ministry (St. John's Hall Highbury), London 1963. - A.E. Garvie, New College 1903-1933: ConQ 19 (1941) 16 - 2 5 . - F . J . C . Hearnshaw, The Centenary History of King's College London, London 1929. - Gordon Huelin, King's College London 1 8 2 8 - 1 9 7 8 , London 1978. - Ders., A Look at the Development of Theological Education in London and at some of the Buildings involved: Transactions of the Ancient Monuments Society NS 30 (1986) 57—66. — T. Kelly, A History of Adult Education in Great Britain, Liverpool 1970. - S.K. Jones, Dr. Williams and his Library, Cambridge 1948. - H. McLachlan, English Education under the Test Acts, Manchester 1931. - Geoffrey Nuttall, New College London and its Library, London 1977. - Irene Parker, Dissenting Academies in England, Cambridge 1914. - E.H. Pearce, Sion College and Library, Cambridge 1913. - J.W. Ashley Smith, The Birth of Modern Education: The Contribution of the Dissenting Academies 1660-1800, London 1954. - M . D. Stephens/G. W. Roderick, Education and the Dissenting Academies: H T 27 (1977). - John Ward, The Lives of the Gresham Professors, London 1740. - A.F. Willmott, Greater Things (A Popular History of Spurgeon's College), London o. J . G o r d o n Huelin
Lonergan Lonergan, Bernard 1. Leben
2. Werk
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(1904-1984) 3. Nachwirkung
(Quellen/Literatur S. 463)
1. Leben Bernard J.F. Lonergan wurde am 17. Dezember 1904 in Buckingham (Provinz Quebec) in Kanada geboren. 1922 trat er in die Societas Jesu ein. Nach seinem Noviziat studierte er Philosophie am Heythrop College in Oxfordshire in Großbritannien und Romanistik, Altphilologie und Mathematik an der Universität London, wo er sein Studium mit einem geisteswissenschaftlichen akademischen Grad abschloß. Nachdem er drei Jahre alte Sprachen und Naturwissenschaften in Montreal gelehrt hatte, ging er für ein vierjähriges Theologiestudium an die Päpstliche Universität, die Gregortana, in Rom und kehrte 1938 als Doktorand dorthin zurück. Nach dem Abschluß seiner Dissertation im Jahr 1940 war Lonergan als theologischer Lehrer für die kanadischen Jesuiten tätig, bis er 1953 auf einen theologischen Lehrstuhl an der Gregoriana in Rom berufen wurde. Dort hielt er Vorlesungen zur Trinitätslehre und zur Christologie und Seminare über theologische Methodologie und die Gnadenlehrc bis zu seiner Rückkehr an das Jesuitenseminar am Regis College in Kanada im Jahr 1965. Er wurde Stillman Professor für römisch-katholische Theologie an der Harvard Divinity School von 1971 bis 1972 und Distinguished Professor of Theology am Boston College von 1975 bis 1983. Dann trat er aus Gesundheitsgründen in den Ruhestand, zog sich auf einen den Jesuiten gehörenden Alterssitz nach Pickering (Provinz Ontario) in Kanda zurück. Dort starb er am 26. November 1984. Lonergan erhielt siebzehn akademische Auszeichnungen von nordamerikanischen Universitäten und war korrespondierendes Mitglied der British Academy. Er wurde mit dem höchsten Orden seines Landes, dem Companion of the Order of Canada, ausgezeichnet. 2. Werk Bernard Lonergans Werk war wie sein Leben der Aufgabe eines immer besseren Verständnisses des menschlichen Geisteslebens und der Mysterien des christlichen Glaubens gewidmet. Als Thema für seine Dissertation wählte er die Gnadenlehre des -»Thomas von Aquino. Diese Studie ist ein gedrängter Versuch der Wiedergewinnung des Werks des Aquinaten, der sowohl historisch genau als auch für Gegenwartsfragen systematisch relevant ist. Später unter dem Titel Grace and Freedom: Operative Grace in the Thought ofSt. Thomas Aqttinas veröffentlicht, verfolgt diese Untersuchung die Entwicklungen der spekulativen Theologie der Gnade von Augustin bis zu Thomas, stellt die Grundbegriffe und -beziehungen in der thomanischen Konzeption von gratia operans und gratia cooperans dar und bietet eine bisher unübertroffene Analyse von Thomas* Auffassung der Verursachung, des Wirkens, der Transzendenz Gottes und der menschlichen Freiheit. Lonergan war in der Lage, den Kern von Thomas* Verstehen von Kausalität und göttlicher Vorsehung aus der Schale mittelalterlicher Kosmologie herauszulösen, in der sie oft zum Ausdruck gebracht worden war. In der Konsequenz konnte er einen Weg aus den großen Schwierigkeiten weisen, die die nachfolgenden theologischen Kontroversen über das Verhältnis von -»Gnade und -»Freiheit belastet hatten. Lonergan konnte nachweisen, wie bahnbrechende Einsichten des Aquinaten vom Voluntarismus des -»Duns Scotus, über den - • Nominalismus und die Auseinandersetzungen über Gottes Gnade und gute menschliche Taten (z. B. in der Kontroverse De Auxiliis zwischen Banezianern und Molinisten [-»Molina/Molinismus] in der katholischen Theologie) bis hin zur Aufklärung und modernen Variationen des Determinismus und des Dezisionismus, unbeachtet geblieben waren. Der von Thomas in mehreren Hinsichten erzielte intellektuelle Durchbruch wurde weder von seinen Zeitgenossen hinreichend verstanden noch durch nachfolgende Kommentatoren korrekt weitergegeben. Im besonderen werden Begriffe wie „übernatürlich" (-»Natur und Ubernatur), „göttliche Transzendenz" und „ W i r k e n " (operatio) von Tho-
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Lonergan
mas innerhalb eines systematischen philosophischen Rahmens verwendet, durch den ihre Bedeutung von herkömmlichen Verwendungsweisen unterschieden wird. So bringt das „Theorem des Übernatürlichen" bei Thomas das Mysterium der Erlösung zum Ausdruck, in dem die Menschheit mit theologischen Tugenden und Gnadengaben begabt wird, die nur für Gott allein „natürlich", und so im Verhältnis zur menschlichen N a t u r „übernatürlich" sind und den Charakter einer reinen Gabe besitzen. Das Theorem bezog sich auf die seinshafte UnVerhältnismäßigkeit von Natur und Gnade, gutem Willen und Agape, menschlicher Ehre und Verdienst vor Gott. Die.nachfolgenden Kommentatoren übersahen den spekulativen Rahmen dieses Theorems und stellten statt dessen getrennte Bereiche oder Ebenen des Natürlichen und des Übernatürlichen vor. Dies führte zu einer Unzahl von Schwierigkeiten, die durch vermeintliche Widersprüche zwischen dem Ubernatürlichen und dem Natürlichen, Gnade und Freiheit und zwischen Glaube und Vernunft charakterisiert sind. Die Arbeit an der Dissertation führte Lonergan zu der Uberzeugung, daß die Aufgabe einer historischen Wiedergewinnung des Werks des Aquinaten weitaus schwieriger sei, als sich die meisten modernen Historiker, Philosophen und Theologen vorgestellt hatten. Um die Höhe von Thomas' Geist zu erreichen, ist nicht nur eine historische, philosophische oder theologische Rekonstruktion seines Werkes erforderlich; damit diese Rekonstruktionen zutreffend sein können, bedarf es einer Reihe von tiefgreifenden Veränderungen in dem Historiker, Philosophen oder Theologen, der sie ausführt. Von —»Augustin lernte Lonergan, daß die Bekehrung zu Jesus Christus als dem Herrn außer der religiösen auch eine intellektuelle und moralische Dimension aufweist. Die psychologischen und phänomenologischen Ausführungen von Augustins intellektueller Bekehrung zur Wahrheit, seiner moralischen Konversion zum Guten und seiner religiösen Bekehrung zu Gott, wie er in Jesus Christus offenbart ist (Conf. VII-IX), bieten die Erfahrungsgrundlage für die Hinwendung zur Theorie in Thomas von Aquin. Der dreifache Konversionsprozeß begründet in T h o m a s ' Darstellung die fundamentale Bedeutung der intellektuellen, sittlichen und theologischen -»Tugenden (S.th. I—II, 5 5 - 6 7 ; I I - I I , 1 -170). Lonergan kam zu der Einsicht, daß er, um das Niveau des thomanischen Geistes zu erreichen, selbst, wie er es später formulierte, eine „intellektuelle Konversion" durchmachen mußte, und nur auf diese Weise den systematischen Durchbruch in der Theologie des Aquinaten verstehen konnte. Lonergan wurde in zunehmendem Maße bewußt, daß diese intellektuelle Konversion ausdrücklich notwendig war, weil sonst die Leistungen der Theologie von Augustin bis Thomas weiterhin mißverstanden würden wie im dekadenten Scholastizismus und im -•Nominalismus. Um Thomas' Theorie des Erkennens von den Verzeichnungen zu befreien, die ihr in den Händen vieler sogenannter Thomisten widerfahren sind, schrieb er Verbum: Word and Idea tri Aqutnas. Dieses Werk stellt nicht nur die grundlegenden Begriffe und Beziehungen in Thomas' Theorie des Erkennens dar (-»Erkenntnis), sondern versucht auch zu zeigen, in welcher Weise diese Begriffe und Beziehungen aus der menschlichen Erfahrung des Fragens, Verstehens und Urteilens gewonnen werden. Einsicht in Bilder und Vorstellungen bringt Verstehen hervor, und dieses Verstehen schafft sich in Begriffen Ausdruck. Aber menschliches Verstehen ist nicht mit bloßem Denken zufrieden: Es will wissen, was wirklich wahr ist. Darum kommen Wahrheitsfragen auf, und nur wenn wir hinreichende Gründe erfaßt haben, kommen wir zum Urteil und damit zu Wahrheit und Falschheit. In einer detaillierten Analyse der thomistischen Texte und in aufmerksamer Erhellung unserer menschlichen Verstehensakte zeigt Lonergan, daß das, was T h o m a s „das Licht des aktiven Intellekts als die geschöpfliche Partizipation am göttlichen Licht nennt", tatsächlich unsere menschliche Fähigkeit ist, immer weitere Fragen zu stellen. Der menschliche Geist ist potentiell unendlich, während der göttliche Geist unendliche Wirklichkeit ist. So wie Augustin sah, daß unser Herz unruhig ist, bis es Ruhe findet in Gott, so ist für T h o m a s unser Geist unruhig, bis er in Gott zur Ruhe kommt. Nur durch eine erfahrungsmäßige Aneignung der menschlichen Erkenntnisakte
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kann man verstehen, wie Thomas' Theorie des Erkennens in seine systematische Darstellung von Augustins psychologischer Analogie der -»Trinität eingeht. Lonergans nächstes größeres Werk, Insight: A Study of Human Understanding, überträgt die Theorie des Erkennens, die Lonergan von Thomas von Aquin gelernt hatte, in zeitgenössische Reflexionskontexte. Das Buch ist eine Einladung an den Leser, sich seine eigenen bewußten Akte des Erfahrens, Verstehens, Urteilens und Entscheidens anzueignen. Der erste Teil stellt Einsicht (insight) als Tätigkeit dar, indem gezeigt wird, wie die aufmerksame Betrachtung der Verstehensakte den Leser in die Lage versetzt, mit Lonergan die Methoden der Natur- und Humanwissenschaften so zu korrelieren, daß er zum Verständnis eines kohärenten und offenen Weltbildes gelangt, das als „emergente Wahrscheinlichkeit" (Emergent Probability) bezeichnet wird. Der zweite Teil baut auf der Selbstaneignung des Lesers als eines Erkenntnissubjektes auf, indem gezeigt wird, wie genetische und dialektische Methoden in einer erkenntnistheoretisch begründeten -»Metaphysik, -»Ethik und —»Natürlichen Theologie fungieren. Insight zeigt auf, daß menschliches Erkennen in aufeinander bezogenen und wiederholten Akten (Operations) besteht und daß die Mißachtung und das unzureichende Verständnis dieser Funktionsweisen (Operations) zu den dialektischen Widersprüchen in modernen Kulturen, Philosophien und Theologien geführt hat. Das Programm des Buches ist von Lonergan markant formuliert: „Verstehe genau, was es heißt zu verstehen, und du wirst nicht nur die Grundlinien von allem verstehen, was es zu verstehen gibt; vielmehr wirst du auch eine feste Grundlage besitzen, eine unveränderliche Struktur, die alle weiteren Entwicklungen des Verstehens erschließt" (Insight XXVIII). Nachfolgende Studien konnten nachweisen, daß Lonergans Darstellung dieser aufeinander bezogenen und wiederholten Akte (Operations) des menschlichen Erkennens die Grundbegriffe und -relationen bereitstellt, die erforderlich sind, um Fortschritte und Fehlwege in Kulturen und geschichtlichen Abläufen in ihrem dialektischen Verhältnis herauszufinden. Seine dialektische Methode ist zur Untersuchung der Werke von so epochalen Denkern wie -»Descartes, -»Hume, Locke, -»Kant, -»Hegel, -»Marx, -»Dilthey, -»Husserl, -»Heidegger und Gadamer herangezogen worden. Die Betonung der Aneignung des eigenen rationalen Selbstbewußtseins Unterscheidet Lonergans Projekt sehr deutlich sowohl von einem cartesianischen Rationalismus als auch von der Ausprägung einer Erkenntnismetaphysik, wie sie von -»Rahner und anderen Vertretern des transzendentalen Thomismus vorgeschlagen wurde. Für Lonergan gibt es eine Erkenntnispraxis (die Aneignung des eigenen rationalen Selbstbewußtseins), die Erkenntnistheorie begründet und verifiziert, und nur auf der Basis solcher Theorie und Praxis läßt sich dann eine kritisch begründete Metaphysik, Ethik und theologische Methode entwickeln. -»Vernunft und -»Glaube (—»Glaube und Denken) sind, wie Lonergan von Thomas von Aquin gelernt hatte, konstitutiv aufeinander bezogen. Von seinen Entdeckungen in Insight schritt Lonergan zu dem Werk Method in Theology weiter, wo er zeigt, daß seine Konzeption der transzendentalen Methode, die Art und Weise wie Theologie betrieben wird, neu strukturieren kann. Die transzendentale Methode ist weder cartesianisch noch kantianisch, sondern ruht auf einer Reihe von aufeinander bezogenen und wiederholten Akten (Operations) des Erkennens und des Handelns, die kumulative und weiterführende Ergebnisse hervorbringen. Nach der Behandlung des menschlich Guten, des Problems von Sinn und Bedeutung und der Religion werden im Buch die funktionalen Spezialisierungen der Theologie entwickelt. Es gibt drei Typen von Spezialisierungen: (1) Feldspezialisierungen führen zu Aufteilungen und Unterteilungen der zu untersuchenden Daten, so daß z. B. die Felder der Untersuchung der -»Bibel, der -»Patristik, der Mittelalter- und Reformationsforschung Gebiete werden, die dann noch weiter unterteilt werden können; (2) Fächerspezialisierungen klassifizieren die Resultate der Untersuchungen, um sie in der Lehre zu vermitteln, so werden z.B. Fachbereiche in Fachgebiete aufgeteilt wie die Geschichte Israels, christliche Altertumswissenschaft, christliche Theologie, Ethik usw.; (3) funktionale Spezialisierungen differenzieren die aufeinanderfolgenden Stadien in dem
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Lonergan
Prozeß, der von den Forschungsdaten zu -ergebnissen führt. Lonergan unterscheidet acht funktionale Spezialisierungen, die in zwei Gruppen zusammengefaßt sind. Die erste Gruppe von vier Spezialisierungen behandelt Theologie als indirekte Rede, worin Theologen von der Vergangenheit lernen. Forschungsmethoden machen den weiten Bereich von Daten zugänglich, die für die Theologie relevant sind. Interpretationsmethoden erschließen die Bedeutung der Daten, besonders der geschriebenen Texte. Historische Methoden stellen dar, was sich in kulturellen, institutionellen und dogmatischen Geschichtszusammenhängen entwickelt hat. Dialektische Methoden decken die Unterschiede zwischen Geschichtsdarstellungen, Interpretationen und Forschungsorientierungen auf und versuchen, in Fällen, wo diese Unterschiede nicht komplementär, sondern kontradiktorisch sind, die widerstreitenden Wertorientierungen zu explizieren, die kontradiktorischen Differenzen zugrunde liegen. In der zweiten Gruppe von vier funktionalen Spezialisierungen geht die Theologie zur direkten Rede über. Der Theologe muß einen Standpunkt inmitten der einander widerstreitenden Horizonte entwickeln und einnehmen, die von der Dialektik präsentiert werden. Fundamentaltheologische Methoden (->Fundamentaltheologie) bringen die intellektuellen, moralischen und religiösen Bekehrungsprozesse zum Ausdruck, in denen Theologen eine echte Entwicklung durchmachen. An dieser Stelle können wir sehen, wie Lonergan die grundlegenden Orientierungen von Augustin und Thomas von Aquin in den zeitgenössischen Kontext überträgt. Die Grundlage der Theologie als eines Zusammenhangs von akademischen Disziplinen sind Theologen, die eine intellektuelle, moralische und religiöse Konversion erlebt haben. Nur durch solche fortschreitenden Konversionsprozesse können Theologen die Realitäten erkennen, die religiöse Texte und Traditionen zum Ausdruck bringen. Nur auf der Basis solcher Bekehrungsprozesse, vor allem der intellektuellen Konversion als einer ausdrücklichen Aneignung der intellektuellen Tätigkeiten des Theologen kann der Subjektivismus, der in der Theologie seit -»Schleicrmacher eine so dominante Rolle gespielt hat, einer Kritik unterzogen werden, ohne daß man dabei in Fideismus oder -»Fundamentalismus zurückfällt. Im Lichte dieser Grundlagen behandeln dogmatische Methoden die religiösen Tatsachen- und Werturteile, die innerhalb der Horizonte, die durch die Konversionsprozessc definiert werden, formuliert werden. Lonergan weist nach, wie die Lehrentwicklung von Nicäa über die großen ökumenischen Konzilien in Wahrheit eine Orientierung des Glaubens zu einem zunehmend systematisch ausgearbeiteten Denken des Glaubens ist, so daß die Wahrheit der in diesem Prozeß formulierten Glaubcnslehrsätze ihren geschichtlichen und kulturellen Kontext transzendiert. Systematische Methoden führen das Verständnis der dogmatischen Wahrheiten weiter aus, während Kommunikationsmethoden die Theologie, in Verfolg der vielgestaltigen Aufgaben der Mitteilung der Einsichten, Lehren und grundlegenden Wirklichkeiten, die für die Theologie als direkte Redeform konstitutiv sind, zu den anderen Disziplinen in Beziehung setzen. Während seines letzten Lebensjahrzehnts war Lonergans größtes Projekt eine makroökonomische -»Analyse (-»Wirtschaft) von modernen Produktions- und Geldzirkulationsprozessen. Dieses Sachgebiet war eines seiner frühen Interessen, und in dem Werk, das in den Collected Works veröffentlicht werden wird, weist er darauf hin, daß moralische und religiöse Werturteile über moderne ökonomische Systeme konstitutiv auf ein sachgemäßes Verständnis ihrer Funktionsweisen bezogen sein müssen. Das Versagen der christlichen Kirchen und anderer religiöser Institutionen, moderne ökonomische Systeme moralisch zu transformieren, ist nach Lonergan primär in dem Versagen des Verständnisses solcher Wirtschaftssysteme begründet. Sittliche Imperative müssen konstitutiv auf Sachverständnis bezogen sein, sonst führen sie zum reinen Moralismus. 3.
Nachwirkung
Lonergans Schriften sind ganz oder teilweise in alle europäischen sowie einige asiatische Sprachen übersetzt worden. Es gibt zehn Forschungszentren für Lonergans Werk in
Lonergan
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Nordamerika, Südamerika, Europa, Australien und auf den Philippinen. Das Lonergan Forschungsinstitut in Toronto leitet die Publikation seiner Collected Works, die von der University of Toronto Press in zweiundzwanzig Bänden veröffentlicht werden (bereits erschienen: IV Collection, 1988 und V Understanding and Being, 1990). Es gibt nahezu dreihundert Dissertationen, die sich mit Lonergans Denken und Methoden beschäftigen und von denen mehr als ein Drittel ganz oder teilweise publiziert worden sind. Neben Lonergans Werk gewidmeten Konferenzen in verschiedenen Ländern, von denen mehrere jedes Jahr allein am Boston College stattfinden, gibt es Zeitschriften, die der Weiterentwicklung und Verbreitung von Lonergans Methode dienen: Method. A Journal of Lonergan Studies, Lonergan Workshop und einen Informationsdienst, der vom Lonergan Research Institute publiziert wird. Quellen Insight. A Study o f H u m a n Understanding, L o n d o n 1957. - D e D e o T r i n o , R o m 1964. - D e Verbo I n c a r n a t o , R o m 1964. - Verbum. Word and 'dea in Aquinas, N o t r e D a m e 1967. - C o l l e c t i o n , L o n d o n 1967. - T h e Subject, M i l w a u k e e 1968. - G r a c e and F r e e d o m . Operative G r a c e in the T h o u g h t o f St T h o m a s Aquinas, London 1971. - D o c t r i n a l Pluralism, M i l w a u k e e 1 9 7 1 . - M e t h o d in T h e o l o g y , N e w York 1972; dt.: M e t h o d e in der T h e o l . , h g . v . J o h a n n e s B e r n a r d , Leipzig 1991. - Philosophy o f G o d and T h e o l o g y , London 1973. - A Second C o l l e c t i o n , L o n d o n 1974. - T h e o l . im Pluralismus heutiger Kulturen, h g . v . G i o v a n n i B . Sala, 1975 ( Q D 6 7 ) . - T h e Way t o Nicea. T h e Dialectical Development o f Trinitarian T h e o l o g y , L o n d o n 1976. - Understanding and Being. An Introduction and C o m p a n i o n to Insight, N e w York 1980. - A T h i r d C o l l e c t i o n , N e w York 1985.
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Matthew Lamb
464 Loofs, Friedrich
Loofs (1858-1928)
1. Leben und W i r k s a m k e i t
1. Leben und
2 . Werk und N a c h w i r k u n g
( Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 4 6 5 )
Wirksamkeit
Den am 19.6.1858 in Hildesheim als Pastorensohn geborenen Friedrich Armin Loofs ließ das konfessionelle Luthertum des Elternhauses sein Theologiestudium in -»Leipzig (Sommersemester 1877) bei Franz -»Delitzsch, Karl Friedrich August Kahnis und Christoph Ernst Luthardt (-*Neuluthertum; s. T R E 19, 427,35 f) beginnen. Sie enttäuschten ihn jedoch, während ihn A. -»Harnack für eine exakt und theologisch engagiert betriebene Dogmengeschichte begeisterte und ihn auf - den ursprünglich von ihm gemiedenen A. -»Ritschl hinwies. Loofs betrat schon jetzt das Arbeitsfeld, dem sein Lebenswerk gelten sollte; und er begann, ermuntert von seinen Freunden Wilhelm Bornemann (1858-1946) und M. -»Rade, seine streng lutherische Theologie einer behutsamen Revision zu unterziehen. Nach einem Tübinger Semester (Sommersemester 1878), in dem ihn J . T . -»Beck religiös, aber wissenschaftlich kaum beeindruckte, ging er zum Winter 1878/79 für die letzten drei Semester nach -»Göttingen, um nun Ritsehl selbst zu hören und um sein kritischer Schüler zu werden. Z w i s c h e n den beiden theologischen E x a m i n a ( H a n n o v e r 1880 und 1883) bereitete er in Leipzig mit zwei kirchengeschichtlichen Studien - zur C h r o n o l o g i e der Bonifatiusbriefe und zur iroschottischen Kirche - den Eintritt in die akademische L a u f b a h n vor; mit der einen e r w a r b er 1881 den philosophischen D o k t o r - und 1882 mit der anderen den theologischen Licentiatengrad und habilitierte sich auf der Grundlage der zweiten noch 1882 für Kirchen- und Dogmengeschichtc. N a c h vierjähriger D o z e n t u r und kurzem E x t r a o r d i n a r i a t in Leipzig ging er 1887 als Extraordinarius nach - » H a l l e und wurde hier im folgenden J a h r zum O r d i n a r i u s für Kirchengeschichte berufen. Andere Berufungen ausschlagend, hat er in beinahe vier J a h r z e h n t e n an der Hallenser Fakultät eine einflußreiche W i r k s a m k e i t entfaltet.
Die im Mittelpunkt seiner Arbeit stehende, sorgfältig erforschte und in der Lehre lebhaft vertretene Dogmengeschichtc verstand er als eine Disziplin von eminenter kirchlicher Relevanz und sah sich deshalb von ihr über seine Fachbeiträge zur Dogmengeschichtsschreibung, Lutherforschung (-»Luther) und -»Konfessionskunde hinaus auch an die allgemeintheologische Aufgabe gewiesen, das „Evangelium der Reformation" (s. u.; vgl. ChW 1 [1887] 3 und Akademische Predigten, Dresden/Leipzig 1908,59ff) dem Menschen der Neuzeit zu vermitteln. So gehörte er 1886 zu den Mitbegründern des „Gemeindeblattes" Die Christliche Welt, hielt viele Jahre auch das homiletische Proseminar ab und predigte seit 1889 regelmäßig im akademischen Gottesdienst. Loofs hat seit ihrem Bestehen der Kirchenväterkommission angehört, war 1907/08 Rektor der Universität, war seit 1911 Mitherausgeber der Theologischen Studien und Kritiken und hat in mehreren kirchlichen Leitungsgremien — besonders seit 1910 im Magdeburger Konsistorium - ein reiches Maß an Pflichten übernommen. 1926 wurde er emeritiert. Vielfache Anerkennung seiner Arbeit und dankbare Schülerschaft (vgl. L. -»Fendt) blieben ihm nicht versagt. Bis an den Tod hat ihn die dogmengeschichtliche Forschung begleitet. Er starb am 31.1.1928 in Halle. 2. Werk und
Nachwirkung
Rückblickend hat Loofs sein Lebenswerk zwei - Wissenschaft und Glauben miteinander verbindenden - Hauptfragen zugeordnet, der „nach dem Verhältnis der kirchlichen Trinitätslehre zum urchristlichen Glauben" und der nach „der reformatorischen Rechtfertigungslehre" (Selbstdarstellung: RWGS 2, Leipzig 1926, 1 1 9 - 1 6 0 ; hier: 126ff). Beide Fragestellungen kamen seinem „sehr lehrreichen, substantiellen und praktisch angelegten" (so Fr. Overbecks Dankesworte für die 3. Aufl./Postkarte v. 23.10.1893 im Nachlaß Halle) Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte (Halle 1889 4 1906) zugute, dem ein besonderer Erfolg beschieden war; er gilt neben den Werken Harnacks und Reinhold -»Seebergs als Klassiker seiner Disziplin und ist noch heute ein unübertroffenes
Loofs
465
Lehrbuch. Im einzelnen traten seine reformatorischen Studien (s. besonders Der articulus stantis et cadentis ecclesiae: ThStKr 90 [1917] 323 - 4 2 0 und Die Rechtfertigung nach den Lutherschen Gedanken in den Bekenntnisschriften des Konkordienbuches: ThStKr 94 [1922] 307-382), wiewohl sie die „Lutherrenaissance" der 20er Jahre mit heraufgeführt hatten, bald in den Schatten des Luther (GAufs. zur KG I, Tübingen 1921) von Karl —»Holl, während seine Erkenntnisse zur „Entwicklung der trinitarischen und christologischen Anschauungen in der alten Kirche" (RWGS 2,149) bleibende Beachtung gefunden haben. Dies gilt namentlich für die Herausarbeitung einer von der griechischen Logoschristologie unabhängigen frühchristlichen christologischen Tradition (vgl. Theophilus von Antiochien, Adversus Marcionem und die anderen theologischen Quellen bei Irenaus, 1930 [TU 46/2] 101 ff: „Geistchristologie"), die, hinter die Apologeten zurückreichend, bereits „in dem johanneischen Kreis Kleinasiens" wurzelnd und in Kleinasien auch fortgeführt (Art. „Christologie, Kirchenlehre": RE 3 4, 1 6 - 5 6 ; hier: 20), nicht „an die Religion Jesu", aber „an die apostolische Verkündigung von Jesu" anknüpfend (a.a.O. 17), ihre Besonderheit in dem Interesse an der „geschichtlichen Erscheinung" Jesu hat (a. a. O. 29) und die belegt, daß die Anfänge des christologischen Dogmas bereits im Neuen Testament liegen (vgl. a . a . O . 22). Eng verbunden hiermit ist Loofs' „vulgäre Fassung des Begriffes D o g m a " (Art. „Dogmengeschichte": RE 3 4,752—764; hier: 761) als des „kirchlichen Lehrbegriffs in der Christenheit" (762). Indem er Harnacks Polarisierung von Evangelium und Dogma (vgl. TRE 9, 121 f) relativierte, stand er am Anfang einer dogmengeschichtlichen Grundlagendebatte, der freilich auch die Harnack wie Loofs gleichermaßen widersprechende These Franz -»Overbecks einer absoluten Diastase zwischen Urchristentum und folgender Geschichte zu erörtern aufgegeben war. Die Schriften, mit denen sich Loofs an eine breitere Öffentlichkeit wandte, dokumentieren die Reichweite, die er in den Auseinandersetzungen seiner Zeit dem historischen Argument zumaß. Gegen E. Haeckels Welträtsel (->Monismus) bestritt er einen AntiHaeckel (Halle 1900 51906) - unter viel Beifall und Befehdung - allein mit dem Nachweis der in ihnen waltenden historischen Ignoranz. Die Gegenwartsbedeutung Luthers suchte er dadurch zu beleuchten, daß er gegen E. —>Troeltsch „Luthers Anteil an der Entstehung der modernen Welt" (Luthers Stellung zum Mittelalter und zur Neuzeit, Halle 1907,5) in historischen Einzelnachweisen zu fixieren unternahm (vgl. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München/Berlin 1911 [zuerst 1906], 17 f). Gegen die —> Leben-Jesu-Forschung wies er der Geschichtsforschung, obwohl sich ihr anders als dem Glauben das Bild Jesu entziehe, die (apologetische) Aufgabe zu darzutun, daß es historisch unhaltbar sei, mit „einem rein menschlichen Leben Jesu" zu rechnen (Wer war Jesus Christus?, Halle 1916, 2 1922, passim). Er stieß damit auf viel Skepsis; Harnack z. B. schrieb ihm: „ D u kommst zu früh mit dem Eintritt des Glaubens" (Brief vom 25.9.1916/Nachlaß Halle; s. auch A.v. Zahn-Harnack 2 1951, 187). Loofs' Vermittlung zwischen Tradition und Moderne besaß „ein konservatives und ein revolutionäres Element" (Rade: ChW 42 [1928] 115). Er trieb Dogmengeschichte als Dogmenkritik, votierte (wenn auch zögernd, s. Rathje 69) im Apostolikumstreit für Harnack und (als Mitglied des Spruchkollegiums) im Verfahren gegen Carl —• Jatho für dessen Verbleiben im Amt. Aber er legte die Mitarbeit an der Christlichen Welt nieder, als sie am Supranaturalismus nicht festzuhalten schien (vgl. Das Evangelium der Reformation und die Gegenwart: ThStKr 81 [1908] 203 -244). Die Fragen, denen sich Loofs damit (im Bewußtsein der Vorläufigkeit seiner Antworten, s. RWGS 2,158) stellte, gelten — zeitweilig zu Unrecht vergessen — noch der heutigen Theologie und Kirche. Quellen Zu den Werken s. die Bibliographie in Loofs' Selbstdarstellung (s.o.). Außer Theophilus v. Antiochien (postum hg., s.o.) sind die NA nachzutragen: Leitfaden zum Studium der DG, hg. v. K. 5 7 Aland (ohne den Reformationsteil), Halle 1950/53, Tübingen «1959 1968. Der Loofs-Nachlaß in der ULB Halle (Yi 19) enthält u. a. über 3000 an Loofs gerichtete Briefe, knapp 100 Briefkonzepte von Loofs und mehrere Kollegnachschriften aus seiner Studentenzeit
Lortz
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(weitere Kollegnachschriften weist NUC 340 [1974] 465ff aus). Eine Edition des Briefwechsels Harnack—Loofs wird von Jürgen Hönscheid vorbereitet. Literatur Kurt Aland, Art. Loofs, Friedrich: RGG 3 4 (1960) 448. - Ders. (Hg.), Glanz u. Niedergang der dt. Univ. 50 Jahre dt. Wissenschaftsgesch. in Briefen v. u. an Hans Lietzmann (1892-1942), Berlin/New York 1979. - Ernst Barnikol, Theologisches u. Kirchliches aus dem Briefwechsel Loofs-Harnack: T h L Z 85 (1960) 2 1 7 - 2 2 2 . - Karl Bauer, Art. Loofs, Friedrich: RGG 2 3 (1929) 1722. - Karlmann Beyschlag, Grundriß der DG, Darmstadt, 1 1 9 8 2 , 3 5 - 3 7 . - Walter Bodenstein, Ein liberaler Lutheraner: Freies Christentum 10 (1958) 1 5 5 - 1 5 8 . - Leonhard Fendt, D. Friedrich Loofs zum Gedächtnis: DtPfrBl 32 (1928) 2 0 9 - 211. - Johannes Ficker, Art. Loofs, Friedrich: DBJ 10 (1928) 1 6 1 - 1 6 7 . - Georg Fritz, Art. Loofs, Friedrich: NDB 15 (1987) 1 4 8 - 1 4 9 . - Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Evangelium u. Dogma, Stuttgart 1959, 1 8 7 - 1 9 3 . - Ferdinand Kattenbusch, Zu Friedrich Loofs' Gedächtnis: ThStKr 100 (1927/28) 3 5 4 - 3 6 1 . - Johanna Konrad, Loofs* Beitr. zur Christologie: EvTh 18 (1958) 3 2 4 - 3 3 3 . - P e t e r Meinhold, Zur Grundlegung der DG: Saec 10 (1959) 1 - 2 0 . - Ders., Gesch. der kirchl. Historiographie, Freiburg, II 1967, 331 - 3 3 9 . - Martin Rade, Art. Loofs: ChW 42 (1928) 1 1 4 - 1 1 6 . - D e r s . , Art. Christliche Welt usf.: RGG 2 1 (1927) 1589-1592. - D e r s . , Von Beck zu Ritschi. Aus Friedrich Loofs' Studienzeit 1877ff: ThStKr 106 NF 1 (1934/35) 4 6 9 - 4 8 3 . - Ders., Unkonfessionalistisches Luthertum. Erinnerung an die Lutherfreunde in der Ritschlschen Theol.: Z T h K 18 (1937) 1 3 1 - 1 5 1 . - Johannes Rathje, Die Welt des freien Protestantismus, Stuttgart 1952. - Rudolf Stöwesand, Bekenntnis zu Friedrich Loofs: ZdZ 12 (1958) 2 0 8 - 2 1 4 . - Agnes v. Zahn-Harnack, Adolf v. Harnack, Berlin 1936 ( 2 1951). Stephan B i t t e r L o r t z , Joseph 1. Leben 1.
(1887-1975) 2. Werk
(Quellen/Literatur S. 468)
Leben
In G r e v e n m a c h e r ( L u x e m b u r g ) a m 1 3 . 1 2 . 1 8 8 7 g e b o r e n , studierte Lortz in R o m , - • F r e i b u r g i . U e . und - » B o n n . 1910 e r w a r b er den D o k t o r der Philosophie und 1 9 2 0 den der T h e o l o g i e . Inzwischen hatte er 1913 die Priesterweihe empfangen und war 1917 zum S e k r e t ä r der Gesellschaft zur H e r a u s g a b e des Corpus Catholicorum in B o n n e r n a n n t w o r d e n . H i e r lernte er neben Albert E r h a r d und J o s e p h G r e v i n g vor allem Fritz T i l l m a n n kennen, der ihn in eine biblisch geprägte T h e o l o g i e einführte. G r o ß e n Einfluß a u f L o r t z als K i r c h e n h i s t o r i k e r übte der W ü r z b u r g e r Sebastian - » M e r k l e aus. Bei ihm habilitierte er sich 1 9 2 3 . Z u diesem Z e i t p u n k t w a r L o r t z S t u d e n t e n p f a r r e r in W ü r z b u r g . N a c h einer Lehrstuhlvertretung in Passau erhielt er 1 9 2 9 eine Professur an der Staatlichen A k a d e m i e in B r a u n s b e r g . 1933 w u r d e er in - » M ü n s t e r zum P r o f e s s o r für M i s s i o n s g e s c h i c h t e und bald d a r a u f für K i r c h e n g e s c h i c h t e des - » M i t t e l a l t e r s und der - » N e u z e i t e r n a n n t . Als nach dem Kriege die englische Besatzungsmacht ihm vorübergehend die Lehrerlaubnis entzog, übernahm er die kirchengeschichtlichen Vorlesungen in Trier. Im Jahre 1950 wurde er Professor für abendländische Religionsgeschichte in -»Mainz. Damit war verbunden der Aufbau und die Leitung des Instituts für Europäische Geschichte, das er mit Fritz Kern (1884-1950) gründete. Durch die Arbeit und die Veröffentlichungen dieses Instituts hat Lortz weltweit gewirkt. Uber 25 Jahre war er der Direktor der Abteilung Abendländische Religionsgeschichte. Leitgedanke des Instituts ist die Uberwindung nationaler und konfessioneller Vorurteile. Diesem Ziel dient die historisch-theologische Arbeit, der junge Wissenschaftler aus verschiedenen Nationen und Konfessionen gemeinsam nachgehen. Was L o r t z als H i s t o r i k e r a n s t r e b t e , w a r das B e m ü h e n , die Fülle der geschichtlichen Einzeldaten zu einer Einheit und zur Synthese z u s a m m e n z u b i n d e n . Dieser Ansatz e r m ö g lichte L o r t z seine weit in die - » Ö k u m e n e hineinreichende W i r k s a m k e i t . G e r a d e unter diesem Aspekt ist die W a n d l u n g des Lutherbildes zu sehen, die sich durch die F o r s c h u n gen von L o r t z im Katholizismus durchgesetzt hat ( - » L u t h e r III). L o r t z wurden zahlreiche E h r u n g e n zuteil (Päpstlicher H a u s p r ä l a t ; E h r e n d o k t o r w ü r den; Bundesverdienstkreuz u . a . ) . Ein g r o ß e r i n t e r n a t i o n a l e r Schüler- und Freundeskreis ehrte L o r t z 1957 mit einer zweibändigen Festschrift. J o s e p h L o r t z starb am 2 1 . 2 . 1 9 7 5 in
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Luxemburg. Aus Anlaß seines 100. Geburtstages fand in Mainz ein wissenschaftliches Festkolloquium unter dem Titel „Joseph Lortz - Ein Historiker, der Geschichte schrieb und Geschichte machte" statt (s.u. Lit.-Verz.). 2. Werk Geschichte erschöpft sich für Lortz nicht in einzelnen Tatsachen, die es festzustellen und aufzuzählen gilt. Bei ihr geht es nicht um etwas schlechthin Vergangenes, sondern um Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinreicht und für die Zukunft offen ist und damit einen Auftrag an uns bedeutet. In diesem Sinne schrieb Lortz die weitverbreitete Geschichte der Kirche in ideengeschichtlicher Betrachtung (Münster 1932 "1965). Es ging ihm darum, die Geschichte der Kirche in all ihren Brüchen und Widersprüchen als ein Lebendiges und Ganzes zu begreifen. Die Kirche hat sich zu verwirklichen in der Begegnung mit einer Welt, die sich ihr in vielfältiger Weise widersetzt. Dieser Widerspruch entbindet aber die Christen nicht von der Pflicht der Auseinandersetzung mit dem Geist einer Zeit und nicht davon, jeweils den Anknüpfungspunkt für die Botschaft des Evangeliums auszumachen. Denn „Christentum ist nicht Abwehr, sondern Hingabe, nicht Selbstschutz, sondern Wagnis, nicht Sicherheit, sondern Sendung". Hier ist auch der Ansatz der Schrift Katholischer Zugang zum Nationalsozialismus (Münster 1933 1 1934) zu sehen. Die dem -»Nationalsozialismus innewohnende Tendenz zu einem heidnischen Naturalismus dürfe, so betonte Lortz damals wiederholt, den Christen nicht schrecken, sondern verpflichte ihn um so mehr, die Kraft der Gnade einzusetzen in Hoffnung wider die Hoffnung. Den von der Möglichkeit einer fruchtbaren Begegnung getragenen Abschnitt „Kirche und Nationalsozialismus" seiner Geschichte der Kirche strich der Verfasser in der Ausgabe von 1937. Dazu gehörte sicherlich mehr M u t , als ihn nie geschrieben zu haben. Die Tatsache, daß im Kampf der Geister mancher irrt, der sich Blößen gibt oder scheitert, gibt denen nicht recht, die von vornherein zu Hause bleiben und kapitulieren.
Lortz, überzeugt, daß allein die Wahrheit uns frei machen kann (Joh 8,32), hat aus seiner Kenntnis der Kirchcngeschichtc immer wieder davor gewarnt, Wahrheit mit Korrektheit zu verwechseln, und hat Müdigkeit und Blutleere als eine vielfach größere, weil schleichende Gefahr für die Kirche hingestellt, als formale Häresie. Deshalb wollte er im Problemkreis der Ursachen der Reformation ja auch mehr als nach den „Mißständen" nach der religiösen Substanz und Kraft gefragt wissen, mit der die Kirche in diesen Sturm getreten ist. Luthers religiöse Anliegen wurden nach Lortz von den Vertretern der Kirche, Papst und Bischöfen, nicht mit dem nötigen Ernst und der geforderten Verantwortung beantwortet. Diese Feststellungen hindern aber Lortz nicht, ernste Kritik an Luther zu üben: „Luther ist stark vom Erlebnis her bestimmt, dabei ungezügelt, maßlos, germanischformlos, ja - triebhaft. Luther ist von der Wurzel her subjektivistisch angelegt" (Die Reformation in Deutschland, I, 162). Die Reformation, ihre Voraussetzungen und Auswirkungen, war seit 1917 sein besonderes Forschungsgebiet. In dem zweibändigen Werk Die Reformation in Deutschland (1939 '1982) entwarf er ein Bild von Luther und der Reformation, das von Katholiken und Protestanten als eine Wende empfunden wurde. Er hat damit wesentlich zu dem Klimawechsel im Verhältnis der Konfessionen beigetragen. „Die Reformation ist" - in der Sicht von Lortz - „eine katholische Angelegenheit im Sinn katholischer Mitverursachung . . . Wir müssen unsere Schuld auf uns nehmen", und wir sind gerufen, „Luthers Reichtum in die katholische Kirche heimzuholen" (III, 242). Mit Matthias Laros und M a x Josef Metzger gehört Lortz zu den Wegbereitern der -•Una-Sancta-Bewegung in Deutschland. Dabei war es seine tiefe Uberzeugung, daß wir zu der Einheit der Christen, die Jesus will und um die er den Vater im Hohenpriesterlichen Gebet so ergreifend gebeten hat, nur finden können in der klarer erkannten und tiefer gelebten Wahrheit. Er war bemüht und verstand es, in unverbrüchlicher dogmatischer Gebundenheit „die Wahrheit in Liebe zu sagen" (Eph 4,15). Er, der in der Auszehrung der
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G l a u b e n s s u b s t a n z und der weit a u s w u c h e r n d e n theologischen V e r s c h w o m m e n h e i t heute eine s c h w e r e Belastung des ö k u m e n i s c h e n G e s p r ä c h s sah, fühlte sich andererseits geh a l t e n , in der theologischen Auseinandersetzung „ d e n I n t e n t i o n e n , den inneren Z i e l s e t zungen des G e g n e r s mit verständnisvollem E n t g e g e n k o m m e n , mit einem V o r s c h u ß an g u t e m W i l l e n n a c h z u s p ü r e n " . „ W i r dürfen nicht vorzugsweise a u f Widerlegung a u s s e i n " , sondern h a b e n in B u ß g e s i n n u n g , im B e k e n n t n i s der beiderseitigen Schuld an der K i r c h e n s p a l t u n g a u f das E v a n g e l i u m und aufeinander zu h ö r e n . Seine letzte Arbeit stellt im T i t e l die F r a g e : „ Ö k u m e n i s m u s o h n e W a h r h e i t ? " ( M ü n s t e r 1975). Darin weist L o r t z hin „ a u f eine a k u t e B e d r o h u n g des heutigen Ö k u m e n i s m u s , a u f die G e f a h r einer Pervertierung (und d a m i t Selbstauflösung) durch verschiedene F o r m e n der S ä k u l a r i s i e r u n g " . E r stellt in Z w e i f e l , o b sich a u f dem „ W e g gesellschaftskritischer Auseinandersetzung das k i r c h l i c h e Einheitsstreben unter dem P r i m a t der W a h r h e i t im R a u m von W o r t und S a k r a m e n t n o c h o r g a n i s c h vollziehen k a n n ; o b so n o c h a u f die D a u e r J e s u s C h r i s t u s als der H e r r und E r l ö s e r im Sinn der B a s i s - F o r m e l des ö k u m e n i s c h e n R a t s und die M i s s i o n als B e k e h r u n g von den Sünden und als Eingliederung in die universale K i r c h e verstanden w i r d " (IV,25). Werke in
Auswahl
Tertullian als Apologet, 2 Bde., 1927/1928 (MBTh 9.10). - Kardinal Stanislaus Hosius. Beitr. zur Erkenntnis der Persönlichkeit u. des Werkes. Gedenkschr. zum 350. Todestag, Braunsberg i. O.Pr. 1931 (Abh. der staatlichen Akademie Braunsberg). - KG. Grundzüge der Neuzeit in ideengesch. Betrachtung (Allg. Kennzeichnung der Neuzeit): ZKRU 8 (1931) 6 - 26. - Gcsch. der Kirche in ideengesch. Betrachtung. Eine Sinndeutung der christl. Vergangenheit in Grundzügen, Münster 1932 " 1 9 6 5 . - Methodologisches zur Kritik in der KG: ZKRU (1933) 1 0 5 - 1 2 0 . - Kath. Zugang zum Nationalsozialismus, kirchengesch. gesehen (Reich u. Kirche), Münster M934. - Die Reformation in Deutschland, Freiburg i.Br., I Voraussetzungen - Aufbruch - Erste Entscheidung, 1939, II Ausbau der Fronten - Unionsversuche - Ergebnis, 1940 '1982. - Die Reformation. Thesen als Handreichung bei ökum. Gesprächen, Meitingen 2 1945. - Die Reformation als rel. Anliegen heute. Vier Vortr. im Dienste der Una Sancta, Trier 1948. — Zur Problematik der kirchl. Mißstände im SpätMA, Trier 1950. - Um das Konzil v. Trient: T h R 47 (1951) 1 5 7 - 1 7 0 . - Wie kam es zur Reformation? Ein Vortr., Einsiedeln J 1955. - Der unvergleichliche Heilige. Gedanken um Franziskus v. Assisi, Düsseldorf 1952. - Nochmals: Zur Aufgabe des Kirchengeschichtsschreibers: T T h Z 61 (1952) 3 1 7 - 3 2 7 . - Drei Reden zur Eröffnung des Instituts für Europ. Gesch., Mainz 1953. - Bonifatius u. die Grundlegung des Abendlandes, Wiesbaden 1954 (VIEG-Vortr., 6). - Einheit der Christenheit. Unfehlbarkeit u. lebendige Aussage, Trier 1959. - Tradition im Umbruch, Wiesbaden 1959. - Mein Umweg zur Gesch., Wiesbaden 1960. - Joseph Lortz/Erwin Iserloh, Kleine Reformationsgesch. Ursachen, Verlauf, Wirkung, Freiburg i. Br. 2 1971 (HerBü 342). - Holland in Not, 2 Bde., Luxemburg 2 1971. - Vom kindlichen Glauben, Luxemburg 1970. - Una Sancta. Hans Asmussen zum Gedenken, Luxemburg 1970. - Martin Luther. Gedanken zur 450-Jahrfeier in Worms, Luxemburg 1971. - Luther u. wir Katholiken heute: Kirche u. Staat in Idee u. Gesch. des Abendlandes. FS Ferdinand Maass, hg. v. W. Baum, Wien/München 1973, 1 6 6 - 1 9 1 . - Ökumenismus ohne Wahrheit?, Münster 1975. Festgaben: Erneuerung u. Einheit. Aufs, zur Theologie- u. KG, aus Anlaß seines 100. Geburtstages hg.v. Peter Manns, Stuttgart 1987, 8 9 3 - 8 9 5 . - Glaube u. Gesch., hg.v. Erwin Iserloh/Peter Manns, I Reformation, Schicksal u. Auftrag, II Glaube u. Gesch., Baden-Baden 1958. Literatur Zum Gedenken an Joseph Lortz. Beitr. zur Reformationsgesch. u. Ökumene, hg.v. Rolf Decot/Rainer Vinke, Stuttgart 1989 (VIEG Abt. Religionsgesch., Beih.30). - Darin u.a.: Eero Huovinen, Die ökum. Bedeutung des Luther-Verständnisses v. Joseph Lortz f. die Lutherforschung in Finnland, 2 6 2 - 2 9 2 . - Erwin Iserloh, Joseph Lortz - Leben u. ökum. Bedeutung, 3 - 1 1 . - Gabriele Lautenschläger, Neue Forschungsergebnisse zum Thema Joseph Lortz, 2 9 3 - 3 1 3 . - Bernhard Lohse, Die bleibende Bedeutung v. Joseph Lortz' Darst. „Die Reformation in Deutschland", 3 3 7 - 3 5 1 . — Peter Manns, Joseph Lortz zum 100. Geburtstag. Sein Luther-Verständnis u. dessen Bedeutung für die Luther-Forschung gestern u. heute, 3 0 - 9 2 . - W o l f h a r t Pannenberg, Uber Lortz hinaus?, 9 3 - 1 0 5 . — Heinz Schütte, Der ökum. Gedanke bei Joseph Lortz, 1 2 - 2 9 . - Lewis W. Spitz, Die Wirkung des historiograph. Werkes v. Joseph Lortz in den USA, 207 - 216. - Hector Vall, Joseph Lortz u. sein Einfluß in Spanien, 1 9 7 - 2 0 6 . - Gerhard Philipp Wolf, Das historiographische Werk v. Joseph Lortz — Aufnahme u. Wirkung in Frankreich, 217—261. F r w i n leprinh Losungen
->Brüderunität/Brüdergemeine
Los-von-Rom-Bewegung
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Los-von-Rom-Bewegung (Quellen/Literatur S. 471)
Los-von-Rom-Bewegung ist (von gelegentlicher anderer Verwendung des Begriffs abgesehen) die Hauptbezeichnung für eine Ubertrittsbewegung zur evangelischen Kirche und zur alt-katholischen Kirche (-• Altkatholizismus) in den böhmisch-schlesisch-mährischen, slowenischen und Alpenländern der Habsburger Monarchie, besonders zwischen 1897 und 1918. Zu diesen Ereignissen kam es in Gebieten, die teils schon die Hussiten und deren Bekämpfung (-»Hus/Hussiten) sowie die Bewegung der Böhmischen Brüder erlebt und die Reformation angenommen oder zumindest mit ihr Berührung gehabt hatten, dann aber - eher durch obrigkeitlichen Zwang als durch religiöse Unterweisung - weithin rekatholisiert worden waren. Bereits 1781,1848 und 1870 waren kleinere Gruppen übergetreten, die - bei Tschechen und Deutschen verschieden oder gar gegensätzlich - an ältere evangelische Überlieferungen anzuknüpfen und vom Katholizismus als Staatskirche freizukommen versuchten. Die eigentliche Los-von-Rom-Bewegung war verquickt mit starken Spannungen im österreichisch-ungarischen Staatsgefüge und dem Anspruch vieler Untertanen deutscher Muttersprache, ein Staatsvolk ersten Ranges zu sein und bleiben zu wollen (-»Österreich). Die Bewegung fand Anklang nicht zuletzt dort, wo die Meinung vertreten wurde, im Falle eines Auseinanderbrechens der Habsburger Monarchie sollten Deutschösterreich und andere Gebiete mit überwiegend deutschsprachiger Bevölkerung Anschluß finden an einen Staatenbund Deutsches Reich. Als Auslöser der Bewegung gilt die sog. Sprachenverordnung des Ministerpräsidenten Kasimir Felix G r a f Badeni vom April 1897, die für weite Gebiete das Tschechische dem Deutschen gleichstellte und von fast allen Beamten in Böhmen und Mähren die Kenntnis beider Sprachen erwartete. Die römisch-katholische Kirche hatte diese Entwicklung in ihrer betont plurinationalen Haltung gefördert. Etliche ihrer Pfarren mit deutscher Bevölkerung waren auch, da es nicht genug deutsche l'riester gab, mit Pfarrern slawischer Herkunft besetzt, die ihre national-tschechische oder nationalslowenische Haltung durchaus zu erkennen gaben. Das machtvolle Auftreten eines politischen Katholizismus und die Verärgerung über den nachvatikanischen -»Ultramontanismus taten ein übriges. Es ging die Rede von einer slawisch-klerikalen Partnerschaft. Und es entstanden Beziehungen zu Kreisen in Sachsen, Preußen, Hessen, Württemberg und andernorts, die das kulturelle und politische Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen über alle Grenzen hinweg gestärkt zu sehen wünschten und Bündnisse anboten. Von München her wurde Friedrich Julius Lehmann als ein Repräsentant des Alldeutschen Verbandes tätig. Die Bewegung verfügte bald über eine Eigendynamik. Nicht mehr aufhalten konnte sie, daß die Badenische Verordnung schon 1898 wieder aufgehoben wurde.
Gerichtet gegen die seit alters bekannte Forderung, daß jeder Mensch, der Christ sein wolle, dem Römischen Pontifex Untertan sein müsse (-»Papsttum), hatte im Dezember 1897 auf dem Deutschen Volkstag in Wien der Medizinstudent Theodor Georg Rakus eine Losung aufgegriffen, die Viktor von Scheffel schon 1873 geläufig war, und ausgerufen: Los von Rom! Der Führer der gleichermaßen deutschnationalen wie antiklerikalen, nicht zuletzt aber auch antisemitischen Alldeutschen Partei in Österreich, Georg Ritter von Schönerer, machte diesen Ruf durch eine Reichsratsrede sowie durch Schriften und Veranstaltungen weithin bekannt. Mit dem Bemerken, daß auch er sich anschließen werde, sobald 10000 Anmeldungen vorlägen, beförderte er den massenhaften Übertritt von 1899/1900. An Männern wie Schönerer und Karl Hermann Wolf, seinem späteren Gegenspieler, wurde schnell deutlich, daß es nicht genügen konnte, nur „dagegen" zu sein, Deutschtümelei zu betreiben oder gar pseudogermanische Mythen zu verbreiten. In dieser Lage zog der -»Evangelische Bund, der 1886 im Deutschen Reich gegründet worden war, Erkundigungen ein und kam zu dem Ergebnis: „Dem Streitruf ,Los von Rom' muß der Friedensruf .Hinein ins Evangelium' zur Seite treten, sonst entbehrt die ganze Bewegung ihrer Weihe und verfehlt ihr Ziel" (Kirchl. Korrespondenz f. die Mitglie-
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Los-von-Rom-Bewegung
der des Ev. Bundes 1 3 , 1 8 9 9 , 5 f ) . Es könne nicht angehen, sich an dem nationalen Kampfe zu beteiligen, der das Nachbarland gegenwärtig zerreiße. Trotzdem erhoben die österreichischen Behörden auch gegen den Evangelischen Bund den Vorwurf politischer Einmischung, verhafteten 1899 für kurze Zeit den Abgesandten O t t o Everling und wiesen den Abgesandten Paul Braeunlich 1900 für immer aus. Aufgrund der Hilfsersuchen wurde ein arbeitsteiliges Vorgehen vereinbart, demzufolge der reichsdeutsche Gustav-Adolf-Verein (gegründet 1832; -»Diasporawerke) Kirchenund Gemeindehausbauten förderte und der Evangelische Bund aus Deutschland entsandte Vikare besoldete, Stipendien bereitstellte, Bibeln, Gesangbücher, geistliche Schriften und theologische Literatur beschaffte und die Bewegung durch Vorträge und Agitationshefte voranbrachte. Von 4 0 Vikaren gleich um 1900 stieg die Zahl auf über 100 um 1910, von denen etwa die Hälfte in Böhmen und Mähren arbeitete (vgl. T R E 6,767,3ff). Die Mehrzahl kehrte nach der üblichen und beabsichtigten Frist heim. Einigen wurde die Aufenthaltserlaubnis entzogen. Nicht wenige aber heirateten an ihren Vikariatsorten, wurden eingebürgert und konnten sich dann für einen ständigen Pfarrdienst bewerben. Ein überwiegend föderatives Vorgehen (entsprechend der Pluralität der deutschen evangelischen Landeskirchen), Patenschaftsverhältnisse zwischen den (neuen) Gemeinden in der Habsburger Monarchie und solchen im Deutschen Reich und ein bleibender Zusammenhalt unter den ehemaligen Vikaren verliehen den Hilfsmaßnahmen einen ausgesprochen gemeindenahen und persönlichen Zug. Auch dem evangelisch-kirchlichen Vereinsleben im Deutschen Reich erbrachte das Zugewinne. Der von den Beteiligten bevorzugte Ausdruck „Evangelische Bewegung" setzte sich in der Berichterstattung über sie freilich nicht durch. M a n c h m a l nur vorübergehend, zumeist aber auf D a u e r entstand ein (vermehrtes) evangelisch-kirchliches Leben in kleineren und größeren O r t e n : beispielsweise in Asch, Eger, Falkenau, B r ü x , D u x , Aussig, Leitmeritz, Warnsdorf, Reichenberg, Friedland und Hohenelbe in B ö h m e n ; T r o p p a u in Schlesien; O l m ü t z , Brünn und Z n a i m in M ä h r e n ; Wien mit dem größten Z u w a c h s überhaupt; Krems in Niederösterreich; Linz, Wels, V ö c k l a b r u c k und G m u n d e n in O b e r ö s t e r r e i c h ; Salzburg; Innsbruck und M e r a n in T i r o l ; Spittal, Feld am See, Arriach, Waiern, Villach und Klagenfurt in K ä r n t e n ; Mürzzuschlag, Leoben, G r a z , M a r b u r g und Cilli in der Steiermark; Laibach in Krain; sowie G ö r z , Triest, Volosca und Pola in G ö r z - G r a d i s k a und Istrien.
Die Evangelische Kirche A . B . und H . B . in Österreich samt ihren Einschlüssen von Brüdergemeine (-»Brüderunität/Brüdergemeine) und Erweckungsbewegung ( - > E r w e k kung/Erweckungsbewegungen) stand vor der Aufgabe, Menschen mit sehr verschiedenen Erwartungen in die Gemeinden aufzunehmen und ihnen eine evangelisch-reformatorische Glaubens- und Lebenshaltung zu vermitteln. Vergleichsweise leicht war das bei denen, die sich von dem „vernünftigen und weihevollen evangelischen Gottesdienst, den ehrwürdigen Amtshandlungen, den urchristlichen L a u t e n " angesprochen fühlten. Schwer aber wurde es bei den Anhängern einer „Deutschen Religion" sowie bei den „Spiritisten, Theosophen, Okkultisten, Tolstoiisten und Vegetarianem", die sich eigentlich jeder verbindlichen Gestalt von Kirche und Glaube zu entziehen wünschten. Daß trotzdem unbestreitbar evangelische Frömmigkeit und christlicher Glaube gepflanzt wurden, ist dem Einsatz vieler Männer und Frauen zu danken, darunter etwa M a x Monsky in Krems, welcher mit zupackender Verkündigung viele Menschen zu einer ihnen bis dahin unbekannten Erfahrung und Freude führte. Bei der alt-katholischen Kirche, auf die ein Fünftel der Ubertritte entfiel, verlief es ähnlich. D i e Übertretenden k a m e n (das B a u e r n t u m a u s g e n o m m e n ) aus allen Bevölkerungsschichten, in N o r d b ö h m e n und W i e n namentlich auch aus der Arbeiterschaft. In den 20er und 3 0 e r J a h r e n folgte noch eine N a c h b l ü t e geringen Umfangs. Ein sorgfältiger Zahlenvergleich, der auch R ü c k k e h r und andere Vorgänge b e a c h t e t , gelangt zu ungefähr 7 5 0 0 0 Übertritten insgesamt. Alle deutschen Gemeinden in B ö h m e n , Österreichisch-Schlesien, M ä h r e n und Slowenien erloschen mit dem Ausgang des Z w e i t e n Weltkrieges.
Die Ereignisse riefen sogleich nach der Jahrhundertwende eine römisch-katholische
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Abwehrbewegung hervor, in der die Erzbischöfe von Prag und Wien sowie die Bischöfe von Leitmeritz, Budweis und Olmütz mit Hirtenbriefen und anderweitig tätig wurden. Regionale Katholikentage und Presseorgane gingen zur Offensive über. Josef Groß, Erzdechant in Falkenau und dann Bischof von Leitmeritz, Karl Hilgenreiner, Moraltheologe und Politiker in Prag, Alban Schachleiter OSB, Verfasser von Kleinschrifttum in Prag, sowie Ambros Opitz, Weltpriester und Verleger in Warnsdorf und Wien, setzten hier ihre Kräfte ein.
Die Los-von-Rom-Bewegung trug - in der Rückwirkung - dazu bei, daß sich das katholische Vereins- und Schriftenwesen weiter entfaltete und katholische Volksbildung als Aufgabe erkannt wurde, allerdings getrennt für die nationalen Gruppen. Auf dem geschilderten Hintergrund zu verstehen sind ferner die 1909 erfolgte Heiligsprechung von Klemens Maria Hofbauer und einige Sätze der Borromäus-Enzyklika Editae saepe Dei Papst -»Pius' X. von 1910. Mehr in der Stille und in begrenzter Zahl traten auch Tschechen zur Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (wie sie seit 1918 hieß) über (-»Böhmen und Mähren, -»Tschechoslowakei). Führend für diese Bewegung war der Kolliner Pfarrer Cenek Dusek (gest. 1918). Das nationalpolitische Auftreten vieler Deutschböhmen und Deutschmährer katholischer wie evangelischer Konfession bewirkte bei den Tschechen einen — sozialpsychologisch gesehen - nationalreligiösen Rückstau, der 1920 wie in einer Woge die Tschechoslowakische Hussitische Kirche entstehen ließ. Ein Frantisek Iska, der freilich nicht als Vorläufer erachtet wird, hatte schon 1898 Vorstellungen eines „tschecho-slawischen" Gottesdienstes entwickelt. Die genannte Kirche nun betrachtete sich als eine Synthese von modern-katholischem und aufgeklärt-protestantischem Christentum unter Wertschätzung slawisch-orthodoxer wie hussitisch-sozialistischer Tradition. Nachdem sie in ihren Anfängen - von freieren Religionsbestimmungcn profitierend - ein Viertel des tschechischen Volkes umfaßt hatte, lag ihr Anteil 1991 bei unter 3 % . Seither erstrebt sie eine Neubesinnung auf reformatorischer Grundlage. Quellen Das Konfessionskundliche Institut des Evangelischen Bundes (Eifelstraße 35, D-6140 Bensheim 1) besitzt in Archiv, Zeitschriftcnabteilung und Bibliothek viele seltene der Los-von-RomBewegung entstammende oder diese betreffende handschriftliche Unterlagen, Drucksachen und Veröffentlichungen.
Literatur Lothar Albertin, Nationalismus u. Protestantismus in der österr. Los-von-Rom-Bewegung, Diss. phil., Köln 1953 (Lit.). - Ulrich Daske, Die Tschechoslowakische Hussitische Kirche in der dt. theol. Lit. u. in Selbstzeugnissen, 1987 (EHS.T 304). - Augustin Kurt Huber, Der sudetendt. Katholizismus: AKGB 1 (1967) 41 - 6 1 . - D e r s . , Nation u. Kirche 1848-1918: Ferdinand Seibt (Hg.), Bohemia Sacra. Das Christentum in Böhmen 973-1973, Düsseldorf 1974, 246 - 2 5 7 . 5 7 1 - 5 7 3 (Lit.). - G u s t a v Reingrabner, Der Ev. Bund u. die Los-von-Rom-Bewegung in Österreich: Gottfried Maron (Hg.), Ev. u. ö k u m . Beitr. zum 100jährigen Bestehen des Ev. Bundes 1986 (KiKonf 25), 258 - 271. - Barbara Schmid-Egger, Klerus u. Politik in Böhmen um 1900, München 1973 (Wiss. Materialien u. Beitr. zur Gesch. u. Landeskunde der böhmischen Länder 21). - Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918,1973 ff (Stud. zur Gesch. der Österr.-Ungar. Monarchie) (mit verschiedenen Beitr. vor allem in III/l u. IV). - Andrew G. Whiteside, Georg Ritter v. Schönerer. Alldeutschland u. sein Prophet. Aus dem Amerik. v. Gerhard Hartmann, Graz 1981.
Heiner Grote Lubac, Henri Marie-)oseph 1. Leben
2. Werk
Sortier de
3. Nachwirkung
(1896-1991) (Bibliographien/Literatur S. 473)
i. Leben Lubac wurde am 20. Februar 1896 in Cambrai geboren, trat 1913 dem Jesuitenorden bei und wurde 1927 zum Priester geweiht. Ab 1929 lehrte er Fundamentaltheologie, ab
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Lubac
1930 auch Religionsgeschichte am Institut Catholique in Lyon. Nachdem er zur weiteren internen Ordensausbildung nach Fourvière geschickt worden war, begründete er mit Jean Daniélou die Sources chrétiennes. Aufgrund der Erfahrungen als Frontkämpfer und Verwundeter 1917 war er der Mittelpunkt einer geistlichen Widerstandsbewegung gegen den Nazismus, deren Organ das Témoignage chrétien war. Als Berater und Autor wirkte er von Anfang an (1944) bei der Sammlung Théologie mit. Die Ordensoberen entzogen ihm 1950 die Erlaubnis für Unterricht und Forschung in der Theologie. Sie lehnten sich aber nicht an die Lehre des Enzyklika Humani Generis (1950) an, sondern an die Parolen einer kleinen Gruppe von Theologen, die die -»„Nouvelle théologie" und die „Schule von Fourvière" verfolgten und danach trachteten, diese Theologie durch das Konzil verurteilen zu lassen. -»Pius XII. dagegen ermutigte Lubac in seiner Haltung durch einen Brief, den er seinem Beichtvater diktierte, und -»Johannes XXIII., dem als Nuntius in Paris die Affäre bekannt war, ernannte ihn zum Peritus auf dem II. Vatikanum. Johannes Paul II., der sich ihm seit dem Konzil in Freundschaft verbunden weiß, ernannte ihn 1982 zum Kardinal. Nach dem Konzil reiste er durch Nord- und Südamerika und erhielt mehrfach den Doktor honoris causa. Er widmete sich jetzt besonders der Aufgabe, die zu deuten und denen zu widerstehen, die das Konzil in eine nicht authentische Richtung zu verdrehen suchten. Mit Josef Ratzinger, Louis Bouyer, M . D . Le Guillou und Hans Urs von Balthasar ist Lubac Mitbegründer der Zeitschrift Communio. Er war Mitglied des Institut de France (Akademie der Sozial- und Politikwissenschaften). Er starb in Paris am 4.9.1991. Als Wissenschaftler und Mensch war er eine herausragende Persönlichkeit. 2. Werk In Catholicisme (1948), einem „programmatischen Buch", stellt Lubac dar, wie der Geist Gottes die Gesellschaft und Geschichte durchwaltet, um aus der Menschheit den Leib Christi zu formen gemäß dem Plan Gottes, des Vaters. Der geschaffene Geist ist schon von jeher auf Gott gerichtet, von dem er ausgeht. Der wesentliche Akt eines solchen Geistes ist die fundamentale „Sicherheit" des ursprünglichen „Glaubens", das „Wissen um G o t t " , das die Lehren über Gott in sich birgt und prüft. Dementsprechend ist der -•Atheismus ein theologisches Problem. Lubac behandelt ihn in seiner ganzen Bandbreite als östlichen und westlichen Atheismus. Der erstere ist nicht-christlich; es ist der Buddhismus. Der zweite ist nach-christlich. Lubac studiert -»Feuerbach, ohne den - » M a r x (den er beiseite läßt) und -»Nietzsche (den er studiert) nicht möglich gewesen wären, ebenso Comte, Hoherpriester des -»Positivismus, und -»Dostojewski, den anti-atheistischen Propheten, der nur selten den Bereich des Christlichen betritt. Die ersten Anfänge dieses antichristlichen Atheismus sieht er in der Lehre-»Joachims von Fiore, nach der der Geist den Plan Gottes über das fleischgewordene Wort Gottes hinaus verwirklicht. Diese Lehre inspirierte in säkularisierter Form -»Lessing und die -»Aufklärung und danach in großem Umfang die Fortschrittsgläubigkeit (s. La postérité spirituelle de Joachim de Fiore, Paris, I 1979, 266ff; II, 178, 266-278). M a n kann dadurch das Innere der Kirche verfälschen, wenn man eine „atheistische Hermeneutik des Christentums" zuläßt (s. Athéisme et sens de l'Homme, Paris 1968, 23 - 33). Proudhon weist die Quelle eines weiteren Atheismus an, der sich als Reaktion gegen eine Kirche bildet, die von der „untragbaren Engherzigkeit der Verfechter eines gewissen Katholizismus der Restauration" (Balthasar/Chantraine 65) beherrscht wird. So wie der erschaffene Geist des Menschen sich auf die Annahme an Kindes Statt beruft, wie er im kosmischen Werden auftaucht oder wie er die Offenbarung Gottes durch Jesus Christus empfängt, wird er auf seinem Fundament durch den gleichen Antrieb bewegt: wenn auch im Menschen, in der Welt oder in Israel grundgelegt, so ist das Ende (nämlich die übernatürliche Erhebung, der Geist und Jesus, der Sohn Gottes) doch freies Geschenk. So erleuchten sich die Problematik des Ubernatürlichen (behandelt in Surnaturel [1946] und Mystère du Surnaturel [1965]), die der Anthropogencse (angeschnitten in den Studien über -»Teilhard de Chardin) und jene der Beziehung zwischen Altem und Neuem Bund (entwickelt in Histoire et Esprit [1950, 2 1981] und Exégèse médiévale [1959-1965]) gegenseitig, sind aber keineswegs miteinander identisch. Pic de la Mirandole schneidet alle drei an. Eine solche Analogie der Struktur und der Bewegung findet ihr Prinzip und ihr Fundament im Kyrios Jesus. „Indem er sich selbst brachte, brachte er alles Neue mit sich m i t " (Irenaus). Das Universum ist in seinem Ursprung wie in seinem Ziel auch auf Christus ausgerichtet, und nichts von der Bewegung des Geistes kann
Lubac
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Christus übertreffen (gegen Joachim von Fiore). Die Christologie Lubacs, wie sie in Corpus mysticum (1944 J 1968) zum Vorschein kommt, ist, zum Teil implizit, eucharistisch: Jesus vollendet in seinem ihm eigenen Leib, durch den er sich der menschlichen Geschichte und dem kosmischen Werden eingliedert, das Schicksal der Menschheit dank des eucharistischen Opfers seiner selbst, durch das er sich mit der Kirche, seinem Leib (und seiner Braut), verbindet. Von daher ist die Ekklesiologie auch eucharistisch. In Les Eglises particulières dans l'Eglise universelle (1971) zeigt er in bewundernswerter Weise die marianische Dimension, das Leben der Ortskirchen in der Universalkirche und umgekehrt die katholische Form der Kirche und den einzigartigen Dienst an der Einheit, die dem Nachfolger Petri ( -»Petrus) anvertraut ist, auf. Als Braut Christi ist die Kirche das menschliche Subjekt, das an den dreifaltigen Gott glaubt, da es zu seiner Vollendung Träger des ursprünglichen Wissens um Gott und der Bewegung des menschlichen Geistes auf Gott hin ist; die Kirche ist der Raum, in dem jeder glaubt und Person wird (vgl. La Foi chrétienne [1969 J 1970]). 3.
Nachwirkung
Die große Tradition der Kirche - sie ist eins und d o c h vielfältig — hat L u b a c voll aufg e n o m m e n , und er wollte, d a ß m a n ihre ganze Bandbreite entdeckt, ohne sie zur Schule zu m a c h e n . Seine N a c h w i r k u n g ist breit. M a n kann sie in der eucharistischen Ekklesiologie des Konzils erkennen (J. Ratzinger), in der dogmatischen - nicht apologetischen - Sicht der Konstitution Dei Verbum. M a n hat noch nicht den ganzen wünschenswerten Gewinn gezogen aus der Lehre der zwei (und vier) Sinne und aus dem glücklichen U m s t a n d , daß er sich mit J o a c h i m von Fiore beschäftigt und ihn der N a c h w e l t erschlossen hat. Die Anthropologie und M o r a l , die stark von K. - » R a h n e r beeinflußt sind, haben noch keinen Nutzen gezogen aus der - ganz einfachen und sehr traditionellen - Lehre v o m Übernatürlichen. Alle historischen Fragen, mit denen L u b a c sich beschäftigt hat, sind von Grund a u f neu gestellt. Die historische M e t h o d e w ä r e seiner Einsicht nach in der Lage, Geschichte und Geist miteinander zu verbinden. „ D i e Fruchtbarkeit seines Werkes übersteigt bei weitem die Leiden, die es ihm hierfür wert w a r e n " (Kardinal Lustiger auf einer Pressekonferenz). Bibliographien Karl H. Neufeld/Michel Sales, Bibliographie Henri de Lubac S. J . 1 9 2 5 - 1 9 7 4 , Einsicdeln M974; -ergänzt u. weitergeführt: Corrections et compléments 1 9 4 2 - 1 9 8 9 : Théologie dans l'histoire, Paris, I I 1 9 9 0 , 4 0 8 - 4 2 0 . - Henri de Lubac, Opera omnia, hg. v. E. Guerriero, Mailand, 21 Bde., 1979-1991 (32 Bde. geplant). Literatur Hans Urs v. Balthasar, Henri de Lubac. Sein organisches Lebenswerk, Einsicdeln 1976. - Ders./Georges Chantraine, Le Cardinal Henri de Lubac. L'homme et l'oeuvre, Paris 1983. - K.H. Neufeld/M. Sales, s.o. Bibliogr., 8 0 - 8 6 . - Raoul Berzoza Martínez, La teología del Sobrenatural en los escritos de Henri de Lubac, Burgos 1991. - Nicola Cióla, Paradosso e Mistero in Henri de Lubac, 1980 (CorLat 28). - Nikolo Eterovic, Christianesimo e religioni secondo H. de Lubac. Studi e ricerche, Rom 1981. - Michael Figura, Der Anruf der Gnade. Über die Beziehung des Menschen zu Gott nach Henri de Lubac, Einsiedeln 1979 (Horizonte NF 13). - Agnelo Gracias, The Spiritual Sense of Scripture according to Henri de Lubac, Diss. Rom 1975. - Eugen Maier, Einigung der Welt in Gott. Das Katholische bei Henri de Lubac, Einsiedeln 1979 (Horizonte NF 22). - E m i l e Neven, „Naar zijn beeld en gelijkenis". Het mysterie van God's immanentie in de concrete menselijke natuur, Diss. Löwen 1975. - Giuseppe M. Negri, La teología del Sopranaturale del Padre Henri de Lubac nel contesto della teología francese, Diss. Rom 1975. - Marc Pelchat, L'ecclésiologie dans l'œuvre de Henri de Lubac, Diss. Rom 1986. - Horst Poehlmann, Gottes Denken. Prägende ev. u. kath. Theologen der Gegenwart. 12 Portraits, Reinbeck 1 9 8 4 , 2 0 6 - 2 2 8 . - A . Russo, H. de Lubac. Teología e Dogma nella Storia, Rom 1990. - Michael Sales, Der Mensch u. die Gottesidee bei Henri de Lubac, Einsiedeln 1978 (Kriterien 46). - Hubert Schnackers,"Kirche als Sakrament u. Mutter. Zur Ekklesiologie v. Henri de Lubac, Frankfurt/M. 1979 (Regensburger Stud. zur Theol. 22). - Susan Karaus Wood, The Church as the Social Embodiment of Grace in the Ecclesiology of Henri de Lubac, Diss. Marquette Univ., Milwaukee 1986. Georges Chantraine S . J .
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Lucían von Antiochien
Lucian von Antiochien (Martyrium
7.1.312)
1. Leben 2. Werk 3. Kult u n d N a c h l e b e n 4. T h e o l o g i e - u n d dogmengeschichtliche Stellung 5. D a s sog. Bekenntnis L u c i a n s 6. Die lukianische Bibelrezension 7. Ergebnisse (Quellen/Literatur S. 478)
1. Leben Das einzige, durch die hagiographische Tradition einigermaßen sicher bezeugte Datum ist das Martyrium Lucians in Nikomedien am 7. Januar 312 unter Maximinus Daia (TRE 8, 28 f). In diesem Zusammenhang erwähnt auch -»Eusebius von Caesarea (h. e. VIII 13,2; IX 6), daß der antiochcnische Presbyter Lucian, dessen asketische Lebensführung und theologische Bildung er hervorhebt, im Zusammenhang der antichristlichen Maßnahmen Maximins nach Nikomedien verschleppt, dort in Gegenwart des Kaisers verhört wurde, und, nachdem er vor dem Kaiser Zeugnis seines Glaubens abgelegt hatte, das Martyrium erlitt. Der Hinweis auf eine vor dem Kaiser gehaltene Apologie ist hierbei wohl hagiographischer Topos. Alle übrigen, z.T. widersprüchlichen Nachrichten über Lucian stammen aus der hagiographischen Überlieferung. Eine noch d e m 4. J h . a n g e h ö r i g e , heute verlorene vita lag Philostorgios, einem a n o n y m e n h o m ö ischen H i s t o r i k e r , d e m Verfasser d e r Vita Constantini des C o d . Ang., Suda u n d Simeon M e t a p h r a stes (PG 114, 3 9 7 - 4 1 6 = B H G 997) vor; z.T. eigene Uberlieferung im S y n a x a r i u m von Konstantinopel; die von E r h a r d e n t d e c k t e vita B H G 996z stellt einen späteren Z w e i g d a r . N a c h der von Bidez r e k o n s t r u i e r t e n vita e n t s t a m m t Lucian v o r n e h m e r christlicher Familie aus S a m o s a t a , e m p f i n g nach f r ü h e m T o d der Eltern in Edessa bei einem sonst u n b e k a n n t e n M a k a r i o s eine theologische A u s b i l d u n g (nach Synax. Cpl. s t a m m t er aus Antiochien, was Bardy wegen des Fehlens jedweden Hinweises auf syrische Spuren f ü r wahrscheinlicher hält), w u r d e Presbyter in - » A n t i o c h i e n , w o er u n t e r g r o ß e m Z u l a u f eine theologische Schule leitete (vita 4). Breiten R a u m n i m m t die D a r s t e l l u n g des M a r t y r i u m s ein (5 ff), w o b e i Simeon u n d Vita Constantini in Übereinstimm u n g mit Euseb d a v o n a u s g e h e n , d a ß Lucian nach seiner V e r h a f t u n g n a c h N i k o m e d i e n gebracht w u r d e - hagiographisch e r m ö g l i c h t dieser T r a n s p o r t d e n A u f t r i t t vor d e m Kaiser u n d soll wohl die W i r k s a m k e i t in Antiochien mit d e m f ü r N i k o m e d i e n bezeugten M a r t y r i u m in Ü b e r e i n s t i m m u n g bringen - , Synax. Cpl. dagegen geht von einer längeren T ä t i g k e i t in N i k o m e d i e n aus. In der H a f t in N i k o m e d i e n k a n n Lucian noch seine Schüler u m sich v e r s a m m e l n , bis er nach Foltern am 7 . 1 . (312) hingerichtet w i r d . Auf w u n d e r b a r e Weise gelangt sein L e i c h n a m , den m a n (um einen Kult zu verhindern) in N i k o m e d i e n ins Wasser g e w o r f e n hatte, mit H i l f e eines D e l p h i n s auf die a n d e r e Seite der Bucht von N i k o m e d i e n n a c h D r e p a n o n , w o seine Schüler ihn begraben (zum Delphin als Symbol von J e n s e i t s h o f f n u n g e n u n d Begleiter von H e r o e n ins Elysium vgl. R A C 3,667ff).
2. Werk Hieronymus (vir. ill. 77) erwähnt mehrere libelli de fide und Briefe (vgl. Suda, Simeon). Im Chronicort paschale hat sich aus einem anonymen homöischen Historiker ein kurzes Brieffragment Lucians von 303 aus Nikomedien erhalten, in dem er der antiochenischen Gemeinde das Martyrium des Bischofs Anthimus von Nikomedien mitteilt (CPG 1721). Anhand der Bemerkung des Euseb (h. e. IX 6,3) über Lucians Bekenntnis vor dem Kaiser in Nikomedien hat Rufin in seiner Übersetzung der Kirchengeschichte Eusebs einen apologetischen Text unklarer Herkunft eingeschoben (CPG 1720; dazu Bardy, Recherches, 133-163; vgl. auch vita 11). Daß Rufin hier keinen authentischen Text Lucians mitteilen will, sagt er selbst (dicitur, Mommsen 813, 12); es handelt sich um eine aus apologetischen Versatzstücken hergestellte Kompilation des Rufin. In einem wohl der 2. Hälfte des 4. Jh. angehörigen homöischen Hiob-Kommentar eines sonst unbekannten Julian wird zu Hiob 2,9 f ausdrücklich eine Auslegung des Märtyrers Lucian zitiert, die der Verfasser offenbar aus mündlicher Tradition überliefert und die anhand des doxologischen Schlusses als aus einer Homilie stammend erkennbar ist (CPG 1722) und keine Aussagen über Lucians exegetische Methode zuläßt. 3. Kult und
Nachleben
Die vita (20) setzt am Grab in Drepanon einen Kult voraus. Nach Philostorgios (h. e.
Lucian von Antiochien
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11,12), Hieronymus, (Chron. ad a. 327), Sokrates (h.e. 1,17), Vita Constantini (Cod. Ang.; Bidez/Winkelmann 24) und einer im Chronicon paschale in Fragmenten überlieferten homöischen Chronik hat -»Konstantin zu Ehren seiner Mutter (für Prokop, aedif. V 2 , l , gilt Drepanon als Geburtsort Helenas; das Lucianheiligtum erwähnt er nicht) und des Märtyrers Lucian den Ort Drepanon als Helenopolis zur Stadt erhoben (Bidez/Winkelmann 205). Hieronymus und das Chronicon paschale datieren dies in das Jahr 327; die vita (nach Simeon) nennt Helena selbst als Gründerin von Helenopolis und Erbauerin einer Kirche über dem Grab des Märtyrers Lucian. Nach Helenopolis, das durch warme Quellen auch als Badeort von Bedeutung war, kam der kranke Konstantin; in der Kirche Lucians trat er in den Stand der Katechumenen ein, bevor er in der Nähe von Nikomedien durch Euseb von Nikomedien die Taufe unmittelbar vor seinem Tode empfing (Euseb, v.C. IV, 61 - ohne Erwähnung Lucians). Die ursprüngliche Vita muß nach Errichtung des Luciankultes in Helenopolis in Verbindung mit ihm entstanden sein, wie überhaupt sein Schwerpunkt in Bithynien lag. Eine wichtige Rolle muß -»Eusebius von Nikomedien dabei gespielt haben. Die Verbindung mit dem Kaiserhaus hat sicher zur Popularisierung beigetragen, was Euseb wohl auch kirchenpolitisch nutzte. Der Umschwung der kaiserlichen Kirchenpolitik seit der 2. Synode von -»Nicäa 327 zugunsten der Politik und Partei Eusebs von Nikomedien scheint in Zusammenhang mit der gleichzeitigen Förderung der Lucianverehrung zu stehen. Die eusebianische Tradition, die in der homöischen Reichskirche von Konstantius II. bis zum Tode des Valens eine Fortsetzung fand, muß Lucian von Antiochien in besonderer Weise als den diese Kirche legitimierenden Märtyrer angesehen haben; der Bericht vom Abendmahl der Schüler im Gefängnis (vita 13 f) auf dem als Altar dienenden Körper des sterbenden Lucian scheint in diesem Zusammenhang interpretiert werden zu müssen; daß nach vita 5 ein ,Sabellianer' ihn aus Neid bei den Behörden angezeigt hatte, ist nur als bewußt antinizänische Polemik zu verstehen. Die ursprüngliche Vita gehört in homöisches Milieu. Daß es auch in Antiochien und über die Wende der thcodosianischcn Kirchenpolitik hinaus eine Lucianverehrung gab, zeigt die am Todestag 387 gehaltene Predigt des -»Johannes Chrysostomus (CPG 4346 = BHG 998; PG 50, 5 1 9 - 5 2 6 ) . Seine Verehrung in der gesamten orthodoxen Reichskirche zeigt die griechische und orientalische hagiographische Tradition (Synaxarium von Konstantinopel, Martyrologium syriacum); auch inschriftlich ist sie in byzantinischer Zeit in Kappadokien belegt (AnBoll 91 [1973] 363-377); das Martyrologium Hieronymianum bezeugt sie für den Westen; nach mittelalterlichen gallischcn Martyrologien wurden die Gebeine Lucians unter -»Karl d. Großen nach Arles überführt, wo ihre Verehrung seit dem Mittelalter bezeugt ist (Bardy, Recherches 7 8 - 8 1 ) . 4. Theologie-
und dogmengeschichtliche
Stellung
4.1. Lucian als Begründer der antiochenischen Schule. Aus den Aussagen der hagiographischen Überlieferung über Lucians theologische Bildung (Euseb, h.e. IX,6,3), seine Beschäftigung mit der Schrift, die Einrichtung eines Didaskaleions (vita 1; 4) und die Aussagen über seine Schüler (Philost., h.e. 11,3; 14; 111,15) hat die neuere Forschung (Harnack mit großem Einfluß bis in die Gegenwart, Pollard u.a.) in Lucian den Begründer und das erste Schulhaupt der antiochenischen Exegese (-»Antiochien) sehen wollen, die dann in -»Diodor und -»Theodor ihre Fortsetzung und eigentliche Entfaltung fand. Es gibt in den Quellen keinen Anhaltspunkt für diese Hypothese. 4.2. Lucian als „Arius vor Arius" (Harnack). Das Didaskaleion Lucians gilt außerdem in dogmengeschichtlicher Hinsicht in der modernen Forschung weithin als Ausgangspunkt des -»Arianismus und Lucian selbst als „Arius vor Arius" (Harnack, DG II, 187). Arius, so die Annahme, habe wesentliche Teile seiner in -»Alexandrien Anstoß erregenden Theologie als Schüler Lucians in Antiochien gelernt einschließlich einer (für Arius nicht nachweisbaren) Literarexegese (Harnack, Pollard, Lorenz). Da von Lucian selbst
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Lucían von Antiochien
keine mit der Theologie des Arius übereinstimmenden theologischen Äußerungen überliefert sind, hat man von Arius und den (theologisch durchaus unterschiedlichen) sog. Schülern Lucians her eine mit Arius weithin übereinstimmende Theologie Lucians erschließen wollen.
Quellen: a) Im S c h l u ß g r u ß eines n a c h O p i t z auf 3 1 8 , nach Williams später zu datierenden Briefes an Euseb von Nikomedien ( C P G 2 0 2 5 = O p i t z , U r k . 1) bezeichnet Arius Euseb (nicht sich!) als Syllucianisten [ . . . , auXXooKiaviaTa cU^ScSf Evaeßie]. b) Alexander von Alexandrien, ep. ad Alexander T h e s s . 35 f. ( C P G 2 0 0 2 = O p i t z , U r k . 14 - wohl aus dem J a h r 3 2 4 , nach Williams früher), sieht Arius in der N a c h f o l g e von - » P a u l u s von S a m o s a t a und Lucian, von dem er mitteilt, d a ß er während der Herrschaft dreier Bischöfe im Schisma zur Kirche war. Andere Hinweise auf Lucian aus dem arianischen Streit selbst fehlen, c) - » M a r i u s Victorinus, Adv. A r . I 4 3 (um 3 6 0 ) , identifiziert in Kenntnis des Arius-Briefes an E u s e b , den er in lateinischer Übersetzung, C a n d . II, mitteilt (Opitz, Urk. 1, App.), die .Eusebianer' mit Anhängern Lucians. d) Epiphanius, anc. 3 3 , 4 (verfaßt 3 7 4 ) , bezeichnet Lucian und seine A n h ä n g e r als Vertreter einer L o g o s - S a r x - T h e o l o g i e , die die menschliche Seele Christi leugne; zu seiner Z e i t eine u. a. auch für die ,Arianer' ( = H o m ö e r ) typische Häresie, um 3 0 0 a b e r theologisch allgemein verbreitet. H a e r . 43,1 e r w ä h n t er, d a ß die .Arianer' Lucian als M ä r t y r e r verehren, 6 9 , 6 d a ß Lucian mit Euseb in N i k o m e d i e n gelebt habe (wohl ein Mißverständnis aus dem 6 9 , 6 mitgeteilten Brief des Arius an Euseb). e) Erst der F.unomianer ( - » E u n o m i u s ) Philostorgios (h.e. II 3; 14; III 15), der die vita benutzt hat, nennt Schüler Lucians, unter denen sich führende Vertreter der ,Eusebianer' und dann der h o m ö i s c h e n Kirche finden (Euseb von N i k o m e dien, M e n o p h a n t e s von Ephesus, M a r i s von C h a l k e d o n , T h c o g n i s von Nizäa, Leontios von Antiochien, Asterios, Athanasios von A n a z a r b u s , E u d o x i o s - aber nicht Arius und dessen engste theologische Weggefährten; zu Schülerinnen vgl. vita 10). N e b e n den Unterschieden dieser Gruppe zu Arius und untereinander fällt vor allem die Tendenz des Philostorgios auf, Lucian theologisch für die E u n o m i a n e r zu beanspruchen. Bei den Rekonstruktionsversuchen der ,arianischen Theologie' Lucians aufgrund der zur Verfügung stehenden Quellen entstehen z. T. einander völlig widersprechende Ergebnisse: Voraussetzung aller derartigen Versuche ist die Deutung von av).ÄOüKiaviazijQ als theologische Schülerschaft, zu der auch Arius sich zählt. In der Nachfolge Harnacks, der dem Brief Alexanders von Alexandrien besonderes Gewicht beimaß, wird Lucian als Vertreter der (,monarchianischen*) Theologie des -»Paulus von Samosata gesehen, die über Lucian auf Arius gewirkt habe, wobei Lucian ein grundsätzlicher Antiorigenismus, allerdings bei Übernahme des Hypostasenschemas, unterstellt wird. Nachdcm die Traditionslinie Paulus von Samosata - Lucian - Arius wegen der theologischen Unvereinbarkeit zwischen Paulus und Arius (samt den sog. ,Lucianisten') und die antiochenischen Wurzeln des Arius überzeugend bestritten worden waren, behalf man sich (Loofs, Bardy) mit der unbefriedigenden Teilung in 2 Luciane: einen Parteigänger und Nachfolger des Paulus und den Märtyrer und Lehrer des Arius, den man so der origenistischen Tradition zuordnen konnte. Auch wenn die Hypothese von 2 Lucianen meist aufgegeben wurde, hat man Lucian anhand der (eigentlich nur in ihrer Opposition zu -»Nicäa übereinstimmenden) Theologie der ,Lucianisten' als subordinatianischen Mehrhypostasentheologen gedeutet, wobei sein theologischer Einfluß auf Arius inzwischen wesentlich skeptischer beurteilt oder gar bestritten wird (Williams; Hanson will nach Epiph. anc. 33 allein eine Logos-Sarx-Christologie als gesichert annehmen). Ungelöst bleibt die Frage des von Alexander behaupteten Schismas (vgl. die Nikomedientradition in der martyrologischen Überlieferung, die auf Auseinandersetzungen in Antiochien hinweisen könnte). Beim Versuch einer theologischen Bestimmung Lucians ist zunächst die gängige Interpretation von avXkooKiaviarriQ als theologische Schülerschaft in Frage zu stellen. Die sonst nicht belegte Vokabel besagt nur, daß Euseb Anhänger Lucians war und daß Arius, der um Hilfe bittet, ihn daraufhin anspricht und dazuzählen will (Williams: captatio benevolentiae). Nicht zu übersehen sind die theologischen Unterschiede zwischen Arius und den .Lucianisten' und unter letzteren selbst. Ihre theologischen Gemeinsamkeiten sind im östlichen theologischen Spektrum so allgemein verbreitet, daß sie nicht auf eine besondere Schule zurückgeführt werden können. Weder eine exegetische noch eine dogmatische Schule Lucians ist nachweisbar, die Arius geprägt haben könnte, der auch aus alexandri-
Lucian von Antiochien
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nischen Wurzeln deutbar ist. Ob Lucian dem Arius verwandte theologische Anschauungen vertreten hat, ist nicht zu ermitteln; daß er eine Logos-Sarx-Christologie und eine subordinatianische Hypostasentheologie vertreten hat, ist angesichts des östlichen theologischen Spektrums um 300 nicht einmal unwahrscheinlich; methodisch verantwortbare Aussagen darüber sind nicht möglich. 5. Das sog. Bekenntnis
Lucians
In der Tradition gilt die Ekthesis der antiochenischen Enkainiensynode von 341 (2. antiochenische Formel: Hahn 1 8 4 - 8 6 ; Kelly 2 6 5 - 6 7 ) als das Bekenntnis Lucians. Weder Athanasius hoch Hilarius kennen diese Zuschreibung (Sozomenos, h.e. 111,5,9 aus Sabinus, von Sozomenos bezweifelt). Lucian wird als Verfasser der 2. antiochenischen Formel erst genannt, nachdem diese seit 358 zum offiziellen Bekenntnis der nun in Opposition zur homöischen Reichskirche stehenden Homöusianer (Makedonianer, Pneumatomachen) geworden war (erstmals etwa 367; Sozomenos, h.e. VI,12,4), und beherrscht seither u.a. von Sabinus propagiert die homöusianische Tradition. Auch für die Orthodoxie gilt dieses homöusianische Bekenntnis als lukianisch (Ps. Ath. dial. de trin. - CPG 2284). Die einen antinizänischen Antiarianismus auf der Grundlage der im Osten verbreiteten subordinatianischen Dreihypostasentheologie vertretende Ekthesis, die Anklänge an die aus ähnlichem theologischem Milieu stammende Theologie des Alexander von Alexandrien hat, fußt in ihren Formulierungen auf Asterios, den die Synodaltradition als Teilnehmer der Synode von 341 kennt. Da Asterios nach Philostorgios (h.e. 11,14) zu den Schülern Lucians zählte, hat man entweder an Lucian als Verfasser der 2. antiochenischen Formel festhalten wollen (wobei Lorenz sie sogar zur Rekonstruktion der Theologie Lucians heranzog) oder ein von Lucian benutztes Taufbekenntnis (Kelly) oder zumindest einen lukianischcn Kern literarkritisch erheben wollen (Harnack). Gegen alle diese Versuche spricht, daß aus vornizänischer Zeit weder lokale Tauf-, noch persönliche theologische Bekenntnisse nachweisbar sind. In ihrer Abhängigkeit von Asterios' Polemik gegen -»Marcell von Ankyra gehört die 2. antiochenische Formel ganz in die nachnizänische euscbianische Theologie und ist mit großer Wahrscheinlichkeit in der Situation von 341 von Theologen um Euseb von Nikomedien unter Verwendung von Asterios' Syntagma (CPG 2817) und traditionellen Elementen formuliert worden. Die erst nach mehr als 25 Jahren greifbare Berufung auf Lucian, die in der homöusianischen Tradition auf 341 zurückdatiert wurde, diente der theologischen Legitimierung der von der homöischen Reichskirche schikanierten und seit der Wende unter -»Theodosius als Häretiker verfolgten Homöusianer. 6. Die lukianische
Bibelrezension
In der wissenschaftlichen Textkritik geht man seit dem 18. Jh. von einer lukianischen Rezension der L X X als des seit dem 4. Jh. in Antiochien und Konstantinopel verbreiteten Textes aus. Ebenso gilt die sog. Koine des Neuen Testamentes, die als Grundlage des Textus reeeptus zum Ausgangspunkt faktisch aller modernen Bibelübersetzungen geworden ist, als lukianische Rezension (-»Bibelüberstzungen; -»Textkritik). Das Postulat einer lukianischen Rezension geht auf -»Hieronymus zurück: Praef. in q u a t t . Evg. (PL X X I X 5 5 9 ) : seiner M e i n u n g nach fehlerhafte Handschriften werden als lukianisch angesehen ( C o d i c e s q u o s a L u c i a n o . . . nuneupatos), ebenso vir. ill. 7 7 . Praef. in Paralip. (PL X X V I I I 1392 f) n e n n t er drei im Osten verbreitete T e x t t y p e n der L X X , die er geographisch ordnet: der lukianische T e x t von Antiochien bis Konstantinopel, die H e x a p l a im Einflußbereich von Caesarea, die Rezension eines Hesych in Ägypten (von der sich keinerlei Spuren erhalten haben). N a c h Ep. 106 ad S u n n i a m et Fretelam ( C S E L 5 5 , 2 4 8 ) gilt die Koine des Psalters als lukianisch. Hieronymus selbst bezeichnet und k e n n t keine bestehende Textrezension als sicher lukianisch. Es läßt sich folgern, d a ß an der Wende zum 5 . J h . der im antiochenischen R a u m verbreitete, sicher nicht einheitliche T e x t L u c i a n zugeschrieben wurde. Vor H i e r o n y m u s zurück reicht die nur in späterer Überlieferung (Suda, S i m e o n M e t a p h r a s t e s ) erhaltene M ä r t y r e r t r a d i t i o n über Lucians Bibelübersetzung. D a s S y n a x a r i u m von Konstantinopel bietet eine in byzantinischer Z e i t besonders in Katenen
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Lucían von Antiochien
verbreitete Version über Lucians Bibeltext (vgl. Ps.Ath.syn.sacr.script. - CPG 2249 = PG XXVIII 436 B = Thdt. Fragment CPG 6202 = PG LXXX1V 30 b), nach der Lucians Bibelrezension eine Überprüfung am hebräischen Text und Reinigung von hellenistischen (sc. heidnischen; vgl. Dörrie) Verfälschungen ist. Diese Version weist auf Nikomedien, das den Anspruch auf den Originaltext des Lucian erhebt (typische Auffindungslcgende). Auffällig ist der auch sonst der homöischen Überlieferung eigene apologetische und antiheidnische Zug dieser Tradition. Weder Euseb noch andere Autoren des 4. Jh. nennen eine Bibelrezension Lucians. Nach seinen vagen Formulierungen muß Hieronymus von der hagiographischen Tradition abhängig sein. Allein v o n H i e r o n y m u s h e r h a t m a n seit d e m 19. J h . vielfach v e r s u c h t , d e n v o n i h m b e h a u p t e t e n L u c i a n t e x t zu r e k o n s t r u i e r e n . L a g a r d e , C e r i a n i u n d Field v e r s u c h t e n , H a n d s c h r i f t e n als lukianisch zu klassifizieren u n d f ü r einzelne Bücher des Alten T e s t a m e n t s d e n l u k i a n i s c h e n T e x t herzustellen. In N a c h f o l g e L a g a r d e s w u r d e dies im G ö t t i n g e r S e p t u a g i n t a u n t e r n e h m e n von R a h l f s u . a . w e i t e r g e f ü h r t . Die Kriterien eines l u k i a n i s c h e n T e x t e s blieben d a b e i a b e r letztlich u n k l a r u n d die B e z i e h u n g e n zu a n d e r e n R e z e n s i o n e n w i e v o r allem d e r H e x a p l a k o n t r o v e r s . Vielfältig k o n n t e n als typisch lukianisch g e l t e n d e L e s a r t e n bei viel f r ü h e r e n , z . T . vor- o d e r a u ß e r c h r i s t l i c h e n A u t o r e n (Philo, J o s e p h u s , C l e m e n s A l e x a n d r i n u s , H i p p o l y t u . a . ) , in d e n P a p y r i des 1./2. J h . , d e r Vetus Latina u n d bei d e n f r ü h e n lateinischen K i r c h e n s c h r i f t s t e l l e r n n a c h g e w i e s e n w e r d e n . 1939 m u ß t e D ö r r i e d a s Scheitern aller R e k o n s t r u k t i o n s v e r s u c h e k o n s t a t i e r e n . Angesichts d e r t e x t k r i t i s c h e n P r o b l e m e ist zu f r a g e n , o b d i e Suche n a c h e i n e m a n t i o c h c n i s c h c n Text ü b e r h a u p t m i t d e r Frage n a c h L u c i a n als dessen U r h e b e r belastet w e r d e n d a r f . H i e r o n y m u s ' vage K e n n t n i s s e ü b e r L u c i a n als Bibelrezensenten sind d e r h o m ö i s c h e n h a g i o g r a p h i s c h e n T r a d i t i o n mit ihren s t a r k a p o l o g e t i s c h e n , die h o m ö i s c h e Kirche legitimierenden T e n d e n z e n zuzuschreiben. 7.
Ergebnisse
H i s t o r i s c h lassen sich ü b e r Lucian v o n A n t i o c h i e n so gut wie keine A u s s a g e n m a c h c n . Seine Rolle im a r i a n i s c h e n Streit ist nicht d o g m e n g e s c h i c h t l i c h , s o n d e r n allein a u s d e r h a g i o g r a p h i s c h e n T r a d i t i o n e r s c h l i e ß b a r . Die in N i k o m e d i e n lokalisierte M ä r t y r e r t r a d i t i o n k o n n t e v o n E u s e b v o n N i k o m e d i e n f ü r seine theologischen u n d k i r c h c n p o l i t i s c h e n Ziele in d e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n des t r i n i t a r i s c h e n Streites i n s t r u m e n t a l i s i e r t u n d kirchenpolitisch n u t z b a r g e m a c h t w e r d e n , völlig u n a b h ä n g i g von Lucians t h e o l o g i s c h e m S t a n d o r t . W e n n Arius E u s e b als ,Syllukianist' a n r e d e t , gilt dies d e m Verehrer des Märtyrer L u c i a n u n d seinen F r e u n d e n . A u s , E u s c b i a n e r n ' w e r d e n zugleich , L u k i a n i s t e n ' ( M a rius V i c t o r i n u s , a d v . Ar. 1,43), d . h . Verehrer L u c i a n s , die a b 327 k i r c h e n p o l i t i s c h d e n Kaiser g e w i n n e n k ö n n e n . Die L u c i a n v e r e h r u n g w i r d so z u m M a r k e n z e i c h e n d e r a n t i n i z ä nischen O p p o s i t i o n ( E p i p h a n i u s , h a e r . 43,1; 69,5), b e s o n d e r s im A u s s t r a h l u n g s b e r e i c h v o n A n t i o c h i e n u n d Bithynien, d e n h i s t o r i s c h e n H a f t p u n k t e n eines L u c i a n k u l t e s . In d e r Folge d e r t h e o l o g i s c h e n u n d k i r c h e n p o l i t i s c h e n D i f f e r e n z i e r u n g d e r E u s e b i a n e r seit E n d e d e r 50 J a h r e des 4. J h . v e r s u c h e n alle a u s d e m eusebianischen Lager s t a m m e n d e n G r u p p e n , sich mittels eigener L u c i a n t r a d i t i o n zu legitimieren. In diesen L e g i t i m i e r u n g s p r o z e ß t h e o l o g i s c h / k i r c h e n p o l i t i s c h e r G r u p p e n , die als häretisch a n g e s e h e n d a n n a u c h zu v e r f o l g t e n Kirchen w u r d e n ( P n e u m a t o m a c h e n , E u n o m i a n e r , H o m ö e r ) , g e h ö r e n die T r a d i t i o n e n v o n L u c i a n als Verfasser d e r 2. a n t i o c h e n i s c h e n F o r m e l u n d d e r l u k i a n i s c h e n Bibelrezension. N a c h d e r k i r c h e n p o l i t i s c h e n W e n d e u n t e r T h e o d o s i u s k o n n t e die Verehr u n g des M ä r t y r e r s Lucian m i t d e n i h r a n h a f t e n d e n T r a d i t i o n e n (Bibelrezension) p r o blemlos von der O r t h o d o x i e ü b e r n o m m e n werden. Quellen Lucian v. Antiochien: CPG 1720. Oratio apologetica (dubia) ( = Rufinus, h.c. IX, 6,3), Theodor Mommsen, Eusebius 11/2, Leipzig 1908, 813-815. - CPG 1712. Epistula ad Antiochenos (fragmentum in chron. pasch): PG 92, 689B. - CPG 1722: In lob 2,9-10, hg.v. Dieter Hagedorn, Der Hiobkomm. des Arianers Julian, 1973 (PTS 14), 30,21-33,15. - Leben u. Martyrium des Lucian v. Antiochien, hg.v. Joseph Bidez/Friedhelm Winkelmann, Philostorgios, KG, Berlin '1972, Anh. VI, 184ff. - Simeon Metaphrastes, Vita Luciani: PG 114, 397-416. - Suidae Lexikon III, hg.v. Ada
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Ludolf v o n Sachsen
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2. Werk
1378)
3. Nachwirkung
(Quellen/Literatur S. 481)
1. Leben Ludolf von Sachsen wurde um das Jahr 1300 in Norddeutschland geboren. Über seine Familie ist nichts bekannt. 1315 trat er in den Dominikanerorden ein und war Magister der Theologie, als er den Predigerorden verließ. U m 1339 wurde er Ordensmitglied der -•Kartäuser in Straßburg. W. Baier verifizierte diese Daten mit Hilfe einer Handschrift
der Vita Christi, deren Explizit folgende biographische Angabe enthält: A domino
Ludol-
pho, almatio doctore in sacra pagina primum fratre praedicatore et postmodum
cartu-
sietise [von Herrn Ludolf, dem deutschen Lehrer der T h e o l o g i e , der zuerst D o m i n i k a n e r war und später Kartäuser wurde] (Baier I, 39). Im Jahre 1340 legte Ludolf die Profeß ab und blieb drei Jahre lang in Straßburg. Von 1343 bis 1348 war er Prior der Koblenzer Kartause. N a c h seinem Rücktritt von diesem A m t lebte Ludolf einige Zeit in der
480
Ludolf von Sachsen
M a i n z e r K a r t a u s e . D a n a c h k e h r t e er n a c h S t r a ß b u r g z u r ü c k , w o er a m starb. 2.
10.04.1378
Werk
L u d o l f s schriftstellerisches Schaffen schlug sich wesentlich in den beiden H a u p t w e r ken nieder, der bereits e r w ä h n t e n Vita Christi, deren g e n a u e r T i t e l Vita Jesu Christi e quatuor Evangeliis et scriptoribus orthodoxis coticinnata lautet, und d e m P s a l m e n k o m m e n t a r . N e b e n diesen beiden u m f a n g r e i c h e r e n W e r k e n sind einige kleinere Schriften b e k a n n t , die zum g r ö ß t e n Teil bis heute nur als H a n d s c h r i f t e n vorliegen. D i e R e i h e n f o l g e , in der sie hier vorgestellt w e r d e n , ist keine c h r o n o l o g i s c h e O r d n u n g , da die Überlieferung d a r ü b e r keine I n f o r m a t i o n bietet. Die Ennaratio in Psalmos sive Expositio super Psalterium ist anerkanntermaßen ein Frühwerk Ludolfs, vermutlich zwischen 1340 und 1343 entstanden. Sie ist eine Kompilation aus älteren Psalmenkommentaren. Ludolf exegesiert die Psalmen nach der Methode der vier Schriftsinnc (-»Schriftauslcgung). Jeder der 150 Psalmenerklärungen schickt er eine kurze Einführung voraus, die die Fragen nach auetor, tittilus, materia (Thema), intentio (Ziel) und sententia in generali et in speciali (die allgemeine und die besondere Bedeutung) des betreffenden Psalms klärt. Alle Psalmen werden christologisch gedeutet. Noch ungeklärt ist es, ob die Clossa in Septem Psalmos poenitentiales, ein Auszug aus der Ennaratio zu den Bußpsalmen, von Ludolf selbst verfaßt wurde. Der Commentarius in Cantica Veteris et Novi Testamenti et in Symbolum s. Athanasii gehörte ursprünglich zur Enarratio, wurde später aber weder in den Handschriften noch bei der Drucklegung berücksichtigt. Bei den Sermones Magistri Ludolphi dürfte es sich um Predigten handeln, die Ludolf in Koblenz vor seinen Ordensbrüdern gehalten hat. Die Flores et fruetus arboris vitae Iesu Christi sind Stundengebete; der Tractatus bonus fratris Ludulfi magistri in theologia, qualiter vivendum sit homini spirituali ist eine Anleitung zur asketischen Frömmigkeit. Die Ludolfi Cartusiensis Rationes XIV ad proficiendum in virtutc und die Remcdia contra tentationes werden auch zu den eigenständig entstandenen Schriften gerechnet. Ludolf hat allerdings später beide, die Rationes XIV zum Teil, die Remedia vollständig, in die Vita Christi übernommen. W ä h r e n d seines Aufenthaltes in der M a i n z e r Kartause verfaßte Ludolf sein H a u p t w e r k , die Vita Christi, wahrscheinlich zwischen 1348 und 1368. G l e i c h s a m als P r o g r a m m stellt er ihr I K o r 3 , 1 1 v o r a n : „ E i n e n anderen G r u n d k a n n n i e m a n d legen als den, der gelegt ist, w e l c h e r ist J e s u s C h r i s t u s " . L u d o l f s B o t s c h a f t lautet: Christus, S c h ö p f e r , H e r r , M e n s c h g e w o r d e n e r und Vorbild an Heiligkeit und Tugend will sein entstelltes Bild im M e n s c h e n reformieren. Die Vita Christi ist eine M e d i t a t i o n über das Leben Jesu nach den Berichten der Evangelien mit d e m Z i e l , die C h r i s t e n g e m e i n d e zu tugendhaftem L e b e n , K o n t e m p l a t i o n und p r a k t i s c h e r Askese anzuleiten. L u d o l f s M e t h o d e ist die lebendige Vergegenwärtigung von L e b e n und Leiden Christi. E r vergegenwärtigt sich die O r t e des G e s c h e h e n s im heiligen L a n d und Christi T a t e n . S o g a r M i e n e und Aussehen Christi werden en detail imaginiert. Alle Kapitel der Vita Christi sind unterteilt in Lesung-Darlegung, D u r c h d r i n g u n g - A n w e n d u n g ; sie münden in ein G e b e t . Diese Art der Besinnung versteht L u d o l f mit der M e t h o d e mittelalterlicher E x e g e s e zu verknüpfen. Als Quellen verwendet Ludolf fast die gesamte Skala patristischen und zeitgenössischen theologischen und auch profanen Schrifttums. Er selbst bezeichnet -»Augustin, -»Bernhard von Clairvaux, -»Johannes Chrysostomus, -»Ambrosius, -»Gregor den Großen und -»Beda als seine Quellen. Darüber hinaus seien ohne Anspruch auf Vollständigkeit erwähnt: die Vita Christi (vielleicht von Michael de Massa, s. dazu W. Baier/K. Ruh 975), die Meditationes vitae Christi des Ps.-Bonaventura (Johannes de Caulibus da S. Gimignano), De exterioris et interioris hominis compositione secundum triplicem statum ineipientum, proficientium et perfectorum des -»David von Augsburg und die Descriptio terrae sanetae des Burchard de Monte Sion (13. Jh.), De contemplatione des Guigo de Ponto (gest. 1297), das Lignum Vitae -»Bonaventuras, die Meditatio passionis Christi per Septem diei horas des Ps.-Beda, das Compendium des Hugo Ripelin von Straßburg (ca. 1 2 1 0 - ca. 1270), das anonyme Speculum humanae salvationis, das Horologium Sapientiae des Heinrich -»Seuse, den Stimulus amoris, De profectu spirituali des Venturino da Bergamo (gest. 1346) und die Postilla des -»Nikolaus von Lyra.
Ludolf von Sachsen 3.
481
Nachwirkung
Ludolfs Bedeutung beruht auf der großen Beliebtheit, der sich die Vita Christi bei Ordensleuten und Laien gleichermaßen erfreute. Bis ins 18. Jh. hinein diente sie deshalb den Kartäusern zur Lesung im Refektorium. Ein Indiz für Beliebtheit und Verbreitung von Ludolfs Erbauungsbuch im Spätmittelalter sind die unzähligen Abschriften und Ubersetzungen, vor allem in die romanischen Landessprachen. Franz von -»Sales empfahl die Vita Christi als geistliche Lektüre. Für -»Ignatius von Loyola wurde die Vita Christi zum Bekehrungsbuch. Seine Exercitia Spiritualia zeigen, daß er von Ludolf gelernt hat. Auch er fordert zur sinnlichen Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte und der biblischen Mysterien im Gebet auf. Die große Reformerin der Karmeliten, -»Teresa von Avila, kam über Abecedario espiritual des Franziskaners Francisco de Osuna (ca. 1492—1540/41) und über Ignatius' Schrift mit Ludolfs Vita Christi in Berührung. Dem Selbstzeugnis im 38. Kapitel ihrer Autobiographie zufolge löste die Lektüre des Kartäusers zum Pfingstfest bei ihr eine Vision aus, die sich bis zur Verzückung steigerte. Sie empfahl in den Konstitutionen ihres Ordens, die Klosterbibliotheken vorrangig mit der Vita Christi auszustatten.
In englischer und deutscher Sprache entstanden bislang nur Teilübersetzungen von Ludolfs Hauptwerk. Trotzdem wirkte Ludolf im deutschsprachigen Raum auf den Kartäuser Dominicus von Preußen (1384-1460) und beeinflußte so die Entwicklung der Mysterien des -»Rosenkranzes. Über Heinrich Egher von Kalkar (gest. 1408) und Gerhard -»Grote wurde die Vita Christi in der -»Devotio Moderna bekanntgemacht. Sie gehörte in den Kreisen der Devoten zur Standardlektüre. „Das einflußreichste Produkt der deutschen Mystik" (Boehmer, Loyola 5) fand auch als Predigthilfe Verwendung. Nicht nur der Straßburger Münsterprediger Johannes —•Geiler von Kaysersberg übernahm Passagen aus der Vita Christi in seine Predigten, sondern auch protestantische Prediger ließen sich von Ludolfs Stoffülle inspirieren. Quellen Ludolphus de Saxonia, Enarratio in Psalmos sive Expositio super Psalterium, Montreuil-surMer 1891. - Dcrs., Vita Jesu Christi e quatuor Evangeliis et scriptoribus orthodoxis concinnata, hg. v. A.-C. Bolard/L.-M. Rigollot/J. Carnandet, Paris/Rom 1870 = 1878. - Ders., Flores et fruetus arboris vitae Jesu Christi, hg. v. H. Roßmann/J. Ratzinger: Mysterium der Gnade. FS Johannes Auer, Regensburg 1975, 321-341. - Altfranz. Übers.: Le psautier glosé et exposé de Ludolphe le Chartreux (psaume 119): extrait d'une trad. medievale; ms. no 14 de la Bibl. Municipale de Nancy, hg. v. Pierre Demarolle, Nancy 1986 (Centre de Recherches et d'Applications Linguistiques: Travaux du Crai 4). Literatur Walter Baier, Unters, zu den Passionsbetrachtungen in der Vita Christi des Ludolf v. Sachsen. Ein quellenkrit. Beitr. zu Leben u. Werk Ludolfs u. zur Gesch. der Passionstheol., 3 Bde., 1977 (ACar 44). - Ders./Kurt Ruh, Art. Ludolf v. Sachsen: VerLex 5 (1985) 967-977. - Mary I. Bodenstedt, T h e Vita Christi of Ludolphus the Carthusian, Washington 1944 (SMRL 16). - Heinrich Boehmer, Loyola u. die dt. Mystik, 1921 (BVSAW.PH 73). - Ders., Stud. zur Gesch. der Gesellschaft Jesu, I 1914. - Charles Abbott Conway, The Vita Christi of Ludolph of Saxony and late medieval devotion centred on the incarnation. A descriptive analysis, 1976 (ACar 34). - Gaston Etchegoyen, L'amour divin. Essai sur les sources de Sainte Therese, Bordeaux 1923. - Emmerich Raitz v. Frentz, Ludolphe le Chartreux et les exercices de S. Ignace de Loyola: RAM 25 (1949) 3 7 5 - 3 8 8 . - K.-E. Geith, Ludolf v. Sachsen u. Michael v. Massa. Z u r Chronologie v. zwei Leben Jesu-Texten: O G E 61 (1978) 304-336. - O t t o Karrer, Die große Glut. Textgesch. der Mystik im MA, München 1926. - Antonin Passmann, Probleme um Ludolf v. Sachsen: AEAL NS 3 (1949/50) 1 3 - 3 4 . - Nikolaus Paulus, Der Straßburger Kartäuser Ludolph v. Sachsen: AEKG 2 (1927) 2 0 7 - 222. - Luzian Pfleger, Ludolf v. Sachsen über die kirchl. Zustände des 14. Jh.: HJ 29 (1908) 9 6 - 9 9 . - Heribert Rossmann, Bibliogr. zur Gesch. der Kartäuserspiritualität, 1987 (ACar 67/2). - Lilly Zarncke, Die Exercitia Spiritualia des Ignatius v. Loyola in ihren geistesgesch. Zusammenhängen, 1931 (SVRG 49).
Iris Geyer
482
Ludwig IV.
Ludwig IV., der Bayer, römischer Kaiser
(1281/86-1347)
(Quellen/Literatur S. 4 8 6 )
Aus dem Hause der Wittelsbacher Pfalzgrafen und Herzöge von Bayern als jüngerer Sohn Herzog Ludwigs II. („des Gestrengen", gest. 1294) und der Mechthild (gest. 1304), Tochter des ersten Habsburger Königs Rudolf I. (gest. 1291), wohl 1281/82 geboren, hatte der junge M a n n seinen Anteil am wittelsbachischen Erbe zunächst gegen den älteren Bruder, Pfalzgraf Rudolf I., durchzusetzen in einem Streit, der sich früh mit den Kämpfen um die deutsche Krone fast unentwirrbar verknüpfte: Während Rudolf I. als Schwiegersohn König Adolfs v. Nassau ( 1 2 9 2 - 1 2 9 8 ) auf dessen Seite trat, nahm Ludwig die Partei des dann 1298 siegreichen Habsburgers Albrecht I. ( 1 2 9 8 - 1 3 0 8 ) , mit dessen Hilfe er sich dann faktisch in Oberbayern durchzusetzen vermochte, während Rudolf sich vor allem auf die Rheinpfalz stützte. Schon bei der Königswahl nach der E r m o r d u n g Albrechts I. (1308) hatten beide W i t t e l s b a c h e r Brüder jeweils für sich zuerst eine eigene T h r o n k a n d i d a t u r betrieben. R u d o l f hatte sich dann aber für den L u x e m b u r g e r Heinrich VII. gewinnen lassen, während Ludwig zunächst seine Auseinandersetzungen mit dem Bruder intensivierte und schließlich 1310 eine Teilung der wittelsbachischen Lande zur Sicherung seines Eigenanteils erzwang. Als die verwandten niederbayerischen Herzöge 1309 und 1312 starben und ihre unmündigen S ö h n e der Vormundschaft Ludwigs hinterließen, festigte sich Ludwigs territoriale Stellung beträchtlich; freilich geriet er nun in einen ernsten Konflikt mit den H a b s b u r g e r n , mit denen er bis dahin eng zusammengegangen war. Als Ludwig sich von seiner bayerischen Position aus 1313 mit dem Bruder in der Pfalz schließlich förmlich aussöhnte und einen ausgeklügelten Vertrag schloß, rief eine niederbayerische Adelsopposition die Habsburger Konkurrenten zu Hilfe. Ludwig meisterte die Situation militärisch: Er brachte den Habsburger Truppen bei G a m m e l s d o r f (Freising) eine schwere Niederlage bei ( J a n u a r 1314). N a c h dem plötzlichen T o d e Kaiser Heinrichs VII. ( 2 4 . 8 . 1 3 1 3 ) gaben die Verhandlungen um die Neuwahl eines römischen Königs beiden Wittelsbachern neuen Bewegungsspielraum. R u d o l f I. versprach seine Unterstützung schließlich den H a b s b u r g e r n , während die Luxemburger Partei nach längeren Überlegungen in Ludwig einen Hoffnungsträger a u s m a c h t e .
Infolge von Unstimmigkeiten über das Recht zur Wahrnehmung der Kurstimmen kam es 1314 zu einer Doppelwahl. Am 20. Oktober wurde der Habsburger Friedrich v. Österreich, am 21. Oktober Ludwig v. Oberbayern zum Römischen König gewählt. Nach längerer militärischer Konfrontation und langwierigen Verhandlungen konnte sich Ludwig 1325/26 mit Friedrich v. Österreich soweit einigen, daß einer Wiederannäherung zwischen dem Wittelsbacher und den Habsburgern der Weg gebahnt war. Als er 1327 Deutschland verließ, setzte er Friedrich als seinen Stellvertreter ein. Diese überraschende Entwicklung verdankt sich auch einer gemeinsamen Frontstellung gegen die päpstliche Kurie in Avignon. Johannes X X I I . betrachtete beide Wahlen als ungültig, sah den T h r o n , weil ein vom Papst approbierter König fehlte, als vakant an und hielt sich für berechtigt, als Vikar des Kaisers über oberitalienische Reichsrechte im eigenen Interesse zu verfügen. Diese Verbindung der traditionellen Approbationsforderung mit dem Anspruch auf ein supplementäres Vakanzvikariat (in Italien) war eine aus traditionellen Elementen neu geschmiedete Waffe, die hinfort die Auseinandersetzungen bestimmte: Der Papst hatte schon 1317 den Anjou Robert v. Neapel zum Reichsvikar in Oberitalien ernannt und bekämpfte die „ghibellinischen" Signori oberitalienischer Städte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Als Ludwig sich anschickte, in die Verhältnisse Italiens einzugreifen, eröffnete der Papst am 8 . 1 0 . 1 3 2 3 einen Prozeß gegen ihn, weil er nach ungültiger Wahl o h n e päpstliche Approbation sich Regierungsrechte in Italien und Deutschland a n g e m a ß t habe und in der L o m b a r d e i Ketzer (d. h. die ghibellinischen Verbündeten) begünstige. Binnen drei M o n a t e n sollte Ludwig von jeder Regierungshandlung definitiv A b s t a n d nehmen, bis der Papst seine Wahl geprüft und gegebenenfalls gebilligt h a b e . Seine bisher vorliegenden Verfügungen sollte Ludwig widerrufen. Wenn er sich säumig zeige, werde der Papst öffentlich die Strafen verkünden, denen Ludwig jetzt bereits verfallen sei und die er noch in Z u k u n f t auf sich ziehen werde ( M G H C o n s t . V, nr. 7 9 2 ) . Diese Aufforderung wurde Ludwig nicht eigens mitgeteilt, sondern nur an die Türflügel der Kathedrale in Avignon angeschlagen. Damit galt sie als veröffentlicht, bekanntgegeben und zugestellt.
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Eine Absetzungssentenz war das nicht, da nach päpstlicher Meinung der König noch gar nicht König war und demnach nicht abgesetzt werden konnte. Die deutschen Rechtsvorstellungen von einer Königswahl wurden rigoros an kanonistischen Maximen gemessen und politisch im eigenen Interesse umgedeutet. Die Kurie gewöhnte sich in der Zukunft daran, Ludwig nur noch als Bavarus, als „den Bayern" zu benennen, um ihm nicht irgendwelche Herrschertitel beilegen zu müssen. Dieser polemische Name hat sich bis heute durchgesetzt. Ludwig leistete Widerstand in einer spezifischen Form: Den kurialen Prozessen des Papstes setzte er eine Reihe von terminlich wohl placierten, im Ton sich steigernden „Appellationen" entgegen, um Rechtsverwahrung einzulegen. In der ersten in Nürnberg notariell beglaubigten Appellation (18.12.1323) appellierteer vom Papst so, als wäre das eine von diesem unabhängige Instanz, an den Apostolischen Stuhl. Freilich, wie schon der Papst darauf verzichtet hatte, seine Prozeßeröffnung dem König zuzustellen, so hat auch Ludwig seine Appellation im notariellen Imbreviaturbuch und im eigenen Archiv belassen. Auch die zweite wenig später (am 5 . 1 . 1 3 2 4 ) in F r a n k f u r t / M a i n beglaubigte Appellation, diesmal an ein „künftiges K o n z i l " gerichtet, wurde nur im Kreis des königlichen H o f e s verlesen. Sie galt nur der Erfüllung prozeßrechtlicher Erfordernisse.
Der Papst ließ sich dadurch nicht aufhalten. Pünktlich am 2 3 . 3 . 1 3 2 4 exkommunizierte er Ludwig wegen Ungehorsams und wegen Mißachtung des kirchlichen Richters, verbot auch den Untertanen bei derselben Strafe den Gehorsam. Dagegen protestierte Ludwig in einer dritten Appellation (am 22.5.1324) in Sachsenhausen vor Frankfurt, indem er sich auf seine Rolle als advocatus ecclesiae berief und sich bereit erklärte, auf einem künftigen Konzil persönlich alle Vorwürfe gegen den päpstlichen Gegner ausführlich zu belegen. Er appellierte an ein künftiges Konzil, den künftigen wahrhaftigen und rechtmäßigen Papst, die heilige Kirche, den Apostolischen Stuhl und „alle anderen, die zuständig sind". Auch in diesem Fall hat er das Schriftstück wohl nicht nach Avignon überstellt, wenn er es auch propagandistisch verbreiten ließ. Woher im einzelnen die Kanzlei die Argumente der drei Schriftstücke n a h m , ist nicht ganz deutlich. Anscheinend griff man etwa auch auf eine der Q u a e s t i o n e n des verstorbenen Franziskaners Petrus J o h a n n e s - » O l i v i zurück. Praktisch konnten natürlich weder die kurialen Prozesse noch die königlichen Appellationen unmittelbar w i r k s a m werden. Ludwigs Politik zeigt ihn bestrebt, die Ressourcen der H e r r s c h a f t seiner Familie zu verbreitern. Seinen d a m a l s siebenjährigen Sohn hat Ludwig 1323 mit der nach dem kinderlosen T o d e des letzten Askaniers W o l d e m a r (1319) umstrittenen M a r k g r a f s c h a f t Brandenburg belehnt und den Wittelsbachern damit eine Kurstimme gesichert. Auch diese Verfügung freilich w a r Gegenstand des Rechtsstreites mit dem Papst geworden, ohne d a ß das die schwierige Konsolidierung der Territorialherrschaft seines Hauses zunächst unmöglich g e m a c h t hätte. Das Problem des Verhältnisses zu den H a b s b u r g e r n , wachsende Spannung mit den L u x e m b u r gern, die ihrerseits Ansprüche auf die M a r k Brandenburg zu haben glaubten, zeichneten sich als zukunftsbestimmende Konstellationen a b . Der gelungene Ausgleich mit H a b s b u r g ließ Ludwig sogar ein gewagtes Spiel a n n e h m b a r erscheinen. Am 7 . J a n u a r 1326 erklärte er feierlich, er verzichte auf seine Herrscherwürde als römischer König, sofern der Papst die Wahl Friedrichs bis zum 2 5 . Juli 1326 approbieren würde. Die Kurie aber verhielt sich s o , wie der H o f Ludwigs es vorausgesehen haben mochte. Ludwig brauchte die Ernsthaftigkeit des ungewöhnlichen Angebots nicht durch die T a t zu erweisen.
Die unübersichtlichen Verhältnisse in Oberitalien und eine relativ beruhigte Lage in Deutschland ließen Ludwig ein weiteres Abenteuer wagen. Von einem Hoftag in Trient (Januar 1327) brach er im März 1327 mit 600 Mann zu einem Italienzug auf, der bis zu seinem Tode seine Politik bestimmen sollte. Am Pfingstsonntag (31.5.1327) ließ Ludwig sich in Mailand mit der eisernen Krone des Königreichs Italien krönen. Der folgenreiche Entschluß, sich in Rom auch die Kaiserkrone zu holen, wurde dann in die Tat umgesetzt. Mit der Kurie war darüber nicht verhandelt worden. Nicht o h n e gute G r ü n d e hat die neuere Forschung d a h e r vermutet, d a ß die Idee eines papstfreien Kaisertums von gelehrter theoretischer Spekulation dem H o f e Ludwigs nahegebracht worden sei.
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Z w e i mögliche Einflüsse sind für den Entschluß n a m h a f t g e m a c h t worden: ghibellinische Vorstellung e n , wie sie ja auch noch 1 3 1 6 / 1 7 in - » D a n t e s stark auf das römische Volk bezogener Weltkaiservorstellung zum Vorschein g e k o m m e n waren, einerseits, und die Ideen zweier Flüchtlinge aus Paris, die seit dem H e r b s t des J a h r e s 1 3 2 6 im Schutze Ludwigs des Bayern an seinem H o f e lebten, —»Marsilius von Padua und J o h a n n e s J a n d u n andererseits. Diese Traditionslinien überschneiden sich freilich, da Marsilius in Paris nachweislich enge Verbindung zu der ghibellinischen Machtgruppierung seiner oberitalienischen H e i m a t gehalten hat.
Am 7. Januar 1328 zog Ludwig in Rom ein, einen Tag später ließ er verkünden, er wolle vom römischen Volk die Kaiserkrone erhalten. Am 17. Januar fand die Krönungszeremonie statt, die dem Kaiser in St. Peter Weihe und Salbung durch zwei Bischöfe, die Kaiserkrone aber aus der Hand eines Laien, des zum Beauftragten des populus Romartus erklärten Sciarra Colonna, einbrachte. Ludwig hat mit diesem Szenarium offenbar b e w u ß t auf den üblichen Ausweg verzichtet, den Papst abzusetzen und danach einen eigenen Papst wählen zu lassen. L a g das d a r a n , d a ß auch d a s Kardinalskollcgium unerreichbar in Avignon saß? Kurz nach der Kaiserkrönung hat Ludwig freilich das zunächst Versäumte nachgeholt. Am 18. April 1328 setzte er Papst J o h a n n e s X X I I . förmlich a b . Der Kaiser erklärte sich von G o t t unmittelbar beauftragt, wohingegen der Papst sich selber zum Pseudopropheten g e m a c h t habe, zum Z e r s t ö r e r der evangelischen Wahrheit, wenn er die kaiserliche Stellung für sich selber usurpiere. D a m i t sei er eines M a j e s t ä t s v e r b r e c h e n s schuldig ( C o n s t . V I / 1 , n r . 4 3 6 ) . Ludwig ließ dann am 12. M a i (dem Himmelfahrtsfest) durch Klerus und Volk von R o m einen Franziskaner, Peter von C o r b a r i o , zum Papst w ä h l e n , der sich den N a m e n N i k o l a u s (V.) beilegte. D a m i t wurde dem ungewöhnlichen K r ö n u n g s a k t ein ganz außergewöhnliches P a p s t w a h l verfahren hinzugefügt. N a c h dem Abzug Ludwigs freilich sollte N i k o l a u s (V.) dem G e g n e r in Avignon in die H ä n d e fallen, er mußte widerrufen und endete in H a f t . Beim R ü c k z u g aus R o m fand Ludwig in Pisa eine neue G r u p p e von schutzsuchenden Flüchtlingen aus Avignon vor, den Generalminister des Franziskanerordens M i c h a e l von Cesena mit seinem S t a b von Beratern und Helfern, darunter auch Wilhelm von - » O c k h a m . Über die theologische Wertung von Armut und Eigentum waren sie mit dem Papst in Streit geraten und glaubten, in ihm einen Ketzer erkennen zu müssen. Der Kaiser nahm auch sie in seinen Schutz. Er k o n n t e ihrer Beratung sicher sein, auch wenn ihr Einfluß auf seine Handlungen im einzelnen nur sehr schwierig zu bestimmen ist. Immerhin führte auch diese Entscheidung dazu, d a ß selten eine politische Streitfrage des Mittelalters so intensiv „ t h e o r e t i s c h " ausgcfochten worden ist wie der K a m p f zwischen päpstlicher Kurie und kaiserlichem H o f in der Regierungszeit Ludwigs des Bayern. O b w o h l in Deutschland damals -»Universitäten noch nicht zur Verfügung standen, konnte mit Hilfe der ausländischen E x u l a n t e n der Kaiserhof seine Auffassung auf der vollen H ö h e zeitgenössischer Wissenschaft k u n d t u n . Z u n ä c h s t vermochten die Franziskaner den Kaiser zu bewegen, seine Papstabsetzung zu korrigieren, z w a r nicht im Ergebnis, wohl aber in ihrer Begründung. Am 1 3 . 1 2 . 1 3 2 8 wurde in Pisa (freilich unter dem alten D a t u m des 1 3 . 4 . 1 3 2 8 ) an die D o m t ü r e n ein neues D e k r e t angeschlagen, das den Papst diesmal allein wegen seiner Ketzereien im Z u s a m m e n h a n g mit der franziskanischen A r m u t für abgesetzt erklärt ( M G H C o n s t V I / 1 , nr. 4 3 7 ) . An W i r k u n g freilich hat auch diese D e k l a r a t i o n ihre Vorgängerin nicht übertroffen, beide D e k r e t e blieben reine P r o p a g a n d a .
Der Tod Friedrichs von Österreich rief Ludwig über die Alpen zurück, spätestens im März 1330 traf er wieder in München ein. Außer einem anfechtbaren und von der Kurie sogleich auch heftig angefochtenen Kaisertitel hatte die italienische Expedition kaum Gewinn gebracht. Bis an sein Lebensende sollte Ludwig darum ringen, die sozusagen „normalen" Aufgaben eines mittelalterlichen Königs und Landesherrn zu bewältigen und zugleich sein Verhältnis zur Kurie zu klären. Der Erfolg darin blieb ihm versagt. Eine Entscheidung suchte Ludwig noch zu Lebzeiten Papst Johannes' XXII. Jahrelang gingen Gesandtschaften zwischen München und Avignon hin und her. Es ging nicht allein, ja nicht einmal in erster Linie um politische Verhandlungen. Der Papst hatte sein Urteil in einem rechtsförmigen Prozeß ergehen lassen, und Ludwig hatte sich allein mit seinen Appellationen auf diesen Weg eingelassen. Auch ein Akt kirchlichen Erbarmens war im Zuge der Juridifizierung der spätmittelalterlichen Kirche schon längst zu einem rechtsförmigen Prozeßverfahren geronnen. Je stärker die Kurie die Exkommunikation als Waffe in politisch motivierten Auseinandersetzungen einsetzte, desto häufiger mußte sie sich auch
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die Aufgabe stellen, politische Differenzen im Rahmen eines Absolutionsverfahrens beizulegen. Daß die Aussöhnung mit der Kurie bei Ludwig wirklich unaufhörlich allerhöchste Priorität genoß, wird man nicht sagen dürfen. Sie war ein Ziel seiner Politik; aber Ludwig hat daneben andere Ziele verfolgt auch dann, wenn ihn das der Kurie weiter entfremden mochte. Nach dem Abbruch der Verhandlungen in Avignon 1337 hat Ludwig in Deutschland so breite Zustimmung wie selten sonst für seine Rechtsmeinung gefunden. Er hat es verstanden, diese Zustimmung in rechtserhebliche Entscheidungen umzumünzen, die für die Reichsverfassung Gewicht gewannen. 1338 unterstützten sämtliche Kurfürsten durch ein in Rhense beschlossenes Weistum die Rechtsmeinung, nach der auch ohne päpstliche Approbation der von ihrer Mehrheit Gewählte die Reichsrechte wahrnehmen dürfe und wie ein Kaiser (nicht als ein Kaiser) handeln könne. Mit guten Gründen kann man hierin einen hochbedeutsamen Schritt sehen, der zu den Formulierungen der „Goldenen Bulle" von 1356 hinführt, ja dieses (spätere) Reichsgrundgesetz vorbereiten half, das durch eine Fixierung der Königswahl, ihres Hergangs und ihrer Wähler für die Reichsverfassung bis tief in die Neuzeit hinein grundlegend geblieben ist, wenngleich es sich über jeden Anspruch des Papstes auf Mitsprache bei der deutschen Herrschererhebung eisig ausschwieg. Ludwig wollte noch zusätzlich und ausdrücklich die kurialen Theorien bestreiten, wollte die päpstlichen Forderungen explizit zurückweisen und seine eigene Rechtsposition deutlicher bekräftigt sehen. Die Erklärungen, die er selbst veranlaßte, gehen deshalb über die Haltung der Kurfürsten hinaus, indem sie dem von den Kurfürsten mehrheitlich Gewählten automatisch den Kaisertitel zugestehen (Kaisergesetz Licet iuris von 1328). Das setzte sich frcilich auf die Dauer nicht durch. Mit seiner unbeugsamen Beharrlichkeit, mit seinen unermüdlichen Versuchen, die Kurie und die Zeitgenossen von seinem guten Recht zu überzeugen, hat Ludwig, auch wenn er sich am Ende nicht durchsetzten konnte, der theoretischen Durchdringung und praktischen Anwendung „staatlicher" Herrschaftsformen auch hinsichtlich des deutschen Reiches Möglichkeiten offengehalten und Wege gewiesen. Neben diesen wichtigen und immer wieder zeit- und kräfteraubenden Aufgaben hat Ludwig auch die normalen Pflichten eines spätmittelalterlichen Herrschers erfüllen müssen. Er hat dabei auch scharfsichtig die C h a n c e n w a h r g e n o m m e n , die M a c h t b a s i s der W i t t e l s b a c h e r abzusichern und zu arrondieren. Freilich verstrickte ihn diese Politik unvermeidlich i m m e r stärker in eine Konkurrenz mit den L u x e m b u r g e r n . 1324 erweiterte Ludwig auch seinen Einfluß auf das G e b i e t des Niederrheins, indem er sich in zweiter Ehe mit M a r g a r e t e , einer T o c h t e r des G r a f e n Wilhelm III. von H e n n e g a u , verband. Über 2 0 J a h r e später erst, als M a r g a r e t e s Bruder, G r a f W i l h e l m IV., im K a m p f gegen die Friesen fiel, übertrug Ludwig die G r a f s c h a f t e n H o l l a n d , Seeland und Hennegau als Lehensgut an seine G e m a h l i n , o h n e freilich damit auf die D a u e r Erfolg zu h a b e n . Die innere Einheit der wittelsbachischen L ä n d e r blieb ihm eine wichtige Aufgabe. N o c h auf dem Italienzug, in Pavia am 4 . 8 . 1 3 2 9 , hat er sich in einem Hausvertrag mit den pfälzischen Vettern ausführlich und dauerhaft verständigt: Den Erben seines 1319 gestorbenen Bruders wurden die Pfalz und Teile des bayerischen N o r d g a u s zugewiesen, Ludwig selbst behielt sich vor allem das o b e r b a y e rische Teilherzogtum vor. Beide Linien sollten einander bevorzugt behandeln und beerben. Die Kurstimme bei der deutschen Königswahl sollte zuerst an die Pfälzer und im Wechsel danach jeweils hin und her an die Bayern und die Pfälzer fallen. O b diese komplizierte Regelung jemals reibungslos gegriffen hätte, brauchten die W i t t e l s b a c h e r nicht zu e r p r o b e n : Die G o l d e n e Bulle hat diese Frage reichsrechtlich 1356 endgültig zugunsten der Pfalz geregelt. M i t den Pfälzern blieb Ludwig jedenfalls in gutem Einvernehmen, er unterstützte auch ihre Bemühungen um eine Konsolidierung ihres zersplitterten Territoriums nachhaltig durch Reichspfandleihen und sonstige Begünstigungen. 1341 k o n n t e er nach dem kinderlosen T o d e seines niederbayerischen Vetters, Heinrich X I V . , auch noch das Teilherzogtum Niederbayern seinem eigenen T e r r i t o r i u m hinzufügen, so d a ß er zumindest die Bayerischen Lande weitgehend wiedervereinigt hatte (freilich teilten bereits seine Söhne diesen K o m p l e x wieder auf). Für Rechtssicherheit in seinen Erblanden sorgte der Kaiser durch die Kodifikation des O b e r b a y e r i s c h e n Landrechts, das bis tief in die Neuzeit hinein die R e c h t s e n t w i c k l u n g dieser G e b i e t e bestimmte. Eine weitere C h a n c c zur Erweiterung der M a c h t b a s i s seines H a u s e s versuchte Ludwig in den letzten J a h r e n seiner Regierung w a h r z u n e h m e n . Die Landeserbin T i r o l s , Gräfin M a r g a r e t e M a u l -
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tasch, wollte sich 1341 von ihrem Gemahl, dem Luxemburger Johann Heinrich, trennen. Ein Sohn Ludwigs des Bayern sollte ihr neuer Ehemann werden. Da eine päpstliche Mitwirkung bei der Ehescheidung und bei der (wegen allzu naher Verwandtschaft der präsumptiven Eheleute) nötigen Dispens nicht zu erwarten war, suchte der kaiserliche Hof einen anderen Weg. Auch Marsilius und Ockham beteiligten sich durch eigene Gutachten an der Erörterung. Die Lösung, die man fand, läßt sich nicht zweifelsfrei rekonstruieren. Fest steht aber, daß der Kaiser es vermied, ein eigenes Recht in Ehefragen zu beanspruchen. Eine neue Ehe wurde am 10.2.1342 zwischen dem Sohn Ludwigs und Margarete kirchlich geschlossen, der Kaiser hatte sein Ziel zunächst erreicht, doch um den Preis einer weiteren Belastung seines Verhältnisses zur Kurie und einer unheilbaren Zerrüttung seiner Beziehungen zur Luxemburgischen Partei, der er seinen Aufstieg zum Thron verdankt hatte. Am Ende seiner Regierungszeit sah Ludwig sich folgerichtig einem luxemburgischen Gegenkönig gegenüber. Papst Clemens VI., der 1343 erneut einen Prozeß gegen Ludwig eröffnet hatte, in den die Eheaffäre der Margarete Maultasch natürlich einbezogen wurde, übte auf die geistlichen Kurfürsten Druck aus, wechselte sogar den Mainzer Erzbischof aus, um eine entsprechende Mehrheit im Kurfürstenkolleg zu gewährleisten. 1346 wurde Ludwig dann erneut exkommuniziert. Die Luxemburger sparten nicht mit großen Geldzahlungen und Versprechungen. So wurde am 11.7.1346 in Rhense Karl IV. zum König der Römer von fünf Kurfürsten gewählt. Entschieden freilich war damit der Kampf noch nicht. Ludwig machte erneut große Anstrengungen, deren Ausgang keineswegs vorentschieden war. Da ereilte ihn am 11. Oktober 1347 auf einer Bärenjagd in der Nähe Münchens der Tod. Seine lange R e g i e r u n g s z e i t h a t d e r W i t t e l s b a c h e r n i c h t d a z u n u t z e n k ö n n e n , sein H a u s d a u e r h a f t zu einem A n w ä r t e r auf die r ö m i s c h c K r o n e in D e u t s c h l a n d zu m a c h e n . In d e r A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e r p ä p s t l i c h e n Kurie h a t er seine R e c h t s p o s i t i o n e n energisch u n d n a c h h a l t i g verteidigt. Weil er sich d e r H i l f e v o n G e l e h r t e n verschiedenster H e r k u n f t zu b e d i e n e n nicht zu s c h a d e w a r , h a t er d u r c h seinen Schutz in M ü n c h e n f ü r ein Klima g e s o r g t , in d e m bereits im 14. J h . die V e r s t a a t u n g s p r o z e s s c des S p ä t m i t t e l a l t e r s w e g w e i s e n d f ü r die Z u k u n f t d u r c h d a c h t u n d mit d e n M i t t e l n d a m a l i g e r W i s s e n s c h a f t d i s k u tiert w o r d e n sind. Prudens, paciens, pacem querens, industriosus, fortunatus in bellis et in aliis factis set remissus in execucione iusticie et tardus ad laborem, solacia quodammodo libenter querens [Intelligent u n d g e d u l d i g , f r i e d f e r t i g u n d fleißig, mit F o r t u n e im Krieg u n d in d e n G e s c h ä f t e n , freilich lässig in d e r Gerichtspflege u n d z ö g e r n d , w e n n sich Schwierigkeiten a u f t a t e n , s u c h t e er g e r n i r g e n d w e l c h e Ausflüchte], so h a t ihn ein zeitgenössischer nicht u n b e d i n g t k a i s c r f r e u n d l i c h e r C h r o n i s t c h a r a k t e r i s i e r t (Heinrich T a u b e v. Selbach, C h r o n i c a , hg. v. H . Bresslau, M G H , SS n . s . 1 [1922], 31). Die b e s o n d e r e n K o n s t e l l a t i o n e n , in d e n e n L u d w i g seine E n t s c h e i d u n g e n zu treffen h a t t e , h a b e n ihm jedenfalls eine b e s o n d e r s n a c h h a l t i g e W i r k u n g b e s c h e r t . 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Jürgen Miethke
Ludwig IX., der Heilige, König von Frankreich
(1214—1270)
(Literatur S. 490)
Ludwig IX. bestieg am 8.11.1226 als Zwölfjähriger den französischen Thron. Das Haus der Kapetinger war besonders darauf bedacht, einen Heiligen unter seinen Angehörigen aufzuweisen. Im 11. Jh. hatte Helgaud von Fleury König Robert II. ( 9 9 6 - 1 0 0 3 ) als Heiligen dargestellt, und nach dem Tod Philipps II. Augustus ( 1 1 8 0 - 1 2 2 3 ) , des Großvaters Ludwigs, hatten
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Ludwig IX.
Geistliche im Umkreis des Hofes von durch ihn gewirkten Wundern gesprochen. Zudem sahen sich die französischen Könige als reges christianissimi [allerchristliche Könige] anderen christlichen Herrschern überlegen, da sie mit dem in Reims aufbewahrten, der Legende nach für die Taufe -•Chlodwigs durch den heiligen Geist vom Himmel gebrachten heiligen ö l gesalbt waren. Als Erbcharisma beanspruchten sie die Gabe der Heilung von Skrofulosekranken durch Handauflegung (-•Königtum III). Unter dem Einfluß seiner M u t t e r , Bianca von Kastilien, ist Ludwig von früh auf unter der Zielvorstellung eines vorbildlichen Christen und mustergültigen christlichen H e r r schers erzogen worden, und er hat sich selbst dieses Leitbild bewußt zu eigen gemacht und ihm auch in seinen Unterweisungen f ü r seinen Sohn und Nachfolger Philipp III. (1270-1285) Ausdruck gegeben. Nicht von ungefähr hat auch die Literaturgattung des -•Fürstenspiegels in seinem Umkreis einen Aufschwung erfahren: -»Vinzenz von Beauvais schrieb De eruditione filiorum regalium und De morali priticipis institutione sowie möglicherweise auch die zuweilen einem Ps.-Thomas zugewiesene Abhandlung De eruditione principum, der Zisterzienser Johannes von Limoges Morale somnium Pharaonis sive de regia discplina und der Franziskaner Gilbert von Tournai Eruditio regum et principum. Früh schon hat sich Ludwig mit Geistlichen umgeben. Zu seinen wichtigsten Beratern gehörten der Bischof von Paris Wilhelm von Auvergne (gest. 1248) und nach 1254 Guido Fulcodi sowie die Kanzler Raoul Grosparmi und Simon de Brie, von denen Guido als Clemens IV. (1265-1268) und Simon als Martin IV. (1281-1285) die päpstliche Würde erlangten. Vor allem aber war er von Brüdern zumal aus den neuen Bettelorden der -»Dominikaner und -»Franziskaner umgeben, deren Ausbreitung er förderte. Die öffentliche Meinung warf ihm sogar vor, Werkzeug der Bettelorden zu sein, und es lief auch das Gerücht um, er denke selbst daran, abzudanken und Bruder zu werden. Doch auch andere Geistliche und Mönche, insbesondere die -»Zisterzienser hat er gefördert. Einer seiner engen Vertrauten war der Pariser Kanoniker Robert von Sorbon, der Gründer des später nach ihm Sorbonne benannten Kollegs (-»Paris). Als er 1244 nach schwerer E r k r a n k u n g ein Kreuzzugsgelübde (-»Kreuzzüge) ablegte, rief das in seiner Umgebung Bestürzung wach, gewann ihm aber bei vielen seiner Untertanen und in der Christenheit überhaupt hohes Ansehen. Vor seinem Aufbruch 1247 schuf er die Einrichtung der enquêteurs, reisender Beauftragter zur Kontrolle der königlichen Beamten und zur Bereinigung von ihnen begangenen Unrechts. Vornehmlich Angehörige der Bettelordcn wurden mit dieser Aufgabe betraut. Mit dieser M a ß n a h m e setzt ein neuer, stärker religiös bestimmter Abschnitt der Herrschaft Ludwigs ein. Der Kreuzzug selbst w a r ein Fchlschlag. Ludwig geriet in Ägypten in Gefangenschaft und m u ß t e nach seinem Freikauf auf jedwede Eroberung verzichten, blieb aber vier Jahre im Heiligen Land und errichtete d o r t Befestigungen. N a c h Jerusalem kam er nicht einmal als Pilger, da er nicht um das erforderliche muslimische Geleit nachsuchen wollte. Wider Erwarten trug ihm seine mit W ü r d e getragene Erniedrigung gesteigertes Ansehen ein. Sie war die erste Station eines Leidensweges, der ihn zu einem König nach dem Bild Christi machen sollte. Auf der Rückreise nach Frankreich brachte ihm eine Begegnung mit dem Franziskaner H u g o von Digne joachimitisches Gedankengut (-»Joachim von Fiore) nahe. Es rückt ihm seine Herrschaft in eine eschatologische Sichtweise. Das Scheitern des Kreuzzuges erscheint als Hinweis, d a ß er und sein Volk des Sieges nicht würdig gewesen seien, und damit als Aufforderung, seine Herrschaft auf das endzeitliche Heil hin auszurichten und sich und das Volk d a f ü r zuzurüsten. Persönlich f ü h r t e er ein durch Bußverlangen und barmherzige Werke bestimmtes asketisches Leben. Für sein Volk suchte er eine strengere religiöse und sittliche O r d n u n g zu schaffen. Die grande ordonnance von 1254 richtete sich gegen Gotteslästerung, Fluchen und Prostitution. Zugleich verschärfte er den Druck auf die Juden und w a n d t e sich dabei insbesondere, wenn auch angesichts der beginnenden Aufweichung des kirchlichen Zinsverbots (-»Zins) wenig erfolgreich, gegen die Zinsnahme. Seine währungspolitischen M a ß n a h m e n zur Sicherung „ g u t e n " Geldes galten ihm als sittliche Aufgabe im Dienste der Gerechtigkeit, und in einer zunehmend von den auch kirchlich geduldeten
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Gesetzen des Marktes bestimmten Wirtschaft verfocht er die Wertvorstellung des gerechten Preises und Lohnes. Mit der Gerechtigkeit wollte er zugleich auch den Frieden aufrichten, innerhalb seines Reiches wie in der Christenheit überhaupt. Sie sollte ihre Stoßkraft gegen die Ungläubigen richten, gegen Muslime und Juden. Letzteren stand er selbst schroff feindselig gegenüber. Mit einer Talmudverbrennung setzte er die beginnende christliche Diskreditierung des -»Talmud in die Praxis um. Aufgrund eines wachsenden Ansehens wurde er vielfach als Schiedsrichter angerufen, so etwa zwischen Heinrich III. von England und den aufständischen englischen B a r o n e n ( M i s e von Amiens 1264). E r gab auch selbst ein Vorbild, indem er durch Zugeständnisse alte Gebietsauseinandersetzungen mit N a c h b a r m ä c h t e n beilegte, so 1258 im Vertrag von C o r b e i l mit Aragon und 1259 im Frieden von Paris mit England. Der wohl hervorstechendste Z u g der Politik Ludwigs w a r , d a ß sie religiöse und sittliche Vorstellungen in enger Verschränkung mit politischen Interessen verband. Seine unter der Leitlinie einer Versittlichung der K ö n i g s m a c h t stehende H e r r s c h a f t bedeutet zugleich eine wesentliche Weiterentwicklung der zentralen königlichen M a c h t s t e l l u n g . Die zunehmend in Vertrauen auf Gerechtigkeit angerufene, von Ludwig zuweilen unter der berühmten Eiche von Vincennes zeichenhaft selbst ausgeübte königliche R e c h t s p r e c h u n g ließ die lehnsherrliche und kirchliche Gerichtsbarkeit in wachsendem M a ß e zurücktreten. Ungeachtet seiner persönlichen kirchlichen Bindung ist Ludwig gegen Übergriffe und M i ß b r ä u c h e der geistlichen G e r i c h t s b a r k e i t eingeschritten. 1245 hat er sich auch dem Verlangen des Papstes - » I n n o z e n z IV. verweigert, sich in einem gegen Kaiser -»Friedrich II. ausgerufenen Kreuzzug einzusetzen. Innerhalb der Christenheit sollte ein Unternehmen wie der 1229 abgeschlossene Kreuzzug gegen die Albigenser ( - » K a t h a r e r ) nicht m e h r stattfinden.
1267 nahm Ludwig erneut das Kreuz. Der gegen Tunis gerichtete Kreuzzug brachte für ihn das Ende mit sich. Wenige Wochen nach der Ausschiffung erlag er am 25. August 1270 in Karthago einer Seuche. Im Mai 1271 wurden seine Gebeine in St. Denis, der Grablege der französischen Könige, beigesetzt. Es war von Wundern die Rede, die sich bei seiner Überführung und an seinem Grab zutrugen. Auf Ersuchen der Bischöfe des Erzbistums Sens, zu dem Paris und St. Denis gehörten, eröffnete Papst Gregor X . (1271 — 1276) 1275 das Heiligsprechungsverfahren. Am 9. August 1297 wurde die Heiligsprechung durch -•Bonifatius VIII. verkündet. Ludwig ist der letzte heiliggesprochene Herrscher des Mittelalters (der 1252 verstorbene Ferdinand III. von Kastilien wurde erst 1671 heiliggesprochen). Er verkörpert jedoch einen deutlich anderen Heiligcntyp als frühere Königsheilige. Er ist nicht der heilige Herrscher, der bei der Verteidigung des Glaubens den Tod gefunden hat, und nicht der Bekehrer seines Volkes. Nicht sein Tod auf dem Kreuzzug und auch nicht das Königswunder der Skrofuloseheilung spielten für seine Heiligsprechung eine Rolle. Die Kirche sah in ihm in erster Linie einen Herrscher, der dem Königsbild des Alten Testaments (-»Königtum II) entsprach, einen neuen -»Josia, der als Herrscher zugleich religiöser Erneuerer war. Vor allem aber ist er ein Heiliger, der den neuen Vorstellungen des 13. Jh. von Heiligkeit gerecht wird. Für sie fällt vorbildhaftes Leben stärker ins Gewicht als Wunder. Er ist ein Königsheiliger, der in vollem Umfang die Leitvorstellungen von Gerechtigkeit und Frieden zur Geltung bringt. Zugleich ist er bestimmt von der zeitgenössischen Frömmigkeit der Bettelorden, ein demutsvoller Herrscher, der dem neuen, höfische Art und Besonnenheit in sich vereinigenden Ideal der prud' hommie eine religiöse Prägung gibt, ein gebildeter Herrscher, der jedoch dem schlichten Glauben und christlicher Sitte mehr zugetan ist als gelehrter Theologie, ein König des Wortes in dem Maße, in dem ein Laie sich der Verkündigung annehmen konnte, ein König, der sich im ehelichen Leben an die Gebote der Kirche hält und mit tätiger Zuwendung an Arme und Kranke Barmherzigkeit übt. Mehr noch aber ist er ein Herrscher, der Christus unter dem neuen Bild des gekrönten Gekreuzigten, des Königs der Passion nachzuleben bemüht ist, ein leidender König, für dessen Biographen es bedeutsam wird, daß er wie Jesus zur dritten Stunde des Nachmittags gestorben ist. Einer von ihnen, Jean de Joinville, hat ihn auf dem Hintergrund der zeitgenössischen eucharistischen Frömmigkeit als königliche „Hostie" bezeichnet, als König mithin, dessen Ansehen weitgehend in einer Annäherung an den
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Christus-König des eucharistischen Opfers begründet ist. Er galt letztendlich als heiliger König besonderen Ranges; Bonifatius VIII. sagt in seiner Kanonisationsbulle, er sei zu seinen Lebzeiten ein „Übermensch" (superhomo) gewesen. Literatur M a r t i n B a r t h , Z u m Kult des hl. Königs Ludwig im dt. Sprachgebiet u. in Skandinavien: F D A 8 2 - 83 ( 1 9 6 2 - 6 3 ) 1 2 7 - 2 2 6 . - Elie Berger, Saint Louis et Innocent IV. Etudes sur les rapports de la F r a n c e et du Saint Siège, Paris 1895. - W i l h e l m Berges, Die Fürstenspiegel des hohen u. späten M A , Leipzig 1 9 3 8 - 1 9 5 2 . - M a r c B l o c h , Les rois thaumaturges, S t r a ß b u r g 1924 3 1 9 8 3 . - T h o m a s v. B o g y a y / J a n o s M . B a k / G a b r i e l Silagi, Die hl. Könige, Wien u. a. 1976. - E . A. R . B r o w n , T h e Chapels and Cuit o f Saint Louis at Saint Denis: Mediaevalia 10 (1984) 2 7 9 - 3 3 1 . - Ludwig Buisson, König Ludwig I X . der Heilige u. das R e c h t . 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Jacques Le Goff
Lübeck 1. Stadt und Bistum im Mittelalter 2 . Verlauf und Ergebnis der R e f o r m a t i o n bis 1580 3. Das Fürstbistum L ü b e c k 1 5 3 5 - 1 8 0 3 4 . H o c h b u r g lutherischer O r t h o d o x i e 5. Die Kirchenverfassung im 1 9 . / 2 0 . J a h r h u n d e r t ( Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 4 9 6 )
Lübeck 1. Stadt und Bistum im
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Mittelalter
Lübecks Geschichte ist eng verknüpft mit derjenigen des Ostseeraums; die Frühzeit wird durch die Konflikte zwischen den Reichen der Abodriten (Obotriten), Dänen und Franken/Sachsen bestimmt. Erstmals begegnet der Name „Liubice" bei Adam von Bremen um 1075 für die seit 819 bestehende slawische Burganlage an der Trave (Alt-Lübeck bei Bad Schwartau), die unter dem Abodritenfürsten Gottschalk ausgebaut wurde. Im Zusammenhang von dessen Herrschaftssicherung seit 1043 stand die Christianisierung mit der Errichtung einer Kirche samt Kloster; doch durch den Aufstand von 1066 wurde die kirchliche Organisation im ganzen Land Wagrien beseitigt (die ottonische Bistumsgründung Oldenburg [Holstein] war schon seit 983 bedeutungslos). Definitive Missionserfolge ergaben sich erst mit dem Vordringen der sächsischen Kolonisation nach 1110 vor allem durch das Wirken Vizelins seit 1126 bzw. 1138. Statt des 1138 zerstörten Alt-Lübcck errichtete der holsteinische Graf Adolf (I.) von Schauenburg südlich davon 1143 bei der slawischen Burganlage Bucu eine deutsche Kaufmannssiedlung, die ihm nach dem Brand 1157 vom Sachsenherzog Heinrich dem Löwen abgenommen und seit 1159 als Handelszentrum sowie seit 1160 als Bischofssitz (anstelle von Oldenburg) völlig neu aufgebaut wurde. Dieser Doppelcharakter bestimmte hinfort die Kirchengeschichte; er fand in der architektonischen Konkurrenz von Dom und St. Marien seit 1173/1200 symbolischen Ausdruck. Die Fernkaufleute bestimmten die seit ca. 1200 erkennbare Ratsverfassung. Reichtum und Macht der 1226 von -»Friedrich II. für kaiserlich-rcichsfrei erklärten Stadt bekundeten sich auch in den weiteren monumentalen Kirchbauten der Bürger (St. Petri, St. Jakobi, St. Ägidien) sowie in den Klosteranlagen von Benediktinern bzw. Zisterzienserinnen (St. Johannis), Franziskanern (St. Katharinen) und Dominikanern (St. Maria Magdalena/Burgkirche). Der Kirchenbau in den neuen Städten des Ostseeraums orientierte sich weithin an diesen Vorbildern. Lübeck wurde zum Ausgangspunkt für die Christianisierung —»Preußens und des -»Baltikums. Die Entwicklung im 13. Jh. wurde durch die Rivalität zwischen der Stadt und dem Bistum, welches definitiv seit 1274 ebenfalls als reichsunmittelbar galt, geprägt. Der Rat wollte die Rechte des Klerus einschränken und die Aufsicht über eine bürgerliche Hospitalgründung erlangen. Konnten Bischof und Domkapitel 1224-37 die Versuche des Rates, ein -»Patronat über die „bürgerlichen" Kirchspielkirchen zu erlangen oder wenigstens teilweise bei der Pfarrstellenbesetzung mitzuwirken, noch abwehren, so führten der Streit um das Begräbnisrecht der Bcttclorden 1277-81 und der große - mit Gewaltakten und Interdikt ausgetragene - Machtkonflikt um den bürgerlichen Einfluß auf Kirchenund Schulwesen, die Eindämmung geistlicher Privilegien und die territoriale Hoheit entlang der Trave 1296-1317 dazu, daß der Bischof (damals Burkhard von Serkem) sich weitgehend aus der Stadt auf sein Stiftsgebiet mit Eutin (-»Schleswig-Holstein) als Mittelpunkt zurückzog und dort seine Landesherrschaft ausbaute. Das (mit 3 9 - 4 0 Präbenden seit 1337 relativ große) Domkapitel, dessen Mitglieder nun überwiegend aus dem Bürgertum Lübecks, -»Hamburgs und anderer norddeutscher Städte stammten, übte seitdem allein die Pfarrechte in der als eine einzige Parochie begriffenen, aber in fünf Kirchspiele eingeteilten Stadt aus, wobei es relativ harmonisch mit dem Rat kooperierte. Es verwaltete umfangreichen Landbesitz in Lübecks Umgebung, Ostholstein und -•Mecklenburg. Bedeutende Bischöfe wie Johann Scheele (1420-39), Arnold Westphal (1449-66) und Albert Krummediek (1466-89) wirkten in der Reichspolitik mit und prägten das Bistum kulturell. Die Stadt erlebte ihre Blütezeit als nordeuropäische Handelsmetropole und Haupt der Hanse in der Mitte des 14. Jh.; durch geschickte Politik konnte sie - trotz innerer Unruhen 1380-84 und 1403-16 - ihre Vormachtstellung gegenüber -»Dänemark bis zum Anfang des 16. Jh. halten. Dank ihres Reichtums konnten im 13./14. Jh. acht riesige Kirchengebäude errichtet werden, die eine Fülle von Kunstschätzen enthielten. Malerei und Bildschnitzerei zu religiösen Themen erreichten im späten 15. Jh. einen Höhepunkt, vor allem in den Werken Herman Rodes (ca.
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1435-1504) und Bernt Notkes (ca. 1435/40-1509). Seit 1475 war Lübeck ein Zentrum des niederdeutschen Buchdrucks. 2. Verlauf und Ergebnis der Reformation
bis 1580
Die Reformation setzte sich in Lübeck relativ spät durch, weil der konservative Rat sie - in Verbindung mit dem Domdekan Johannes Brand und Bischof Hinrich Bockholt - bis 1528 im ganzen erfolgreich unterdrückte. Sie war zunächst eine Bewegung cmanzipatorisch-individueller Frömmigkeit in Kreisen vor allem der vermögenden, nicht im Rat vertretenen Bürgerfamilien, namentlich der Mitglieder der Leonhardsbruderschaft. Erste Anstöße k a m e n seit 1518/20 von außen durch Flugschriften, Wanderprediger und den in Wittenberg studierenden Bürgersohn J ü r g e n Sengestake. Durch seine Predigten sammelte der Kaplan an St. M a r i e n J o h a n n e s Fritze 1524/25 evangelische Hauskreise, verlor aber seine Stelle und ging nach H a m b u r g . D e r kaisertreue R a t versuchte, die H a n s e zur koordinierten A b w e h r der reformatorischen Bewegung einzuschalten; er gewann 1525 auf dem T a g der wendischen Hansestädte H a m b u r g , Lüneburg und R o s t o c k für seine M a ß n a h m e n , nicht aber W i s m a r und Stralsund; a u f dem allgemeinen H a n s e t a g 1525 gelang es jedoch nicht, die harte Linie im Sinne des Wormser Ediktes durchzusetzen.
In der Stadt wuchs die Bewegung allmählich, verstärkt durch die Prediger Andreas Wilms und Johannes Walhoff, die Ende 1528 ihres Amtes enthoben wurden, doch — nachdem 1529 die inneren Unruhen zunahmen, die schließlich im „Singekrieg", d. h. in Gottesdienststörungen durch evangelische Psalmgesänge kulminierten - auf Druck der Bürgerschaft im Januar 1530 zurückkehrten. Entscheidend für den Erfolg wurde, daß die Bürger die zur Tilgung der städtischen Schulden erforderliche Sondersteuer nur gegen Konzessionen in der Religionsfrage bewilligten. Ihrneugebildeter Ausschuß setzte im April 1530 die alleinige Zulassung der evangelischen Predigt und am 30. Juni 1530 Artikel für eine Strukturänderung (z.B. Abschaffung der Messe, Auflösung der Klöster, Wahl bürgerlicher Kirchenvorsteher) durch. In der Folge entwickelte sich die evangelische Bewegung zu einer „politischen Revolution" (so G. Waitz), weil der Bürgerausschuß - ausgehend von den kirchlichen Reformen - seine Beteiligung am Stadtregiment durchsetzte (26 Artikel vom 12./13. Oktober 1530 als Grundlage der künftigen Kirchcnordnung wie der Stadtverfassung) und darüber hinaus im April 1531 Mitglieder in den Rat wählte, so daß dort jetzt die Vorkämpfer der Reformation vertreten waren, die den Anschluß an den —• Schmalkaldischen Bund durchsetzten. Der Zurückdrängung der altgläubigen Ratsaristokratie korrespondierte die Ausschaltung des Domkapitels durch ein bürgerliches Kirchenregiment: Mit Vertrag vom 11. November 1530 überließ dieses die vier Pfarrkirchen, nicht aber den Dom, der Stadt. A u f dieser Grundlage erarbeitete J o h a n n e s - » B u g e n h a g e n nach dem Vorbild von Braunschweig und H a m b u r g zusammen mit einigen Bürgern eine Kirchenordnung, die - a m 31. M a i 1531 verabschiedet - die M i t w i r k u n g s r e c h t e der „ G e m e i n d e " kodifizierte. Die Landgebiete sowie die O r t e Travemünde und M ö l l n erhielten d a r a u f eigene O r d n u n g e n . Bugenhagen blieb noch bis Ostern 1532 in L ü b e c k , um gleichsam als kommissarischer Superintendent die Konsolidierung der Verhältnisse zu überwachen und die politische E n t w i c k l u n g zumal im Blick auf D ä n e m a r k (Restitutionspläne Christians II.) zu b e o b a c h t e n . Als das D o m k a p i t e l E n d e 1531 zur vertraglichen Ubergabe aller Pfründen und Stiftungskapitalien genötigt wurde, verließen die meisten Domherren die Stadt.
Die weitere Entwicklung der Reformation wurde durch außenpolitische Ereignisse bestimmt. Unter der Führung des Bürgerausschuß-Sprechers Jürgen Wullenwever, der seit 1533 als Bürgermeister eine dominierende Rolle spielte, begann Lübeck ohne Unterstützung der Hanse eine Kaperfehde gegen die Holländer, um deren Vordringen in der Ostsee zu stoppen, und 1534 einen Krieg gegen Dänemark, um die dortigen Herrschaftsverhältnisse nach dem Tode Friedrichs I. zu beeinflussen und um das Territorium des Bistums in Ostholstein einzukassieren. Aufgrund der militärischen Niederlage, verbunden mit der politischen Isolierung in der Hanse wie im Schmalkaldischen Bund, wurde Wullenwever zum Rücktritt gezwungen (und mit ihm die Bürgervertreter im Rat); der
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Bürgerausschuß löste sich auf, und entsprechend einem Mandat des Reichskammergerichts wurde die alte Verfassung durch den Rezeß vom 26. August 1535 im Zusammenhang mit der Rückkehr des altgläubigen Bürgermeisters Nikolaus Brömse wiederhergestellt, der das Kirchenregiment allein dem Rat zusprach, doch die evangelischen Strukturen beibehielt. Das Ende der Reformation als bürgerlicher Emanzipation und Partizipation fiel mit dem definitiven Verlust von Lübecks Vormachtstellung im Ostseeraum zusammen. Im Rat waren nach 1535 die katholischen Kräfte so stark, daß sie 1536/37 den Rückzug aus dem -»Schmalkaldischen Bund durchsetzen konnten und daß vielfach die Möglichkeit einer Rekatholisierung gesehen wurde. Die Beibehaltung des evangelischen Bekenntnisstandes war auch ein Verdienst des umsichtigen Superintendenten Hermann Bonnus (1504-48), eines Bugenhagenschülers, der für eine konservative Reformation eintrat. Diese wurde endgültig gesichert in der Abwehr des Augsburger -»Interims 1 5 4 8 - 5 2 , bei welcher Lübecks Geistlichkeit intensiv mit derjenigen Hamburgs und Lüneburgs kooperierte; die Zusammenarbeit der drei städtischen Ministerien in den wichtigen theologischen Fragen des 16. Jh. (als „Ministerium Tripolitanum" später auf den Begriff gebracht, aber nicht strikt institutionalisiert) hatte bis 1690 Bestand. Gegenüber dem obrigkeitlichen Kirchenregiment des Rates verteidigte das Lübecker Ministerium die Autonomie des geistlich-theologischen Bereichs, wobei beide Institutionen in den Lehrstreitigkeiten nach 1548, bei der Abwehr aller Nichtlutheraner und bei dem lutherischen Konkordienwerk (-»Konkordienbuch) einvernehmlich zusammenwirkten. Aufgrund der politischen Implikationen der religiösen Probleme wuchs Lübeck als Hansehaupt im 16. Jh. auch eine theologiepolitische Führungsposition für den niederdeutschen Raum zu. Im Sinne der -»Gnesiolutheraner setzte es diese 1 5 4 9 - 5 5 durch Gutachten im Adiaphoristischen, Majoristischen (-»Major) und Osiandrischen Streit (-»Oslander) ein, ferner 1553/54 in der Abwehr calvinistischer Exulanten aus England und 1 5 5 6 - 6 1 im Abendmahlsstreit um Albert -»Hardenberg, der dazu führte, daß -»Bremen auf Betreiben Lübecks mit Handelssanktionen belegt und 1563, als es sich dem Calvinismus zuwandte, aus der Hanse ausgeschlossen wurde. Zur Normierung der lutherischen Lehre verständigte das Ministerium Tripolitanum sich 1559 gegen den Frankfurter Rezeß auf Grundzüge eines gnesiolutherischen Corpus Doctrinae; als erste Territorialkirche - parallel mit Hamburg - führte Lübcck unter dem Superintendenten Valentin Curtius 1560/61 offiziell ein solches ein. Zusammen mit Braunschweig (Joachim Mörlin, Martin Chemnitz) sorgte es auf dem Städtekonvent von Lüneburg 1561 dafür, daß diese Konzeption verallgemeinert wurde. Damit war eine Basis für die Beteiligung an den lutherischen Konsensusbemühungen gegeben, die - unter theologischer Führung von -»Chemnitz und mit kirchenpolitischer Hilfe Lübecks - 1 5 7 1 , 1574 und 1576 zu einer breiteren Verständigung in Norddeutschland führte und 1577/80 mit dem Konkordienwerk (-»Konkordienbuch; -»Konkordienformel) ihren Abschluß fand. Seitdem war Lübeck eine Hochburg der lutherischen -»Orthodoxie. 3. Das Fürstbistum
Lübeck
1535-1803
Im Bistum setzte sich die Reformation allmählich durch, obwohl das Kapitel, welches seit 1535 wieder in Lübeck residierte, bis ca. 1570 überwiegend altgläubig blieb. Der Zulassung der evangelischen Predigt im Lübecker Dom, in Eutin und in den Landgemeinden durch Bischof Detlev Reventlow (1535-36) und der von diesem und dessen, ebenfalls evangelischen, Nachfolger Balthasar Rantzau (1536-47) betriebenen Anlehnung des Hochstifts an Holstein-Dänemark folgten Versuche, den Bestand durch romtreue Bischöfe zu sichern. Endgültig führte der trotz seiner lutherischen Konfession 1560 gewählte, 1562 vom Papst bestätigte Bischof Eberhard von Holle (1522—86), zuvor Abt von St. Michael in Lüneburg, seit 1566 die Abschaffung der alten Zeremonien im Dom und die Besetzung der Pfarrstellen im Stift mit Lutheranern durch. Er leitete auch die Öffnung des Kapitels für evangelische Domherren ein, verteidigte gegen dessen Klage beim Reichs-
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kammergericht seine Verletzung des Keservatum ecclesiasticum (-» Augsburger Religionsfriede) erfolgreich und verhinderte durch geschickte Politik sowie durch Restitution der Stiftsgüter die Säkularisation durch dänisch-holsteinischen Zugriff. 1577 nahm er für das Bistum die -»Konkordienformel und 1580 das -»Konkordienbuch an. Um die Autonomie des Hochstifts zu sichern, wählte das Kapitel nach seinem Tod 1586 Johann Adolf von Schleswig-Holstein-Gottorf, dem bis 1803 stets evangelische Fürstbischöfe aus dem Hause Gottorf folgten. Im -»Westfälischen Frieden 1647/48 gelang deren Behauptung, so daß Lübeck — abgesehen von der Sonderform Osnabrück mit der alternierenden Besetzung — seitdem das einzige evangelische Fürstbistum im Reich war. Da es von Laien regiert wurde, übte seit 1644 ein Superintendent - mit Sitz in Eutin - die geistliche Leitung im engeren Sinne aus. Durch den Reichsdeputationshauptschluß von 1803 fiel es an das von dem letzten Fürstbischof Peter Friedrich Ludwig von Holstein-Gottorf regierte Herzogtum Oldenburg als dessen künftiger Teil „Fürstentum Lübeck" (seit 1918 „Landesteil Lübeck" des Freistaats -»Oldenburg, bis es 1937 wie die Stadt Lübeck zu Preußen geschlagen wurde). Das Domkapitel wurde 1804 aufgelöst. Die Kirche blieb seitdem eine selbständige Landeskirche, bekam 1864 ff ein Organisationsgesetz und 1919/21 eine Verfassung; seit 1938 hieß sie „Evangelisch-Lutherische Landeskirche Eutin" (bis zur Eingliederung in die -*Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche am 1. Januar 1977). 4. Hochburg
lutherischer
Orthodoxie
Die Stadt bewahrte im 17. Jh. ihre konfessionelle Geschlossenheit durch rigide Unterdrückung der von auswärts zuziehenden Calvinisten, Katholiken und „Fanatiker" (mystischen Spiritualisten). Theologisches Profil verliehen ihr einige Generationen bedeutender Superintendenten, unter denen Nikolaus -»Hunnius (1585-1643, seit 1624 in Lübeck) herausragte. Dieser bemühte sich - neben der in konfessioneller Polemik artikulierten dogmatischen Bewahrung lutherischer Identität - um verschiedene Reformen des kirchlichen Lebens wie um die Verteidigung der geistlichen Selbständigkeit gegen das zunehmend sich verabsolutierende orbrigkeitliche Kirchenregiment. Vom -»Dreißigjährigen Krieg blieb Lübeck durch Neutralitätspolitik und starke Stadtbefestigung verschont; dessen soziale Folgen äußerten sich u.a. in einer zunehmenden Differenzierung des kirchlichen Lebens. Hexenverfolgungen (-»Hexen) seit 1637 hielten sich in geringem Umfang. Nach 1648 wurden erstmals die zuvor strikt ferngehaltenen Juden partiell vom Rat geduldet, was 1691 und 1696—99 zu Konflikten mit der Geistlichkeit sowie mit der Bürgerschaft führte. Um des wirtschaftlichen Aufschwungs willen förderte der Rat die Ansiedlung calvinistischer Kaufleute und Handwerker, gestattete ihnen 1666 die private Gottesdienstausübung, allerdings außerhalb der Stadtmauer, mußte das aber unter dem Druck der durch die lutherischen Prediger mobilisierten öffentlichen Meinung zurücknehmen; erst infolge des Zuzugs der -»Hugenotten, die Rückhalt bei Brandenburg und Dänemark fanden, kam es 1690-93 zur Bildung einer reformierten Gemeinde mit Versammlungsraum vor dem Holstentor, der 1709 öffentlicher Gottesdienst erlaubt wurde. Kirchenrechtlich wurden die Reformierten z.B. bei Taufen und Trauungen wie Lutheraner behandelt und staatsrechtlich bis 1811 durch Versagung des Bürgerrechts diskriminiert. Sehr wenige Katholiken lebten im 17./18. Jh. in der Stadt, die ihren Rückhalt in den Kurien der - seit dem Normaljahr 1624 auf vier fixierten - römisch-katholischen Domherren fanden. Singulärer Ausdruck der konfessionellen Intoleranz war im Zusammenhang des Kampfes gegen die „Atheisterei" die Hinrichtung des Handwerksburschen Peter Günther 1687 wegen Leugnung der Gottheit Jesu. Besonders eifrig unterdrückten Geistlichkeit und Rat - in Fortführung der seit 1535 konsequent betriebenen Abwehr der Täufer und Schwärmer - die nach 1624 auftretenden Spiritualisten und die von diesen beeinflußten Konventikel 1665/6, welche sich unter dem Einfluß des Lübecker Kandidaten und späteren Eutiner Superintendenten Johann Wilhelm Petersen (1649-1727) nach 1676 dem -»Pietismus zuwandten. Neben dem chiliastischen Schwärmertum (Hauptrepräsentantin: Adelheid Schwartz) setzte sich seit 1690 der Einfluß A. H. -»Franckes durch, der als gebürtiger Lübecker über
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die H o n o r a t i o r e n f a m i l i e seiner M u t t e r trotz der Anfeindung durch die Geistlichkeit m a n c h e K o n t a k t e knüpfen konnte. Ebenso wie jene Kreise wurde das seit 1736 auftretende H e r r n h u t e r t u m (-»Brüderunität/Brüdergemeine) unterdrückt. T r o t z einer solchen E n g e blühte das kirchliche L e b e n , wie sich beispielhaft in der Pflege der M u s i k zeigte. N a c h 1641 richtete F r a n z T u n d e r ( 1 6 1 4 - 6 7 ) , O r g a n i s t an St. M a r i e n , solistische Abendmusiken a u ß e r h a l b des Gottesdienstes ein, w a s sein seit 1668 amtierender Nachfolger Dietrich B u x t e h u d e ( 1 6 3 7 - 1 7 0 7 ) durch Erweiterung des Instrumentalund Vokalapparats zu einer stark beachteten geistlichen Konzertpraxis ausbaute, die als typischer Ausdruck bürgerlicher Religiosität gelten k a n n . Die O r t h o d o x i e d o m i n i e r t e bis 1770 (als Superintendenten mit überregionaler Bedeutung: August Pfeiffer, G e o r g Heinrich G ö t z e und J o h a n n G o t t l o b C a r p z o v ) ; die Aufklärung bestimmte nur eine G e n e r a t i o n von Predigern, wirkte a b e r stark a u f die bürgerliche Christlichkeit, die sich in der Gemeinnützigen Gesellschaft seit 1 7 8 9 / 9 5 ein kulturell-sozialkaritatives F o r u m mit großer Ausstrahlungskraft schuf.
5. Die Kirchenverfassung
im 19./20.
Jahrhundert
Die -»Erweckungsbewegung, die vor allem vom Prediger der reformierten Gemeinde Johannes Geibel (1776-1853) getragen wurde, verband sich um 1830 mit einem undoktrinären lutherischen -»Konfessionalismus, dessen Vertreter die Eigenständigkeit der Kirche gegenüber Staat und Gesellschaft betonten (z.B. der 1 8 4 6 - 9 2 als Senior amtierende Johann Carl Lindenberg). Da der Rat/Senat nach 1815 und 1848 trotz der allgemeinen politischen Vorgaben sein Kirchenregiment nicht einschränken lassen wollte, bildeten die Auseinandersetzungen um die Schaffung einer neuen Kirchenverfassung bis zum schließlichen Erlaß einer solchen 1895 (nach der Gemeindeordnung von 1860 und der Scnioratsordnung von 1871) ein zentrales Thema. Die entscheidenden Teile des Kirchenregiments lagen seit 1895 beim Kirchenrat, dessen Vorsitzender ein Senator war und der seine Arbeit mit dem Senat koordinierte; aufgewertet wurden die Leitungsfunktionen des Seniors und des Geistlichen Ministeriums, während die Kompetenzen der neuen Synode gering waren. Nach dem staatlichen Umbruch von 1918/19 wurde die Kontinuität in starkem Maße gewahrt, indem der Senat 1921 auf die Kirchcnhoheit verzichtete, seine bisherigen Rechte „auf die Kirchc selbst" übertrug und die neue Kirchenverfassung von sich aus in Kraft setzte. Die Verfassungswirklichkeit wurde durch eine weiterhin enge Verbindung von Kirchc und Staat geprägt (trotz der starken SPD-Vertretung in Bürgerschaft und Senat, die allerdings nicht kirchenfeindlich auftrat); der 1919 zum Vorsitzenden des Kirchenrats bestimmte Senator Johann A.M. Neumann behielt dies Amt auch, als er 1921 Bürgermeister wurde. Auf Initiative der Kirche ernannte der Senat nach Neumanns Tod 1928 eines seiner Mitglieder zum Kommissar für die kirchlichen Angelegenheiten, was ihm nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933/34 die juristische Handhabe bot, den Umsturz der Kirchenverfassung staatlicherseits zu bewerkstelligen. Der Kirchenkampf (-»Nationalsozialismus und Kirchen) bekam durch die staatskirchliche Prägung besondere Konturen. Durch das Gesetz vom 3. Juli 1933 lösten sich Kirchenrat und Kirchentag auf und traten ihre Kompetenzen an einen Ausschuß unter Leitung des Senatskommissars Hans Böhmcker ab, der in Verbindung mit August Jäger eine rigorose Gleichschaltungspolitik betrieb, durch die neue nach dem Führerprinzip aufgebaute Kirchenverfassung vom 20. Juli 1934 das kommissarische Staatskirchentum ablöste, den in Lübeck völlig unbekannten NS-Pastor Erwin Balzer aufgrund einer Empfehlung des schleswig-holsteinischen Gauleiters zum Bischof machte und zusammen mit diesem die freiwerdenden Pfarrstellen mit -»Deutschen Christen und Deutschkirchlern besetzte. Dagegen formierte sich 1933/34 aus dem Pfarrernotbund heraus eine Bekennende Kirche, die allerdings von vornherein gespalten war, weil der Pastor an St. Ägidien Wilhelm Jannasch (1888-1966, bis 1936 in Lübeck) in seiner radikalen Opposition isoliert blieb; während er, der bereits im Juli 1933 suspendiert und im Herbst 1934 zwangspensioniert wurde, sich der Dahlemer Richtung der Bekennenden Kirche anschloß, unterstellte sich der Landesbruderrat der geistlichen Leitung des hannoverschen Landesbischofs August Marahrens und wurde 1936 Mitglied des Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Als der Reichskirchenausschuß am 1. Dezember
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Lübeck
1936 den Bruderrat als zweite rechtmäßige Kirchenleitung anerkannte, enthob Balzer die neun Pastoren der Bekennenden Kirche ihres Amtes und verhinderte im Februar 1937 mit Hilfe der Gestapo ein Eingreifen des Reichskirchenausschusses, der daraufhin zurücktrat. Allerdings konnte sich die Bekennende Kirche in der Folgezeit neben dem DeutschChristlichen Regiment behaupten, welches sich voll in die Reichskirche integriert hatte, die nationalsozialistische Ideologie vertrat und eng mit dem Senat kooperierte, wie sich auch 1942/43 im Falle des nicht der Bekennenden Kirche angehörenden Pastors Karl Friedrich Stellbrink zeigte, der wegen seiner Predigt nach dem großen Bombenangriff hingerichtet wurde. Durch das sog. Groß-Hamburg-Gesetz verlor Lübeck am 1. April 1937 seine Selbständigkeit als Land des Reiches und wurde der preußischen Provinz Schleswig-Holstein eingegliedert. Die nach den Erfahrungen des Kirchenkampfes gestaltete Kirchenverfassung von 1948 behielt das Amt des Bischofs bei; als geistlicher Leiter war dieser aber jetzt auch Vorsitzender der Kirchenleitung (1948-55 Johannes Pautcke, 1956—72 Heinrich Meyer; aus Rücksicht auf die geplante nordelbische Kirche als Bischofsstellvertreter 1972 - 7 6 der Senior Karlheinz Stoll). Lübeck trat zwar im Juli 1945 dem sog. Lutherrat bei, befürwortete aber den Zusammenschluß der -»Evangelischen Kirche in Deutschland und war deshalb 1948 bei der Gründung der -»Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands nicht beteiligt, schloß sich dieser jedoch 1949 an. Durch den starken Zuzug von Heimatvertriebenen expandierte die lutherische Kirche auf ca. 180000 Glieder, 32 Gemeinden und 83 Pastoren (Stand von 1976). Mit dem Zusammenschluß zur Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche am 1. Januar 1977 fand sie ihr Ende als selbständige Landeskirche und wurde ein Kirchenkreis. Seitdem ist die Stadt Sitz des Sprengelbischofs für Holstein-Lübeck (1977-1981 Friedrich Hübner, 1981-1991 Ulrich Wilckcns, seit 1991 Karl-Ludwig Kohlwage). Die katholische Gemeinde, die seit 1841 staatlich anerkannt war und 1890 ein Kirchengebäude erhielt, wuchs nach 1945 auf ca. 20000 Glieder in 9 Parochien. Die reformierte Gemeinde behielt ihren Stand, während zu der seit 1849/1907 existierenden Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde (-»Baptisten) weitere kleinere Gemeinschaften traten. Die nach 1938 ausgerottete jüdischc Gemeinde (1933 mit 497 Angehörigen), deren Synagoge trotz der Brandschatzung erhalten blieb, konnte nach 1945 nicht wiederaufgebaut werden. Quellen Helmold v. Bosau, Chronica Slavorum, hg.v. Heinz Sroob, 1963 (AQDG 19). - Johannes Bugenhagen, Lübecker KO, hg.v. Wolf-Dieter Hauschild, Lübcck 1981. - Die Chroniken der niedersächsischen Städte: Lübeck, 5 Bde. ( = Die Chroniken der dt. Städte vom 14. bis ins 16. Jh. 19,26, 28, 30, 31), Leipzig 1884-1914; Neudr. Göttingen 1967/68. - Jacob v. Melle, Gründliche Nachricht v. der Kaiserl. freyen u. des H . R . Reichs Stadt Lübeck, Lübeck 3 1787. - Friedrich Petersen (Hg.), Ausführliche Gesch. der Lübeckischcn Kirchen-Reformation in den Jahren 1529 bis 1531 aus dem Tagebuche eines Augenzeugen, Lübeck 1830. - Die Protokolle des Lübecker Domkapitels 1535-1540, bearb. v. Wolfgang Prange, Neumünster 1990 (Schleswig-Holsteinische Regesten u. Urkunden 11). - Caspar Heinrich Starck, Lubeca Lutherano-Evangelica, das ist . . . Lübeckische Kirchen-Historie, H a m b u r g 1724. Literatur Wilhelm Biereye, Das Bistum Lübeck bis zum Jahre 1254: Zs. des Vereins f. Lübeckische Gesch. u. Altertumskunde 25 (1929) 261-364; 26 (1930/32) 5 1 - 1 1 2 . - Ders., Unters, zur Gesch. des Bistums Lübeck v. 1254 bis 1276: ebd. 28 (1936) 5 9 - 1 0 1 . 2 2 5 - 3 0 1 . - Ahasver v. Brandt: Geist u. Politik in der Lübeckischen Gesch., Lübeck 1954. - Salomon Carlebach, Gesch. der Juden in Lübeck u. Moisling, Lübeck 1898. - Georg Wilhelm Dittmer, Gesch. u. Verfassung des St. Johannis-Jungfrauenklostcrs zu Lübeck v. dessen Gründung bis auf unsere Zeit, Lübeck 1825. - Ders., Das hl. Geist Hospital u. der St. Clemens-Kaland zu Lübeck, Lübeck '1838. - Robert Dollinger, Gesch. der Mennoniten in Schleswig-Holstein, H a m b u r g u. Lübeck, Neumünster 1930 (Quellen u. Forsch, z. Gesch. Schleswig-Holsteins 17). - Fritz Endres (Hg.), Gesch. der freien u. Hansestadt Lübeck, Lübeckl926, Nachdr. F r a n k f u r t / M . 1981. - Adolf Friederici, Das Lübecker Domkapitel im MA 1160-1400, Neumünster 1988 (Quellen u. Forsch, z. Gesch. Schleswig-Holsteins 91). - Martin Funk, Das
Lütgert
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2. Werk
(1867-1938) 3. Theologie
(Anmerkungen/Literatur S.499)
Leben
A m 9 . 4 . 1 8 6 7 als drittes v o n n e u n K i n d e r n des P f a r r e r s u n d S c h u l l e i t e r s W i l h e l m Lütgert und seiner F r a u C h r i s t i n e in H e i l i g e n g r a b e ( O s t p r i e g n i t z ) g e b o r e n , w u c h s L ü t gert in e i n e m k i r c h l i c h e n , i m G e i s t v o n - » G o e t h e , —»Ranke, L . T r e n d e l e n b u r g u n d - » S t a h l g e p r ä g t e n M i l i e u auf. N a c h d e m B e s u c h eines „ v ö l l i g e n t k i r c h l i c h t e n " G y m n a siums studierte er 1 8 8 6 bis 1 8 8 9 T h e o l o g i e in G r e i f s w a l d , v o r a l l e m bei —»Cremer, s o w i e in B e r l i n , w o i h n - » H a r n a c k „ g e f e s s e l t , a b e r n i c h t g e w o n n e n " h a t , w ä h r e n d
H.v.
T r e i t s c h k e ihn „ m i t d e m H i s t o r i s m u s a u s ( s ö h n t e ) " und —»Stoecker ihn m i t „ p r o p h e t i sche(m) B l i c k " zur „ A u f m e r k s a m k e i t a u f d a s V o l k und a u f die s o z i a l e F r a g e " n ö t i g t e ( A n t w o r t 4 8 — 5 0 ; s o n s t n u r (J.) K a f t a n und (F. K . L . ) S t e i n m e y e r , e b d . 4 9 ) . E i n a n o n y m e s Stipendium e r m ö g l i c h t e die R ü c k k e h r n a c h G r e i f s w a l d , w o sich eine l e b e n s l a n g e F r e u n d schaft mit - » S c h l a t t e r e n t w i c k e l t e 1 . D e r L i z e n t i a t u r in S y s t e m a t i s c h e r T h e o l o g i e f o l g t e 1892 die H a b i l i t a t i o n in n e u t e s t a m e n t l i c h e r E x e g e s e ; 1 8 9 5 w u r d e L ü t g e r t a . o . P r o f e s s o r für N e u e s T e s t a m e n t . 1 8 9 8 s c h l o ß er m i t M a r t h a S e l l s c h o p p die E h e , aus der s i e b e n Kinder h e r v o r g i n g e n . 1 9 0 1 z u m D . t h e o l . p r o m o v i e r t , w e c h s e l t e e r n a c h H a l l e , z u n ä c h s t als a . o . , seit 1 9 0 2 als o . P r o f e s s o r für N e u e s T e s t a m e n t . 1 9 1 2 f o l g t e er —»Kähler a u f d e m längst e r s t r e b t e n L e h r s t u h l für S y s t e m a t i s c h e T h e o l o g i e u n d w u r d e zugleich E p h o r u s der
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Lütgert
Halleschen Konvikte; 1916 w u r d e er zum Geheimen Konsistorialrat ernannt. 1917 w a r er R e k t o r der Universität. 1 9 2 9 n a h m Lütgert einen R u f nach Berlin an, w o er 1 9 3 5 vorzeitig amtsenthoben, auch mit Vortragsverboten belegt wurde. Seine fortgesetzte literarische Tätigkeit und sein E n g a g e m e n t in der Theologenausbildung der Bekennenden Kirche beendete sein T o d a m 2 1 . 2 . 1 9 3 8 . 2.
Werk
Die meisten Werke Lütgerts (eine Bibliographie existiert nicht) erschienen in den von C r e m e r und Schlatter 1 8 9 7 begründeten, seit 1904 von ihm selbst mitbetreuten Beiträgen zur Förderung christlicher Theologie bzw. in der 1 9 2 0 begründeten Sammlung wissenschaftlicher Monographien, Gütersloh (im folgenden nicht mehr genannt). Exegetica: Das Reich Gottes nach den synoptischen Evangelien, 1895 (Habilitationsarbeit); Die johanneische Christologie, 1899 2 1916; Die Liebe im NT, Leipzig 1905; Freiheitspredigt und Schwarmgeister in Korinth, 1908; Die Vollkommenen im Philipperbrief und die Enthusiasten in Korinth, 1909; Die Irrlehrer der Pastoralbriefe, 1909; Der Römerbrief als historisches Problem, 1913. Historische Arbeiten: Das Problem der Willensfreiheit in der vorchristlichen Synagoge, 1906; Amt und Geist im Kampf, 1911; Gesetz und Geist. Eine Untersuchung zur Vorgeschichte des Galaterbriefes, 1919; Die Erschütterung des Optimismus durch das Erdbeben von Lissabon 1755, 1901; Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende, 4 Bde. 1 + 2 1 9 2 3 / ' + 2 23/25/30 (Beilage 1923, '1924), Neudr. Hildesheim 1967; Der Erlösungsgedankc in der neueren Theologie, 1928; Adolf Schlatter als Theologe innerhalb des geistigen Lebens seiner Zeit, 1932; Die theologische Krisis der Gegenwart und ihr geistesgeschichtlicher Ursprung, 1936. Systematische Theologie: Die Methode des dogmatischen Beweises in ihrer Entwicklung unter dem Einfluß Schleiermachers, 1892 (Lizentiatenarbeit); Geschichtlicher Sinn und Kirchlichkeit in ihrem Zusammenhang, 1899; Die Anbetung Jesu, 1904; Reich Gottes und Weltgeschichte, 1928 (Vorträge und Aufsätze); Schöpfung und Offenbarung. Eine Theologie des ersten Artikels, 1934, ND Gießen/Basel 1984; Der Kampf der deutschen Christenheit mit den Schwarmgeistern, 1936; Ethik der Liebe, posthum 1938. Praktische Theologie: Im Dienst Gottes. Zur Gestaltung des geistlichen Lebens, postum Gießen 1991. 3.
Theologie
Neben E. Schaedcr vertritt Lütgert prominent die von H. C r e m e r ausgehende, aber auch von M . Kahler und von A. Schlatter bestimmte Greifswalder Schule. Als „biblis c h e r " , Exegese und D o g m a t i k bzw. Ethik bewußt und unmittelbar verknüpfender T h e o loge fühlte sich Lütgert allerdings von Schulbildung frei und offen für die theologische Arbeitsgemeinschaft über Schul- und Konfessionsgrenzen hinweg. Lütgert verkörpert den Abschied vom restaurativen -*Konfessionalismus und -»Biblizismus des 19. J h . Gemessen an der -»Dialektischen Theologie steht Lütgert gewiß für eine „Kontinuität der Probleme im U m b r u c h der Z e i t e n " (H.Fischer, Syst. T h e o l . : G e o r g Strecker [Hg.], T h e o l . im 2 0 . J h . , Tübingen 1 9 8 3 , 3 2 2 ) , aber er steht nicht weniger für eine bestimmte T r a n s f o r m a t i o n der theologischen Tradition im K o n t e x t eines ernüchterten Bewußtseins der religiösen und kulturellen Krise des christlichen Abendlandes. Seit seiner Berliner Studienzeit lautet Lütgerts Leitfrage: „ W o h e r und wohin geht die religiöse Entwicklung des deutschen Volkes?" 2 Der Historiker Lütgert erklärt die Krisis der Gegenwart aus der Auflösung des christlichen Ethos der Liebe. Sie hat tiefe Wurzeln in der gnostischen Bedrohung des christlichen Schöpferglaubens (eine zusammenfassende Geschichte des Urchristentums und seiner Abwehr „schwärmerischer Vollkommenheitsträume" ist nicht mehr zustandegekommen) und in der reformatorischen Polarisierung von Schöpfung und Erlösung; sie ist aber nächstverursacht durch das Ende der „Religion des deutschen Idealismus" im Zeitalter Bismarcks, d.h. der Zeit der sog. Realpolitik, der sich verschärfenden sozialen Gegensätze, des wissenschaftlichen —»Positivismus, des künstlerischen Naturalismus sowie des weltanschaulichen -»Pessimismus. Die Analyse dieses Zerfalls erweitert die historische Perspektive frömmigkeits- und kulturgeschichtlich (Literatur, Theater, soziale Realität), dem morphologischen Konzept —»Elerts durchaus ebenbürtig. Die theologischen Reflexe der Krise macht Lütgert nicht nur in der „modernen Theologie" namhaft, die den seit -»Kant erkenntnistheoretisch fixierten
Lütgert
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Verlust der -» Natur noch antinomistisch verschärft habe, sondern auch in der „positiven Theologie" seiner eigenen Herkunft, in der die theologische Aufgabe auf die Heils- oder Glaubenslehre beschränkt wurde - mit Verlust der Schöpfungslehre. In beiden Strängen kommt es zu einer falsch „christozentrischen" Begründung des Gottesglaubens allein auf die Christusoffenbarung; die Theologie wird auf ein „Motiv" (Schuldgefühl) oder „Postulat" (Rechtfertigung, Erlösung) hin ethisiert und funktionalisiert. Weil „mit dem -»Idealismus auch die Theologie der -»Erweckungsbewegung abgelaufen" ist (Schöpfung u. Offenbarung V), kann die Krise nicht durch restaurative Parolen und „patriotische Legenden" überwunden werden, sondern nur durch die „objektive Kritik der Geschichte" am idealistischen Denken und an der erwecklichen Frömmigkeit gleichermaßen 1 . Lütgerts Diagnose hat ihn in den 1930er Jahren klar den „naturalistischen" Charakter der Glaubensbewegung -»„Deutsche Christen" erkennen lassen, hat ihn aber auch davon abgehalten, sich der bloß gegenläufigen „spiritualistischen Front" (Antwort 54) anzuschließen, d.h. der Krisistheologie (deren Zusammenhang mit Ritschis Kantianismus und Mystikkritik Lütgert herausstellt), aber auch der Luther-Renaissance im Sinne -»Holls oder -»Hirschs. D e r Dogmatiker L ü t g e r t h a t v e r s u c h t , die T h e o l o g i e v o n ihrer n o c h a n d a u e r n d e n „ H e m m u n g d u r c h K a n t zu b e f r e i e n " u n d s o d a s A u s e i n a n d e r t r e t e n v o n N a t u r a l i s m u s u n d S p i r i t u a l i s m u s an d e r Wurzel zu v e r m e i d e n ( S c h ö p f u n g u. O f f e n b a r u n g VI, 24). D a s e r f o r d e r t e die B e g r ü n d u n g d e r T h e o l o g i e als G o t t e s l e h r e , w e l c h e die S e l b s t o f f e n b a r u n g G o t t e s in d e r m e n s c h l i c h e n - » E r f a h r u n g d e r G e s c h i c h t e u n d d e r N a t u r zu identifizieren v e r m a g , sowie d a s K o n z e p t einer v e r n e h m e n d e n - » V e r n u n f t , d a s L ü t g e r t , religionspsychologisch u n d - p h i l o s o p h i s c h („religiöse A n l a g e " , „ K r e a t u r g e f ü h l " u n d ihre A m b i v a lenz), a b e r a u c h theologisch (etwa mit d e m j o h a n n e i s c h e n O f f e n b a r u n g s b e g r i f f ) a r g u m e n t i e r e n d , im A n s c h l u ß a n —»Baader u n d - » H a m a n n e n t w i c k e l t . E h e r zufällig zeitgleich (1934) f o r m u l i e r t L ü t g e r t d a m i t ein e i g e n s t ä n d i g e s , in gewisser Weise -»Schleie r m a c h e r , s o g a r - » T r o e l t s c h a u f n e h m e n d e s „ t h e o z e n t r i s c h e s " V o t u m im Streit zwischen - » B a r t h u n d - » B r u n n e r o d e r —»Althaus ( S c h ö p f u n g u n d O f f e n b a r u n g I, 115ff). O b w o h l L ü t g e r t s S c h ö p f u n g s t h e o l o g i e die I n s t r u m e n t a l i s i e r u n g d e r N a t u r d u r c h d e n M e n s c h e n ausschließt, ist er d o c h nicht, so w e n i g wie B r u n n e r u n d A l t h a u s o d e r a u c h A. T i t i u s ( N a t u r u n d G o t t , 1928), in die A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit d e r N a t u r b e h e r r s c h u n g d e r M o d e r n e in ihrer E r m ö g l i c h u n g d u r c h die - » N a t u r w i s s e n s c h a f t e n u n d in ihrer F o r m als - » T e c h n i k eingetreten. I m m e r h i n u n t e r z i e h t L ü t g e r t s E t h i k d e n m o d e r n e n Wissens c h a f t s b e t r i e b einer Kritik 4 . A b e r d e r Versuch, d a s christliche L i e b e s g e b o t als u m f a s s e n des ethisches Prinzip des politischen, sozialen u n d f a m i l i a l e n H a n d e l n s des Einzelnen zu restituieren, zielt auf d e n „ o r g a n i s c h e n " Z u s a m m e n h a n g v o n Religion u n d M o r a l „ i m Leben d e r V ö l k e r " , o h n e d a ß die D i f f e r e n z v o n religiöser M o t i v a t i o n u n d r a t i o n a l e r , ü b e r d e n W i r k u n g s b e r e i c h des E v a n g e l i u m s h i n a u s k o n s e n s f ä h i g e r B e g r ü n d u n g des H a n d e l n s reflektiert w ü r d e (vgl. E t h i k 80ff. 2 1 3 f f ; Krisis 6 5 f f , bes. 9 9 f ) . Z u m a l die C h r i s t o l o g i e nicht m e h r a u s g e a r b e i t e t w u r d e , h a t L ü t g e r t mit d e r F o r m e l d e s „ b i b l i s c h e n R e a l i s m u s " ( A n t w o r t 55; S c h ö p f u n g 24 f. 135 f; Krisis 18 ff), d i e d e r T i l l i c h s c h e n F o r d e r u n g ( - » T i l l i c h ) des „ g l ä u b i g e n R e a l i s m u s " d u r c h a u s b e n a c h b a r t ist, w e n i g e r ein E r g e b n i s als eine wichtige A u f g a b e n s t e l l u n g h i n t e r l a s s e n . Anmerkungen 1 2 3
4
Der Briefwechsel 1893-1938 umfaßt 425 Stücke, die sich im Schlatter-Archiv Stuttgart, Nr. 421, 429, 928 befinden. So die resümierende Formulierung von 1937: Antwort 53; seit 1908/9 las Lütgert über „religiöse Bewegungen der Gegenwart", ebd. Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende, Gütersloh, 11923, VIII. - „Es wollte mir nicht gelingen, das Evangelium auf die „Heilsungewißheit', also auf das böse Gewissen zu gründen", in Distanzierung von der Tradition A. Tholucks, J.T. Becks und H. Cremers, Antwort, 51. Ethik der Liebe 125 ff; die Problematik etwa des Zusammenhangs zwischen Weltmission und der „Technik des Verkehrs" als ihrer „natürliche(n) Bedingung" scheint nur in der Feststellung vermehrter „Reibungsflächen" auf und wird in der „pazifistischen" Einschätzung von Imperialismus und Völkerbünden sogleich neutralisiert: Schöpfung und Offenbarung 237 f.
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Lullus
Literatur Paul Althaus/Gerhard Kittel/Hermann Strathmann: Adolf Schlatter u. Wilhelm Lütgert zum Gedächtnis, 1938 (BFChTh 40), 9 - 5 5 (darin Lütgerts „Antwort" auf die Grußadresse zu seinem Geburtstag am 9.4.1937, 48-55). - Horst Stephan/Martin Schmidt, Gesch. der ev. Theol. in Deutschland, Berlin/New York J 1973, 330f. 376f. - Werner Neuer, Einl. zu Schöpfung u. Offenbarung, Gießen/Basel J 1984 (14S.).
Walter Sparn Lukasevangelium -»Evangelien, Synoptische Lullus, Raymundus 1. Leben tur S. 505)
Lullus (Ramott
2. Werke
Lull) (1232/33-ca.
3. Kerngedanke
4. Nachwirkungen
1316) (Bibliographicn/Quellen/Litera-
1. Leben Die Autobiographie, die R a m o n Lull (lat.: R a i m u n d u s oder R a y m u n d u s Lul, Lull, Lulli, Lullus oder Lullius; neukatalanisch: R a m o n Llull) von einem Bewunderer (Kartäuser?) angesichts des bevorstehenden Konzils von -»Vienne (1311/12) in kunstvollem Latein formulieren ließ, ist eines der bewegendsten Lebenszeugnisse der Christenheit (Vitacoaetanea [weiterhin = Vc], Paris, ca. Aug./Sept. 1311: R O L 8,189: C C h r . C M 34, 259 - 3 0 9 ) . Sie bietet wohl auch die authentischste Grundlage f ü r das Verständnis des genialen christlichen Laienphilosophen, der nach seiner Bekehrung besonders von mystischer, aus Eros und Agape genährter Aktions- und Passionsdynamik, von daraus entspringender neuer Logik, Theologik, Metaphysik und Physik, von ökumenischem Weitblick, von höchster Meisterschaft im Bereich der katalanischen Wissenschaftsprosa und Poesie, von gesellschafts- und kirchenpolitischer Erfahrung, aber auch - in der Sicht von ihm feindlich gesonnenen Klerikern - utopischer Phantastik charakterisiert war und trotz ungeheurer Spannungsvielfalt und tragischen Scheiterns immer wieder, wenn auch oft einsam, mit sich selbst eins zu werden vermochte. Aus den in der Autobiographie nicht dargestellten ersten drei Jahrzehnten seines Lebens lassen sich durch Indizienbeweise erschließen: seine G e b u r t in der 1229 eroberten, kosmopolitischen Stadt Palma de Mallorca (ca. 1232/33); seine hervorragende Stellung am Hof König J a k o b s I. von Aragon und an dem des jüngsten Erbprinzen, der als König J a k o b II. von Mallorca (1276-1311) sein freundlicher Förderer wurde, und seine Heirat mit Bianca Picany (wohl vor Sept. 1257), die ihm zwei Kinder, Dominik und Magdalena, gebar. Z u beachten ist auch sein Urteil von 1311, d a ß er vor der Bekehrung ein „ziemlich reicher, ausgelassener und weltlicher M e n s c h " war (Liber disputationis Petri et Raitnundi, prol.: R O L 16, 190: C C h r . C M 78,15). Z u s a m m e n h ä n g e und Gegensätze zwischen Eros und Agape zeigten sich einzigartig bei seiner Bekehrung, als er, leitender H o f b e a m t e r und Liebhaber der Troubadourlyrik, (um 1263) während des Schreibens einer catitilena für eine geliebte Frau f ü n f m a l den gekreuzigten H e r r n Jesus Christus erblickte und bald einsah, d a ß er 1. bei der Bekehrung der Muslime sein Leben geben, 2. ein Buch, und zwar das „beste der Welt" (Vc 6), gegen die Irrtümer der Ungläubigen schreiben und 3. den Papst sowie Könige und Fürsten zur G r ü n d u n g von Klöstern bewegen müsse, in denen Missionare Arabisch und andere Sprachen ungläubiger Völker erlernen könnten. Sein folgendes Leben war weithin von Initiativen zur Erfüllung und Ergänzung dieser drei Aufgaben, aber auch von vielen Mißerfolgen geprägt. Erste Initiativen waren: Verkauf des Besitzes; Pilgerreisen, z.B. nach R o c a m a d o u r und Santiago de Compostela (ca. 1263/65); Privatstudien auf Mallorca (platonische und aristotelische Philosophie, christliche Theologie, Einzelwissenschaften, besonders aber arabische Sprache und muslimische Theologie) und Abfassung erster arabischer Werke (ca. 1265-1274; vgl. die Sclbstvorstellungen: „christianus arabi-
Lullus
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cus" [Disputatio Raimundi christiani et Hatnar saraceni,prol.\ M O G 4,431] und „procurator ittfidelium" [Disputatio fidelis et infidelis, prol.: M O G 4,377]). Zu den Höhe- und Tiefpunkten der beiden zentralen Schaffensperioden (1274-1289 und 1289-1308) gehörten: die Erfahrung, daß „der Herr seinen Geist erleuchtete" (daher der spätere Ehrentitel Doctor Illuminatus), indem er ihm „Form und M o d u s " (Vc 14) seines geplanten Buches eingab (Monte Randa, ca. 1274); die daraus resultierenden ersten Fassungen seiner Ars (ca. 1274-1288/89); die Ars-Vorlesungen in Montpellier (ca. 1275), wo er mit „Bewunderung" (C 16) anerkannt wurde und sich, Mallorca ausgenommen, insgesamt am häufigsten aufhielt; die Gründung des dem Arabisch-Studium gewidmeten Franziskanerklosters Miramar auf Mallorca (das jedoch nur von 1276- ca. 1292/95 bestand); die großartige Kreativität in der Romanliteratur (ca. 1283-1288/89); die Mißerfolge der ersten Rombesuche (1287 und 1291/92); die Erfahrung der „Brüchigkeit des menschlichen Intellekts" (Vc 19) bei den Studenten in Paris, wo er als Magister auftrat (1288/89); die Vereinfachung der Ars in Montpellier (1290); die Krisen in Genua, z. B. die Angst vor der ersten Nordafrikareise und die tragisch-perplexe Uberzeugung, daß er sich, um die ihm von Gott gegebene Ars zu retten, von den Dominikanern trennen und mit den Franziskanern verbünden müsse, obwohl Gott ihn deswegen ewig verdammen werde (1292/93); die Dialoge mit muslimischen Theologen in Tunis, wo er bald mit der Todesstrafe bedroht und ausgewiesen wurde (1293/94); die erfolglosen Versuche, die Päpste Coelestin V. in Neapel (1294) und -»Bonifatius VIII. in Rom und Anagni (1295/96) für seine Uberzeugungen zu gewinnen; der zweite Aufenthalt in Paris, wo er gewichtige Werke verfaßte, aber insgesamt nur wenig Unterstützung fand (1297/99); die Predigten vor Juden und Muslimen in Barcelona (1299) und auf Mallorca (1300/01); die Reise nach Zypern und Zilizien (1301/02); die teilweise sehr produktiven Aufenthalte in Genua, Montpellier, Barcelona, Paris und Lyon (1303/05); die Konfrontation mit dem Islam in Bugia in Nordafrika, wo er beinahe gesteinigt und dann ein halbes Jahr gefangengehalten wurde (1307); der Schiffbruch bei Pisa (1307) und die sofortige Wiederaufnahme der Arbeit in Pisa und Genua (1307/08). In den letzten Lebensjahren (1308- ca. 1316) bemühte sich Lull nicht mehr um eine Verbesserung der Mechanismen seiner Ars. Dennoch vermochte er, obwohl „alt und schwach" (VC 41), unter Aufbietung ungeheurer Energien noch einmal Gewaltiges zu schaffen. Davon zeugten: die Aktivitäten in Montpellier und bei Papst -»Clemens V. in Avignon (1308/09); der letzte, relativ erfolgreiche Aufenthalt in Paris, wo er mindestens 29 Werke, besonders im Kampf gegen die Avcrroisten, schrieb und eine schriftliche Anerkennung seiner Ars durch 40 Hörer (u.a. fünf Magistri und drei Bakkalare) sowie Empfehlungsbriefe des Königs und des Kanzlers der Universität erhielt (1309-1311); die Teilnahme am Konzil von Vienne, das, wohl auch auf sein Drängen hin, die Einrichtung von Sprachkursen für Hebräisch, Griechisch, Arabisch und Chaldäisch beschloß (1311/12), und die nochmals höchst produktiven Aufenthalte in Mallorca (1312/13), in Messina (1313/14) und in der damals den Christen gegenüber relativ toleranten Stadt Tunis (1314/15), wo er im Dezember 1315 seine letzten drei uns bekannten Schriften beendete. Der Ort und die Art seines Todes sind nicht mehr festzustellen. Aufgrund vager Traditionen kann lediglich vermutet werden, daß er in den ersten Monaten des Jahres 1316 entweder in Tunis oder während der Schiffsreise nach Mallorca oder auf der Heimatinsel selbst starb. Sein G r a b befindet sich in der Franziskanerkirche S. Francisco in Palma de Mallorca. Alte Traditionen besagen, daß er längere Zeit, vielleicht schon seit 1295, als Laie dem Franziskanischen Dritten Orden angehörte. Seit dem 14. Jh. wurde und wird er in der Diözese Mallorca und im Franziskanerorden mit nachträglicher Billigung durch mehrere Päpste (Leo X., Clemens XIII., Pius VI., Pius IX.) als Seliger verehrt (Fest: 3. Juli). Die Bemühungen um seine Heiligsprechung, die vor allem im 17. Jh. sehr intensiv waren, aber auch in der Gegenwart wieder aufleben, sind jedoch noch nicht ans Ziel gelangt.
502 2.
Lullus Werke
D i e Z a h l der W e r k e Lulls läßt sich, u. a. wegen Differenzen bei der L ö s u n g literarhistorischer P r o b l e m e , w o h l n o c h nicht genau feststellen. Friedrich Stegmüller ( R G G 3 6, 4 7 4 ) zählte 1 9 6 0 ca. 2 8 0 (ca. 2 4 0 erhaltene), E r h a r d - W o l f r a m Platzeck (1,73; 1 1 , 3 - 8 4 ) 1962 2 9 2 (ca. 2 5 6 erhaltene) und A n t h o n y B o n n e r (Sei. w o r k s 1,53; II, 1 2 5 7 - 1 3 0 4 ; O b r e s selectes 1 1 , 5 3 9 - 5 8 9 : bester W e r k k a t a l o g ; A . B o n n e r / L . B a d i a 56) 1985 2 6 3 (237 erhaltene) und 1988 2 6 5 W e r k e (die Unechtheit der c a . 7 7 v . 1 4 . - 1 6 . J h . verfaßten und Lull seit damals von Bewunderern und G e g n e r n vielfach zugeschriebenen alchimistischen Schriften k a n n nach den im 18. und 19. J h . dazu angestellten U n t e r s u c h u n g e n nicht m e h r bezweifelt werden). D e r U m f a n g der W e r k e ist sehr verschieden: teilweise g r o ß a m A n f a n g und in der M i t t e , aber oft sehr klein in den letzten J a h r e n des literarischen Schaffens, in denen w o h l m e h r als die H ä l f t e der W e r k e entstanden ist. Unter vielen gewichtigen Werken ragen hervor: Libre de contemplaciô en Déu (1273/74?; ca. eine Million Worte umfassendes, fast alle Kerngedanken Lullscher Philosophie, Theologie, Mystik, Kerygmatik, Poetik und Rhetorik wenigstens ansatzhaft enthaltendes Riesenwerk, dessen arabische Erstfassung verlorenging); Ars compendiosa inveniendi veritatem (ca. 1274; erste, die Grundelemente in Vierergruppen gliedernde Fassung der Ars)-, Libre del gentil e dels très savis (1274/76?; respektvolle Unterweisung eines philosophisch gebildeten Heiden über Judentum, Christentum und Islam mit offenem Ausgang), Blaquerna (1283; Meisterwerk früher biographisch-religions-soziologisch-theologischer Romanliteratur), darin (Üb. 5): Libre d'amie e amat (berühmte, nach Art der muslimischen Sufis kunstvoll gestaltete Metaphernsammlung mystischer Theologie); Ars demonstrativei (ca. 1283; verbesserte Fassung der Ars); Libre de meravelles oder Félix (1288/89; zweiter, vorwiegend enzyklopädisch orientierter Roman), darin (lib.7): Libre de les bèsties (meisterhaft erzählte Tierfabel); Ars inventiva veritatis (1290; Neufassung der Ars, in der die Grundelemente, wie danach wohl immer, in Dreiergruppen gegliedert sind); Art amativa (1290; Anwendung der Ars auf das von der Dynamik der Liebe bestimmte Wollen); Taula général (1293/94; Neuformulierung der kombinatorischen Mechanismen der Ars); Disputaciâ de cinq sai'is (1294; Disputation eines Lateiners, eines Griechen, eines Nestorianers, eines Jakobiten und eines Muslims); Desconort (1295; tiefe Enttäuschungen beklagende Elegie); Arbre de ciència (1295/96; universale Wissenschaftssynthese); Liber Apostrophe (1296; rationale Begründung der Glaubensartikel); Declaratio Raimnndi per modum dialogi édita (1298; Widerlegung der vom Pariser Bischof Tempier 1277 verurteilten aristotelischen und averroistischen Thesen); Arbre de filosofia d'amor (1298; umfassende Darstellung der theologischen Philosophie der Liebe); Cant de Ramon (1299; Meisterwerk autobiographischer Leidens- und Liebeslyrik); Logica nova (1303; Hervorhebung der Relation); Liber de praedicatione (1304; Predigtwerk); Liber de ascensu et descensu intellectus (1305; erkcnntnistheoretische Hauptschrift); Liber de demonstratione per aequiparantiam (1305; neue theologische Beweismethode); Liber de fine (1305; Kreuzzugsvorstellungen); Ars generalis ultima (1305/08; Endfassung der Ars); Ars brevis (1308; Kurzfassung der Ars); Disputatio Raimundi et Hamar saraceni (1308, ursprünglich arab. geschriebene Erinnerungen an Gespräche in Bugia); Liber de acquisitione Terrae Sanctae (1309; neue Kreuzzugsvorstellungen); Ars mystica theologiae et pbilosophiae (1309; Begründung der Trinität Gottes und der Inkarnation seines Sohnes auf der Superlativen Ebene der Seins- und Denkprinzipien); Liber correlativorum innatorum (1310; Zusammenfassung der Korrelativenlehre); Liber natalis pueri parvuli Christi lesu (1311; Krippenerzählung, in der weibliche Symbolfiguren, die Mutter Gottes und Lull selbst auftreten); Liber disputationis Petri et Raimundi sive Phantasticus (1311; Streitgespräch zwischen einem reichen, die perverse Intention verkörpernden Kleriker Petrus und dem greisen, armen, die rechte Intention verkörpernden Laien Raimundus); Liber de virtutibus et peccatis (1313; philosophisch-theologische Ethik in Form von Predigten, die, verbunden mit anderen Predigtbüchern v. 1212/13, eine „Summa" von 182 Predigten bilden). 3.
Kerngedanke
Lulls G e n i a l i t ä t hat viele Seiten und S c h i c h t e n . Sie b e s t a n d weithin d a r i n , d a ß er für die intellektuelle und soziokulturelle Vielgestaltigkeit des L e b e n s , die sich im 13. J h . aufgrund der H a n d e l s b e z i e h u n g e n und der K o n k u r r e n z von J u d e n t u m , C h r i s t e n t u m und Islam im M i t t e l m e e r r a u m neu entfaltete, äußerst aufgeschlossen w a r und sich zugleich, neuplatonische, jüdische ( - » K a b b a l a ) , christliche ( - » A u g u s t i n u s , - » A n s e l m v. C a n t e r b u ry, - » R i c h a r d v. St. V i c t o r ) und muslimische (Algazzali, Sufi-Mystik) T r a d i t i o n e n originell weiterführend, bis in die P e r s o n m i t t e von seiner K o n z e p t i o n des sich dynamisch
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differenzierenden „Einen" bewegen ließ. So wurde er z. B. Polyhistor, Romandichter, Meister mehrerer literarischer Gattungen und der erste europäische Autor, der eine Volkssprache - das Katalanische — so veredelte, daß darin auch komplexe philosophische, theologische, naturwissenschaftliche, pädagogische, medizinische, juristische, politische und militärische Fragen erörtert werden konnten. Aber ebenso war er Denker des alles umgreifenden und durchdringenden Prozesses der aktiven und passiven Einigung {unificentia: Liber de scietitia perfecta, dist. 1: ROL 1,222, 224; vgl. L. Sala-Molins, La Philosophie 97-218) und entdeckte, daß dieser Prozeß in je verschiedener Weise im elementaren Werden der Materie, im vegetativen Leben der Pflanzen, im sensitiven Leben der Tiere, im intellektiven Zusammenleben der Menschen in religiösen, sittlichen, rechtlichen, gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen, in den Himmelssphären, im Leben der Engel, im Leben der Mutter Gottes, im Leben des Gottmenschen Jesus Christus und im trinitarischen Mit-sich-selbst-Einssein des Gottes, der Liebe ist, vollzogen wird (Arbre de ciencia: ORL 11-13). Daraus ergab sich auch die Tendenz, das Sein mit dem Tun und Getanwerden (agentia; Liber de divina existentia et agentia: R O L 8,180: CChr. C M 34,103-137; Liber de agentia maiore: R O L 2,271, 303 - 0 7 ; vgl. Sala-Molins, a . a . O . 2 9 - 9 5 ) zu identifizieren, die Identität der Prinzipien dieses aktiven und passiven Seins und der Prinzipien des Denkens und Gedachtwerdens herauszuarbeiten (Liber de modo naturali intelligendi, dist. 5: ROL 6,161: CChr.CM 33,199: „intellectus cum omnibus priticipiis ... participat in natura" [der Intellekt hat in der Natur Anteil an allen Prinzipien]), das auf Autoritätsbeweisen beruhende Glauben in ein von der Vernunft mehr und mehr durch notwendige Gründe beweisbares und einsehbares Glauben zu überführen {Liber, in quo declaratur, quod fides sancta catholica est magis probabilis quam improbabilis: R O L 6,165: CChr. C M 33,319-373) und so das Eine und Ganze der Wahrheit und das Zusammengehen des erleuchteten Christseins mit der thcologischcn Philosophie (Liber de modo naturali intelligendi, dist. 8, a. a . . O. 209-223) und der Gottesmystik mit der Christusmystik aufzuzeigen (Ars mystica theologiae et philosophiae, dist. 3; ROL 5,154, 338-384). Es lag Lull jedoch völlig fern, die Vielheiten, Unterschiede und Gegensätze einem alles verschlingenden Einheitsdenken auszuliefern. Gerade als Denker der Einigung war er auch Anwalt der in der Einigung zu vollziehenden Differenzierung. So konnte der Kernbereich seiner Ars auch nicht von einem einzigen Prinzip des Seins und Denkens beherrscht werden, sondern nur von einer Vielheit solcher Prinzipien oder Grundwürden (dignitates), deren Bezeichnung und Reihenfolge von der Denkgeschichte des Mittelmeerraumes mitbedingt war und deren wirkliche Bestimmungsmacht in diesem Raum über die Grenzen der Religionen hinweg anerkannt werden konnte. In den letzten Fassungen der Ars sind es die neun absoluten Prinzipien (Gutheit, Größe, Dauer; Macht, Weisheit, Wille; Tugend, Wahrheit, Herrlichkeit) und die neun relativen Prinzipien (Unterschied, Übereinstimmung, Gegensätzlichkeit; Anfang, Mitte, Ende; Größersein, Gleichsein, Kleinersein), die gemeinsam den Kernbereich des Lullschen Denkens ausfüllen {Liber de modo naturali intelligendi, dist. 5: a. a. 0 . 1 9 9 ) . Durch Meditationen und Kombinationen der absoluten Prinzipien sollten — ähnlich wie in muslimischen und kabbalistischen Meditationen der Namen und Attribute Gottes — Einblicke in das Sein und Tun des einen Gottes, aber auch in die notwendige innere Pluralität dieses Seins und Tuns und in die Differenzen im Gott-Welt-Zusammenhang gewonnen werden. Dazu war aber auch eine fortwährende, den konkreten Sachverhalten angemessene Beachtung der relativen Prinzipien notwendig, weil nur mit ihrer Hilfe das Tun und Getanwerden der absoluten Prinzipien in Gott, wo alles eins ist, und in der von ihm geschaffenen Welt, wo es Gegensätzlichkeit, Größersein und Kleinersein gibt, gedacht werden konnte. Lull war aber auch überzeugt, daß es drei „angeborene Korrelativen" als „erstrangige, wahre und notwendige Prinzipien in allen Substanzen" gebe {Liber correlativorum innatorum, prol.: R O L 6,159: CChr.CM 33,128). Denn in seiner Sicht konnte etwas nur dadurch als wirklich Seiendes begriffen werden, daß in der Einigung seines Seins zwischen dem Tuenden, dem Getanen bzw. zu Tuenden und dem Tun selbst unterschieden wurde.
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Er konnte also z. B. die Wirklichkeit der bonitas nicht ohne die drei correlativa: bonificativutn, bonificabile und bontficare begreifen und versuchte, auch islamische Gelehrte davon zu überzeugen (vgl. Vc 26). Denn die Einsicht in die dreidimensionale Korrelativität alles wirklich Seienden w a r f ü r ihn so etwas wie eine sich unmittelbar aufdrängende Schlüsselintuition. Z u r G e w i n n u n g notwendiger G r ü n d e in der theologischen Philosophie konnte diese Schlüsselintuition jedoch nur dienen, wenn auch die drei Stufen der Beweisführung recht unterschieden wurden: die positive Beweisführung, die sich im Bereich der sinnlich w a h r n e h m b a r e n Wirkungen, die komparative Beweisführung, die sich im Bereich der vorstellbaren Ursachen, und die Superlative, im eigentlichen Sinn theologische Beweisführung, die sich im mystischen Bereich der meditierbaren Vollkommenheit der mit sich selbst identischen absoluten Prinzipien bewegte (Ars mystica theologiae et philosophiae, prol., a . a . O . 286f). Die Neuheit des Lullschen Kerngedankens bestand wohl vor allem darin, d a ß er allen denkenden Menschen über die Grenzen der Religionen hinweg die Fähigkeit zutraute, auf dem Niveau der Superlativen Beweisführung (vgl. Liber de demonstratione per aequiparantiam: R O L 9,121: C C h r . C M 35,201 - 2 3 1 ) durch die philosophisch-mystische Meditation der Prinzipien und Korrelativen des wirklichen Seins bis zur Erkenntnis der n o t w e n digen G r ü n d e für die Anerkennung der Trinität und Inkarnation Gottes zu gelangen (vgl. Vc 26;27). Er konnte sich also nicht mit einer Widerlegung der gegen die Kompatibilität von Glaubens- und Vernunfterkenntnis vorgetragenen Argumente begnügen. In seinen Werken trat vielmehr die - Hegels christlichen Idealismus in mancher Hinsicht vorwegnehmende - Intention hervor, in streng philosophischer Beweisführung einen Einblick in die Übereinstimmung des Kerninhalts der christlichen Glaubenslehre und der Gotteserkenntnis der natürlichen menschlichen Vernunft zu ermöglichen. Daher m u ß t e der Kerngedanke Lulls auch eine neue, nicht nur „christlichen", sondern auch „jüdischen, muslimischen und heidnischen" Denkern zugängliche „Philosophie der Liebe" enthalten (Arbre de filosofia d'amor, p. 4: O R L 18,133), in der Wissen und Wollen gleichrangig sein sollten und die Menschen ebenso „zu lieben wüßten, wie sie zu erkennen wissen" ( a . a . O . prol.: 70; p. 8: 225). Die höchste Erfüllung fand diese „Philosophie der Liebe" in der mystischen Einigung, in der der liebende Mensch und der geliebte G o t t nicht mehr voneinander getrennt werden können ( a . a . O . p. 8: 210). 4.
Nachwirkungen
Die zentrale Intuition und das gigantische Werk Lulls riefen dort, wo er wirklich verstanden wurde, im Lauf der J a h r h u n d e r t e Wellen der Bewunderung und Verehrung hervor. Aber der geniale Laiendenker, der oft einsame Wege ging, wurde auch Ziel scharfer Angriffe, besonders wegen seines Bemühens, die Glaubensmysterien dem vernünftigen Denken der Menschheit auch unabhängig von der biblischen bezeugten Wortoffenbarung einsichtig zu machen. Den A n f ä n g e n der Lull-Rezeption in Paris ( T h o m a s le Myesier) u n d Valencia folgten die ersten A t t a c k e n , die die antilullistischen Bewegungen j a h r h u n d e r t e lang bestimmten: Der k a t a l a n i s c h e D o m i n i k a n e r N i c o l a u E y m e r i c h , G e n e r a l i n q u i s i t o r von A r a g o n , Valencia und M a l l o r c a , zählte 1376 in seinem Directorium inquisitorum (pars II q . 9 u. q . 26) 100 falsche Sätze u n d 20 verbotene Bücher Lulls a u f , u n d auf sein D r ä n g e n hin erschien im selben J a h r eine viele Lehren Lulls v e r w e r f e n d e Bulle Papst G r e g o r s XI. Auch die T h e o l o g i s c h e F a k u l t ä t der Universität - » P a r i s verbot 1390 die A u f n a h m e Lullscher Lehren in d e n theologischen Unterricht, wahrscheinlich auf Betreiben J o h a n n e s - » G e r sons, der diese Lehren als p h a n t a s t i s c h , nutzlos u n d gefährlich bezeichnete ( M a d r e 82). Im 15. und 16. J h . w u c h s der Einfluß Lulls d e n n o c h e n o r m . P a p s t M a r t i n V. setzte 1419 in einer sententia definitiva die Verurteilung Lulls in d e r Bulle G e g o r s XI. a u ß e r K r a f t . In d e n lullianischen Schulen von Barcelona u n d M a l l o r c a w u r d e viel f ü r die Verbreitung seiner Lehren g e t a n . R a m o n Sibiuda ließ sich entscheidend von ihm a n r e g e n , als er 1434/36 seinen Liber creaturarum (auch Theologia naturalis g e n a n n t ) v e r f a ß t e , der 1569 von Michel - » M o n t a i g n e übersetzt u n d verteidigt w u r d e u n d die spätere E n t w i c k l u n g der n a t ü r l i c h e n T h e o l o g i e m i t b e s t i m m t e . - » N i k o l a u s von Kues öffnete sich d e m Ein-
Lullus
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fluß Lulls außerordentlich weit. Aber zu den Denkern, die ihn bewunderten und rezipierten, gehörten auch Giovanni -»Pico della Mirandola, Francisco -»Ximenes de Cisneros, Jacques Lefèvre d'Etaples (-»Faber Stapulensis), Charles de Bovelles, Heinrich Kornelius -»Agrippa von Nettesheim und Giordano -»Bruno. Im 17. und 18. Jh. gab es Weiterentwicklungen der Lullschen Ars durch Athanasius Kircher und der Kombinatorik durch Gottfried Wilhelm -»Leibniz, einen Lull-Enthusiasmus im Umkreis der monumentalen Mainzer Edition Ivo Salzingers, aber im Gefolge der Aufklärung auch neue Wellen des Antilullismus (Benito Jerónimo Feijóo) und einen darauf reagierenden mallorquinischen Lullismus (Jaime Custurer, Antonio Raimundo Pasqual). Die moderne, vorwiegend historisch-kritisch orientierte Beurteilung Lulls wurde durch Maximilien Littré und Barthélémy Hauréau (HLF 29 [1885]) eingeleitet und durch die Editionen der katalanischen (Palma de Mallorca) und lateinischen Werke (Freiburg i.Br.) und die dadurch angeregten Forschungen gefördert. Bibliographien Elies Rogent/Estanislau Duran, Bibliografía de les impressions lui.lianes, Barcelona 1927. - Rudolf Brummer, Bibliographia Lulliana. Ramon-Llull-Schrifttum 1870-1973, Hildesheim 1976. — Marcel Salleras i Corolà, Bibliografía lul.liana (1974-1985): Randa 19 (Barcelona 1986) 153-85. — Charles Lohr/Alois Madre, Raimundus Lullus u. der Lullismus: Contemporary Philosophy 6 (London 1990) 3 7 9 - 8 5 . - Laufende bibliographische Informationen: EstLul. Quellen Katalanische CA (unvollständig): Obres de Ramón Lull, hg.v. Mateo Obrador y Bennassar/Salvador Galmcs u.a., 21 Bde., Palma de Mallorca 1906-1950 ( = ORL); Forts.: Nova edició de les obres de Ramon Llull, bisher 1 Bd., Palma de Mallorca 1990. - Katalanische Teilausg.: Ramon Llull, Obres essencials, hg.v. Miguel Batllori, u.a., 2Bde., Barcelona 1957—1960. Lat. CA (unvollständig): Beati Raymundi Lulli doctoris illuminati et martyris Opera, hg.v. Ivo Salzinger, 8Bde. ( I - V I u . IX.X), Mainz 1721-1742 = F r a n k f u r t / M . 1965 ( = MOC). -Krit.lat. CA (unvollständig): Raimundi Lulli Opera latina, hg.v. Friedrich Stegmüller u.a., bisher 18Bde.: I - V , Palma de Mallorca 1959-1967; VI-XVIII: C C h r . C M 1978-1991 ( = ROL [ l . Z a h l : Nr. des Bdcs, 2. Zahl: Nr. des Werkes]). Anthologien: Ramon Llull, Obras literarias, hg. v. Miguel Batllori/Miguel Caldentey, 1948 (BAC 32) (span.). - Antología de Ramón Llull, hg.v. Miguel Batllori u.a., 2Bde, Madrid 1961 (span.). — Lulle. L'Arbre de Philosophie d'Amour . . . Choix de textes philosophiques et mystiques, hg.v. Louis Sala-Molins, Paris 1967 (franz.). - Ramon Llull, Obra escogida, hg.v. Miguel Batllori/Pere Gimferrer, Madrid 1981 (span.-katalanisch). - Ramon Llull, Die Kunst, sich in Gott zu verlieben, hg.v. Erika Lorenz, Freiburg i.Br. 1985. — Selected works of Ramon Llull, hg.v. Anthony Bonner, 2Bde., Princeton, N . J . 1985 (engl.; katalanisch: Obres sclcctes de R.L., Palma de Mallorca 1989). Lat.-dt. Einzelausg.: Raimundus Lullus, Die neue Logik. Lógica Nova, hg. v. Charles Lohr. Einf. v. Vittorio Hösle, 1985 (PhB 379). - Weitere Informationen über Einzelausg. u. Übers, in den Bibliogr. Literatur Miguel Batllori, Ramon Llull en el món del seu temps, Barcelona 1960. — Anthony Bonner/ Charles Lohr, Art. Raymond Lulle: DSp 13, fasc. 8 6 - 8 8 (1987) 171 - 1 8 7 . - Ders./Lola Badia, Ramon Llull, Barcelona 1988. - Tomás y Joaquín Carreras y Artau, Historia de la filosofía española. 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506
Lund,
Universität
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Helmut Riedlinger Lund,
Universität
1. Das Erzbistum Lund
1. Das Erzbistum
2. D i e Universität
3. Die T h e o l o g i s c h e Fakultät
(LiteraturS. 512)
Lund
Die Blütezeit Lunds beginnt mit der definitiven Loslósung der dänischen Kirche vom Erzbistum H a m b u r g - B r e m e n und der damit verbundenen E r h ö h u n g Lunds zum Erzbischofssitz im J a h r e 1103 (s. T R E 8 , 3 0 1 , 4 5 ff). Gleichzeitig begann die Arbeit am D o m zu Lund. N e b e n der Kathedrale wurden auf engstem R ä u m e mindestens noch 2 2 Kirchen und 7 Klöster errichtet. Durch diese g r o ß e Ansammlung von Klerikern, durch die D o m s c h u l e sowie späterhin das Studium praecipuum der Franziskaner wurde Lund zum Z e n t r u m der mittelalterlichen Kultur N o r d e u r o p a s . Die 1536 eingeführte R e f o r m a t i o n bedeutete das Ende dieser E p o c h e . Als S c h o n e n , H a l l a n d und Blekinge durch den Frieden von R o s k i l d e 1658 von D ä n e m a r k an Schweden abgetreten wurden, war Lund eine unbedeutende Kleinstadt, die wieder neues Leben und Auftrieb durch die G r ü n d u n g der Universität im J a h r e 1668 erhielt.
2. Die
Universität
Schon vor der Eroberung Schonens, Hallands und Blekinges im Jahre 1658 gab es Pläne für die Errichtung einer Universität im Süden Schwedens, die den geographischen Bedingungen dieses weitgestreckten und dünn besiedelten Landes Rechnung tragen sollte. Schon Carl X . Gustaf (1654-1660) hatte konkret an die Gründung einer Universität in Lund gedacht, wobei man bewußt an die Tradition der seit dem Ende des 11. Jh. existierenden Domschule von Lund, der ältesten Lehranstalt Nordeuropas überhaupt, und an das von Erzbischof Jacob Erlandsen 1256 errichtete Collegium mit gymnasialem Charakter anknüpfen wollte. Ein Vorschlag hierfür wurde vom Lundenser Bischof Peder Winstrup (1637—1679) ausgearbeitet, aber erst nach dem Tode Carl X . Gustafs verwirklicht. Am 28.1.1668, am Namenstag Carls, wurde dann die Academia Carolina Conciliatrix eingeweiht. Sie wird seitdem als die karolinische, im Gegensatz zur gustaphianischen Universität von -»Uppsala, bezeichnet. Die neugegründete Universität bestand aus vier Fakultäten: der theologischen mit vier, der juristischen mit zwei, der medizinischen mit zwei und schließlich der philosophischen mit acht Professuren. Den Intentionen ihrer Begründer nach sollte die Universität Lund einen kosmopolitischen Charakter tragen, um dadurch in der Lage zu sein, auch Hörer aus den umliegenden Ländern anzuziehen. Wenn man von der glänzenden Lehrtätigkeit ->Pufendorfs in den Jahren 1668-1676 absieht, kann man sagen, daß die Universität Lund ihre erste Blütezeit nicht vor 1730 erlebte, als die Wunden des großen Nordischen Krieges einigermaßen vernarbt waren. Zwischen der Periode einer strikten lutherischen Orthodoxie und der Aufklärungsepoche steht jener Mann, der für die schwedische Bildungstradition soviel bedeutete und gleichermaßen außerhalb Schwedens völlig unbekannt geblieben ist, Andreas Rydelius (1671-1738; 1710 Prof. der Logik und Metaphysik, 1730 Prof. der Theologie, 1734 Bischof von Lund).
Lund,
Universität
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E r s t als es in E u r o p a d u r c h d i e m ä c h t i g e n S t r ö m u n g e n d e s - » I d e a l i s m u s u n d d e r - » R o m a n t i k zu e i n e r r a d i k a l e n E r n e u e r u n g d e s K u l t u r k l i m a s k a m , w a r e n diese I m p u l s e s t a r k g e n u g , a u c h in S c h w e d e n e i n e n e u e E p o c h e e i n z u l e i t e n . D i e Z e i t z w i s c h e n 1 7 8 9 - 1 8 2 5 w i r d v o n d e n s c h w e d i s c h e n G e i s t e s g e s c h i c h t l e r n als e i n e G l a n z z e i t d e r L u n d e n s e r U n i v e r s i t ä t b e s c h r i e b e n , w o b e i s c h o n hier z u e r w ä h n e n ist, d a ß d i e s f ü r d i e t h e o l o gische Fakultät nicht zutrifft. Internationalen Ruf hat M a t t h i a s N o r b e r g (1747-1826), a b 1780 P r o f e s s o r f ü r o r i e n t a l i s c h e S p r a c h e n , d u r c h seine E n t d e c k u n g u n d H e r a u s g a b e d e r m a n d ä i s c h e n R e l i g i o n s u r k u n d e Codex Nazareus, Liber Adami appellatus, Syriace transcriptus latineque redditus / - / / / (1815) u n d d e s Codex Syriaco Hexaplaris AmbrosianoMediolanensis editus et latine versus (1787) g e w o n n e n . Das Studium der griechischen Sprache und Literatur stand in Lund lange im Schatten der orientalischen Sprachen. Dies änderte sich erst durch die gezielte Berufungspolitik von Lars v. Engström (1751-1826), dem es als Universitätskanzler (1810-1824) gelang, den Dichter Esaias Tegner durch die Errichtung eines eigenen Lehrstuhls für griechische Sprache und Literatur an die Universität Lund zu binden. Tegner (1799-1846), der in der schwedischen Literatur den gleichen Stellenwert einnimmt wie z.B. Goethe innerhalb des deutschen Sprachraumes, unterrichtete von 1812-1824 an der Universität Lund, ehe er Bischof der Diözese Växjö wurde. Seine im strengeren Sinne akademische Tätigkeit ist immer im Schatten seiner Dichtung geblieben, aber es war eigentlich erst Tegner, der durch seinen Unterricht der griechischen Sprache einen bleibenden Platz an der Universität Lund sicherte. Gegenüber den zeitgenössischen Versuchen, das konkrete Glaubenslebcn durch eine zu große Abhängigkeit von der Philosophie, aber auch von den christlichen Dogmen einzuengen, kommt es Tegner darauf an, die Philosophie vornehmlich als kritisches Moment mit einzubeziehen. Die Kritik sorgt d a f ü r , allgemeine, erstarrte Begriffe und Dogmen auszuscheiden, die keine Verankerung in der religiösen Erfahrung haben. Dies führt nicht nur zu einem neuen Verständnis für andere Religionen, sondern läßt auch die Persönlichkeit Jesu lebendig werden, die den Mittelpunkt seiner Versöhnungslehre bildet. Die andere überragende Persönlichkeit an der Lundenser Universität jener Zeit war Carl Adolph Agardh (1785-1859), von 1812-18.35 Professor der Botanik und praktischen Ökonomie, dann Bischof der Diözese Carlstadt (Wärmland). Ähnlich wie Tegner hatte er zur protestantischen Bekenntnisgrundlage ein gebrochenes Verhältnis; er wollte von den Bekenntnisschriften eigentlich nur das Augsburger Bekenntnis gelten lassen. Die Lehren der Schwedischen Kirche hingegen drückten sich in den zeitgenössischen Dokumenten des schwedischen Frömmigkeitslebens aus. Dies sind die Agende von 1811, das schwedische Gesangbuch von 1819 sowie der Lindblomsche Katechismus in der Bearbeitung durch den späteren Erzbischof Wallin aus dem Jahre 1835 (Samlade skrifter I, 1863, 79). Im Hinblick auf die Bekenntnisschriften kam Agardh zu dem Schluß, daß die Schwedische Kirche nicht evangelisch-lutherisch, sondern evangelisch-melanchthonisch sei. Agardh stand Person und Lehre Luthers mit großer Fremdheit gegenüber, und vor allem dessen Werk De servo arbitrio führt in Agardhs Augen zum -»Quietismus. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, daß er den streng lutherischen Begründer der westschwcdischen Erweckungsbewegung Henric Schartau (1757-1825) einer zwar mitunter treffenden, aber aufs Ganze gesehen doch ungerechten Kritik unterzieht (Samlade skrifter I, 1863, 1 - 6 9 ) . Im Hinblick auf das Verhältnis der theologischen Fakultäten zur Kirche plädierte Agardh für eine uneingeschränkte kritische Freiheit der theologischen Forschung gegenüber der Kirche, und man ist deshalb geneigt, in ihm einen der Vorläufer der gegenwärtigen religionswissenschaftlichen Ausbildung sehen zu wollen. In d e n e r s t e n 2 0 0 J a h r e n d e r U n i v e r s i t ä t s g e s c h i c h t e 1 6 6 8 - 1 8 6 7 s t u d i e r t e n i n s g e s a m t 1 9 1 8 1 S t u d e n t e n in L u n d , bis 1730 u n g e f ä h r 5 0 - 1 0 0 N e u i m m a t r i k u l i e r t e p r o J a h r , d a n a c h e t w a 7 0 - 1 5 0 ( W e i b u l l / T e g n e r II, 1868, 4 8 4 - 4 8 8 ) . In d e n f o l g e n d e n 100 J a h r e n , v o n 1 8 6 6 - 1 9 6 5 , stieg d i e Z a h l a u f 4 8 4 8 1 S t u d e n t e n ( N e u i m m a t r i k u l i e r t e p r o J a h r : 3 5 0 S t u d e n t e n 1 8 6 5 / 6 6 , 1300 1 9 1 5 / 1 6 , 2 5 0 0 1 9 3 5 / 3 6 , 4 0 0 0 1 9 5 5 / 5 6 , 1 1 0 0 0 1 9 6 5 / 6 6 , 2 2 0 0 0 1987). In d e n letzten J a h r e n h a t sich d i e U n i v e r s i t ä t L u n d z u r Södra högskoleregioti (Südliche H o c h s c h u l r e g i o n ) e r w e i t e r t , ein K o n g l o m e r a t , d a s a u s s o d i s p a r a t e n L e h r a n s t a l t e n w i e der Zahnärztlichen Hochschule M a l m ö , der Musik- und Schauspielschule M a l m ö , den Hochschulen von Kristianstad, Halmstad, Kalmar und Växjö sowie anderen Lehrans t a l t e n in S ü d s c h w e d e n b e s t e h t u n d d a m i t zu e i n e r d e r g r ö ß t e n H o c h s c h u l e n N o r d e u r o p a s g e w o r d e n ist. O b d i e s e a d m i n i s t r a t i v e K o n z e n t r a t i o n sich a u c h p o s i t i v a u f L e h r e u n d Forschung auswirken wird, m u ß die Z u k u n f t erweisen.
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Lund, Theologische
Universität
Fakultät
Die Konstitutionen der Lundenser Universität von 1666 weisen der Theologischen Fakultät vier Lehrstühle zu. Der erste Professor, gleichzeitig Hauptpastor und Domdechant von Lund, war Professor der neutestamentlichen Exegese. Der zweite Professor sollte die Geschichtsbücher des alttestamentlichen Kanons interpretieren. Der dritte Professor sollte den Unterricht auf die anderen kanonischen Bücher, besonders die Psalmen und die Kleinen Propheten konzentrieren. Merkwürdig ist, daß erst der vierte und letzte Professor die Dogmatik im engeren Sinne vertrat. Ihr Inhaber sollte vornehmlich über die loci theologici und die Bekenntnisschriften lesen. Innerhalb seines Gebietes lag auch die Kontroverstheologie, d. h. die Verteidigung der lutherischen Orthodoxie gegen die neuen Strömungen von Pietismus und Synkretismus. Diese relativ bescheidene Stellung der Dogmatik erklärt sich zum Teil daraus, daß die Fächer Logik und Metaphysik an der Philosophischen Fakultät unterrichtet wurden. D i e T h e o l o g i s c h e F a k u l t ä t w a r die erste F a k u l t ä t . Dies d r ü c k t e sich schon durch ihre materielle A b s i c h e r u n g aus, denn ihre Professuren wurden von den besten Pfründen getragen. Dies führte dazu, d a ß auch L e h r e r anderer F a k u l t ä t e n einen theologischen Lehrstuhl a n s t r e b t e n , w o b e i nicht i m m e r die S o r g e um die reine L e h r e im M i t t e l p u n k t ihres Strebens stand. H i n z u k a m , d a ß die B e f ö r d e r u n g o f t m a l s a u f G r u n d des Anciennitätsprinzips g e s c h a h , ein U m s t a n d , der die T h e o l o g i s c h e F a k u l t ä t mitunter in S c h w i e rigkeiten b r a c h t e . D e r G r o ß t e i l des L e h r k ö r p e r s bewegte sich im R a h m e n der strengen O r t h o d o x i e . E r zeichnete sich nicht durch besondere t h e o l o g i s c h e O r i g i n a l i t ä t aus. Besonderes Interesse e r w e c k t e neben einer massiven a n t i k a t h o l i s c h e n und anticalvinistischen P o l e m i k das P r o b l e m des testimonium Spiritus Sancti. D u r c h eine k l a r e F o r m u l i e r u n g des lutherischen Schriftprinzips versuchte man die O r t h o d o x i e gegenüber den synkretistischcn und vor allem den pietistischen S t r ö m u n g e n zu s t ä r k e n ; dabei k o n n t e m a n fest mit der Unterstützung der k a r o l i n i s c h e n Regierungsgewalt rechnen, in deren politischem Interesse k o n f e s sionelle U n i f o r m i t ä t lag. Kämpften orthodoxe Theologen wie Josua Schwartz (1632 — 1709) und andere wohl mehr gegen vermeintliche als gegen wirkliche Feinde, so änderte sich dieses Bild in der ersten Hälfte des 18. Jh. nachhaltig. Drei Strömungen erregten hierbei besonders die Unruhe der Lundenser Fakultät: der Pietismus, der Hcrrnhutismus und die Aufklärung. Der Pietismus hatte bereits um 1720 in Schweden Fuß gefaßt (Pleijel, Herrnhutismen 5 ff) und durch die spektakuläre Reise Dippels im Jahre 1726 eine radikale Wendung genommen. Zwei Jahrzehnte später erreichte der Herrnhutismus Schweden, und auch die Aufklärungsphilosophie begann sich mehr und mehr in den großen Städten und an den Universitäten zu verbreiten. Wie kein anderer Name ist in Schweden der Name Benzelius mit der lutherischen -»Orthodoxie verbunden. Aus einfachen Verhältnissen aus dem nördlichsten Schweden stammend, stellte diese Familie innerhalb zweier Generationen nicht weniger als vier Erzbischöfe, nämlich den Vater, Erik Benzelius den Älteren (1632-1709), sowie seine Söhne, die Brüder Erik Benzelius den Jüngeren (1675-1742), Jakob Benzelius (1683-1747) und Henrik Benzelius (1689-1758). Besonders Henrik Benzelius hat sich als kompromißloser Vertreter der lutherischen Orthodoxie hervorgetan. Nach einem abenteuerlichen Leben, das ihn auch zu Carl XII. nach Bender führte, wurde er 1728 Professor für orientalische Sprachen in Lund. Auf diesem Gebiet erlangte er rasch internationale Anerkennung, und einige seiner Schriften und Disputationen wurden in Deutschland gesammelt und neu gedruckt. 1732 wechselte er in die Theologische Fakultät über, wurde 1740 Bischof von Lund und schließlich als Nachfolger seines Bruders Jakob, Erzbischof von Schweden. Benzelius ist einer der letzten und reinsten Vertreter der karolinischen Frömmigkeit, die ihr reiches Innenleben hinter einer glasklaren Orthodoxie und einer spröden, unbeugsamen und geschlossenen Persönlichkeit verbergen. Dieser Menschentyp ist nicht nur der Schlüssel zum Verständnis der schwedischen Großmachtzeit des 17. Jh., sondern auch seiner Theologie, die in ihren konservativen Ausläufern bis in unser Jahrhundert hineinreicht. Mag auch ihre theologische Eigenständigkeit gegenüber der deutschen protestantischen Orthodoxie, was das theologische System angeht, äußerst begrenzt sein, so hat doch dieses Zeitalter in den theologischen Wissenschaften und in der Kirche starke Persönlichkeiten hervorgebracht, die sich von der Servilität vieler Theologen und Kirchenmänner der Aufklärung angenehm unterscheidet. Die orthodoxen Theologen um Benzelius setzten alles daran, die schwedische Einheitskirche theologisch und politisch zu verteidigen (Carl-E. Normann, Enhetskyrka och upplysningsideer. Studier i svensk religionspolitik vid 1700-talets mitt., 1963).
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Von theologischer Bedeutung sollte die Auseinandersetzung um die Abhandlung des Uppsalienser Magisters Petrus Kölmark an der Philosophischen Fakultät mit dem Titel Dubiola nonnulla rationis sibi relicti circa revelationem (1779) sein, die das grundlegende Problem aufgriff, inwieweit die menschliche Natur in der Lage ist, Kenntnisse vom Wesen und den Eigenschaften Gottes zu erlangen. Dabei kam er unter dem Einfluß der Philosophie Lockes zu dem Schluß, daß sich die natürliche Gotteserkenntnis nicht auf die Vernunft stützen könne, sondern allein auf die Tradition.
Obwohl bedeutende Theologen in Schweden auch heute noch an das positive Erbe der lutherischen Orthodoxie anknüpfen, überwiegt doch das durch Pietismus und Aufklärung geprägte negative Bild der lutherischen Orthodoxie, und Martin Weibulls Urteil über sie wird im heutigen Schweden von vielen geteilt: „Die schwedische Theologie hat niemals einen besonderen Eifer für die lebendige wissenschaftliche Entwicklung gezeigt. In ihrer Literatur ist es sogar schwer, die großen religiösen Strömungen innerhalb der übrigen protestantischen Kirchen zu finden. Während des gesamten 18. Jh. vertrat sie ungefähr immer den gleichen Standpunkt eines strengen Dogmatismus, wobei es nur darauf ankam, das einmal festgestellte System zu tradieren" (Weibull, I, 323).
Wie im Universitätsleben und in den übrigen Geisteswissenschaften so setzte im 19. Jh. innerhalb der theologischen Wissenschaften eine Blütezeit ein. Eine besondere Rolle kommt hierbei dem ersten Pastor am Dom zu Lund, Henric Schartau (1757-1825), zu. Obwohl niemals zum Lehrkörper der Theologischen Fakultät gehörend, hat er durch seine Predigten, aber noch mehr durch seine -»Katechismuspredigten und seinen Katechismusunterricht im Dom zu Lund und durch seine tiefgreifende Seelsorge einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt; er ist hier durchaus mit dem Baron Hans Ernst v. -»Kottwitz im zeitgenössischen Berlin vergleichbar. Sein theologisches System und besonders seine Auffassung vom -*ordo salutis ist einer der eigenständigsten Beiträge zur schwedischen Theologiegeschichte überhaupt. Grundlegend ist die von Jakob Carpov eingeführte Distinktion zwischen erworbener und angewandter Gnade: Gratia est vel adquirens vel adplicarts, wobei die durch Christus erworbene Gnade der gesamten Menschheit, die angewandte Gnade hingegen dem einzelnen Menschen zugutekommt. Hierauf baut Scharrau seine Lehre vom ordo salutis auf, die die bekannte orthodoxe Lehre vor allem durch die Einbeziehung der psychologischen Erfahrung ergänzt (Biblisk cateches, ed. L. Johannesson, 1955).
In jener Zeit ging man von Seiten des schwedischen Staates und der Universität daran, Ordnung in das Gestrüpp des theologischen Examenssystems zu bringen, denn im Grunde hatte damals die Theologische Fakultät mit der direkten Ausbildung der Pfarrerschaft nichts zu tun. Die notwendigen Grundbegriffe der Theologie konnte man an den Gymnasien erwerben, und das Examen legte man vor dem jeweiligen Domkapitel ab. Nachdem der Versuch einer praktisch-theologischen Ausbildung an einem Pastoralinstitut, Theologisches Seminar genannt (1809-1831), aufgrund der mangelnden Vorkenntnisse der Kandidaten mehr oder weniger gescheitert war, beschloß man am 17.9.1831, die gesamte, auch die praktische Ausbildung, an die Theologische Fakultät der Universität zu verlegen. Hinzu kam, daß die alte Ordnung, wonach mit der Beförderung vom vierten zum dritten Professor etc. das Fachgebiet gewechselt werden mußte, außer Kraft gesetzt wurde und die Ordinarien in der Regel bei ihrem Fach blieben. Eine der treibenden Kräfte dieser Veränderung war Martin Eric Ahlman (1773-1844), seit 1816 Professor. Ahlmans Nachfolger wurde Henrik Reuterdahl (1795-1870), seit 1844 Professor der Dogmatik, 1845 der Kirchengeschichte, 1855 Bischof von Lund und 1856 Erzbischof. Der Wendepunkt in Reuterdahls theologischer Vita war der Beginn der Herausgabe (zusammen mit Ahlman und Thomander) der Teologisk Quartalskrift (1828 ff), wodurch Reuterdahl die Phase der philologischen Spezialarbeiten im Fach Orientalistik hinter sich ließ und sich als erster schwedischer Fachtheologe dem Werke -»Schleiermachers zuwandte, der ihn 1833 auch persönlich in Lund aufsuchte (Memoarer l l l f ) . Den Höhepunkt des Einflusses Schleiermachers auf Reuterdahl bildet seine lnledning tili teologieti von 1837, die ein Seitenstück zur Schleiermacherschen Enzyklopädie Kurze Darstellung des theologischen Studiums (21830) darstellt. Neben der Pointierung der Selbständigkeit der Religion, des Christozentrismus und jeglicher Gotteserfahrung, hebt Reuterdahl noch stärker als Schleiermacher den historischen Charakter der Religion hervor.
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Henrik Thomander (1798-1865), seit 1845 Professor für Dogmatik und Moraltheologie, 1856 Bischof von Lund, ist in fast allen Punkten der Gegenpol Reuterdahls. Neue Wege ging er als Herausgeber und vor allem Rezensent homiletischer Literatur in der Teologisk Qiiartalskrift in den Jahren 1 8 2 8 - 1 8 3 2 und 1836-1840, die er in den genannten Jahren zusammen mit Reuterdahl herausgab. Im Gegensatz zu Reuterdahl vertrat Thomander die Auffassung, daß die Schwedische Kirche gezwungen sei, aus den großen gesellschaftspolitischen Veränderungen, wie z. B. der beginnenden -»Industrialisierung, dem Sieg des -»Liberalismus und der -»Erweckungsbewegung, Konsequenzen zu ziehen. Er stand hierbei im liberalen Lager. Mit dem Weggang Reuterdahls und Thomanders von der Fakultät vollzog sich ein einschneidender Wechsel. Beide waren noch im 18. Jh. geboren und hatten den Kampf zwischen -»Rationalismus und Erweckungsbewegung noch selbst miterlebt. Die neue Generation hatte hingegen ihre Wurzeln in einem durch die innerkirchliche Erweckungsbewegung vertieften Luthertum, sowie in der Philosophie des deutschen -»Idealismus, in Lund vornehmlich der Philosophie Hegels. Die geschichtliche Konstellation e r g a b , d a ß die Lundenser F a k u l t ä t in jener Z e i t von einer einzigartigen H o m o g e n i t ä t w a r . E b b e G u s t a f Bring ( 1 8 1 4 - 1 8 8 4 ) , seit 1848 P r o f e s sor der P a s t o r a l t h e o l o g i e , 1861 B i s c h o f in L i n k ö p i n g , W i l h e l m Flensburg ( 1 8 1 9 - 1 8 9 7 ) , seit 1858 Professor der D o g m a t i k , 1 8 6 5 B i s c h o f in L u n d , s o w i e A n t o n N i k l a s S u n d b e r g ( 1 8 1 8 - 1 9 0 0 ) , 1852 Professor der K i r c h e n g e s c h i c h t e , 1864 B i s c h o f in C a r l s t a d / W ä r m l a n d und 1 8 7 0 als N a c h f o l g e r R e u t e r d a h l s E r z b i s c h o f , bildeten den S t a m m jener F a k u l t ä t , die später den N a m e n „ G r o ß e L u n d e n s e r F a k u l t ä t " erhielt. Dieses E p i t h e t o n zielt nicht in erster Linie auf ihre theologische O r i g i n a l i t ä t a b , sondern b e s c h r e i b t vielmehr die D u r c h schlagskraft ihrer Ideen und P r o g r a m m e in der damaligen S c h w e d i s c h e n K i r c h c , wie sie nur von starken Persönlichkeiten getragen werden k o n n t e . D a s H a u p t o r g a n ihrer T h e o logie w a r die von ihnen g e m e i n s a m herausgegebene Z e i t s c h r i f t Swensk Kyrkotidning ( 1 8 5 5 - 1 8 6 3 ) . D a in ihr alle Artikel unsigniert sind, k a n n man d a v o n ausgehen, d a ß sie in den Grundzügen eine g e m e i n s a m e T h e o l o g i e h a t t e n . Die Kirchenzeitung vertrat ausgesprochen konservative Ideen. D e s h a l b b e t o n t e sie das G e m e i n s c h a f t s b e w u ß t s e i n gegenüber dem liberalen Individualismus. T h e o l o g i s c h wichtig für sie war in erster Linie das d o g m a t i s c h e D e n k e n des dänischen T h e o l o g e n H a n s Lassen M a r t e n s e n , vor allem dessen Christliche Dogmatik (1849), sowie T h e o d o r —»Klicfoths 1 8 5 4 erschienene Schrift Acht Bücher von der Kirche. 3.1. Die Exegetische Theologie ist seit 1902 unterteilt in neutestamentliche und alttestamentliche Exegese. Der erste Inhaber einer Professur im Fach für neutestamentlichcn Exegese ist Erik Aurelius (1874-1935; zwischen 1912-1927), später Bischof in Linköping; er konzentrierte seine Forschungen auf die Einbeziehung der Grenzwissenschaften wie z.B. der Religionsgeschichte und der Palästinaforschung in die Textanalyse. Sein Nachfolger Erling Eidem (1880-1972), der spätere Erzbischof von Schweden (1931-1950), hatte diese Professur nur drei Jahre lang (1928-1931) inne. Er hat sich in jener Zeit den Ruf erworben, ein Paulusspezialist zu sein. Ein zweifellos interessanter Denker war Hugo Odeberg (1898-1973), von 1 9 3 3 - 1 9 6 4 Professor für neutestamentliche Exegese. Odeberg betont aufs neue den wichtigen Platz, den das Mysterium in der Bibel einnimmt (The Hebrew Book ofEnoch, 1928) und galt als einer der besten Kenner der -»Kabbala. Sic ist für ihn auch ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des Neuen Testaments. Neben seiner akademischen Tätigkeit gründete Odeberg 1943 die Gemeinschaft Erevna, die biblische Studien im erbaulichen Stile pflegte, wie man denn auch Odeberg als einen der letzten Vertreter einer theologia regenitorum in Lund bezeichnen kann. Gegen diese Sicht wendet sich der jetzige Ordinarius Birger Gerhardsson (geb. 1926), seit 1965 Professor für Neues Testament, indem er eine klare Unterscheidung zwischen profanwissenschaftlicher Grundforschung und synthetischer, theologischer Arbeit vornimmt. Der Deutung des Neuen Testaments legt Gerhardsson Lehren und Methoden der altjüdischen Tradition, nicht zuletzt die rabbinische Deutung des Schema' unter. Hierbei kommt er zu dem Schluß, daß die Evangeliumstradition ein ursprüngliches Zentrum hat und daß die Frage nach dem für Jesus Spezifischen sowie die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Verkündigung des Urchristentums und Jesu eigener Verkündigung vor diesem Hintergrund neu gestellt werden müssen (The Gospel Tradition, 1986). 3.2. Altes Testament. Der erste Vertreter eines speziellen Lehrstuhls für alttestamentliche Exegese Sven Herner (1865-1949), der diese Professur in den Jahren 1 9 0 2 - 1 9 3 0 innehatte, ist in der schwedischen Theologiegeschichte weniger als exegetischer Spezialist denn als Vorkämpfer des Rechts der historisch-kritischen Forschung bekannt. Hemer, der in seiner eigenen Forschung starke Impulse von -»Wellhausen und -»Gunkel empfangen hatte, versuchte, deren Geschichtsauffassung auch in Schweden zur wissenschaftlichen Anerkennung zu führen, stieß aber auf Widerstand von
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Seiten konservativer Kreise. Die beste Garantie für eine freie Forschung innerhalb der Theologie war f ü r ihn das Staatskirchensystem und die Erhaltung staatlicher Fakultäten. Deshalb wandte er sich gegen die Gründung einer konfessionell gebundenen Theologischen Fakultät nach norwegischem Muster. Sein Nachfolger Johannes Lindblom (1882-1974), der den Lehrstuhl in den Jahren 1930-1946 innehatte, wirkte aktiv beim Zustandekommen der Bibelübersetzung von 1917 mit. In seinem Sinne setzte Gillis Gerlemann (geb. 1912), Lehrstuhlinhaber von 1949-1978, die exegetische Arbeit fort. Er ist besonders durch seine Kommentare Ruth, Das Hohelied (1963) und seine Studien zum Estherbuch bekannt geworden. 3.3. Kirchengeschichte. Der Nachfolger Carl Olbers (1819-1892), der den kirchengeschichtlichen Lehrstuhl in den Jahren 1865-1892 innehatte und die Tradition der „Großen Fakultät" weiterführte, wurde 1894 Otto Ahnfeit (1854-1910), der diese Professur 1908 mit dem Bischofsstuhl von Linköping vertauschte. H j a m a r Holmquist (1873-1945), Professor der Kirchengeschichte und Symbolik (1909-1938), hat ein umfassendes Werk hinterlassen, darunter Ubersichtsarbeiten wie sein Lehrbuch der Allgemeinen Kirchengeschichte I—III (1922-1927) sowie die Bände III (1933) und IV (1938) der schwedischen Kirchengeschichte. Das Werk Hilding Pleijels (geb. 1893), von 1938-1960 Inhaber des Lehrstuhls, ist nachhaltig von der Forschungsgemeinschaft mit den führenden Vertretern der sogenannten Lundenser Theologie geprägt. Der Schwerpunkt der Forschung Carl-Edvard Norrmanns (geb. 1912), Professor der Kirchengeschichte 1960-1978, liegt auf der Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Kirche im Schweden des 18. Jh. 3.4. Praktische Theologie. Für das Fach Praktische Theologie war lange Zeit die oben beschriebene Fakultätsreform von 1831 von großem Gewicht. Gottfried Billing (1841-1925), Professor für Praktische Theologie 1881-1884,1884 Bischof von Västeras, 1898 Bischof von Lund, hat durch die G r o ß e Fakultät seine bleibende Prägung erhalten. Sein Hauptinteresse galt jedoch weniger der wissenschaftlichen Theologie als der Politik, den Schulfragen und vor allem dem praktischen kirchlichen Leben. Die für Schweden charakteristische Orientierung der Praktischen Theologie zu einer historischen Disziplin hin begann mit Edvard Rodhe (1878-1954), Professor 1919, Bischof von Lund 1925, der zahlreiche Studien zur Kirchen- und Geistesgeschichte Schwedens verfaßte. Der spätere Erzbischof Yngve -»Brilioth hatte diesen Lehrstuhl in den Jahren 1928—1937 inne. Seit 1982 ist das Fach Praktische Theologie offiziell in Kirchen- und Gemeinschaftswissenschaft umbenannt worden. Seine Aufgabe ist es, u.a. das praktische Leben der Kirchen und Gemeinschaften in Geschichte und Gegenwart zu untersuchen. Der jetzige Lehrstuhlinhaber Lars Eckerdal (geb. 1938) ist durch zahlreiche liturgiegeschichtliche Untersuchungen hervorgetreten und war federführend an dem Zustandekommen der Agende der Schwedischen Kirche von 1986 beteiligt. 3.5. Systematische Theologie (seit 1900 unterteilt in Dogmatik und Ethik [Moraltheologie und Symbolik]). Die überragende Gestalt an der Theologischen Fakultät um 1900 war Pehr Gustaf Eklund (1846-1911), in den Jahren 1890-1911 Professor f ü r Dogmatik und Moraltheologie. In seinem Hauptwerk Evangelisk Fadervarsdyrkan (1904-1905) versucht Eklund eine Verbindung zwischen der subjektiven Erfahrungstheologie Schleiermachers und der überlieferten lutherischen Dogmatik, als deren wichtigstes Zeugnis er Luthers Kleinen Katechismus ansieht.
Eine Glanzzeit der Lundenser Fakultät begann mit der Berufung Gustaf -»Aulens, Anders -»Nygrens und Ragnar Brings (geb. 1895, Professor für Systematische Theologie 1934-1962). Theologisch gesehen, verdient eigentlich diese Epoche den Ehrennamen einer „Großen Fakultät". Da die Theologie Aulens und Nygrens in Spezialartikeln behandelt wird, sollen hier nur einige Worte zum Motivforschungsprogramm und zu seinen Auswirkungen auf die schwedische Theologie gesagt werden (s. auch TRE 9,81-83). Die Wurzeln der Motivforschung finden sich in der Diskussion um den Begriff des religiösen Apriori. In der Auseinandersetzung mit -»Troeltsch kam Nygren zu dem Schluß, daß die Ewigkeitskategorie die transzendentale Grundkategorie der Religion ist. Obwohl sie damit auch zur Grundkategorie aller menschlichen Kultur wird, kann man hier nicht von einer Vermengung von Kultur und Religion sprechen, denn die transzendentale Deduktion hat ja den Charakter einer logischen Voraussetzungsanalyse, was bedeutet, d a ß die Ewigkeitskategorie eine rein formale Kategorie ist. Z u beweisen, daß die Religion eine notwendige und allgemeingültige Erfahrungsform ist, dies war die Aufgabe der Religionsphilosophie, die Aufgabe der Theologie ist es, das Christentum als eine historisch gewachsene Realisierung der allgemeinen Religionskategorie zu beschreiben. Die Systematische Theologie ist also keine normative, sondern eine deskriptive Wissenschaft, was bedeutet, daß Dogmatik im klassischen Sinne nicht mehr möglich ist. Sie wird deshalb durch die theologie- und ideengeschichtliche Forschung ersetzt. Dies gab unter anderem den Anstoß zur international bekannten schwedischen Lutherforschung (-»Luther III). Der Professor (1969-1986) für christliche Ideengeschichte, Bengt Hägglund (geb. 1920), hat sich durch zahlreiche auch in internationale Sprachen übersetzte Standardwerke wie: Geschichte der
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Universität
Theologie. Ein Abriß (1983) und Spezialuntersuchungen als Kenner der lutherischen Orthodoxie ausgewiesen. Daneben ist er bemüht, die bleibenden Strukturen der lutherischen Tradition in die Wissenschaftssprache der Gegenwart zu übersetzen. Seit 1949 gibt es in Lund eine eigene Professur für Religionsphilosophie. 3.6. Theologische Enzyklopädie - seit 1949 Religionsgeschichte und Religionspsychologie. Die Geschichte dieses Faches ist in Lund eng mit dem sogenannten Segerstedtschen Streit verbunden. Torgny Segerstedt (1876-1945), der Hauptkandidat bei der Berufung auf den neueingerichteten Lehrstuhl, hatte in einer Rezension hervorgehoben, daß das Wissen um den historischen Jesus kaum ausreiche, um das Fundament des neuprotestantischen Glaubens bilden zu können. Daneben vertrat er eine strikte Unterscheidung zwischen einer voraussetzungslosen wissenschaftlich arbeitenden historischen Theologie und der kirchlichen Dogmatik. Edvard Lehmann (1862-1930) wurde 1913 auf den neueingerichteten entsprechenden Lehrstuhl berufen. Neben seinem wissenschaftlich wohl bedeutendsten Werk Zarathustra. En Bog om Persernes gamle Tro ¡/II (1899-1902) erzielte er durch glänzend geschriebene Monographien Buddha (1907) und Ubersichtsarbeiten wie die vierte Auflage des Lehrbuchs für Religionsgeschichte, begründet von Chantepie de la Saussaye (1924-1925), eine Breitenwirkung, die nur wenigen Wissenschaftlern vergönnt ist. Sein Nachfolger Efraim Briem (1890-1946) begann mit Spezialstudien zur babylonischen Religionsgeschichte, um sich später der Religionspsychologie und den großen Zeitfragen zuzuwenden (Antisemitismen genom tiderna [1940]). Mit der Berufung Erland Ehmarks (1903-1966) im Jahre 1949 erhielt die Professur offiziell die Bezeichnung Religionsgeschichte und Religionspsychologie. 3.7. Verhaltensforschung: Religionspsychologie und Religionssoziologie. Seit der akademischen Lehrtätigkeit -»Söderbloms und Lehmanns hat die Religionspsychologie in Schweden einen unangefochtenen Status, der hier niemals von einer radikalen Dialektischen Theologie in Frage gestellt wurde. In der Praxis existiert das Fach Religionspsychologie seit 1976; seit 1978 gibt es eine eigenständige Professur im Fach Religionssoziologie. Religionsgeschichte, Religionspsychologie und Religionssoziologie sind in Schweden obligatorische Teile des theologischen Diplomexamens. Betrachtet man die Geschichte der Theologischen Fakultät in Lund seit der Jahrhundertwende, dann ist sie von einer zunehmenden Auflösung des Bandes zwischen Theologischer Fakultät und Schwedischer Kirche geprägt. Dies betrifft nicht nur den organisatorischen Rahmen sowie das sukzessive Verschwinden der kirchlichen Pfründe als Garantien der I'rofessorengehälter, die Auflösung der Personalunion zwischen der Domdechantur und der ersten theologischen Professur respektive der Professur für Praktische Theologie, sowie schließlich die Abschaffung des Prokanzleramtes des Lundenser Bischofs im Jahre 1934, sondern im gleichen Maße das wissenschaftliche Selbstverständnis der Theologie. Die staatliche Direktive von 1967 schreibt fest, „daß es die Aufgabe der Theologischen Fakultät ist, auf rein wissenschaftlicher Basis Forschung und Ausbildung innerhalb des religionswissenschaftlichen Gebietes zu betreiben." Das prinzipielle Ziel der Ausbildung ist also nicht mehr die Ausbildung der Pfarrerschaft der Schwedischen Kirche, sondern der Versuch, den Studierenden Analyseinstrumente zu geben, die sie in Stand setzen, die Rolle der Religion und anderer Lebcnsanschauungen in der Gesellschaft zu verstehen; was konkret auch bedeutet, daß die Anstellung als theologischer Lehrer prinzipiell jedem offensteht und nur von seiner wissenschaftlichen Qualifikation abhängig ist. Aber auch nach dieser scheinbar eindeutigen Festlegung geht die Auseinandersetzung um das wissenschaftliche Selbstverständnis der Theologie unvermindert weiter, eine Auseinandersetzung, die in weiten Teilen die Triebkraft ihrer wissenschaftlichen Entwicklung überhaupt ist. Literatur Arsberättelse, Lunds universitets, Lund 1867-1951. - Arsberättelse, Kungl. Humanistika Vetenskampssamfundet i Lund. Minnesord över bortgängna ledamöter, Lund 1957-1983. - Ärkebiskop Henrik Reuterdahls memoarer, hg. v. Lauritz Weibull, Lund 1920. - P.G. 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Luther
513
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Aleksander Radier Luther, Martin
(1483-1546)
I. Leben II. Theologie III. Wirkungsgeschichte
. .
514 530 567
514
Luther I
I. L e b e n 1. Jugend (1483-1505) 2. Mönch, Priester und Theologe (1505-1511) 3. Professor in Wittenberg (1512-1517/1518) 4. Der Ablaßstreit und die reformatorische Wende (1517/1518) 5. Römischer Prozeß, reformatorisches Programm, Bann und Acht (1518-1521) 6. Wartburgzeit und Bewältigung der Wittenberger Unruhen (1521/1522) 7. Die Auseinandersetzung mit den Bauern, Erasmus und den Sakramentsgegnern 8. Heirat, Familie, Haus und persönliche Umstände 9. Kirchenordnung 10. Wirkungsbereiche 11. Religionskrieg und -frieden, Konzil und Papst 12. Tod und Nachhall (Ausgaben/Bibliographien/Zeitschriften/Forschungsberichte/Literatur S. 524)
1. Jugend
(1483-1505)
L u t h e r wurde a m 10. N o v e m b e r 1 4 8 3 (schwerlich 1 4 8 4 , gegen Staats) in Eisleben in der d a m a l i g e n G r a f s c h a f t M a n s f e l d g e b o r e n und erhielt bei seiner T a u f e a m folgenden T a g den N a m e n des Tagesheiligen M a r t i n . Sein Vater, H a n s L u d e r - der F a m i l i e n n a m e ist w o h l von L o t h a r herzuleiten —, w a r ein nicht e r b b e r e c h t i g t e r B a u e r n s o h n aus dem D o r f M ö h r a , südlich von E i s e n a c h . D i e M u t t e r M a r g a r e t e , geb. L i n d e m a n n , s t a m m t e aus einer E i s e n a c h e r F a m i l i e . H a n s Luder suchte sein F o r t k o m m e n im d a m a l s aufblühenden m a n s feldischen K u p f e r b e r g b a u . 1484 siedelte er von Eisleben in das kleine T a l - M a n s f e l d ü b e r , w o er es als H ü t t e n m e i s t e r zur Pacht mehrerer H ü t t e n f e u e r b r a c h t e . Wegen des ertragsund m a r k t a b h ä n g i g e n Kupferbergbaus w a r seine V e r m ö g e n s l a g e s c h w a n k e n d , w a s jed o c h seine gesellschaftliche Stellung unter den H ü t t e n m e i s t e r n nicht beeinträchtigte. Entgegen seiner eigenen Aussage w a r L u t h e r also nicht direkt bäuerlicher, sondern bürgerlich-landstädtischer H e r k u n f t . In der g r o ß e n F a m i l i e (wohl insgesamt 9 Kinder) ging es s p a r s a m zu. D i e Religiosität scheint, einschließlich gelegentlicher k i r c h e n k r i t i s c h e r T ö n e , durchschnittlich gewesen zu sein. D i e Erziehung w a r , wie d a m a l s üblich, streng. D i e spärlichen Quellen lassen j e d o c h nicht den S c h l u ß zu, der sensible L u t h e r sei als Kind durch die H ä r t e seines Vaters und die Schwerlebigkeit seiner M u t t e r psychisch erheblich belastet w o r d e n . D a s Verhältnis zu den Eltern stellte sich ihm später überwiegend als positiv und erfreulich dar (gegen Erikson). L u t h e r besuchte vermutlich seit 1 4 9 0 / 9 1 die Trivialschule in M a n s f e l d , 1 4 9 7 wie andere M a n s f e l d e r für ein J a h r die D o m s c h u l e in M a g d e b u r g , w o er bei den - » B r ü d e r n v o m g e m e i n s a m e n L e b e n w o h n t e , und von 1498 — 1 5 0 1 , wahrscheinlich wegen der verw a n d t s c h a f t l i c h e n Beziehungen, die Pfarrschule St. G e o r g in E i s e n a c h . L u t h e r hat später die Strenge der spätmittelalterlichen Schulen kritisiert. Er verdankte ihr jedoch die solide B e h e r r s c h u n g der lateinischen Sprache und die L i e b e zur lateinischen Dichtung. N i c h t zu unterschätzende religiöse Erfahrungen erhielt er vor allem durch die kirchlich aktive F a m i l i e S c h a l b e - C o t t a , bei der er in E i s e n a c h (aber nicht im heutigen „ L u t h e r h a u s " ) w o h n t e , und durch den dortigen f r o m m e n Schülerkreis um den Priester J o h a n n e s B r a u n , dessen seelsorgerlicher Ernst Luther nicht u n b e e i n d r u c k t ließ. 1501 bezog L u t h e r die Universität - » E r f u r t . D a s L e b e n in der Burse ( H i m m e l s p f o r t e o d e r G e o r g e n b u r s e ) w a r fast klösterlich streng geregelt. D e r a k a d e m i s c h e Unterricht in E r f u r t w a r durch den - » N o m i n a l i s m u s und seinen - » A r i s t o t e l i s m u s b e s t i m m t . In den zunächst zu absolvierenden - » A r t e s liberales h a t t e L u t h e r m i t J o d o c u s T r u t f e t t e r und B a r t h o l o m ä u s Arnoldi von Usingen zwei b e a c h t l i c h e L e h r e r . Von ihnen empfing er die Wertschätzung für saubere Begriffsbildung und k o r r e k t e Schlußfolgerungen, dazu die Kenntnis der M o r a l p h i l o s o p h i e . I m S e p t e m b e r 1 5 0 2 w u r d e er zum B a c c a l a u r e u s und im J a n u a r 1 5 0 5 als Z w e i t b e s t e r zum M a g i s t e r a r t i u m p r o m o v i e r t . D e r d a m a l s in E r f u r t a u f k o m m e n d e - » H u m a n i s m u s blieb L u t h e r zwar nicht u n b e k a n n t , berührte ihn j e d o c h nur a m R a n d e .
2.Mönch,
Priester und Theologe
(1505-1511)
N a c h d e m M a g i s t e r i u m w a n d t e sich L u t h e r entsprechend d e m W i l l e n seines Vaters dem R e c h t s s t u d i u m zu. Einige Indizien weisen d a r a u f hin, d a ß der zuvor als fröhlich
Luther I
515
bezeichnete Student in eine Krise geraten war. Todesfurcht im Zusammenhang mit einer grassierenden Epidemie und Unbehagen am eingeschlagenen Studium bedrückten ihn. Auf der Rückreise von einem Besuch in Mansfeld geriet Luther am 2. Juni 1505 bei dem Dorf Stotternheim in ein Gewitter. Ein Blitzschlag in der Nähe veranlaßte ihn zu dem Gelübde: „Hilf du, S. Anna, ich will ein Mönch werden." Aus Sorge um sein Seelenheil hatte er sich wie einige seiner Bekannten entschlossen, Gott sein Leben ganz hinzugeben. Den schweren Konflikt darüber mit dem Vater nahm er in Kauf. Unter den Erfurter Klöstern entschied sich Luther für den blühenden Konvent der observanten -»Augustiner-Ereiniten. Während des Noviziats widmete er sich intensiver der Bibellektüre, nachdem er wohl 1505 erstmals auf eine Bibel gestoßen war. Mit dem monastischen Leben nahm es Luther sehr ernst und bemühte sich um korrekte Befolgung der Ordensregeln, konzentriertes Beten - er übte es lebenslang - , strenges Fasten, gewissenhafte Selbsterforschung und vollständiges Beichten mit echter Zerknirschung. Mit dieser Leistungsfrömmigkeit gelangte er jedoch zu keiner dauerhaften Heilsgewißheit. Es wird daran festzuhalten sein, daß aus diesem Scheitern die Krise von Luthers monastischer Existenz entstand, sonst ist seine weitere Entwicklung schwerlich erklärbar. Nach der Profeß 1506 wurde Luther dazu bestimmt, Priester zu werden. Zur Vorbereitung las er tief beeindruckt Gabriel -»Biels Explicatio Canonis Missae. Biel wies u.a. auf die Notwendigkeit des korrekten Vollzugs der Messe und der würdigen Begegnung des Priesters mit dem in ihr gegenwärtigen Gott bzw. Christus hin. Für Luther wurde so die Konfrontation mit dem richtenden Christus zu einer neuen Quelle von Ängsten und —» Anfechtungen, die selbst in seiner Primiz (2. Mai 1507) aufbrachen. Sie hatten also ihre Wurzeln nicht allein in theologischen Überlegungen, sondern im konkreten Existenzvollzug des Mönchs und Priesters vor Gott. Nach der Priesterweihe wurde Luther zum Studium der Theologie bestimmt. Zugleich hatte er am Ordensstudium seines Klosters als Lektor für Philosophie zu unterrichten. In dieser Funktion nahm er innerhalb des Konvents bereits eine vordere Stellung ein. 1508/1509 hatte er als philosophischer Lektor an der Universität Wittenberg auszuhelfen. Wie manche Ordensleute kam Luther in seinem Theologiestudium sehr rasch voran: 1509 wurde er in Wittenberg zum Baccalaurens biblicus und im Herbst dieses Jahres in Erfurt zum Baccalaureus sententiarius promoviert. 1510/1511 wurde Luther nach Rom gesandt, um im Namen jener Klöster, die wie z.B. der Erfurter Konvent die von dem Generalvikar der deutschen Augustincr-Rcformkongregation Johann von -»Staupitz betriebene Wiedervereinigung der Observanten mit dem übrigen Orden ablehnten, mit dem Ordensgcncral zu verhandeln. Dem Unternehmen war kein Erfolg beschieden. Luther nutzte den Aufenthalt in Rom auch dazu, um von dem reichen Gnadenangebot der Heiligen Stadt intensiven Gebrauch zu machen. Von den dort herrschenden Mißständen kam ihm gleichfalls einiges zu Gesicht, was ihn jedoch damals nicht verunsicherte. Folgenreich wurde die Reise insofern, als er danach den Widerstand gegen Staupitz nicht mehr mitmachte. Wegen des dadurch entstandenen Gegensatzes zu seinem Kloster versetzte ihn Staupitz im Herbst 1511 nach Wittenberg. 3. Professor
in Wittenberg
(1512-1S17/1S18)
Das kleine Wittenberg war von -»Friedrich dem Weisen zur zweiten Residenz des bedeutenden kursächsischen Territoriums (-»Sachsen) ausgebaut worden. 1502 war die Universität (-»Wittenberg) und zusammen mit ihr ein Kloster der Augustiner-Eremiten gegründet worden. Schon wegen des Interesses des Landesherrn an der Universität, später auch aus dessen Uberzeugung, war Luthers Geschick eng mit seinem Verhältnis zum Kurfürsten verknüpft. Als Mittelsmann zwischen beiden fungierte sein Sekretär Georg -»Spalatin. An dieser Verbindung änderte sich auch unter Friedrichs Nachfolgern -»Johann und -»Johann Friedrich von Sachsen nichts. Die Universität und die Stadt waren von nun an das Zentrum des Wirkens Luthers. Der überlastete Staupitz hatte Luther zu seinem Nachfolger in der Wittenberger
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Luther I
Bibelprofessur ausersehen und bestimmte den sich Sträubenden zur Promotion zum Doktor der Theologie (18./19. Oktober 1512). Auf den in seinem Doktoreid beschworenen Auftrag, die Heilige Schrift „treulich zu predigen und zu lehren", hat sich Luther später gegenüber seinen Gegnern berufen. Die Professur blieb lebenslang Luthers berufliche Basis, und von ihr aus wurde er zur weltgeschichtlichen Figur. Seine Vorlesungen behandelten 1 5 1 3 - 1 5 1 5 Psalmen, 1515/1516 R ö m e r b r i e f , 1516/1517 G a laterbrief, 1517/1518 H e b r ä e r b r i e f , Titusbrief (verloren), R i c h t e r (unsicher), 1 5 1 8 / 1 5 1 9 - 1 5 2 1 Psalmen, 1523/1524 D e u t e r o n o m i u m , 1 5 2 4 - 1 5 2 6 kleine Propheten, 1526 Prediger, 1527 1. J o h a n n e s - , T i t u s - und Philemonbrief, 1528 1. T i m o t h e u s b r i e f , 1 5 2 8 - 1 5 3 0 J e s a j a , 1530/1531 Hoheslied, 1 5 3 2 - 1 5 3 5 Psalmen, 1 5 3 5 - 1 5 4 5 Genesis, 1543/1544 J e s a j a 9, 1544 J e s a j a 5 3 .
Ein Teil der Vorlesungen wurde von Luther selbst oder seinen Mitarbeitern zu vielbegehrten Kommentaren umgearbeitet. Die frühen Vorlesungen spiegeln nicht nur seine Entwicklung als Ausleger und Theologe, sondern auch seinen meditativen Umgang mit der Bibel und seine weiterhin andauernden Anfechtungen, die nunmehr auch die Erwählung betrafen. Aus dem Scheitern der mönchischen Leistungsfrömmigkeit hatte Luther allerdings inzwischen gelernt, daß der Mensch sich vor Gott als Sünder zu bekennen hat und damit das Gericht Gottes vorwegnimmt. Bis zu einem gewissen Grad hatten ihm die seelsorgerlichen Hinweise von Staupitz auf die zu liebende Gerechtigkeit Gottes und die Konformität mit dem leidenden Christus geholfen. In der Mystik -»Taulers und der von Luther neu entdeckten und veröffentlichten - » T h e o l o g i a deutsch hatte er eine Bestätigung für seine durch die -»Demut bestimmte strenge Haltung gefunden, mit der er sich frcilich im schroffen Gegensatz zur herrschenden -»Scholastik befand. Seit 1516 äußerte er seine Kritik an ihr öffentlich in Disputationen und gewann die meisten seiner Kollegen für seine Auffassung. Von da an war Luther faktisch der führende Wittenberger Theologe. Staupitz hatte Luther auch zum Konventsprediger gemacht. Wohl 1514 bestellte ihn der Wittenberger Rat zum Prediger an der Stadtkirche. Der Auftrag als Ecclesiastes wurde Luthers zweiter Beruf. Sonntag vormittags legte er meist die Evangelienperikopen aus, nachmittags die Epistelperikopcn oder einzelne biblische Bücher (z.B. Petrusbriefe und Pentateuch). Immer wieder behandelte er auch den —»Katechismus. Den anstelle des abwesenden Wittenberger Pfarrers -»Bugenhagen gehaltenen Wochenprcdigten lagen das Matthäus- und das Johannesevangelium zugrunde. Aus Gesundheitsgründen beschränkte sich Luther später zeitweilig auf die „Hauspredigten". Die Predigten wollten Auslegung des biblischen Textes von dessen theologischer Mitte her sein. Sie waren bewußt verständlich formuliert und zeichneten sich durch großen Reichtum des Ausdrucks wie durch Konkretion aus. Nicht von ungefähr waren die gedruckten Sermone Luthers gefragt und machten darum einen beträchtlichen Teil seines literarischen Schaffens aus. Zur Fülle der Aufgaben Luthers in den Wittenberger Anfängen gehörte von 1515-1518 auch die Tätigkeit als sächsischer Distriktvikar der Reformkongregation, ein Beweis für das Ansehen, das er genoß. Er hatte dabei seine demütige Auffassung von Mönchtum und Kirche in die Praxis umzusetzen. Von dieser Zeit an bildete eine riesige Korrespondenz ein wichtiges Medium des Wirkens Luthers, das freilich auch zusätzliche Beanspruchung bedeutete. 4. Der Ablaßstreit
und die reformatorische
Wende
(1517/1518)
In den großen Konflikt geriet Luther nicht wegen seiner Ablehnung der herrschenden Theologie, sondern wegen seiner Kritik an der verbreiteten, aber lehrmäßig nicht fixierten Praxis des -»Ablasses. Mit ihm bot die Kirche die Möglichkeit, die in diesem Leben nicht abgegoltenen Bußleistungen und zeitlichen Sündenstrafen, die im -»Fegfeuer zu büßen waren, durch Geld zu kompensieren. Der eigentliche Anlaß war der durch Papst -»Leo X . 1515 erneuerte Plenarablaß zum Neubau der Peterskirche in Rom. Erzbischof -•Albrecht von Mainz war für den Vertrieb in seinen Kirchenprovinzen -»Mainz und
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-•Magdeburg gewonnen worden, indem ihm ermöglicht wurde, damit zugleich die beträchtlichen Schulden, die er bei der Kurie hatte, zu bezahlen. Nachdem Luthers Beichtkinder von dem magdeburgischen Ablaßkommissar Johann Tetzel Ablaßbriefe erworben hatten, wandte er sich dagegen zunächst in Predigten in der Passionszeit 1517. Am 31. Oktober kritisierte er in Briefen an Albrecht von Mainz und den Bischof von Brandenburg die Ablaßpredigten, die eine falsche Heilssicherheit erzeugen, da die Ablässe nicht zum Heil und zur Heiligkeit beitragen. Er forderte die Rücknahme der entsprechenden Ablaßinstruktion. Dem Brief legte er die 95 Thesen von der Kraft der Ablässe bei. Sie bezeichnen die Buße als lebenslange Haltung des Christen. Der Papst erläßt nur die von der Kirche auferlegten Bußstrafen, die Schuld vergibt Gott. Der wahre Schatz der Kirche ist nicht das Verdienst Christi und der Heiligen, sondern das Evangelium. Daneben wird die gängige Ablaßkritik aufgenommen. Faktisch hatte Luther damit der Ablaßpraxis den Boden entzogen. Daß Luther die Thesen an der Wittenberger Schloßkirche angeschlagen habe, wird erst nach seinem Tod durch Melanchthon berichtet und ist darum neuerdings bezweifelt worden. Es kann jedoch kein Zweifel bestehen, daß Luther damit, unabhängig von seinem Protest gegenüber den Bischöfen, die noch offene Ablaßlchre an der Universität erörtern wollte. Die Thesen müssen darum bekanntgemacht worden sein, möglicherweise erst etwas nach dem 31. Oktober. In jener Zeit unterschrieb Luther einige Briefe als Eleutherius, der Freie. Möglicherweise hängt damit auch die Änderung seines Namens in „Luther" zusammen. Ihre explosionsartige Wirkung erreichten die Thesen erst nach ihrem Ende 1517 erfolgten Druck. Mit dem deutschen Sermon von Ablaß und Gnade vom März 1518 wurde Luthers Kritik breiten Kreisen bekannt. Erstmals bewährte sich seine Gabe, die Sache, die er zu sagen hatte, verständlich machen zu können, und das in vorzüglichem Deutsch. Damit beginnt die zu seiner Zeit unvergleichlich erfolgreiche publizistische Wirksamkeit Luthers (insgesamt fast 800 geschriebene und gedruckte Schriften mit über 3700 Drucken zu seinen Lebzeiten). Auf dem Ordenskapitel Ende April in Heidelberg galt der Ablaßkritiker bereits als Berühmtheit und gewann unter den jungen Theologen einige seiner wichtigsten Anhänger in Süddcutschland (-»Brenz, -•Bucer, —»Frecht, -»Schnepf). Das Problem der rcformatorischcn Wende Luthers betrifft nicht nur seine Theologie, sondern selbstverständlich auch seine Biographie. Die 95 Thesen scheinen noch aus der strengen Demutshaltung geschrieben zu sein. Neue, befreite Töne klingen etwa seit März 1518 auf, z.B. im Sermo de duplici lustitia, in der Heidelberger Disputation und in der Hebräerbriefvorlesung. In dem biographischen Rückblick in der Vorrede zum 1. Band der Opera von 1545 datierte Luther die Wende auf diese Zeit. In anderen Zeugnissen lokalisierte er sie als bestimmtes Ereignis im Turm des Klosters, wo sein Arbeitsraum lag. Der Brief an Staupitz vom Mai 1518 schildert die Entstehung des neuen Verständnisses der Buße in drei Stufen 1515, 1516 und danach. Ein Teil der Forschung meinte, Luthers Angaben anzweifeln zu müssen, weil tatsächlich das neue Verständnis der Glaubensgerechtigkeit von Rom 1,17 spätestens seit der Römerbriefvorlesung immer wieder aufblitzt. Aus demütigem Ernst wagte Luther jedoch offensichtlich zunächst nicht, die neue Einsicht zur Mitte seines Glaubens und Denkens zu machen, dies gelang erst 1518. Die reformatorische Entdeckung war das Ergebnis einer Entwicklung und schließlich doch ein bestimmtes Ereignis. 5. Römischer
Prozeß,
reformatorisches
Programm,
Bann und Acht
(1518-1521)
Albrecht von Mainz hatte Luthers Ablaßkritik nach 1517 nach Rom weitergegeben, da sie die Ablaßvollmacht des Papstes tangiere. Möglicherweise veranlaßte Tetzel außerdem eine Denunziation durch die Dominikaner. Im Sommer 1518 wurde der römische Prozeß gegen Luther aufgrund eines Gutachtens des päpstlichen Hoftheologen —»Prierias eröffnet. Auch ihm galt die Ablaßkritik als Angriff auf den Papst, was Luther nicht intendiert hatte. Aber nunmehr sah er sich in einen Autoritätenkonflikt größten Ausma-
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ßes verwickelt, der schließlich zur Kirchenspaltung führen sollte. Am 8. August erhielt Luther die Vorladung nach Rom wegen Verdachts der Ketzerei, die wenig später insgeheim zur Anklage wegen notorischer Ketzerei verschärft wurde. Von nun an war Luther auch eine Figur im politischen Spiel und zugleich seinerseits davon abhängig. Friedrich der Weise erreichte, daß sein Professor anstatt in Rom durch den päpstlichen Legaten -»Cajetan in Augsburg verhört, aber keinesfalls festgesetzt werden sollte. Das Verhör (12. - 1 4 . Oktober) konzentrierte sich auf die Vorstellung vom Schatz der Kirche, aus dem der Papst den Ablaß austeilt. Luther kritisierte sie als unbiblisch und widerrief darum nicht. Noch in Augsburg entließ Staupitz ihn aus dem Ordensgehorsam. Luther appellierte zunächst an den besser zu unterrichtenden Papst, wenig später vom Papst an ein Konzil. Das Auslieferungsbegehren Cajetans lehnte Friedrich der Weise ab und forderte ein unparteiisches Gelehrtengericht, um das sich dann auch der von Rom als Vermittler eingeschaltete päpstliche Kammerherr Karl von Miltitz bemühte. Wegen der bevorstehenden Kaiserwahl erfolgten 1519 aus Rücksicht auf Friedrich den Weisen keine weiteren Schritte gegen Luther. So wurde die Leipziger Disputation (27. J u n i - 1 5 . Juli 1519) zur nächsten Phase der Auseinandersetzung. Ursprünglich sollten der Ingolstädter Professor Johann -»Eck und der Wittenberger Andreas -»Karlstadt gegeneinander antreten, nachdem dieser Eck wegen seiner Kritik an Luther angegriffen hatte. Eck war jedoch an einer direkten Konfrontation mit Luther gelegen, und dieser wurde schließlich auch in die Disputation einbezogen. Gegenstand waren die durch den Ablaßstreit aufgebrochenen theologischen Probleme, beherrschend war jedoch die große Auseinandersetzung über das -»Papsttum, das Luther bereits für den -»Antichrist hielt. Nachdem Luther die Verwerfung der Lehre von der Kirche des Jan-»Hus durch das Konzil von -»Konstanz kritisiert hatte, zwang ihn Eck zu dem das Autoritätenproblem nochmals verschärfenden Eingeständnis: Auch -»Konzilien können irren. Bedeutsam waren die Reaktionen: Herzog -»Georg von Sachsen wurde zum Feind Luthers, hingegen ergriffen viele humanistische Theologen seine Partei oder verhielten sich wie -»Erasmus von Rotterdam wenigstens wohlwollend neutral. Die Leipziger Disputation wurde das Modell für viele Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern Luthers und den Altgläubigen. Auch ohne den Ablaßstreit wäre es durch Luther zu Reformen gekommen. Von 1518 an wurde die Scholastik zugunsten des Unterrichts in den biblischen Sprachen als Voraussetzung der neuen Theologie zurückgedrängt, wodurch sich die Attraktivität Wittenbergs zusätzlich steigerte. Der als Gräzist berufene -»Melanchthon wurde schnell Luthers bedeutendster theologischer Mitarbeiter. Von der reformatorischen Entdeckung her kam es hinsichtlich des -»Gebets sowie der Kranken- und Sterbeseelsorge (-»Seelsorge) zu Umgestaltungen. Einschneidender war die aus dem Glauben und der Nächstenliebe hergeleitete neue -»Ethik mit ihrer Hochschätzung des weltlichen -»Berufs sowie der Ehe und der Kritik am Wucher (-»Zins). Die ebenfalls vom Glauben her begründete „Freiheit eines Christenmenschen" weckte soziale Erwartungen. Als revolutionär wurde der in zwei Schritten sich vollziehende, mit scharfer Kritik verbundene Umbau der Lehre von den -»Sakramenten und ihre Reduktion auf Abendmahl und Taufe empfunden. Die vom -»Priestertum aller Gläubigen her begründete Reformschrift An den christlichen Adel nahm die -»Gravamina der deutschen Nation gegen Rom eigenständig auf und machte eine Fülle von Vorschlägen zu einer umfassenden Kirchenreform, die auch auf die Gesellschaft ausgriff. Insgesamt lag somit 1520 so etwas wie ein Programm der -»Reformation vor. Noch 1519 war es zu den ersten Verurteilungen Luthers durch die Universitäten -»Köln und -»Löwen gekommen, 1520 wurde sein Prozeß in Rom wieder aufgenommen. Unter Mitwirkung Ecks kam die Bannandrohungsbulle zustande, die 41 Sätze Luthers verwarf. Mit ihrer Vollstreckung wurden Girolamo -»Aleandro und Eck betraut. Luther erhielt die Bulle im Oktober. Er suchte ihr nach Absprache mit Miltitz durch seinen Sendbrief an Papst Leo X. entgegenzuwirken und konzentrierte seine Kritik zunächst auf
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Eck, verteidigte aber schließlich wuchtig alle inkriminierten Sätze. Am 10. Dezember 1520 verbrannte er die Bulle zusammen mit dem Kanonischen Recht und sagte sich damit vom herrschenden -»Kirchenrecht los. Seit Bekanntwerden der Bannandrohungsbulle bemühten sich Luther und vor allem sein Landesherr bei Kaiser -»Karl V. um ein Verhör auf dem bevorstehenden Reichstag in Worms (-»Reichstage der Reformationszeit). Unter Zusage freien Geleits wurde Luther vorgeladen, aber nur um zu widerrufen. Auf der Reise zeigte sich, daß er die öffentliche Meinung hinter sich hatte: Nach gedruckten Bildnissen Luthers herrschte rege Nachfrage. Beim historisch bedeutendsten Auftritt seines Lebens vor Kaiser und Reich am 18. April 1520 verweigerte Luther unter Berufung auf sein in der Heiligen Schrift gebundenes -»Gewissen den Widerruf. Das Wormser Edikt erklärte darauf ihn und seine Anhänger in die Reichsacht und verbot seine Bücher. An der Durchsetzbarkeit dieses Reichsgesetzes mußte sich das Schicksal der Reformation entscheiden. 6. Wartburgzeit
und Bewältigung
der Wittenberger
Unruhen
(1521/1522)
Auf Weisung Friedrichs des Weisen wurde Luther während der Rückrcisc von Worms nach einem vorgetäuschten Uberfall auf die Wartburg in Sicherheit gebracht, wo er die folgenden 14 Monate verbrachte. Er schuf während dieser Zeit die Weihnachts- und Adventspostille (-»Schriftauslegung), der er 1525 die Fastenpostille folgen ließ. Die Sommerpostille (1526) wie alle weiteren Postillen wurden nachträglich durch Mitarbeiter Luthers aus gedruckten oder nachgeschriebenen Predigten zusammengestellt. Mit den viel benützten Musterpredigten seiner Postillcn wurde Luther zum einflußreichsten Predigtautor seiner Zeit. Einen noch bedeutenderen Wurf stellte Luthers Übersetzung des Neuen Testaments dar, das im September 1522 erstmals erschien. Damit hatte sich Luther der Aufgabe der -•Bibelübersetzung angenommen, die ihn bis an sein Ende beschäftigte. 1534 erschien die erste deutsche Gesamtbibel, die dann bis 1546 noch mehrere Revisionen erfuhr. Mit ihrer Sprachgestalt, ihren Vorreden und Glossen wurde die Bibelübersetzung das wirkungsvollste Werk Luthers und seiner Theologie. 344 Gesamt- oder Teilausgaben erschienen zu seinen Lebzeiten, und auch seine katholischen Gegner übernahmen sie weithin. Bis in die Gegenwart blieb die Luthcrbibcl eines der hervorragenden Dokumente deutscher Sprache. 1521 war der Zeitpunkt erreicht, zu dem vom reformatorischen Programm zu dessen Verwirklichung geschritten werden mußte. Dies erfolgte in Wittenberg während der Abwesenheit Luthers. Priester heirateten, und die ersten Mönche traten aus den Klöstern aus. Um ihnen ein gutes Gewissen zu geben, bestritt Luther in De votis tnonasticis von der Bibel, dem Glauben und der evangelischen Freiheit her die geistlichen -»Gelübde. Das waren „die Anfänge der Befreiung der Mönche". 1523 folgte eine ähnliche Programmschrift für die Nonnen. Die Verteidigung ausgetretener Mönche und Nonnen sowie verheirateter Priester, dazu die Fürsorge für sie wurde eine der bleibenden Aufgaben Luthers. Die Umgestaltung der -»Messe stand gleichfalls an. Als man sich darüber in Wittenberg nicht einigen konnte, preschte Karlstadt vor und teilte in einer —> Abendmahlsfeier am Christfest 1521 erstmals auch den Laien Brot und Wein aus. Schon zuvor hatte ein Ausschuß der Bürgerschaft eine gemeindliche Kirchenreform gefordert. Als es im Januar auch noch zu einem Bildersturm kam, ließ der Kurfürst jegliche Neuerung unterbinden. Schon vorher hatte Luther seiner konsequenten Ablehnung jeder gewaltsamen Selbsthilfe entsprechend vor dem Aufruhr gegen die -»Obrigkeit gewarnt. Gleichzeitig lehnte er es ab, daß man sich nach ihm als Lutheraner bezeichne. „Weil der Wolf in seine Hürde eingebrochen war", kehrte Luther auf einen Ruf der Wittenberger Gemeinde gegen den Willen des Kurfürsten und trotz der Risiken für die Sicherheit des Geächteten am 6. März 1522 zurück. In der Serie der sog. Invocavitpredigten begründete er die vorläufige Rücknahme der zwangshaft eingeführten Neuerungen mit der Rücksicht auf die Schwachen,
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deren Gewissen zunächst belehrt werden müsse. Die Gemeinde ließ sich überzeugen. Karlstadt wurde zum Schweigen gebracht. Trotz ständiger Agitation Georgs von Sachsen, nicht zuletzt auf der Ebene des Reiches, überstand Luther die folgenden Jahre auch politisch. In diesem Zusammenhang bestimmte er 1523 in Von weltlicher Oberkeit Grenzen und Reichweite politischer Macht, die sog. -»Zweireichelehre, die grundlegend für seine politische und gesellschaftliche Ethik wurde. 7. Die Auseinandersetzung
mit den Bauern, Erasmus
und den
Sakramentsgegnern
Seit 1523 war sich Luther der tiefgreifenden Differenzen zu dem in Allstedt tätigen Thomas -•Müntzer und dessen rigoristischer Mystik bewußt. Aber ausdrücklich nicht deswegen, sondern weil Müntzer auf einen gewaltsamen und revolutionären Vollzug des Gerichts an den Gottlosen ausging, warnte Luther 1524 die Fürsten vor ihm. Müntzer mußte weichen, wurde aber Anfang 1525 eine der führenden Kräfte des -»Bauernkriegs in Thüringen. Vcrständlicherweise, aber nur teilweise berechtigt, identifizierte Luther darum die Sache der Bauern mit der Müntzers. Obwohl nicht blind für die Mitschuld der Obrigkeiten an dem Konflikt und an sich an einem Ausgleich interessiert, bestritt er den Bauern die Berufung auf das Evangelium für die Durchsetzung ihrer Forderungen und warnte vor der Zerstörung der politischen Ordnung, die zu einem cndzeitlichcn Chaos führen würde. Nach Ausbruch der Erhebung qualifizierte er die Bauern als Aufrührer und rechtfertigte die unnachsichtige Gewaltanwendung gegen sie. Von dieser Auffassung ließ er sich auch durch Kritik aus den eigenen Reihen nicht abbringen. Der Einfluß von Luthers Bauernkriegsschriften auf die Ereignisse war allerdings begrenzt, weil sie schnell überholt waren, und bestärkte lediglich die siegreichen Fürsten. Hinsichtlich seiner Sendung ließ sich Luther durch den Konflikt nicht beirren und trat den folgenden reaktionären Rekatholisierungsbestrebungen energisch entgegen. Ebenfalls in das Jahr 1525 fiel die Auseinandersetzung mit -»Erasmus von Rotterdam über die Freiheit des -»Willens, die sich seit Jahren angebahnt hatte. Luther persönlich ging es dabei darum, daß allein der barmherzige Gott das Heil des Menschen schafft und nicht dieser selbst. 1534 kam es zu einem Nachgefecht, bei dem Luther seinem Gegner nunmehr jcgliche theologische Glaubwürdigkeit absprach. Dieser Konflikt bedeutete keine totale Absage Luthers an den -»Humanismus und seine wissenschaftlichen Errungenschaften, obgleich seine vielfältige Skepsis unverkennbar ist. Wegen seiner Gemeindereformation in Orlamünde wurde -»Karlstadt von Luther 1524 mit der Gewalttätigkeit Müntzers in Verbindung gebracht. Theologisch ging der Streit hauptsächlich um das -»Abendmahl. In die gleichzeitigen Auseinandersetzungen darüber mit -»Zwingli, -»Oekolampad, -»Bucer und -»Schwenckfeld griff Luther zunächst nur indirekt ein. Zu dem großen Streitschriftenkrieg kam es erst 1526-1528. Die Härte des Konflikts war durch Luthers Interesse an der vom Menschen unabhängigen Objektivität der Gnadenmittel mit bedingt. Nicht von ungefähr scheiterte darum 1529 das -»Marburger Religionsgespräch mit den Schweizern und Oberdeutschen, weil die Gegner die Realpräsenz nicht zugestehen wollten. Seit 1530 bemühte sich vor allem Bucer erneut um die Einigung mit Luther, die 1536 dadurch erreicht wurde, daß die oberdeutschen Reichsstädte in der -»Wittenberger Konkordie auf seine Auffassung einschwenkten. Hingegen versagte sich die -»Schweiz schließlich der Konkordie; infolgedessen nahm Luther den Abendmahlsstreit mit Zürich von 1543 an wieder auf. Die Ablehnung der Kindertaufe (-»Taufe) war Luther seit 1522 bei den Zwickauer Propheten und Karlstadt begegnet. Explizit setzte er sich mit den Täufern vor allem 1528 und 1535 (Münster) auseinander. Ihrer Verfolgung in Kursachsen als Aufrührer stimmte er zu (-»Toleranz). 8. Heirat, Familie,
Haus und persönliche
Umstände
Noch in der Bedrängnis des Bauernkriegs heiratete Luther im Juni 1525 die ehemalige Nimbschener Nonne Katharina von Bora (1499-1552). Dieser Schritt war auch ein
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demonstratives Bekenntnis zum gottgestifteten Stand der -»Ehe. Käthe war eine selbstbewußte Persönlichkeit, die sich neben ihrem M a n n zu behaupten wußte. Die beiden führten eine gute Ehe. Von den sechs Kindern Johannes (1526), Elisabeth (1527), Magdalene (1529), Martin (1531), Paul (1533) und Margarete (1534) starben Elisabeth 1528 und Magdalene 1542. Die Verantwortung für das wachsende Hauswesen trug hauptsächlich die tatkräftige Käthe. Der Kurfürst hatte Luther das Augustinerkloster überlassen. Seine Besoldung betrug zunächst 200, seit 1535 300 Gulden, dazu kamen beträchtliche Naturalleistungen und Geschenke. Wegen der zahlreichen Verwandten und Gäste im Hause sowie wegen Luthers Freigebigkeit hätten diese Einkünfte jedoch nicht ausgereicht. Käthe verschaffte sich weitere Mittel aus Gärten und Gütern, außerdem unterhielt sie eine Burse für Studenten. In diesem großen Kreis spielte sich vor allem Luthers alltägliches Leben ab. Hier wurde auch gefeiert und musiziert. Bei Tisch wurden die „Tischreden" mitgeschrieben, denen viele Informationen über Luther zu verdanken sind. Seit einem akuten Anfall von Morbus Meniere (Ohrensausen mit Schwindel) 1527 machten Luther immer wieder Krankheiten zu schaffen, die zum Teil auch mit depressiven Zuständen verbunden waren. Wie die äußeren Anfeindungen deutete sie Luther als teuflische Anfechtungen, faktisch wirkten physische und psychische Ursachen zusammen. Er lernte, sich mit seiner angeschlagenen Gesundheit zu arrangieren, wozu auch das Rechnen mit dem möglichen Tod gehörte. Neben dem Ohrensausen und den Kreislaufbeschwerden machte sich seit 1533 ein Harnsteinleiden bemerkbar, an dem Luther 1537 auf dem Bundestag in Schmalkalden fast gestorben wäre. Von da an fühlte er sich noch mehr als zuvor alt und verbraucht. Trotz eingeschränkter Arbeitsfähigkeit blieb jedoch beachtlich, was er zu leisten vermochte. 9.
Kirchenordnung
Die auch von ihm gewollte kirchliche Neuordnung (—»Kirchenordnungcn) versuchte Luther von 1522 an zunächst von den Gemeinden aus zu verwirklichen. Ihnen sprach er das Recht zu, Pfarrer und Prediger zu wählen und das kirchliche Vermögen zu verwalten. Hinsichtlich neuer Gottesdienstordnungen hielt sich Luther zunächst bewußt zurück. 1523 legte er das sehr konservative Taufbüchlein verdeutscht und die Formula Missae, eine gereinigte aber noch lateinische Meßliturgie, vor. Erstaunlicher Erfolg war seiner Forderung nach evangelischen -»Kirchenliedern beschieden. Im Geistlichen Gesangbüchlein von 1524 lagen bereits 24 der insgesamt ca. 40 eigenen Lieder Luthers vor. Auf diese Weise wurde das Gemeindclied zum integralen Bestandteil des evangelischen Gottesdienstes. Im gleichen Jahr wandte sich Luther An die Ratherren aller Städte deutschen Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen, um den gebildeten Nachwuchs für Kirche und Gesellschaft zu sichern. Die Sorge für das Schulwesen (-•Schule/Schulwesen) blieb eines seiner dauernden Anliegen. An eine umfassende Kirchenordnung war erst unter Kurfürst Johann zu denken. 1525 schuf Luther die Deutsche Messe, die das Modell für den lutherischen Hauptgottesdienst wurde. Ein dringendes Erfordernis für die Durchführung der Reformation war die personelle und finanzielle Konsolidierung der Gemeinden. Sie zu organisieren war nur der Landesherr in der Lage. Deswegen bat Luther den Kurfürsten als „Notbischof", die -»Visitation durch Räte und Theologen durchführen zu lassen. Eine Übertragung des -•Kirchenregiments an den Landesherrn war dabei nicht intendiert. Aufgrund bedrükkender Erfahrungen in den Gemeinden suchte der von Luther miterarbeitete Unterricht der Visitatoren von 1528 wieder eine feste Ordnung zu schaffen. Unaufschiebbar waren auch Regelungen für ein neues Eherecht, Luther war mit „Ehesachen" praktisch mehr befaßt, als ihm lieb war (s. TRE 9,337ff). 1522 und 1530 veröffentlichte er dazu wegweisende Schriften. Von 1538 an nahm das neu errichtete Wittenberger -»Konsistorium diese Aufgaben wahr, wobei Luther sich manchmal mit dessen Juristen rieb. Der Versuch einer Kirchenleitung durch evangelische Bischöfe, der 1542 mit der Einsetzung Nikolaus von -»Amsdorfs zum Bischof von Naumburg gemacht worden war, scheiterte an den politi-
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sehen Gegebenheiten. Die Notwendigkeit einer faßlichen Unterweisung der Jugend und der Laien überhaupt im Glauben hatte Luther schon lange erkannt. 1528/1529 entwikkelte er dafür als Grundlage den Kleinen Katechismus sowie für die Pfarrer den Großen Katechismus (-»Katechismus) mit den Hauptstücken -»Dekalog, -»Apostolisches Glaubensbekenntnis, -»Vaterunser, Sakramente und Schlüsselamt, dazu die für die soziale Einordnung wichtigen Haustafeln und Gebete. Nicht ohne Grund hielt Luther den Katechismus für eine seiner bedeutendsten Leistungen. Mit seiner Kürze, Einfachheit und seinen klassischen Formulierungen wurde er zum verbreitetsten Schulbuch der lutherischen Kirche. 10.
Wirkungsbereiche
Das Verhältnis Luthers zu seiner Wittenberger Gemeinde, der er als Prediger und während der zahlreichen Abwesenheiten -»Bugcnhagcns auch als Pfarrer diente, war komplex. Mit der rechten Predigt und Sakramentsausteilung bestand in der Stadt die wahre Kirche. Aber trotz zahlreicher Ermahnungen ließen die sittlichen Früchte des Glaubens auf sich warten. Insbesondere nahm Luther Anstoß an Selbstsucht und Geiz. 1530 trat er deshalb in einen Predigtstreik, und 1545 überlegte er wieder einmal, die Stadt zu verlassen. Von 1535 an war Luther wieder ständig Dekan der theologischen Fakultät. Zwei Jahre zuvor hatte man wieder begonnen, theologische Doktoren zu promovieren. So wurde auch die Übung der -»Disputationen wieder aufgenommen. Luther gab dies Gelegenheit, zentrale Themen seiner Theologie in geschliffener Form zu artikulieren. Zur Konsolidierung des Pfarrstands mußten sich von 1535 an sämtliche Bewerber von den Wittenberger Theologen prüfen lassen und wurden dann in der dortigen Kirche ordiniert (-»Ordination). Die Einheit unter den Wittenberger Theologen war nicht ungefährdet. Es traf Luther tief, daß sein Schüler Johann —»Agricola das Gesetz aus dem Heilsprozeß eliminieren wollte. Immer wieder zeigte es sich, daß auch -»Melanchthon und seine Schülcr unter dem Einfluß des Humanismus andere Wege als Luther einschlugen. Trotz punktueller Verständigungen war darum die Sorge um den Fortbestand von Luthers Theologie nach seinem Tod nicht unberechtigt. Eine der Aufgaben Luthers in Kursachsen und darüber hinaus war die Vermittlung von Pfarrern und Schulmeistern. Nicht selten bedurften die Pfarrer wegen ihrer Sittenkritik und Besoldung seines Rückhalts gegenüber den eigenmächtigen Gemeinden, Amtleuten und dem Adel. Der verläßliche Garant der Reformation war darum für Luther der Kurfürst. Auch dieser Sachverhalt gehört zur Entwicklung des landesherrlichen -»Kirchenregiments. Auf politische Entscheidungen hatte Luther je nach der Situation unterschiedlich Einfluß. Seine Vorstellungen und die der kursächsischen Politik waren keineswegs immer identisch, und Luther ließ sich für diese nur einspannen, wenn es seiner Überzeugung entsprach. Auftretende Differenzen wurden von beiden Partnern ausgehalten. Fast alle Reformatoren wurden von Luther auf die eine oder andere Weise geprägt und beeinflußt. Eine planmäßige Reformationsstrategie wurde von ihm hingegen nicht betrieben. Seine zahlreichen Beziehungen zu anderen Territorien und Städten ergaben sich aufgrund persönlicher Bekanntschaften (z.B. Erfurt, Bremen, Magdeburg, Nürnberg) sowie durch Anfragen, die häufig mit aufgebrochenen Schwierigkeiten zu tun hatten. Von 1523 an unterstützte Luther die Reformation in -»Preußen. Daraus entwickelten sich auch seine Beziehungen zum -»Baltikum. Nach 1530 hatte Luther besonders intensive Kontakte zu den Fürsten von -»Anhalt-Dessau. 1539 hatte er in einem vertraulichen Beichtrat der Doppelehe Landgraf -»Philipps von Hessen zugestimmt, die zur schweren Belastung für die Reformation wurde. Der sachlich unmöglichen politischen Verwendung des Beichtrates widersetzte sich Luther beharrlich. Die Verantwortung für seine Fehlentscheidung nahm er auf sich. Politisch, literarisch und persönlich am hartnäckigsten wurde Luther von -»Georg
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von Sachsen bekämpft. Als er 1539 starb, wurde die Einführung der Reformation im Herzogtum Sachsen möglich. Wegen der politischen Konkurrenzsituation blieb Luthers Einfluß dabei ebenso begrenzt wie bei der gleichzeitigen Reformation in -»Brandenburg. Z u Luthers Befriedigung zog sich der von ihm scharf bekämpfte Kardinal -» Albrecht 1542 nach Mainz zurück, so daß die Durchführung der Reformation in Halle möglich wurde. Der bedeutendste Gegner der Reformation in Mitteldeutschland blieb Herzog Heinrich d.J. von Braunschweig-Wolfenbüttel. Das Vorgehen gegen ihn billigte Luther grundsätzlich. Persönlich und theologisch hatte er mit ihm in Wider Hans Worst, einer seiner schärfsten Schriften, abgerechnet. Luthers Stellungnahmen über die Juden (vgl. T R E 3,146-148) variieren von seiner Frühzeit an erheblich. In der Forschung ist strittig, ob er eine sich durchhaltende Auffassung hatte oder ob es darin Brüche gab. Seine Äußerungen sind jedenfalls auch sehr situationsbedingt. 1523 hatte er sich mit der Schrift Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei bemüht, einen Teil der Juden für das Evangelium zu gewinnen. Diese Erwartung hielt sich auch durch. Immer stärker wurde Luther der Gegensatz zur rabbinischen Auslegung des Alten Testaments bewußt. Dazu kamen seit den 30er Jahren Informationen über jüdische Agitationen gegen das Christentum. Weil die Juden Christus, Maria und den Christen fluchten, hielt Luther eine Koexistenz mit ihnen nicht mehr für möglich, sondern forderte 1543 in Von den Juden und ihren Lügen aus verletztem Glauben die Zerstörung ihrer Synagogen, Häuser und Schriften bzw. ihre Vertreibung und bemühte sich auch um die Durchsetzung dieser Maßnahmen. Seine Motive kamen aus seiner Theologie, waren jedoch letztlich weder mit seinem Christusglauben noch mit seiner exegetischen Methode im Einklang. So konnte sich, wenn auch mißbräuchlich, der -»Antisemitismus seit dem 19. Jh. auf die Autorität Luthers berufen. Außerhalb des Reiches wurden die frühen Beziehungen zu den Augustiner-Eremiten in den Niederlanden durch deren blutige Verfolgung zerstört. Erste intensivere Kontakte mit Böhmen waren nach 1523 zunächst abgebrochen. 1535 kam es jedoch zu einer Verständigung der -»Böhmischen Brüder mit Wittenberg. Schon 1521 hatte -»Heinrich VIII. von England Luthers Sakramentslehre angegriffen, und dieser war daraufhin mit dem König nicht eben zimperlich umgesprungen. Als 1526 angeblich Aussicht auf Heinrichs Hinwendung zur Reformation bestand, entschuldigte sich Luther unterwürfig, holte sich aber damit lediglich eine böse Bloßstellung ein. 1531 bemühte sich Heinrich dann um eine Billigung seiner Ehescheidung, die die Wittenberger jedoch verweigerten. Wegen des geplanten Beitritts -»Englands zum Schmalkaldischen Bund kam 1535 eine englische Gesandtschaft zu Lehrverhandlungen nach Wittenberg, die jedoch kein greifbares Ergebnis zeitigten. Die 1540 erfolgte Hinrichtung von Heinrichs Hofkaplan Robert Barnes bestätigte Luther in seiner negativen Beurteilung des Königs. 1535 hatte sich auch -»Franz I. von Frankreich um Melanchthon bemüht. Luther war daran nur am Rande beteiligt. Rege Beziehungen bestanden zu Christian III. von Dänemark, gelegentliche Kontakte gab es auch zu Gustav I. Wasa von Schweden. Die Problematik der starken staatlichen Bevormundung der skandinavischen Reformation scheint Luther nicht erkannt zu haben. Zu erwähnen sind schließlich Luthers Verbindungen nach Siebenbürgen (-•Rumänien), -»Ungarn und -»Venedig, in denen zum Teil der späte Abendmahlsstreit eine Rolle spielte. Z u m Türkenkrieg nahm Luther zunächst 1528/1529 Stellung. Es ging ihm sowohl um die rechte innere, nämlich bußfertige Einstellung als auch um die energisch zu leistende militärische Verteidigung. In den 40er Jahren setzte er sich mit dem -»Islam auch theologisch auseinander. Immer wieder rief er zum Gebet gegen die Türken als einem der endzeitlichen Feinde auf, zweifelte aber an der Erhörung, weil die Zustände in Deutschland Gottes Strafe verdienten. 11. Religionskrieg
und -frieden, Konzil und Papst
Den 1528 von -»Philipp von Hessen geplanten Präventivkrieg gegen die katholische
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Seite lehnte Luther energisch und erfolgreich ab, weil er ein -»Widerstandsrecht der Fürsten gegen den Kaiser nicht anerkannte. Am Augsburger Reichstag 1530 (-»Reichstage der Reformationszeit) konnte der Geächtete nur von der Ferne auf der Veste Coburg teilnehmen. Mit dem behutsam formulierten - » Augsburger Bekenntnis war er auf die Dauer doch einverstanden. Die von Melanchthon betriebene theologisch-kirchliche Verständigung hielt er hingegen für aussichtslos und sprach sich darum lediglich für einen politischen Frieden zwischen den Religionsparteien aus. Als nach dem Reichstag der Angriff des Kaisers gegen die Evangelischen drohte, widersprach Luther der fragwürdigen Rechtskonstruktion der Juristen nicht, daß der Kaiser in Sachen der Religion nicht Obrigkeit und mithin der Widerstand gegen ihn erlaubt sei, und akzeptierte so das Zustandekommen des -»Schmalkaldischen Bundes. Luthers eigentliches Ziel aber blieb der Religionsfriede, der 1532 mit dem Nürnberger Anstand zunächst auch erreicht wurde. Die Lösung der Religionsfrage sollte das Konzil (-»Tridentinum) bringen. Luther war anders als die kursächsische Politik für die Beschickung des 1537 zunächst nach Mantua ausgeschriebenen Konzils, glaubte jedoch nicht an sein Zustandekommen. Seine auch als Testament konzipierten -»Schmalkaldischen Artikel zeigen, daß theologische Kompromisse für ihn nicht in Frage kamen. Die vielfachen Verschiebungen des Konzils bestätigten Luther die Unglaubwürdigkeit des Papsttums, das er nunmehr erneut publizistisch bekämpfte. So wenig wie vom Konzil erwartete Luther von den —»Religionsgesprächen seit 1540 eine Einigung. Als der Papst Religionsverhandlungen ablehnte und statt dessen den Kaiser zum Krieg mit den Evangelischen trieb, machte Luther seinem ungestümen Zorn 1545 mit der Schrift Wider das Papsttum zu Rom vom Teufel gestiftet nochmals Luft. Seine Kritik war in vielem verständlich, seine endzeitliche Uberzeichnung des Papstes als Antichrist ließ freilich auch keinen Ausgleich mehr zu. 12. Tod und
Nachhall
Das Interesse an seiner heimatlichen Grafschaft Mansfeld hatte Luther nie verloren. Von Ende 1545 an bemühte er sich um einen Vergleich zwischen den zerstrittenen Linien des Grafenhauses, der dann bei seinem letzten Aufenthalt in Eisleben wenigstens vorläufig erreicht wurde. Am 18. Februar 1546 starb er dort nach einem letzten Bekenntnis zu Christus und der Lehre, die er in seinem Namen vertreten hatte. Seine letzte Ruhestätte fand er in der Wittenberger Schloßkirche. Schon die ersten Nachrufe würdigten die theologische, kirchliche, politische und gesellschaftliche Bedeutung von Luthers Person und Werk. Mit vielen seiner Entscheidungen hatte er Geschichte gemacht, und dies in den unterschiedlichsten Bereichen. Melanchthon verschwieg auch die schwierigen Züge seines Charakters, besonders seine Polemik nicht. Wenig später prägte -»Cochläus das negative katholische Lutherbild. Die Zeit des Luthertums wie die strittige Deutung Luthers hatten begonnen. Ai4sgaben, Bibliographien, Ausgaben:
Zeitschriften
und
Forschungsberichte
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Zu 7.: Kurt Aland, „Auch widder die reubischen u. mördischen rotten der andern bawren". Eine Anm. zu Luthers Haltung im Bauernkrieg: T h L Z 74 (1949) 2 9 9 - 3 0 3 . - Paul Althaus, Luthers Haltung im Bauernkrieg, Darmstadt 4 1971. - Cornelis Augustijn, s.o. 5. - Roland H. Bainton, T h e Development and Consistency of Luthers's Attitüde to Religious Liberty: H T h R 22 (1929) 1 0 7 - 1 4 9 . - Ernst Bizer, Stud. zur Gesch. des Abendmahlsstreits im 16. Jh., Darmstadt M962. - Ders., Martin Luther u. der Abendmahlsstreit: A R G 36 (1939) 6 6 - 8 7 . - Ders., Die Wittenberger Konkordie in Oberdeutschland u. der Schweiz: A R G 36 (1939) 214 - 2 5 2 . - Siegfried Bräuer, Die Vorgesch. v. Luthers „Ein Brief an die Fürsten zu Sachsen v. dem aufrührerischen Gei ; Tridentinum) nahmen die Pläne konkretere Gestalt an: 1567/68 ergriffen einige einflußreiche Persönlichkeiten Luzerns die Initiative, um ihre Stadt - inzwischen Vorort der katholischen Eidgenossenschaft — für das finanzielle Wagnis der Schulgründung zu gewinnen und mit ihr die Berufung der Jesuiten zu verbinden, darin nachdrücklich unterstützt durch den Mailänder Erzbischof Kardinal Carlo -»Borromeo. Im Frühjahr 1574 stellte man an Papst Gregor XIII. (1572-1585) formell das Gesuch um Entsendung einiger Jesuiten, und bereits am 7. August 1574 zogen die ersten Väter der Gesellschaft Jesu in Luzern ein: P. Martin Leubenstain (als Oberer), P. Vitus Liner und ein aus der Schweiz stammender Bruder. Die Ankömmlinge wurden zunächst im (heute noch bestehenden) Gasthaus „Zum Schlüssel" bei der Franziskanerkirche untergebracht. Hier eröffnete P. Liner am 17. August auch die Schule, während P. Leubenstain seelsorgerlich-missionarisch wirkte. Die Schule gedieh auf Grund ihrer schmalen Fundation nur sehr mühsam. Zwar versprach die Stadt Luzern im Stiftungsbrief vom 10. Mai 1577 - Ergebnis harter Verhandlungen - , für den beständigen Unterhalt von 20 Ordenspersonen (entsprechend der Forderung der Ordensleitung) aufzukommen, als Kollegsgebäude den Ritterschen Palast in der Kleinstadt (heute Regierungsgebäude) bereitzustellen, zu gegebener Zeit eine geräumige Kirche zu errichten und für den Bau eines eigenen Schulhauses (samt Bibliothek) zu sorgen. Auf dieser Grundlage vermochte man immerhin die Jesuiten an Luzern zu binden und zur dauernden Betreuung einer Schule mit vier Klassen der Grammatik und Humanität in Latein und Griechisch für einheimische und auswärtige Schüler zu verpflichten. Aber erst nach Ostern 1579 konnte die Humanität eingeführt und die Schule auf den vertragsmäßigen vierklassigen Umfang gebracht werden.
Das „Verkomnuß von gemehrter Schuelen wegen" vom 1. Juli 1600 begründete dann neben dem jesuitischen „Vollgymnasium" die höheren Studien der Philosophie und Theologie (durch Einführung der Dialektik und der Casus Conscientiae), in diesem Sinne die Anfänge einer Hochschule. Wohl blieb die - dem Jesuitenkolleg inkorporierte - Schule eine rechtliche und organisatorische Einheit, streng reglementiert durch die jesuitische
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Ratio studiorutn von 1599; doch allmählich prägten sich mehr und mehr die beiden Stufen aus, die im 17. Jh. bereits häufig als „Studia inferiora et superiora" unterschieden, im 18. Jh. schließlich als Gymnasium und Lyzeum bezeichnet wurden. Um die Mitte des 17. Jh. schienen die Voraussetzungen gegeben zu sein, um die Schule in den Rang einer Akademie (mit Promotionsrecht in Philosophie und Theologie) zu erheben. Doch diesbezügliche Bemühungen führten nicht zum Erfolg, was sich auf die weitere Entwicklung der Schule ungünstig ausgewirkt zu haben scheint. Besuchten im Studienjahr 1 6 6 2 / 6 3 4 3 3 Studenten die Schule (333 G y m n a s i u m , 100 Philosophie), so im Studienjahr 1 7 0 5 / 0 6 2 5 3 (192 G y m n a s i u m , 61 Philosophie) und im Studienjahr 1 7 7 2 / 7 3 nur noch 121 (92 G y m n a s i u m , 2 9 Philosophie). Und nur wenige Kandidaten absolvierten den vollen vierjährigen theologischen Studiengang.
Herkunftsmäßig überwogen im Gymnasium meist die Stadt-Luzerner, in den Studia altiora die Nicht-Luzerner; jedoch vermochte die Schule über die Grenzen der katholischen Kantone hinaus kaum zu wirken. Das kirchliche, bürgerliche und kulturelle Leben der Innenschweiz allerdings wurde durch sie weitgehend geprägt, in „Nachklängen" bis in die jüngste Vergangenheit hinein. 1.2. 18. Jahrhundert. Seit Beginn des 18. Jh. mehrten sich die Spannungen zwischen den auf ihren Privilegien und kirchenrechtlichen Positionen beharrenden Vätern der Gesellschaft Jesu und den ihnen gegenüber selbstbewußter auftretenden staatlichen Repräsentanten. Finanzielle Gründe (bedingt durch die Erweiterung des Jesuitenkollegs und den Bau der neuen, prächtigen Jesuitenkirchc 1666-1677) spielten dabei eine große Rolle. Im Zuge der Auseinandersetzungen verständigte man sich schließlich über einige zeitgemäße Reformen. Diese bildeten die Grundlage für die Neue Schuleinrichtung vom 17. Juli 1771, die zwar der Ratio studiorum von 1599 und deren humanistischem Bildungsideal verpflichtet blieb, aber nunmehr auch „nützliche" Fächer in den Lehrplan einbezog. Übrigens gliederte sich nach der „ N e u e n S c h u l e i n r i c h t u n g " die Schule in vier Abteilungen: in die Vorbereitungsschule (2 J a h r e ) , das eigentliche G y m n a s i u m (5 J a h r e ) , die Philosophische F a k u l t ä t (2 J a h r e ) und die T h e o l o g i s c h e F a k u l t ä t (4 J a h r e ) .
Nach der päpstlichen Aufhebung der Gesellschaft Jesu 1773 (s. T R E 16,665) ging das Luzerner Jesuitenkolleg mitsamt seinen Stiftungen und Gütern in den Staatsbesitz über (17. Januar 1774), doch wurden die Exjesuiten zunächst in ihren bisherigen Professuren und Kirchenämtern belassen. Seit 1784 wurden vakante Stellen mit Franziskanern besetzt, die in Philosophie und Theologie eine „freiere Richtung" vertraten. 1.3. 19. Jahrhundert. Als nunmehr staatliche Institution wurde die Schule im 19. Jh. in die wechselnden politischen und kirchenpolitischen Bewegungen hineingezogen. Was die lyzealen Studiengänge Philosophie und Theologie betraf, so wurden sie bereits in der Zeit der Helvetik (1798-1803) wieder eher nach konservativen Gesichtspunkten eingerichtet, und in der Mediationszeit (1803-1814) versah man die Studienordnung erneut mit einer Art Zweckparagraphen (die Schule solle „religiöse, moralische und geistige Bildung vermitteln, welche die Jugend zu Kirchen- und Staatsämtern befähigt und zu jedem andern Stand nützlich ist"). Der Unterricht blieb durchgehend in geistlicher Hand; indes wurden vakante Professorenstellen jetzt ausgeschrieben und auch Weltgeistlichen zugänglich gemacht. Die Schule erhielt eine Rektoratsverfassung (1804). Unter den Professoren der Philosophie und Theologie ragten Joseph Widmer (1779-1844) und Alois Gügler (1782-1827) hervor. Widmer und Gügler waren durch die Schule des an der bayerischen Landesuniversität Landshut lehrenden Theologen und nachmaligen Regensburger Bischofs Johann Michael -»Sailer (1751-1832) gegangen, entwickelten sich indes zu Vorkämpfern einer kirchlichen Restauration ultramontaner Ausrichtung. Auslösende Momente daraus resultierender heftiger Auseinandersetzungen (und gegen -»Wessenberg sowie den aufgeklärt denkenden Luzerner Stadtpfarrer und Bischöflichen Kommissar Thaddäus Müller gerichteter Denunziationen) waren Wessenbergs Gründung
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eines Luzerner Priesterseminars (auf Grund konkordatärer Vereinbarung zwischen der Luzerner Regierung und dem zuständigen Fürstbischof von Konstanz vom 19. Februar 1806) sowie die Berufung des aufgeklärten Exegeten Johann Anton Dereser (1757-1827) als Seminarregens und Professor für biblische Sprachen (1811). Im Zusammenhang mit diesen immer weitere Kreise ziehenden Streitigkeiten, deren politischen Hintergrund die damaligen Richtungskämpfe zwischen Konservativen und Liberalen bildeten, beschloß auf Antrag des Luzerner Erziehungsrates am 14. August 1819 der Tägliche Rat die sofortige Vakatur aller Lehrstühle - ein Sieg der liberalen Richtung, die eine zumindest teilweise Laisierung des Lehrkörpers anstrebte. Im Zuge des 1819 eingeleiteten Revirements, das schließlich im Reformplan (1828) des von -»Pestalozzi beeinflußten Franziskaners P. Grégoire Girard (1765-1850), seit 1827 Professor für Philosophie (bis 1834), seinen Abschluß fand, erhielt das Lyzeum versuchsweise als dritte Abteilung ein Polytechnikum (1829) zur Vorbereitung auf den Dienst in höherer Industrie und Staat (wegen mangelnden Interesses 1834 wieder aufgehoben). Bezüglich der theologischen Abteilung gingen die Bestrebungen schließlich dahin, sie personell und lehrinhaltlich nach Maßgabe der Prinzipien des von der Badener Konferenz 1834 beschlossenen liberalen Staatskirchentums umzugestalten. Da brachten die Maiwahlen 1841 das liberale Regiment insbesondere wegen seiner Staatskirchen- und Erziehungspolitik zu Fall. Die Konsequenz des Regierungsumsturzes war eine erneute, zunächst maßvoll konservative Umgestaltung der Lehranstalt, in welcher nunmehr wieder dem geistlichen Element Vorrang eingeräumt wurde. Schließlich reservierte man die philosophischen Lehrstühle gänzlich für Geistliche. Weit folgenschwerer aber war, daß man 1844 - allen Warnungen zum Trotz - an die theologische Abteilung wieder die Jesuiten berief. Diesen unglücklichen Entscheid mußte Luzern (samt den katholischen Kantonen) mit der Niederlage im Sonderbundskrieg (Herbst 1847) und mit der Absetzung des rechtmäßig gewählten konservativen Regiments bezahlen. Die Jesuiten verließen fluchtartig Luzern (s. T R E 20,226,32ff). Gleichwohl zählte die Anstalt in den dreißiger und vierziger Jahren, so sehr sich in ihrer Entwicklung die kantonal-politischen Richtungskämpfe spiegelten, eine Reihe vorzüglicher Gelehrter. In der theologischen Abteilung ragte hervor der stark von Johann Adam -»Möhler, Johann Sebastian Drey und Johann Baptist -»Hirscher beeinflußte „liberale" Joseph Burkard Leu (1808-1865, seit 1834 Professor der Dogmatik, Apologetik, Symbolik und Patristik), der sich auch als theologischer und kirchenpolitischer Schriftsteller profilierte, jedoch 1845 seinen Lehrstuhl den Jesuiten abtreten mußte. Immerhin aber hatte der politische Umbruch von 1847 (mit dem Ende des jesuitischen „Intermezzos") bewirkt, daß eine neuscholastische Philosophie und Theologie jesuitisch-römischer Façon, die seit der Mitte des 19. Jh. im Raum der katholischen Kirche mit Vehemenz zur Alleinherrschaft drängte, sich in Luzern nicht durchsetzten. Das -*• Vatikanum I (1869/70) und dessen dogmatische Beschlüsse, die (zusammen mit dem Syllabus von 1864) in der Schweiz einen stark politisch motivierten Kulturkampf entfesselten — geschürt von Scharfmachern im konservativ-katholischen wie im liberal-radikalen L a g e r - , stürzten auch das Luzerner Lyzeum und insbesondere die theologische Abteilung in eine schwere Krise, zumal sich Eduard Herzog (1841-1924), Professor für neutestamentliche Exegese, 1872 der altkatholischen Bewegung anschloß (erster christkatholischer Bischof der Schweiz). In Lyzeum und theologischer Abteilung, vom päpstlichen Geschäftsträger Gian Battista Agnozzi als „miserabile" bezeichnet, von weiten Kreisen als „Herd der antivatikanischen Opposition" angesehen, sanken die Studentenzahlen erneut auf ein Minimum (1871/72 10 Theologen, 20 Studenten am Lyzeum, 1874/75 18 Theologen, 28 Studenten am Lyzeum), einige Theologen gaben ihr Studium auf oder wechselten an die neu gegründete christkatholische Fakultät in Bern. Mit dem Sieg der Konservativen bei den Luzerner Großratswahlen im Mai 1871 - mit eine Konsequenz des Streites um die Vatikanischen Beschlüsse - endete zumindest für die
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theologische Abteilung die „liberale" Ära. Auf die theologischen Lehrstühle gelangten fortan ausschließlich Kandidaten der „streng kirchlichen" Richtung. Ende der achtziger Jahre übersiedelte die theologische Abteilung in das 1883 vom Bistum neu erbaute Luzerner Priesterseminar auf der Propsteimatte. Der räumlichen Trennung von Gymnasium und Lyzeum (Kantonsschule) folgte schließlich 1910 die institutionelle Trennung durch Errichtung eines eigenen Rektorats für die theologische Abteilung (Erziehungsgesetz vom 13. Oktober 1910). Eben hatte die „Modernismus"-Kontroverse (mit der Publikation der Enzyklika Pascendi dominici gregis 1907 und der Einführung des Antimodernisteneids 1910; -»Modernismus) ihren Höhepunkt erreicht. Die Luzerner theologische Schule - nunmehr de facto vom Kanton Luzern getragene diözesane Ausbildungsstätte - verteidigte und sekundierte kompromißlos die päpstliche Kampfansage gegen den angeblich in Kirche und Theologie eingeschlichenen „verderblichen Modernismus", an der Spitze der Anstalt (als ihr Exponent) Albert Meyenberg (1861-1934), Professor der Pastoral- und Moraltheologie (1891), dann der neutestamentlichen Exegese (1902), Redakteur der Schweizerischen Kirchenzeitung (seit 1900), als kirchlicher Publizist, Kanzel- und Vortragsredner über die Grenzen der Schweiz hinaus bekannt. 2. Heutige
Verfassung
Für die weitere Entwicklung der Theologischen Fakultät Luzern wurde das Zweite Vatikanum (1962-1965) zur einschneidenden Zäsur. Nicht zuletzt durch das vermittelnde Eingreifen des (kirchlich zuständigen) Bischofs von Basel, Anton Hänggi, wurden die Voraussetzungen für einen großzügigen Ausbau der Fakultät entsprechend den Anforderungen einer zeitgemäßen Theologie und der Verfassung der theologischen Universitätsfakultäten im deutschsprachigen Raum geschaffen. Durch Beschluß vom 8. Mai 1970 verlieh der Luzerner Regierungsrat der Fakultät das Promotions- und Habilitationsrecht. Die päpstliche Bestätigung der Verleihung der vollen Gradrechte erfolgte durch Dekret vom 15. Dezember 1973. Heute umfaßt die Theologische Fakultät Luzern 13 ordentliche Lehrstühle (mit zugeordneten Assistentenstellcn), ein Institut für Jüdisch-Christliche Forschung und ein Institut für Sozialethik (beide 1981 gegründet). Außer einem Katechetischen Institut (für die spezielle Ausbildung von Laienkatecheten an Volksschulen) ist der Fakultät angegliedert ein durch Rcgierungsratsbeschluß vom 23. August 1983 errichtetes und am 1. Oktober 1984 eröffnetes Philosophisches Institut (mit vollausgebauten Studiengängen und Promotionsrecht in Philosophie), das inzwischen mit drei ordentlichen Lehrstühlen (für Philosophie und Geistesgeschichte, für Religionswissenschaft, für Allgemeine und Schweizerische Geschichte) ausgestattet ist. Im Mai 1985 erhielt die Fakultät mit den angeschlossenen Instituten - nach provisorischer Unterbringung im alten Kantonsschulgebäudc - auch ein eigenes Fakultätsgebäude mit beachtlicher Präsenzbibliothek. Die Frequenz der Fakultät, die u.a. in enger ökumenischer Zusammenarbeit mit der Theologischen Fakultät der Universität Basel steht und überhaupt regen wissenschaftlichen Austausch mit schweizerischen, deutschen und österreichischen Universitäten pflegt, liegt bei über 200 eingeschriebenen Studierenden (im Sommersemester 1990 zählte die Theologische Fakultät 183, das Philosophische Institut 37 und das Katechetische Institut 43 eingeschriebene Hörer, mit einem Ausländeranteil von gut 10%). Diese Zahl entspricht in etwa der Hörerzahl an den Theologischen Fakultäten der Universitäten Basel und Zürich. Literatur Franz Xaver Bischof, Das Ende des Bistums Konstanz. Hochstift u. Bistum Konstanz im Spannungsfeld v. Säkularisation u. Suppression (1802/02-1821/27), Stuttgart/Berlin/Köln 1989 (Münchener Kirchenhist. Stud. 1). - Gottfried Boesch/Anton Kottmann, 400 Jahre Höhere Lehranstalt Luzern 1574-1974, Luzern 1974. - Rudolf Bolzern, Das höhere kath. Bildungswesen der Schweiz im Ancien Régime ( 1 6 . - 1 8 . Jh.). Eine Zeit ohne eigene Univ.: ZSKG 83 (1989) 7 - 3 8 . - Victor Conzemius, Der geistesgesch. Hintergrund des Christkatholizismus. Zur Entstehung der christkath. Pfarrei Ölten: ZSKG 60 (1966) 1 1 2 - 1 7 0 . - D e r s . , Katholizismus ohne Rom. Die altkath. Kirchengemein-
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schaft, Einsiedeln 1969. - Ders. (Hg.), Briefwechsel Philipp A n t o n v. Segesser ( 1 8 4 0 - 1 8 6 8 ) , 4 Bde., Z ü r i c h / E i n s i e d e l n / K ö l n 1 9 8 3 - 1 9 8 9 . - Fritz Glauser (Hg.), D a s Schülerverzeichnis des Luzerner Jesuitenkollegiums 1 5 7 4 - 1 6 6 9 , L u z e r n / M ü n c h e n 1976 (Luzerner Hist. Veröff. 6). - Alois Häfliger, S c h u l t h e i s Eduard Pfyffer 1 7 8 2 - 1 8 3 4 . Förderer des Luzerner Schulwesens, Willisau 1975. - Eduard Hegel, J o h a n n Anton Dereser ( 1 7 5 7 - 1 8 2 7 ) : Heinrich F r i e s / G e o r g Schwaiger (Hg.), Kath. T h e o l o gen Deutschlands im 19. J h . , M ü n c h e n , I 1975, 1 6 2 - 1 8 8 . - J a h r e s b e r . der T h e o l . F a k . Luzern 1 9 7 0 / 7 1 - 1 9 8 9 / 9 0 , Luzern 1 9 7 1 - 1 9 9 0 . - Philipp Kaspar, Alois Gügler 1 7 8 2 - 1 8 2 7 . Ein bedeutender Luzerner T h e o l o g e im Spannungsfeld v. Aufklärung u. R o m a n t i k , Schüpfheim 1977. - Kolleg Luzern 1 5 7 4 - 1 7 7 4 : Helvetia S a c r a . Abt. VII: Der Regularklerus. Die Gesellschaft J e s u in der Schweiz. Die S o m a s k e r in der Schweiz, Bern 1 9 7 6 , 1 1 4 - 1 6 0 . - Alois Lütolf, J o s e f Eutych K o p p als Prof., Dichter, S t a a t s m a n n u. Politiker, Luzern 1868. - O t h m a r Pfyl, Alois Fuchs 1 7 9 4 - 1 8 5 5 . Ein Schwyzer Geistlicher auf dem Weg v o m Liberalismus zum R a d i k a l i s m u s , 2 T . , Schwyz 1 9 7 1 - 1 9 8 2 (Mitt. des Hist. Vereins des Kantons Schwyz 6 4 . 7 1 . 7 3 . 7 4 ) . - Peter S c h m i d , Kirchentreue u. christl. Pragmatismus. Die Friedensarbeit u. sozialethische Verkündigung des Luzerner T h e o l o g e n Albert M e y e n b e r g ( 1 8 6 1 - 1 9 3 4 ) , 1987 ( E H S . T 314). - Emil Spieß, Ignaz Paul Vital T r o x l e r . D e r Philosoph u. V o r k ä m p fer des schweizerischen Bundesstaates, Bern 1967. - Peter Stadler, D e r K u l t u r k a m p f in der Schweiz. Eidgenossenschaft u. Kath. Kirche im europ. Umkreis 1 8 4 8 - 1 8 8 8 , Frauenfeld/Stuttgart 1984. - Alois Steiner, Die Idee der k a t h . Univ. in der Schweiz im 19. J h . Ihr Scheitern in Luzern u. ihre Realisierung in Freiburg: Z S K G 83 (1989) 3 9 - 8 2 . - E d u a r d Studer, Leonz Füglistaller ( 1 7 6 8 - 1 8 4 0 ) Stiftspropst in Luzern, 1951 ( Z S K G Beih. 8). - J o h a n n Baptist Villiger, W i e es zur G r ü n d u n g der Schweizerischen Kirchenzeitung k a m : Z S K G 150 (1982) 4 1 0 - 4 1 7 . - M a n f r e d Weitlauff, J o h a n n Michael Sailer ( 1 7 5 1 - 1 8 3 2 ) . Universitätslehrer, Priestererzieher u. B i s c h o f im Spannungsfeld zw. Aufklärung u. R e s t a u r a t i o n : Z S K G 7 7 (1983) 1 4 9 - 2 0 2 . - Ders., „ M o d e r n i s m u s litterarius". Der „ K a t h . Liter a t u r s t r e i t " , die Z s . „ H o c h l a n d " u. die Enzyklika „Pascendi dominici g r e g i s " Pius' X . vom 8. September 1907: B A B K G 37 (1988) 9 7 - 1 7 5 . - D e r s . , Z w . Kath. Aufklärung u. kirchl. R e s t a u r a tion. Ignaz Heinrich v. Wessenberg ( 1 7 7 4 - 1 8 6 0 ) , der letzte Generalvikar u. Verweser des Bistums Konstanz: R o t t e n b u r g e r J b . f. K G 8 (1989) 1 1 1 - 1 3 2 . - Ders., Ignaz Heinrich v. Wessenbergs Bemühungen um eine zeitgemäße Priesterbildung. Aufgezeigt an seiner Korrespondenz mit dem Luzerner Stadtpfarrer u. Bischöflichen K o m m i s s a r T h a d d ä u s M ü l l e r : ders./Karl Hausberger (Hg.), Papsttum u. K i r c h e n r e f o r m . Hist. Beitr. FS G e o r g Schwaiger zum 6 5 . G e b u r t s t a g , St. Ottilien 1990, 5 8 5 - 6 5 1 . - Ders., Kirche u. Staat im Kanton Luzern. D a s sog. Wessenberg-Konkordat vom ^ . F e bruar 1806: ders. (Hg.), Kath. Kirche u. T h e o l . in der ersten H ä l f t e des 19. J h . , Stuttgart/Berlin/Köln 1 9 9 0 , 1 5 3 - 1 9 6 . - D e r s . / M a r k u s Ries (Hg.), Ignaz Heinrich Reichsfreiherr v. Wessenberg. Briefwechsel mit dem Luzerner Stadtpfarrer u. Bischöflichen K o m m i s s a r T h a d d ä u s M ü l l e r in den J a h r e n 1 8 0 1 - 1 8 2 1 , Basel 1992 ( Q S G N F III. Abt.: Briefe u. Denkwürdigkeiten 11). - H a n s W i c k i , Staat - K i r c h e - R e l i g i o s i t ä t . Der Kanton Luzern zw. b a r o c k e r Tradition u. Aufklärung, Luzern/Stuttgart 1990 (Luzerner Hist. Veröff. 26). - G u i d o W ü e s t , J o s e f Burkard Leu ( 1 8 0 8 - 1 8 6 5 ) . Propst im H o f u. Prof. der T h e o l . in Luzern. Ein „liberaler G e i s t l i c h e r " , 1974 ( E H S R . III Gesch. 30).
Manfred Weitlauff
Lyon, Konzile von I. Konzil von 1245 II. Konzil von 1274
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I. Konzil von 1245 (Quellen/Literatur S. 636)
Mit dem Lugdunense I beginnt die Reihe der außerhalb Italiens stattfindenden Generalkonzilien des Mittelalters (-»Synoden). Die Gründe für die Wahl der Rhonestadt durch -»Innozenz IV. sind in den Quellen nicht genannt, sicher ist lediglich, daß der Papst dem befürchteten Zugriff seines Gegners Kaiser -»Friedrich II. entgehen wollte und daher in einen Ort jenseits der Alpen auswich: Die Erfahrung der gewaltsamen Verhinderung eines nach Rom berufenen Konzils durch den Staufer im Jahr 1241 war wohl der Grund dafür, daß Innozenz den Kirchenstaat fluchtartig verließ, als nach anfänglichen Hoffnungen auf Ausgleich des jahrzehntealten Konflikts mit dem Kaiser der Gegensatz während seines Pontifikats sich erneut verschärfte. Die geographische Position der an der Nord-Südachse des Flußsystems Rhône-Saône liegenden Stadt Lyon, die mit ihren Brük-
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ken auch den Ost-Westverkehr erleichterte und ein traditioneller Sammlungsort von Kreuzfahrern war, mag den Ausschlag gegeben haben. Daß der Konflikt mit dem Kaiser, der Gründonnerstag 1245 neuerlich gebannt wurde, der Hauptgrund für die Berufung war, geht vor allem daraus hervor, daß der Papst die erste Konzilsankündigung während einer Predigt am 27. Dezember 1244 mit der Zitation Friedrichs II. vor die Synode verband, bevor unter dem 3. Januar 1245 die förmliche schriftliche Einladung an den Episkopat erging. Geladen wurden auch die Kathedralkapitel, zahlreiche Äbte, darunter die von Cluny, Citeaux und Clairvaux sowie - erstmals - die Generaloberen der Bettelorden und wohl auch (Vertreter der) europäische(n) Könige, von denen nachweislich Heinrich III. von England (1216-72) und -»Ludwig IX. von Frankreich sowie vermutlich Jakob von Aragon (1216-1276) Gesandte zur Synode abordneten. Quellenmäßig klar bezeugt sind vor allem die drei Sitzungen vom 28. Juni, 5. Juli und 17. Juli, andere Diskussions- und Arbeitsforen lassen sich in der Regel lediglich erschließen. - In seiner programmatischen Einleitungsrede während der Eröffnungssitzung nannte Innozenz IV. neben der persecutio der Kirche durch den Kaiser vier weitere Punkte: die deformatio von Klerus und Kirchenvolk, die insolentia der Sarazenen, das schisma der Griechen und die sevitia der Tataren; von diesen Tractanden waren einige bereits zwei Tage zuvor in einer vorbereitenden Zusammenkunft im Refektorium des Kollegiatkonvents St.-Just, der als päpstliche Residenz diente, erörtert worden: Der (lateinische) Patriarch von Konstantinopel beklagte die militärische Bedrohung des lateinischen Kaiserreichs durch den (in Nikaia residierenden) byzantinischen Basileus Johannes III. Vatatzes und das Schrumpfen seiner Obödienz, der Bischof von Beirut trug die gefährdete Lage der Kreuzfahrerstaaten nach dem Verlust von Jerusalem und der Schlacht bei Gaza 1244 vor und forderte im Namen des Episkopats der Terra Sancta dringend sofortige Hilfe. Dem folgend billigten zwei in der letzten Sitzung verabschiedete Konstitutionen (Afflicti corde und Ardtiis mens), die in der Nachfolge der 1215 ergangenen Beschlüsse für das lateinische Kaiserreich und das Hl. Land standen, finanzielle Unterstützung für die gefährdeten lateinischen Positionen am Bosporus und in Syrien. Die Bedrohung Europas durch die Tataren, die 1241 Schlesien, Böhmen und Ungarn heimgesucht hatten, hatte bereits vor Konzilsbeginn zur Entsendung einer Reihe von päpstlichen Gesandtschaften an mongolische Machthaber geführt; auf der Synode selbst (vielleicht aber auch bereits vorher) ist es zu intensiven Diskussionen über den Grad der Gefährdung Europas durch das innerasiatische Reitervolk gekommen; Resultat der Befragung eines bisher nicht identifizierten Petrus archiepiscopus Russcie und eines anderen Gewährsmannes und der darüber gepflogenen Beratungen war die Konstitution Christianae religionis, in der sacro suadente concilio zu Verteidigungsbereitschaft und Defensivmaßnahmen aufgerufen und unverzügliche Unterrichtung des Hl. Stuhls über alle tatarischen Invasionen erbeten wurde, die man demnach für die Zukunft erwartete. Das zentrale Thema der Synode, der Konflikt mit dem Kaiser, wurde auf allen drei Sitzungen verhandelt. Friedrich II. ließ sich durch eine Delegation vertreten, deren Leiter Thaddeus von Suessa der rhetorisch-taktisch außerordentlich geschickte Wortführer und Anwalt der kaiserlichen Sache war. Selbst die Brevis nota, ein offiziöser kurialer Bericht über den äußeren Verlauf der Synode, räumt ein, Thaddeus' Verteidigung habe bei zahlreichen Zuhörern großen Eindruck gemacht ( . . . multis eins responsto fuit grata). Wie umstritten die beabsichtigte Absetzung des Kaisers war, geht indirekt auch daraus hervor, daß Innozenz sich die Zustimmung zum Absetzungsakt durch die Väter urkundlich bestätigen ließ. Die Bulla depositionis, die schließlich 150 Konzilsväter besiegelten, wurde in der letzten Sitzung feierlich verlesen; sie entsetzte den Herrscher wegen Meineid, Friedensbruch, Sakrileg und Häresieverdacht aller seiner Reiche und forderte die Kurfürsten zur Neuwahl auf. Der Protest des kaiserlichen Vertreters dagegen blieb wirkungslos, seine Appellation ad futurum pontificem et concilium generale ist das früheste Beispiel einer Konzilsappellation papa praesente.
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Der Ertrag an kirchenrechtlichen Entscheidungen, soweit das Konzil selbst sie getroffen hat, wie auch der Grad der Mitwirkung der Väter an der Diskussion der von der Kurie vorgelegten Entwürfe hat sich trotz eindringender Forschungen (Kuttner, Fournier, Keßler) bisher nicht im einzelnen klären lassen; „einige (Dekrete) wurden vor dem Konzil, einige während desselben und einige nach dem Konzil erlassen" (Matthaeus Parisiensis). Sie betrafen u. a kirchliche Verwaltung, Wahlen und Ämter, Rechts- und Gerichtswesen, ferner das Procedere bei Exkommunikationen und das Problem der Anstiftung zum (politischen) Mord - beide wohl vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Kaiser zu sehen — sowie schließlich - unter dem Titel de usuris - Finanzgebahren und Wirtschaftsführung kirchlicher Institute. Quellen Brevis N o t a e o r u m , quae in p r i m o concilio Lugdunensi generali gesta sunt: M a n s i X X I I I , 6 1 0 - 6 1 3 ; beste Edition in: M G H . C o n s t II, 5 1 3 - 5 1 6 , Nr. 4 0 1 , vgl. dazu (und zu weiteren Editionen) die kritischen Bemerkungen von St. Kuttner, Edition 21 - 4 0 . - M a t t h a e u s Paris, C h r o n i c a m a j o r a IV, h g . v . Henry R i c h a r d s Luard ( R B M A S «Rolls Series> 5 7 , 4 ) , L o n d o n 1877, N a c h d r . 1964, 4 1 0 - 4 1 3 . 4 3 0 - 4 7 3 = M G H SS X X V I I I , 2 5 6 - 2 6 8 . - Absetzungsdekret Friedrichs II.: M G H . C o n s t . II, 5 0 8 - 5 1 2 , N r . 3 9 9 f; M G H . E R II, N r . 8 9 , 1 2 4 . - Les Registres d ' I n n o c e n t IV ed. Elie Berger, vol. I - I V , Paris 1884—[1921] (Bibliothèque des Ecoles Françaises d'Athènes et de R o m e , deuxième sér. ). - D o c u m e n t s illustrative o f English History in the T h i r t e e n t h and Fourteenth Centuries, selected from the R e c o r d s o f the D e p a r t m e n t o f the Q u e e n ' s R e m e m b r a n c e r o f the E x c h e q u e r , hg. v. Henry C o l e , London 1844, 3 5 1 - 3 6 2 . - Eduard W i n k e l m a n n (Hg.), Acta impcrii inedita scculi X I I I . (et X I V . ) . Urkunden u. Briefe zur G e s c h . des Kaiserreichs u. des Königreichs Sicilien, I (in den J a h r e n 1198 bis 1273) Innsbruck 1880, 5 6 8 - 5 7 0 ; II (in den J a h r e n 1 2 0 0 - 1 4 0 0 ) Innsbruck 1885, 7 0 9 - 7 2 1 (dazu H a m p e , s . u . Lit., 3 0 0 A n m . 1). - Historia diplomatica Friderici Secundi . . . ili. J e a n - L o u i s Alphonse Huillard-Bréholles, vol. VI pars I, Paris 1860, N a c h d r . Turin 1 9 6 3 , 2 7 0 - 2 7 3 . 2 7 5 - 2 9 0 . 3 1 1 . 3 1 6 - 3 2 7 . - C O D 2 7 3 - 3 0 1 . - D r e i T e x t e zur G e s c h . der Ungarn u. M o n g o l e n : Die Missionsreisen des fr. J u l i a n u s O . P . ins Ural-Gebiet ( 1 2 3 4 / 3 5 ) u. nach R u ß l a n d (1237) u. der Bericht des Erzbischofs Peter über die T a t a r e n , h g . v . Heinrich D ö r r i e , 1956 ( N A W G . P H 1956), 1 2 5 - 2 0 2 . - J e a n - B a p t i s t e M a r t i n , Conciles et Bullaire du diocèse de Lyon des origines à la réunion du Lyonnais à la F r a n c e en 1312, Lyon 1905, 238 - 2 8 4 . - William E. Lunt, T h e Sources for the First Council o f Lyons 1245: E H R 33 (1918) 7 2 - 7 8 . - Giulio Battelli, I Transunti di Lione del 1245: M I Ö G 6 2 (1954) 3 3 6 - 3 6 4 .
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II. Konzil von 1 2 7 4 1. Vorgeschichte 1.
2. Verlauf
3. Würdigung
(Quellen/Literatur S. 641)
Vorgeschichte
Im unmittelbaren Anschluß an seine Krönung in R o m am 27. M ä r z 1 2 7 2 verkündete Papst G r e g o r X . - als Ergebnis intensiver Vorberatungen in den Wochen zuvor in Viterbo - während eines Konsistoriums, an dem alle Kardinäle teilnahmen, den Beschluß zur Berufung eines concilium generale zum 1. M a i 1274. Der Plan ging wohl auf seine Initiative zurück: W ä h r e n d seiner Wahl (1. September 1271) hatte er als Pilger im Hl. L a n d geweilt und dort die bedrohte L a g e der - zudem von inneren Konflikten zerrissenen — Kreuzfahrerstädte in Syrien/Palästina kennengelernt. Diese Situation und die traditionelle Vorstellung v o m Besitz der hl. Stätten als Wille Gottes waren die wesentlichen Gründe für den Entschluß zum Konzil, die dementsprechend auch in der Berufungsbulle Salvator noster v o m 31. M ä r z 1 2 7 2 in den Vordergrund gerückt wurden; daneben waren die subtractio populi Grecorum und die subversio morum von Klerus und Laien weitere, freilich deutlich erkennbar zweitrangige M o t i v e für die Berufung. Die Kreuzzugsthematik w a r auch Grund für die Ortswahl, die erst a m 13. April 1 2 7 3 publiziert wurde: Z u m zweiten M a l nach den durch die Päpste seit der Investiturstreitszeit nach R o m berufenen concilia generalia des hohen Mittelalters ( - > L a t e r a n s y n o d e n ) und in der Tradition des ersten Konzils von Lyon von 1245 (s.o.) entschied man sich für einen O r t außerhalb Italiens und des Kirchenstaats: Das formal auf Reichsboden liegende, aber zum französischen Kulturraum gehörende Lyon wurde gewählt, um eine möglichst reiche Beschickung aus den Ländern nördlich der Alpen sicherzustellen, „ d a Hilfe für das Hl. Land besonders von der Unterstützung jener Fürsten und Prälaten abhängt, die . . . bequemer jenseits der Alpen z u s a m m e n k o m m e n k ö n n e n " . Der Kreis der Berufenen entsprach den Vorbildern von 1215 und 1245: Neben den Bischöfen waren die Generaloberen der verschiedenen Orden, die Äbte (je einer pro Diözese) und Vertreter von Dom- und Stiftskapiteln und zahlreiche europäische Herrscher geladen, formelle Einladungen erhielten auch der byzantinische Kaiser und Patriarch sowie König und Katholikos von (Klein-)Armenien. Dazu erschienen Repräsentanten verschiedener italienischer Städte. Die Quellen sprechen von mehr als 500 teilnehmenden Bischöfen, von denen etwa die Hälfte urkundlich nachweisbar ist. Die Gesamtzahl der Teilnehmer ist so wenig sicher zu klären wie zahlreiche Einzelheiten des äußeren Ablaufs und der Entscheidungsfindung (Tagesordnung, Redefreiheit, Stimmrecht, Abstimmungsmodus etc.). Z u r Vorbereitung der Arbeiten erbat der Papst von ausgewählten Konzilsvätern und prudentes viri Gutachten zur Synodenthematik, insbesondere zum P r o g r a m m p u n k t reformatio morum. Von ihnen sind erhalten geblieben die Relatio des Bischofs B r u n o von
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Olmütz, die am stärksten auch auf politische Punkte abstellte (deutsche Königswahl und Kaiserkrönung), ein später Opus tripartitum genanntes Memorandum des ehemaligen Dominikanergeneralmagisters Humbert von Romans, das insbesondere die Kreuzzugsfrage und das negotium Graecorum behandelte, sowie die Collectio de scandalis ecclesiae des Minoriten Guibert von Tournai, diese letztere wenig mehr als die kompilatorische Abhandlung eines Theoretikers ohne den vom Auftraggeber geforderten Bezug auf die zeitgenössische Realität. 2.
Verlauf
Das Konzil, acht Tage nach dem ursprünglich festgesetzten Berufungstermin eröffnet, behandelte auf insgesamt sechs Sitzungen (am 7. und 18. M a i , 4. Juni, 6., 16. und 17. Juli) und in (kaum bezeugten) Arbeitstreffen, Expertengremien und Konsistorien als ersten Tagesordnungspunkt zunächst fast ausschließlich das vom Papst als besonders dringlich und unabweisbar notwendig hingestellte subsidium Terrae Sanctae, das deshalb auch - gegen erbitterten Widerstand zahlreicher Synodalen, aber mit geschlossener Zustimmung aller Kardinäle - bereits in der zweiten Sitzung in Form eines sechsjährigen Kreuzzugszehnten des gesamten lateinischen Klerus (Exemtionen erfolgten erst später) beschlossen wurde. Zugleich erging ein förmlicher Aufruf zum Kreuzzug und zur Kreuzzugspredigt, während der Beginn des passagium generale nicht festgelegt, sondern dem Papst überlassen wurde, der aber in der knappen ihm noch verbleibenden Zeit (Tod am 10. Januar 1276) seinen Lebenstraum nicht hat realisieren können. Die Kreuzzugskonstitution Zelus fidei, in der Tradition insbesondere der entsprechenden Dekrete von 1215 und 1245 stehend und deren Vorschriften z.T. wörtlich wiederholend, regelte die M o d a litäten der Zehnterhebung und Kreuzzugsorganisation, verbot Handel und nautische Hilfe mit und für die Sarraceni und versuchte (vergeblich), über freiwillige Almosen hinaus auch die Laien zu pflichtmäßigen Abgaben für den Kreuzzug heranzuziehen. Ganz im Dienst des päpstlichen Krcuzzugsplans stand die meistens als „ U n i o n " bezeichnete (bereits von Gregor X . während der Eröffnungsrede so genannte, in anderen Quellen als reduetio oder reversio Graecorum umschriebene) Einigung mit dem oströmischen Kaiser Michael VIII. Palaiologos. Für Gregor X . hatte der Vorgang die Funktion, Byzanz in sein Kreuzzugsprojekt einzubinden und die Nordflanke des (See-)Weges von Frankreich und Italien durch das östliche Mittelmeer nach Akkon zu sichern. Der Basileus verband damit die Absicht, durch eine Allianz mit dem Papsttum die Angriffspläne insbesondere König Karls I. (von Anjou) von Neapel-Sizilien und anderer lateinischer Staaten (Venedig!) gegen das erst 1261 wieder griechisch gewordene Konstantinopel zu durchkreuzen. Im Verfolg dieser Politik hatte Michael bereits mit Urban IV. ( 1 2 6 1 - 6 5 ) und Clemens IV. ( 1 2 6 5 - 6 8 ) verhandelt, das durch letzteren nach Byzanz übersandte Symbol wurde Ausgangspunkt einer erbitterten innerbyzantinischen Auseinandersetzung über eine (kirchliche) Übereinkunft zwischen Alt- und Neu-Rom und zugleich dogmatische Grundlage der Verhandlungen des Kaisers mit der römischen Kurie. Teile der Hierarchie, Mönchtum und Kirchenvolk im oströmischen Reich mit dem Patriarchen Joseph I. an der Spitze versagten sich dem kaiserlichen Plan, dagegen stimmte eine beträchtliche (in ihrem Gewicht freilich schwer einschätzbare) Anzahl von Metropoliten samt ihren Suffraganen aus Gründen der oiKOVOftia der kaiserlichen Politik zu; sie unterzeichneten, unter starkem Druck stehend, schließlich ein Schreiben, in dem sie in allgemeingehaltenen und (auch wegen des allein in lateinischer Ubersetzung vorliegenden Wortlauts) schwer interpretierbaren Formulierungen über die primatus honoris (Plural!) der Kirche von Rom secundum antiquam iurisdictionem handelten und zusagten omne quod et in praeteritis temporibus Throno Apostolicae Sedis in superexcellentem honorem tributum est... et nihil ( = omnia) eorum quae ante schisma praestabant Patres nostri hiis qui Apostolicam regebant Sedem, statim et nos attribuimus [„alles, was in der Vergangenheit dem Thron des Apostolischen Stuhls zu außerordentlicher Ehre erwiesen worden ist...; und alles, was vor der Kirchentrennung unsere Väter den Leitern des Apostolischen Stuhls zuerkannt haben, das erweisen auch wir (ihnen) unverzüglich"]. Von den traditionellen und aktuellen Kontroverslehren wie etwa Filioque,
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mentenlehre, Azymenstreit war mit keinem Wort die Rede. Das römischerseits formulierte Symbol unterschrieb allein der Kaiser, der es auf kuriales Drängen hin durch seinen Großlogotheten Georgios Akropolites während der Sitzung vom 6. Juli auch feierlich beschwören ließ, während der byzantinische Ex-Patriarch Germanos III. und Metropolit Theophanes von Nikaia als Geistliche das kaiserliche Bekenntnisschreiben nur unterzeichneten. Alle drei genannten byzantinischen Gesandten waren allein Vertreter des Basileus, nicht Repräsentanten oder Sprecher der orthodoxen Kirche. Wie weit ihre Mitwirkung an der Formulierung der einzigen dogmatischen Konstitution des Konzils Cum sacrosancta (nach Synodenende in Fideli ac devota umbenannt) ging, in der der Ausgang des Hl. Geistes ex patre et filio non tanquam ex duobus principiis, sed tanquam ex vno principio, non duabus spiracionibus, set vnica spiracione [aus dem Vater und dem Sohn nicht wie aus zwei Ursprüngen, sondern wie aus einem Ursprung, nicht durch zwei Hauchungen, sondern durch eine einzige Hauchung] als „übereinstimmende Lehre der lateinischen und griechischen Kirchenväter und -lehrer" festgelegt wurde, ist nicht erkennbar, dürfte aber kaum entscheidend gewesen sein. Substantielle theologische Fachgespräche über umstrittene Fragen der Dogmatik, der Kirchenverfassung und kirchlicher consuetudines haben weder in der langen Gesprächsphase vor der Synode noch während des Konzils selbst stattgefunden, wie auch die Chronologie nahelegt. Die byzantinische Delegation traf erst am 2 4 . J u n i in Lyon ein, fünf T a g e später (am Peter-PaulsFest) sangen die kaiserlichen Vertreter im R a h m e n einer Papstmesse das griechische S y m b o l mit dem ' Yiov ve, und denselben A k t wiederholten sie während der Sitzung vom 6 . J u l i , auf der auch der erwähnte Eid (und die Unterschriften?) erfolgten. Z u d e m gehörten zur byzantinischen G e s a n d t schaft keine F a c h t h e o l o g e n , die mit lateinischen Gesprächspartnern (anwesend waren etwa - » A l b e r t d. G r o ß e , - » B o n a v e n t u r a , Petrus Hispanus) hätten diskutieren k ö n n e n , sondern allein Laien (Akropolites) und kaum als theologisch oder kirchcnrechtlich qualifizierte Experten zu bezeichnende Bischöfe.
Den im wesentlichen kirchenpolitischen Charakter der Einigung bestätigen auch die auf Kreuzzug und Herrschaftssicherung der Palaiologendynastie abzielenden Verhandlungen der byzantinischen Gesandten mit der Kurie, deren Ergebnisse allerdings unbekannt sind: Der Kaiser sagte adiutorium in Terra Sancta et per exercitum et per pecuniam et per victualia [Beistand im Heiligen Land sowohl durch Truppen als auch durch Geld und Lebensmittel] für den Fall zu, daß als Gegenleistung päpstliche Intervention im Zuge seiner auf pacem cum omnibus Latinis prineipibus et regibus [Frieden mit allen lateinischen Fürsten und Königen] gerichteten Westpolitik erfolgen werde. Der Kreuzzugsvorbereitung dienten schließlich auch die vom Papst unmittelbar nach seiner Wahl initiierten Gespräche und Verhandlungen mit dem mongolischen IlchanReich in Persien/Mesopotamien, die in Lyon auf den Höhepunkt kamen: Eine vielbestaunte tatarische Delegation, von deren Mitgliedern sich vor Beginn der 5. Sitzung drei zum Zeichen ihrer Bündnistreue dem christlichen Initiationsritus der Taufe unterzogen, boten im Namen ihres Herrn confederacionem et pacem firmam cum omnibus christianis... contra infideles Babilonicos [ein Bündnis und sicheren Frieden mit allen Christen . . . gegen die babylonischen Ungläubigen] an. Die in Lyon erzielte grundsätzliche Ubereinkunft zu gemeinsamer Offensive gegen die ägyptischen Mamluken scheiterte in der Folgezeit vor allem an strategischen und logistischen Problemen. Die Reformarbeit der Synode erbrachte in zwei wichtigen Einzelpunkten über die Tagesaktualität hinausreichende Ergebnisse. Am Ende heftiger Debatten über Sinn und Grenzen des Grundsatzes der mendicitas und paupertas verbot die Konstitution Keligionum diversitatem alle Bettelorden und -gemeinschaften mit Ausnahme der -»Franziskaner, -»Dominikaner, -»Augustinereremiten und -»Karmeliter; diese Entscheidung, dem Problem der damals „wie Pilze aus dem Boden schießenden" (Emery) und sich auf das Armutsideal berufenden, zum Teil sektiererischen Gruppierungen beizukommen, wurde freilich durch die folgenden Päpste revidiert bzw. modifiziert. Dagegen sind
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wesentliche Bestimmungen des in Lyon beschlossenen Papstwahldekrets Ubi periculum bis heute gültig: Durch Abschluß der Wähler von der Außenwelt („Konklave"), Verlust ihrer Einkünfte während des gesamten Vorgangs und Beginn des ersten Wahlgangs bereits zehn Tage nach Eintritt der Sedisvakanz sollte eine rasche und unbeeinflußte Neubesetzung des Apostolischen Stuhls sichergestellt werden. Gegen den entschiedenen Widerstand der betroffenen Kardinäle mit Hilfe der großen Mehrheit der bischöflichen Teilnehmer als taktisch gelungener Uberraschungscoup vom Papst durchgesetzt, war Ubi periculum der Schlußstein im 1059 begonnenen Rechtsbau der -»Papstwahl. Die übrigen disziplinären Canones des Lugdunense II betrafen - zum größeren Teil in Aufnahme älterer Reformvorschriften seit dem Lateranense ¡11 von 1179 - das kirchliche Stellenbesetzungsrecht, die Visitation, den sog. Wucher und die Handhabung der Exkommunikation. - Die durch die Konzilsväter verabschiedeten 28 disziplinären Canones wurden bald nach Synodenende redaktionell und in Einzelheiten auch inhaltlich umgearbeitet, drei weitere unter der Rubrik Gregorius X in concilio Lugdunensi hinzugefügt, bevor sie am 1. November 1274 durch Übersendung an die Universitäten (Bologna, Paris, Padua) förmlich publiziert und - mit Ausnahme des Dekrets Properandum gegen Mißbräuche kirchlicher Advokaten und Prokuratoren - 1298 von -»Bonifatius VIII. in den Liber Sextus aufgenommen wurden. - Die von den Vätern jedenfalls im Fall der Konklave-Konstitution ausdrücklich ausgesprochene Gutheißung nachträglicher kurialer Korrekturen, die deshalb auch für die anderen Dekrete vermutet werden darf, könnte als Anerkennung der Oberhoheit des Papsttums über das Konzil interpretiert werden, dürfte den Lyoner Konzilsvätern selbst aber eher als Bekundung selbstverständlicher Einheit und gleichberechtigter Leitungsverantwortung von Papsttum und Weltepiskopat erschienen sein. Denn bei allen oft heftigen Kontroversen im einzelnen war weder die überragende Figur des Papstes als Vorsitzender der Synode noch seine straffe, zuweilen geradezu autoritäre Leitung oder gar sein Amt als sttmmus pontifex erkennbar Gegenstand grundsätzlicher Kritik. Als im engeren Sinn politische Fragen, die während des Konzils verhandelt wurden, sind zu nennen die päpstliche Anerkennung Rudolfs von Habsburg als römisch-deutscher König, die in einem Konsistorium am 6. Juni durch die Garantieerklärung des königlichen Kanzlers vorentschieden wurde, sowie die Bitte König Jakobs von Aragon um Krönung durch den Papst im Rahmen des Konzils und schließlich der Streit um die Thronfolgerechte im Königreich Jerusalem; doch waren diese Tractandcn nicht im strengen Sinn Synodalakte, sondern päpstliche Entscheidungen, die vor dem Forum des Konzils abliefen. 3.
Würdigung
Die bis heute in den meisten Lexica, Handbüchern und Gesamtdarstellungen mittelalterlicher (Kirchen)-Geschichte mehr oder weniger dezidiert vertretene Interpretation, die Synode von 1274 sei ein „Unionskonzil" gewesen, muß revidiert werden. Lyon II war nicht der Beginn einer Linie, die über Ferrara/Florenz (-»Basel-Ferrara-Florenz) und zahlreiche Einigungsgespräche und -Verhandlungen in den folgenden Jahrhunderten zum Ökumenismus unserer Gegenwart führt, sondern Endpunkt einer Entwicklung, die 1095 in Clermont-Ferrand (-»Urban II.) begonnen hatte: Das Konzil war kraft des Willens seines Leiters wesentlich ein Kreuzzugskonzil und damit eher einer historisch bereits überwundenen Programmatik (->Kreuzzüge) verpflichtet, als daß es, nach vorn blickend, zukunftsweisende Beschlüsse gefaßt hätte. Die sog. „Kircheneinigung", ohne zureichende theologische Abklärung der Kontroverslehren und auf der brüchigen Grundlage einer vom Kaiser erzwungenen Zustimmung eines Teils des byzantinischen Episkopats bei erklärter Ablehnung durch den ökumenischen Patriarchen deklariert, entbehrte des Willens zur Einheit aus dem Geist der Bitte Christi (Joh 17,11.22), und das bei Griechen und Lateinern gleicherweise. Die Orthodoxie konnte ihre Vorstellungen von Kollegialität, ihre Ekklesiologie und Sakramentenlehre nicht einbringen, ja nicht einmal artikulie-
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ren, weil sie in Lyon gar nicht präsent war, dem Papst und dem Konzil lag nichts daran, diese Themen zu klären oder auch nur zu diskutieren, ihnen genügte es, „die Griechen zum Widerruf (bestimmter Positionen) zu zwingen" (Albertus Magnus, Summa Theologiae II q 122, art. 2: Opera omnia, ed. Dionysius Siedler, tom. 34, pars 1, Monasterii 1978, IX. XVII mit Anm. 13); die „Einigung" war für sie lediglich Funktion gänzlich andersgearteter kirchenpolitischer Ziele. Blickt man schließlich auf die Kirche, insofern sie Volk Gottes ist, und mißt man die Vorgänge von Lyon am glaubenden und betenden Mitvollzug des populus Dei, so kann erst recht von „Kirchenunion" nicht gesprochen werden; für die westliche Christenheit blieb es bei einigen liturgischen Akten im Rahmen einer Bischofsversammlung, die von der zeitgenössischen Chronistik als angebliches Faktum verbucht wurden, aber im geistlichen Leben der Kirche und im religiösen Denken und Tun ihrer Gläubigen keine Rolle spielten. Im orthodoxen Osten blieb die angebliche Einigung „nichts als ein autoritärer Akt des Kaisers, abgeschlossen im Alleingang und ohne Beteiligung der Kirche" (Hans-Georg Beck, Byzanz und der Westen im Zeitalter des Konziliarismus: Die Welt zur Zeit des Konstanzer Konzils. Reichenau-Vorträge im Herbst 1964 [Vorträge und Forschungen, hg. v. Theodor Mayer 9], Stuttgart o. J. [1965], 137), ein „Diktat" (Anastasios Kallis: Geschichte der Ostkirche vom Bilderstreit bis zum Beginn des 20. Jh.: ÖKG 1, hg. v. Raymund Kottje/Bernd Möller, 3. verb. Aufl., Mainz 1980, 250), eine Einschätzung, von der die offizielle römische Stellungnahme nicht allzu weit entfernt ist, wenn im Zusammenhang der Lyoner reconciliatio - eben das war der Vorgang freilich sicher nicht - konstatiert wird: A Latinis ... textus ac formulae selecti sunt, qui referebant doctrinam ecclesiologicam elaboratam et compositam iti Occidente, iidemque Imperatori (Michaeli) et Ecclesiae Graecae sunt propositi, ut simpliciter exciperentur, ulla habita disceptatione [Von den Lateinern . . . sind Texte und Formeln ausgewählt worden, die eine ekklesiologische Lehre zur Sprache brachten, die im Westen erarbeitet und ausgestaltet worden war. Sie wurden dem Kaiser (Michael) und der griechischen Kirche zur bloßen Übernahme ohne jede vorausgehende Diskussion vorgelegt], und daran die Feststellung geknüpft wird: Nostris, enim, temporibus melius constat, condicionem, quae necessario praeire debet quemlibet nisutn ad unitatem christianorum spectantem, dialogttm esse [Zu unserer Zeit aber ist deutlicher ausgemacht, daß die Bedingung, die jedwedem Bemühen um die Einheit der Christen notwendigerweise vorauszugehen hat, der Dialog ist] (Papst Paul VI. zum 700. Anniversarium von Lyon II: AAS 61 [1974] 6 2 0 - 6 2 5 ) . Danach darf man sagen: Das Konzil war keine „Unionssynode" und nicht einmal der Versuch einer „Kircheneinigung", und infolgedessen war es eigentlich nur konsequent, daß auch die deklamatorischen Akte und Absichtserklärungen, die 1274 formuliert worden sind, einige Jahre später kassiert wurden. Die Aufkündigung der angeblichen „Union", die von Ost und West mit unterschiedlichen, aber gleicherweise den Kern verfehlenden Motiven nicht vollzogen, sondern nur deklariert worden ist, diese Aufkündigung, die Martin IV. 1282 mit der (in ihrer Begründung unzutreffenden) Exkommunikation über den byzantinischen Kaiser aussprach, war weniger das Durchtrennen eines bestehenden Bandes, sondern eher das Eingeständnis, daß dieses Band in Wirklichkeit nie geknüpft worden war. Quellen Acta Urbani IV, Clementis IV, Gregorii X ( 1 2 6 1 - 1 2 7 6 ) e registris vaticanis aliisque fontibus collegit Aloysius L. Tautu, Città del Vaticano 1953 (Pontificia commissio ad redigendum codicem iuris canonici orientalis, Fontes ser. III, vol. V, tom. I). - Carmelo Capizzi, Il 11° Concilio di Lione e l'Unione del 1274. Saggio bibliografico: OChrP 51 (1985) 8 7 - 1 2 2 . - C O D 303 - 3 3 1 . - Il Concilio II di Lione (1274) secondo la Ordinatio Concilii Generalis Lugdunensis. Edizione del testo e note ed. Antonino Franchi, 1965 (STF 33). - Cronica Sancti Petri Erfordensis moderna a. 1 0 7 2 - 1 3 3 5 , hg. v. Oswald Holder-Egger, 1899 ( M G H . S R G 42), 1 1 7 - 4 4 2 . - Le Dit du concile de Lyon (Ms. Zagreb M R 92), hg. v. Louis Carolus-Barré/Jean-Charles Payen: 1274. Année charnière [s.u. Lit.] 9 1 7 - 9 6 6 . - Dossier Grec de l'union de Lyon ( 1 2 7 3 - 1 2 7 7 ) par Vitalien Laurent/Jean Darrouzès, Paris 1976 (Archives de l'Orient Chrétien 16). - Jaume I, Crònica o Llibre dels feits. Revisió del text, pròlegs i notes per Ferran Soldevila, Barcelona o. J . (1971) (Jaume I, Bernat Desclot, Ramon Muntaner, Pere
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Machiavelli/Machiavellismus I
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Burkhard Roberg
Machiavelli/Machiavellismus I. Machiavelli II. Machiavellismus
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I. Machiavelli (Quellen/Literatur S. 6 4 4 )
Die große Tat, durch die der Florentiner Niccolò Machiavelli (3. Mai 1 4 6 9 - 2 1 . Juni 1527), den Zeitgenossen bekannter als Literat und Komödienschreiber denn als Staatstheoretiker, der abendländischen Geistesgeschichte einen neuen Weg gewiesen hat, liegt in der Entdeckung der Eigenständigkeit des Politischen sowie der Verschiedenheit des
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moralischen Systems, in dem sich das staatspolitische Handeln vollzieht. Gleich dem Anatomen löste er damit die Politik von der Ethik und verlieh ihr, indem er die wahre N a t u r und das innere Wesen der Staatsräson als erster durchschaute, jene vieldiskutierte Autonomie. Insofern ist er an der Umgestaltung der abendländischen Kultur in keinem geringeren M a ß e beteiligt als etwa Martin Luther oder Nikolaus Kopernikus. Der älteste Sohn des den Anwaltsberuf ausübenden promovierten Juristen Bernardo (1432-1500) kam aus wenig begütertem Landadelsgeschlecht und erhielt eine traditionell bürgerliche Erziehung. Vom Vater erbte er die Liebe zum Buch und zu gelehrtem Studium, aber auch die nüchterne, scharfsinnige Denkweise, von der Mutter, die der Patrizierfamilie Nelli angehörte, stammte die Gabe der Poesie. Familiärer Geldmangel ließ ihn im Griechischen kaum über Anfangsgrundlagen hinauskommen, so daß er diese Autoren stets in lateinischen oder (falls vorhanden) italienischen Übersetzungen rezipieren mußte.
Erst nach dem Sturz der theokratischen Herrschaft des Endzeitpropheten Girolamo -•Savonarola wurde dessen 29jähriger Widcrsachcr in ein öffentliches Amt gewählt: Am 28. Mai 1498 übernahm Machiavelli die bescheiden honorierten Aufgaben eines Sekretärs der Zweiten Kanzlei der florentinischen Republik; am 14. Juli auch die des „Rats der Zehn". Damit war er bis zu seiner aus politischen Gründen erfolgten Amtsenthebung (7. November 1512) für Interna, administrative und Kriegsangelegenheiten zuständig. Sein amtliches Leben war ausgefüllt mit Reisen, Kommissionen und Sondergesandtschaften. Zwischendurch (August 1501) heiratete er die aus gehobenen Popolanenkreisen kommende Marietta (di Lodovico) Corsini, die ihm fünf Söhne und drei Töchter schenkte. Unter den insgesamt 35 Missionen, die Machiavelli nicht nur zu den umliegenden Fürsten und Kommunalwesen, sondern auch (mehrfach) an den französischen Königshof, zu Papst Julius II. und Kaiser Maximilian I. nach Tirol (1508) führten, waren die beiden zum Papstsohn Cesare Borgia (1502/03) wohl die gewichtigsten. Da dieser eben im Begriffe stand, mit Hilfe der Kirche ein eigenes Herrschaftsgebilde in Mittelitalien aufzurichten, prägten sie Machiavcllis machtpolitisches Idealbild am nachhaltigsten. Die dabei gemachten Erfahrungen flössen in zahlreiche politische Denkschriften ein und bereiten damit jenen Denkprozeß vor, der sich in seinen Hauptwerken entfaltete. Diese setzen erst am Vorabend der Amtsenthebung ein und spiegeln jeweils die Dramatik der Zeit. Fernab vom Getriebe der Arnostadt, in der ihm als Verbannungsort auferlegten Abgeschiedenheit seines Gutes Albergaccio, unweit von San Casciano Val di Pesa (Toskana), entstanden in unfreiwilliger M u ß e Reflexionen über Zeitfragen und tagespolitische Notwendigkeiten, die späterhin - losgelöst aus ihrem Umfelde - Machiavellis Nachleben bestimmten. Sie müssen daher als Frucht der im Florentiner Staatsdienst und auf den Geschäftsreisen gewonnenen Erfahrungen ebenso wie der beständigen Auseinandersetzung mit den antiken Autoren (vorrangig Cicero und Livius) gesehen und verstanden werden. Gedanken über Politik und Staatsführung bestimmen die zwischen 1513 und 1517 entstandenen drei Bücher der Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, seine politische Ideologie und Ethik spiegelt hingegen der zwischenzeitlich (Juli/Dezember 1513) abgefaßte schmale Traktat De prineipatibus. Dieser empfahl, zum klassischen Handbuch tyrannischer Machtpolitik umfunktioniert, „dem kranken Italien das gefährliche Gift der Tyrannis als Kur" (Reinhard 207). Denn „ein Mensch, der die Rolle des Guten spielen will, muß unter so vielen, die nicht gut sind, zugrunde gehen" (Buck 39). Hierin wurzelt auch Machiavellis anthropologischer Pessimismus, der die Basis sowohl für seine Staatslehre als auch seine Einstellung zu Christentum und Religion abgibt. Auch hier dominieren Nützlichkeit und Brauchbarkeit. Dabei steht jedoch die Frage nach ihrem Wert zur Beförderung der „virtü" als „Inbegriff der politischen Energie und Kompetenz" (Münkler 313) stets im Vordergrund. Prinzipiell zwar hochgeschätzt, ist Religion für Machiavelli Grundlage der sittlichen Ordnung ebenso wie Basis der Freiheit. Ein verderbtes Volk kann seine Freiheit sowenig behaupten wie eines, das unter Fürsten-
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herrschaft steht. Religion ist daher ein Manipulationsinstrument in der Hand der Herrschenden, doch auch die ernstgenommene Grundlage von Sittlichkeit und Bürgertugend. Sie ist indes nicht höchstes Gut, wohl aber in antik anmutender Weise auf das konkrete Gemeinwesen als oberstem Wert bezogen. Am Christentum wird - abgesehen von den Formalitäten des Kultes - kritisiert, daß es durch Empfehlung des duldenden Erleidens, der Selbsterniedrigung und Askese die „virtù" im Menschen zum Erliegen bringe. Leidvolle Erfahrungen steigerten in Machiavelli die radikale Kritik an der im Kirchenstaate verkörperten weltlichen Herrschaft des Papstes im Hinblick auf die erhoffte Einheit Italiens, doch auch am Papsttum als dem Wurzelgrund allen Übels: „Wir Italiener haben also der Kirche und den Priestern das zu verdanken, daß wir religionslos geworden und moralisch verkommen sind" (Discorsi I, 14). Machiavellis politische Grundhaltung exemplifiziert sich wohl am deutlichsten am Beispiel der im Auftrage des Florentiner „Studio", aber auf Wunsch des späteren Papstes -•Clemens' VII. zwischen 1520 und 1525 verfaßten Istorie Fiorentine, einer Art sozialpolitischen Geschichte seiner Vaterstadt bis zum Tode Lorenzos il Magnifico (1492). Sie findet sich indes auch im literarischen Werk, durch das er den Zeitgenossen ungleich bekannter geworden ist. Erwähnt sei die satirische Zeitkomödie La Mandragola (Die Alraunwurzel) von 1519/20, in der die Verwirrung aller religiösen Begriffe und moralischen Werte gegeißelt wird, so daß kein Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit, Sünde und Gottesfurcht bestünde. Der christliche Sinn von Sünde ging Machiavelli dabei jedoch ab. Von den Veränderungen in Florenz erneut hart betroffen und dadurch um die Hoffnung eines politischen Comeback gebracht, verstarb Machiavelli am 21. Juni 1527 daselbst nach von Koliken gezeichneter kurzer Krankheit, wohl an akuter Bauchfellentzündung. Sechs Wochen zuvor hatte der „Sacco di R o m a " dem mediceischen Papsttum die Katastrophe u n d d e r Hochrenaissance den Untergang gebracht. Machiavellis sterbliche Uberreste wurden tags darauf in der Familiengruft bei Santa Croce beigesetzt, doch ist ihre genaue Stätte verschollen. Seit 1787/88 erinnert ein von Innocenzo Spinazzi geschaffenes Monument im südlichen Seitenschiff, zu dem der zum Wahlflorentiner gewordene Brite Lord Cowper (gest. 1789) den Anstoß gegeben hat, an Florenz' großen Sohn. Vieldeutig ist die Sockelinschrift: Tanto nomini nullum par elogium - Einem solchen Namen wird kein Lob gerecht. Der oft zitierte Brief seines 13jährigen Sohnes Piero, in dem über des Vaters letzte Stunden berichtet wird und der Niccolò nach Ablegen der Beichte fromm und gottesfürchtig mit der Kirche versöhnt sterben läßt, ist hinsichtlich seiner Originalität nach wie vor umstritten. Wenn tatsächlich „sein Ruhm mit seiner Verfemung begann" (Schmid 147), dann setzte Machiavellis Verfemung bereits früh ein: Schon 1539 denunzierte der Engländer Reginald Pole seine politischen Widersacher als Befolger der teuflischen Ratschläge des Florentiners. Die damit bescheinigte politische Amoralität führte 1557 zu Machiavellis Verurteilung und 1559 zur Indizierung seines Werkes durch Papst -»Paul IV. Der Autor selbst wurde von eifrigen Jesuiten sogar ,in effigie' verbrannt. Quellen Bernardo Machiavelli, Libro di Ricordi, hg. v. Cesare Olschki, Florenz 1954. - Niccolò Machiavelli, Opere, hg.v. Sergio Bertelli, 11 Bde., Mailand/Verona 1968/82. - Niccolò Machiavelli, GS in 5 Bde., hg. v. H a n s Floerke, München 1925. - Sergio Bertelli/Piero Innocenti, Bibliografìa Machiavelliana, Verona 1979. Literatur Gute Auswahlbibliographie des uferlosen Schrifttums: Wilhelm Totok, Hb. der Gesch. der Phil., III Renaissance, Frankfurt a . M . 1980, 122-148. Edmond Barincou, Machiavel par lui-même, Paris 1957; dt.: H a m b u r g 1958. - Francesco Bausi, I „Discorsi" di Niccolò Machiavelli. Genesi e strutture, Florenz 1985. - Roland Begert, Elemente einer politischen Ökonomie im Werke Machiavellis, Bern/Stuttgart 1983. - Gisela Bock, Machiavelli als Geschichtsschreiber: QFIAB 66 (1986) 153-191. - Alfredo Bonadeo, Corruption, Conflict and Power in the Work and Times of Niccolò Machiavelli, Berkeley 1973. - August Buck, Machiavelli,
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II. Machiavellismus 1. Zum Begriff 2. Verwilderung des Machiavellismus zum politischen Kampfbegriff 3. Rehabilitierung Machiavellis durch Aufklärung und Historismus 4. Entartung des Machiavellismus im 20. Jahrhundert (Quellen/Literatur S. 647) 1. Zum
Begriff
Machiavellismus ist eine Sammelbezeichnung für die Lehre der Herrschaftskunst von N i c c o l ö Machiavelli, ebenso aber für die Rechtfertigung einer von sittlichen N o r m e n losgelösten, egoistischen Machtpolitik; im weiteren Sinne bezeichnet er auch die Ideen, die seine Gegner vor allem aus II Principe (1532) unter weitgehender Fehlinterpretation desselben herauslasen. Die „glorreiche Geschichte einer V e r f e m u n g " (Freyer 97) wurde durch die „innere Antithetik der D i n g e " (Kluxen 6 0 ff) in Machiavellis Werk, wie der Zwiespältigkeit des Wirklichen und den P a r a d o x i e n politischen Handelns, begünstigt. Dabei übersahen die Kritiker, daß es „ M a c h i a v e l l i s m u s " schon vor Machiavelli g a b und d a ß das Schwergewicht seiner Ideen nicht auf den Zielen, sondern auf den Mitteln der Politik lag. E r ging jedoch bei der Beurteilung der N a t u r des Menschen von teilweise falschen Prämissen aus, so d a ß seine Gedanken Widersprüche enthielten, was dazu führte, d a ß der N a m e des „unmachiavellistischen Vaters des M a c h i a v e l l i s m u s " (Heyer 88) — häufig getarnt mit Antimachiavellismus - zu einem Synonym für Skrupellosigkeit und Z y n i s m u s in der Politik wurde. Das Scheitern des „religiös ethischen R i g o r i s m u s " Savonarolas (Lutz: H E G 854) w a r
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für den „anthropologischen Pessimismus" der Lehre Machiavellis (Münkler 263-280) richtungweisend. Der Principe impliziert die Legitimation der Amoral im Rahmen der Staatsnotwendigkeit, indem Italiens Herrschern der Rat gegeben wird, im Kampf für die Einheit des Landes keine Rücksichten zu nehmen. Verwerfliche Handlungen werden funktional betrachtet, nie jedoch zur menschlichen Selbstverwirklichung empfohlen. Die realistische Analyse war für die spätere Verurteilung Machiavellis als „Lehrer des Bösen" (Strauss 9) verantwortlich, wobei ihm vorgehalten wurde, den Machiavellisten das schlechte Gewissen genommen zu haben. Von diesen ist er zu unterscheiden, da sie seine virtü - wie in den umfangreicheren Discorsi dargelegt - nicht vollinhaltlich erfaßten, sondern nur ihre niedrigste Qualität, die Gewalt zur Beseitigung des Notstandes, herausgriffen. Diese im Principe angelegte Reduktionsmöglichkeit führte zur Entstellung der Ideen Machiavellis, wie die Rezeptionsgeschichte beweist. 2. Verwilderung
des Machiavellismus
zum politischen
Kampfbegriff
Der Principe begründete im Unterschied zur Utopia des Zeitgenossen -»Morus, dem „Ideologen des englisch-insularen Wohlfahrtsstaates", Machiavellis Ruf als „Wegebahner des modernen kontinentalen Machtstaates" (Ritter, Machtstaat 24.49). Die Dispensation göttlichen Rechtes stellte einen Gegensatz zum moralisierenden Fürstenspiegel dar, was die Kirche zu heftiger Kritik veranlaßte. Im Zuge der -»Gegenreformation wurde Machiavellis Werk 1559 von Papst -»Paul IV. auf den Index (-»Zensur) gesetzt. Verbot und Zensur vermochten die Verbreitung jedoch nicht zu verhindern. Die von Jesuiten (Possevino, Rivadeneyra) initiierte Kampagne, die Machiavelli der -»Häresie bezichtigte, riß Sentenzen der Schrift aus dem Zusammenhang und deutete diese so, als habe Machiavelli damit allgemeingültige moralische Grundsätze aussprechen wollen. Im Zeichen der konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jh. warf man sich gegenseitig Machiavellismus vor, was bis zum Verdikt des machiavellistischen Antimachiavellismus führte. Schon 1539 hatte der englische Kardinal -»Pole Machiavelli als Verantwortlichen für die Trennung Englands von Rom und das antikirchliche Verhalten -»Heinrichs VIII. gegeißelt. Nach der Bartholomäusnacht (1572) glaubten die -»Hugenotten den Florentiner als Inspirator der blutigen Machtpolitik der französischen Regentin Katharina von Medici gefunden zu haben. So figuriert Machiavelli bei Gentillet als Schöpfer einer amoralisch-atheistischen Politik und Urheber der Frankreich zerfleischenden Bürgerkriege. Als Gegenmittel zur implizit entwickelten universalen Problematik der Staatsräson propagierten Machiavellis Antagonisten (Botero, Ammirato, Boccalini) eine Wiederbelebung des christlichen Herrscherethos. Der englische Staatsmann Raleigh wies den Amoralismus des Florentiners scharf zurück, plagiierte jedoch seine Gedanken und führte sie als „Maxims of State" in England ein (Kempner 29ff). Der französische Staatstheoretiker Bodin übte Kritik an der Gottlosigkeit Machiavellis, obgleich er sich - ihm folgend - für eine Trennung des Staates von Religion und Kirche aussprach. 3. Rehabilitierung
Machiavellis
durch Aufklärung
und
Historismus
Die Rehabilitierung setzte im Zuge der -»Aufklärung ein, als man in ihm den Realisten würdigte, der als erster die Autonomie der Politik betont habe. Bacon (-»Empirismus) hob hervor, daß Machiavelli gezeigt habe, nicht wie die Menschen sein sollen, sondern wie sie sind. -»Spinoza ventilierte, daß die Staatsethik vor der Privatethik stehe. Der Principe wurde als Persiflage auf entartete absolutistische Herrschaftspraktiken und Machiavelli als Republikaner und Defensor der -»Freiheit interpretiert (Harrington, -»Bayle, Diderot, -»Rousseau, -»Montesquieu, Christ). Dadurch büßte seine Verfemung an Wirkung ein. Beispielhaft für die kategorische Ablehnung bei konsequenter Befolgung des Principe ist dagegen Friedrich der Große, der als Kronprinz unter -»Voltaires Einfluß im Antimachiavell (1739) „die Vertheidigung der Menschlichkeit wider diesen Unmenschen" übernahm, damit „Gegengift unmittelbar auf die Vergiftung folge" (Friedrich II. 213 f). Er reflektierte jedoch die Diskrepanzen zwischen den Postulaten seiner Frühschrift
Machiavelli/Machiavellisums II
647
und seiner Herrschaftszeit, als er im politischen Testament (1752) teilweise einräumen mußte, Machiavelli habe Recht behalten. Erst mit dem Historismus wird er aus seiner Zeit begriffen, wodurch seine Rezeption eine Verwissenschaftlichung erfuhr. Als erster Interpret dieser Richtung, die mit -»Ranke den profiliertesten Vertreter aufwies, gilt -•Herder. Dieser verstand den Aufruf im Schlußkapitel des Principe zur Befreiung Italiens als zentrales Anliegen. Ähnlich sah auch -»Hegel ,den Fürsten' als Reflex auf eine schwere Staatskrise, die nur gewaltsam zu lösen war, wobei der Eindruck von der Ohnmacht des Deutschen Reiches in die Interpretation einfloß. Während der Befreiungskriege wurde der Principe als Appell zur Emanzipation von Napoleon gelesen, der sich selbst als Träger der virtù interpretiert hatte. Für eine konkrete Anwendung der Lehren Machiavellis plädierte -»Fichte, der im Principe ein „Not- und Hülfsbuch" (Fichte 5) sah. Diese Rezeptionen ebneten der späteren Verherrlichung des Florentiners durch den Reichsgründungshistoriker Treitschke den Weg. Ähnlich wie Macaulay in England, Sorel in Frankreich oder Pareto in Italien, suchte dieser eine primär auf Macht reduzierte Politik zu rechtfertigen. Im Italien des 19. Jh. erlebte der Principe vor dem Hintergrund der Nationalbewegung des Risorgimento im Kampf gegen Kirchenstaat und landfremde Dynasten eine aufwertende Aktualisierung. 4. Entartung des Machiavellismus
im 20.
Jahrhundert
Basierend auf den Ideen -»Nietzsches, wonach durch die Umwertung aller Werte der Wille zur Macht als letzter Wert übrigbleibt, erlebte die Instrumentalisierung Machiavellis für staatspolitisch-ideologische Uberhebungen im 20. Jh. im -»Faschismus ihren Höhepunkt. Hierbei inszenierte sich vor allem Mussolini als Herrscher vom Typ eines neuen Fürsten. Die bezüglich des Notstandes getroffenen Feststellungen Machiavellis werden nun als grundsätzlich gültige und generell anzuwendende Vcrhaltcnsmaßregeln ausgelegt, um den totalitären Machtstaat zu legitimieren. Der in politischer Haft befindliche Sozialist Gramsci konzipierte einen .Principe' moderner Prägung, der weg von der Bevormundung durch den Faschismus zu einer Emanzipation breiter Volksschichten führen soll. In der Ära der Totalitarismen konstituierte sich neben dem Faschismus in Bolschewismus und Nationalsozialismus (trotz Ablehnung bei Rosenberg) ein moderner Machiavellismus (Wille zur totalen Herrschaft; Konzentration und Übersteigerung der Macht; Gleichschaltung, Propaganda, Demagogie und Führerkult zur Lenkung der Massen; Installierung von Terrorapparaten zur Verfolgung und Vernichtung des inneren Gegners und totaler Krieg gegen den äußeren Feind). Dieser erlebte in unumschränkten Diktatoren seinen vorläufigen Superlativ als „Über-Machiavellismus" (Faul 3 0 2 - 3 3 7 ) . Im Zeitalter des schrankenlosen Kapitalismus erfährt der Machiavellismus im primär auf Gewinnmaximierung und Wachstumsoptimierung ausgerichteten Managerwesen eine weitere, neue, an den eigentlichen Intentionen Machiavellis vorbeigehende Aktualisierung. Im Zeichen wachsender Spannungen und krisenhafter Situationen in der modernen Welt lassen sich machiavellistische Tendenzen auch in staatlichen, halbstaatlichen oder privaten Geheimorganisationen feststellen. Diese finden sich nicht nur in Diktaturen, sondern auch in Demokratien und wissen sich mitunter sowohl der öffentlichen Kritik wie der parlamentarischen Kontrolle zu entziehen. Auch bei den Massenmedien vermeinen Kenner der Materie Züge von modernem Machiavellismus zu orten. Quellen Scipione Ammirato, Discorsi sopra Cornelio Tacito, Florenz 1574. - Traiano Boccalini, Ragguagli di Parnaso, 2 Bde., Venedig 1 6 1 2 - 1 6 1 3 . - Jean Bodin, Les six livres de la République, Paris 1576. - Giovanni Botero, Deila ragion di stato. Libri X , Venedig 1589. - Johann Friedrich Christ, De Nicolao Machiavello libri très, Halle 1731. - Denis Diderot, Machiavélisme: Enc. 20 (1778) 616—617. — Johann Gottlieb Fichte, Über Machiavelli als Schriftsteller u. Stellen aus seinen Sehr.: ders., Werke, hg. v. Hans Schulz, 1. Erg.-Bd. Staatsphil. Sehr., Leipzig 1919.-Friedrich II. v. Preußen, Antimachiavel, oder Versuch einer Critik über Nie. Machiavels Regierungskunst eines Fürsten. Nach des Herrn Voltaire Ausg. ins Dt. übers., Frankfurt a.M./Leipzig 1745 = Dortmund 1978.
648
Macht I
— Innocent Gentillet, Discours sur les moyens de bien gouverner et maintenir en bonne paix un Royaume ou autre Principauté. Contre Nicolas Machiavel Florentin, o. 0 . 1 5 7 6 . - Antonio Gramsci, Quaderno 13. Noterelle sulla politica del Machiavelli, Turin 1981. - G e o r g Wilhelm Friedrich Hegel, Die Verfassung Deutschlands: ders., Werke, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt a . M . , I 1970. - Benito Mussolini, Sehr. u. Reden, Zürich/Stuttgart 1935. - Ders., Preludio al Machiavelli: Gerarchia3 (1924) 205 - 2 0 9 . - R e g i n a l d Pole, Apologia ad Carolum V Caesarem super quatuor libris a se scriptis de Unitate Ecclesiae (1539), gedr. in Epistolarum Reginaldi Poli S. R.E. Cardinalis et aliorum ad ipsum Collectio, Brescia, 11744. - Antonio Possevino, De Nicolao Machiavelli, Lyon 1592. - Walter Raleigh, „Works", 8 Bde., Oxford 1829. - Pedro Rivadeneyra. Tratado de la religión y virtudes que debe tener el príncipe cristiano para gobernar y conservar sus estados, contra lo que Nicolas Maquiavelo y los políticos deste tiempo enseñan, Madrid 1595. - Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jh., München 1935. - Georges Sorel, Refléxions sur la violence, Palermo 1904. - Ders., Über die Gewalt, Innsbruck 1928. Literatur Charles Benoist, Le machiavélisme, Paris, 1 Avant Machiavel, 1907; II Machiavel, 1934; 111 Après Machiavel, 1936. - Marcel Brion, Machiavelli u. seine Zeit, Düsseldorf/Köln 1957. - James Burnham, Die Machiavellisten. Verteidiger der Freiheit, Zürich 1949. - Erwin Faul, Der moderne Machiavellismus, Köln/Berlin 1961 (Politische Forschungen 1) (Lit.). - Gerhard Fischer, Niccolò Machiavelli. Die Trilogie der Macht, Diss. rer. pol. Basel 1961. - Hans Freyer, Machiavelli, Leipzig 1938 = Weinheim 1986. - Carl Joachim Friedrich, Die Staatsräson im Verfassungsstaat, Freiburg/München 1961. — Helmut Hein, Subjektivität u. Souveränität. Stud. zum Beginn der modernen Politik bei Niccolò Machiavelli u. T h o m a s Hobbes, 1986 (EHS R. 31: Politikwiss. 92). - Karl Heyer, Machiavelli u. Ludwig XIV., Ravensburg 1951 (Beitr. zur Gesch. des Abendlandes 4). - Anthony Jay, Management u. Machiavelli. Von der Kunst, oben zu bleiben, Düsseldorf 1985. - Nadja Kempner, Raleighs staatstheoretische Sehr. Die Einf. des Machiavellismus in England, Leipzig 1928. - Wolfgang Kersting, Niccolò Machiavelli, München 1988. - Kurt Kluxen, Politik u. menschliche Existenz bei Machiavelli. Darg. am Begriff der Necessità, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967. - René König, Niccolo Machiavelli. Z u r Krisenanalyse einer Zeitenwende, Zürich 1941 = München/Wien 1979. — Heinrich Lutz, Italien vom Frieden v. Lodi bis zum Span. Erbfolgekrieg (1454-1700): HEG 3 (1971) 851-901. - Ders., Machiavelli. Krieg u. Frieden im Werden der neuzeitlichen Staaten, Wien 1985 (Tätigkeitsber. der ö s t e r r . Akademie der Wiss. 2). - Ders., Ragione di Stato u. christl. Staatsethik im 16. Jh., Münster 1961 = 2 1976 (Kath. Leben u. Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 19). - Josef Macek, Machiavelli e il Machiavellismo, Florenz 1980. - Salvo Mastellone, Venalità e Machiavellismo in Francia (1572-1610), Florenz 1972. - Machiavellismo e Antimachiavellici nel Cinquecento (Atti del Convegno di Perugia 1969), Florenz 1970. - Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Gesch., München/Berlin 1924. - Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt a . M . 1982 (Lit.). - John Greville Agard Pocock, The Machiavellian Moment. Fiorentine Politicai Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975. - Felix Raab, The English Face of Machiavelli. A Changing Interpretation 1500-1700, London/Toronto 1965. - Gerhard Ritter, Machtstaat u. Utopie. Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavelli u. Morus, München/Berlin 1940 = M941. - Ders., Die Dämonie der Macht. Betrachtungen über Gesch. u. Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit, Stuttgart 5 1947. - Theodor Schieder, Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche, Frankfurt a. M . 1983. - Hans-Dieter Stell, Machiavelli u. Nietzsche. Eine strukturelle Gegenüberstellung ihrer Phil. u. Politik, Diss. phil. München 1987. - Dolf Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, 2 Bde., Frankfurt a . M . 1978. - Leo Strauss, Thoughts on Machiavelli, Glencoe/Illinois 1958.
Michael Gehler Macht (s.a. -+ Religionsgeschichte, —»Religionsphänomenologie) I. Philosophisch II. Ethisch
652
I. Philosophisch 1. Antike Wurzeln in Metaphysik und Ethik 2. Theologische Anstöße und anthropomorphe Folgen 3. Macht als politischer und sozialer Faktor 4. Macht und ihre Kritik (Literatur S. 652) Macht ist der in vielen alltäglichen, keineswegs bloß politischen und sozialen Zusammenhängen gebrauchte Begriff für die selbständige Kraft und die anfängliche Möglichkeit, Bewegungen und
649
Macht I
Wirkungen hervorzubringen. Nicht selten wird Macht sogar synonym mit „Möglichkeit" verwendet. Die Etymologie des deutschen Wortes (von indogerm. magb- = mögen, vermögen) verweist ebenfalls auf die einem tätigen Subjekt zugeschriebene Möglichkeit. Entsprechendes gilt für die
griechischen und lateinischen Ausdrücke öövapiQ und potentia sowie für power im Englischen und
pouvoir im Französischen. Umgangssprachlich und vorphilosophisch bedeutet das Wort Süva/w; körperliche und geistige Kraft, Möglichkeit und Vermögen (Homer Od. 2,62; II. 8,294 - Isokrates 11,12 - Thukydides 7,21 - Xenophon Hell. 4,4,5). Die Spannweite des Begriffs tritt besonders in seiner redensartlichen Verwendung (Macht der Gewohnheit, Macht des Schicksals; Wissen ist Macht) und in seinem adjektivischen Gebrauch (mächtig, machtvoll, eigenmächtig etc.) hervor. Der große Bedeutungsumfang des Wortes macht die weite Verbreitung des bezeichneten Phänomens bewußt; Macht ist - wie M a x Weber gesagt hat - „ a m o r p h " , d. h. sie liegt allen konkreten Gestaltungen der Wirklichkeit voraus.
1. Antike Wurzeln in Metaphysik
und
Ethik
In dieser Allgemeinheit ist Macht einer der tragenden Begriffe des metaphysischen Denkens. So versteht -»Plato unter öuvaßiq nicht nur die Wirkungskraft des Menschen, sondern das Vermögen von Seiendem überhaupt, etwas zu vollbringen und zu tun bzw. ein Vermochtes zu erleiden (Soph. 247c; Staat 477c 6 - 1 5 ) . Und da sich Seiendes nur bestimmen läßt, sofern es überhaupt etwas bewirkt, kommt Plato zu der Feststellung, Seiendes als solches sei nichts anderes als „dynamis". -»Aristoteles nimmt den Begriff in diesem Sinn auf und macht ihn, indem er ihn als denjenigen Anfangsgrund präzisiert, der Bewegung und Veränderung in einem anderen durchhcrrschend ermöglicht (Met. 1046a 11 — 13; Phys. 255b 30f), neben Wirklichkeit (evegyeia) und innerer Wesensvollendung (evzeXexEia) zum dritten Elementarbegriffseiner -»Metaphysik. In dieser Funktion wird der Machtbegriff zu einem festen Bestandteil der metaphysischen Tradition. Dabei wird die Beziehung des universalontologischen Begriffs zu den menschlichen Handlungsmöglichkeiten nicht aufgekündigt. Natürlich sticht das Vermögen der Tätigkeit, welches ein anderes leiden macht, als Machtverhältnis unter Menschen hervor. Plato hat die sophistische Ansicht von der Macht als dem naturgemäßen Recht, das Mögliche aus eigener Stärke durchzusetzen — die der „Melier-Dialog" des Thukydides eindrucksvoll vorführt - ethisch überwunden (vorzüglich im Gorgias). Gegenüber der nackten Gewalt ißia) steht menschliche Macht unter der Leitung der Vernunft. Plato ethisiert die Macht, und er ermächtigt das Ethos. So bezeichnet Plato auch die Tugend als die Macht (Sovafiii;), die in der Lage ist, politische Ordnung aufzubauen und zu bewahren (Staat 477c/d). Und Aristoteles stellt das Ethos der Arete im Stande der Hexis auf: des zur festen Selbstmächtigkeit gewordenen dispositionellen Vermögens. Und er betont damit die Beziehung der Macht zur leibseelischen Grundausstattung des Menschen (Nik. Eth. 1105b 20/1106a 6). In diesem Sinn fordert die antike Ethik die Abstimmung des individuellen Strebens auf die jeweils gegebenen Handlungsmöglichkeiten. In der -»Stoa wird daraus eine Grundregel, die Epiktet so formuliert: „Befleißige dich also dessen, was du vermagst (Sövaaai): Herr über einen jeden ist, wer die Macht zur Gewährung oder Versagung dessen hat, was jener wünscht oder nicht wünscht" (Encheir., cap. 14). Dieses Zusammenspiel individual-ethischer und politischer Momente hat ein metaphysisches Fundament in der Beziehung von Macht und Wirkung überhaupt. Es ist zugleich an die Erfahrung von Freiheit geknüpft. Wenn die Erfahrung von Macht mit der von Handlungsmöglichkeiten identisch ist, dann gehört die Freiheit notwendigerweise hinzu. 2. Theologische
Anstöße
und anthropomorphe
Folgen
Wichtige Impulse bekommt der Machtbegriff mit der Erschließung des Alten und des Neuen Testaments durch die christliche Theologie. Hier dominiert die überlegene Allmacht, die das Wesen des persönlichen, lebendigen Gottes ausmacht. Dies erlaubt, auch die Ermächtigung der Geschöpfe durch den Schöpfer sowie seine Vollmacht für seinen Sohn nach dem Vorbild der Natur zu verstehen. Es ist -»Augustinus, der diese sowohl auf Gott wie auf den Menschen bezogene Konzeption der Macht philosophisch präzisiert. Er
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Macht I
zeigt, daß wirkliche Macht (potentia) nicht nur Stärke im physischen Sinn, sondern auch geistige Kraft einschließt und somit nur in Verbindung mit einem entsprechenden Wissen zu denken ist. Da dies ein Wissen von der Angemessenheit der Machtanwendung sein muß, steht die Macht auch in Beziehung zur Gerechtigkeit. Sie ist überdies nicht ohne einen mit ihr verbundenen Willen zu denken, zu dem wiederum Freiheit gehört. Mit Blick auf die göttliche Macht stellt Augustinus somit eine begriffliche Beziehung zwischen Macht, Wille, Freiheit und Vernunft heraus, die den Maßstab für die Beurteilung menschlicher Macht abgibt und eine klare Grenzziehung gegenüber dem bloßen Einsatz physischer Kraft, der Gewalt (violentiä), erlaubt. Auch in den philosophischen Systemen der Neuzeit wird stets die Beziehung der Macht zu der Begriffstrias von Vernunft, Freiheit und Wille zum Problem, nicht zuletzt durch die von der spätscholastischen Theologie betriebene Exposition der Einheit von Wille und Macht, die auch von Luther mit Rückgriff auf Augustinus hervorgehoben wird. -»Spinoza versucht diese Verbindung in seiner auf der Gleichung von Substanz und Macht basierenden Lehre zwar zu leugnen, rückt aber gerade durch die notwendige Verknüpfung von Macht und Affekt das, was man mit dem Begriff des Willens faßt, ins Zentrum des Machtbegriffs. —»Leibniz legt die begriffliche Verknüpfung von Macht (puissance), Erkenntnis (connaissance) und Wille (volonte) seiner Monadologie ausdrücklich zugrunde; Konzeptionen, die nur auf die „nackte M a c h t " (potentia nuda) der bloßen Möglichkeit bauen, hält er für unzureichend. Einen wirklichen Grund kann nur eine willenhafte Substanz enthalten, die eine „aktive Kraft" (vis activa) einschließt. Diese Kraft ist für Leibniz ein „Mittleres zwischen dem Vermögen zu handeln und der Handlung selbst". Damit ist das Paradigma, dem - mehr oder weniger deutlich - alle metaphysischen Machtkonzepte folgen, genannt: Es ist das Modell der menschlichen Handlung. Der Begriff der Macht bezeichnet somit die Handlungsdisposition einer Substanz, die sich nur nach Art eines menschlichen Subjekts begreifen läßt. Die Konzeption metaphysischer Macht erweist sich damit als eine ins Große gerechnete Handlungsmacht des Menschen. Sie bezeichnet alles das, was durch Handlung möglich scheint. Selbst -»Nietzsche, der mit seiner Fragment gebliebenen Lehre vom „Willen zur Macht" die größten Anstrengungen unternimmt, sowohl vom tradierten Begriff des Willens wie auch von einer nach Art eines Vermögens gedeuteten Macht loszukommen, muß schließlich eingestehen, daß er über einen Anthropomorphismus nicht hinauskommt. In dem Bemühen, den -»Positivismus seines Jahrhunderts zu überwinden, sucht Nietzsche nach der „inneren Qualität" der von den Physikern nur äußerlich vermessenen Kraft. Der „Wille zur Macht" soll das kennzeichnen, was die physikalische Kraft „von innen her" ausmacht. Damit ist der wohl einzige Weg benannt, auf dem Machterfahrung überhaupt möglich ist. Diesen Weg zu beschreiben, heißt (mit Nietzsches Worten): „sich der Analogie des Menschen zu Ende bedienen".
3. Macht
als politischer
und sozialer
Faktor
So bleibt der metaphysische Machtbegriff auch in seiner extremsten Fassung dem Ausgangspunkt bei Plato verbunden. Zugleich wird erkennbar, wie nahe er dem vorherrschenden sozialen und politischen Verständnis des Phänomens steht. Macht, so lautet die berühmte Definition Max -»Webers, ist „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht" (28). Die Macht wird hier nicht nur in ihrem Ursprung mit Wille und Freiheit (Chance) verknüpft, sondern ist auch in ihren Wirkungen auf das Feld menschlichen Handelns beschränkt. Darin ist sie dann aber die sui generis bewegende Kraft, nämlich die dem Modus menschlichen Handelns entsprechende „soziale Energie" (B. —»Russell). C.F. von Weizsäcker sieht in ihr ein „Humanuni", und zwar die spezifisch politisch-soziale Ausprägung dessen, was im Bereich der Physik „Masse" und „Energie" genannt wird. Sie ist die Kraft, als die sich der Mensch im Verhältnis zu seinesgleichen begreift. So verstanden, kann auf sie in gesellschaftlichen Zusammenhängen schlechterdings nicht verzichtet werden. Sie ist überall, wo Menschen etwas durch Menschen bewirken. Wenn die Politik jener Bereich ist, in dem Menschen allein durch ihren bewußten Zusammenschluß etwas erreichen, dann muß die Macht zu den elementaren Kategorien einer jeden Politik gehören. Dies war den großen Repräsentanten des politischen Denkens so selbstverständlich, daß sie der Macht als Grundbedingung alles politischen Handelns wenig Aufmerksam-
Macht I
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keit geschenkt haben. Z w a r schildert bereits T h u k y d i d e s die Vielfalt der Formen der M a c h t , und er läßt auch keinen Zweifel an ihrer grundlegenden Bedeutung, aber erst der Thukydides-Übersetzer T h o m a s - » H o b b e s legt die fundierende Gleichung zwischen Mensch und M a c h t frei. Im Leviathan sucht er zu zeigen, wie aus der vereinigten M a c h t (power) einzelner Individuen ein Staat entstehen k a n n . Alle Antriebe des Menschen lassen sich nach H o b b e s auf das „Verlangen nach M a c h t " zurückführen, ein Verlangen, das unersättlich fortschreiten kann, wie bereits die zirkuläre Definition der M a c h t als „Ubergewicht der M a c h t des einen über einen a n d e r e n " erkennen läßt. N u r im Staat kann das ruhelose Machtstreben des Menschen begrenzt werden: Unter der schlechthin überlegenen M a c h t des Souveräns finden die einzelnen Machtkalküle keineswegs bloß in ein äußeres Gleichgewicht zueinander, der innerstaatliche Machtausgleich k o m m t ursprünglich nur durch den (inneren) Anspruch auf Selbsterhaltung und Machtsicherung eines jeden einzelnen zustande. In diesem Punkt stimmen alle politischen Vertragslehren mit dem Modell des Leviathan überein: Die M a c h t des Staates entsteht aus der A k k u m u lation der Handlungsmacht einzelner Subjekte. Folglich weisen beide die gleichen Strukturelemente auf: Sie müssen einen Willen unterstellen, beanspruchen Freiheit und k o m m e n , wenn sie sich als M a c h t durchhalten wollen, ohne einsichtige Regeln - d . h . ohne Berufung auf Vernunft - nicht aus. Wenn die politische Theorie des 20. Jh. die Politik als einen Prozeß der „ M a c h t b i l d u n g und Machtverteilung" (H. D. Lasswell; R. A. Dahl) definiert oder wenn die M a c h t zum „Wesen aller staatlichen Gemeinschaften" (H. Arendt) erklärt wird, dann sind diese Strukturmerkmale explizit und implizit vorausgesetzt. Dies wird sinnfällig in der Gliederung staatlicher Machtinstanzen in Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. In der im Anschluß an Locke und Montesquieu entwickelten Theorie der „Gewaltenteilung" wird ein dynamisches Gleichgewicht dieser drei Mächte, die sich wechselseitig schützen und begrenzen, zur Voraussetzung kontinuierlicher staatlicher M a c h t a u s ü b u n g erklärt. In der jüngeren staatstheoretischcn Diskussion wird sowohl die historisch gewachsene wie auch die in einem Gesetzgebungsakt beschlossene Verfassung als eine grundlegende M a c h t gedeutet, in deren R a h m e n sich Legislative, Exekutive und Jurisdiktion zu bewegen haben. Diesen „klassischen" Begriff der M a c h t zieht die soziologische Systemtheorie in Zweifel. Sic stellt das zugrundeliegende Verursachungsmodell in Frage und möchte die damit verknüpfte A n n a h m e eines wirkenden Subjekts verabschieden. In diesem Sinn wird M a c h t von N. L u h m a n n als „codegcsteuerte K o m m u n i k a t i o n " bezeichnet, auf deren „katalytische F u n k t i o n " in Gesellschaften gar nicht verzichtet werden k a n n . Denn die M a c h t ist - durch „Generalisierung von Symbolen" - ein elementares Verständigungsmedium, das es ebenso wie Geld und Liebe erlaubt, -»Kontingenz zu reduzieren. Damit ist gesagt, d a ß M a c h t die Berechenbarkeit sozialer Prozesse erhöht und - auf ganze Systeme bezogen - Zeit spart. Entsprechende Leistungen werden der M a c h t auch von Autoren zugeschrieben, die mit semiotischen und strukturalistischen Verfahren arbeiten. M . Foucault z.B. sieht in ihr eine bloße Beziehungsgröße, die weniger die Funktion hat, Verbindungen zu schaffen als Distanz herzustellen. M i t Blick auf die Tradition des Begriffs aber ist bemerkenswert, d a ß weder Foucault noch L u h m a n n ohne Bezug zum handelnden Subjekt auskommen: Beide konzipieren die M a c h t als eine Größe, die das Ich bzw. den Willen hervorbringt; insofern heben beide den klassischen Begriff nicht auf, sondern legen ihn nur anders aus. 4. Macht und ihre
Kritik
Im öffentlichen Bewußtsein und in der literarischen Kritik wird die M a c h t weitgehend negativ bewertet. Sie gilt als „ d ä m o n i s c h " (G. Ritter) oder gar als „ a n sich b ö s e " (J. Burckhardt). In diesen Urteilen spiegeln sich historische Erfahrungen mit jeweils bestimmten politischen, ökonomischen und sozialen Mächten, die sich gegen Recht und besseres Wissen brutal behaupten. Aus solchen Erfahrungen wird nicht selten ein Urteil gegen die politische Welt als ganze abgeleitet; die M a c h t erscheint dann als Repräsentant einer
652
M a c h t II
von Grund auf verderbten Realität, der m a n die Utopie einer von M a c h t und Herrschaft freien Zukunft entgegenhält. Die negativen historischen Erfahrungen führen in der Regel aber zu einer anderen Konsequenz: d a ß nämlich korrupten, rechtswidrigen M ä c h t e n mit Kritik und Widerstand begegnet werden muß. Eine solche Konsequenz ist allerdings mit einer prinzipiellen Ablehnung der M a c h t nicht mehr vereinbar, denn sie beansprucht selbst M a c h t , um sich gegen den W i d e r s a c h e r zu behaupten. In diesem Fall wird nicht die M a c h t als solche abgelehnt, sondern nur ihr M i ß b r a u c h durch bestimmte M a c h t h a b e r . Nicht wenige der negativen Urteile über die M a c h t beruhen freilich auf der Schwierigkeit, Gewalt einerseits und Herrschaft andererseits klar von der M a c h t zu unterscheiden. In der M a c h t selbst steckt allerdings insofern eine Gefahr, als sie zur Verselbständigung tendiert und die Menschen mit einer gewissen Zwangsläufigkeit verführt, sich über alle Widerstände hinwegzusetzen. Vor allem in großer Machtfülle liegt der Reiz zu ihrem rücksichtslosen Gebrauch. Deshalb aber auf M a c h t insgesamt zu verzichten, bedeutete die Freigabe gesellschaftlichen Handelns überhaupt. Da diese Konsequenz weder praktisch möglich noch wirklich erwünscht ist, bleiben nur die z w a r stets unvollkommenen, aber immer noch verbesserungsfähigen traditionellen Mittel gegen die Gefahren der M a c h t , nämlich institutionelle Kontrolle und persönliche Verantwortung. Die Grenzen der M a c h t werden also durch R e c h t und M o r a l bestimmt, die freilich, um wirksam zu sein, selbst der M a c h t bedürfen. So gesehen kann M a c h t nur durch M a c h t begrenzt werden. Die M a c h t ist daher ebensowenig absolut wie ihre Kritik. Literatur Hannah Arendt, Macht u. Gewalt, München 1970. - Hans Asmussen, Über die Macht, Stuttgart 1 9 6 0 . - J a k o b Barion, Macht u. Recht u. das Wesen des Staates, Limbach 1 9 5 1 . - R o b e r t A. Dahl, Die politische Analyse, München 1973. - Richard Dolberg, Theorie der Macht, Wien 1934. - Karl-Georg Faber/Christian Meier/Karl-Heinz Iking, Macht-Gewalt: G G B 3 (1982), 8 1 7 - 9 3 5 . - Michel Foucault, Macht. Mikrophysik der Macht, Berlin 1976. - Arnold Gehlen, Macht, Tübingen/Göttingen 1961 (Hb. d. Soz. Wiss. 7). - Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht, Berlin/New York 1992. - Ders., Macht u. Metaphysik: NS 1 0 - 1 1 (1981/82) 1 9 3 - 2 0 9 . - Hans Robert Gerstenkorn, Weltliches Regiment zw. Gottesreich u. Teufels-Macht, Bonn 1956. - Romano Guardini, Die Macht, Würzburg 1952. - Arcadius R . L . (Hg.), Faktoren der Macht-Bildung, Berlin 1952. - Bertrand de Jouvenel, Du Pouvoir, Genf 1945 J 1947; dt.: Uber die Staatsgewalt, Freiburg i.Br. 1972. - Anthony Kenny, Will, Freedom and Power, Oxford 1975. — Harold D. Lasswell, Power and Personality, New York 1948. - Ders./A. Kaplan, Power and Society, New Häven 1961. - Klaus-Michael Kodalle, Politik als Macht u. Mythos, Stuttgart 1973. - Niklas Luhmann, Macht, Stuttgart 1975. - Ders., Klassische Theorie der Macht: ZPol 16 (1969) 1 4 9 - 1 7 0 . - Gérard Mairet, Les doctrines du pouvoir, Paris 1978. - Alfred v. Martin, Macht als Problem, Wiesbaden 1976. - Helmuth Plessner, Macht u. menschliche Natur (1931): GS V, Frankfurt a . M . 1981, 135 - 2 3 4 . - Heinrich Popitz, Prozesse der Machtbildung, Tübingen 1968 2 1969. - Gerhard Ritter, Die Dämonie der Macht, Stuttgart 1947. - Ders., Vom sittlichen Problem der Macht, Bern/München 2 1961. - Kurt Röttgers, Texte u. Menschen, Würzburg 1983. - Ders., Kontexte der Macht, Würzburg 1989. - Bertrand Russell, Power, London 1938 7 1957. - Kurt Sontheimer, Zum Begriff der Macht als Grundkategorie der politischen Wissenschaft: Wiss. Politik, hg. v. D. Obendörfer, Freiburg 1 9 6 2 , 1 9 7 - 2 0 9 . - Peter Schneider, Recht u. Macht, Mainz 1970. - Dolf Sternberger, Grund u. Abgrund der Macht, Frankfurt a. M . 1962. - M a x Weber, Wirtschaft u. Gesellschaft, Tübingen '1972. - Carl Friedrich v. Weizsäcker, Theorie der Macht, München 1978. - Bernhard Welte, Uber das Wesen u. den rechten Gebrauch der Macht, Freiburg 1961. Volker G e r h a r d t II. Ethisch 1. Macht im biblischen Kontext 2. Macht in der Geschichte der Kirche theologischen Reflexion (Literatur S. 657)
3. Macht in der
1. Macht im biblischen Kontext M a c h t als Attribut Gottes ist impliziert in den G o t t e s n a m e n , die alle auf das Herrsein Gottes in N a t u r und Geschichte hinweisen. Es k o m m t zu einer Synthese des nahöstlichen
Macht II
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Schöpfungsmythos mit Gottes rettenden Taten in der Geschichte Israels. So rühmt Ps 136 Gottes Schöpfungstätigkeit (V. 4 - 9 ) , um dann zur .Befreiungstheologie' überzugehen, bei der die Errettung Israels aus Ägypten im Mittelpunkt steht (V. 10-24); in beidem erweist sich Jahwe als ,Gott aller Götter' (V. 2) und als ,Herr aller Herren' (V. 3). Schöpfung und Erlösung = Befreiung in der Geschichte sind letztlich Erweise göttlicher Macht über die Chaosmächte (Ps 89,10 f). Gottes Herrlichkeit rühmen ist daher immer zugleich sprechen von seiner Macht (Ps 145,10-12). Die Zuversicht, durch den Bundesschluß Gott auf seiner Seite zu haben und Gottes Erwählung gewiß zu sein, ist das Geheimnis des Selbstvertrauens im Judentum, das weder durch die Erkenntnis eigener Sünde noch durch geschichtliche Niederlagen letztlich zu erschüttern ist. Gottes Macht ist immer verbunden mit der Liebe zu ,seinem' Volk (Num 14,14.19; Ex 32,7.14; Dtn 9,28). Im Alten wie im Neuen Testament manifestiert sich die Macht Gottes im göttlichen Willen, seine Erwählten zum Heil zu führen (I Thess 1,10; 5,9; Eph 2,4f; Rom 5,9). Die Weisheitsliteratur betont die Macht Gottes in der Schöpfung (Hi 36,22-33; 38,4-41; Sir 18,1.5). Das Binom Weisheit und Macht oder Kraft findet sich sowohl im Neuen Testament wie in der Patristik (I Kor 1,24; I Clem 33,3; Gregor von Nyssa, In Hex. Prooemion 69,1). Weiter finden sich Wortverbindungen wie Macht und Heil (Ps 31,3.5; 43,2.5; 59,3.10.17.18; 62,2.3.8.12), Macht und Erlösung (Dt 7,8; Jes 50,2; Neh 1,10; Jes 43,1 u.ö.), Macht und Gerechtigkeit (Jdc 5,11; I Sam 12,6.7; Mi 6,4.5 u.ö.), Macht und Vergebung (Num 14, 17-20; Jes l,24f; Sir 18,5 u.ö.). - Das Neue Testament sieht die Macht Gottes vor allem in der Geschichte Jesu, seiner Empfängnis (Lk 1,35.49), seinen Wundern, die als Kraft- oder Machttaten Gottes verstanden werden (Lk 5,17; Act 2,22), seiner Auferweckung und Verherrlichung (II Kor 13,4; Eph 1,19ff). Weitere Beweise der Macht Gottes sind die Besiegung des Satans im Leben Jesu (Lk 10,18) und endzeitlich (Apk 12,10), wobei der endgültige Sieg der Gottesherrschaft auch Gegenstand der Doxologien ist (I Petr 5,11; Jud 25; Apk 11,17; 19,1; Act 1,7). Im Reden und Handeln Jesu zeigt sich die ihm von Gott übertragene Vollmacht (e^ooaia) als Ausdruck der vollen Willenseinheit des Sohnes mit dem Vater (Joh 10,30). Jesus will, daß in seiner Nachfolge ,Herrschaftsfreiheit' herrsche, mit anderen Worten, daß seine Jünger - entsprechend seinem Vorbild (Joh 13,4—14) — auf Würde und Macht verzichten und zum Dienst bereit sind, wobei Jesus das Opfer seines Lebens am Kreuz als seinen eigentlichen Dienst versteht, durch den allen Menschen das Heil erschlossen wird (Mk 10,45). Z u m göttlichen Machterweis gehören auch Kampf und Sieg über die Macht des Bösen. Die bei Paulus (Rom 8,38 f; Eph 1,21; 3,10; Kol 1,16; 2,15) erwähnten Mächte, Kräfte, Gewalten, Throne, Herrschaften sind Ubernahmen aus der Apokalyptik und in ihrer Wirkung ambivalent. So können sie einerseits in der Theologie der Ostkirche (Cyrill v. Jerusalem, Ephram, Pseudo-Dionysius) wie des Westens (Gregor der Große) mit den vier Engelsgruppen zusammen zur neunklassigen himmlischen Hierarchie werden, andererseits aber auch als Auswirkungen der bösen Macht des Teufels aufgefaßt werden (vgl. Gal4,3; Kol 2,18; Apk 13,1 f; I Tim 4,1). Die Apostel erhalten ihren Auftrag aus der Vollmacht Jesu Christi (Mt 28,18). An Pfingsten erhalten sie die Kraft des Heiligen Geistes, aus der heraus sie ihren Missionsauftrag erfüllen (Act 1,8). Durch den Heiligen Geist teilt sich die Kraft Gottes den Gemeinden mit (Kol 1,11; Eph 3,16). Sowohl das Alte wie das Neue Testament kennt den Gegensatz von göttlicher und menschlicher Macht. Die Mächtigen rühmen sich ihrer Macht, werden aber von Gottes Macht zunichte gemacht (Jes 10,13; H a b 1,11; II Mak 11,4). Das Geschick des jüdischen Volkes zeigt, daß Gott ,die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht' (Lk 1,52; vgl. I Sam 2,7; Hi 5,11). Daraus ergibt sich für Paulus das Paradox, daß ,das Schwache an Gott stärker ist als die Menschen' (I Kor 1,25), und wir diesen Schatz in zerbrechlichen Gefäßen tragen, damit deutlich wird, daß das Ubermaß der Kraft von Gott und nicht von uns kommt (II Kor 4,7). Die Identifikation der Gläubigen mit Christus bedeutet, daß sie den Tod Christi an ihrem Leibe tragen, zugleich aber Zeugen der
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Macht II
lebenschaffenden Kraft Gottes werden (II Kor 12,9 f). Das Beispiel der Gemeinde in Korinth zeigt, daß ,Gott das Schwache vor der Welt erwählt hat, um das Starke zuschanden zu machen' (I Kor 1,27). So wird die Machtfrage zugleich zur Entscheidungsfrage, ob der Mensch sich auf sich selbst oder auf die in der Auferweckung Jesu manifest gewordene Macht Gottes verlassen will. Der letzte Aspekt der Machtoffenbarung Gottes ist der eschatologische. Mit der Auferstehung Christi hat das eschatologische Drama begonnen. Die Himmelfahrt Christi ist die Besitzergreifung seiner göttlichen Macht, an der schließlich auch die Gläubigen teilhaben dürfen (II Kor 4,14f). In der Parusie offenbart sich die Macht Gottes als Erscheinung Jesu mit seinen Engeln (II Thess 1,7.10). Zum Ende gehört die Unterwerfung und Vernichtung aller widergöttlichen Mächte und Gewalten und die Ubergabe der Herrschaft an Gott den Vater, daß dieser sei alles in allem (I Kor 15,24-28; Apk 4,10f; 15,8 u.ö., vgl. auch den nicht ursprünglichen Vaterunserschluß Mt 6,13). Zwei Aspekte des Machtproblems spielen schon in neutestamentlicher Zeit eine Rolle, einmal wie christliche Identität gewahrt werden kann angesichts von innergemeindlichen Konflikten und bei der Entscheidung von kirchlichen Strukturfragen, sodann wie sich Christen der staatlichen Macht gegenüber verhalten. Wenn Paulus in den von ihm gegründeten Gemeinden Autorität ausübt, so ist das kein Widerspruch zu Mt 20,26, weil es bei der apostolischen Autorität um eine von Gott gegebene, geistliche Leitungsfunktion geht, nicht um die Durchsetzung eines menschlichen Machtanspruchs. Was das Verhältnis zur staatlichen Macht angeht, so schließt der Glaube an den gekreuzigten und erhöhten Herrn die Loyalität gegenüber der staatlichen Macht nicht aus, solange diese der ihr von Gott gegebenen Aufgabe der Wahrung von Recht und Frieden gerecht wird und sich nicht selbst an die Stelle Gottes setzt. Zur urchristlichen Loyalität gehört auch die Fürbitte, wie sie in den Pastoralbriefen (I Petr 2 , 1 3 - 1 7 ; I Tim 2,1 f) und bei den Kirchenvätern des 2. und 3. Jh. (Apol. d. Athenagoras, Suppl. 37; Tertullian, Apol. 31,2; Polycarp 12,3) den Gemeinden eindringlich empfohlen wird. Die Loyalität hat aber dort ihre Grenze, wo der Staat sich als widergöttliche Macht gebärdet und von den Christen ein Mitmachen mit den sich als sakral verstehenden Institutionen verlangt, z.B. Fahneneid, Opfer an den divus Caesar. Hier wird der Staat nicht mehr als Diener Gottes gesehen, sondern als widergöttliche Weltmacht unter der Herrschaft des Antichristus (Mk 13,14; II Thess 2,3 f; Apk 13). Das Ringen um die Ambivalenz des Politischen, das einerseits gute Schöpfung Gottes ist, um der Selbstzerfleischung der Menschheit zu wehren, andererseits Gottgleichheit für sich in Anspruch nimmt und dadurch widergöttlich wird, ist das Thema der politischen Theologie nicht nur in den ersten Jahrhunderten, sondern begleitet die ganze Geschichte der Kirche. 2. Macht in der Geschichte
der
Kirche
Wenn Friedrich Engels feststellt, daß politische Herrschaft nur dann auf die Dauer Bestand hat, wenn sie ,die vermittelnde gesellschaftliche Amtstätigkeit vollzieht, die ihre ursprünglichste Existenzbegründung darstellt' (Marx/Engels, Werke 20,167), so trifft dies auch für die Kirche als geschichtlich kontinuierliche Organisation zu. Deren ,ursprünglichste Existenzbegründung' ist die Verkündigung und Weitergabe der Herrschaft Gottes in Jesus Christus. Die Apostel sind als Bevollmächtigte ihres himmlischen Herrn in Jerusalem wie in den heidenchristlichen Gemeinden höchste Autorität. Die Entwicklung der gemeindlichen Machtstruktur hat sich in der Wende vom 1. zum 2. Jh. so vollzogen, daß die judenchristlichen Gemeinden eine kollegiale Leitung behalten (Älteste oder Presbyter), die auf heidnischem Boden entstandenen Gemeinden von einem Bischof und Diakon geführt werden. Beide Organisationsformen gleichen sich einander an und werden im Lauf des 2. Jh. miteinander verbunden (so Hamman). Der Titel Bischof, der aus der bürgerlichen Verwaltung stammt, ist eine Zeitlang gleichbedeutend mit dem des Presbyters, setzt sich aber schließlich zur Bezeichnung der monarchischen Vollmacht durch. Das Idealbild eines Bischofs entspricht ganz dem eines Familienvaters, der seine Angelegenheiten vorbildlich besorgt (I Tim 3 , 1 - 1 3 ) . Dem Bischof steht der Diakon, ein
Macht II
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meist jüngerer Mitarbeiter, zur Seite. Sie leiten gemeinsam die Versammlung der Gemeinde, feiern die Eucharistie und verwalten das gemeinschaftliche Vermögen der Gemeinde. In I Clem 40 werden sie zum erstenmal von den Laien unterschieden. Einheit und Lebendigkeit der Gemeinden hängen vom 2. Jh. an weithin von der Persönlichkeit des s Bischofs ab. Die hierarchische Struktur der Ämterordnung wird im I Clem mit der Analogie aus dem Militärwesen begründet: Wie sich Offiziere und Mannschaften dem König und seinen Beauftragten unterordnen, so soll es auch in der Kirche zum Wohle des Ganzen der Fall sein. Ignatius dagegen verweist auf die Einheit und Einzigartigkeit Gottes zur Begründung des monarchischen Prinzips in der Kirche. 10
u
Im Gegensatz zu von C a m p e n h a u s e n (Kirchliches A m t und geistliche V o l l m a c h t , ' 1 9 6 3 ) ist die neuere Forschung eher bereit, schon in der U r c h r i s t e n h e i t , f r ü h k a t h o l i s c h e ' Elemente anzuerkennen. St. Sykes (Identity) übt an von C a m p e n h a u s e n folgende Kritik: Er abstrahiert von der sozialen Situation, wenn er die T h e o l o g i e der Geistesgaben als typisch für die paulinischen Gemeinden betrachtet und dabei deren soziologische Struktur übersieht, und er verkennt das chronische M a c h t Vakuum, das nach dem Weggang der sog. Apostel entstanden ist. D e r Unterschied zwischen Paulus und C l e m e n s von R o m wird geringfügig angesichts der in der - » G n o s i s h e r a u f k o m m e n d e n wirklichen G e f a h r für die Identität des Christentums. Tatsächlich hätte das Urchristentum o h n e das Festhalten am Vertrauen zur Apostolizität der Amtsträger sich selbst k a u m behaupten können gegen die Auflösung durch den gnostischen Synkretismus (s. Greenslade 4).
Das monarchische Prinzip setzt sich schließlich nicht nur im Aufbau der Einzelgemeinden durch, sondern wird in der Universalkirche herrschend. Nach der Zerstörung Jerusalems als dem Ursprungsort des Christentums spielt mehr und mehr Rom die führende Rolle. Sein Prestige beruht nicht nur in der unbestrittenen politischen Vormachtstellung dieser Stadt, sondern kirchlich auf dem Wirken und dem Martyrium der 25 beiden Apostel Petrus und Paulus sowie der Geltung der apostolischen Glaubensregel, die in Rom nie eine Häresie entstehen ließ und so auch für die übrigen Kirchen der Ökumene maßgeblich wurde. So wird z.B. der Osterfeststreit zwischen Asien und Rom im 3. Jh. (-•Ostern) im Sinne Roms entschieden, dessen Bischof für sich den Titel vicarins Christi in Anspruch nimmt (vgl. Harnack, Dogmengeschichte 1,483). Machtausübung findet 30 auch in der Weise statt, daß die Kirchen der Ökumene über Rom miteinander verkehren. So beherrscht allmählich die Gleichsetzung von Römisch und Katholisch das ganze Mittelalter und wird eigentlich erst durch die Reformation in Frage gestellt. 20
Bis zum 4. Jh. besteht im Verhältnis von -»Kirche und Staat ein kontrapunktischcs Gegenüber, dessen Extreme die Märtyrersituation der Christen einerseits und die Selbst35 vergottung des Staates andererseits sind. Ab dem 4. Jh. ändert sich die Lage insofern, als nunmehr die Kirche ,Reichskirche' und der Staat regttum Christi wird, es also zu einer Symphonie von staatlicher und kirchlicher Macht kommt. Der Streit um die rechte Zuordnung der ,zwei Schwerter' (-»Zweischwertertheorie), die Gott nach Lk 22,38 zur Wahrung der irdischen Ordnung eingesetzt hat, erfüllt das ganze Mittelalter und endet 40 schließlich mit dem Zerfall der kaiserlichen Universalmacht und dem Aufkommen der vom Kaiser unabhängigen Nationalstaaten. Die letzte Kaiserkrönung in Rom - als Zeichen der Uberordnung des Papstes über den Kaiser — fand 1452 statt, bis 1806 das Kaisertum als abendländische Zentralmacht überhaupt erlischt. M a g auch die Vorstellung, d a ß anfänglich in der Urchristenheit M a c h t vor allem als geistliche Vollmacht o h n e feste Bindung an eine O r d n u n g von Ämtern auftrat, utopisch sein, so scheint doch die Feststellung von C a m p e n h a u s e n s richtig, d a ß die Tendenz der E n t w i c k l u n g dahin führt, d a ß der G e d a n k e der O r d n u n g sich sozusagen auf sich selber gestellt hat und in seiner formalen Bedeutung als Welt und Kirche regierende M a c h t und als eigentliche N o r m des geistlichen Lebens gepriesen wird. D a s M a c h t p r o b l e m wird schließlich zur Frage nach der Identität des Christlichen überhaupt 50 (so Sykes), nämlich o b die Verdrängung der freien Geistesgaben durch die Ü b e r m a c h t des A m t s b e griffs noch R a u m läßt für die G e g e n w a r t des lebendigen Christus. Hier sieht die , T h e o l o g i e der Befreiung' (Boff) den D r e h - und Angelpunkt zwischen r ö m i s c h e m Katholizismus und Protestantismus.
45
656 3. Macht in der theologischen
Macht II Reflexion
Man hat schon die Ambivalenz von prophetisch-befreienden und herrschaftlich-unterdrückenden Elementen als charakteristisch für die Geschichte des Christentums bezeichnet. Dieser Ambivalenz korrespondiert die konträre Auslegung des Verhältnisses von göttlicher und menschlicher Macht. Die monarchische Tradition im Abendland basiert auf einer direkten Analogie göttlicher und weltlich-menschlicher Macht (vgl. -»Bossuets Begründung des Absolutismus: Die Politik nach den Worten der Hl. Schrift, Oeuvres compl. 11,1; 111,1-12; IV,1). Noch 1776 konnte der französische König vor dem Parlament erklären: Meine Person verkörpert die souveräne Macht, deren wesentliches Merkmal der Geist der Weisheit, der Gerechtigkeit und der Vernunft ist. Der Ausdruck ,von Gottes Gnaden' betont einerseits die Abhängigkeit des Monarchen von Gott sowie die transzendente Legitimation von Macht, andererseits aber aus der Sicht der Untertanen die fraglose Sanktionierung des Herrschers mit Verwerfung revolutionärer Tendenzen. Bezeichnend für die Situation von Theologie und Kirche im monarchischen System ist die Tatsache, daß der Satz, Macht an sich sei böse, nicht von Theologen ausgesprochen wurde, sondern von Historikern und Philosophen (Fr. Chr. Schlosser, J. Burckhardt, Fr. Nietzsche). Im Blick auf Beispiele wie Ludwig XIV., Napoleon und die revolutionären Volksregierungen in Frankreich meint Burckhardt (Weltgeschichtliche Betrachtungen, [Ausg. Kröner] 36), daß hier ohne Rücksicht auf irgendeine Religion das Recht des Egoismus, das man dem einzelnen abspricht, dem Staate zugesprochen wird. Burckhardt sieht den Kern des Bösen in der neuzeitlichen Machtausübung im ,permanenten Gelüste des Arrondierens', also der Eroberungssucht, die den schwächeren Nachbarn zu unterwerfen und von sich abhängig zu machen trachtet. Aus bibeltheologischer Sicht ergibt sich, daß das Christentum weder für eine absolute Ablehnung der Macht im Sinne eines schwärmerischen Anarchismus in Anspruch genommen werden kann (vgl. -»Luther, Genesisvorlesung von 1535—1545, WA 42,401: Potentem in terra esse, non est per se malum), noch für eine unkritische Bejahung derselben. Die neuere katholische Theologie (-»Rahner, Hemmerle) sieht in der Macht einerseits eine schöpfungsmäßige Anlage, indem sie Währen, Sich-Bewahren und Gewähren ist (Hemmerle), aber auch Durchsetzung des eigenen Willens im gemeinsamen Lebensraum der ,Welt', anderseits aber zugleich Konkretisierung der eigenen Sündigkeit, indem die Konkupiszenz den,Willen zur Macht' des einzelnen im Konflikt mit den Lebensinteressen anderen Seins durchzusetzen bestrebt ist. Daraus folgt für das christliche Verständnis von Macht, daß diese in dieser Weltzeit, weil immer mit Konkupiszenz und Sünde verbunden, niemals ganz wird aufhören können, doch das zu Überwindende ist, das langsam abgeschafft und überholt werden soll, wobei allerdings totale Entmachtung Geschenk der eschatologischen Gnade Gottes ist (Rahner). Angesichts der totalitären Ansprüche des modernen Staates, der alles dem politischen Aspekt der eigenen Machtvermehrung unterordnet, erinnert sowohl katholische wie evangelische Theologie an die notwendige Unterordnung der Macht unter -»Liebe, -»Gerechtigkeit und Menschenwürde. So zeigt -»Tillich in seinen Untersuchungen, daß Macht letztlich die Macht des Seins ist, das über sich selbst hinausdrängt. Der Drang, Getrenntes wieder mit sich zu vereinigen, ist aber nichts anderes als die Liebe; insofern ist diese nicht die Verneinung der Macht, sondern deren Fundament, selbst wenn es im politischen Handeln oft zum ,fremden Werk' der Liebe bis hin zum Töten des Gegners kommen kann. Gerechtigkeit ist die Form, in der sich die Macht des Seins verwirklicht. Tillich sieht in der Einheit von Gerechtigkeit, Macht und Liebe das Grundgesetz sowohl in den zwischenmenschlichen als auch in den sozialen Gruppenbeziehungen. In besonderer Weise versteht die,Theologie der Befreiung' die Kirche als ,koinonia der Macht', d. h. daß nicht nur einzelne Amtsträger das Machtmonopol in der Kirche innehaben, sondern die Gemeinschaft als ganze, in der exemplarisch verdeutlicht werden soll, daß alle Macht nach dem Willen Jesu Berufung zum Dienst am -»Gemeinwohl ist.
Macrobius
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Heinz-Horst Schrey Macrobius (Quellen/Literatur S. 659)
Macrobius (Ambrosius Macrobius Theodosius in den Überschriften zu den besten Handschriften der Saturnalia, Macrobius Ambrosius Theodosius in der subscriptio zum ersten Buch des Kommentars) ist wahrscheinlich zu identifizieren mit dem Theodosius, der 430 in Italien Prätorianerpräfekt war. Abgesehen von einer grammatischen Arbeit über die Verbformen im Griechischen und Lateinischen schrieb er einen Kommentar über das Somnium Scipiottis und eine literarische Miszelle mit dem Titel Saturnalia.
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Macrobius
Das Somnium, eine literarische Glanzstelle aus Ciceros De re publica, ein Werk, das ansonsten nur in einem fragmentarischen Palimpsest bewahrt geblieben ist, schildert den künftigen seligen Zustand der tugendhaften Seelen, wie er Scipio dem Jüngeren in einem Traum offenbart worden war. Macrobius, der das Stück bewahrte, versah es mit einem zwanzig Mal so langen Kommentar, in dem er neuplatonische Lehren über die Seele, die Musik, Arithmologie und Kosmologie mitteilte (-»Neuplatonismus). Ein Großteil dieses Gedankenguts stammte von ->Porphyrius. Der erste Eindruck des Lesers ist der immensen Wissens; der Inhalt besteht aber zu einem großen Teil aus einer reinen Kompilation ansonsten schwacher Quellen. Eine unbegründete Ehrfurcht vor ägyptischer Wissenschaft, die er über das Werk von Archimedes und Erathosthenes stellt, führt ihn in 1,20 zu einer astronomischen Ungereimtheit, da er die Entfernung und den Durchmesser der Sonne aufgrund von Annahmen berechnet, die gleichermaßen falsch wie sachlich unangebracht sind. Zu seinen Quellen muß (vielleicht über einige Umwege) ein Bericht über die heraklidische Theorie gehört haben, nach der Venus und Merkur sich um die Sonne drehen; so wie sie bei Macrobius (1,19,5-6) wiedergegeben ist, ist sie aber unverständlich. Was er versteht, kann er klar und flüssig erklären, wenn auch oftmals mit ,erbarmungsloser' Länge, wie die Vorzüge der Zahl sieben (1,6,1-83). Macrobius war einer der Übermittlungswege, über die neuplatonische Vorstellungen — Unsterblichkeit und Präexistenz der -»Seele, Geringwertigkeit des irdischen Lebens, mathematische Proportionen im physischen Universum, Einfluß der Planeten, Sphärenmusik — zum geistigen Besitz des christlichen Mittelalters wurden. Die Saturnalia sind für den modernen Leser um vieles interessanter. Sie stellen eine Gruppe gebildeter Freunde vor, die die drei Tage der Saturnalien mit literarischer Diskussion verbringen: schwierigere Gedankengänge am Tag, leichtere Gegenstände beim abendlichen Mahl. Die handelnden Personen sind die letzten großen Heiden R o m s : Vettius Praetextatus, Aurelius S y m m a c h u s , der G r a m m a t i k e r Servius, der Fabeldichter Avienus und andere, weniger bekannte. M a c r o b i u s ' Bekenntnis absichtlicher A n a c h r o n i s m e n (1,1,5) m a c h t deutlich, daß er mindestens eine G e n e r a t i o n nach ihnen lebte. Die Unterhaltung am ersten T a g folgt mehr der Assoziation denn der Logik: Ursprung und B r ä u c h e der Saturnalien führen zur G e s c h i c h t e des römischen Kalenders und zur Verpflichtung menschlichen Umgangs mit den Sklaven, schließlich zu einer T h e o r i e , d a ß alle G ö t t e r Aspekte der S o n n e sind. Ein Angriff gegen Vergil seitens des ungebildeten und ungeladenen Gastes Evangelus veranlaßt die anderen zu dessen gemeinsamer Verteidigung: Eustathius weist Vergils Kenntnis der Philosophie und der griechischen Literatur auf, Praetextatus seine Vertrautheit mit priesterlichem Wissen u. s. w. Die versprochenen Ausführungen zu Vergils Kenntnis der Philosophie, der Praxis der Auguren und der griechischen R h e t o r i k sind entweder zur G ä n z e oder zu einem großen Teil infolge verschiedener Textausfälle untergegangen, durch die ungefähr ein Drittel des ursprünglichen Werkes verloren ist. Die wertvollsten auf uns g e k o m m e n e n Diskussionen sind jene des fünften und sechsten Buches (oder des dritten Tages: Die Einteilung der Bücher s t a m m t aus dem Mittelalter), in denen viele Werke griechischer und lateinischer Literatur zitiert werden, die ansonsten untergegangen sind. Die Wertschätzung Vergils durch M a c r o b i u s , die o f t verständnisvoll und erhellend ist, wird durch die (in der Spätantike nur allzu geläufigen) A n n a h m e gestört, daß immense und unfehlbare Gelehrsamkeit die erste Tugend eines Dichters sei. D a s T i s c h g e s p r ä c h der drei T a g e dreht sich um Gegenstände wie B o n m o t s b e k a n n t e r M ä n n e r und die zunehmende Völlerei in R o m (einschließlich der Speisefolge eines päpstlichen M a h l s ) und die Luxusgesetze, die sie e i n d ä m m e n sollen.
Wie die meisten spätlateinischen Schriftsteller unterdrückt Macrobius die Namen seiner unmittelbaren Quellen. Unter ihnen ist etwa Aulus Gellius hervorzuheben, von dem er sich einen Großteil seiner scheinbar umfangreichen Kenntnis frührömischer Literatur aneignet. Die beachtliche Rede über die Sklaven (1,11) ist Senecas 44. Brief entnommen und mit Geschick unter Hinzufügung erläuternden Materials aus Valerius Maximus und anderen verändert. Macrobius erhebt in der Tat in seinem Vorwort keinen Anspruch auf Originalität, und bei der Auswahl und Zusammenfügung seines Materials zeigt er beachtliches künstlerisches Geschick. Sein Stil ist glatt und flüssig und verrät häufig Ver-
Männerarbeit
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trautheit mit den Briefen des Symmachus. Sein Verhältnis zu Servius ist interessant: Während er ihn als den gebildetsten Ausleger Vergils lobt, schreibt er ihm doch Äußerungen zu, die keine Entsprechung im Vergilkommentar des Servius finden und in einigen Fällen wörtlich von Gellius abgeschrieben sind. Einige Stellen scheinen darauf hinzudeuten, d a ß Macrobius und der Servius Auctus dieselbe Quelle benutzt haben. Die Religionszugehörigkeit von Macrobius w a r früher umstritten. Als einziger unter den heidnischen Schriftstellern erwähnt er den Kindermord in Betlehem (2,16) und schreibt Augustus die scherzhafte Bemerkung zu, es sei sicherer gewesen, Schwein des Herodes als sein Sohn gewesen zu sein (2,4,11). Kritiker des Christentums meinten, er sei tatsächlich Christ gewesen, aber seine Werke geben nicht den geringsten Anhaltspunkt für diese Ansicht. Genau so unbegründet ist die Annahme, der haßerfüllte Evangelus sei als Christ gedacht: Er verachtet die Vergötterung Vergils, aber nie Praxis oder Glauben der Heiden. Das ganze Werk ist eigentlich geschrieben, als o b das Christentum nicht existierte. Die Überlieferung sowohl des Kommentars wie der Saturnalia geht auf je eine einzelne bis in die Karolingerzeit erhalten gebliebene Handschrift zurück. Abgesehen von den Lücken in den Saturnalia sind beide Texte gut erhalten, wobei die ältesten H a n d schriften bis ins 9. Jh. zurückführen. Quellen Macrobius, hg.v. James Willis, 1963, verb. Nachdr. 1970 (BiTeu) (Lit). - Macrobii Ambrosii Theodosii opera, hg.v. Ludwig van Jan, 2 Bde., Quedlinburg/Leipzig 1848/1852 (der Komm, ist nach wie vor zu gebrauchen). - Macrobius, Commentary on the Dream of Scipio, übers, mit einer Einl. u. Anm. v. William Harris Stahl, 1952 (RoC 48). - Ders., The Saturnalia, übers, mit einer Einl. u. Anm. v. Percival Vaughan Davies, 1969 (RoC 79).
Literatur Alan Cameron, The Date and Identity of Macrobius: JRS 56 (1956) 25 - 3 8 . - Pierre Courcelle, Les lettres grecques en occident de Macrobe a Cassiodore, Paris 1943 M948. - G. Lögdberg, In Macrobii Saturnalia adnotationes, Uppsala 1936. - Karl Mras, Macrobius' Kommentar zu Ciceros Somnium, 1933 (SPAW.PH 57). - J. J. O'Donnell, The Demise of Paganism: Tr. 35 (1979) 4 5 - 8 8 . - Martin Schedler, Die Phil, des Macrobius, Münster 1916. - William Harris Stahl, Roman Science, Madison/Wis. 1962.
James Willis Männerarbeit,
Kirchliche
1. Entstehung und Entwicklung 2. Schwerpunkte und Arbeitsweise formen 4. Zukünftige Entwicklung (Literatur S. 667)
3. Gestalt und Arbeits-
Die Männerarbeit der evangelischen Kirche ist ein Zusammenschluß von örtlichen und fachlichen Gruppen von Männern auf gemeindlicher, landeskirchlicher und EKD-Ebene als gesamtkirchliche Aufgabe und Laienbewegung in Gestalt eines kircheneigenen Werkes. Sie dient der seelsorglichen Begleitung und der geistlichen wie persönlichen Entwicklung von Männern, ihrer Mitarbeit in der Kirche und ihrer Verantwortung in Familie, Arbeitswelt und Öffentlichkeit mit dem Ziel einer gleichwertigen Anerkennung und Zusammenarbeit von Mann und Frau.
1. Entstehung
und
Entwicklung
Den entscheidenden Anstoß zur Entstehung der heutigen Männerarbeit der Kirche haben tiefgreifende Erschütterungen in der Neuzeit gegeben. Sie haben die scheinbar selbstverständliche Verbindung von M a n n , Religion und M a c h t ins Wanken gebracht. Es sind die industrielle Revolution, die mit ihrer rational-funktionalen Denkweise Verstand und Seele des M a n n e s zu beherrschen beginnt, und es sind zwei verheerende Weltkriege, die die innere Autorität und das Selbstbewußtsein des M a n n e s zerstören. Die männliche Lebenswelt gerät in eine tiefe Krise. Mitten in diesem Prozeß hat die Männerarbeit der Kirche eine signifikante Bedeutung und Aufgabe. 1.1. Das Zeitalter der Fabriken und Städte schafft nicht nur neue Lebensmöglich-
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keiten, sondern löst auch die alten dörflichen und familiären Lebensverbände zu einem großen Teil auf. Auf diesem Hintergrund entstehen die ersten: Jünglings-, Gesellen-, Männer- und Missionsvereine als Antwort auf die soziale Not und innere Entwurzelung. Sie sind sowohl Ursprung der Jugend- wie auch der Männerarbeit. Der Hofküfermeister Christian Gotthold Engelmann lädt erstmals Weihnachten 1815 einige Leute in seiner Werkstatt in Stuttgart zur Bibellese und zum Gebet ein (Jürgensen 11 ff). Diese Vereine finden wegen ihres mit Geselligkeit verbundenen Sendungsbewußtseins in der Folgezeit eine rasche Verbreitung. Am 8.Sept. 1895 schließen sich z.B. im Norden die westschleswigschen Jünglings- und Männervereine zusammen und protokollieren: „ . . . unseren treuen Herrn und Heiland Jesus Christus aber bitten wir, auch diesen Verband unter seinen Segen zu stellen, damit auch durch diese Missionsarbeit dem Satan Seelen entrissen werden mögen zur Ehre Gottes des Vaters und zur Freude aller Engel im Himmel - das walte G o t t " (Diarium für Protokoll des westschleswigschen Kreisverbandes. Original im Nordfriisk Institut, Bredstedt/Husum).
Diesen Vereinen verwandt und häufig mit ihnen verbunden sind die Standesvereine. In Erlangen entsteht 1835 der erste evangelische Handwerkerverein, und 1882 gründet der Bergmann L. Fischer aus Gelsenkirchen den ersten regulären Evangelischen Arbeiterverein. Die Parallele bzw. Konkurrenz zur allgemeinen -»Arbeiterbewegung und zu den katholischen Arbeitervereinen ist unverkennbar. Es folgen weitere Gründungen im Ruhrgebiet und Baden, mehr in den industriellen Zonen des Westens, Südens und den städtischen Regionen als im Norden. Um die Jahrhundertwende zählt z.B. der Rheinisch-westfälische Verband der Arbeitervereine 144 und der Nordelbische nur 5 Vereine (Söhner 15). Einen großen Einfluß auf Entstehung und den Weg der evangelischen Arbeiter-, Standes- und Volksvereine üben dabei der Mönchen-Gladbacher Pfarrer Ludwig Weber aus, aber auch Adolf -»Stoecker und Friedrich -»Naumann. Viele Arbeitervereine ändern später ihre Bezeichnung in Männervereine. Dies ist die eine und im wesentlichen aus sozialen Anlässen entstehende Linie der Standes-, Jünglings- und Männervereine, die zur Gründung der späteren kirchlichen Männerarbeit geführt hat (vgl. Thier/Heyde 5 5 0 - 5 5 3 ; H. Johnsen, Kirchl. Männerarbeit 1 0 - 1 3 ; Hülser, Anfänge 74—80; H. Lohmann, Männerarbeit 352f). 1.2. Die andere Linie ist die der -»Inneren Mission, begründet von J. H. -»Wiehern. Er deutet die sozialen Konflikte als Ruf zu Buße und Umkehr für die Kirche und das Volk. Die Kirche ist zu rettender Liebe und zum Zeugnis des Glaubens herausgefordert, d.h. Diakonie und Mission gehören zu ihren Aufgaben. Auch wenn Wicherns Vorstellungen nicht in Erfüllung gegangen sind, ist ihre Wirkung für die Folgezeit und auch für die Männerarbeit als Nahtstelle zwischen Kirche und Gesellschaft nachhaltig bedeutsam geworden. 1.3. Eine dritte, die Anregung Wicherns weiterführende Linie zur Entstehung der Männerarbiet ist die Gründung des Evangelisch-kirchlichen Hülfsvereins „zur Unterstützung der Bestrebung behufs Bekämpfung der religiössittlichen Notstände in großen Städten und Industriebezirken 1888, letzterer vom Throne her [d.h. von Kaiser Wilhelm II. 1888-1918, und seiner Frau Auguste Viktoria] begünstigt und auch aus bisher der inneren Mission verschlossenen Quellen gespeist, jüngst besondern in der .Frauenhilfe' für das Gemeindeleben fruchtbar" (Rahlenbeck Realenzyklopädie 13, 99). Die Auflösung alter sozialständischer Ordnungen verlangte nach einem anderen Ordnungsprinzip. So entwickelt sich im Rückgriff auf das -»Naturrecht und in Aufnahme vorhandener Gruppierungen auch im Protestantismus neu die Vorstellung von den Naturständen der Männer, Frauen, Jungen und Alten. Der Vorteil dieses Prinzips besteht in der einfachen Zuordnung und Erfassung aller, sein Nachteil darin, daß die einzelnen sozialen Konflikte überdeckt werden. Zuerst wird auf Initiative des Hülfsvereins 1899 die „Evangelische Frauenhilfe" ins Leben gerufen und dann 1915 der „Kirchliche Männerdienst". Es folgen Gründungen von Männerdiensten in Berlin-Brandenburg, Westfalen, Sachsen-Anhalt, Schlesien, Ostpreußen und Pommern. Dabei spielen in Westfalen und darüber hinaus der Generalsuperintendent D. Wilhelm Zöllner, später die Pastoren Horst Schirmacher und Müller-Schwefe, letzterer als Begründer der „Männerkampfbün-
Männerarbeit
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d e " zur Abwehr von Freidenkertum und Atheismus und Stärkung des Glaubens und des Zeugnisses christlicher Männer, eine bedeutende Rolle. 1.4. Für die weitere Entwicklung der Männerarbeit ist es wichtig, die kirchlichen Einigungsbemühungen nach 1918 wie auch das Entstehen der völkisch-religiösen Strömung und deren Einfluß in der Kirche nach der Machtergreifung Hitlers im Auge zu behalten. A u f d e m H i n t e r g r u n d der E n t w i c k l u n g zur Reichskirche geschieht, n a c h d e m z u v o r das Deutsche
Evangelische
Frauenwerk,
ins Leben gerufen w o r d e n ist, z u m 4 5 0 . G e b u r t s -
tag M a r t i n L u t h e r s 1 9 3 3 die G r ü n d u n g des „ D e u t s c h e n Evangelischen
Männerwerkes"
( D E M W ) . Veranlaßt wird diese G r ü n d u n g d u r c h die Reichskirchenleitung. Im D E M W w e r d e n nun die beiden Linien, die der Evangelischen Arbeiter-, Gesellen- und Standesvereine und die der gemeindeorientierten M ä n n e r d i e n s t e des Evangelisch-Kirchlichen Hülfsvereins z u s a m m e n g e f ü h r t . Die M ä n n e r a r b e i t soll in Z u k u n f t nicht in Vereinen, s o n d e r n auf d e m B o d e n der G e m e i n d e geschehen. Reichsobmann des neuen Werkes wird 1935 der Braunschweigische Landesbischof Dr. Helmuth Johnsen (vgl. Kuessner). Er versteht sich selbst als Mann der Mitte zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche mit anfänglichen Sympathien gegenüber dem Nationalsozialismus. Die Kurzfassung seiner Position lautet: „Das D E M W steht unter dem Wort, auf dem Bekenntnis, mitten im Volk" (Johnson, Kirchliche Männerarbeit 3). Auch versucht er, zusammen mit Dr. Hoppe und dem Hauptgeschäftsführer Hülser durch Orientierung der Arbeit an Bibel und Bekenntnis dem völkischen Geist entgegenzusteuern. Nach seinem Tod in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft 1947 gerät er - zu schnell - in Vergessenheit (vgl. Kuessner 4 2 - 4 4 ) . Insgesamt stand die Gründung des D E M W unter keinem guten Stern. Das auslösende Ereignis war der letztlich mißglückte Versuch, eine deutsche Nationalkirche zu gründen. Die Absicht eines „volksmissionarischen Aufbruchs" war völkischer und nicht missionarischer Natur. Er wollte, jedenfalls im Verständnis der Deutschen Christen, die Christen zum nationalsozialistischen Volksbewußtsein und nicht das Volk zu Christus bringen. Insofern hatten alle späteren Bemühungen um ein christliches Grundverständnis mit dieser anfänglichen Fehlentscheidung zu tun, die das Schiff in eine falsche Richtung lenkte, auch wenn manche Mitarbeiter sich dagegen zur Wehr setzten, wie z. B. Ernst zur Nieden (s.u.). Die Vereinstradition wurde zu schnell aufgegeben und mit ihr die Verbindung zu den Arbeitervereinen und zu einer selbständigen Organisationsform. Von Wicherns Ansatz war vielleicht nur noch das „Priestertum aller Gläubigen", die Beteiligung der Männer als Gemeindeglieder und Getaufte an dem Leben der Kirche erhalten. Doch auch dieses war in Gefahr, mißbraucht zu werden als Angriff auf bekenntnistreue Pastoren im Sinne eines Volksbewußtseins (Scholder, II, 45). Die Kränkung eines verlorenen Krieges, das Wanken der Werte, Schwierigkeiten mit der Demokratie, eine wirtschaftliche Depression, vor allem aber die Unfähigkeit, christlichen Glauben und Liebe zum eigenen Volk in ein angemessenes Verhältnis zu bringen, mögen gerade die Männer verunsichert und bei ihnen die Neigung zu rückwärts gewandtem Verhalten bestärkt haben. So ist wohl die Gründung des D E M W als „volksmissionarische" Tat gerade zum Lutherjubiläum und auf dem Hintergrund des Programmes der „Reichskirche" zu erklären. Dies kann schwerlich der Männerarbeit allein angelastet werden, sondern ist die Gefahr einer das Volk und die Gesellschaft tragenden Schicht. Sie tendiert schon wegen ihrer Rolle zu Bewahrung und Absicherung und kann dieses auch nicht einfach abweisen. Der christliche Glauben kann sich jedoch mit dieser Feststellung nicht zufrieden geben. 1.5. D e r Gemeindedienst und die M ä n n e r a r b e i t in W ü r t t e m b e r g w a r e n a u f G r u n d von E r f a h r u n g e n mit den D e u t s c h e n Christen d e m D E M W nicht beigetreten (Söhner 62ff). Im Z u s a m m e n h a n g mit d e m sich regenden kirchlichen W i d e r s t a n d in der Bekennenden Kirche (BK) 1 9 3 4 t r a t e n die V e r b ä n d e aus Westfalen, zuerst aus der T r a d i t i o n der Arbeiter- und Gesellenvereine, mit ihnen a u c h d e r K a m p f b u n d des Pfarrers M ü l l e r Schwefe, aus d e m neu gebildeten Werk aus. Sie stehen nun a u f der Seite der B K und lehnen die deutsch-christliche T e n d e n z der F ü h r u n g des D E M W ab. Zunächst entsteht in Westfalen der „Evangelisch-kirchliche Männerdienst". 1934 bilden sich der „Rheinische Rüst- und Männerdienst", 1936 der „Bayerische Männerdienst" und Männerdienste in vielen Gemeinden des ganzen Landes oft gegen den Willen der Pastoren. 1937 gibt es bereits die „Preußische Männerkammer", unter Leitung von Dr. Friedrich Linz als zentraler Arbeitskreis der Männerdienste der BK (vgl. Lohmann 354f). Dr. F. Linz verfaßt 1939 zusammen mit Oskar Hammelsbeck die Gegenschrift des BK-Männer-
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Männerarbeit
dienstes gegen das DEMW: Evangelischer Männerdienst heute. Hier ist bereits die später wirksam werdende dreifache Losung formuliert: „Sammlung der Männer unter dem Wort. Zurüstung der Männer mit dem Wort. Sendung der Männer durch das Wort" (Hammelsbeck 13f.70ff). 1.6. W i e die Gründung des D E M W 1 9 3 3 auf Veranlassung der damaligen Kirchenregierung k o m m t es 1946 auf Initiative der E K D und ihres damaligen Beauftragten, Superintendent D r . Günther Siegel, zur Entstehung der „ M ä n n e r a r b e i t der E K D " ( M A / E K D ) . Die damals erreichbaren Beauftragten für M ä n n e r a r b e i t der Landeskirchen und bewährte Mitarbeiter aus Männerdienst und M ä n n e r w e r k werden zu einem Treffen v o m 2 . - 4 . M a i 1946 im Forsthaus Echzell/Oberhessen eingeladen. Sie entwickeln dort die unter dem N a m e n „Echzeller Richtlinien" bekannt gewordenen Grundlagen für das wiederentstehende Werk. Inhaltlich konnte man an die lebendigen Männerdienste der BK und organisatorisch an das D E M W anknüpfen. Es geschieht nicht nur eine Fortsetzung des Vorhandenen, sondern ein Neuanfang, da jetzt alle Landeskirchen an der Aufgabe beteiligt werden, darunter auch jene ohne eine lebendige Tradition. Es zeigt sich eine weitere Regel für die Männerarbeit der Kirche neben der bewahrenden Tendenz: In kritischen Situationen, auch solchen des Aufbruchs, besinnt sich die Kirche der Männer und besinnen sich die Männer der Kirche. Alles hängt davon ab, wie echt dieses Interesse bleibt, oder ob es nur Mittel zum Zweck ist. So konnte auch Kritik nicht ausbleiben. Den Vertretern sozialethischer Denkweise und Arbeit, z.B. H.-D. Wendland und anderen, erschien die Wiederbegründung der MA/EKD als Rückfall in das konservativ stabilisierende Denken. Diese Kritik ist nicht völlig abzuweisen, doch trifft sie nicht den Kern der Sache. Die „große Stunde der Männerarbeit" nach dem Krieg bestand darin, daß es tatsächlich um die Männer ging. Für viele war „für einen Augenblick" die Tür der Gnade aufgestoßen worden. Sie hatten erlebt, nicht auf ihre Fähigkeiten, sondern auf den Grund des Lebens angewießen und von ihm getragen worden zu sein. Nach der Heimkehr aus Krieg und Gefangenschaft brauchten sie eine Anlaufstelle, bei der sie diese Erfahrungen besprechen und bearbeiten konnten. Ihre Frauen hatten während ihrer Abwesenheit in großer Selbständigkeit und Verantwortlichkeit viele Aufgaben der Männer übernommen. Die Männer befanden sich so, gemessen an ihrem bisherigen Selbstverständnis, einem doppelten Verlust ihrer sie bisher tragenden Lebenswerte gegenüber: Nach außen war es der völlige Niedergang der bisher „männlich verantworteten" Welt, Staat, Nation, Arbeit, Beruf; nach innen hatten sie die Stellung als Familienoberhaupt oder insgesamt ihre männliche und väterliche Autorität eingebüßt. Viele hatten im und durch den Zusammenbruch dieser Welt der völkisch-männlichen Arroganz eine Bekehrung erlebt. Die meisten sind so mit der Männerarbeit in Berührung gekommen und haben ihr viel zu verdanken wie auch umgekehrt. Viele haben ihr aber später ebenso entschieden den Rücken gekehrt. In Echzell und auf der folgenden Zusammenkunft der neu gebildeten Arbeitsgemeinschaft der MA/EKD in Brackwede ( 4 . - 5 . Juli 1946) werden die Grundlagen für Aufgabe und Aufbau der MA/EKD gelegt. Zunächst zu den Strukturelementen: Die Träger der MA sind deren Landesämter, die die Vereine und Gemeindegruppen in ihrem Bereich zusammenführen. Vertreter der landeskirchlichen MA bilden die „Arbeitsgemeinschaft für M A / E K D " , diese wählt den „Arbeitsausschuß für M A / E K D " und die Vorsitzenden. Der Vorsitz wird gemeinsam von einem Theologen und einem Laien wahrgenommen: Es sind zu Beginn Pfarrer Lic. Ernst zur Nieden/Hessen-Nassau und Dir. Max Müller-Schöll/Württemberg. In relativer Selbständigkeit entstehen daneben das Schriftenwerk in Gütersloh unter Pfarrer Heinrich Lohmann und Bernhard Gronemeyer als Geschäftsführer. Ab l . J a n . 1948 erscheint hier monatlich die Zeitung „Kirche und M a n n " . In Offenbach wird die Hauptgeschäftsstelle eingerichtet, deren erster und langjähriger Hauptgeschäftsführer Heinz Flink am 01.01.47 seine Arbeit antritt und mit organisatorischem Geschick die MA/EKD und später auch die „Europakonferenz für kirchliche Männerarbeit" begleitet. - Zum Programm: Es übernimmt die Kernsätze aus den Richtlinien der BK Männerdienste: Sammlung, Zurüstung, Sendung und stellt sich damit in deren Tradition. 1.7. Die nach dem Kriege gebotene „ T r a u e r a r b e i t " findet k a u m statt. Insgesamt setzen sich in Kirche und Gesellschaft die restaurativen Kräfte durch. Dies ist zu einem Teil verständlich, doch als Verdrängungsprozeß gefährlich. Die M ä n n e r werden als selbständige Partner k a u m noch in Anspruch g e n o m m e n . Sie kehren bald der Gemeinde den R ü c k e n und finden in der aufblühenden W i r t s c h a f t , der außerhäuslichen Arbeit und in den vielen Vereinen und Verbänden eine Kompensation für ihr angeschlagenes Selbstbewußtsein. Dabei spielt das Engagement in der Arbeit eine besondere Rolle. Die religiöse Dimension dieses Vorgangs ist a m besten mit dem Begriff des „ W i r t s c h a f t s w u n d e r s "
Männerarbeit
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umschrieben. Arbeit und Erfolg gewinnen immer mehr den Charakter der selbstrechtfertigenden Kraft vor Gott und den Menschen. Der Glaube leidet unter der Machbarkeit der Dinge unter Verzicht auf Gott und ethische Grenzen. Vor allem die Männer identifizieren sich mit der Wirtschafts- und Wohlstandsentwicklung der Nachkriegszeit. So wird es möglich, die Frage nach Leid und Schuld zu verdrängen. Die Anerkennung wirtschaftlicher Leistungen wird zum Ersatz des fehlenden Nationalbewußtseins und auch des Selbstbewußtseins. Waren in den ersten Nachkriegsjahren Tausende zu den Männersonntagen zusammengeströmt und hatte sich besonders Bischof Hanns Lilje mit großer Virtuosität dieses Instrumentes zu bedienen gewußt, so läßt die Teilnahme der Männer am Gemeindeleben immer mehr nach. Die Männerarbeit antwortet auf diese Entwicklung zunächst mit der Verstärkung der schon in Echzell angelegten „Berufsgruppenarbeit" (Materialsammlung MA/EKD A I 6,4) und einer Überarbeitung und Ergänzung ihres Programms (Überlegungen, 1969). Einen Schritt weiter gehen die Berliner Richtlinien aus dem Jahr 1974 (MA/EKD - Kirchlicher Dienst). Sie verweisen u. a. auf das theologische Problem der Selbstrechtfertigung und dessen Relevanz für die Beziehung des Mannes zu Gott und zur Arbeit, zu sich selbst und zur Frau. Z u m ersten Mal wird in diesem Programm ausdrücklich auf die Wechselbeziehung von M a n n und Frau hingewiesen. 2. Schwerpunkte
und
Arbeitsweise
2.1. Gemeindliche Dienste. Als Laienbewegung hat sich die Männerarbeit stets für die Gewinnung, Ausbildung und Begleitung ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Gemeinde eingesetzt. In einigen Landeskirchen (z.B. Bayern, Hessen-Nassau, Württemberg) ist die Männerarbeit Teil des Gemeindedienstes. In den anderen Landeskirchen arbeitet sie eng mit dieser volksmissionarischen Abteilung der Werke und Dienste zusammen. Angestrebt wird die Mitarbeit im Gottesdienst sowie in der „Gemeinde nach dem Gottesdienst" (Nieden). Daraus ergeben sich: 2.1.1. Die Aus- und Fortbildung von Gemeindegliedern als Lektoren und Prädikanten zur aktiven Mitarbeit im Gottesdienst. 2.1.2. Die Begleitung von Kirchenvorstehern, Kirchenältesten und Presbytern. 2.1.3. Durchführung von Gesprächsrunden mit Vertretern der Öffentlichkeit, Parteien, Vereine und Verbände als gemeinsamer Lernprozeß und Bindeglied zwischen Gemeinde und Öffentlichkeit. 2.1.4. Getragen werden diese Maßnahmen durch regelmäßige Zusammenkünfte in den Männergruppen und -kreisen sowie Männerabenden und Gottesdiensten. Die thematische Richtschnur gibt dabei neben der Bibelarbeit das Jahresthema an, das ursprünglich durch den Werkplan und dann durch die Haupttagung der MA/EKD vorbereitet, am Männersonntag (3. Sonntag im Oktober) und in ihren Publikationen verbreitet wird. 2.1.5. In einigen Landesämtern, z. B. Bayern und Hessen-Nassau, ist die Männerarbeit an der Familienerholung und -begleitung beteiligt. 2.2. Schriftenwerk und Publikationen. Das „zweite Bein" der Männerarbeit ist das Schriftenwerk mit seinem Sitz in Gütersloh, später Bielefeld. Diese Zweipoligkeit der Männerarbeit bleibt bis zum bitteren Ende des Verlages „Kirche und M a n n " und seines publizistischen „Flaggschiffes" des Evangelischen Monatsblattes - Kirche und Mann am 1. März 1986 bestehen. Die Auflagezahl war von 92000 im Jahr 1954 auf 14000 im Jahr 1986 geschrumpft. Sie gibt wie keine andere Auskunft über den Rückgang der Männerarbeit. 2.3. Berufs- und Altersgruppen. Diese Arbeit ist bereits in Echzell angelegt und wird nicht ohne heftige Diskussionen ausgebaut. 2.3.1. 1951 entsteht das „Arbeiterwerk der M A / E K D " , einerseits als Fortführung der Tradition der „Arbeiter- und Gesellenvereine", andererseits ein Neuanfang nach dem Kriege mit der Absicht,
664
Männerarbeit
nun konsequent den Graben zwischen Kirche- und Arbeiterschaft zu überwinden. Allerdings wird bereits 1968 das Arbeiterwerk von der Männerarbeit abgekoppelt und in die „Aktionsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen" auf EKD-Ebene integriert. Von diesem Einschnitt hat sich die Männerarbeit der E K D nie richtig erholt. Unausdiskutiert bleibt der Konflikt zwischen naturständischen und schichtenspezifischen Kategorien. 2.3.2. Die Gründung der „Handwerkerbewegung der MA der E K D " erfolgt 1952 auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart. Die kirchliche Aufmerksamkeit war bisher mehr auf den Aufbauprozeß in der industriellen Wirtschaft als auf den zahlenmäßig und von seiner Wirtschaftskraft her nicht weniger wichtigen mittelständischen Bereich des Handwerks gerichtet. Begünstigt wurde die Gründung der Handwerkerbewegung dadurch, daß zwischen Handwerk und Männerarbeit eine gewisse geistige und politische Nähe bestand. Dennoch hat es großer Anstrengungen bedurft, um einerseits den besonderen, von der Industrie unterschiedenen, Arbeits- und Lebensbedingungen der kleinbetrieblichen und kundenorientierten Handwerks- und Handelswirtschaft gerecht zu werden, andererseits nicht in den Sog standesbestimmter Vorstellungen zu geraten. 2.3.3. Der „Landvolkdienst der Männerarbeit der E K D " wird 1961 ins Leben gerufen. Nicht in allen Landeskirchen ist die Männerarbeit auch Trägerin der kirchlichen Arbeit auf dem Lande. Wo dies der Fall ist, widmet sie sich ganz besonders den Problemen, die durch den rasanten Strukturwandel auf dem Lande und in der Landwirtschaft entstanden sind und noch weiter entstehen. Lag der Schwerpunkt dieser Arbeit längere Zeit im Bereich der sozialen Verantwortung, so steht heute der ökologische Aspekt im Vordergrund. 2.3.4. Die Berufsgruppenarbeit findet ihre Ergänzung in der altersspezifischen Schwerpunktsetzung der Männerarbeit der EKD. 1974 gründet sie den Arbeitszweig „Arbeit mit der älteren Generation". 2.4.
Zwischenkirchliche
Zusammenarbeit
und
Ökumene
2.4.1. Die kirchliche M ä n n e r a r b e i t in O s t - und Westdeutschland hat g e m e i n s a m e Wurzeln ( s . o . 1.1.—4). A u c h die E n t w i c k l u n g n a c h d e m Kriege ist v o n G e m e i n s a m k e i t b e s t i m m t . E s bilden sich jedoch parallele und eigene O r g a n i s a t i o n s f o r m e n aus. N a c h dem B a u der M a u e r 1 9 6 1 entwickelt die M ä n n e r a r b e i t in der D D R eine neue O r d n u n g , die von 1 9 6 9 an praktiziert wird. Sie versteht sich als Dienstgruppe der K i r c h e und nicht als Werk. R e g e l m ä ß i g e K o n t a k t e zu den V e r a n t w o r t l i c h e n der Kirchenleitung in der D D R und die Verankerung der M ä n n e r a r b e i t in der O r t s g e m e i n d e verhindern eine E n t f r e m d u n g und intensivieren die Z u s a m m e n a r b e i t im R a u m der Kirche. Vom 2 2 . - 2 4 . Mai 1991 fand in Schwerte/Westfalen die historische Haupttagung und Mitgliederversammlung der Männerarbeit der EKD statt mit dem Beschluß über die Auflösung der Männerarbeit der EKD (West), nachdem die Männerarbeit des Bundes Evangelischer Kirchen (in der ehemaligen D D R ) dies bereits am 2 7 . 1 . 1 9 9 1 beschlossen hatte. Damit ist der Weg für eine gleichberechtigte Vereinigung und Wiederbegründung der kirchlichen evangelischen Männerarbeit frei. In einer gemeinsamen Sitzung wurde der Entwurf der neuen Ordnung beraten. Deren Präambel lautet nun: „Die Männerarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland ist ihrer Geschichte und ihrem Selbstverständnis nach eine Laienbewegung. Sie arbeitet auf der Grundlage des in der Heiligen Schrift bezeugten Evangeliums von Jesus Christus und ist gebunden an die in den Evangelischen Kirchen gültigen Bekenntnisse. Die Männerarbeit der E K D steht in der Tradition der Echzeller Richtlinien von 1946: .Sammlung der Männer unter dem Wort. Ausrüstung der Männer mit dem Wort. Sendung der Männer durch das Wort.' Sie möchte Männern die Botschaft Jesu vom Reich Gottes nahebringen, sie einladen, damit zu leben und sie befähigen, diese mit Wort und Tat zu bezeugen. Dadurch ist sie verpflichtet, sich insbesondere für die Verwirklichung einer gerechten Gemeinschaft von Frauen und Männern sowie für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einzusetzen. Die Männerarbeit erfüllt ihre Aufgaben im Zusammenwirken mit anderen kirchlichen Diensten, in der Gemeinschaft der Gliedkirchen der EKD und in ökumenischer Öffnung." Als Vorsitzende wurden gewählt: Pfarrer Günter Apsel (Westfalen) als theologischer Vorsitzender und Dipl. Physiker Jochen Wittenberg (Mecklenburg) als Laienvorsitzender. 2.4.2.
A u f A n r e g u n g von P r o f . D r . H e n d r i k K r ä m e r v o m Laiensekretariat des - » W e l t -
rates der K i r c h e n in G e n f hat die M ä n n e r a r b e i t der E K D sich für das Z u s t a n d e k o m m e n der „ E u r o p a k o n f e r e n z für kirchliche M ä n n e r a r b e i t " eingesetzt. Das erste Treffen findet 1952 in Bossey im ökumenischen Institut statt. Es folgen 1956 Hamburg, 1961 Bossey, 1963 Oxford, 1965 Amsterdam, 1967 Canterbury, 1969 Kungälv/Schweden, 1971 Goslar, 1973 Bossey, 1975 London. Zum ersten Mal sind zwei Vertreter der DDR-Kirchen in London
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Männerarbeit
dabei. 1977 Straßburg, 1 9 7 9 N y b o r g , 1981 Belfast, 1983 Berlin/West, 1985 C o v e n t r y , 1987 B u k k o w / D D R , 1989 B ä s t a d , 1991 Prag mit der G r ü n d u n g des „ E u r o p ä i s c h e n F o r u m s christlicher M ä n n e r " als Nachfolgeeinrichtung. Diese Konferenzen vereinigen Vertreter der protestantischen Kirchen und Freikirchen aus O s t und West sowie ständige G ä s t e der römisch-katholischen Männerseelsorge. E s z e i g t s i c h , d a ß die M ä n n e r a r b e i t e i n e t y p i s c h e E r s c h e i n u n g s f o r m d e r W e s t k i r c h e n e v a n g e lischer und r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e T r a d i t i o n mit ihrer N e i g u n g zur aktiven A u f n a h m e des c h r i s t l i c h e n G l a u b e n s ist, w ä h r e n d d i e o s t k i r c h l i c h e - o r t h o d o x e T r a d i t i o n m i t i h r e r N e i g u n g zur meditativen G l a u b e n s h a l t u n g keine F o r m dieser A r t ausgebildet hat. 2.4.3.
Ein regelmäßiger Austausch mit unterschiedlicher Intensität
findet
zwischen
der M ä n n e r a r b e i t der E K D und der M ä n n e r s e e l s o r g e sowie die kirchlichen M ä n n e r a r b e i t in d e n d e u t s c h e n k a t h o l i s c h e n D i ö z e s e n s t a t t . Unter den Einwirkungen des Hitlerregimes k a m es am 2 9 . / 3 0 . 1 1 . 3 8 zu einer ersten überdiözesanen Konferenz für M ä n n e r s e e l s o r g e in Fulda, die sich jährlich bis zur Konferenz a m 1 9 . / 2 0 . 0 7 . 4 4 wiederholte und der kontinuierlichen Aussprache diente. A m 0 7 . - 0 9 . 0 5 . 4 6 findet die erste H a u p t t a gung nach dem Kriege als Fortführung der Konferenz in Fulda statt. Dieses wird zum örtlichen M i t t e l p u n k t der katholischen M ä n n e r a r b e i t . A m 1 4 . 0 5 . 5 1 schließen sich die Verbände und Diözesanstellen für M ä n n e r a r b e i t in der „ G e m e i n s c h a f t katholischer M ä n n e r Deutschlands' ( G K M D ) zusammen. Sie ist der Arbeitsstelle zugeordnet und entspricht etwa unserer Arbeitsgemeinschaft für M ä n n e r a r b e i t in der E K D . Die G K M D ruht auf den beiden Säulen: 1. den Diözesanstellen für M ä n n e r s e e l s o r g e , 2 . den überdiözesanen Verbänden katholischer M ä n n e r . Die letzteren umfassen eine Vielfalt verschiedener Traditionen und Einrichtungen und bewahren daher die katholische M ä n n e r s e e l s o r g e vor einer Vereinseitigung. Es gehören z . B . dazu die katholische Arbeiter-Bewegung, das Kolpingwerk, die Landvolkbewegung, der Katholische Kaufleute-Verband, der Bund Katholischer U n t e r n e h m e r , der St. Nikolaus-Schiffer-Verband, die Historischen Schützenbrüderschaften, der Z e n t r a l v e r b a n d Kirchenangestellter, die Bundesvereinigung der M ä n n e r w e r k e , die Katholische A k a d e m i k e r s c h a f t u. a. m., insgesamt über 2 0 verschiedene Vereinigungen. Die katholische M ä n n e r a r b e i t versteht sich nach den Richtlinien von 1982 als „Kategoriale Seelsorge" im R a h m e n des „umfassenden Heilsdienstes der Kirche . . . eingebettet in die G e m e i n d e p a s t o r a l " . Sie berücksichtigt die soziologischen Fakten und die daraus entstehenden Dienstformen z . B . in der Arbeitswelt, b e t o n t aber insgesamt die Priorität einer „umfassenden F a m i l i e n p a s t o r a l " und b e j a h t „eine spezifische Seelsorge für die F r a u " . 3. Gestalt 3.1.
und
Kirchliche
Arbeitsformen und rechtliche
Gestalt.
D i e M ä n n e r a r b e i t ist ein W e r k d e r K i r c h e . L a u t
Art. 14 ihrer G r u n d o r d n u n g v o m 1 3 . 0 7 . 4 8 fördert die E K D „ d i e Z u s a m m e n f a s s u n g der der Kirche aufgetragenen Arbeit an den verschiedenen G r u p p e n von Gliedern der Kirche, i n s b e s o n d e r e a n d e n M ä n n e r n , d e n F r a u e n u n d d e r J u g e n d . " D i e R e c h t s g r u n d l a g e ist a u f E K D - E b e n e der „Verein zur F ö r d e r u n g der M A / E K D
e.V.".
Die funktionalen Dienste, d . h . auch die M ä n n e r a r b e i t , sind im Z u g e der Industrialisierung entstanden und haben sich wegen der Unbeweglichkeit der damaligen Staatskirche vereinsrechtlich organisiert. S o w o h l der gesellschaftliche Veränderungsprozeß als auch der kirchliche sind seitens der evangelischen Kirche in der Bundesrepublik noch nicht völlig verarbeitet. D a s Verhältnis von Kirche und Werken ist immer noch m e h r durch Addition als durch Integration b e s t i m m t . H i e r hatte die M ä n n e r a r b e i t nach dem Kriege eine innovatorische M ö g l i c h k e i t , die sie z. T. hat nutzen k ö n n e n . Aus diesem Z u s a m m e n h a n g erklären sich aber auch ein Teil ihrer Probleme. Die A b w a n d e r u n g der M ä n n e r hat ihren G r u n d auch im Nachlassen missionarischen und diakonischen Interesses in der Gemeindekirche, da die Kirchensteuer reichlich floß. Vielleicht wäre die Beibehaltung des Vereinsrechtes und damit ein eigenständiger Weg w i r k s a m e r und richtiger gewesen. D i e R e g e l g e s t a l t d e r M ä n n e r a r b e i t in d e r O r t s g e m e i n d e s i n d d i e M ä n n e r k r e i s e u n d - g r u p p e n u n d m i t u n t e r -vereine. A u s d e r A b s i c h t , K i r c h e u n d W e l t m i t e i n a n d e r zu verbinden, entsteht die B e t o n u n g des L a i e n e l e m e n t s . 3.2.
Arbeitsformen.
D i e s e s i n d in d e r R e g e l d i e G r u p p e n a r b e i t , d e r G o t t e s d i e n s t , d i e
B e g e g n u n g , die T a g u n g , die K o n f e r e n z und die öffentliche Veranstaltung. Die M e t h o d e n h a b e n sich i m Z u g e d e r E n t w i c k l u n g d e r E r w a c h s e n e n b i l d u n g v o n d e r V o r t r a g s -
zur
666
Männerarbeit
G e s p r ä c h s f o r m verändert. Es überwiegen das kognitive E l e m e n t und die A k t i o n , und es besteht n o c h ein M a n g e l an Spiritualität. 4. Zukünftige
Entwicklung
D i e N o r d e l b i s c h e Evangelisch-Lutherische K i r c h e hat 1 9 8 2 die berufsgruppenbezogenen Arbeitszweige der M ä n n e r a r b e i t d e m Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt zugeordnet und bald d a n a c h die M ä n n e r a r b e i t als ein eigenes W e r k - d . h . nicht als A u f g a b e - a u f g e h o b e n . D i e Z a h l der aus der N a c h k r i e g s z e i t s t a m m e n d e n M ä n n e r k r e i s e w a r stark zurückgegangen und die neue E n t w i c k l u n g n o c h nicht e r k a n n t . Es zeigt sich, d a ß d o r t , w o diese Arbeit keine Wurzeln in den Arbeitervereinen der industriellen R e v o l u t i o n o d e r den M ä n n e r d i e n s t e n der B e k e n n e n d e n K i r c h e hat — und dieses ist im N o r d e n deutlich der Fall - d a s Verständnis und Interesse an dieser Arbeit e r l a h m t . Dies gilt m e h r von der K i r c h e als von den M ä n n e r n selbst. In anderen L a n d e s k i r c h e n bleibt die M ä n n e r a r b e i t erhalten und vollzieht neue E n t w i c k l u n g e n . D i e im N o r d e n getroffene E n t s c h e i d u n g ist keine E n t s c h e i dung für oder gegen die M ä n n e r a r b e i t , sondern zunächst nur eine Feststellung des Z u standes, der die C h a n c e eines N e u a n f a n g s o h n e Verhaftung an das G e w e s e n e in sich birgt, wenn sie genutzt wird. Die M ä n n e r a r b e i t der Kirche enstand a u f G r u n d der Auseinandersetzung des christlichen G l a u b e n s und der Kirche mit den B e w e g u n g e n und D e n k w e i s e n der m o d e r n e n technischen, ö k o n o m i s c h e n und zivilisatorischen Welt. Sie zeigt die Innenseite dieser Auseinandersetzung: das R i n g e n zwischen G l a u b e n und U n g l a u b e n , den E r f o l g und das Leiden von M e n s c h e n , die diesen Prozeß im wesentlichen selbst v e r a n t w o r t e n und tragen. D e r soziale Ansatz (Arbeitervereine), der m i s s i o n a r i s c h - d i a k o n i s c h e Versuch (bei W i chern) und der volksmissionarische ( M ä n n e r d i e n s t e des Kirchen-Hilfsvereins und D E M W ) h a b e n zwar sehr wichtige A n s t ö ß e gegeben, verblieben aber n o c h zu sehr im Bereich der R e a k t i o n oder auch R e s t a u r a t i o n . Es ging im wesentlichen um die W i e d e r h e r stellung der alten O r d n u n g e n in Kirchc und S t a a t und d a m i t auch um eine W i e d e r h e r s t e l lung der männlichen Position und ihrer G e l t u n g , wie sie sich im P a t r i a r c h a l i s m u s ausgebildet hatte. D e r k o n f e s s o r i s c h - t h e o l o g i s c h e Versuch ( B K und deren M ä n n e r d i e n s t e ) w a r das R ü c k g r a t der N a c h k r i e g s m ä n n e r a r b e i t und ein Z e i c h e n , das hoffen ließ. J e d o c h traten bald wieder K r ä f t e a u f den Plan, die der Wiederherstellung des G e w e s e n e n den Vorrang g a b e n . O h n e an A u f b a u - und Einsatzwillen Kritik üben zu w o l l e n , m u ß doch festgestellt werden, d a ß sich die M ä n n e r dann bald wieder mit der w i r k s a m s t e n M a c h t und Religion unserer Z e i t , der Ö k o n o m i e , verbunden h a b e n und d o r t priesterliche F u n k t i o nen ü b e r n a h m e n . Dies geschieht nun vollends a u ß e r h a l b der K i r c h e und abseits des christlichen G l a u b e n s . H i e r leben und wirken die verschiedensten M ä n n e r e l i t e n und - b ü n d e . D e r a n f ä n g l i c h e Satz läßt sich deshalb auch u m k e h r e n : D i e Krise der kirchlichen M ä n n e r a r b e i t ist zugleich eine Krise in der Auseinandersetzung des G l a u b e n s und der K i r c h e mit der m o d e r n e n t e c h n i s c h e n , ö k o n o m i s c h e n und zivilisatorischen Welt. Wenn m a n den C h a r a k t e r der Krise nicht negativ f a ß t , w a s eine unzutreffende Verkürzung wäre, dann bietet die jetzige S i t u a t i o n endlich die C h a n c e eines N e u a n f a n g s , bei dem es nicht nur um mit den M ä n n e r n verbundene P r o b l e m e und F r a g e n , sondern u m sie selber geht. Dieser A n f a n g wird nahegelegt durch das beginnende N a c h d e n k e n d a r ü b e r , welches die Folgen und nicht n u r die E r f o l g e eines aggressiven Umganges mit L e b e n und Lebensgrundlagen sind. Es ist w i c h t i g , d a ß dabei die sozialen, missionarischen, d i a k o n i s c h e n und k o n f e s s o r i s c h e n und politischen E r f a h r u n g e n der M ä n n e r a r b e i t erhalten bleiben. Inzwischen steigt die Zahl der neu begründeten Männergruppen innerhalb und außerhalb der Kirche. Ihr Thema ist das Nachdenken über die eigene Situation, Person und Rolle und die Entwicklung von Alternativen zum bisherigen Verhalten. Die Veröffentlichungen und Bücher zur Männerfrage nehmen deutlich zu. Dabei spielt die Herausforderung durch die Frauenbewegung eine wichtige Rolle. Es erweist sich, daß die Frauenfrage im soziokulturellen und religiös-kirchlichen Sinne eine Männerfrage ist. Das Nachdenken darüber findet seinen Niederschlag in der EKD-Studie: Die
Männerarbeit
667
Situation der Frau in Familie, Kirche und Gesellschaft - zum gemeinsamen Leben von Frau und Mann von 1979, im ökumenischen Projekt: Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche 1978, fortgesetzt in der ökumenischen Dekade: Solidarität der Kirchen mit den Frauen der EKD Synode: Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche 1989 mit Fortsetzung auf der Synode 1991 sowie in den Themen der kirchlichen Männerarbeit. Männer- und Frauenarbeit der EKD geben gemeinsam eine „Streit-Zeitschrift für Männer und Frauen heraus". Die Gemeinschaft von Frauen und Männern verlangt einen je eigenen Prozeß des Nachdenkens und Bearbeitens eigener Probleme. Für die Männer bedeutet dies, daß sie die Themen, die im Laufe der Entwicklung verdrängt worden sind, zur Sprache bringen. Im Grunde ist dies nicht nur eine Lebensfrage für die Männer, sondern eine Überlebensfrage für unsere menschliche Gemeinschaft. Dieser Prozeß kann zwar aufgehalten, aber nicht rückgängig gemacht werden. Literatur Arbeiter-, Bauern-, Handwerker-, Soldaten-/Offiziers-, Sportler-, Senioren-, Männerbriefe, hg. i. A. der Männerarbeit EKD v. Heinz Flink. - Erich Beyreuther, Gesch. des Pietismus, Stuttgart 1978. - Ders., Gesch. der Diakonie u. Inneren Mission in der Neuzeit, Berlin 3 1983. - Joachim Bodamer, Gesundheit in der technischen Welt. Demaskierung der Fluchtwege des Menschen vor dem Risiko, Stuttgart 1955. - Ders., Der Mann v. heute, Freiburg 1956 4 1982. - Botschaft u. Dienst. Zs. f. Erwachsenenbildung, hg. i.A. der Männerarbeit EKD v. Wilhelm Fahlbusch, Bielefeld/Frankfurt a. M . - The Community of Women and Men in the Church. A Report of the World Council of Churches' Conference, Sheffield 1981; dt.: Die Gemeinschaft v. Frauen u. Männern in der Kirche, hg.v. ö k u m . Rat der Kirchen, Neukirchen-Vluyn 1985. - Echzeller Richtlinien: Verordnungs- u. Nachrichtenbl. der EKD vom Mai 1946, Nr. 17 u.: Materialsammlung der Männerarbeit EKD, Gütersloh, AI/6 1 - 4 . - Ev.-Kirchl. 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668
Märchen I
gungen zur Männerarbeit in der modernen Gesellschaft, hg.v. Arbeitsausschuß der Männerarbeit EKD, Gütersloh 2 1969. — Siegfried Vierzig, Frauen u. Männer. Geschlechtsrollenidentität u. rel. Sozialisation. Was sich an rel. Autobiographie beobachten läßt: Religion u. Biographie. FS Gert Otto zum 60. Geburtstag, hg.v. Albrecht Grözinger/Henning Luther, München 1987, 163ff. - Günter Wasse, Die Werke u. Einrichtungen der ev. Kirche. Ein Beitr. zum kirchl. Organisationsrecht, 1954 (GRWS 11). - Waldemar Wilken, Der Mann in Welt u. Gemeinde, Gütersloh 1961 (Handbücherei f. Gemeindearbeit). - Klaus Winkler, Männer in der Kirche u. ihr Umgang miteinander: W z M 7 (1985) 386-398.
Paul-Gerhard Hoerschelmann
Märchen (s.a. Formgeschichte/Formenkritik) I. Religionsgeschichtlich II. Praktisch-theologisch
662
I. Religionsgeschichtlich 1. Die Gattungen 2. Forschungsgeschichte thus (Literatur S. 671)
3. Märchensammlungen
4. Märchen und My-
Es gibt Märchen aus allen Ländern und Zeiten. Die meisten Menschen sind überall und allzeit daran interessiert, von dem, was geschehen ist oder was man sich vorstellt, zu erzählen oder zu fabulieren. Schildert man nun sorgfältig und so genau wie möglich, was wirklich passiert ist, entsteht eine Geschichte. Erzählt man frei, ohne Rücksicht auf geschichtliche Wahrheit, entsteht das episch-völkische Genre, das man Märchen nennt. Mit dem Begriff „Märchen" bezeichnet man wissenschaftlich eine fest formulierte Prosaerzählung mit unwahrscheinlichem, gewöhnlich phantastischem Inhalt. Das Wort Märchen ist fast unübersetzbar (Thompson, The Folktale 7f). 1. Die
Gattungen
Das Märchen ist mit der Sage, der Fabel, der Legende und dem Mythus verwandt (van Gennep 2 1 - 3 0 ) . Alle fünf sind fest formulierte, mündlich überlieferte Texte, die (im Gegensatz zur Geschichte) zur geschichtlichen Wirklichkeit in größerer oder geringerer Entfernung stehen. Das Märchen entbehrt Zeit und Raum, während die Sage beides besitzt (van der Leeuw 147f). Die Handlung des Märchens geschieht „einmal", heute oder morgen, seine Gestalten sind namenlos, und ein Schloß kann z. B. heute in China und am nächsten Tag in Spanien stehen. Die Sage baut in der Regel auf mythischen Motiven auf und liebt Namen. Sie gibt z. B. dem anonymen Drachentöter den Namen Siegfried, er lebt in Burgund, und seine Taten sind verzeitlicht durch die Verknüpfung mit Burgundern und Hunnen (van der Leeuw 148). Eine geschichtliche Erzählung wird Saga genannt (so z.B. in Island). Die Fabel ist ein moralisch-didaktischer Spezialfall des Märchens, in dem Tiere sich menschlich und dann und wann Menschen sich wie Tiere benehmen. Fabeln kommen nicht allzu selten in religiösen Texten vor, z.B. J d c 9 , 8 - 1 5 , II Reg 14,9. Wenn man die individualisierte und lokalisierte Sage als Gegenstand religiösen Glaubens auffaßt, liegt eine Legende vor (van Gennep 28). Der Mythus endlich ist mit dem Ritus fest verbunden und erzählt von göttlichen Handlungen in einer längst vergangenen Urzeit. „Während der Ritus die heilige Handlung ist, ist der Mythus das heilige Wort, das der Handlung folgt und diese erklärt" (Widengren 150 mit dort angeführter Literatur). Vgl. besonders Hooke: „Together with the ritual and as an essential part of it there was always found, in some form or other, the recitation of the story whose outlines were enacted in the ritual. This was the myth" (Hooke V). „Der Ritus stellt dar, was in der Urzeit geschehen ist; der Mythus erzählt davon" (de Vries, Heldenlied 304).
Märchen I
669
Man meint oft, daß der Mythus immer als wahr (wirklichkeitstreu) betrachtet wird (z. B. Boas 616, Hultkrantz 342). „Sofern [sc. eine Erzählung] geglaubt wird, gehört sie zu den Mythen; falls sie aber den Character einer dichterischen Phantasie hat, zu den Märchen" (de Vries, Betrachtungen 10). Jetzt hat aber die Feldarbeit unter schriftlosen Völkern gezeigt, daß dies nicht immer der Fall ist: Die Mythen werden dann und wann „not understood as literally true" (Olsson 120, vgl. Remo 38). Mythus und Kultus sind ursprünglich eins, können sich aber allmählich scheiden „and give rise to widely differing literary, artistic and religious forms" (Hooke VI).
2.
Forschungsgeschichte
Die Erforschung des Märchenbegriffes ist über 150 Jahre alt. Die erste Erörterung der Frage kommt bei den Brüdern Grimm vor. In der 2. Auflage ihrer Kinder- und Hausmärchen (1819) wird das Entstehen des Märchens behandelt, und 1856 faßt Wilhelm Grimm die Ergebnisse zusammen: 1. der indogermanische Märchenschatz hat seine Wurzeln in der indogermanischen Urzeit, 2. die Märchen sind zerbrochene Mythen und können nur durch Mytheninterpretation verstanden werden (Thompson 370 nach Grimm III, 427ff). In seinem Vorwort zum Panchatantra (1859) behauptet Theodor Benfey, daß die Rätsel vornehmlich aus Indien stammen (Thompson 376). Exponenten weitergehender Forschungen behaupten, daß das Märchen in der Kindheit des Menschengeschlechts entstanden und infolgedessen älter als Mythus und Sage sei (Bolte-Polívka IV, 166; Wesselski 9). Der Erste, der „die Priorität des Märchens vor dem Mythos" behauptet hat, ist Andrew Lang im Jahre 1873 (Wesselski 66). Später hat der Schwede Carl Wilhelm von Sydow behauptet, die germanische Sage sei von Anfang an nicht mythisch gewesen und habe erst später Anlaß zur Entstehung des Mythus gegeben (v. Sydow 221). Er sagt ausdrücklich, daß der Mythus „nicht Anspruch auf eine selbständige Stellung" erheben könne (v. Sydow 230). Otto Huth wollte glaubhaft machen, „daß es der vorindogermanische Megalith-Kulturkreis ist, dem das Märchen entstammt"; zugleich meint er: „Das Märchen ist nicht nachträglich gnostisch umgeformt worden, sondern zeigt von Haus aus gnostischen Charakter" (Huth 652). Ohne eigentlichen Zusammenhang mit der bisherigen Forschung entstand in Finnland die berühmte und erfolgreiche sog. Finnische Schule, „die es möglich machte, das im Laufe des 19. Jh. riesenhaft angewachsene Variantenmaterial zu bewältigen" (de Vries, Betrachtungen 8). Als Elias Lönnrot 1835 die mündlichen Fragmente des finnischen Epos Kalevala gesammelt, geordnet, bearbeitet und dichterisch zusammengefügt hatte, fing sein Schüler Julius Krohn an, die einzelnen Motive des Kalevala historisch-geographisch zu studieren. Dessen Sohn, Kaarle Krohn, begann ein lebenslanges Studium der Märchen (Thompson 396 f). Er und seine Schüler widmeten sich jetzt nicht nur den gefundenen Texten, sondern - wie in der Kalevalaforschung - auch den mannigfaltigen mündlichen Traditionen. „Diese Frage [d.h. nach den Varianten] galt es eindeutig zu beantworten, und zwar nicht durch Überlegungen allgemeiner Art, sondern durch gewissenhafte Spezialforschung, die von jedem Märchen Ort und wo möglich Zeit des Entstehens zu bestimmen hatte" (de Vries, Betrachtungen 9). Diese historisch-geographische Methode war in der Märchenforschung ganz neu. Dazu kam der Blick für „den Wert der mündlichen Überlieferung" (de Vries, Betrachtungen 13), deren Bedeutung die ältere Forschung, z.B. Wesselski, vollkommen übersehen hatte (vgl. dazu Ström, Folklore). „Die schriftlichen Varianten, die wir besitzen, stehen nicht der gesamten mündlichen Tradition gegenüber, sondern reihen sich an ihrer Stelle ein" (de Vries, Betrachtungen 14). Die finnische Schule ist jedoch ziemlich hart kritisiert worden. So de Vries : „Man bekommt den Eindruck, daß die Forschung, auch bei der gewissenhaftesten Handhabung der .finnischen Methode', in vielen Fällen auf Treibsand baut" (de Vries, Betrachtungen 12). Walter Anderson hat dagegen deutlich gemacht, daß die finnische Methode es vermag, „das eigentümliche volkskundliche Material zu ordnen und in seinem gegenseitigen Verhältnis zu erklären", und „das sind Vorteile, die man nicht hoch genug veranschlagen kann" (21).
Eine neue Phase der Märchenforschung wurde von Richard Reitzenstein eingeleitet.
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Märchen I
D a r ü b e r schreibt G e o Widengren: „ N a c h der Arbeit von einigen J a h r z e h n t e n gelang es Reitzenstein durch Vergleich mit liturgischen mandäischen T e x t e n zu beweisen, d a ß bei allen den verschiedenen T e x t e n , in denen diese M o t i v e auftreten, ein iranischer Erlösungsmythus zugrunde liegt. Dieser geht davon aus, d a ß der Erlöser mit dem Erlösten identisch ist. Im Erlösungswerk erlöst er sich s e l b s t " (Widengern 179). Und weiter: „ I m . M ä r c h e n von A m o r und Psyche' ist es die Frau, die B r a u t , die im M i t t e l p u n k t des Interesses steht. Vergebens hatten klassische Philologen und M ä r c h e n forscher sich mit der Analyse dieser Novelle a b g e m ü h t . . . Reitzenstein gelang jedoch der N a c h w e i s , daß hinter der Gestalt der Psyche sich in novellistischer Gestalt ein orientalischer religiöser Begriff verbirgt, die g r o ß e Seele, das Seelenkollektiv, von dessen R e t t u n g auch der .Gesang von der Perle' handelt. M i t dieser Entdeckung w a r der Schlüssel zum Verständnis gefunden. Psyche ist sowohl die kollekive Seele als auch die einzelne M e n s c h e n s e e l e . " (Über eine solche Identität von Individuum und Kollektiv s. S t r ö m , Vetekornet 1 2 - 1 9 . 2 2 9 - 2 4 2 . )
Was Reitzenstein gefunden hat, ist vor allem, daß der Mythus in die Legende, in die Sage oder in das Märchen übergehen kann, nicht aber umgekehrt (Reitzenstein 262f; Widengren 160; Hultkrantz 30). Die iranischen und armenischen Texte lassen uns die Verwandlung des Mythus in Legende und Märchen genau erkennen. Auch die Forschungen Georges Dumezils auf dem Gebiet der indogermanischen Kultur sind hier von Bedeutung. Er hat gezeigt, daß dasselbe Motiv in Mythus, Epos und Märchen entwickelt worden ist: das mythisch-rituelle Schema der Kriegerweihe (Widengren 178). Unter den Stockholmer Religionsforschern mit folkloristischem Hintergrund hegt man natürlich ein spezielles Interesse für das Märchen und dessen Konnotationen. Äke Hultkrantz bestimmt Märchen als „eine traditionsfixierte Unterhaltungserzählung, die nicht als wahr gehalten wird" (Hultkranz 30). Er betont, daß das Märchen „streng genommen nicht zu den religionsgeschichtlich relevanten epischen Traditionskategorien gehört, aber indirekt für die Religionsforscher vor allem aus drei Gesichtspunkten von Bedeutung ist": 1. Das Märchen ist einmal Mythus mit Glaubenswert gewesen (nicht aber umgekehrt!), 2. Das Märchen kann von gewissen Zuhörern, z.B. von Kindern, als wahr aufgefaßt werden, 3. Das Märchen enthält oft Glaubensmotive (Hultkrantz 30; vgl. Boas 609). Ulf Dobrin trennt zwischen Märchen und Mythus durch Vorfinden eines epical pattern bei dem letzteren (Dobrin 20), was aber mit dem Vorkommen von vielen Erzählungen, die sowohl Mythen als auch Märchen sind, nicht übereinstimmt. 3.
Märchensammlungen
Die Märchen sind natürlich von Anfang an mündlich tradiert und auch gesammelt worden. In Kulturländern gibt es aber auch schriftliche Sammlungen, die oft weit verbreitet sind. Die berühmtesten Märchensammlungen sind die aus Indien (Panchatantra, ,Fünf Bücher', 1199), aus Arabien ( A l f l a i l a wa laila,,Tausend Nächte und eine Nacht', um 800) und aus Europa (Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, 1812; Peter Christen 1842-1844; G . O . Hylten-CavalAsbjernsen und Jorgen Moe, Norske folkeeventyr, lius/Georges Stephens, Svenska folksagor, 1844-1849, dazu kommt die oben erwähnte Kalevala und die hinter ihr liegenden Traditionen). Seit einem Jahrhundert gibt es in Europa auch künstlich verfaßte Märchen, die zuweilen auch mit verschiedenen Mythen verwandt sind oder mit diesen Ähnlichkeiten haben. Meister solcher Erzählungen sind Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, 1819-1822, Don Juan und andere Erzählungen, der Däne Hans Christian Andersen, Eventyr, 1835-1872, und der Finne Zachris Topelius, Läsning för barn, 1 - 8 , 1865-1896. In der Mitte unseres Jahrhunderts sind zwei Verfasser als Märchendichter in großem Stil hervorgetreten, und zwar die beiden Oxforder John Ronald Rench Tolkien und Clive Staples Lewis. Beide schufen mythische Welten, beide schilderten den Kampf zwischen Gutem und Bösem. Der erstgenannte schrieb u.a. Bilbo (1937), The Lord of the Rings (1954-55) und Silmarillion (1977). Er ist vor allem von altenglischem und nordischem
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mythologischem Gut inspiriert und hat den Kampf gegen böse Mächte mit großer Anschaulichkeit beschrieben (Toijer-Nilsson 63 —77). Lewis hat dagegen mit seinem 1950-1952 verfaßten, sieben Bücher umfassenden Narnia-Zyklus (Narnia ist ein geistiges Land) ein symbolisch verschleiertes Christentum beschrieben (Toijer-Nilsson 7 8 - 9 9 ) . Der Löwe Aslan ist z.B. ein Christus-Symbol u.s.w. „Lewis ist der Märchen-Verfasser, der am durchführtesten eine christliche Botschaft vermittelt hat" (Toijer-Nilsson 78). 4. Märchen und Mythus Das Märchen ist nach den Ergebnissen neuerer Stilkritik dem Mythus eng verwandt. „Die Hochzeit des Märchens ist immer Hierosgamos . . . Das Königliche im Märchen kennzeichnet die sakrale Sphäre; die Schönheit im Märchen ist immer göttliche Schönheit. Ekstatische Erlebnisse liegen der Märchenerzählung zugrunde" (Huth 651). Märchen und Sage sind voneinander sehr verschieden. Die Unterkategorien der Sage liegen oft ebenso weit auseinander wie die Unterarten des Märchens (Röhrich 31). Natürlich können Märchen, Sagen und Legenden spontan (ohne Ursprung im Mythus) entstehen. Wenn aber „dasselbe Motiv als Zentralmotiv sowohl im Mythus wie im Märchen auftritt", ist zu sagen „daß es dann im Mythus als Motiv seinen ursprünglichen Kontext gehabt hat" (Widengren 182). Im Hinblick auf vergleichbare Motive wie das der Befreiung können folgende Erzählformen unterschieden werden: 1. Mythen von einem siegreichen Gott, z. B. Indra in dem indo-iranischen Drachenmythus, 2. Legenden von einem siegreichen Helden, z. B. St. Georg, der die Prinzessin in einer bestimmten Stadt befreit und heiratet, 3. Märchen von einer unbenannten siegreichen Gestalt, die gegen ein Ungeheuer kämpft und es überwindet. Den verschiedenen Gattungen der Märchen können wir hier nicht nachgehen, vor allem weil uns die Einteilung aus religionsgeschichtlichem Gesichtspunkt nicht interessieren kann. Nur möchten wir zum Abschluß fragen, welche Märchen sich aus einem Mythus entwickelt haben. Mit dieser Fragestellung beschäftigt sich das große Übersichtsbuch von Lutz Röhrich Sage und Märchen sehr wenig. Nur einmal behandelt es „Erzählungen, die nicht nur einfach zur Unterhaltung ausgedacht sind, sondern Erzählungen, die sicherlich einen mythischen Kern haben und kulturgeschichtlich sehr altartig sind . . . Zu ihrer Deutung mag es deshalb erlaubt sein, etwa auch Berichte schriftloser Völker heranzuziehen" (Röhrich 139). Allerdings gibt der Verfasser nur zwei ganz kurze Beispiele des Gesagten.
Ein Märchen ist hingegen die außerhomerische Fassung der Polyphem-Geschichte, die mit mittelalterlichen und neuzeitlichen Varianten merkwürdig gut übereinstimmt. In unzähligen Variationen liegen auch Teufelsmärchen vor, „die auf vorchristliche Erzählungen von dämonischen Wesen zurückgehen" (Röhrich 271). Was ist der religionsgeschichtliche Wert des Märchens? Wie kann man es religionsgeschichtlich benutzen? Kehren wir zu Hultkrantz' oben erwähnten Ausführungen zurück. Es scheint ein wenig übertrieben festzustellen, daß das Märchen nicht zu den religionsgeschichtlich relevanten Gattungen gehört. Man muß eher — wie Reitzenstein es tat - in jedem einzelnen Fall prüfen, welcher Mythus mit Glaubenswert hinter dem in Frage stehenden Märchen steht. Das ist von den Märchenforschern nur selten getan worden, ist aber gerade die Aufgabe der religionsgeschichtlichen Märchenforschung. Literatur Antii Aarne, Verzeichnis der Märchtentypen, 1910 (FFC3). — Walter Anderson, Kaiser u. Abt, 1923 (FFC42). - Theodor Benfey, Kleinere Sehr, zur Märchenforschung, Berlin 1894. - Laurids Bedker, European Folktales, Kopenhagen 1963. - Ders., Int. Dictionary of Regional European Ethnology and Folklore, II Folk Literature, Kopenhagen 1965. — Franz Boas, Mythology and Folklore: ders. (Hg.), General Anthropology, New York 1938. - Johannes Bolte/Georg Polivka, Anm. zu den Kinder- u. Hausmärchen der Brüder Grimm, 5 Bde., Leipzig 1913 - 1 9 3 2 . - Ulf Dobrin, Myth and Epical Motifs in the Loki-Research: Temenos 3 (1968) 19-39. - A. van Gennep, La formation des legendes, Paris 1920. - Ake Hultkrantz, Metodvägar inom den jämförande religionsforskningen,
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Stockholm 1973. - O t t o H u t h , Wesen u. Herkunft des Märchens: Universitas 4 (1949) 651-654. - Gerardus van der Leeuw, Einf. in die Phaenomenologie der Religion, München 1925 "1961. - Tord Olsson, The Social Usage of Mythical Elements among the Maasai: Temenos 9 (1973) 3 8 - 5 4 . - R i c h a r d Reitzenstein, Das iranische Erlösungsmysterium, Bonn 1921. - S . J. Reno, Myth in Profile: Temenos 9 (1973) 3 8 - 5 4 . - Lutz Röhrich, Sage u. Märchen. Erzählforschung heute, Freiburg i.Br. 1976. - A.B. Rooth, Märchen u. Sage: Schwed. Volkskunde. FS Sigfrid Svensson, Uppsala 1961, 460-490. - Ake V. Ström, Vetekornet. Studier över individ och kollektiv, Uppsala 1944. - Ders., Folklore och nordisk myt: FS Ake Hultkrantz (im Druck). - Carl Wilhelm v. Sydow, Hjältesagans framväxt med särskild hänsyn tili Sigurdsdiktningen: Arkiv för nordisk filologi 43 (1928) 221-248. - S t i t h Thompson, The Folktale, New York 1946. - Ders., The Types of the Folktale, 2 1961 (FFC 184). - Ying Toijer-Nilsson, Fantasins underland, Klippan 1941. - Jan de Vries, Betrachtungen zum Märchen, 1954 (FFC 150). - Ders., Heldenlied en heldensage, 1959; dt.: Heldenlied u. Heldensage, Berlin 1961. - Albert Wesselski, Versuch einer Theorie des Märchens, Reichenberg 1931 (Prager Dt. Stud. 45). - Geo Widengren, Religionsphänomenologie, Berlin 1969.
Ake V. Ström II. Praktisch-theologisch 1. Z u r Definition des Märchens als Erzählform 2. Märchen in der Bibel? Märchendeutung und Auslegung des Alten Testaments (Literatur S. 677)
1. Zur Definition
des Märchens
als
3. Psychologische
Erzählform
Der Begriff Märchen ist mehrdeutig. Die ältere Wortbedeutung ist zu allgemein, da Maer für Kunde, Bericht, Erzählung steht; die Verkleinerungsform (mittelhochdeutsch maerlin) war im 13. Jh. „eine kurze Erzählung . . . zur Unterhaltung vorgetragen . . . und zumeist erfunden" (Bolte/Polivka IV,2). Den pejorativen Sinn, den das Wort alsbald angenommen hat, sieht man etwa an M . Luthers Übersetzung von Luk 24,11 krjpoq („Geschwätz") mit „Merlin" (vgl. Bolte/Polivka ebd. mit weiteren Beispielen); erst die - • R o m a n t i k hat den Begriff unter dem Eindruck französischer Feenmärchen und auf Grund ihrer Hochschätzung der Volksdichtung wieder zu Ehren gebracht (Lüthi, Märchen 1). Die Sammlung der Brüder Grimm vereinigt unter dem Titel Märchen eine Fülle sehr unterschiedlicher Erzählungen: neben dem „eigentlichen" Märchen findet man Schwanke, Tierfabeln, Rätsel, Kinderlieder, auch Geschichten, die Heiligenlegenden nahestehen, u. a. (Bolte/Polivka IV, 38 f). Ähnliches gilt für die großen Märchensammlungen unseres Jahrhunderts, insbesondere die internationalen Sammlungen, in denen die Volksdichtung unter dem Obertitel „ M ä r c h e n " erscheint, obwohl es sich weithin um (Ursprungs-)Mythen, Sagen, Legenden, Fabeln u. dgl. handelt. Mit der extensiven Anwendung des Begriffs verdeckt man aber die spezifische Erzählhaltung der einzelnen Erzählformen. Die Märchenforschung des 19. und 20. Jh. hat eine Reihe von charakteristischen Zügen des Märchens herausgestellt, die nun das Verständnis von „ M ä r c h e n " prägen, aber mit dem weiteren Märchenbegriff nicht vereinbar sind. Die wissenschaftliche Untersuchung der reichen Sammelergebnisse muß daher unterscheiden; sie findet im Wunder- oder Zaubermärchen als dem „eigentlichen Märchen" ein eigentümliches Phänomen (vgl. de Vries 7). Darauf zielt auch die Definition bei Bolte/Polivka: „Unter einem Märchen verstehen wir seit Herder und den Brüdern Grimm eine mit dichterischer Phantasie entworfene Erzählung besonders aus der Zauberwelt, eine nicht an die Bedingungen des wirklichen Lebens geknüpfte wunderbare Geschichte, die Hoch und Niedrig mit Vergnügen anhören, auch wenn sie diese unglaublich finden" (IV, 4). Darüber hinaus wird die Eigenart des Märchens im kontrastierenden Vergleich mit einem bestimmten Typus von Sagen, insbesondere Lokalsagen und dämonologischen Sagen, beschrieben. Denn Sage und Märchen haben eine Reihe von Erzählmotiven und Gestalten gemeinsam - z.B. Hexen und Zauberer und andere dämonische Gestalten, mancherlei wunderbare Fähigkeiten und magische Kräfte - , aber bei alledem ist doch die Erzählhaltung, der Entwurf der Erzählung in Sage und Märchen grundlegend verschieden. Den Unterschied zeigt schon das oft zitierte Dictum der Brüder Grimm „Die Sage ist
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historischer, das M ä r c h e n p o e t i s c h e r " ; der Ansatz ist in der Folge entschieden weitergeführt worden. A m wichtigsten sind die folgenden Differenzen: a) Das Märchen ist wesentlich ort- und zeitlos, die Sage dagegen an bestimmte Orte und Zeiten gebunden. Das gilt auch für „Wandersagen", da sie ihre Funktion jeweils im Bezug auf bestimmte Orte oder Personen gewinnen. Denn die Sage will orientieren, das Märchen entspannen. Bezeichnend für die Märchen sind darum Eingangsformeln wie das bekannte „Es war einmal". b) Zum Märchen gehört der glückliche Ausgang, während die Sage oft tragisch endet. Das liegt daran, daß die Sage von der Begegnung mit dem Unheimlichen und Schaudererregenden erzählt und es auf ein Ursprungsereignis zurückführt, während das Märchen gerade die Überwindung von Armut, Hunger oder einem Mangel anderer Art (z. B. Kinderlosigkeit) thematisiert. c) Der Handlungsverlauf des Märchens und sein Verhältnis zur Welt des Magischen und Wunderbaren hängt mit seiner „Ortlosigkeit" zusammen. Genauer muß man noch einmal den Kontrast zur Sage herausstellen: Während die Sage das Unheimliche wie das rettende Wunder in der eigenen Welt der jeweiligen (Erzähl)gemeinschaft antrifft (und so z.B. davor warnt, bestimmte Wege zu bestimmten Zeiten zu gehen), zieht der Märchenheld hinaus, um das Abenteuer zu suchen. Unterwegs begegnen ihm die bedrohlichen oder helfenden Zauberwesen, Anfang und Ende aber spielen in der vertrauten Menschenwelt. Der Ort des hilfreichen Wunders oder der magischen Bedrohung ist im europäischen Märchen vielfach der Wald, aber nicht der im eigenen Alltag erfahrbare, sondern der ferne „Märchenwald"; im außereuropäischen Märchen ist das nach dem Lokalkolorit verschieden, aber jedenfalls ist es die ferne Welt, die Welt, in der man nicht lebt und in die man normalerweise auch nicht gelangt. d) Damit hängt wiederum zusammen, daß das Märchen keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit, d. h. keinen Anspruch auf Wirklichkeit in der realen (Außen-)Welt des Menschen erhebt. Der Sage dagegen ist dieser Anspruch wesentlich: zumindest beschreibt sie für real gehaltene Möglichkeiten der nahen Welt. Man darf diesen Grundzug nicht mit der Frage vermischen, wieweit Märchen oder Sagen tatsächlich geglaubt oder nicht geglaubt werden, weil das Für-wahr-Halten dem Wesen des Märchens ebenso wenig entspricht wie der prinzipielle Unglaube der Sage. Wenn also Kinder an die Wirklichkeit der Märchenhandlung „glauben" oder spätere Generationen den Wirklichkeitsanspruch von Sagen (prinzipiell) bestreiten, so hat das für das Wesen von Sage und Märchen wenig zu besagen. 2. Märchen
in der
Bibel?
Die Untersuchung der Erzählgattungen des Alten Testaments führte den Begründer der neueren Gattungsforschung, H . - » G u n k e l , zu der F r a g e , o b es neben den Sagen nicht auch das M ä r c h e n in der Bibel gibt. Sein Ergebnis hat er 1917 in dem Buch Das Märchen im Alten Testament vorgelegt: E r fand im Alten Testament einen reichen Schatz von Märchenstoffen und M ä r c h e n m o t i v e n , aber kein eigentliches M ä r c h e n . Diesen Sachverhalt erklärte Gunkel damit, daß es z w a r im alten Israel wie in allen „ N a t u r v ö l k e r n " zahlreiche M ä r c h e n gegeben habe, diese M ä r c h e n aber v o m Jahweglauben nur in abgewandelter F o r m rezipiert worden seien: „ m i t geschichtlichen Erinnerungen verbunden und so zur Sage und Legende u m g e w a n d e l t " ; „ a u f geschichtliche Personen Israels übert r a g e n " ; besonders dadurch assimiliert, d a ß J a h w e in die M ä r c h e n eintrat, M ä r c h e n w e sen verdrängend oder als untergeordnete Wesen in seinen Dienst zwingend ( 1 6 7 / N e u d r . 1 8 6 f ) . Anmerkungsweise verwies Gunkel darauf, daß auch in den Gleichnissen Jesu Märchenstoffe verwendet seien. Im übrigen partizipiert das N e u e Testament vielfach an der alttestamentlichen Tradition und damit auch an den von Gunkel so genannten Märchenstoffen. Die alttestamentliche Wissenschaft hat dies Ergebnis mit der verkürzenden Formel ü b e r n o m m e n , d a ß das Alte Testament z w a r keine M ä r c h e n , wohl aber zahlreiche M ä r c h e n m o t i v e enthalte. Ein „eigentliches" M ä r c h e n hat bisher niemand im Alten Testament nachgewiesen. Wenn Gunkel trotz seines am Ende eindeutig negativen Votums im Verlauf der Untersuchung mehrfach unbefangen vom Märchen im Alten Testament sprach, so gebrauchte er dabei den schillernden und weitläufigen Märchenbegriff, der auch Fabeln oder eine Wandergeschichte wie die von Salomos weisem Urteilsspruch zu den Märchen rechnet. Gunkels E r t r a g an Märchenstoffen und -motiven ist aber in mehrfacher Hinsicht einzuschränken. Einmal ist das aus dem Alten Testament beigebrachte Material ganz
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erheblich zu reduzieren, weil Gunkel alles „Phantastische", ja schließlich alles dem naturwissenschaftlichen Weltbild nicht mehr Entsprechende zu den Märchenstoffen rechnete, vollends jeden überlieferungsgeschichtlich aufweisbaren Hinweis auf lokale Numina u. dgl. Zweitens ist bei Gunkel nicht berücksichtigt, d a ß gleiche Motive in den unterschiedlichsten Gattungen der Volksdichtung auftreten können, z. B. in Mythen, Sagen, Legenden und M ä r c h e n , so d a ß man aus dem Vorkommen der Motive noch nicht auf die G a t t u n g Märchen schließen kann. Drittens aber sieht sich Gunkel zu diesem Verfahren berechtigt auf G r u n d eines Entwicklungsmodells, das am Anfang (bei den „Naturvölk e r n " und später noch bei den Kindern) die G a t t u n g des M ä r c h e n s vorherrschen sah, woraus sich dann durch Historisierung die Sage und durch religiöse U m f o r m u n g der M y t h o s gebildet habe. Dieses Modell wird heute f ü r die Sage nicht mehr vertreten und für das Verhältnis von Märchen und M y t h o s umgekehrt: Sofern es überhaupt einlinige Entwicklungen in der Geschichte der Erzählgattungen gibt, ist das Märchen eher vom M y t h o s abhängig. Doch ist diese heute herrschende Sicht auf die Stoffe einzuschränken: Das Märchen benutzt ehemals mythische Stoffe auf seine eigene Weise, die Erzählform „ M ä r c h e n " aber ist eigenständig und läßt sich nicht auf die (mythischen usw.) Motive reduzieren. Das gilt ebenso für die von V. Propp vertretene Märchendeutung: Er versteht das Märchen als ein Konstrukt von Motiven nach einem (in bestimmten Grenzen) variablen Bauplan; dabei kommt es auf den Bauplan und das Märchen als Ganzes an. Zusammenfassend läßt sich sagen, d a ß das von Gunkel als Märchenstoff reklamierte biblische Material in anderen Gattungen vorliegt, die sich nicht auf die G a t t u n g des Märchens zurückführen lassen, und d a ß die Stoffe wie einige einfache Erzählgesetze keinen Anlaß geben, ihren Ursprung in altisraelitischen Märchen zu suchen: Es handelt sich um allgemeine, nicht märchenspezifische Strukturgesetze der Volksdichtung bzw. um Elemente des Volksglaubens, die in verschiedenen Erzählformen gestaltet werden können. Zwei bekannte Beispiele mögen das illustrieren: Das „Achtergewicht", z.B. der Aufstieg und Erfolg des Jüngsten und Geringsten (Josephsgeschichte), ist keine Besonderheit des Märchens, sondern ein Strukturelement aller Volksdichtung. Die „sprechenden Tiere" sind kein spezielles Märchenmotiv, sondern der Sage oder Legende ebenso geläufig. Erst in der erzählenden Realisierung kann das abstrakte Motiv „sprechende Tiere" u. U. spezifische Gestalt oder Bedeutung annehmen: So sprechen z. B. die Tiere der Sage nur zu besonderen Zeiten, in der fernen Welt des Märchenlandes aber ist diese Fähigkeit selbstverständlich; in der Fabel ist sie schließlich nur eine unter anderen erzählerischen Einkleidungen menschlicher Fähigkeiten und Eigentümlichkeiten. D a n n bleibt im Alten Testament ein begrenzter Bestand von fiktiven Erzählungen, die den Märchen in bestimmter Hinsicht ähnlich sind, weil sie weder wie der M y t h o s Gegenwart legitimieren noch wie die Sage in der eigenen Welt orientieren, sondern von fremden Menschen und Ländern erzählen, teils unterhalten, teils belehren wollen. Aber die Ähnlichkeit erweist sich bei näherem Zusehen als Schein. So ist die in diesem Zusammenhang gern genannte Josephsgeschichte eine weisheitliche Erzählung mit lehrhaftem Charakter. Die Jona-Erzählung ist ein Lehrstück zum Thema „Jahwe, Israel und die Völker", in dem neben einem prophetischen Problem, das das Grundmuster des Handlungsverlaufs hergibt, einige ursprünglich mythische Motive verwendet werden. Die Daniel-Erzählungen schließlich sind am ehesten mit den Legenden zu vergleichen. „Ähnlich" sind solche Erzählungen dem Märchen in einer Differenz zur Sage, sofern sie zu einer bestimmten geschichtlichen Wirklichkeit nur eine lockere oder gar keine Beziehung haben. Andere, wie die deuterokanonische Tobit-Geschichte, kennen auch Auszug und Heimkehr des Helden - freilich zieht Tobit nicht ins Märchenland, sondern nach Medien, und es handelt sich um eine wiederum der Weisheit nahestehende Lehr- und Erbauungserzählung. Allgemeinmenschliche Züge, die nicht eine besondere geschichtliche Wirklichkeit charakterisieren, verwendet im übrigen auch die erzählerische Ausgestaltung der Sagen. Das alles f ü h r t nicht zur Erzählform M ä r c h e n . Die historische Frage, o b es im alten Israel Märchen (im engeren Sinn) gegeben hat, k a n n man von seiner literarischen Hinter-
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lassenschaft her nicht beantworten: Zwar könnten einzelne Stoffe aus Märchen stammen, aber das ist in keinem Fall zu beweisen. So muß die Frage nach eigentlichen Märchen für das alte Israel offenbleiben; für das Alte Testament ist sie - mit Gunkel und den meisten Auslegern - zu verneinen. Die Erzählform des Märchens läßt sich auch im weiteren Alten Orient nicht eindeutig belegen. „Märchen"sammlungen, besonders aus Ägypten, haben wieder den weiten Begriff, und einige Texte wie das sogenannte „Brüdermärchen" sind in ihrer Eigenart umstritten. Ähnlich wie in Ägypten steht es in Mesopotamien: Überall gibt es die Motive von Zauber und Magie, aber in aller Regel noch als Elemente der wirklichen, d.h. der geglaubten Welt des Menschen, und es ist schwer zu erkennen, wieweit solche Motive daneben auch der unverbindlichen Unterhaltung gedient haben mögen. So muß es wohl für den Alten Orient bei dem bleiben, was eine hervorragende Kennerin der altägyptischen Erzählungen für die „Altägyptischen M ä r c h e n " formuliert: Sie sind „Protoplasma" der heutigen Märchen, nicht „jedoch . . . dem Begriffe nach Märchen auch in den Augen derer, die sie schufen" (Brunner-Traut 235). Bedeutende Märchenforscher wie Lüthi haben darüber hinaus bezweifelt, daß der Begriff „ M ä r c h e n " überhaupt ohne erhebliche Einschränkungen für den außereuropäischen Raum anwendbar sei.
3. Psychologische Märchendeutung
und Auslegung des Alten
Testaments
Gegen solche Einschränkungen haben andere Märchenforscher entschieden Einspruch erhoben. Sie sehen das Märchen als eine Grundkonstante des menschlichen Geistes; manche suchen daher seine letzten Ursprünge in der Steinzeit, über die sich mangels sprachlicher Hinterlassenschaften trefflich spekulieren läßt. Wenn aber das Märchenerzählen eine anthropologische Grundkonstante ist, dann ist natürlich auch die Frage nach Märchen im alten Israel schon entschieden. Tatsächlich steht dahinter eine ganz andere Auffassung vom Märchen, die nicht die besondere Erzählform, sondern die im Märchen erscheinende psychische Energie erfragt. Als solche märchcnbildcnde Kraft hat man zu Recht das „Wünschen" bestimmt (K. Ranke), aber das ist kein Spezifikum des Märchens, sondern kann sich in vielen Erzählgestaltungen geltend machen: So kommt man mit der Omnipräsenz menschlicher Wunschwelten noch nicht auf die weltweite Verbreitung des Märchens. Einen anderen Zugang, der wieder auf der Annahme universaler psychischer Grundstrukturen des Menschen beruht, sucht die psychoanalytische oder tiefenpsychologische Märchendeutung. Im allgemeinen geht es darin weniger um die Erzählform des Märchens als um die Motive und die Symbolwelt, die in Mythos, Märchen, Sage und Legende usw. begegnen. Wenn die psychologische Märchendcutung dennoch ganze Märchenabläufe Zug um Zug zu deuten sucht, so sieht sie den Zusammenhang des Märchens darin, daß es psychische Reifungsprozesse Jugendlicher (besonders in der Pubertät) oder auch einer fortgeschrittenen Lebensphase spiegelt. Das Recht dieser Deutung des Mätchenverlaufs wird u. a. mit Beziehungen zwischen Märchen und Initiationsriten der „Naturvölker" begründet, während man für einzelne Motive z. B. auf die Ähnlichkeit von Traumerzählungen hinweisen kann. Nun ist unbestritten, daß sich in der fernen Welt des Märchenlandes nicht die Außenwelt der Erzählgemeinschaft niederschlägt (sie gibt nur das Kolorit für Ausgangs- und Endpunkt der Erzählung her), sondern bestimmte seelische Realitäten, die innere Welt des Menschen. Auch geht es in den Märchen oft (aber durchaus nicht immer!) um eine (begrenzte) Entwicklung des Helden oder der Heldin. Es ist aber sehr fraglich, ob Märchen jemals als einfache Spiegelung seelischer Reifungsvorgänge erzählt worden sind oder unmittelbarer Ausdruck des Unbewußten waren. Wohl mögen sich Märchen dafür eignen, daß man psychologische Einsichten auf sie projiziert und sie so für therapeutische Zwecke anwendet, wie das besonders B. Bettelheim vorgeführt hat. Fragt man dagegen nach dem eigenen Sinn und der Genese des Märchens, erscheinen die Ergebnisse psychologischer Märchendeutung oft als gewaltsame Allegorese einer anders begründeten Erzählgestaltung (vgl. z.B. Bausinger, Bedeutung 323, zu Bettelheims Deutung des Rotkäppchen-Märchens; von Harnack 235 f zu Mallets Deutung des Märchens „Der starke
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Hans"). Denn Märchen sind immer schon eine (je nach Vermögen schlichte oder anspruchsvolle) Kunstform (vgl. de Vries 35), in der Erzählgesetze der Volksdichtung sich ebenso geltend machen wie traditionelle Motive oder „Sitte und Brauch" (vgl. Röhrich 102ff) der Erzählgemeinschaft und der bewußte Gestaltungswille des Erzählers, so daß die Erzählungen nicht als unmittelbarer Ausdruck des „kollektiven Unbewußten" verstanden werden können. Wieweit einzelne Märchen- und Mythenmof;Ve dann „Archetypen" im Sinne C. G. Jungs repräsentieren, ist in jedem Fall zu prüfen. Dabei kann in der „Amplifikation" nicht schon vorausgesetzt werden, daß ähnlichen Motiven in unterschiedlichen Gesellschaften archetypische Muster zugrundelägen. Wenn also psychologisch-anthropologische Märchendeutung einen gewichtigen Beitrag zum Verständnis leisten könnte und z. T. auch geleistet hat, so ist doch den verschiedenen gestaltenden Kräften Rechnung zu tragen und das Märchen weder als Psychogramm noch als durchgehende Reihe psychischer Symbole zu verstehen. Das gilt auch für die anderen Erzählformen der Volksdichtung und ihre z. T. gemeinsamen Motive. Auf einen G r u n d z u g menschlicher W i r k l i c h k e i t s b e w ä l t i g u n g trifft m a n allerdings bei der Entsteh u n g magischer Gestalten, weil u n b e s t i m m t e Angst vor d e m Unheimlichen sich überall in bildhaften G e s t a l t u n g e n u n d Personifikationen E n t l a s t u n g verschafft, i n d e m sie d a s n a m e n l o s - u n a n s c h a u l i c h e G r a u e n b e n e n n t u n d in einem Fabelwesen „ b a n n t " . Ebenso d ü r f t e n die magischen Helfergestalten teils Wunschfiguren, teils A u s d r u c k seelischer K r ä f t e zur Bewältigung des Unheimlichen sein. Die Fähigkeit, mit N a t u r w e s e n u m z u g e h e n u n d ihre Sprache zu verstehen, ist A u s d r u c k des Wunsches n a c h Ü b e r e i n s t i m m u n g u n d E i n k l a n g m i t der N a t u r , setzt also eine Differenz v o r a u s u n d ist schwerlich ein „ N a t u r v ö l k e r " - E r b e .
So lassen sich gewiß weitere psychische Realitäten namhaft machen, die ebenso allgemein sind wie die Grundkonstanten Geburt und Tod, Liebe und Haß, Armut und Reichtum, Hunger und Sättigung usw. und sich ebenso universal in allerlei Erzählformen niedergeschlagen haben. Dagegen sind z.B. „ödipale Konflikte" im Rotkäppchen-Märchen (Bettelheim 191 ff) nicht Deutung, sondern Projektion. Für die Deutung biblischer Texte müssen „historische" und „psychologische" Methode keine Alternative sein. Die anthropologische Deutung urtümlicher Erzählmotive eröffnet einen Zugang zum Verständnis vergangener Texte über Analogien im Bereich des Menschlich-Allgemeinen, die Auslegung muß aber darüber hinausgehen und nach dem Besonderen der biblischen Textwelt fragen. Was das Märchen als Erzählform betrifft, so hat die Einsicht, daß es im Alten Testament keine eigentlichen Märchen gibt, eine hermeneutische Konsequenz. Ein der Märchenforschung geläufiger Grundsatz besagt, daß Gott im Märchen nicht vorkommt, und das trifft zu, obwohl es allerlei Mischformen unter christlichem Einfluß gibt und Gott in der Frömmigkeit der menschlichen Gestalten des Märchens eine Rolle spielen kann. Aber er gehört nicht zum Märchenland und bewirkt nicht dessen Wunder. Wunder sind vielmehr die natürliche Ausstattung des Märchenlandes, und das ist wiederum nur zu erwarten, wenn das Märchenland ein Entwurf seelischer Realitäten, insbesondere des Glücksbedürfnisses und des Wünschens ist. Als Erzählform beschreibt das Märchen die ferne, die Sage die eigene Welt des Menschen; Wahrnehmung Gottes aber ereignet sich in der eigenen Welt oder gar nicht und kann daher in der spezifischen Wirklichkeitserfassung der Sage, aber nicht in der Wunschwelt des Märchens zur Sprache kommen. Falls es also im alten Israel Märchen gegeben haben sollte, wären sie doch keine geeignete Sprachform für die geschichtlich begründete Wirklichkeit des Jahweglaubens. So kann psychologisch-anthropologische Deutung alttestamentlicher Texte insoweit zum Verständnis beitragen, als es um allgemeinmenschliche Züge geht. Auch dabei ist die geschichtliche Eigenart zu respektieren; vollends kann die phänomenologisch am Allgemeinen orientierte Deutung nicht die geschichtliche Besonderheit einer Wahrnehmung Gottes beschreiben, auf die jüdischer und christlicher Glaube sich beruft.
Magdeburg
Gli
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Magdeburg
aller deutschen Erzbistümer, bietet ein in vieler Hinsicht einzigartiges Panorama für die Aporien der alten Reichsverfassung im deutsch-slawischen Grenzgebiet, ihre besonderen Möglichkeiten und die in ihr sich stellenden Grenzen geistlicher Jurisdiktion. Seine Gründungsgeschichte ist von überregionaler Bedeutung, weil sie durch das Zusammenwirken Ottos des Großen mit den Päpsten seiner Zeit das Zueinander von geistlicher und weltlicher Gewalt an der Spitze der lateinischen Christenheit erheblich beeinflußt hat.
1. Magdeburg
in der ottonischen
Herrschafts-
und
Missionskonzeption
Das als Elbfurt und Handelsplatz sicher schon länger bedeutsame Magdeburg wird erstmals 805 in einem Diedenhofener Kapitular als fränkischer Vorposten erwähnt und nach dem Einrücken der sächsischen Liudolfinger in diese karolingische Herrschaft 929 von -»Otto d.Gr. seiner Gemahlin Edgitha zugebracht. Einen Neuanfang bedeutete es, als Otto am 21.9.937 in Magdeburg ein Benediktinerkloster errichtete, in dessen Stiftung sich Traditionen zeitgenössischer klösterlicher Erneuerungsbewegungen erstmals mit den imperialen Perspektiven einer aufstrebenden Dynastie verbanden. Otto besetzte das Kloster mit Mönchen aus St. Maximin in Trier, das in den Umkreis der Reform von ->Gorze gehörte, und widmete dem Konvent Reliquien von Märtyrern der thebaischen Legion wie Mauritius und Innozenz. Das Vorbild dieser Soldatenmärtyrer der Zeit Diokletians erschien offenbar besonders gewichtig, wo es um eine neue Beziehung von mönchischem Gottesdienst und militia Christi des Herrschers gehen sollte. Die Otto sich stellende Aufgabe des Kampfes „gegen alle Widersacher Christi, Heiden und schlechte Christen" (Widukind, Sachsengeschichte II, 1) wurde durch Mauritius und seine Thebaner verbunden mit der Epoche des Ubergangs vom nichtchristlichen zum christlichen Kaisertum, die Herrscheraufgabe des 10. Jh. in das Licht der Christianisierung des Kaisertums durch Konstantin gestellt. Die ersten Nachrichten über den Plan, in Magdeburg ein Erzbistum zu errichten, begegnen 955. Er setzte die politische und die kirchliche Stabilisierung nach der Niederlage der Ungarn auf dem Lechfeld im Sommer 955 voraus. Otto gelobte damals in der Uberzeugung, persönliche Hilfe durch den Märtyrer Laurentius empfangen zu haben, eine kirchliche Organisation für die gesamte nördliche Slawenwclt ins Leben zu rufen und dafür seine Merseburger Pfalz in ein Laurentiuskloster und das Magdeburger Mauritiuskloster in den Sitz eines neuen Erzbistums umzuwandeln. Die Pläne scheitern zunächst am Widerstand des Mainzer Erzbischofs Wilhelm, der die Ausgliederung seines Suffraganbistums Halberstadt und seine Verlegung nach Magdeburg nicht zuläßt. Daß sie für Otto damit nicht hinfällig waren, zeigt der Bau einer aufwendigen Kathedralkirche, der damals schon begonnen haben muß. Unter den zahlreichen die Erhöhung Magdeburgs zum Erzbistum vorbereitenden Schenkungen Ottos an das Mauritiuskloster seien hier nur diejenige des Gaues Neletici vom 29.7.961 genannt, die die für die ganze weitere Erzstiftsgeschichte entscheidende Verbindung Magdeburg-Halle herstellte, und das Marktprivileg vom 8.7.965, das als Keim der Entwicklung des Magdeburger Stadtrechtes galt. Unmittelbar nach seiner Kaiserkrönung 962 wendet sich Otto dem Erzbistumsplan wieder zu. Mittels der päpstlichen Autorität läßt er die angrenzenden Erzbistümer zu prinzipieller Zustimmung und Unterstützung auffordern. Die Frage einer Sprengeleinteilung und -Zuweisung bleibt grundsätzlich offen mit der einen Ausnahme Merseburgs, dessen Laurentiuskloster zum Bistum erhoben werden soll. Die dies belegende Magdeburg-Urkunde Papst Johannes XII. vom 12.2.962 enthält zudem auffällige Sätze über das Verhältnis geistlicher und weltlicher Gewalt: der Kaiser und seine Nachfolger seien es, die die gentes tauften. Das ist indessen keine Übertragung geistlicher Vollmachten auf die weltliche Gewalt; denn der Papst ist es, der spricht und dem Kaiser das Recht einräumt, die Zehnten der christianisierten und noch zu christianisierenden Völker den in Frage kommenden Bistümern zuzuweisen sowie deren Standorte festzulegen. Weihe und Seelsorge, Hauptbetätigungen der geistlichen Gewalt, bleiben von alldem unberührt. Die Aufgabe des Kaisers ist es, Völker zum christlichen Kultus zu führen, die des Papstes und der Bischöfe, diesen Kult zu leiten. Verwirklicht wird die Gründung des Erzbistums in den
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Jahren 967 und 968. Eine Papsturkunde vom 20.4.967 nennt erstmalig alle fünf Suffraganbistümer Havelberg, Brandenburg, Meißen, Merseburg, Zeitz. Das alles aber tritt in ein ganz neues Licht durch einen Vergleich der Gründung des Erzbistums Magdeburg mit der Konstantinopels, das in der Autorität des Apostelfürsten Petrus von den Vorgängern des Papstes errichtet worden sei. Eine Sprache, wie sie sich nur aus der damals sehr gespannten Lage gegenüber Byzanz erklärt: Kaiser und Papst des Westens stellen sich hier als diejenigen vor, die allein die Autorität zur Organisation der einen umfassenden Slawenkirche haben. Offenkundig mußte ein Bischofswechsel in Halberstadt abgewartet werden, ehe im Herbst 968 die Gebietsprobleme geregelt werden konnten. Sie forderten eine Auseinandersetzung mit den Ansprüchen von Mainz, dessen Erzbischof Hatto auf Havelberg und Brandenburg verzichtet, und von Halberstadt, das den nunmehr Magdeburgischen Teil seiner Diözese entläßt. Dazu kommt die Frage nach einem Status als eines Erzbistums mit Sondcrrcchten, die für Magdeburg und seine Stellung in einer einheitlichen Kirche der gesamten Slawenwelt erforderlich waren, z. B. schon angesichts des für Meißen vorgesehenen Riesensprengels von Nordböhmen bis in die Niederlausitz, einem Gebiet beinahe so groß wie das gesamte übrige Erzbistum Magdeburg. Die leider nicht völlig eindeutige Urkundenüberlieferung macht kenntlich, daß man Magdeburg ein besonderes Kollegium von Kardinalpresbytern, -diakonen und -subdiakonen zugestanden hat, um seine Rom entsprechende Vorrangstellung in der nördlichen Christenheit zu repräsentieren. Es wirkt wie eine letzte Besiegelung dieser Herrschaftskonzeption, meist Reichskirche genannt, der Intention nach aber viel eher als Kirchenreich zu kennzeichnen, wenn Otto vor dem hohen Chor der Kathedralkirche des von ihm angestrebten Erzbistums 973 begraben worden ist. Die in den 60er Jahren des 20. Jh. ergrabenen Reste seiner Pfalz bestätigen das: Abweichend vom Aachener Vorbild der Kombination von Pfalz und thronorientierter Pfalzkapelle verbindet Otto seine Magdeburger Pfalz mit der erzbischöflichen Kathedrale selbst, als wollte er damit jene Gemeinsamkeit von oberster geistlicher und weltlicher Gewalt, wie sie Adalbert, der erste Magdeburger Erzbischof, in seinem Geschichtswerk angesichts der Krönung Ottos II. 967 in Rom verherrlicht hat, architektonisch auch auf der Ebene Magdeburgs wiederholen. 2. Magdeburg
am Rande des
Investiturstreits
Wie man weiß, hat es eine einheitliche und gar von Magdeburg als Erzbistum besonderen Ranges geleitete Slawenkirche nie gegeben. Das aber liegt nicht nur daran, daß der ethnische Differenzierungsprozeß (-»Slawen) wohl schon weiter fortgeschritten war, als Ottos und der Päpste Pläne voraussetzen. Otto stieß im eigenen Lager auf Widerstände, die allen Gedanken an ein Miteinander von Germanen und Slawen in einer einheitlichen christlichen Kirche den Boden entzogen. Sie gründen in der Vorstellung von der von den Franken auf die Sachsen übergegangenen Qualität des Herrschervolkes. Schon zu Ottos Lebzeiten hatte der Sachsenherzog Hermann Billung den Erzbischof Adalbert gezwungen, ihn mit allen Formen des königlichen Protokolls in Magdeburg aufzunehmen. Nach Ottos Tod aber führte die dieser Auffassung folgende Politik zu einem das Erzbistum auf fast 200 Jahre lahmlegenden Schritt. Bischof Giselher von Merseburg erreichte, daß eine römische Synode 981 sein Bistum aufhob, damit er, Exponent einer die sächsischen Herrschervorrechte gegenüber den Slawen aufs schärfste verfechtenden Partei, vom kirchlichen Translationsverbot unbehindert den Magdeburger Erzstuhl besetzen konnte. Die Folgen für Magdeburg zeichnen sich sofort ab. -»Otto III., der seines Vaters Bemühungen um die Slawenkirche fortsetzt, kann dies bei der Errichtung des Erzbistums Gnesen (-»Polen) nur unter Umgehung Magdeburgs, das, von Erzbischof Giselher besetzt, mindestens auf Posen als Suffraganbistum Ansprüche erhebt. Giselhers Politik transformiert den sorgfältig abgewogenen Sonderstatus in unmittelbare Jurisdiktionsansprüche und läßt damit die vielverhandelte „Posener Frage" entstehen, ob Posen ein nachträglich von Magdeburg gelöstes Bistum gewesen sei oder nie zur Magdeburger
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Magdeburg
Kirchenprovinz gehört habe. Zur Zeit der Pommernmission des 12. Jh. war es nicht zuletzt die Furcht vor derartigen Magdeburger Ansprüchen, die dazu führte, Missionare lieber aus dem weiter entfernten Bamberg anzufordern (-»Otto von Bamberg). Der Bedeutungsverlust Magdeburgs unmittelbar nach der Jahrtausendwende ist offenkundig. Als Pfalzort wird unter -»Heinrich II. Merseburg, unter -»Heinrich III. Goslar bevorzugt. Auch die Gründung des exemten Bistums Bamberg unter Heinrich II. läßt die ehemals so glänzende Stellung Magdeburgs hinter ganz neuen Sonderrechten verblassen. In Magdeburg selber hören wir von Krypteneinbauten am Dom unter den Bischöfen Tagino (1002-1012) und Hunfried (1023-1051). Unter Erzbischof Gero (1012-1023) wird 1015/1016 das Liebfrauenstift errichtet, dem nach seiner Umwandlung in ein Prämonstratenserkloster reichlich 100 Jahre später noch eine große Z u k u n f t bevorstand. Natürlich wurde auch das Erzbistum Magdeburg in die teilweise kriegerischen Auseinandersetzungen verwickelt, zu denen es im -»Investiturstreit kam, zumal es im Kerngebiet der sächsischen Adelsopposition gegen den Kaiser lag. Es war der überall dominierende Einfluß -»Annos von Köln, der seinen Bruder Werner 1063 auf die Magdeburger Kathedra bringt. Werner steht anfangs sogar auf der Seite des Kaisers, wird dann aber, weil er Magdeburg durch Heinrich IV. benachteiligt sieht, Parteigänger des oppositionellen O t t o von Northeim. Als solcher zieht er mit in die Schlacht bei Meirichstadt (1078) in Franken. Die Schlacht geht verloren, und Werner wird auf der Flucht erschlagen, auch er wie seine Vorgänger im 11. Jh. mehr eine Rand- als eine Führungsfigur im Lauf der Ereignisse.
3. Das Erzbistum Reorganisation
Magdeburg
als Zentrum
der kirchlichen
und
kolonisatorischen
Wenn Magdeburg um 1200 wieder so dastand, wie es den Plänen Ottos des Großen entsprach, dann war dies zuallererst geschuldet der führenden Stellung, die seine Erzbischöfe bei der kolonisatorischen Neuerschließung des ostelbischen Raumes einnahmen. Dies freilich zunächst nicht ohne eine radikale Säkularisierung ihrer Regierungspraxis: An der Spitze eines im Jahre 1108 erlassenen Kreuzzugsaufrufes, der den lothringischen und flandrischen Adel zum Kampf gegen die heidnischen und reichen Slawen und zur Eroberung ihrer Länder einlädt, steht der Name des Magdeburger Erzbischofs Adelgot (1107-1119). Auf einer ganz anderen Ebene als der der feudaladligen Eroberungsinteressen lag die reformerische Kirchenpolitik, die mit -»Norbert von Xanten als Erzbischof (1126-1134) begann. Gegen starke Widerstände im Magdeburger Klerus wandelt er das von Gero gegründete Liebfrauenkloster in eines der -»Prämonstratenser um, dessen Ausstrahlungskraft eine große Zahl von Tochtergründungen beweist, zu denen u.a. Leitzkau (1134) und Jerichow (1144) gehören. Die seit dem Slawensturm von 983 darniederliegenden Diözesen Brandenburg und Havelberg werden jetzt unter Erzbischof Norbert vom Magdeburger Prämonstratenserstift aus reorganisiert. Ebenfalls Erzbischof Norbert ist es zu verdanken, daß 1129 in Anselm einer der bedeutendsten Theologen des 12. Jh. zum Bischof von Havelberg berufen wurde. Dieser wiederum stützte sich auf den Prämonstratenserorden, indem er die Prämonstratenserregel im Havelberger Domstift einführte, den Prämonstratenserpröpsten von Jerichow und Leitzkau Archidiakonate im Bistum Havelberg übergab. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß bei Norberts Tod 1134 im Nordteil der Erzdiözese Magdeburg der Kern einer neuen und effektiven Kirchenorganisation nunmehr freilich eher rheinisch-flandrischen als slawischen Gepräges entstanden war. Als eine Art Kulmination der hier geschilderten Entwicklung möchte man die Regierungszeit des wohl bedeutendsten aller Magdeburger Erzbischöfe sehen, die Zeit Wichmanns von Seeburg, 1154-1192. Auf den Spuren Norberts hat er den Innenausbau und die äußere Sicherung von Erzbistum wie Erzstift gefördert. Schon in die Anfangszeit seiner Magdeburger Regierung fällt eine wichtige Erweiterung des Stiftsgebietes mit dem Ankauf der Grafschaft Sommerschenburg aus dem Familienbesitz der Äbtissin von Quedlinburg. Nicht zuletzt die Art und Weise, wie Wichmann in zwei der schwerwiegendsten geschichtlichen Auseinandersetzungen seiner Zeit Partei ergriff, hat seinen
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Magdeburg
Ruhm bei den Zeitgenossen begründet. Heinrichs des Löwen Versuch, ein erneuertes sächsisches Stammesherzogtum zu einer königlichen Stellung in Deutschland zu führen, scheitert nicht zuletzt an einer Koalition seiner Gegner an Rhein und Elbe, die von Erzbischof Wichmann inspiriert war. Und gerade diese Kombination eines ins Gewicht fallenden politischen Einflusses mit der Unabhängigkeit des an kein Reichsamt gebundenen Erzbischofs von Magdeburg prädestinierte Wichmann zu seiner Vermittlerrolle zwischen Kaiser -»Friedrich Barbarossa und Papst -»Alexander III., die die Neuregelung der Beziehung Kaiser-Papst im Vertrag von Venedig 1177 vorbereitete, der verfassungsgeschichtlich gewiß ein höherer Rang zukommt als dem Wormser Konkordat. Die Autoren der Carmina burana wie Gottfried von Viterbo wußten, warum sie Wichmann besangen als omrtis pacis artifex. Wichmanns nur kurz nach seinem Tod entstandenes Bildnis auf einer Novgoroder Bronzetür wie die Ausbreitung des Magdeburger Rechtes über ganz Polen bis tief ins damalige Rußland lassen Erinnerungen an Ottos Kirchenorganisationspläne, aber zugleich die Frage wach werden, warum Markt- und Stadtrecht zu realisieren vermochten, woran das Kirchenrecht scheiterte.
4. Erzbistum und Stadt Magdeburg
im Hoch- und
Spätmittelalter
Der Magdeburger Hoftag Weihnachten 1199 zeigt Erzbischof Ludolf von Kroppenstädt (1192-1205) auf der Seite Philipps von Schwaben, was zwar zu kriegerischen Verwicklungen während des deutschen Thronstreites führt, die aber nicht unbeträchtlichen Territorialgewinn für das Erzstift mit sich bringen (Haldensleben, Hundisburg, Bornstädt, Schraplau, Langeneinbogen). Unter Ludolfs Nachfolger Albrecht von Kefernburg (1206-1232) beginnt der Neubau des Magdeburger Doms, nachdem ein Brandunglück den ottonischen Vorgängerbau hatte unbenutzbar werden lassen. Der großzügig geplante Neubau, mit einer nicht unwesentlichen Achsenverschiebung an der Stelle des Vorgängerbaus errichtet, zeigt in den noch heute erhaltenen Ostteilen eines der ältesten Beispiele der Frühgotik in Deutschland. Wie in anderen mittelalterlichen Metropolen fassen -»Franziskaner und -»Dominikaner auch in Magdeburg schon bald nach ihrer Gründung Fuß, diese 1224, jene 1225 zunächst in der Neustadt, ab 1230 in der Altstadt. Letztere besaßen ein eigenes Studium generale in Magdeburg. Aber auch an der bis in die Anfänge des Erzbistums zurückreichenden Domschule wirkt damals in Magister Gernand ein Gelehrter, dessen Schüler zu sein Erzbischof Albrecht sich meint rühmen zu sollen, und die eben damals in Magdeburg entstandene Summa dictaminis sucht sich dadurch bei ihren Lesern zu empfehlen, daß sie sich als eine Sammlung aus Brosamen von Magister Gernands Tisch vorstellt. Während die geistliche Autorität der Magdeburger Erzbischöfe gegen Ende des 13. Jh. einem Tiefpunkt zustrebt, entsteht in Beginenkreisen (-»Beginen) der Stadt eines der Hauptwerke mittelalterlicher Laientheologie in deutscher Sprache, -»Mechthild von Magdeburgs Das fließende Licht der Gottheit. Es geschieht in dieser Zeit der 80er Jahre des 13. Jh., daß die Erzbischöfe die Finanzen des Erzstiftes wie ihr eigenes Ansehen in kostspieligen Fehden ruinieren, so daß schließlich Erzbischof Bernhard von Wölpe sogar gezwungen ist, sein Amt niederzulegen (1281). Nicht von ungefähr fällt in diese Zeit der Sedisvakanz eine eindrucksvolle Demonstration des Selbstbewußtseins der Magdeburger Bürgerschaft, eine öffentliche Aufführung der Sage vom Gral und den Rittern der Artustafelrunde. Das Stück stammte von einem angesehenen Magdeburger Bürger Brun von Schönebeck. Halberstadt, Quedlinburg und andere niedersächsische Städte waren zu der Festivität eingeladen. In dem Moment, da die Erzbischöfe wieder Boden unter den Füßen hatten, mußte der Konflikt mit der selbstbewußter gewordenen Bürgerschaft ausbrechen. Schon 1213 war ein zweiter Bürgermeister eingeführt, 1238 und 1244 die Verselbständigung des Rates vorangetrieben worden. Judenverfolgungen 1285 und 1301 kündigen eine Verschärfung der Spannungen in der Stadt an, und unter Erzbischof Burkhard von Querfurt (1308—1325) kommt die Krisis zum Ausbruch. Als der Erzbischof der Stadt neue Bier- und Salzsteuern aufzuerlegen versucht, erheben sich die Städter gegen ihren erzbischöflichen Herrn, der über Magdeburg und Halle den Bann verhängt, aber nicht verhindern kann, daß die Städte des Erzstifts und am Ende sogar das Domkapitel gegen ihn Partei ergreifen. Burkhard wird vom Rat nach seiner Auslieferung gefangengenommen und von Extremisten auf der Seite
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Magdeburg
seiner Gegner ermordet. Sie haben sich damit so tief ins Unrecht gesetzt, daß die Stadtherrschaft der Erzbischöfe fortan nicht mehr in Frage gestellt werden konnte. Die 1330 in Kraft gesetzte neue Verfassung sieht vor, daß der Rat nicht mehr aus den Patriziergeschlechtern, sondern den Innungen zu bestellen ist. So lag es in den Tendenzen der Zeit, wenn 1361 der Sohn eines Stendaler Gewandschneiders Dietrich Kagelvit selbst Erzbischof wurde (1361-1367) und noch einmal eine neue wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit für das Erzstift einleitete. Am 22.10.1363 weihte er den noch heute stehenden Dom ein. 5. Das Erzstift Magdeburg
im Vordringen
der
Territorialstaaten
Die Zeit der Luxemburger Herrschaft war für das Erzstift und Erzbistum keine glänzende Periode. Unter den Erzbischöfcn Albrecht von Sternberg (1367—1372) und Peter von Brünn (1372-1381) wurde das Erzstift fast wie eine böhmische Pfründe behandelt; das Bistum Meißen Magdeburg entfremdet und Prag unterstellt. Fehden, ständige Rechtshändel mit den Städten um Steuern, Zölle, Verpfändung und Rückkauf von Stiftsbesitz kennzeichnen die Regierungspraxis dieser Kirchenfürsten. Die bedenkliche wirtschaftliche Lage des Erzstifts kommt ans Licht in den schweren Sozialunruhen zum Ende der Regierung Erzbischof Albrechts von Querfurt (1382-1403). Die von der erzbischöflichen Münze betriebene Münzverschlechterung führt zur Empörung der Stadt, die der Erzbischof mit der Verhängung des Interdikts beantwortet, und erst 1403 kann der Streit beigelegt werden. Das Bild des Erzbistums unter Albrechts Nachfolger Günther von Schwarzburg (1403-1445) zeigt aber, daß man das Spätmittelalter nicht einseitig als Verfallszeit sehen darf. Unter diesem Episkopat regen sich auch in Magdeburg all jene Kräfte, die das 15. Jh. auch sonst dazu geführt haben, die Sache der Reform als vorrangige Aufgabe zum Panier zu erheben. Der Magdeburger D o m k a p i t u l a r Heinrich T o k e zeichnet sich damals aus als theologischer Führer im K a m p f gegen das Wallfahrtsunwesen des W i l s n a c k e r Wunderblutes wie als hilfreicher Vermittler beim Aushandeln der Präger K o m p a k t s t e n zur Beendigung der Hussitenkriege. Schon unter Erzbischof Friedrich von Beichlingen ( 1 4 4 5 - 1 4 6 4 ) geschah es, d a ß der bedeutendste aller R e f o r m e r des 15. J h . , - » N i k o l a u s von Kues, als päpstlicher Legat einer R e f o r m s y n o d e im H o h e n C h o r des M a g d e b u r g e r D o m e s präsidierte. Aber noch unter Erzbischof G ü n t h e r hat im Augustinerkloster H i m m e l p f o r t e n bei Wernigerode jene R e f o r m b e w e g u n g des O r d e n s eingesetzt, aus deren Reihen zu Luthers Zeiten ein g r o ß e r Teil der ersten G e n e r a t i o n evangelischer Prediger k a m . Lassen wir schließlich nicht u n e r w ä h n t , d a ß es seit 1482 im H a u s des D r . T h o m a s (am heutigen Domplatz) eine Niederlassung der - » B r ü d e r vom gemeinsamen Leben g a b , eine Institution, die in der Jugendbiographie Luthers eine R o l l e spielen sollte.
Ungeachtet solcher Reformimpulse hatten sich jedoch die Anachronismen im Verhältnis geistlicher und weltlicher Gewalt schon fast hundert Jahre vor der Reformation auch im Erzbistum Magdeburg als unter den Bedingungen der mittelalterlichen Verfassung der Kirche unheilbar erwiesen. Als die Stadt unter dem Eindruck der Hussitenkriege neue, von Erzbischof und Domkapitel nicht genehmigte Befestigungen erbaut hatte, kam es zum Krieg zwischen Erzbischof und Stadt, in dem die mit der Magdeburger Bürgerschaft verbündeten Städte durchaus im Vorteil waren und fast das ganze Gebiet des Erzstifts besetzen konnten. Der Erzbischof seinerseits stützte sich auf das Konzil von -»Basel als damals oberste kirchliche Instanz und erwirkte die Verhängung des Bannes über Magdeburg durch das Konzil am 24.8.1433. Erst fast zwei Jahre später konnte dieser wieder aufgehoben werden, als Stadt und Erzbischof sich über die Rechte an den Befestigungsanlagen geeinigt hatten. U m den Städtern auch militärisch entgegentreten zu k ö n n e n , hatte sich Erzbischof G ü n t h e r mit dem Kurfürsten von Sachsen verbündet. O h n e Anlehnung an eine der mittlerweile mächtig gewordenen Territorialherrschaften w a r das Erzstift politisch nicht mehr handlungsfähig. Die Verbindung zu Kursachsen lag u m s o näher, als die d o r t regierenden Wettiner nach dem Aussterben der Askanier 1 4 2 2 in deren Sukzession auch die Burggrafschaft M a g d e b u r g ü b e r n o m m e n hatten. D a ß freilich
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auch ganz andere Kombinationen denkbar waren, zeigte sich unter Erzbischof Johann von Bayern (1464-1475), einem Enkel des Kaisers Ruprecht aus dem Hause Wittelsbach, der sich während einer Fehde mit Pommern auf ein Bündnis mit Kurbrandenburg stützte. Vorerst aber siegte der kursächsische Einfluß. Denn 1476 wurde der noch nicht zwölfjährige Ernst von Sachsen-Wittenberg, Sohn des gleichnamigen Kurfürsten, zum Erzbischof postuliert. Das konnte nur darauf hinauslaufen, daß während der Minderjährigkeit des Erzbischofs das Erzstift von den Räten des sächsischen Kurfürsten regiert wurde. Auch unter Erzbischof Ernst flammen die Streitigkeiten mit der Stadt über die Steuerrechte wieder auf, aber dank der maßvollen Haltung ihres bischöflichen Herrn beschwört die Stadt 1497 in einem Vergleich ihr Untertanenverhältnis gegenüber dem Erzbischof und entsagt damit endgültig allen Ansprüchen auf Reichsfreiheit. Erzbischof Ernst kann während seiner Regierung das Gebiet des Erzstiftes abermals erweitern, u.a. durch den Heimfall der Grafschaft Querfurt, nachdem dieses Geschlecht 1496 ausgestorben war. Nach seinem Tod am 3.8.1513 wurde bereits am 30.8.1513 ein Brandenburger zu seinem Nachfolger gewählt, Albrecht, der 23jährige Sohn des Kurfürsten Johann Cicero.
6. Wirkungen der
Reformation
Allgemein b e k a n n t ist, wie A l b r e c h t von B r a n d e n b u r g ( - > A l b r e c h t von M a i n z ) den ä u ß e r e n A n l a ß der R e f o r m a t i o n herbeiführte. Weniger B e a c h t u n g pflegt zu finden, wie der Verlauf der R e f o r m a t i o n in M a g d e b u r g ein P a r a d i g m a liefert für die Art und Weise, in der die geistlich-weltliche D o p p e l v e r f a s s u n g des R e i c h e s im 16. J h . zu einer O r g a n i s a t i o n von Ständen und Religionsparteien t r a n s f o r m i e r t wird. M a g d e b u r g g e h ö r t zu jenen Städten, in denen r e f o r m a t o r i s c h e Predigt schon in den frühen 2 0 e r J a h r e n B o d e n gew i n n t , nicht zuletzt a u c h , weil sie mit der O p p o s i t i o n gegen den erzbischöflichen Stadtherrn k o n f o r m ging. 1 5 2 4 wird der ehemalige Augustiner D r . E . Weidensee evangelischer Pfarrer an St. Ulrich. A m 2 2 . 5 . 1 5 2 4 wird von den Vertretern der sechs Altstadtgemeinden und ihren Predigern eine evangelische K i r c h e n o r d n u n g beschlossen, und m a n läßt die v o r g e n o m m e n e n Veränderungen durch L u t h e r autorisieren, der a m 2 4 . und 2 6 . 6 . in der Augustiner- und der J o h a n n i s k i r c h e predigt. D e r erzstiftische R e g e n t , G r a f B o t h o von S t o l b e r g - W e r n i g e r o d e , stand der neuen B e w e g u n g mit S y m p a t h i e gegenüber. S c h o n im J u l i forderten die evangelischen Prediger auch im D o m evangelische Predigt. Schließlich g e w a n n e n die M a g d e b u r g e r Protestanten in dem seit H e r b s t 1524 amtierenden N i k o l a u s von - » A m s d o r f einen theologisch profilierten Superintendenten. Das D o m k a p i t e l w a r keineswegs g e s o n n e n , in der K a t h e d r a l e evangelische Predigt und S a k r a m e n t s p r a x i s zuzulassen. D o c h b a h n t e sich A n f a n g der 4 0 e r J a h r e eine Wendung an. E r z b i s c h o f A l b r e c h t , durch seine i m m e n s e Schuldenlast dazu gezwungen, m u ß t e 1541 die von seinen Städten geforderte evangelische Predigt zulassen. Aber auch im D o m k a p i t e l selbst erheben sich jetzt S t i m m e n zugunsten der R e f o r m a t i o n . D o m p r o p s t G e o r g von A n h a l t fordert 1 5 4 2 das Kapitel a u f , sich ihr anzuschließen. D o c h noch hat die mittelalterliche T r a d i t i o n die M e h r h e i t . A m 2 6 . 7 . 1 5 3 6 fordert der R a t die A n n a h m e der R e f o r m a t i o n d u r c h das D o m k a p i t e l . O h n e E r f o l g , da nun auch die letzten D o m h e r r e n M a g d e b u r g verlassen und aus d e m E x i l (wo sie bis 1558 verharren) ihre R e c h t e verfechten. Sie k o n n t e n sich dabei auf die d u r c h den A u s g a n g des - » S c h m a l k a l d i s c h e n Krieges 1 5 4 7 verschlechterte L a g e der Evangelischen stützen. 1548 verlangt E r z b i s c h o f J o h a n n A l b r e c h t die A n n a h m e des - » I n t e r i m s . M a g d e b u r g erbittet sich Bedenkzeit. A b e r das w a r n u r ein A u s d r u c k d a f ü r , d a ß in der Stadt keine Aussicht für die D u r c h s e t z u n g des Interims b e s t a n d . 1 5 5 0 wird d a h e r die R e i c h s a c h t gegen M a g d e b u r g ausgesprochen. Selbst in der T h e o l o g i e g e s c h i c h t e findet M a g d e b u r g s e x p o n i e r t e Stellung A u s d r u c k . Es wird z u m Z e n t r u m der a n t i m e l a n c h t h o n i schen Interimsgegner ( - » G n e s i o l u t h e r a n e r ) . 1 5 5 1 k a n n d u r c h Vermittlung von Kurfürst - » M o r i t z von S a c h s e n die Belagerung beendet und der Stadt die A n n a h m e des Interims erlassen werden. E r k a u f t wird dies d a m i t , d a ß die S t a d t sich der T r i a r c h i e von S a c h s e n , B r a n d e n b u r g und E r z b i s c h o f fügen m u ß . Eine Schlüsselfigur für die W e n d u n g des D o m k a p i t e l s zur R e f o r m a t i o n w a r der 1 5 6 0 zu seinem D e c h a n t e n g e w ä h l t e C h r i s t i a n von M ö l l e n d o r f f . S e i n e m Verhandlungsgeschick w a r es zu d a n k e n , d a ß 1 5 6 2 die R e i c h s a c h t a u f g e h o b e n wurde. 1 5 6 4 verlangte der
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Landtag erneut die Einführung der Reformation im Dom. 1565 schon begann von Möllendorf mit dem Stadtschulrektor Sack wegen der Übernahme eines evangelischen Dompredigeramtes zu verhandeln. Daß diese Einleitungen aber zum Erfolg führten, ist den Umständen bei der Regierungsübernahme durch Joachim Friedrich von Brandenburg im Erzstift 1566 geschuldet. Joachim Friedrich war zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet. Mit Rücksicht auf den geistlichen Vorbehalt des -» Augsburger Religionsfriedens nannte er sich nur noch Administrator und erklärte sich hinsichtlich der Konfession für neutral. Das Domkapitel seinerseits wagte es als erstes reichsunmittelbares Bistum, den neuen Regenten des Erzstiftes ohne Einholung einer päpstlichen Admission oder Konfirmation pleno iure capituli einzusetzen. Das Miteinander von Protestanten und Katholiken in einer Korpotation eröffnet die Möglichkeit zu einer überkonfessionellen Stellung des Regenten, wie sie fast zur gleichen Zeit Bodin in Frankreich fordert und wie sie zum Programm des späteren fürstlichen Absolutismus werden sollte. Die vom Kapitel in Anspruch genommene Kompetenz der Machtübertragung aber zeigt, daß ein Prozeß der Verselbständigung der einst von der Kirche und ihrem Recht selbst geschaffenen Korporationen eingetreten war, dessen Irreversibilität auf den Unterschied geistlich oder weltlich keinerlei Rücksicht mehr nahm. Am 1. Advent 1567 wurden der Stadtschulrektor Siegfried Sack und der bisherige Jakobipfarrer Wickmann als evangelischer Domprediger eingeführt. Schon am 9.1.1567 mußte Joachim Friedrich, nunmehr Kurfürst geworden, laut seiner Wahlkapitulation die persönliche Verwaltung des Erzstiftes zugunsten des Domkapitels aufgeben. An der Bindung des Erzstiftes an Brandenburg änderte sich dadurch nichts. Am 4.11.1592 beurkundete das Kapitel, daß die Administration des Erzstiftes einem brandenburgischen Prinzen übergeben werden sollte, und so trat 1608 Christian Wilhelm, der Sohn Joachim Friedrichs, dieses Amt an. „So bildete denn um die Wende des 16. und 17. Jh. das von einem weltlichen Fürstentum nur durch unwesentliche Formen unterschiedene Erzbistum Magdeburg durch seine Fürsten geradezu den Mittelpunkt aufstrebender Hohenzollernmacht" (Eduard Jacobs, Geschichte der in der Preußischen Provinz Sachsen vereinigten Gebiete, Gotha 1883, 384 f). Christian Wilhelm wurde vom Reich als Regent nicht anerkannt. Um seine Anerkennung aber doch noch zu erlangen, blieb er im böhmisch-pfälzischen Konflikt zu Beginn des -»Dreißigjährigen Krieges neutral. Vom Kaiser unbelohnt, wandte er sich dann aber am 3.2.1625 schon, wenn auch erfolglos, um Hilfe an Gustav Adolf von Schweden. Inzwischen hatte der Wiener Hof selbst seine Augen auf Magdeburg gerichtet. Um keine Vakanz eintreten zu lassen, nachdem Christian Wilhelm aus dem Erzstift geflohen war, hatte das Domkapitel am 1.2.1628 August von Sachsen zum Nachfolger postuliert. Auf Drängen des Wiener Hofes aber ernannte Papst Urban VII. am 14.10.1628 Leopold Wilhelm von Österreich zum Erzbischof von Magdeburg. Ab 1629 regiert daher die Gegenreformation in der Elbmetropole, doch 1630 kann Erzbischof Christian Wilhelm mit schwedischer Hilfe zurückkehren. Nach der Rückeroberung Magdeburgs durch Tilly 1631 und einer darauf folgenden nochmaligen Gegenreformation konnte nach dem Sieg Gustav Adolfs bei Breitenfeld im gleichen Jahr eine schwedische Regierung für die Stifte Halberstadt und Magdeburg eingesetzt werden (Christian Wilhelm von Brandenburg war in kaiserliche Gefangenschaft geraten und später zum Katholizismus übergetreten). Im Prager Frieden von 1635 wird das Erzstift Magdeburg August von Sachsen-Weißenfels auf Lebenszeit zugesprochen. Der Westfälische Friede 1648 läßt diese Anordnung in Kraft; danach sollten die Stifte Brandenburg zufallen. Das geschah 1680. 7. Das Herzogtum
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Das Domkapitel hatte 1648 sein Recht der Wahl des Erzbischofs bzw. des Administrators verloren. So bestand es als Reichsstand weiter, gab sich 1660 eine neue Verfassung, die reichtsrechtlich konservativ durchaus mit dem Fortbestehen päpstlicher Rechte rechnete. Das hinderte die Domherren aber nicht, schon im nächsten Jahr gegen das
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kanonische Recht den Sohn des Administrators zum D o m p r o p s t zu ernennen. Es w a r eine merkwürdige Doppelrolle, die das Kapitel in dem nun H e r z o g t u m genannten Erzstift spielte, typisch für die gesamte Reichsverfassung mit ihrem Festhalten an mittelalterlichen Institutionen und Traditionen im Milieu neuzeitlicher Staatlichkeit. W ä h r e n d das Preußische Landrecht die D o m h e r r e n schon nicht mehr als Mitglieder des geistlichen Standes betrachtet, besteht das Kapitel mit allen seinen Ämtern, R o b e n und G e w o h n heiten fort. Selbst die -»Stundengebete im H o h e n C h o r des D o m e s werden durch die dazu berufenen Vikare bis zur Auflösung des Kapitels gehalten. N o c h in einer Urkunde v o m 2 0 . 9 . 1 8 0 6 erklärt König Friedrich Wilhelm III. von Preußen dem M a g d e b u r g e r Domstift seinen Verzicht auf das ihm nach dem Reichsdeputationshauptschluß von 1 8 0 3 zustehende Säkularisationsrecht. Im Frieden von Tilsit 1 8 0 7 aber mußte Preußen auch den größeren Teil des Herzogtums M a g d e b u r g mit seiner H a u p t s t a d t an das von N a p o l e o n begründete Königreich Westfalen abtreten, in dem neben drei anderen auch ein D e p a r t m e n t Elbe mit der Hauptstadt M a g d e b u r g errichtet wurde. Unter dem D a t u m des 1 . 9 . 1 8 1 0 erließ König J e r o m e von Westfalen ein Dekret, das die Aufhebung aller Klöster und geistlichen Stiftungen in seinem Herrschaftsbereich verfügte. So endete die fast 900jährige Geschichte des Magdeburger Domstifts. Wenn dieses E n d e ein fast geräuschlos vollzogener Verwaltungsakt w a r , dann deswegen, weil die Kanonikate des M a g d e b u r g e r Kapitels mittlerweile auch k a u m noch etwas anderes als zusätzliche Besitztitel preußischer Adelsfamilien und zum Zeitpunkt der Säkularisation meist in der H a n d von Militärs waren. Quellen Regesta archiepiscopatus Magdeburgensis. Sammlung u. Auszüge aus Urkunden u. 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Wolfgang Ullmann Magdeburger Zenturien -»Kirchengeschichtsschreibung
Magie I. II. III. IV.
Religionsgeschichtlich Altes Testament . . . Historisch Praktisch-theologisch
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I. Religionsgeschichtlich 1. Z u m Sprachgebrauch Riten (Literatur S. 6 9 1 )
1. Zum
2 . M a g i e und Religion
3 . D a s Erfassen der Welt durch M a g i e und
Sprachgebrauch
Der Sprachgebrauch des Begriffes Magie in der Religionswissenschaft zeigt verwirrende Eigenarten. Einerseits braucht man den Begriff ganz unreflektiert für Riten, die durch ihren Vollzug und in demselben wirken. Wenn z. B. Jan Gonda im I. Bd. der Religionen Indiens bei der Besprechung der Riten mit „Magischen Riten" beginnt, dann ist klar, daß er Praktiken meint, die ex opere operato wirksam sind. Dabei geht es ebenso um Heilswie um Unheils-Riten. Sie müssen nur „richtig" vollzogen werden, und schon ist die Wirkung gewiß: Der Verlauf der Handlung selbst ist diese Wirkung. In dieser Richtung verwendet man den Begriff des magischen Vollzuges oder der Magie und bezeichnet damit also den Wirkungs-Modus des ex opere operato.
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Andererseits hat sich der Begriff der Magie mit der Behandlung der vor- und außergeschichtlichen Kulturen verbunden und bezeichnet vielfach die sog. Stammes-Religionen oder Religionen der Primitiven, wobei der Begriff des Primitiven ja heute gerade nicht als Werturteil Verwendung findet. Man betont, wie W. Dupre klar macht, mit dem Begriff des Primitiven die „Protoculture" oder das „Grundlegende" dieser Kulturen (16 ff) gegenüber den kulturellen Weiterentwicklungen. In der Deutung dieser Kulturen nimmt der Begriff der Magie verschiedenartige Bedeutungen an. Er trägt die Eigenarten, die nach dem jeweiligen Verständnis die primitiven Kulturen charakterisieren. Damit ist die Diskussion des Magie-Begriffs gegeben. Die Unterschiede im Verständnis von Magie sind tatsächlich Unterschiede in der Deutung dieser vor- und außergeschichtlichen Kulturen. Die beiden genannten Verwendungen konvergieren insofern, als viele Riten der primitiven Kulturen ex opere operato wirken. Aber diese nur den Wirkungs-Modus beachtende Charakterisierung reicht als solche nicht aus, um die ganzen Kulturen zu charakterisieren. Es kommen andere Gesichtspunkte ins Spiel, die das Bild der Magie verunsichern. Das ist zumal die sich immer deutlicher heraushebende Frage, was die Magie denn bezeichne: die Religion der Primitiven oder nur ihre Weltanschauung? Da beides in frühen Kulturen nur schwer zu trennen ist, so verstärkt sich von hier aus die Unsicherheit der Anwendung des Begriffes. 2. Magie und
Religion
Wir geben zunächst, um die Fragen an den Begriff der Magie zu zeigen, einige Meinungen zu der Frage der Magie - im Verhältnis zur Religion - , wie sie von James George Frazer, Nathan Söderblom, Sigmund Mowinckel und Adolf Ellcgard Jensen vorgetragen wurden. a) James George Frazer gehört mit Edward B. Tylor, Lucien Levy-Bruhl und Emile Dürkheim in den Basisbereich der modernen Erforschung der schriftlosen oder vorgeschichtlichen Kulturen. Er hat in seinem Werk Der goldene Zweig die Eigenart des magischen Ritus als Sympathetische Magie (15-18) gekennzeichnet, die sich als die imitative (19-52) und die Ubertragungs-Magie (53-64) unterscheiden läßt. Die imitative Magie verfährt nach dem Gesetz der Ähnlichkeit, daß man z.B. eine Gelbsucht an gelbe Vögel abgibt. Die Ubertragungs-Magie handelt nach dem Gesetz, daß Dinge (Haare oder Nägel), die einmal zu einem Menschen gehörten, auch noch aus der Ferne auf ihn wirken können. Die Ausübungen dieser sympathetischen Magie bilden die Grundlage der „prälogischen Participation", wie Levy-Bruhl die geistige Grundlage der Magie nannte. Frazer nimmt an, daß die ausübenden Magier entweder Dummköpfe waren oder ganz gerissene Betrüger, die ihre zentrale Stellung zur Machtkonzentration nutzten und in vielen Fällen eine Art Monarchie herbeiführten (65-69). Das Verhältnis der Magie zur Religion begreift Frazer so, daß er die Magie als das unmittelbare und kategorische Wirken des Menschen auf die Welt ansieht (70ff). Daß die Sonne aufgeht, daß der Regen kommt, daß eine Geburt glücklich verläuft und das Wild ausreichend sich dem Jäger stellt, dies und eben alles Lebensnotwendige bewirkt der magische Ritus. Demgegenüber ist die Religion dadurch charakterisiert, daß höhere Mächte vermitteln. Sie werden angerufen, denn von ihnen hängt alles ab. Sie müssen versöhnt werden, wenn dies oder das nicht gut geht (73 f). Es kam von der Magie zur Religion dadurch, daß besonders kluge Menschen auf die Fruchtlosigkeit der magischen Riten aufmerksam wurden, daß sie den Versuch des magischen Ritus, die Welt in Gang zu halten, als Betrug erkannten (82 f). Dadurch stellte sich die Frage der menschlichen Abhängigkeit ganz neu, und die Idee, daß es stärkere Wesen geben müsse, die die Welt lenken, stellte sich ein. Dieser Ubergang, meint Frazer, vollzog sich in langen Zeiten und wohl sehr langsam. Er war die Leistung eines Verstandes von ungewöhnlicher Schärfe, der die Magie durchschaute. Wir müssen hierzu noch einen Gedanken Frazers hinzufügen, der weit wirkte und noch Arnold Gehlen inspirierte. Frazer zieht nämlich eine Verbindung von der Magie zur
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modernen Naturwissenschaft. Beide nämlich sind von einer unverrückbaren Gesetzlichkeit in der Welt überzeugt, und beide ruhen auf der Beobachtung von unbedingtem Folgen von Ursache und Wirkung. Wenn die Kausalität heute auch andersartig aus der Beobachtung gefolgert wird, so ist ihre Unbedingtheit die eigentliche Stütze des Ganzen. In der Mitte zwischen Magie und Naturwissenschaft stehen die Religionen. In den Religionen ist der Verlauf der Natur „bis zu einem gewissen Grade dehnbar oder veränderlich" (72). Die mächtigen Wesen, die den Weltverlauf lenken, können „den Gang der Ereignisse von der Bahn ablenken, welche sie sonst einschlagen würden" (73). Diese religiöse Ansicht ist der Magie wie der Naturwissenschaft entgegen und schafft den „Prinzipienkonflikt zwischen Magie und Religion" (75). b) Nathan -^Söderblom hat in seinen Gifford-Vorlesungen Der lebendige Gott das Problem von Religion und Magie nochmals dargestellt. Wie auch in dem Werden des Gottesglaubens hängt er wie viele andere in seiner Erfassung der Magie von Frazer ab. Aber er wendet das Verhältnis von Magie und Religion anders, insofern er Magie und Religion erst auf den höheren Stufen der Religion als Gegensatz offenbar werden läßt. Zwar erläutert Söderblom die Magie als „sog. sympathetische Magie" ganz nach den Gesetzen, die Frazer erfaßte, aber der eigentliche Unterschied wird von Söderblom so charakterisiert: „In der Religion verehrt der Mensch die Gottheit. In der Magie benutzt der Mensch die Gottheit für seine eigenen Zwecke" (33). In dieser Charakterisierung wird der Unterschied von Magie und Religion also in der verschiedenen Intention des Menschen gesehen, wobei die Magie die Selbstdurchsetzung des Menschen repräsentiert. Die Magie bezeichnet den Zugang zur „Macht", mit der man Krankheiten bannen, Feinde abwehren und Bären fangen kann. Dabei hat die Machtübung ihre Grenze an der Stammes- oder Totem-Gemeinschaft, gegen die man nicht handeln darf. Wo das doch geschieht, hat die „schwarze Magie" ihren Platz. Sie bedroht in den primitiven Kulturen jeden. Sie geht über in die Zauberei. Dabei kann die Magie ebenso durch Priester wie durch Privatleute geübt werden. Zur Religion aber steht die Magie stets „im klaren Gegensatz", denn in der Magic „ist der Mensch der Herr. In der Religion ist die Gottheit Herr" (34). Damit ist die Magic als Gegensatz zur Religion erfaßt. Sie wendet „sich gegen Gott selbst . . . , sie sei ,schwarz' oder ,weiß', privat oder offiziell" (35). Söderblom repräsentiert eine verbreitete Unterscheidung von Magie und Religion. Er baut den Unterschied aus der Willensrichtung der Magie oder Religion übenden Menschen auf. Es ist nicht zu sagen, wie er diese Unterscheidung mit der Grundorientierung Frazers von der sympathetischen Magie und ihren Gesetzen verbindet. Bei Frazer löst die Religion die Magie ab. Bei Söderblom kann man das so nicht sagen. Überall wo der selbstische Wille des Menschen sich durchsetzt - auch in den Hochreligionen - , ist Magie -gleich, ob der Magier das unter Anerkennung von Geistern bzw. Göttern oder mit der bloßen Macht betreibt. c) Sigmund -*Mowinckel hat in seinem Buche Religion und Kultus dem Problem der Magie die einführenden Kapitel gewidmet. Mowinckel geht davon aus, daß Magie weder eine Vorstufe von Religion noch eine Spielart von Zauberei sei. Magie sei vielmehr eine Weltanschauung oder ein Weltbild, das am ehesten der modernen Wissenschaft zu vergleichen sei (15). In diesem Weltbild sei weder zwischen Kraft und Stoff noch zwischen persönlich und unpersönlich, im Grunde auch nicht zwischen Lebenden und Toten unterschieden (16). Vielmehr sei hier ein Denken in Ganzheiten am Werk, das man als „mystische Partizipation" charakterisieren könne. Dies zeige auch das Verhältnis von einzelnen zur Gemeinschaft. Gerade hier sei das Ganze das Eigentliche (17). Aber die Magie sei nicht etwa nur Theorie als Weltanschauung, sondern in allen Richtungen „ein praktisches Verhalten zu der Wirklichkeit" (20). Das sei mit ihrem Rechnen mit der Macht gegeben, denn alles sei von „geheimnisvollen Mächten oder Kräften" (21) wie orenda, tvakanda oder bamingja erfüllt, die eine unmittelbar erlebte Realität darstellen. Diese Macht zu beeinflussen, sich lebendig zu ihr zu verhalten, ist das Ziel der Weltbewältigung als Magie.
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Es liegt auf der Hand, daß danach Magie und Religion „Größen von verschiedener Wesensart" (27) sind. Jede Religion ist von dem Weltbild bestimmt, in dem ihre Anhänger leben. Daher sehen wir in den ältesten Religionen vieles vom magischen Weltbild geprägt. Magie kennt wie Religion die „persönlich wollende und formende Einstellung zur Wirklichkeit" (28). Aber die Religion ist insgesamt von „einem anderen" her bestimmt, während die Magie den Mensch von sich selbst aus in Bewegung sieht. Ihre Mächte sind unpersönlich. Das heißt, daß Mowinckel einerseits Magie und Religion grundsätzlich wie immanentistische Weltanschauung von einem durch Ubersinnliches erreichtes Handeln unterscheidet, andererseits aber mit jenem oft verwendeten Unterschied von persönlich - unpersönlich charakterisiert, wobei der Gott und die Macht sich gegenübertreten. Die Darlegungen Mowinckels erweisen sich dem Werke Johannes Pedersen's über Israel tief verpflichtet. Sie sind daher anderen Theorien in dieser Sache überlegen und bieten ein klares Bild von den Unterschieden von Magie und Religion. d) Eine besondere Erfassung findet die Magie in der Behandlung durch Adolf Ellegard Jensen. Wir richten uns dabei nach seiner Erörterung unter dem Titel Gibt es Zauberhandlungen? Jensens Behandlung des Problems ist dadurch ausgezeichnet, daß er die utilitaristische Deutung der magischen Riten ablehnt. Im allgemeinen werden die magischen Riten ja rein zweckorientiert gedeutet. Man will Regen, darum findet der Ritus statt. Man will Rache oder Kinder oder Jagdwild, und darum alle die Riten. Mit dieser gerade in der Ethnologie verbreiteten utilitaristischen Sicht bricht Jensen. Jensen weist daraufhin, daß die Riten in den frühen Kulturen rein zweckhaft gedeutet werden und z. B. von K.Th. Preuss darum magisch genannt werden. Aber, sagt Jensen, es bleibt „eine durch nichts bewiesene Wirklichkeit, wenn die zweckhafte" Deutung der magischen Riten als das Wesentliche an ihnen gesehen wird (281). Ein Ritus, das ist das Zentrale, wird geübt, weil er in der Urzeit so begonnen ist, wie das christliche Abendmahl gehalten wird, weil es von Jesus gehalten wurde. Zwar gibt es, wie wir wissen, Messen, die für diesen oder jenen Zweck gelesen werden. Aber diese nachträgliche Utilitarisierung erklärt und begründet nicht das Abendmahl (281)! Das heißt, Jensen leugnet nicht, daß es auch unter Primitiven das utilitaristische Verstehen der Riten gibt - wie in der Neuzeit aber er bestreitet zu Recht, daß dies die grundlegende Bedeutung sei. Jensen weist in dieser Arbeit zumal auf die rites de passage, die Reife- und Totenzeremonien, hin, wie sie vielfach in den frühen Pflanzerkulturen gehalten werden. Er macht deutlich, daß es sich bei diesen Handlungen „um die Zurückführung des menschlichen Schicksals auf eine göttliche Seinsordnung und die dramatische Darstellung des göttlichen Geschehens in der Urzeit" (283) handelt. Daß sich bei einigen Völkern an diese Riten zwcckhaftc Deutungen angehängt haben, ist als „sekundäre Zutat" deutlich zu erkennen. Es handelt sich also im Ritus um ein darstellendes oder Ausdrucks-Handeln, das seinem Charakter nach nicht primär zweckgerichtet ist! Jensen handelt weiter davon, daß „es ohne Zweifel echte magische Handlungen gibt" (284). Jensen macht in ihnen zwei Momente sichtbar: Erstens werden diese Handlungen von besonderen Menschen ausgeführt, die auf Grund bestimmter psychischer Eigenarten zu solchen Handlungen in der Lage sind. Es sind die auf der ganzen Welt bekannten, Schamanen genannten Menschen. Zweitens bedienen sich diese Schamanen der weltanschaulichen und religiösen Vorstellungen, die in ihrer Kultur gewachsen sind. Die Handlung des Schamanen stellt die Vorgänge seines „psychischen" Erlebens dramatisch dar. Die sog. Himmelsreise des Schamanen wird also nicht vorgetäuscht. Sie wird dramatisch dargestellt und ist als solche eine „bekräftigende Darstellung des geistigen Vorganges" (285). Diese alten magischen Handlungen verbinden sich „auf mannigfaltige Weise mit den religiösen Kulten" (288). Aber die magischen Handlungen stehen ihrem Wesen nach außerhalb der religiösen Sphäre im weltanschaulich immanenten Bereich. Die „echte Magie charakterisiert die psychische Energie", wie man auch heute sagen kann: „Der böse Gedanke ist eine Wirklichkeit und vermag als solcher etwas zu bewirken" (288).
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Magie I
Magie und Religion sind beide so alt wie die Menschheit. Eine kann nicht aus der anderen abgeleitet werden. Sie wirken vielfältig aufeinander, was aber sekundär ist. Was alles an Zwecken der sogen. Zauberhandlungen ins Auge gefaßt sein soll, ist weithin ein Mißverständnis von alten religiösen Handlungen oft schon bei den Primitiven selbst wie zumal bei den rationalistischen Forschern. 3. Das Erfassen
der Welt durch Magie und
Riten
Das Denken und Leben der vorgeschichtlichen oder außergeschichtlichen Völker ist allein schon durch die Tatsache des ihnen fehlenden historischen Bewußtseins von uns geschieden. Was das eigentlich bedeutet, ist von Wilhelm Groenbech an den Isländersagas in erhellender Weise dargelegt, deren Weltbild noch ganz am Sippenheil (hamingja) orientiert war. Johannes Pedersen hat eine ganz analoge Darlegung an der altisraelitischen Kultur vorgenommen. Beide zeigen die innere Sinnhaftigkeit und hohe sittliche Kraft in diesen frühen Kulturen. Zwar vollzieht sich das Denken der vor- und außergeschichtlichen Menschen in ganz eigenen Zusammenhängen. Das kann keiner leugnen, der die Sinnhaftigkeit ihrer Riten und Handlungen aufsuchte. Ein uns rationalistisch orientierten Menschen fremdes Verknüpfen und Erfassen von Welt tritt mit jenen Kulturen hervor. Wir charakterisieren es in fünffacher Weise: a) Mit Magie bezeichnen wir die Weltanschauung früher Kulturen. Diese Weltanschauung hat an sich mit Religion nichts zu tun. Deutlich stehen die Religionen neben den Weltanschauungen. Keine ist auf das andere zurückzuführen. Aber sie durchdringen sich vielfältig und leben miteinander. b) In den alten Kulturen der vor- und außergeschichtlichen Völker werden Riten vollzogen, die fast alle auf einem Urzeit-Geschehen ruhend gesehen und vollzogen werden. Der aitiologische Mythos gehört zum Ritus, der sich in seinem „wiederholenden" Charakter ex opere operato wirksam erweist. Dies gilt für die rites de passage wie für die schematischen Vollzüge. Bei den letzteren beobachtet man persönliche Begabungen telepathischer oder parapsychologischer Art am Werke. Der Vollzug dieser Riten ex opere operato begründet ihre Bezeichnung als magisch oder als Magie. c) Die Weltanschauung, die hinter den Riten steht und ihnen ihren Sinn verleiht, lebt aus einer Einheitsgewißheit, die immer wieder durch Riten dargestellt wird. Es geht um die Einheit des einzelnen mit seinem Stamm bzw. seiner Sippe, um die Einheit des Menschen mit den Tieren, Pflanzen und Gestirnen seiner „kleinen" Welt sowie um die Einheit von Lebenden und Toten. Man hat angesichts dieser Einheiten von Partizipation gesprochen. Ich habe sie wegen ihrer magisch-ritischen Grundlagen unio magica genannt. Diese Einheit verleiht Lebenssicherheit und ein hohes Maß an Weltverantwortung. d) Die magischen Riten erschließen Welt- und Selbstbewußtsein sinnvoll insofern sie die Lebensbasen der Urzeit darstellerisch ausdrücken und so Gegenwart lebbar machen. Zwei Folgerungen sind aus dieser Einsicht zu ziehen: Erstens geht eine utilitaristische Deutung an diesen Riten vorüber. Der magische Ritus dient primär nicht dem Erreichen eines Zweckes, sondern er stellt geistige Gewißheit dar. Da wir es bei den vorgeschichtlichen Menschen mit „Menschen" zu tun haben, hat sich utilitaristischer Mißbrauch immer wieder breitgemacht. Zweitens gehen viele Beobachter der magischen Riten mit der Meinung an die Deutung derselben, daß das alles ja Betrug sein müsse. Ein Verständnis der Riten als Ausdrucks-Handlung und Darstellung urzeitlicher Ereignisse und geistiger Einsichten macht diese Unterstellung suspekt, wenn es fraglos auch in jenen Kulturen Betrug und Betrüger gibt. c) Levy-Bruhl hat von dem prälogischen Denken der Primitiven geredet. Man hat gesagt, er meine, jene Menschen seien unterwertig, ja er weise ihnen eine unmenschliche Rolle zu. In diesen „Geruch" kommt jeder, der sich um die Eigenart des Denkens in den außergeschichtlichen Kulturen bemüht. Auch Levy-Bruhl war bewußt, wie hoch die geistige Leistung dieser Völker auf Grund ihrer klaren Beobachtungsgabe anzusetzen sei, durch die sie ohne technische Hilfen ihr Leben bewältigen. Es geht nicht um Abwertung
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M a g i e II
oder Herabsetzung, wenn man feststellt, d a ß das Denken dieser Völker Welt und Selbst andersartig verknüpft, als wir es mit unserer R a t i o tun. W i r brauchen ja nur an die ganze Vorzeichenpraxis oder an die Jagdriten zu denken. J e n e Kulturen, die vor oder jenseits historischer Bewußtheit leben, überformen ihre Weltanschauung von jenen Einheiten her, die sie prägen: Ein fachmännisch gut gearbeitetes seetüchtiges B o o t kann erst benutzt werden, wenn es durch den Ritus in den S t a m m aufgenommen wurde. Uns ist dieses Denken fremd, jenen Menschen ist es einzig sinnvoll, denn der Ritus g e w ä h r t Leben, indem er den Grund seiner Möglichkeit im Fest - Opferfest oder Tanzfest - darstellt. Die Eigenart dieser Verknüpfungen ist in der Deutung dieser Kulturen nachzuvollzichen. Dann erschließen sie sich uns als ein in sich sinnvoll geschlossenes, kosmisch offenes und sittlich hochstehendes menschliches Denken. Literatur Zitierte Literatur: Wilhelm Dupre, Religion in Primitive Cultures, Paris 1975 (Religion and Reason 9). - James George Frazer, Der goldene Zweig, Leipzig 1928. - Jan Gonda, Die Religionen Indiens, Stuttgart, I 1960. - Wilhelm Groenbech, Kultur u. Religion der Germanen, Hamburg, I 1937, II 1939. - Adolf Ellegard Jensen, Gibt es Zauberhandlungen?: Z E 7 5 (1950) 3 - 1 2 (Zit. Neudr.: Magie u. Religion, Darmstadt 1978, 2 7 9 - 2 9 5 ) . - Sigmund Mowinckel, Religion u. Kultus, Göttingen 1953. - Johannes Pedersen, Israel, its Life and Culture, London, I u. II. T. 1926, III u. IV. T. 1940. - Carl Heinz Ratschow, Magie u. Religion, Gütersloh 2 1958. - Nathan Söderblom, Der lebendige Gott im Zeugnis der Religionsgesch., München 1942. Weiterführende Literatur: Alfred Berthold, Das Wesen der Magie, 1927 (NGWG.PH). - Karl Beth, Religion u. Magie bei den Naturvölkern, Leipzig 1914. - Georg Buschau, Uber Medizinzauber u. Heilkunst im Leben der Völker, Berlin 1941. - Ernst Cassirer, Phil, der symbolischen Formen, II Das mythische Denken, Darmstadt '1973. - Carl Clemen, Wesen u. Ursprung der Magie: ARPS 2/3 (1921) 1 0 8 - 1 3 5 . - Theodor Wilhelm Danzel, Die psychologische Bedeutung magischer Bräuche: PsF 2 (1922) 61 - 6 4 . - Ludwig Deubner, Magie u. Religion, Freiburg 1921. - Mircea Eliade, Kosmogonische Mythen u. magische Heilungen: Paid 6 (1954/1958) 1 9 4 - 204. - Ders., Schamanismus u. archaische Ekstasetechnik, Zürich 1957. - Hans Gallwitz, Religion u. Magie der Menschen in der Altsteinzeit, Berlin 1960. - Jean Gebser, Ursprung u. Gegenwart, Stuttgart '1961. - Arnold Gehlen, Urmensch u. Spätkultur, Frankfurt 2 1964. - Friedrich Heiler, Erscheinungsformen u. Wesen der Religion,Stuttgart 1 9 6 1 . - J a m e s N.B. Hewitt, Orenda and a Definition of Religion, 1902 (AmA IV). - Ake Hultkrantz (Hg.), Primitiv religion och magi, Stockholm 1955. - Adolf Ellegard Jensen, Magie: StGen 1 (1948) 2 2 6 - 2 3 6 . - Andrew Lang, The Making of Religion, London 1898. - Ders., Magic and Religion, London 1971. - Gerardus van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Tübingen 1933 x 1956 = 1977. - Ders., Sakramentales Denken, Kassel 1959. - Alfred Lehmann, Aberglaube u. Zauberei v. den ältesten Zeiten an bis in die Gegenwart, Stuttgart 2 1908. - Lucien Levy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, Leipzig 1926. - Claude Levy-Strauss, Strukturale Anthropologie, Frankfurt 1967. - Friedrich Maack, Die hl. Mathesis. Beitr. zur Magie des Raumes u. der Zahl, Leipzig 1924. -Bronislaw Malinowski, Magic, Science and Religion, Boston 1956. - Werner Müller, Glauben u. Denken der Sioux. Zur Gestalt archaischer Weltbilder, Berlin M970. - Ivar Paulsen, Probleme der ethnologischen Religionswiss. 1966 (AcocLE). - Karl Preisendanz, Papyri graecae magicae, Berlin 1928 2 1974 (hg. v. A. Henrichs). - Alfred Reginald Radcliffe-Brown, Structure and Function in Primitive Society, Glencoe 1952. - Ernst Schlesier, Die melanesischen Geheimkulte, Göttingen 1958. - P. Wilhelm Schmidt, Der Ursprung der Gottesidee, 12 Bde., Münster 1926/49. - Kurt Seligmann, Das Weltreich der Magie, Stuttgart 1952. - Gerd Sieg, Die Funktion der magischen Gegenstände u. anderer Zaubermotive in einigen Isländersagas, Leipzig 1958. — Ludwig Staudenmaier, Die Magie als experimentelle Naturwiss., Leipzig 1912. - Wilhelm Wundt, Völkerpsychologie, I . T . , Leipzig 1910. C a r l Heinz R a t s c h o w
II. Altes Testament 1. Vorkommen
2. Klassifizierung
3. Religionsgeschichtliche Einordnung
(Literatur S. 695)
1. Vorkommen Im Vergleich zur M a n t i k ( - » P r o p h e t i e ) spielt die M a g i e im Alten Testament eine deutlich geringere Rolle, dennoch w a r sie ein unleugbarer Bestandteil der Religion Is-
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Magie II
raels. Das alte Israel kannte Magier und Magie nicht nur als hervorstechendes Merkmal der Nachbarreligionen in Mesopotamien ('assäptm/'aspTrt Dan 1,20; 2,2.10 u.ö. aus bab. äsipu „Beschwörungspriester"; m'kassep Dan 2,2 vgl. bab. kassapu „Zauberer"; söhar Jes 47,15 [cj.] aus bab. sähiru „Hexer"; vgl. Jes 47,9.12; Nah 3,4) und Ägypten (hartom Ex 7,11.22; 8,3.14f; 9,11 „Wahrsagepriester, Zauberer" aus äg. hrj-hb.(t) hrj-tp „Oberster Vorlesepriester" bzw. demotisch hrj-tb(i) „Oberer", der in Ägypten tatsächlich Träger der Magie war; übertragen auf Babylonien Dan 1,20; 2,2 u.ö.), sondern auch im eigenen Bereich in erstaunlicher Vielfalt: Es gab Zauberinnen (m'kass'pä Ex 22,17) und Zauberer (m'kassep Dtn 18,10; Mal 3,5; kassäp Jer 27,9), Beschwörer (höber hcebcer „Binder [magischer] Bindung" Dtn 18,11; Ps 58,6; Sir 12,13), Schlangenbeschwörer (m'lah"ssim [vgl. akk. mulahhisu] „Flüsternde, Zischelnde" Ps 58,6; vgl. Jes 3,3; Jer 8,17; in Koh 10,11 ba'al läsöti „Herr der Zunge" genannt) und „Kundige geheimer Künste" (h"kam h'rästm Jes 3,3). Als Träger herausragender magischer Fähigkeiten galten Gottesmänner ('is hä'xlohlm) wie Elia (I Reg 17,18; II Reg 1,9ff) und Elisa (II Reg 4,7ff; 5,8ff; 6,6ff; 13,19) und möglicherweise bestimmte Prophetinnen (Ez 13,17-23). Wohl wird die T h e s e von S. M o w i n c k e l , Psalmcnstudien I, weithin abgelehnt, d a ß mit den po' "le „ U n h e i l s t ä t e r " in den Psalmen Z a u b e r e r gemeint sind (vgl. K . H . Bernhardt 1 5 7 - 1 5 9 ) , doch hat zumindest in einigen Klagen des einzelnen die Auseinandersetzung zwischen dem Beter und seinen Feinden eine magische Dimension (vgl. Ps 4 1 , 7 f; 101,3 und die Verwünschungen der Feinde Ps 3 5 , 2 6 ; 4 0 , 1 5 - 1 7 ; 5 8 , 8 f ; 7 1 , 3 u . ö . ) . Sicherer ist die magische K o n n o t a t i o n der Bezeichnung 'öker „ S c h ä d i g e r " : Elia, der durch einen Schwurzauber den Regen über J a h r e verhindert hat (I R e g 17,1), wird von seinen Gegnern I R e g 18,17 mit dem Titel 'öker jtsrä'el „ B e h e x e r I s r a e l s " belegt (vgl. für Achan I C h r 2 , 7 ; dazu J d c 11,35; Prov 11,17; 15,27). Es g a b in Israel somit auch Schadenszauber („schwarze M a g i e " ; vgl. II R e g 2,23 - 25).
'ätveen
Die Belege, die vom 9. bis 2. Jh. v.Chr. gestreut sind, machen es wahrscheinlich, daß über die ganze alttcstamcntliche Periode hin in Israel Magie praktiziert wurde, wie dies auch noch im frühen Judentum zu erkennen ist (vgl. L. Blau). 2.
Klassifizierung
Die im Alten Testament erhaltenen magischcn Handlungen und Rituale lassen sich den beiden religionsgeschichtlich breit belegten Haupttypen der Magie zuordnen: der Ähnlichkcitsmagie (imitative, homöopathische bzw. sympathetische Magie) und der Kontaktmagie (kontagiöse oder Übertragungs-Magie; zu dieser Klassifizierung s.o. S. 687). In vielen Ritualen gehören wirkmächtige Handlung und wirkmächtiges Wort zusammen. 2.1. Klare Beispiele für Ähnlichkeitsmagie finden wir in dem Analogiezauber, den Jakob unternimmt, wenn er den Herden gestreift abgeschälte Stäbe in die Tränkrinnen stellt, damit diese, deren ansichtig, nur noch gestreifte Lämmer werfen (Gen 3 0 , 3 7 - 3 9 ) , oder wenn Elisa ein Holz ins Wasser wirft, um die versunkene Axt schwimmend zu machen (II Reg 6,6). Ähnlich sind wohl auch die Entgiftungen durch Salz oder Mehl zu bewerten (II Reg 2 , 1 9 - 2 2 ; 4,40f). Eine Form von Analogiezauber liegt auch in den magischen Kriegsritualen vor, wenn Josua während des ganzen Kampfes gegen Ai das Sichelschwert über die Stadt ausgestreckt (Jos 8,16.26), Mose während des Kampfes gegen Amalek die Hände ständig erhoben hält (Ex 17,10f) oder Elisa in einem regelrechten Ritual den König Joasch einen Pfeil nach Osten abschießen und anschließend weitere Pfeile auf den Boden schlagen läßt, um den Sieg über Aram über seinen Tod hinaus zu beschwören (II Reg 13,15-19; zum möglichen ägyptischen Hintergrund vgl. O. Keel). Die Grenze zwischen magischen Handlungen und prophetischen Symbolhandlungen (vgl. etwa I Reg 22,11; Jer 5 1 , 5 9 - 6 4 ) ist fließend (vgl. G. Fohrer, Prophetie 33 f). Nicht ganz so eindeutig ist die Z u o r d n u n g des Regenzaubers Elias (I R e g 18,41 - 4 5 ) zur Ähnlichkeitsmagie: Die Analogie scheint hier in dem 7maligen Aufsteigen des Dieners und dem Aufsteigen der Wolke aus dem M e e r zu liegen {'älä v. 4 3 . 4 4 ) , möglicherweise auch zwischen der Kauerhaltung Elias und der F o r m der W o l k e „wie eine M ä n n e r f a u s t " , wobei das Sich-Niederbücken a u f den
M a g i e II
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Erdboden vielleicht im Sinne der Kontaktmagie (vgl. gähar V. 42 mit II Reg 4,34 f) den Regen auf das Land zwingen soll (vgl. auch I Sam 12,16—18). 2 . 2 . K l a r e Beispiele für K o n t a k t m a g i e sind die von Elia und Elisa berichteten Heilungsrituale in I R e g 1 7 , 1 9 - 2 3 ; II R e g 4 , 3 3 - 3 7 . D e r G o t t e s m a n n legt sich zwei- bzw. d r e i m a l auf das t o t e Kind und überträgt so seine L e b e n s k r a f t a u f den toten K ö r p e r . Typisch dabei ist die H e i m l i c h k e i t des Vorgangs und die W i e d e r h o u n g des K o n t a k t e s im S i n n e der magischen A d d i t i o n . Ebenfalls in den Bereich der K o n t a k t m a g i e g e h ö r t das W u n d e r w i r k e n durch magisch w i r k s a m e G e g e n s t ä n d e , so e t w a durch die Kleider Elias (II R e g 2 , 8 . 1 4 ) , den S t a b M o s e s ( E x 1 7 , 6 f u . ö . ) , A a r o n s (Ex 7 , 1 9 u . ö . ) o d e r Elisas (II R e g 4 , 2 9 - 3 2 ) . Einen breiten R a u m n e h m e n die Segens- und F l u c h h a n d l u n g e n ein, die das wirkm ä c h t i g e W o r t begleiten ( - » S e g e n und F l u c h ) : z. B . H a n d a u f l e g u n g , U m a r m u n g und K u ß b e i m Segen (Gen 2 7 , 2 1 ff; 4 8 , 1 0 f f ) oder Steinewerfen b e i m F l u c h (II S a m 1 6 , 5 - 1 4 ; vgl. das T r i n k e n des „ W a s s e r s der B i t t e r k e i t " , in das die T i n t e der Selbstverfluchung gemischt ist, im O r d a l N u m 5 , 2 3 f f ) . E b e n f a l l s hierher g e h ö r t der L i e b e s z a u b e r (Gen 3 0 , 1 4 - 1 9 ) und m a n n i g f a c h e a p o t r o päische R i t e n und G e s t e n : S o die S c h l a n g e n b e s c h w ö r u n g ( J e r 8 , 1 7 ; Ps 5 8 , 5 f; K o h 1 0 , 1 1 ; Sir 12,13; vgl. N u m 2 1 , 8 f), das Bestreichen der T ü r b a l k e n mit Blut im P a s s a - R i t u a l zur A b w e h r des Verderbers (Ex 1 2 , 2 2 f) o d e r das Schwingen der H a n d unter Anrufung des N a m e n s G o t t e s zur Vertreibung des Aussatzes (II R e g 5 , 1 1 ; vgl. Sir 1 2 , 1 8 ) . Auch die Beschneidung scheint ursprünglich ein a p o t r o p ä i s c h e r R i t u s zur D ä m o n e n a b w e h r im M a n n b a r k e i t s r i t u a l gewesen zu sein (Ex 4 , 2 4 - 2 6 ) . D u r c h vielfältige Gesten suchte m a n sich im Alltag vor der „ I n f e k t i o n " mit Unheilskräften zu schützen, die m a n in v o m Unglück getroffenen M e n s c h e n und O r t e n a n w e s e n d sah: so durch Schwingen (nüp hi.) der H a n d (Sir 1 2 , 1 8 ) , d u r c h Schütteln (nüc hi.) von H a n d (Zeph 2 , 1 5 ) und K o p f ( T h r 2 , 1 5 ; Ps 1 0 9 , 2 3 ) , d u r c h K l a t s c h e n (s/säpak) in die H ä n d e (Hi 2 7 , 2 3 ; T h r 2 , 1 5 ) und durch Pfeifen bzw. Z i s c h e n (säraq, seräqä J e r 18,16; 19,8 u . ö . , Z e p h 2 , 1 5 ; T h r 2 , 1 5 ; Hi 2 7 , 2 3 ) . An a p o t r o p ä i s c h e n G e g e n s t ä n d e n begegnen z . B . A m u l e t t e ( l a h " s t m J e s 3 , 2 0 ; w o h l auch die „ M ö n d c h e n " R i 8 , 2 1 . 2 6 ; J e s 3 , 1 8 ) und vielleicht die Q u a s t e n an den Zipfeln des O b e r g e w a n d e s (Dtn 2 2 , 1 2 ) . Neben den bekannten Skarabäen, „Möndchen" und Knochenstäben (s. K. Galling, Amulett 10 f) wurden jüngst zwei Amulette aus gerolltem Silberblech aus dem 7. Jh. in Ketef Hinnom südlich von Jerusalem gefunden (s. G. Barkey); Silber hat schon an sich eine katharische Wirkung, sie wird durch die Aufschrift des (z.T. verkürzten) aarontischen Segens (Num 6 , 2 4 - 2 6 ; vgl. Ps 67,2) verstärkt. D i e K o n t a k t m a g i e h a t t e eine g r o ß e Bedeutung in den priesterlichen Reinheitsvorstellungen, denen eine dingliche Auffassung von Unreinheit und Sünde zugrundeliegt. E n t sprechend praktizierte die Priesterschaft magische E l i m i n a t i o n s r i t e n : So wurde bei der R e i n i g u n g von „ a u s s ä t z i g e n " M e n s c h e n und H ä u s e r n neben Reinigungs- und Sühnehandlungen die Unreinheit auf einen Vogel appliziert, d a m i t dieser sie aus der Stadt heraustrage (Lev 1 4 , 4 - 7 . 4 9 - 5 3 ) . Z u r magischen E l i m i n a t i o n g e h ö r t a u c h das „ S ü n d e n b o c k " - R i t u a l a m Versöhnungstag: D i e Sünde Israels w u r d e v o m H o h e n p r i e s t e r durch A u f s t e m m e n beider H ä n d e a u f den für den D ä m o n Asasel a u s g e w ä h l t e n B o c k übertragen (Lev 1 6 , 7 - 1 0 . 2 1 ) und mit ihm in die W ü s t e vertrieben (V. 2 2 ; vgl. dazu und den Parallelen aus G r i e c h e n l a n d , Kleinasien und vielleicht auch aus Ugarit [Die keilalphabetischen T e x t e v. Ugarit, h g . v . M . Dietrich u. a., I 1 9 7 6 [ A O A T 2 6 , 1 2 7 , 2 9 - 3 1 ] ; B . J a n o w s k y 211-215). H . M . Kümmel (311 ff) hat mit Recht darauf hingewiesen, daß hier ein reiner Eliminationsritus vorliegt, wie er auch in hethitischen Pestritualen begegnet (z. B. K U B I X 32). Es handelt sich nicht um eine magische Substitution, wie sie rein in den assyrischen und — mit Eliminationsvorstellungen verbunden - in hethitischen Ersatzkönigsritualen belegt ist ( 2 9 0 - 3 0 9 ) . Der Sündenbock wird weder mit Israel identifiziert, noch erleidet er stellvertretend das ihm bestimmte Unheil. Ein magisches Substitutionsritual zu Heilungszwecken ist dagegen vielleicht in I Sam 1 9 , 1 1 - 1 7
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Magie II
angedeutet (s. H. Rouillard/J. Tropper 346 ff). Michal legt die Figur eines Familiengottes (t'räpTm) auf das Bett Davids, bekleidet ihn mit (seinen) Kleidern und imitiert seinen Haarschopf mit einem Geflecht von Ziegenhaaren, um den Krankheitsdämon von David auf das Substitut abzulenken. Unsicher ist, ob in Dtn 2 1 , 1 - 9 eine magische Substitution vorliegt, da eine körperliche Schuldübertragung auf die getötete Kuh fehlt (vgl. B. Janowski 163-166).
3. Religionsgeschichtliche
Einordnung
Eine angemessene religionsgeschichtliche Einordnung und theologische Bewertung der Magie im Alten Testament stehen noch aus. Es fehlt nicht nur eine detaillierte Untersuchung, sondern viele pauschale Äußerungen zum Thema sind sowohl durch Verwendung fragwürdiger religionsgeschichtlicher Entwicklungsmodelle, die die Magie als primitive Vorstufe zur Religion ansehen, als auch durch moderne rationalistische Vorbehalte gegen die magische Weltsicht geprägt (s.o. S.690f). Von daher werden die magischen Elemente der Religion Israels heruntergespielt und die wenigen (!) Verbote, die es im Alten Testament gegen magische Praktiken gibt (Ex 22,17; Dtn 18,10f; Ex 20,7 = Dtn 5,11), als generelle Ächtung der Magie im Alten Testament interpretiert (vgl. z.B. K. Galling, Magie, 601; G. Fohrer, Zauberei, 2204). Doch daß eine generelle Ächtung nicht gemeint sein kann, zeigen die vielen Belege, die eindeutig magische Handlungen und Worte unkritisiert schildern oder voraussetzen. So richten sich die Verbote Ex 22,17; Dtn 18,10f und die Polemiken Mi 5,11; Jer 27,9; Mal 3,5; II Chr 33,6 sehr wahrscheinlich nur gegen ganz bestimmte magische Praktiken, am ehesten gegen die „schwarze Magie" (vgl. E. Gerstenberger 146), da die hier verwendete Wurzel käsap auch im Babylonischen ausschließlich den Schadenszauber bezeichnet (vgl. M . - L . Thomsen 16 f). In diesem Sinne muß dann auch das in Dtn 18,11 parallel zu käsap verbotene magische Binden (höber hxbeer) verstanden werden, auch wenn es Ps 58,6; Sir 12,13 unkritisiert auftaucht. Die Wurzeln ksp und bbr stehen auch in der ugaritischen Beschwörung Ras Ibn Hani 78/20, Z. 9f nebeneinander und bezeichnen hier beide „black magic practioners" (Y. Avishur 22). Für eine solche Deutung könnte auch das Dekaloggebot sprechen, den Namen Jahwes nicht zum Zwecke des Unheils (lassäw') zu verwenden (Ex 20,7), was zwar nicht auf den Schadenszaubcr beschränkt ist, ihn aber doch - man denke nur an Fluch- und Zaubersprüche unter Verwendung des Jahwenamens (II Reg 2,23-25; 1 Reg 17,1) einschließt. Auch in Babylonien (vgl. Codex Hammurapi §2, Texte aus der Umwelt des AT, hg.v. O . Kaiser, 19821/1,44 f [im folgenden TU AT]), Assyrien (vgl. mittelassyr. Gesetz § 47.TUAT 1/1,90; M.-L. Thomsen 26 - 29) und bei den Hethitern (vgl. hethit. Gesetz § 4 4 b . l 7 0 ; T U A T 1/1, 104.108; V. Haas 239) unterlag der Schadenszauber scharfen königlichen Verboten, ohne daß damit die Magic insgesamt abgelehnt wurde.
Religion und Magie stehen im Alten Testament nicht konträr zueinander, sondern ergänzen sich gegenseitig (vgl. E. Gerstenberger 74f). Neben der magischen Handlung können Gebete stehen (I Reg 17,20.21 bf; II Reg 4,33), das wirkmächtige Wort kann durch Jahwe selbst (I Reg 22,11) oder in seinem Namen gesprochen sein (II Reg 5,11; 13,17). Wahrscheinlich waren wie in Babylonien die Klagegebete des einzelnen mit einer Zeremonie verbunden, die kultische und magische Handlungen enthielt (vgl. E. Gerstenberger 134ff). Die Beschwörungstexte der Umwelt sprechen dagegen, dies als eine nachträgliche religiöse Abwandlung der Magie zu bewerten. Das magische Ritual dient der Unterstützung des Gebets. Es wirkt wie dieses nicht automatisch (ex opere operato), sondern ist in seiner Wirkung auf göttliche Hilfe angewiesen und kann - genauso wie das Gebet - auch scheitern (I Reg 22,11; II Reg 4,29-32). Wohl ist richtig, daß die Magie in der Religion Israels — sofern die Quellenlage nicht ein verzerrtes Bild liefert - im Vergleich zu der babylonisch-assyrischen, hethitischen, ägyptischen und ugaritischen Religion eine deutlich geringere Rolle spielte (eine gute Auswahl von Beschwörungstexten aus der Umwelt bieten TUAT II/l u. 2,1986/87), aber man kann sie hier weder als Reste einer altertümlichen, weitgehend überwundenen Religionsstufe erklären, noch auf die Volksreligion beschränken (vgl. etwa G. Fohrer, Geschichte 19f.l48-150). Die stark magisch geprägten Priesterrituale (Lev 14; 16) sind erst in der frühnachexilischen Zeit so fixiert worden und bezeugen die Magie als Bestandteil der offiziellen Jahwereligion.
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M a g i e III
Die geringere Bedeutung der M a g i e in Israel im Vergleich zu seinen N a c h b a r n hat wahrscheinlich vor allem zwei Gründe: Erstens ist es in Israel nicht zu einer vergleichbaren Institutionalisierung und quasi wissenschaftlichen Ausgestaltung der magischen R i tualtechnik g e k o m m e n , wie dies etwa in Babylon der Fall w a r (spezialisierter Berufsstand des Beschwörungspriesters [äsipu], spezielle „ F a c h l i t e r a t u r " in den Serien Surpu, M a q l ü , N a m b u r b i u . a . ) . Dies hängt erst einmal mit einem geringeren Zivilisationsniveau Israels zusammen, das auch in anderen Bereichen nachweisbar ist (z. B. bei der Institutionalisierung der Weisheit). Wohl hat auch in Israel die M a g i e etwas mit Weisheit zu tun (vgl. häkam Jes 3 , 3 ; Ps 5 8 , 6 ) , aber es g a b hier wohl keine spezielle Ausbildung zum M a g i e r ; die meisten überlieferten magischen Handlungen werden im Alten Testament außergewöhnlich magisch begabten „ N a t u r t a l e n t e n " zugeschrieben (Elia, Elisa). Hinzu k o m m t ein zweiter, speziell religionsgeschichtlicher Grund: D u r c h die einflußreiche, weisheitlich geprägte deuteronomische und deuteronomistische Laienbewegung wurde die Jahwereligion im 7. und 6. J h . stark personal und ethisch d u r c h f o r m t und erhielt z. T. ein geradezu aufklärerisch rationales Gepräge. Dies entzog der magischen Weltsicht innerhalb der Religion Israels teilweise ihren Boden. Literatur Gunnel André, Art. käsap: T W AT 4 (1984) 3 7 5 - 3 8 1 . - Hartwig Altenmüller, Art. Magische Lit.: LÄ 3 (1980) 1 1 5 1 - 1 1 6 2 . - Yishaq Avishur, The Ghost-F.xpelling Incantation from Ugarit (Ras Ibn Hani 78/20): UF 13 (1981) 13 - 25. - Gabriel Barkey, Ketef Hinnom. A Treasure Facing Jerusalem's Walls, Israel Museum Catalog Nr. 274, Jerusalem 1986. - W. Boyd Barrick, Elisha and the Magic Bow. A Note on 2 Kings XIII 1 5 - 1 7 : V T 35 (1985) 3 5 5 - 3 6 3 . - Karl-Heinz Bernhardt, Art. 'âwxn: T W A T 1 (1973) 1 5 1 - 1 5 9 . - Ludwig Blau, Das altjüd. Zauberwesen, Budapest 1897/98 = Graz 1 9 7 4 . - J e a n Bottéro, Art. Magie. A. In Mesopotamien: RLA 7 ( 1 9 8 7 - 8 9 ) 2 0 0 - 2 3 4 . - H e n r i Cazelles, Art. häbar: T W A T 2 (1977) 7 2 1 - 7 2 6 . - Jean F. Borghouts, Art. Magie: LÄ 3 (1980) 1 1 3 7 - 1 1 5 1 . - George Contenau, La magie chez les Assyriens et les Babyloniens, Paris 1947. - H. J . Elhorst, Eine verkannte Zauberhandlung (Dtn 2 1 , 1 - 1 9 ) : ZAW 39 (1921) 5 8 - 6 7 . - Otto Eißfeldt, Jahwe-Name u. Zauberwesen. Ein Beitr. zur Frage „Religion u. Magie": Z M R 42 (1927) 1 6 1 - 1 8 6 = ders., KS, Tübingen, I 1962, 1 5 0 - 1 7 1 . - Georg Fohrer, Prophetie u. Magie: Z A W 78 (1966) 25 - 4 7 = ders., Stud, zur alt. Prophetie: 1949-1965, 1967 (BZAW 99), 2 4 2 - 2 6 4 . - Ders., Gesch. der israelit. Religion, Berlin 1969. - Ders., Art. Zauberei: BHH 3 (1966) 2204f. - Kurt Galling, Art. Amulett: BRL 2 (1977) 1 0 - 1 1 . - Ders., Art. Magie (7. im AT): R G G 1 4 (1960) 601. - Erhard S. Gerstenberger, Der bittende Mensch. Bittritual u. Klagelied des einzelnen im AT, 1980 ( W M A N T 51). - Volkert Haas, Art. Magie u. Zauberei. B. Bei den Hethitern: RLA 7 ( 1 9 8 7 - 8 9 ) 234 - 250. - Bernd Janowski, Sühne als Heilsgeschehen. Stud, zur Sühnetheol. der Priesterschrift u. zur Wurzel KPR im Alten Orient u. im AT, 1982 ( W M A N T 55). - Morris Jastrow, Die Religion Babyloniens u. Assyriens, Giessen, I 1905. Othmar Keel, Wirkmächtige Siegeszeichen im AT. Ikonographische Stud, zu Jos 8,16.26; Ex 1 7 , 8 - 1 3 ; 2. Kön 1 3 , 1 4 - 1 8 und 1. Kön 22,11, 1974 (OBO 5). - Otto Kaiser (Hg.), Texte aus der Umwelt des AT, II Rituale u. Beschwörungen I/II, Gütersloh 1987/88 (TUAT II/2 u. 3). - Hans Martin Kümmel, Ersatzkönig u. Sündenbock: ZAW 80 (1968) 2 9 8 - 3 1 8 . - Sigmund Mowinckel, 'Awän u. die individuellen Klagepsalmen. Psalmenstudien I: SNVAO (1921) = Amsterdam 1966, 1 - 1 8 1 . Ders., Religion u. Kultus, Göttingen 1953. - Nicolaj Nicolsky, Spuren magischer Formeln in den Psalmen, 1927 (BZAW 46).-Hedwige Rouillard/Josef Tropper, TRPYM, rituels deguérisonet culte des ancêtres d'après 1 Sam X I X 11 - 1 7 et les textes parallèles d'Assur et Nuzi: V T 37 (1987) 3 4 0 - 3 6 1 . -Marie-Louise Thomsen, Zauberdiagnose u. Schwarze Magie in Mesopotamien, Kopenhagen 1987 (Carsten Niehbur Institute of Ancient Near Eastern Studies Publications 2). Rainer Albertz III. Historisch 1. Zum Begriff 1. Zum
2. Altertum
3. Mittelalter und Neuzeit
(Literatur S.700)
Begriff
Das W o r t , M a g i e ' leitet sich v o m lat. magia (griech. fiayeia, iran.-altpers. magu[s]) her, ist verwandt mit dem griech. iû\xoç, fitj/av/j, got. mahts, dt. Macht, und bedeutet im idg. Verbalstamm *mägh ,können, vermögen, helfen*. Das lat. Substantiv magus (aus griech. fiâyoç) bezeichnete ursprünglich das Mitglied
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Magie III
einer medischen Priesterkaste, später dann ,Traumdeuter', Zauberer und pejorativ wertend .Zauberer, Betrüger'. In entsprechender Weise meinte ,Magie' ursprünglich die Lehre der ,Magier', darauf dann die Kunst, sich außerordentliche Kräfte und Macht anzueignen, abwertend sodann betrügerische Zauberkunst. Mit diesen, wortgeschichtlich zu entfaltenden Bedeutungen sind drei Aspekte der abendländischen Begriffsgeschichte ,Magie' benannt: 1.,Magie' als Wissenschaft und Weisheit von den göttlichen Kräften in der Natur und Schöpfung (magia naturalis), 2. .Magie' als die praktische Nutzung dieses Wissens in Divination, Orakel und Zauberei, 3. Betrügerische Zauberei; eine Qualifizierung, an die die christliche Dämonisierung anknüpfen konnte. 2.
Altertum
In der Aurora philosophorum schrieb -»Paracelsus: „Viele haben sich understanden, die allegeheimste Weisheit der magorum, der Chaldäer, Perser und Ägypter nit allein zu ergründen, sondern auch solche in usum und offenbaren Gebrauch zu transferieren, welches aber bisher noch nicht vollzogen wurde" (Werke, hg. v. W.-E. Peuckert, Darmstadt, V 1976, 9) und bezeugt die theoretische Erörterung und praktische Beschäftigung des Abendlandes mit einem Wissen, das den Magiern zugeschrieben wurde. Cicero kannte die magi als ein „genus sapientium et doctorum (...) in Persis" (De div.I, 23 [46].41 [90 f]; De nat. deorum 1,16 [43]; De leg. II, 10 [26]). Das Alte Testament berichtet von chaldäischen Wahrsagern und Sterndeutern (Jes 44,25; 47,9.12; Jer 27,9; Ez 13,20f; Dan 1,20; 2,2.10.27; 4,4; 5,11), und auch die .Heiligen Drei Könige'des Neuen Testaments sind ,Magier' und Weise aus dem Morgenland. Griechische Philosophen wie Empedokles (5. Jh. v. Chr.), Demokrit (5./4. Jh. v. Chr.), Pythagoras (6. Jh. v. Chr.), Protagoras (5. Jh. v.Chr.) sollen die Lehre der persischen Magier studiert haben, -»Aristoteles kennzeichnet sie als den Versuch, alles Seiende aus einem obersten Prinzip abzuleiten. Als Autoritäten sind die ,Magier' insbesondere dem spätantiken -»Neuplatonismus bekannt. Iamblichos (etwa 2 7 5 - 3 3 0 n.Chr.) will die „angestammten Dogmen der Assyrer", d.h. ihre Lehre „genau und wahrheitsgemäß mitteilen" (Über die Geheimlehren, hg. v. Th. Hopfner, Bibliotheca Hermetica, Leipzig 2 1922, Neudr. Schwarzenburg 1978), -»Philo charakterisiert sie als eine „Wissenschaft des Schauens" (öitxiKrj ¿niazijfir;), „welche die Werke der Natur durch deutlichere Vorstellungen erhellt" (Philo v. Alexandreia, De spec. leg. III, 100). Folgenreich für die Entwicklung des abendländischen Magiebegriffes sind die dämonologischen und kosmologischen Überlegungen des Neuplatonismus geworden. Sie gründen in der Annahme eines hierarchisch geordneten Kosmos, in dem -»Plotin zufolge aus einem obersten Prinzip durch zeitlose Emanation das Noetische (Intellekt, Geist), aus dem Noetischen das Psychische, aus dem Psychischen der Stoff hervorgehe. Später wurden die Stufen der Emanation als Kräfte aufgefaßt, die unter dem Einfluß des spätantiken Engel- und Dämonenglaubens in menschlicher Gestalt vorgestellt erscheinen. Der Stufenkosmos des Iamblichos bezeugt diesen Prozeß. In ihm wird die neuplatonische Kosmologie mit Hilfe des spätantiken Synkretismus im Sinne des griechisch-orientalischen Polytheismus theologisiert, mit Elementen pythagoreischer Zahlenspekulation gestützt und um magische Züge erweitert. Die Emanationen des „Oberen" werden nun dem „Unteren" durch Zwischenwesen zugeleitet. Je weiter „oben" diese vermittelnden Instanzen angesiedelt sind, desto mehr nähern sie sich dem Charakter von Göttern und -»Dämonen, je weiter „unten", desto mehr dem des Psychisch-Spirituellen. Das Reich der Zwischenwesen wird sodann nach dem Prinzip kosmischer Sympathie in Reihen (OEipai) geordnet. Bis ins Detail ausgearbeitet worden ist dieses System von - * Proclus (Timaios-Komm. IV, hg. v. E. Diehl, 1903-1906, Neudr. 1974): In hierarchisch geordneten „Ketten" verschiedener Elemente des Kosmos wirkt die Wesenheit und Kraft eines Sterngottes von „oben", sich abschwächend, bis „unten". Die neuplatonische kosmologische Theologie hat auf dem Wege ihrer geschichtlichen Ausbildung und Kritik einerseits Konsequenzen
Magie III
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für die moderne Naturauffassung gehabt. Letztlich verdanken wir ihrer Überlieferung und einer weitverzweigten Auseinandersetzung mit ihren theoretisch-theologischen Inhalten die Vorbereitung des modernen Naturbegriffes ( - • N a t u r ) . Aber sie hat mit ihren phantastischen dämonologischen Konstruktionen auch auf Abwege geführt, die das Abendland in die Katastrophe des Hexenwahns (-»Hexen) gestürzt haben. Verschiedene Traditionsströme und -prozesse verbinden diese Ereignisse am Beginn der Neuzeit mit den theologisch-kosmologischen Gedanken der Spätantike: Die Entwicklung einer christlichen Dämonologie und Superstitionstheorie, die mittelalterliche Diskussion um die Erlaubtheit einer natürlichen Magie (magia naturalis), die arabische Überlieferung und Verarbeitung spätantiker Naturphilosophie sowie die Rezeption der neuplatonischen Naturtheologie zur Zeit der Renaissance (Harmening, Magie 692). 3. Mittelalter
und
Neuzeit
Alfons von Kastilien ließ 1256 ein Buch aus dem Arabischen unter dem Titel Picatrix ins Lateinische übersetzen und machte so die abendländische Welt mit der Umformung bekannt, die die neuplatonische Kosmologie von arabischer Geistigkeit erfahren hatte. Die magisch-naturphilosophische Bedeutung der arabischen Sammlung hebt nicht nur Johannes Hartlieb (vor 1410-1468) als „vollkomnest p ü c h " hervor, sondern sie wird auch in Erwähnungen bei Petrus von Abano (1257-1316), Johannes Trithemius (1462-1516) oder Johannes Weier (1515-1588) bezeugt, insbesondere aber durch die Rezeption unterstrichen, die sie in Heinrich Cornelius —»Agrippa von Nettesheims Werk De occulta pbilosophia (hg. u. komm. v. K. A. Nowotny, Graz 1967) erfährt. Ganz neuplatonischen Gedanken verpflichtet, entmythologisiert der Picatrix doch weithin die Sympathiereihen zu astrologisch determinierten Ketten: Die Planeten bringen auf ihrem Weg, der sie einmal hinauf (Apogäum) an die Fixsternkombinationen (Tierkreiszeichen), dann wieder herab (Perigäum) an die irdische Welt führt, die himmlischen Formen und Kräfte von oben nach unten. Die astrologische Magie, wie sie im Picatrix beschrieben wird, sucht nun dieser, jeweils zu ihrer Zeit der Erde mitgeteilten, oberen Einflüsse habhaft zu werden, indem sie die darin wirkenden Urbilder und Kräfte einem dem Reich des Planeten angehörigen Substrat, etwa um einen Talisman zu erzeugen, sich einprägen läßt. Durch Vereinigung möglichst vieler dem Planeten zugeordneter Reihenelemente versucht sie zudem, einen Raum, gleichsam einen Akkumulator zu schaffen, in dem die Kraft des Gestirns wirken kann: Denn „der Sinn der Talismane liegt in ihrer Verknüpfung mit den Himmelskörpern". Längst war zwar auch dem Abendland die Vorstellung einer influentia coeli, eines Einflusses der Sterne, aus natürlichen Gründen (agens naturale) auf die Natur vertraut: der Picatrix machte es nun zudem mit einer anderen als bloß dämonologisch zu interpretierenden Magie bekannt: mit astrologisch bestimmten „Reihen", oder anders, mit der Annahme einer astrologisch determinierten Natur (-»Astrologie).
Eine erneute Erörterung und Kritik der magisch-astrologischen Kausalität ist von der Philosophie der -»Renaissance, insbesondere dem Florentiner Piatonismus, ausgegangen (Cassirer 103 ff; vgl. Harmening, Magie 694 f). Die humanistische Bewegung hatte auf ihrem Weg zum Piatonismus an die Uberlieferung der Spätantike angeknüpft und so zunächst den Piatonismus in seiner neuplatonischen Form rezipiert. Und in der philosophischen Begrifflichkeit des Neuplatonismus war sie zugleich der magisch-astrologischen Kosmologie begegnet, wie sie skizziert worden ist. Auch das Mittelalter stand zwar noch unter dem Eindruck des Faktums astrologischer Kausalitäten, doch den Gedanken eines astrologischen Determinismus konnte es abwehren, solange der Glaube an ein den Sternen übergeordnetes göttliches Regiment erhalten blieb („astra regunt homines, sed regit astra deus" [die Sterne lenken die Menschen, aber Gott lenkt die Sterne]). „Aber je weiter man fortschreitet, um so mehr fühlt man, wie gerade das Vordringen des weltlichen Geistes und der weltlichen Bildung die Hinneigung zu den astrologischen Grundlehren verstärkt" (Cassirer 105). Und in der Tat ist die Naturauffassung der Renaissance bis nahezu in das 17. Jh. von der Unausweichlichkeit magisch-astrologischer Kausalität nachhaltig beeinflußt. Marsilio -»Ficinos Abhandlung De triplici vita über das System der Astrologie macht aber auch schon deutlich, wie sehr man innerhalb dieses festgefügten Wirkzusammenhanges dem Postulat der Freiheit Raum zu schaffen suchte.
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Magie III
Zwar noch ganz der emanatistischen Lehre verpflichtet und im Sinne des Picatrix von den Ausstrahlungen des „Oberen" auf das „Untere" überzeugt, sieht Ficino den Menschen wohl unter der Herrschaft des Geburtsplaneten. Aber es sei ihm doch die Freiheit gegeben, unter jenen Möglichkeiten und Kräften, die die Sphäre des Planeten umfaßt, zu wählen und innerhalb dieser ergriffenen Möglichkeiten sich frei zu gestalten und zu vollenden (Cassirer 119f)- Ficino leistet inhaltlich auch eine neue Bestimmung des Magiebegriffes, indem er die Magie auf die Liebe zurückführt: Beide gründen in der Anziehung (attractio), die „ein Gegenstand auf einen andern aufgrund einer bestimmten Wesensverwandtschaft ausübt. (...) Aus dieser entspringt Liebe, und aus der Liebe die gemeinsame Anziehung. Und dies ist die wahre Magie" (Goldammer 633).
Uberzeugender Widerspruch gegen die Ansprüche des magisch-astrologischen Weltbildes ist erst von Giovanni -»Pico della Mirandola, einem weiteren bedeutenden Vertreter der Akademie zu Florenz, geleistet worden (vgl. Harmcning, Magic 695 f). Anders als Ficino, der innerhalb eines astrologisch determinierten Kosmos der menschlichen Autonomie erst einmal nur Raum zu schaffen suchte, lehnte Pico della Mirandola die Annahme einer astrologischen Bestimmtheit allen Geschehens überhaupt ab: denn alle Erscheinungen seien nicht aufgrund irgendwelcher Vermutungen oder Einfälle, sondern nur aus ihren nächsten Ursachen zu begreifen {ex propriis prineipiis). Die nächste Ursache für all das, was der Himmel bewirke, aber brauchten wir nicht weit zu suchen, bestehe sie doch in nichts anderem als in den Kräften des Lichts und der Wärme, also in allbekannten, aufzeigbaren Erscheinungen. Sie allein bildeten das Vehikel der himmlischen Einwirkungen und das Medium, durch welches das örtlich noch so weit Getrennte sich dynamisch aneinander knüpfe (Cassirer 123). Johannes -»Kepler und Isaak -»Newton können später an diesen Begriff der vera causa, der wahren Ursache, wie ihn Pico della Mirandola umreißt, anknüpfen.
Für die neuplatonischen Sympathiereihen und magisch-astrologischen Ketten des Picatrix bedeutet Picos Forderung, daß ein steter Übergang der einen Wirkung in die andere evident zu machen und als Gesetz zu formulieren sei - erst dann könne auch von einer kausalen Verknüpfung gesprochen werden. Eine Ausweitung des engeren Begriffes Magie kannte schon die Antike. Diogenes Laertius ( 3 . J h . n.Chr.) verglich die Magier mit den indischen Gymnosophisten und keltischen Druiden und verallgemeinerte so den Begriff (Goldammer 632). Nach ihm stammt die Magie von Zoroaster her, eine Meinung, mit der -»Isidor von Sevilla das Mittelalter bekannt machte. Isidor gebraucht ars magica in umfassender Weise zur Benennung von Weissagungen, Orakelpraktiken und Totenbeschwörungen. Für - » H u g o von St. Viktor ist sie Oberbegriff aller divinatorischen und magischen Künste, wodurch der Begriff den Umfang der lateinischen superstitio erreichte. Dabei sind die magiologische Terminologie und Begrifflichkeit in mittelalterlicher Zeit und auch darüber hinaus weithin antiker Provenienz, von —»Augustinus und Isidor von Sevilla der christlichen Literatur vermittelt: Nekromantie, Divination, Inkantation, Auspicium, Augurium, Haruspicium, Pythonissen, Genethliaci, Mathematici, Horoscopi, Sortilegii, Salisatores u. a. Wo von zauberischer Praktik andere Bereiche begrifflich unterschieden werden, benennt man mit „Observation" das Beachten von vorbedeutenden Zeichen und (un-)günstigen Zeiten, also das Befolgen traditionell-populärer ,Observanzen', mit „Divination" dagegen die wissenschaftlich-technische Wahrsagekunst. An die Stelle gelehrter spätantiker Begrifflichkeit treten gehäuft erst in spätmittelalterlicher Zeit volkssprachliche Bezeichnungen: „czaubrer", „warsager", „trawm auz leger", „wachßgisser", „hant seher", „loz bucher", „swert brieffe", „ane g a n c h " usw. (Harmening, Aberglaube; Superstition 31). Zugleich wird infolge der humanistischen Antikenrezeption vermehrt antike Begrifflichkeit eingeführt und durch analoge Wortbildungen erweitert. Die christliche Magiekritik subsumiert Magie unter die Dekalogfrevel (Idolatrie) und beruft sich zudem auf die alttestamentliche Zaubereigesetzgebung (z.B. Ex 22,17; Lev 20,27; Dtn 1 8 , 9 - 1 2 ) , das frühchristliche apologetische Schrifttum und die frühen Konzilsbeschlüsse (Harmening, Aberglaube; Superstition 30f)- Daneben bedient sie sich naturkundlicher und rationalistischer Argumente, zumeist nebeneinander und im Begriff einer kreatürlichen Subordination der Natur unter einen regelnden Schöpferwillen vermittelt,
Magie III
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wie bei - • Maximus von Turin (Homilia 100. De defectione lunae [I], PL 57, 483-486), -»Agobard von Lyon (Liber contra insulsam vulgi opionionem de grandine et tonitruis: PL 104,147—158) oder —»Hrabanus Maurus (Homilia 42. Contra eos qui in lunae defectu clamoribus se fatigant: PL 110,78-80). Die gesicherte Regelmäßigkeit der Natur, so das Argument, könne durch die an sich unwirksamen magischen Akte nicht verletzt werden. Doch wird den Dämonen zugebilligt, sie wirkten die von der zauberischen Manipulation intendierten Wirkungen vermittels ihrer intellektuellen und technischen Fähigkeiten oder durch Täuschung (Illusion). Herrschte im Frühmittelalter die Illusionstheorie vor, wie sie der karolingische Canon episcopi vertrat, so rückte das Spätmittelalter davon ab und behauptete die Realität magischer Erscheinungen, besonders nachdrücklich der Hexenhammer des Heinrich Krämer (Institoris) (Harmening, Superstitio 98 f). Begleitet wurde der Wandel u. a. durch die Thomasische Rezeption der Augustinischen Dämonenpakttheorie (De doctr. christ. II, CSEL 80) und ihrer systematisierenden Anwendungen auf alle Formen der Magie, Observation und Divination (Thomas v. Aquino, S.th. II.II.92 sqq; vgl. Harmening, Aberglaube; Superstition 31). In Auseinandersetzung mit der Dämonologie des Neuplatonismus hatte Augustinus Grundlagen für die Entwicklung einer christlichen Dämonenlehre und Magietheorie gelegt: Die Dämonen seien in Wahrheit die gefallenen Engel. Sie lebten in der Luft, und weil sie einen Luftkörper besäßen, könnten sie in den Menschen eindringen und diesem Trugbilder vorgaukeln. Die körperlichen und intellektuellen Vorzüge ihrer Geisternatur befähigten sie zu allerlei Betrügereien. Sie hätten die Magie erfunden, um von den Menschen für Götter gehalten zu werden. An die Stelle des neuplatonischen Glaubens, aufgrund der sympathetischen Verhältnisse im Zwischenreich die Dämonen mit geradezu naturgesetzlich wirkendem Automatismus zwingen zu können, setzt Augustinus die Vorstellung eines Zeichenpaktes mit den Dämonen. Derzufolge sollen die Dämonen nicht gezwungen, sondern durch Zeichen zu einem gewünschten Tun eingeladen werden. Die dem sympathetischen Anhang eines Gottes entsprechenden Mittel, Manipulationen etc. interpretiert er als Element eines Zeichensystems zur Verständigung und Verbündung (pactum) mit Dämonen. Damit es zu einer Verständigung zwischen Mensch und Dämon kommen könne, sei ein ursprünglicher Vertrag über den Bedeutungsinhalt magischer Zeichen notwendig. Denn wie die Sprache unter Menschen auf Ubereinkunft beruhe und ihr Gebrauch die stillschweigende Anerkennung ihrer Verbindlichkeit voraussetze, so liege auch der magischen Kunst (magica ars) ein Kommunikationsvertrag mit den Dämonen zugrunde. Im Hochmittelalter besprechen -»Albertus Magnus, - » T h o m a s von Aquino und -»Bonaventura in den Sentenzenkommentaren den Pakt unter Betonung seines Apostasie bewirkenden Charakters. Thomas von Aquino erweitert schließlich die Lehre vom Teufelspakt durch die Unterscheidung ausdrücklicher (pactum expressum) und stillschweigender Verträge (pactum tacitum). Damit war für jede magische und darüber hinaus für jede superstitiöse Handlung das Faktum eines Apostasie implizierenden Teufelspaktes theoretisch begründet. In der Folge konnte die -»Inquisition gegen Abfall vom Glauben (-»Häresie, Ketzerei) auch gegen Zaubereiverdächtige als Angehörige einer „Hexensekte" eingesetzt werden. Die Notwendigkeit einer Unterscheidung von philosophisch-naturkundlicher Magie und einer dämonistischen Zauberpraxis, wie sie ja durchaus auch das Mittelalter empfunden hatte, wurde in nachmittelalterlicher Zeit immer wieder hervorgehoben. -»Albertus Magnus trennte die Magier von Wahrsagern (aruspices, divinatores) und Zauberern (necromantici, incantatores) und sah in der Magie eine Wissenschaft von den natürlichen Ursachen der Dinge (In Ev. Matthaei II, 1, A. Borgnet, Opera omnia 20, Paris 1893, 61). -»Wilhelm von Auvergne verglich sie als magia naturalis der Medizin, insofern auch sie dem Heil des Menschen diene (De universo III, 2,21 sq.; Opera omnia 1, Paris 1674,1058). Roger Bacon (um 1220-nach 1292) beurteilte sie zwar als falsch und illusionär, doch gestand er ihr partiell Wahrheiten zu (Opus maius I, 14, London 1773).
Doch blieb die Tradition einer spekulativen Magie, in nachmittelalterlicher Zeit um kabbalistische Elemente vielfältig modifiziert, die Suche nach den Offenbarungen Gottes
700
M a g i e III
in d e r N a t u r , e t w a b e i V a l e n t i n - » W e i g e l , J o h a n n V a l e n t i n — » A n d r e a c u n d d e n R o s e n k r e u z e r n , B e s c h ä f t i g u n g e i n e r g e l e h r t e n E l i t e . A u f Seiten d e r d ä m o n i s t i s c h e n M a g i e a u f f a s s u n g g e w a n n d i e E r ö r t e r u n g e i n e r t e u f e l s b ü n d n e r i s c h e n M a g i e (magia
daemoniacä)
i n f o l g e d e r H e x e r e i d e b a t t e i m m e r m e h r p u b l i z i s t i s c h e B r e i t e . In J e a n B o d i n ( 1 5 2 9 o d e r 1 5 3 0 - 1 5 9 6 ) , Antonio M a r t i n e z Delrio ( 1 5 5 1 - 1 6 0 8 ) und Benedictus Carpzov ( 1 5 9 5 - 1 6 6 6 ) f a n d d e r G e d a n k e a n d i e R e a l i t ä t t e u f e l s b ü n d n e r i s c h e r M a g i e F ö r d e r e r , in J o h a n n e s Weier ( 1 5 1 5 - 1 5 8 8 ) , Balthasar Becker ( 1 6 3 4 - 1 6 9 4 )
und Christian
-»Thomasius
ihre
G e g n e r ( H a r m e n i n g , H e x e 8 2 5 ) . D a s 18. J h . b r a c h t e schließlich s o w o h l das E n d e der gelehrten t h e o l o g i s c h - p h i l o s o p h i s c h e n als a u c h das der juristischen Z a u b e r e i - und H e x e n debatte und damit der Hexenverfolgung. Die Ausbildung der modernen
Naturwissen-
schaft entzog schließlich a u c h der spekulativen M a g i e die G r u n d l a g e n . M i t der U b e r w i n d u n g des W e l t b i l d e s einer a s t r o l o g i s c h e n D e t e r m i n a t i o n der N a t u r d u r c h den Begriff einer m a t h e m a t i s c h - p h y s i k a l i s c h e n Kausalität h a b e n die Auffassungen einer magischen W i r k s a m k e i t ihre B e r e c h t i g u n g verloren, die a s t r o l o g i s c h e s o w o h l als die d ä m o n o l o g i sche. An die Stelle der poetischen E r d i c h t u n g von S t r u k t u r und Stationen eines sympathetischen W e l t z u s a m m e n h a n g c s w u r d e die F o r d e r u n g n a c h B e o b a c h t u n g und empirischer Erweisbarkeit von Z u s a m m e n h ä n g e n gesetzt. W a h r k o n n t e nur sein, was durch M e s s u n g zu v e r i f i z i e r e n ist. D a s Ende der B e d r o h u n g magischer Aktivitäten nach A u f g a b e der Hexenverfolgung f ü h r t e seit d e m 1 8 . J h . a l l e r d i n g s a u c h z u m g e w e r b l i c h e n V e r t r i e b v o n Z a u b e r b ü c h e r n in Erst- und N e u d r u c k e n nach alten T e x t f u n d e n der Zauberliteratur: In den eher historisch-antiquarisch orientierten Textsammlungen von J o h a n n Christoph Adelung (Geschichte der menschlichen Narrheit, 1784), Georg C. Horst (Zauberbibliothek, 1 8 2 1 - 1 8 2 6 ) und J . Scheible (Das Kloster, 1846), aber auch in kommerziell orientierten Neudrucken, wie sie bis heute anhalten: „ M o s e s b ü c h e r " , „ H ö l l e n z w ä n g e " , „Claviculae S a l o m o n i s " u. a. Es sind dies Sammlungen von Texten heterogenster Art und sehr unterschiedlicher Herkunft, mit fingierten Autoren (Moses, Salomon, Albertus M a g n u s , Dr. Faust) und Druckorten ( R o m , Venedig, Toledo), geheimnisvollen Fundorten (Verliesen des Vatikans, angekettet in Klosterkellern), mit Verweis auf eine Niederschrift mit Blut und Phosphor, mit schwarz-rotem Totenkopfsiegel verklebt und aufgemacht wie eine Handbibel mit schwarzem Einband und Rotschnitt. Inhaltlich umfassen sie Gebete, Andachten, epische Heil- und Zauberberichte, Teufelsbeschwörungen, Zaubertexte, Zaubersiegel, Amulettformeln und magische Hausmittel. Auf dem gegenwärtigen Okkultmarkt werden neben Zauberbüchern eine Vielzahl magischer Requisiten vertrieben: Amulette, Talismane, Pendel und Ruten. Z w a r mit modernistischen Elementen angereichert, quasi-wissenschaftlich verbrämt und vielfältig verstümmelt, lassen sich hier doch noch letzte Ausläufer abendländischer Magietraditionen fassen. Literatur Adam Abt, Die Apologie des Apuleius v. Madaura u. die antike Zauberei, Gießen 1908 ( R V V 4/2); Neudr. Berlin 1967. - K. Arnold, Hexenglaube u. Humanismus bei Johannes Trithemius: Peter Segl (Hg.), Der H e x e n h a m m e r , Entstehung u. Umfeld des Malleus maleficarum v. 1487, Köln/Wien 1988, 2 1 7 - 2 4 0 . - K. Biedermann, Handlexikon der magischen Künste v. der Spätantike bis zum 19. J h . , Graz 1968, 3 7 6 f . - F. B o l l / C . Betzold/W. Gundel, Sternglaube u. Sterndeutung, Berlin 4 1 9 3 1 , Neudr. Darmstadt 1966. - Ernst Cassirer, Individuum u. Kosmos in der Phil, der Renaissance, 1927 (SBW 10), Neudr. Darmstadt 2 1 9 6 3 . - Christoph Daxelmüller/Marie-Louise T h o m s e n , Bildzauber im alten Mesopotamien: Anthr. 77 (1982) 2 7 - 6 4 . - J o a c h i m Gnilka, Das Matthäusevangelium, 1. T., 1986 ( H T h K 1), 35 ff. - J . G . T h . Grässe, Bibliotheca magica et pneumatica, Leipzig 1843. - Dieter Harmening, Faust u. die Renaissance-Magie: AKuG 55 (1973) 5 6 - 7 9 . - Ders., Art. Hexe: M E L 11 (1974) 825 f. - Ders., Superstitio. Überlieferungs- u. theoriegesch. Unters, zur kirchl.-theol. Aberglaubenslit. des M A , Berlin 1979. - Ders., Art. Aberglaube, Superstition: Lexikon des M A , M ü n chen/Zürich, 11980, 2 9 - 3 2 . - D e r s . , Art. Aberglaube: Kindlers Enzyklopädie des Menschen, Zürich, VI 1983, 7 0 7 - 7 1 8 . - Ders., Magietraditionen u. Okkultkommerz: J o u r n a l f. Gesch. 1 (1985) 3 8 f . - Ders. (Hg.), Hexen heute. Magische Traditionen u. neue Zutaten, Würzburg 1991, pass. (Quellen u. Forschungen zur Europ. Ethnologie 9). - Johannes Hartlieb, Das Buch aller verbotenen Künste, des Aberglaubens u. der Zauberei, hg., übers, u. k o m m . v. Falk Eisermann/Eckhard G r a f , Ahlerstedt 1989, Kap. 35, 48 (49). - M . Hirschle, Sprachphil. u. Namenmagie im Neuplatonismus, 1979 (BKP 96). - T h e o d o r Hopfner, Griech.-äg. Offenbarungszauber, Leipzig 1921 (Stud. zur Palaeographie u. Papyruskunde 2 1 , 2 3 ) , Neudr. Amsterdam 1 9 7 4 , 1 9 . - L . Kriss-Rettenbeck/L. Hansmann, Amulett u.
Magie IV
701
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Dieter Harmening IV. Praktisch-theologisch 1. Unterscheidungsbedarf
1.
2. Deutungsmuster
3. Besondere Probleme
(Literatur S. 703)
Unterscheidungsbedarf
Eine neureligiöse Szene hat sich gebildet, die mit ihren magischen Praktiken („Bewußtseinstechniken", vor allem des Neo-Schamanismus) bis in kirchliche Randzonen hineinwirkt. „Neue Hexen" beeinflussen insbesondere den Feminismus. Abweichende Gruppen erheben mit magisch ausgerichteten Psychotechniken Anspruch auf den Status einer „Religion" oder „Kirche" (z.B. Scientology Church). Als grundlegende Unterscheidungshilfe wird das erstmals 1947 erschienene Werk Magie und Religion von C. H. Ratschow angesehen: „Religion" sieht den Menschen als Scheiternden, der der Gnade bedarf. „Magie" aber findet das Göttliche überall und will es sich technisch verfügbar machen. J. Aagaard vertritt die These, daß fast allen „neuen religiösen Bewegungen" (außer den direkt aus dem Christentum hervorgegangenen Sekten) eine „religio occidta" mit magischen Grundlagen zugrundeliegt (54). H. Hemminger (1990) weist darauf hin, daß bei den Angeboten des alternativen Psycho- und Esoterik-Marktes besser von „profaner Magic" die Rede ist. „Weil der technische Fortschritts- und Wissenschaftsglaube selbst magische Züge trägt" (13), sind diese magischen Angebote für den modernen Menschen ohne weiteres plausibel. 2.
Deutungsmuster
Vor allem drei Modelle des Umgangs mit dem Magischen sind in der evangelischen Theologie und Kirche anzutreffen. a) Eine vor allem in Juristenkreisen (Prokop/Wimmer) vorherrschende liberal-rationalistische Deutung des Magischen und Okkulten als „Betrug", „Wahnidee", „krimineller Aberglaube" zeitigt Wirkungen bis in pastoralen Umgang. „Magie" wird aber nicht nur aus weltanschaulichen und philosophischen Gründen als „überholt" angesehen. Ihre theologische Rechtfertigung erhielt diese Ablehnung vor allem durch die in der Nachkriegszeit zur Vorherrschaft gelangte -•Dialektische Theologie und die „Entmythologisierung" des Alten und Neuen Testaments. R. Bultmann (1941) sah im Glauben an magische und dämonische Kräfte den Ausdruck eines überholten mythischen Denkens. F. Gogarten galt als die eigentliche Großtat des Christentums die „Entzauberung" der Natur. Nach der Umfrage von Hammers/Rosin vertritt die Mehrheit der evangelischen Theologen im Hinblick auf Existenz und Wirksamkeit personaler schädigender Mächte (Geister, Teufel usw.) einen entmythologisierenden Standpunkt. b) Vor allem in evangelikalen und fundamentalistischen Kreisen hat sich eine dämonistische Deutung herausgebildet (K. Koch; R. Beyerhaus). Es kommt ebenfalls zu einer Verurteilung alles Magischen, da Magie hier als „ o k k u l t " verstanden wird, „ o k k u l t " aber faktisch mit „dämonisch" gleichgesetzt wird. Dies ist zu verstehen vor dem Hintergrund
702
Magie IV
fundamentalistischer Bibelinterpretation und apokalyptischer Weltsicht. Die für dieses Modell zentrale Theorie der „okkulten Behaftung" bzw. „Belastung" beinhaltet jedoch faktisch selbst eine Art magisch wirkender Gesetzmäßigkeit: Wer einmal an okkulten oder magischen Praktiken mitgewirkt hat, ja sogar wessen Vorfahren gependelt haben oder beim Wahrsager waren, der ist von da an unweigerlich „magisch belastet". Die Seelsorge auf der Basis dieses Modells richtet sich dementsprechend am Versuch der „Befreiung" von „dämonischen Mächten" bis hin zur Repristination exorzistischer Riten aus. c) Ein drittes Modell könnte man als schöpfungstheologisches Modell bezeichnen, wonach „die magische Möglichkeit mit zu den Schöpfungsgeheimnissen gehört" (A. Köberle, Weltaspekt 50) - ähnlich wie die musische, die sprachliche oder die mathematische Begabung. Der „magische Weltaspekt" ist nach Köberle aus der Sicht eines „biblischen Realismus" ein Hinweis darauf, daß es auch noch andere Möglichkeiten der Schau und der Gestaltung der Natur gibt als die naturwissenschaftlich-technische Methode. Ebenso wie mit der Technik sowohl Segen gestiftet (A. Schweitzer) als auch unsägliches Leid (Hiroshima) bewirkt werden kann, kommt es auch bei der Magie darauf an, „ w o ein Mensch seinen Standort hat, ob bei dem lebendigen Gott in der Haltung von Ehrfurcht, Liebe, Demut und Vertrauen, oder im Bereich der Dämonen, die dem Menschen einen schlechten und zerstörerischen Mißbrauch des Magischen nahelegen" (49). Gestalten wie Franz von Assisi oder die russischen Starzen sind Belege für das Vorkommen einer „Magie des Heiligen" im Christentum. 3. Besondere
Probleme
Ein magischer Mißbrauch im Sinne abergläubischer Verhaftungen kann sich mit allem verbinden, was mit Religion und christlichem Glauben zu tun hat (z.B. Bibelstellen als Zukunftsorakel; christliche Symbole als Talisman). Ein besonders häufiges seelsorgerliches Problem ist die Perversion des Gebets zu einer „magischen Heilstechnologie", zum Versuch, Gott den eigenen Willen aufzuzwingen. Besonders der Einfluß von Vertretern des New Thought (Unity) oder des „positiven Denkens" (J. Murphy) kann eine gefährliche Illusion von Macht bei den Betroffenen hervorrufen. Neben diesen Beispielen, die über die neureligiöse Szene in den kirchlichen Raum hineinwirken, ist auch das pfingstlerische Heilungsverständnis (Krankheit aufgrund mangelnden Glaubens) nicht frei von fragwürdigen magischen Zügen. G. Holtz hat auch auf die gefährliche Induzierung von Ängsten durch die Theorie der „okkulten Behaftung" (s.o.) hingewiesen, die bis zur Neurosebildung gerade bei „ f r o m m e n " Christen führen kann: Die Behauptung, „alle einmal Besprochenen . . . seien magisch behaftet und könnten weder im Leben noch im Sterben zum Frieden k o m m e n " (130), ist selbst magisch-okkultem Denken verhaftet und leugnet letztlich die Kraft des göttlichen Pneumas. Neben diesen Gefahren ist man sich auch der positiven Bedeutung des „magischen Weltaspekts" für die praktische Theologie bewußt. So forderte A. Köberle (Wort u. Zeichen) im Blick auf die „Entsakralisierung" des Gottesdienstes eine „Neubesinnung auf das Wesen des Magischen". Mit Hilfe tiefenpsychologischer Ansätze wird versucht, die „Ganzheitlichkeit" des magischen Weltbilds für die kirchliche Praxis fruchtbar zu machen. Der Neo-Schamanismus übt einen gewissen Einfluß aus (A. Bittlinger). O b es allerdings hilfreich ist, Jesus als „Schamanen" zu deuten, der bei der Taufe eine „schamanische Initiation" erlebte (H. Wöller) und am Kreuz ein „Zerstückelungserlebnis" hatte (A. Bittlinger), muß sich, wie das Magische überhaupt, am biblischen Ursprungszeugnis messen lassen. So wie die drei ersten Evangelien Jesus als „den Arzt", „den Heiland" schildern, so stellt sich auch heute die Aufgabe, den Glauben an ihn gegenüber allen Ansprüchen von magischen und nichtmagischen „Heilsbringern" auf den Heilandstitel zu sichern. Angesichts wachsender neureligiöser Einflüsse wird die Kooperation von Apologetik und Praktischer Theologie deshalb zu einem unabdingbaren Erfordernis für die Kirche.
Mahanajim
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Literatur Johannes Aagaard, The World-view/Cosmology of the New Religious Movements: A. R. Brockway/J.P. Rajashekar (Hg.), New Religious Movements and the Churches, Genf 1987, 3 9 - 5 9 . Wilhelm Bitter (Hg.), Magie u. Wunder in der Heilkunde, Stuttgart 1959. - Arnold Bittlinger, Schamanismus im Lichte der Bibel u. der Psychotherapie, Schaffhausen 1986. - Friedrich-Wilhelm Haack, Scientology - Magie des 20. Jh., München 1982. - Alwin J . Hammers/Ulrich Rosin, Fragen über den Teufel: E. Bauer (Hg.), Psi u. Psyche. FS. H. Bender, Stuttgart 1974, 6 1 - 7 3 . - Hansjörg Hemminger, Der Markt des Übersinnlichen. Hoffnung auf Lebenshilfe im New Age, Stuttgart 1990 (Impulse 31). - Gottfried Holtz, Die Faszination der Zwänge, Göttingen 1984. - Kurt E. Koch, Seelsorge u. Okkultismus, Aglasterhausen " 1 9 8 5 . - Adolf Köberle, Der magische Weltaspekt u. seine rel. Bedeutsamkeit: ders., Heilung u. Hilfe, Moers 1985,43 - 5 5 . - D e r s . , Wort u. Zeichen. Krit. Anm. zur Entsakralisierung, Stuttgart 1983 (Impulse 19). - Otto Prokop/Wolf Wimmer, Der moderne Okkultismus, Stuttgart/New York 2 1987. - Carl Heinz Ratschow, Magie u. Religion, Gütersloh '1958. - Hans-Jürgen Ruppert, Die Hexen kommen. Magie u. Hexenglaube heute, Wiesbaden 1987. - Ders., Die Wiederkehr der Schamanen, Wien 1989 (Arbeitsgemeinschaft der österr. Seelsorgeämter. Referat f. Weltanschauungsfragen). - Ders., Umgang mit dem Okkulten III. Magischc u. mantische Praktiken, Stuttgart 1990. - Paul Tournier, Bibel u. Medizin, Zürich/Stuttgart 1962, 125-196.
Hans-Jürgen Ruppert Magister
Theologiestudium
Magnificat —»Cantica Mahanajim Der Ortsname ist eine Bildung aus mah"nceh „ L a g e r " mit der Ortsnamenendung -ahn. Außerbiblisch ist der Ort nur in der Liste Schoschenks I. in der Form m-h-n-m erwähnt (J. Simons, Handbook for the Study of Egyptian Topographical Lists relating to Western Asia [1937] Nr. X X X I V , 22). In der Bibel spielt Mahanajim während der frühen Königszeit eine gewisse Rolle, um dann aus der Überlieferung weitgehend zu verschwinden. Nach dem Tode Sauls auf dem Gebirge Gilboa führte Abner, der Feldhauptmann Sauls, dessen überlebenden Sohn Ischbaal nach Mahanajim und setzte ihn dort zum König über den Rumpfstaat Israel ein (II Sam 2 , 8 - 1 0 ) . Der Ort ist dementsprechend Ausgangs- und Endpunkt weiterer militärischer Unternehmung gegen den über Juda regierenden David (II Sam 2,12.29). Hier wurde Ischbaal durch Rechab und Baana, zwei Brüder aus Beerot, heimtückisch im Schlaf umgebracht (II Sam 4), wodurch für David der Weg zum König über ganz Israel frei wurde. Zum Zufluchtsort für David wurde Mahanajim während des von Absalom angeführten Aufstandes (II Sam 17,24.27; 19,33; I Reg 2,8). Innerhalb der Erzählung II Sam 1 5 - 1 9 ist für die Stadt eine Toranlage vorausgesetzt, die aus einem Vortor und einem Haupttor bestanden hat (II Sam 18,24), so daß mit einer starken Befestigung zu rechnen ist. Die Versorgung bei diesem Aufenthalt durch führende M ä n ner des Gebietes wird II Sam 1 7 , 2 7 - 2 9 ausdrücklich mitgeteilt. Wohl auf Grund der Lage und Größe machte Salomo dann Mahanajim zur Hauptstadt einer der drei Provinzen des Ostjordanlandes (I Reg 4,14). Die Erwähnung in der Schoschenkliste belegt die Einnahme der Stadt durch diesen Pharao (2. Hälfte des 10. J h . ; vgl. I Reg 14,25), trägt aber nichts zu ihrer Lokalisierung bei, da die drei vor Mahanajim genannten Ortsnamen entweder unleserlich oder unbekannt sind. Die weiteren Nennungen des Ortes sind zwar ohne historischen Wert, doch kann damit gerechnet werden, daß Mahanajim als ein wichtiges Zentrum bis zum Untergang des Nordreiches weiter bestanden hat. In Gen 32,2 f findet sich innerhalb der Jakobsüberlieferung eine volksetymologische Deutung des Namens von dem Wort mah'tueh, wobei der Ort als „Heerlager G o t t e s " verstanden wird. (Die ätiologische Notiz berechtigt nicht zu einer Deutung des Ortes als eine Kultstätte, gegen C. Houtman, J a c o b at M a h a n a i m , V T 28 [1978] 3 7 - 4 4 ) . Diese
704
Mailand
Notiz ist wohl vom Jahwisten geschaffen. In der auf sie folgenden Erzählung von der Vorbereitung Jakobs für die Begegnung mit Esau wurde in dem Nachtrag Gen 32,8 b—14 a der Ortsname als Dual aufgefaßt (vgl. C. Westermann, Genesis, BK 1/2 [1981] 614). In dieser Ergänzung zum jahwistischen Bestand wird so Mahanajim mit der Zweiteilung des Lagers durch Jakob erklärt. Die Namensdeutungen belegen, daß Mahanajim in der Königszeit ein bekannter und wichtiger Ort im Ostjordanland gewesen ist. Einen gewissen Bekanntheitsgrad setzt auch die Nennung des Ortes in Jos 13,26 voraus, wo Mahanajim in eine Grenzbeschreibung des Stammes Gad nachgetragen wurde. In Jos 13,30 wird die Stadt in einem weiteren Zusatz im Zusammenhang mit der Gebietsbeschreibung des halben Stammes Manasse erwähnt. Schließlich wird Mahanajim Jos 21,38 par. 1 Chr 6,65 unter den sog. Levitenstädten aufgezählt. Obwohl es an Gleichsetzungen nicht mangelt, ist Mahanajim noch nicht sicher lokalisiert, da keiner der Vorschläge allen Erwähnungen gerecht wird (vgl. die Zusammenstellungen bei R.A. Coughenour: BASOR 273 [1989] 59f). Siedlungsgeschichtlich ist das Bestehen des Ortes zumindest während des 10. Jh. und wohl auch im 9. und 8. Jh. vorauszusetzen. Geographisch ist die Lage im Ostjordanland auf Grund der Quellen eindeutig. Wie bereits M. Noth (ABLAK I [1971] 357.376) nachgewiesen hat, ist dabei nicht unbedingt auf Grund des Erzählzusammenhangs in Gen 32 eine Lage nördlich des Jabbok oder unmittelbar im Jabboktal anzunehmen. Doch setzt die Erzählung des Botenlaufs in II Sam 18,19-32 keineswegs zwingend die Lage im Gebirge voraus. Deshalb unterliegen alle bisherigen Ansetzungen mehr oder weniger schwerwiegenden Bedenken. Die 23 km nördlich des Jabbok gelegene Hirbet Mahneh könnte zwar den Namen bewahrt haben, liegt aber außerhalb des Gebietes, in dem der Ort gesucht werden kann. Der Teil er-Ruhel am Mittellauf des Jabbok liegt zu weit östlich im Gebirge. Der neuerdings wieder von R.A. Coughenour vorgeschlagene Teil ed-Dahab el-Garbt bietet nicht die topographischen Voraussetzungen und der vor allem von M. Noth favorisierte Teil Hagäg scheidet auf Grund der verkehrgeographischen Lage ebenfalls aus, da er keine unmittelbare Verbindung zum Jordantal und den in ihm verlaufenden Verkehrswegen hat, wie es für die Lage von Mahanajim vorauszusetzen ist. So muß die Lokalisierung des Ortes vorläufig offen bleiben. Am ehesten ist Mahanajim in einer strategisch wie verkehrsgeographisch günstigen Lage am Rand des Jordantales zu suchen, wo insbesondere nördlich des Jabbok zahlreiche Ortslagen nachgewiesen sind, die während der Königszeit besiedelt waren. ¡.iteratur R o b e r t A. C o u g h e n o u r , A Search for M a h a n a i m : BASOR 273 (1989) 5 7 - 6 6 . - M a r t i n N o t h , Das L a n d Gilead als Siedlungsgebiet israelitischer Sippen: PJ 37 (1941) 5 0 - 1 0 1 = ABLAK I (1971) 3 4 7 - 3 9 0 . - Klaus-Dietrich Schunck, E r w ä g u n g e n zur Gesch. u. Bedeutung von M a h a n a i m : Z D M G 113 (1963) 34 - 4 0 .
Volkmar Fritz Mailand
(altkirchlich)
1. E i n f ü h r u n g des C h r i s t e n t u m s
2. Kirchliches Leben
( Q u e l l e n / L i t e r a t u r S.709)
Mailand (Mediolanum, seit Hadrian Colonia Aelia) war seit Augustus Hauptstadt der Transpadanischen Region und nahm vornehmlich seit der diokletianischen Reichsreform am Ende des 3. Jh. infolge des Aufhörens der hauptstädtischen Rolle -+Roms und eines Bedeutungsverlustes der anderen norditalienischen Metropolen (Aquileia, Ravenna, Pavia) eine erstrangige politische und religiöse Stellung innerhalb der pars occidentalis ein. Die Geschichte des christlichen Mailand spiegelt weithin auch die Wechselfälle der politischen Geschichte der Stadt ab. Bis zur Zeit -»Konstantins liegt sie im dunkeln. Deutlicher tritt sie erst um die Mitte des 4. Jh. hervor, als Mailand Kaiserresidenz wird, und dann vor allem im letzten Drittel des gleichen Jahrhunderts, als -»Ambrosius den Einfluß seines
Mailand
705
Bistums weit über Norditalien hinaus ausdehnen konnte. Mit seinem Tod aber, der bald auf den ->Theodosius' d. Gr. folgte und nur wenige Jahre vor den Einbruch der Völkerwanderung nach -»Italien fiel, verliert sich die Mailänder Geschichte bis zum Einfall der Langobarden erneut einigermaßen im dunkeln. 1. Einführung
des
Christentums
1.1. Gründungslegenden und Bischofsliste. Die Mailänder Bischofsliste findet sich in zwei Handschriften aus dem 1 0 . - 1 2 . J h . (Staatsbibliothek Bamberg C 4 7 P I 8 ; Bibliotheca Ambrosiana, Mailand, C 133 inf.), die zweifellos auf eine gemeinsame Vorlage des 9. Jh. zurückgehen. Sie beruht auf unterschiedlichen Quellen, d. h. womöglich einer seit Ambrosius nahezu laufend fortgeschriebenen Bischofsliste (vgl. die 13 Epigramme des -•Ennodius von Pavia, die wohl als Erläuterungen zu einer Folge von Bildnissen der Mailänder Bischöfe von Ambrosius bis Laurentius I. bestimmt waren und infolge des Fehlens anderwärtiger prosopographischer Zeugnisse den einzigen Anhalt zur Feststellung der bischöflichen Amtsabfolge vom 4. bis zum 6. Jh. bieten), Grabinschriften, örtlichen liturgischen Texten sowie dem Martyrologium Hieronymianum, Pilgeritinerarien (wie dem des Codex Vindobonensis 795 aus der Mitte des 7. Jh.) mit Aufzählungen der aufzusuchenden Heiligengräber, Lobgedichten auf die Stadt (wie die Versus de Mediolano civitate) und hagiographischen Darstellungen, die Zug um Zug ausgestaltet wurden, um die religiöse Topographie und die Heiligenstätten Mailands anschaulich zu bekunden und die Geltungsansprüche des Mailänder Stuhls zu unterstützen. Mit einer möglichen Ausnahme müssen die fünf in dieser Liste dem Namen des M e r o d e s voraufgehenden Bischofsnamen und die daran sich knüpfenden Geschichten als rein legendär angesehen werden. Dagegen darf es aufgrund unserer Kenntnis von der politischen Lage und den Verwaltungsverhältnissen Norditaliens und Mailands am Ende des 3. Jh. sowie von der Rolle des ersten historisch bezeugten Bischofs als wahrscheinlich gelten, daß das Mailänder Bistum in der zweiten Hälfte des 3. Jh. begründet wurde. De facto wurde Mailand 288/9 Kaiserresidenz, doch seine weitreichende Geltung in Oberitalien geht in die Zeit um 275 zurück; der Bischof M e r o d e s wiederum vertrat auf der 313 unter Miltiades in Rom zusammentretenden Synode Norditalicn: auf der Synode von Arles 314 unterzeichnet er als Bischof ex provincia Italia, ein Beleg dafür, daß die Geltung und Ausstrahlung des Mailänder Stuhls bereits recht gefestigt war. Andererseits mag man aber auch schon Calimerus angesichts des verhältnismäßig hohen Alters seiner Mailänder Verehrung (er erscheint an vierter Stelle in der Bischofsliste; seit dem 5. Jh. ist ihm eine Kirche geweiht, und er ist der erste Bischof in der Liste des Kanons der Mailänder Liturgie) als historisch ansehen können. Eine Gründung des Bistums während der für die Kirche in den letzten vier Jahrzehnten des 3. Jh. bestehenden Friedenszeit wäre zudem auch recht gut vorstellbar. 1.2. Die Mailänder Bischöfe von Merodes bis Honoratus. Über die Geschichte Mailands sind wir vornehmlich durch auswärtige Quellen unterrichtet. Auch von den Bischöfen sind diejenigen am besten bekannt, deren Amtszeit mit den Augenblicken zusammenfiel, an denen die Stadt in Geschehnisse von überörtlicher Tragweite einbezogen war. Der erste gut bekannte Bischof, Merodes, war Zeitgenosse des Aufenthaltes Konstantins in Mailand. Von seinem Nachfolger Maternus kennen wir lediglich den Namen. Seit den vierziger Jahren des 4. Jh. wird dann Mailand erneute Kaiserresidenz, und auf den weiter nicht bekannten Maternus folgen bis auf Ambrosius vier Bischöfe aufeinander, in deren Amtszeit der Einflußbereich Mailands sich über ein Gebiet ausweitet, das den drei westlichen Präfekturen Italien, Gallien und Illyrien entspricht, so daß schließlich Ambrosius tatsächlich eine übermetropolitane Stellung einnehmen konnte. Neben geographischen und politischen Gründen waren dafür die zeitgenössischen religiös-kirchlichen Auseinandersetzungen wirksam. Angesichts einer geschwächten Stel-
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Mailand
lung Roms spielte Mailand darin entweder die Rolle eines Bollwerks der nikänischen Orthodoxie, oder aber während einer zeitweiligen Begünstigung des -»Arianismus durch die Kaisermacht auch die der Entwicklung seiner eigenen Stellung nicht weniger zuträgliche einer antinikänischen Bastion. In unterschiedlichem M a ß e haben sich die Bischöfe Protasius (342, gest. vor 357), Eustorgius I. (vor 356) und Dionysius (355-362?) an der Seite von -»Athanasius und anderen italienischen Bischöfen (wie Eusebius von Vercelli und Lucifer von Cagliari) für den nikänischen Glauben eingesetzt und damit eine Tradition begründet, auf die sich später Ambrosius berufen sollte. Im Juni 355 mußte Dionysius jedoch nach Kappadokien in die Verbannung gehen, aus der er nicht mehr zurückgekehrt ist, und Konstantius II. brachte den - wie es seit 359 heißen sollte - homöischen kappadokischen Presbyter Auxentius auf den Mailänder Stuhl. Das bedeutete zwar eine sichtliche Schwächung Mailands gegenüber Rom und Aquileia, die nun ihrerseits ihren Einflußbereich nach Norden und in die pannonischen Provinzen ausdehnten; dennoch aber sah sich Mailand während der zwanzigjährigen Amtszeit von Auxentius durch die Anwesenheit der teils wohlwollenden (Konstantius II. in den Jahren 352-360), teils neutralen (Valentinian I.) Kaiscrmacht begünstigt und entwickelte sich einmal dank seiner geographischen Lage und politisch administrativen Stellung, zum anderen aber auch infolge des nicht unbeträchtlichen Rückhaltes, den die zur Grenzsicherung eingesetzten gotischen Föderaten boten, unter Aufnahme von Beziehungen zu einer Reihe illyrischer Bistümer (Sirmium, Mursa, Singidunum) zu einer machtvollen arianischen Hochburg. In der Amtszeit des Auxentius wird schon sichtbar, was dann den Glanz derjenigen seines Nachfolgers Ambrosius ausmacht, nämlich die Fähigkeit der Mailänder Kirche, sich im gesamten Norden und Osten Italiens zur Geltung zu bringen, an die Stelle Roms zu treten, sobald dieses Schwächephasen durchlief, in Konfliktzeiten auszugleichen oder aber die Leitlinien römischer Politik in die östlichen und westlichen Gebiete der pars occidentalis (nach Gallien und in das Illyricum) zu vermitteln. Auxentius ist 374 verstorben, und ihm folgte -»Ambrosius. Er betrieb während seiner dreiundzwanzigjährigen Amtszeit die Wiedererrichtung der nikänischen Orthodoxie in Mailand selbst wie im Mailänder Einflußbereich, den er weit über die seiner unmittelbaren Amtsgewalt unterstehenden Provinzen hinaus und nicht ohne einen Einschlag von Rivalität mit Rom ausbaute (Eingriffe in Fragen der Kirchenleitung, in Lehrauseinandersetzungen und pastoralen Angelegenheiten in den Diözesen Pannonien, Dakien und Makedonien, in Venetien und Istrien, in Gallien und Spanien, mithin also in den drei westlichen Präfekturen Gallien, Italien und des Illyricum). Ambrosius ist 397 verstorben, zwei Jahre nach -»Theodosius d . G r . und sieben Jahre, bevor der Kaiserhof sich angesichts des Einfalls der Westgoten Alarichs (403) von Mailand nach Ravenna zurückzog. Sein Tod fällt daher in etwa mit dem Auftakt des Unheils zusammen, das Italien während der folgenden zwei Jahrhunderte erfahren sollte, auch wenn Mailand unter dem Heermeister und westlichen Reichsverweser Stilicho (ermordet 408) politisch zunächst noch einige Bedeutung behielt. Zudem war die Frage seiner Nachfolge nicht einfach (vgl. Paulinus von Mailand, Vita Ambrosii 46), und sein Nachfolger Simplicianus (397-400) hat zwar geistig durch seinem Einfluß auf -»Marius Victorinus, Ambrosius und -»Augustinus nachhaltig gewirkt, doch seine bischöfliche Tätigkeit hat kaum Spuren hinterlassen. Mit seinem Amtsnachfolger Venerius (gegen November 400—405 ...), der schon der Mailänder Geistlichkeit der Zeit des Ambrosius angehört hatte, ging dann die „ambrosianische" Zeitspanne der Mailänder Kirche zu Ende. Ein knappes Jahrzehnt noch erscheinen Mailand und seine Bischöfe in Angelegenheiten von überregionaler Bedeutung, doch der Niedergang der Metropole des Nordens ist unabwendbar. Einmal macht sich ein Bedeutungsgewinn Aquileias und ein Wiedererstarken des römischen Stuhles bemerkbar, und auf der anderen Seite führen die Barbareneinfälle (Radagais 405/06) nicht nur unsichere Verhältnisse für die Stadt herauf, sie schneiden sie auch von ihrem Rückhalt in Pannonien und in Noricum ab. Die vier folgenden Bischöfe bis zur Plünderung Mailands durch Attila 452 (Marolus 4 0 7 - v o r 431; Martianus 431; Glycerius 431, gest. 15.9.440; Lazarus nach 4 3 1 - vor 451)
Mailand
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haben bis auf M a r i a n u s , der an der Vorbereitung der Synode von - » E p h e s u s beteiligt war, k a u m ein G e d ä c h t n i s hinterlassen. Z u den bereits genannten G r ü n d e n für den Bedeutungsrückgang des M a i länder Stuhls tritt jetzt noch die Erhebung von - » R a v e n n a in den R a n g eines Metropolitansitzes ( - • P e t r u s Chrysologus), der einen neuen S c h w e r p u n k t in Norditalien bildet.
Die tatsächliche Tragweite der von Attilas Hunnen verursachten Zerstörungen ist schlecht einzuschätzen; jedenfalls scheint Mailand während der fünfziger Jahre des fünften Jahrhunderts eine gewisse Renaissance des städtischen wie kirchlichen Lebens erfahren zu haben. Bischof Euseb von Mailand unterzeichnet als erster von zwanzig Teilnehmern (davon siebzehn aus der Italia) das Synodalschreiben einer 451 in Mailand zusammentretenden Synode an - » L e o d . G r . D e r Niedergang der Stadt w a r jedoch keineswegs beendet. Bis zur H e r r s c h a f t T h e o d e r i c h s ( 4 9 3 - 5 2 6 ) lag sie im Z e n t r u m der B a r b a r e n s t ü r m e (insbesondere während der Auseinandersetzung zwischen O d o a k e r und T h e o d e r i c h im letzten Drittel des 5 . J h . ) . Die T ä t i g k e i t der Bischöfe bis zum Beginn des 6 . J h . (Gerontius, Benignus, S e n a t o r , T h e o d o r ) , zu der gewiß auch Wiederaufbauarbeiten gehören, ist offenbar im örtlichen R a h m e n geblieben. W ä h r e n d der Amtszeit von Laurentius I. (gegen 4 8 9 - 5 1 0 / 1 2 ) und bis zum letzten M a i l ä n d e r B i s c h o f vor dem Genueser E x i l und der L a n g o bardenzeit hat M a i l a n d indessen zeitweilig wieder einen verhältnismäßigen Aufschwung erfahren, allerdings auch ausgesprochen düstere Z w i s c h e n p h a s e n , insbesondere im G o t e n k r i e g mit einer Plünderung durch den ostgotischen Heerführer Uraias 5 3 9 während des Pontifikats von D a t i u s , der seine G e m e i n d e verließ. In der Folge scheint der B i s c h o f hauptsächlich die R o l l e eines Beschützers der Stadt gespielt und sich b e m ü h t zu haben, ihren materiellen Fortbestand zu sichern und ihr in einem von den Barbaren zerrütteten, vom östlichen Kaisertum aufgegebenen Italien, in dessen n ö r d lichem G e b i e t es mit R a v e n n a nur m e h r eine konkurrierende Stadt g a b , möglichenfalls ihre U n a b hängigkeit zu wahren. Von den drei auf Datius folgenden Bischöfen (Vitalis, A u x a n u s , H o n o r a t u s ) ist wenig b e k a n n t , abgesehen von ihrer Verwicklung in das Dreikapitelschisma (vgl. T R E 16, 7 4 0 , 3 5 f f ; 17, 4 8 1 , 12ff), das einen Teil Italiens aus der kirchlichen G e m e i n s c h a f t mit R o m löste. Diese Vorgänge fallen mit dem Einfall der L a n g o b a r d e n zusammen, die 5 6 8 den Isonzo überschritten und im April 5 6 9 M a i l a n d in Besitz n a h m e n . Dieses Ereignis ist sehr wahrscheinlich der G r u n d dafür, d a ß der B i s c h o f ( H o n o r a t u s oder sein N a c h f o l g e r Frontus) von M a i l a n d auf byzantinisches Gebiet nach G e n u a auswich. Sein R ü c k z u g fällt mit dem Verschwinden der alten politischen und kirchlichen Verwaltungseinheit Ligurien zusammen, das zum langobardischen Neustrien mit Pavia als vornehmlicher H a u p t s t a d t wird.
2. Kirchliches
Leben
2.1. Regelmäßiger Gottesdienst und Initiation. Entsprechend dem in der Stellung des Bischofs M e r o d e s sich niederschlagenden Stand ihrer Entwicklung dürfte die Mailänder Kirche während des ersten Drittels des vierten Jahrhunderts über einen bischöflichen Gottesdienstbezirk verfügt haben, doch läßt sich die erste Bischofskirche nur hypothetisch an der Stelle der mittelalterlichen Kirche S. Maria Maggiore und das zugehörige Baptisterium mit dem im 19. Jh. wiedergefundenen Taufbecken an der Stelle des mittelalterlichen Baptisteriums S. Stefano lokalisieren. Möglicherweise während der Amtszeit von Auxentius wurde der Kathedralkomplex verdoppelt durch eine neue Basilika, S. Tecla, deren Ausmaße den Gegebenheiten der großen Städte des Reiches und der Kaiserresidenzen entsprechen. Sicherlich zu dieser Zeit - man denke an die kappadokische Herkunft von Auxentius - hat auch östlicher gottesdienstlicher Brauch in Mailand Eingang gefunden, der dann in der „ambrosianischen" Liturgie weiterlebt, insbesondere der antiphonische Psalmengesang, auch wenn dessen „Erfindung" herkömmlicherweise Ambrosius zugeschrieben wird, oder die Sitte, die -»Krankensalbung und die Weihe des Chrisams dem Presbyter zu übertragen (vgl. a. T R E 1, 767,37ff). Nach dem Zeugnis des Ambrosius diente die Bischofskirche dem regelmäßigen Gottesdienst und der Einführung der Taufbewerber ab dem sechsten Sonntag vor Ostern. Ausnahmeweise konnte sie auch für außergottesdienstliche Versammlungen zur Verfügung stehen, so etwa für das Konzil von 355 oder die Sammlung der orthodoxen Gemeinde um Ambrosius während des Streites um die Überlassung einer Basilika an die Arianer (vgl. T R E 2, 366,31 ff). D a s Entstehungsdatum des S. Tecla zugehörigen Baptisteriums ist neuerdings in Frage gestellt
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Mailand
worden; herkömmlicherweise ist seine Errichtung, hauptsächlich aufgrund seiner dafür bestimmten Verse, Ambrosius zugeschrieben worden. Es könnte jedoch auch schon gleichzeitig mit der neuen Bischofskirche erbaut worden sein. Die Taufkatechesen des Ambrosius bieten eine genaue Beschreibung des Gottesdienstverlaufs und der Nutzung des bischöflichen Gottesdienstbezirks.
2.2. Kirchliche Topographie außerhalb des Stadtbezirks und Heiligenstätten. Der älteste und zugleich bedeutendste Mailänder Friedhofsbezirk liegt südsüdöstlich der U m m a u e r u n g an der Straße nach Pavia, und dort findet sich die dichteste A n h ä u f u n g von Kirchen. Unsere Kenntnis der Topographie f ü r die Zeit vor Ambrosius ist jedoch sehr lückenhaft; erst ihm verdanken wir hauptsächlich unsere Informationen. M a n kann mit der frühen Existenz dreier Basiliken (S. Eustorgio, S. N a b o r e e Feiice, die nicht identifizierbare basilica Fausta) und einer M e m o r i a (die Kapelle S. Vittore in Ciel d ' O r o ) rechnen. Ambrosius hat d a n n diesen Bezirk weiter ausgebaut und ihm in der zu seiner Grablege bestimmten basilica ambrosiana einen neuen kultischen Anziehungspunkt geschaffen; sie w u r d e am 19. April 386 geweiht und barg die zwei Tage zuvor auf w u n d e r b a re Weise aufgefundenen Reliquien der Märtyrer Gervasius und Protasius. Eine weitere Bereicherung der an diesen Bezirk sich knüpfenden Heiligenüberlieferungen nach Ausweis des Patroziniums zweier nicht genau datierter Bauten, S. Valeria und S. Vitale, brachte die ebenfalls von Ambrosius ausgelöste Auffindung der Reliquien von Vitalis und Agricola in Bologna. M i t dem Bau von S. N a z a r o in der N ä h e der Via R o m a n a schuf Ambrosius in Mailand ein neues kultisches Z e n t r u m , und zwar auf einem Friedhofsbezirk, der möglicherweise schon durch die von Bischof Laurentius I. wiederhergestellte Kirche S. Calimero christlich in Anspruch genommen war. Ursprünglich, vor 386, als basilica apostolorum den Aposteln gewidmet, w u r d e sie Nazarius geweiht, nachdem Ambrosius 395 dessen Reliquien aufgefunden hatte. Nicht mehr zum Erbe der Wirksamkeit des Ambrosius, aber doch noch in die Glanzzeit der Mailänder Kirche gehören S. Simpliciano und S. Lorenzo mit ihren Nebengebäuden. Der Anstoß zum Bau von S. Simpliciano auf einem Friedhofsbezirk nördlich der Stadt an der Straße nach C o m o könnte auf Simplicianus zurückgehen und mit dem Eintreffen der Reliquien der Nonsberger Märtyrer Sisinnius, Marytius und Alexander in Mailand bald nach dem Tod des Ambrosius zusammenhängen, doch die Kirchc war sicher noch nicht vollendet, als Simplicianus starb, denn sein Leib ist erst im 7. Jh. in sie überführt worden. Für die Datierung des Baukomplexes von S. Lorenzo fehlen Anhaltspunkte; nach dem jüngsten Stand der baugeschichtlichen Untersuchung legt sich f ü r S. Lorenzo und die Kapellen S. Aquilino und S. Ippolito eine Datierung auf den Anfang des sechsten J a h r h u n d e r t s nahe; es könnte sich um eine private, ursprünglich als Grablege gedachte G r ü n d u n g nach dem M u s t e r von S. Vitale in Ravenna handeln. Die übrigen vormittelalterlichen Mailänder Kirchen sind nur sehr schlecht datierbar und zumeist lediglich aus schriftlichen Quellen bekannt. Sie zeigen jedoch, d a ß der christlich kirchliche Ausbau Mailands Z u g um Z u g mit einer beachtlichen örtlichen Kontinuität zu den gottesdienstlichen Stätten der Frühzeit vor sich ging und dabei sicherlich den Bedürfnissen der Gemeinde ebenso entsprach wie dem Z u w a c h s des Schatzes der Kirche an Reliquien örtlicher wie fremder Märtyrer und heiliger Bischöfe. S. Tecla dürfte ausreichenden Raum geboten haben, die Gemeinde zum regelmäßigen bischöflichen Gottesdienst aufzunehmen, und die kirchlichen Bauten außerhalb des ummauerten Stadtbezirks haben mit ihren Heiligengedächtnissen gewiß ebenfalls eine wesentliche Rolle für die pastorale Betreuung der Gemeinde gespielt (Ambrosius zufolge diente die basilica ambrosiana zudem auch dem regelmäßigen Gottesdienst). Mangels sicherer zeitlicher und archäologischer Anhaltspunkte sei lediglich eine alphabetische Aufstellung der noch nicht erwähnten kirchlichen Bauten gegegeben: Concilia Sanctorum (S. Romano, aus der Amtszeit von Laurentius I.?); S. Dionigi (vor 475, zu welchem Zeitpunkt hier der Bischof Aurelius aus dem municipium Riditarum beigesetzt wurde [CIL 5, 6183a], aber ohne jeden Anhalt für eine von der mittelalterlichen Überlieferung behauptete Errichtung unter Ambrosius); S. Eufemia (die Grundlegung der Basilika oder doch wenigstens ihre Weihe an die große Heilige von Chalkedon hat womöglich während der Amtszeit des Bischofs Senator im 5. j h . stattgefunden); S. Stefano (eine Gründung, die möglicherweise mit der Ausbreitung
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der Stephanusreliquien im Abendland während des 6. Jh. einhergegangen ist); S. Valeria (vor dem 8. Jh., möglicherweise zeitlich mit der Ausbildung der hagiographischen Uberlieferung über Gervasius und Protasius und daher ins 6. Jh. zurückgehend); S. Vitale (wie die vorgenannte Kirche möglicherweise zeitgleich mit der entsprechenden hagiographischen Überlieferungsbildung, während es für eine Gleichsetzung mit der aus Ambrosius bekannten basilica Fausta keinen Beleg gibt; S. Vittore al Corpo (ohne Zweifel vor -»Gregor von Tours, während es für eine Gleichsetzung mit der bei Ambrosius genannten Basilica portiana keinen Beleg gibt; in diese Basilika wurde im frühen Mittelalter der Leib des Victor Maurus überführt, woher der Beiname „al Corpo" rührt). Quellen Ambrosius, Opera omnia, insbesondere: De excessu fratris, hg. v. O. Faller, 1955 (CSEL 73,7), 2 0 7 - 3 2 5 ; De sacramentis. De mysteriis, hg. v. Botte, M980 (SC 25 bis); Epist. 14 extra Coll., 65 a, 76, 77, hg. v. M . Zelzer, 1982 (CSEL 82,3). - Ennodius Ticinensis, Opera, hg.v. F. Vogel, 1885 (MGH.AA 7). - Pseudo-Maximus, Sermones et homiliae: Maximus Taurinensis, Opera omnia (PL 57). Hagiographie: Paulinus Mediolanensis, Vita Ambrosii, hg.v. A.A. Bastiaensen, o . O . M982, 5 1 - 1 2 5 (Vita dei santi 3).-Gervasius et Protasius, Passio (BHL 3514): Pseudo-Ambrosius, Epist. 53 a (PL 1 7 , 7 4 2 - 7 4 7 ) . - Nabor et Felix, Passio (BHL 6028 - 2029), hg.v. A. Paredi, La passione dei santi martiri Nabore e Felice: Ambrosius (1960) 9 1 - 9 6 . - Nazarius et Celsus, Passio (BHL 6042): AnBoll 2 (1883) 3 0 2 - 3 0 7 . - Sisinnius, Martyrius et Alexander, Passio (BHL 7795): ActaSS, Maii, 6 , 3 8 8 - 4 0 0 . - Victor Maurus, Passio (BHL 8 5 8 0 - 8 5 8 5 ) : J ActaSS, Maii, 2, 2 8 3 - 2 8 7 . - Vitalis et Urcisinus: S. Gervasius et Protasius. Literatur Karl Julius Beloch, Bevölkerungsgeschichte Italiens, Berlin, III 1961. - Gian Piero Bognetti, L'Età longobarda, Mailand 1966-1968. - M. Bonfioli, Soggiorni imperiali a Milano e ad Aquileia da Diocleziano a Valentinio III: Antichità altoadriatiche 4 (1973) 1 2 5 - 1 4 9 . - Yves-Marie Duval, Les relations doctrinales entre Milan et Aquilée durant la seconde moitié du IV° s. Chromace d'Aquilée et Ambroise de Milan: Antichità altoadriatiche 4 (1974) 171 - 2 3 4 . - Il Millenio ambrosiano. Milano, una capitale da Ambrogio i Carolingi, hg. v. C. Bertelli, Mailand 1987 (Lit.). - Francesco Lanzoni, Le diocesi d'Italia dalle origini al principio del sec. VII (a. 606), '1963 (StT 35) (Lit.). - S. Lusuardi Siena, Milano. La Città nei suoi edifìci. Alcuni problemi: Atti del 10° Congresso internazionale di studi sull'alto medioevo, Spoleto 1986, 2 0 9 - 2 4 0 . - G . C . Menis, Le giurisdizioni metropolitiche di Aquileia e di Milano nell'antichità: Antichità Altoadriatiche 4 (1973) 271 - 2 9 4 . - M . Mirabella Roberti, Milano romana, Mailand 1984 (Lit.). - Mostra Milano capitale dell'impero romano (286-402d.c.), Milano, Palazzo reale, Mailand 1990 (Lit.). - E. Paoli, Les notices sur les évêques de Milan (IV°-VI° s.): M E F R M 100 (1988) 2 0 7 - 225. — Prosopographie chrétienne du Bas-Empire Italie (312-604), hg.v. Ch. Pietri (vorläufige Eintragungen, zusammengestellt von E. Paoli und Cl. Sotinel, im Erscheinen). — J . Charles Picard, Le souvenir des évêques. Sépultures, listes épiscopales et culte des évêques en Italie du Nord des origines au X ° s., 1988 (BEFAR 268) (Lit.). - Ders., L'atrium dans les églises paléochrétiennes d'Occident: ACIAC 11 (1989) 5 0 5 - 5 5 8 . - Ders., Ce que les textes nous apprennent sur les équipements et le mobilier liturgique nécessaires pour le baptême dans le Sud de la Gaule et l'Italie du Nord: ebd. 1451-1474. — Charles Pietri, Roma Christiana. Recherches sur l'Eglise de Rome de Miltiade à Sixte III (311-440), 1976 (BEFAR 224) (Lit.). - Ders., Rome et Aquilée. Deux Eglises du IV° au Vl° s.: Antichità altoadriatiche 30 (1987) 225 - 2 5 3 . - Ders., La politique de Constance II. Un premier „césaropapisme" ou Vimitatio Constant ini}-. L'Eglise et l'Empire au IV° s., Genf 1989 (Entretiens sur l'Antiquité classique. Fondation Hardt 34), 1 1 3 - 1 7 8 . - Carlo Fedele Savio, Gli antichi vescovi d'Italia dalle origini al 1300. La Lombardia I, Milano, Florenz 1913 (Lit.). - J . Schmitz, Gottesdienst im altchristl. Mailand, 1975 (Theoph. 25) (Lit.). - P. Sodini/A. Kolokostas, Aliki II. La basilique double, 1984 (Etudes Thasiennes 10). - Storia di Milano, 2 Bde., Mailand 1953/1954 (Lit.). - P. Testini/G. Cantino Wathagin/L. Pani Ermini, La cattedrale in Italia: ACIAC 11 (1989) 5 - 5 7 . 2 1 7 - 2 2 0 (Lit.).
Françoise Monfrin Maimonides -»Mose ben Maimón
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Mainz I
Mainz I. Kurfürstentum II. Universität
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I. Kurfürstentum 1. Mittelalter
1.
2. Neuzeit ( 1 5 1 4 - 1 8 0 3 )
( B i b l i o g r a p h i e / Q u e l l e n / L i t e r a t u r u n d Karten S.715)
Mittelalter
Nach dem Untergang des spätantiken Bistums Mainz mit dem Ende der römischen Herrschaft am Mittelrhein in der 1. Hälfte des 5. Jh. wurde das Bistum um die Mitte des 6. Jh., nun im fränkischen Reich, wiederbegründet. Seit dem ersten Bischof Sidonius (566/567 bezeugt), dem die Mainzer Kirche wahrscheinlich ihr Martinspatrozinium (—•Martin von Tours) verdankt, standen die Bischöfe und Erzbischöfe stets in enger Verbindung zum Königtum. Sie entwickelten ihre Diözese zunächst im Linksrheinischen, griffen bald mit der Mission aber auch nach Osten aus; um 700 war die Gegend von Aschaffenburg erreicht. Erheblich vergrößert wurde die Diözese in der Mitte des 8. Jh., als sehr wahrscheinlich noch der angelsächsische Missionserzbischof -»Bonifatius selbst, 745/747-754 Diözesanbischof in Mainz, die 741/742 von ihm errichteten Bistümer Büraburg (für Althessen) und Erfurt (für Thüringen) mit dem Mainzer Sprengel vereinigte; zu Beginn des 9. Jh. kamen Teile des südlichen Sachsens hinzu. Seitdem erstreckte sich die Mainzer Diözese weiträumig vom Hunsrück und Pfälzer Wald links des Rheines nach Nordosten durch Hessen zur oberen Weser und Leine und weiter nach Südosten durch Thüringen bis zur Saale. Mit den Schwerpunkten Mainz, Aschaffenburg, Fritzlar, Heiligenstadt und Erfurt legte sie sich wie ein west-östlicher Riegel zwischen den Norden und den Süden des Reiches. Als in der Neuorganisation der fränkischen Kirche unter -»Karl d.Gr. Mainz zur Metropole und der Bonifatius-Schüler und -Nachfolger Lull (754-786) zum Erzbischof erhoben wurden (780/782), schufen er und seine Nachfolger die größte Kirchenprovinz des Reiches. Bis zu ihrer Auflösung 1802 u n t e r s t a n d e n d e m M a i n z e r M e t r o p o l i t e n von der u n t e r e n Elbe (Verden) bis in die Alpen (Chur) 12, zeitweise 14 b z w . 15 S u f f r a g a n b i s t ü m e r , die g r o ß e Teile Sachsens, F r a n k e n s u n d A l a m a n n i e n s , sogar lange Zeit - » B ö h m e n u n d M ä h r e n (Prag und O l m ü t z , 976/1063-1344) umfaßten.
Zumal ihre riesige Kirchenprovinz sowie ihre weiträumige Erzdiözese hoben die Mainzer Erzbischöfe über die anderen Metropoliten des ostfränkisch-deutschen Reiches und gaben den Hintergrund für ihren Anspruch auf den Primat in der Reichskirche, der sich auf die Tradition des Bonifatius als päpstlichen Vikars und Metropoliten für ganz Austrasien gründete. Er wurde erstmals mit der Ernennung Erzbischof Friedrichs (937-954) zum apostolischen Vikar und Legaten (-»Gesandtschaftswesen) für Deutschland (937) auch vom Papst anerkannt. Aus dem Primatsanspruch erwuchs der Anspruch, den deutschen König zu weihen. Nachdem Erzbischof Hildebert (927-937) 936 - » O t t o d. Gr. in Aachen gekrönt hatte und um 960 im Mainzer Kloster St. Alban mit dem sog. Mainzer Ordo die bedeutendste Ordnung der Königsweihe entstanden war, wurde das Krönungsrecht möglicherweise schon Erzbischof Wilhelm (954-968), nachweislich aber Erzbischof Willigis (975-1011) vom Papst verbrieft, zusammen mit dem grundsätzlichen Vorrang vor den Bischöfen „ganz Germaniens und Galliens" (975). Doch ging das Krönungsrecht unter den ersten salischen Herrschern (endgültig 1052) an den Kölner Erzbischof verloren, in dessen Kirchenprovinz der regelmäßige Krönungsort Aachen lag. Von gelegentlichen Ausnahmen bei Gegenkönigen und Doppelwahlen (so 1077, 1081,1212, 1215,1246) abgesehen, kehrte es bis zum Ende des Mittelalters nicht wieder nach Mainz zurück; vielmehr wurde es in der Goldenen Bulle Kaiser Karls IV. (1356) auch reichsgesetzlich dem Kölner zugestanden.
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Besonders seit der Umgestaltung der Reichsverfassung durch Kaiser -»Otto d. Gr. seit der Mitte des 10. Jh., durch die er den Bischöfen und Reichsäbten wichtige Aufgaben in der Reichsverwaltung zuwies, kam der Vorrang der Erzbischöfe von Mainz über die Kirche hinaus im Reich insgesamt zur Geltung, unterstützt durch den Umstand, daß immer wieder bedeutende Persönlichkeiten auf den Mainzer Stuhl gelangten. Schon vorher hatten mehrfach Mainzer Erzbischöfe, zuerst Liutbert (863-889) ab 870, als Erzkapellan die königliche Hofkapelle geleitet und, damit verbunden, als Erzkanzler die Oberaufsicht über die königliche Kanzlei geführt. Seit 965, als Erzbischof Wilhelm, ältester Sohn Kaiser Ottos d. Gr., von seinem Vater mit dem Erzkapellanat betraut wurde, blieb es mit dem Mainzer Stuhl verbunden, bis es unter Kaiser -»Heinrich III. an Bedeutung verlor und an den Kanzler überging. Das nun davon gelöste Amt des Erzkanzlers für Deutschland aber bewahrten auf die Dauer die Erzbischöfe von Mainz bis zum Ende des Alten Reiches. War es auch ein reines Ehrenamt, da die tatsächliche Leitung der Kanzlei dem Reichskanzler oblag, handelte es sich doch um das vornehmste Reichsamt in Mittelalter und früher Neuzeit und verlieh es, zunehmend von politischer Bedeutung, seinem Inhaber den ersten Rang unter den deutschen Reichsfürsten. Diesem Rang der Mainzer Erzbischöfe entsprach ihre Rolle bei den hochmittelalterlichen Königserhebungen. Seit der Wahl Konrads II. (1024) wird ihr Vorrecht deutlich, die erste - bei der allein möglichen einmütigen Wahl entscheidende - Stimme abzugeben. Der Anspruch, zur Wahl einzuladen und die Wahlversammlung zu leiten, war freilich nicht unbestritten. Als sich in der 1. Hälfte des 13. Jh. der Kreis der wahlberechtigten Fürsten auf die sieben Kurfürsten eingrenzte, gehörte der Mainzer nicht nur neben den beiden anderen rheinischen Metropoliten dazu, sondern konnte auch künftig seine führende Stellung bewahren. Dabei wurde aus dem Vorstimmrecht nunmehr das Recht der letzten - im Mehrheitsprinzip entscheidenden - Stimme. Im einzelnen in der Goldenen Bulle (1356) festgelegt, blieb der hervorragende Rang des Mainzer Kurfürsten bei der Königserhebung bis zum Ende des Reiches erhalten. Die Grundlage für das Wirken der Erzbischöfe im Reich seit dem 10. Jh. bildete wie bei den anderen geistlichen Fürsten die Ausstattung der Mainzer Kirche mit Besitzungen und sonstigen Einkünften. Sie war schon in fränkisch-karolingischer Zeit umfangreich, ohne daß sich ihre Bestandteile und ihre Herkunft im einzelnen noch nachweisen ließen; große Teile stammten ohne Zweifel aus königlichen Übertragungen. Als frühe Schwerpunkte zeigen sich zum einen die Bischofsstadt selbst und ihre nächste Umgebung an Mittelrhein und unterer Nahe, zum anderen die späteren mainzischen Mittelpunkte in Hessen und Thüringen. Die einzelnen Güter befanden sich - wie auch noch in der Folgezeit — überwiegend sicherlich nicht in räumlich geschlossenen Besitzkomplexen, sondern in der bei den Grundherrschaften des frühen und hohen Mittelalters üblichen Streulage. Der Übertragung neuer Aufgaben im Rahmen des „ottonisch-salischen Reichskirchensystems" (-»Otto I.) entsprach die Übergabe weiterer Güter und Rechte durch den König. Die Leistungskraft der Mainzer Kirche erreichte unter Erzbischof Willigis einen solchen Stand, daß er 981 zu den vier geistlichen Fürsten gehörte, die mit jeweils 100 schwerbewaffneten Reitern die größten Kontingente zum Heer Kaiser Ottos II. nach Italien zu entsenden hatten. Insbesondere erlangte die Mainzer Kirche vermutlich unter Erzbischof Wilhelm die volle -»Immunität für ihre gesamten Besitzungen, die nun aus der ordentlichen Reichsverwaltung ausschieden und in Verwaltung und Gerichtsbarkeit dem Erzbischof als Immunitätsherrn unterstellt wurden; damit war der Grund gelegt für die spätere Entwicklung zu einem eigenen Territorium des geistlichen Fürsten. Zusammen mit dem Münz- und Zollregal bestätigte Otto II. die Immunität für Willigis (975). Vermutlich konnte der Erzbischof schon in der 2. Hälfte des 10. Jh. aufgrund der Immunität in seiner Metropole, dem bedeutendsten Wirtschafts- und Handelsplatz im Reich, die volle Herrschaft erringen. Auch das benachbarte Bingen, seit langem ein Eckpunkt des Mainzer Besitzes, wurde damals insgesamt vom König dem Erzbischof überlassen, verbunden mit dem Geleitsrecht auf beiden Rheinufern von Winkel bis Kaub (983); - » O t t o III. fügte den bisherigen Binger Reichsforst
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hinzu (996). Ebenso dürften im 10. und 11. Jh. die Grundlagen für die spätere geschlossene Mainzer Herrschaft im Rheingau geschaffen worden sein. In der Folgezeit gelang es den Erzbischöfen, in der nächsten Umgebung ihrer Metropole Mainz einen recht geschlossenen Besitz- und Herrschaftsbereich, das spätere sog. Niederstift, zu entwickeln. - Am Main erwarb Mainz das Kollegiatstift St. Peter und Alexander zu Aschaffenburg mitsamt seinem aus königlicher Schenkung stammenden Wildbann im Spessart (wahrscheinlich 982/983). Aschaffenburg wurde künftig nächst der Bischofsstadt zum zweitwichtigsten Platz des Erzstifts und zum Mittelpunkt der Mainzer Herrschaft im Main-Spessart-Gebiet, des sog. Oberstiftes. Dabei brachte vor allem der Erwerb der Abtei Seligenstadt mit reichem Besitz vor dem Spessart einen nachhaltigen Zuwachs (1063). - Die Mainzer Besitzungen in -»Thüringen wurden offenbar erheblich durch Reichsgüter und -rechte vermehrt, als der König seine Pfalz zu Erfurt dem Erzbischof überließ (um die Wende zum 11. Jh.). Nun begannen der Ausbau und der Aufstieg des alten thüringischen Vorortes und Wirtschaftszentrums zu dem neben Mainz und Aschaffenburg dritten Mittelpunkt erzbischöflicher Herrschaft. Schon unter Erzbischof Aribo (1021 — 1031) erhielt Erfurt eine eigene Münzstätte. Hierhin wichen während des Investiturstreites die aus ihrer Metropole vertriebenen Erzbischöfe Siegfried 1. (1060-1084) und Ruthard (1089-1109) jeweils für mehrere Jahre aus (1077-1084, 1098-1105). - In Hessen erwarb Mainz vermutlich unter Erzbischof Siegfried I. mit Fritzlar den seit alters wichtigsten Platz sowie, wohl erst am Anfang des 12. Jh., Amöneburg. Auch die Grafschaft Hessen, deren Lehnshoheit die Erzbischöfe seit der Mitte des 13. Jh. beanspruchten, sollen sie nach wiederholt in der Forschung geäußerter Vermutung im Laufe des 11. oder frühen 12. Jh. erhalten haben; doch gibt es dafür in den Quellen keine Anhaltspunkte. Als erster bedeutender Territorialpolitiker auf d e m Mainzer Stuhl baute Erzbischof Adalbert I. ( 1 1 1 1 - 1 1 3 7 ) die Landesherrschaft nachhaltig aus. Besonders durch eine planmäßige Burgen- und Klosterpolitik s o w i e durch eine N e u o r d n u n g der weltlichen Verwaltung leitete er die Weiterentwicklung zum Territorium der Erzbischöfe und späteren Kurfürsten als Landesherren ein. Wie in den anderen geistlichen -»Fürstentümern des Reiches bot dafür die verfassungsrechtliche Grundlage das Wormser Konkordat (1122, -•Investiturstreit), an dessen Z u s t a n d e k o m m e n Adalbert I. maßgeblich beteiligt war. Adalbert I. bediente sich wie die weltlichen Fürsten und Herren seiner Zeit der Burgen zum Schutz der Besitzungen und als Mittelpunkte für Herrschaft und Verwaltung; er erwarb mehr als 14 Burgen und errichtete selbst weitere, so in Aschaffenburg (1122), in Erfurt (1123) und vermutlich auf dem Rusteberg (bei Heiligenstadt). Im Anschluß an seine Vorgänger seit Willigis setzte er ebenso die Klöster und Stifte als Herrschaftszentren ein. Neben wenige Neugründungen (Ebcrbach um 1116/1135, Fredelsloh 1132) trat in großem Umfang der Erwerb bestehender oder in Gründung befindlicher Klöster und Stifte. Mit der von ihm entwickelten „Mainzer Frciheit"(MagH)ii/>icnj C a p i t o und C a s p a r H e d i o (zwischen 1517 und 1 5 2 3 ) w a r e n eine Folge des unter A l b r e c h t blühenden H u m a n i s m u s . Nach dem Scheitern der gegen Kurtrier gerichteten Fehde des Franz von Sickingen (1523), mit dem Kurfürst Albrecht offenbar sympathisiert hatte, und erst recht nach dem Bauernkrieg (1525) stellte Albrecht sich entschieden auf die Seite der alten Lehre und leitete dadurch eine Entwicklung der Universität ein, die diese, als Hort der katholischen Reaktion, unmodern und inattraktiv erscheinen ließ. Die Hörerzahlen gingen zurück, auch infolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten der Universität und der daraus resultierenden Unordnung des Lehrbetriebs; 1548 und 1554 erwog man die Schließung der Mainzer Universität. Neuen A u f s c h w u n g b r a c h t e erst die G e g e n r e f o r m a t i o n unter E r z b i s c h o f D a n i e l Brendel von H o m b u r g (reg. 1 5 5 5 - 1 5 8 2 ) , der die - » J e s u i t e n nach M a i n z holte und mit dem a k a d e m i s c h e n Unterricht betraute. A m 9 . 1 2 . 1 5 6 1 w u r d e das M a i n z e r Jesuitenkolleg eröffnet; sein erster R e k t o r w a r Pater L a m b e r t Auer (gest. 1 5 7 3 ) . In der Folgezeit wirkten bedeutende M i t g l i e d e r des J e s u i t e n o r d e n s als Professoren an der M a i n z e r Universität, auch über die A u f h e b u n g des O r d e n s ( 1 7 7 3 ) hinaus; das stattliche Kollegiengebäude der J e s u i t e n , die 1 6 1 5 - 1 6 1 8 errichtete Domus Universitatis, ist bis heute erhalten, w ä h r e n d die davor liegende b a r o c k e J e s u i t e n - und Universitätskirche 1793 zerstört wurde. Die neue Blüte der M a i n z e r Universität unter den J e s u i t e n blieb freilich fast ganz a u f T h e o l o gie und Philosophie b e s c h r ä n k t ; N a m e n wie Serarius, B e c a n u s und C o n t z e n (s.u. A b s c h n . 2) hatten internationalen Klang, w ä h r e n d etwa das R e c h t s s t u d i u m noch 1586 sehr im argen lag. Als bedeutender M e d i z i n e r ist i m m e r h i n der I a t r o c h e m i k e r Ludwig von H ö r n i g k ( 1 6 0 0 - 1 6 6 7 ) zu nennen. Die personelle und finanzielle Kraft der Universität Mainz wurde durch den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) empfindlich beeinträchtigt; in der Schwedenzeit wurden die Jesuiten vertrieben (1632-1636), und nach 1648 blieb die Beschaffung der Geldmittel eine ständige Sorge der Kurfürsten. Johann Friedrich Karl von Ostein (reg. 1743-1763) bemühte sich mit der erneuerten Universitätsordnung von 1746 besonders um die Förderung der juristischen und medizinischen Studien. Der 1755 berufene Jurist Johann Baptist Horix (1730-1792) vertrat ungehindert einen nationalen, antikurialen —•Episkopalismus; sein Werk über die Concordata Nationis Germanicae wurde vom Papst verurteilt (1759). Noch war an die Zulassung nichtkatholischer Studenten in Mainz nicht zu denken; allerdings errichtete Kurfürst Emmerich Joseph von Breidbach-Bürresheim (reg. 1763 - 1 7 7 4 ) 1767 in Erfurt ein Collegium Professorum Augustanae Confessiottis mit den protestantischen Professoren Christoph Friedrich Ludewig, Christoph Schellenberger, Johann Balthasar Schmidt und Christian Heinrich Vogel. In Mainz öffnete Emmerich Joseph die Universität der Aufklärung; insbesondere nach Aufhebung des Jesuitenordens (1773) kam es zu eiligen, durch den Hofkanzler Anselm Franz von Bentzel (1738-1786) organisierten Reformmaßnahmen und Neuberufungen. E m m e r i c h J o s e p h s N a c h f o l g e r Friedrich Karl J o s e p h von Erthal (reg. 1 7 7 4 - 1 8 0 2 )
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setzte, nach anfänglicher Rückkehr zu restaurativen Tendenzen (1774: Entlassung Bentzels), die Schul- und Hochschulreformen im Sinne der Aufklärung fort; Anselm Franz von Bentzel wurde 1782 zurückberufen und zum Kurator der Universitäten Mainz und Erfurt ernannt. Schon 1784 kam es zu der großen Bentzelschen Reform der Mainzer Universität; zufolge der beim „Restaurationsfest" vom 15.-19.11.1784 verkündeten „Neuen Verfassung der verbesserten hohen Schule zu Mainz" sollten die theologische und die juristische Fakultät je zehn, die medizinische und die philosophisch-mathematische Fakultät je neun, die neue historisch-statistische Fakultät acht und die Kameralfakultät sechs Professuren erhalten. Bereits 1781 hatte der Kurfürst drei M a i n z e r Klöster (Kartäuser-, Altmünster- und R e i c h k l a r e n kloster) säkularisiert, um der Universität wieder eine wirtschaftliche Basis zu schaffen; die exekrierte Altmünsterkirche hätte, nach E n t f e r n u n g der G r ä b e r und des M o b i l i a r s (1785), die Universitätsbibliothek aufnehmen sollen. S c h o n 1785 stieg die Studentenzahl auf über 6 0 0 und übertraf damit die meisten katholischen Universitäten der Z e i t . Protestanten und Juden wurden zu Studium und P r o m o t i o n zugelassen (1786), „ a u s l ä n d i s c h e " und sogar protestantische Professoren - wie der M e d i z i n e r Samuel T h o m a s S ö m m e r i n g ( 1 7 5 5 - 1 8 3 0 ) - berufen. Von den 1 7 8 5 / 8 6 erbauten klassizistischen Professorenhäusern sind noch drei erhalten.
Die Entwicklung der modernisierten Mainzer Universität, durch Bentzels frühen Tod (1786) bereits gehemmt, wurde abrupt beendet durch die Flucht des Kurfürsten nach Aschaffenburg und den Einmarsch der französischen Revolutionstruppen (1792). Die kurfürstliche Universität M a i n z starb nicht sofort. N u r wenige Professoren begleiteten den Kurfürsten ins E x i l ; andere, wie die T h e o l o g e n Felix Anton Blau und N o r b e r t Nimis (s.u. A b s c h n . 2 ) , die M e d i z i n e r J o h a n n Peter Weidmann ( 1 7 5 1 - 1 8 1 9 ) , Samuel T h o m a s S ö m m e r r i n g ( 1 7 5 5 - 1 8 3 0 ) und J a k o b Fidelis A c k e r m a n n ( 1 7 6 5 - 1 8 1 5 ) sowie die Philosophen Niklas Vogt ( 1 7 5 6 - 1 8 3 6 ) und Anton J o s e p h D o r s c h ( 1 7 5 8 - 1 8 1 9 ) , arrangierten sich, teilweise sogar als begeisterte Klubisten, mit den neuen Verhältnissen. N a c h der offiziellen Eingliederung von M a i n z in die Französische Republik degradierte man die Universität zur „ Z e n t r a l s c h u l e " (1797). Aus der medizinischen Fakultät wurde eine „ M e d i z i n i s c h e S c h u l e " , die nach dem Übergang von M a i n z an das G r o ß h e r z o g t u m Hessen (1816) erlosch (1822).
Die theologischen und philosophischen Studien wurden nach dem Willen des letzten in Mainz regierenden Kurfürsten Friedrich Karl Joseph von Erthal (reg. in Mainz 1774-1792; gest. Aschaffenburg 1802) in Aschaffenburg weitergeführt (1798-1803). Erthals Nachfolger Karl Theodor von Dalberg (1787 Koadjutor, 1802 Erzbischof von Mainz; seit 1803 in Regensburg, gest. Regensburg 1817) gründete als Ersatz für die Mainzer Universität 1808 in Aschaffenburg die Karls-Universität, die jedoch nur bis 1818 bestand. Inzwischen hatte im französischen Mainz der neue Bischof Joseph Ludwig Colmar (reg. 1802-1818) ein Priesterseminar geschaffen (1805), an das er fähige, kirchentreue Theologen berief. Kontinuierlich ausgebaut und seit 1887 Philosophisch-Theologische Hochschule, hat das Bischöfliche Priesterseminar (s. u. Abschn. 3) bis zur Gründung der Johannes Gutenberg-Universität (1946) die akademische Ausbildung der katholischen Theologen des Bistums Mainz ermöglicht. Eine rechtshistorische Brücke zwischen alter und neuer Universität ist auch der sog. Mainzer Universitätsfonds, bestehend aus den Liegenschaften der 1781 zugunsten der Universität aufgehobenen drei Mainzer Klöster (s.o.). Nach dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945) gehörte Mainz zur französischen Besatzungszone. Unter verantwortlicher Mitwirkung der Franzosen, insbesondere des Generals Raymond Schmittlein, kam es zum Aufbau einer Universität, die am 22.5.1946 - in einer ehemaligen Flak-Kaserne auf Bretzenheimer Gemarkung - eröffnet wurde und als Namenspatron den in Mainz geborenen Johannes Gutenberg (ca. 1400-1468) erhielt. Als Devise wählte sich die neue bzw. erneuerte Mainzer Universität im Blick auf die Überwindung nationaler, religiöser und politischer Gegensätze das Gebetswort Jesu Joh 17,21 (Ut omnes unum sirtt, „alle sollen eins sein"). Als erster Rektor amtierte der Geograph Josef Schmid (1946/47).
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Den Lehrkörper der katholisch-theologischen Fakultät bildeten die Professoren des Bischöflichen Priesterseminars; erstmals in Mainz gab es daneben jetzt auch eine evangelisch-theologische Fakultät, deren personeller Aufbau im wesentlichen das Verdienst ihres Gründungsdekans, des praktischen Theologen Wilhelm Jannasch (1888-1966), war. Dazu kamen eine juristische, eine medizinische, eine philosophische und eine naturwissenschaftliche Fakultät sowie später Institute in Germersheim und Idar-Oberstein. Die Durchführung des Hochschulgesetzes vom 22.12.1970 zerschlug den klassischen Kanon der sechs Fakultäten zugunsten von 26 Fachbereichen (seit Sommersemester 1973); seitdem bilden Katholische und Evangelische Theologie je einen Fachbereich. Im Januar 1974 trat an die Stelle der Rektorats- eine Präsidialverfassung; letzter Rektor (1969-1974) und erster Präsident (1974-1980) war der Jurist Peter Schneider. Die zunächst sechs medizinischen Fachbereiche wurden aufgrund des neuen Hochschulgesetzes vom 21.7.1978 wieder zusammengeschlossen; sie bilden seit dem Wintersemester 1979/80 den Fachbereich 4 („Medizin"). Erwähnung verdient das 1977 festlich begangene Universitätsjubiläum, vor allem wegen der zu diesem Anlaß erschienenen Publikationen (vgl. Güth 154-158). Die Zahl der Studierenden, 1960 noch etwa 4850, beträgt z.Zt. (Wintersemester 1990/91) über 28000, die der beamteten Professoren 438.
2. Die alte theologische
Fakultät
(1477-1797)
Die ersten Jahrzehnte der Mainzer theologischen Fakultät waren geprägt durch den Einfluß des Humanismus (s.o. Abschn. 1), der sich mit kirchlicher Rechtgläubigkeit durchaus zu verbinden verstand. So lehnte auch das Gutachten der Mainzer Theologen im Inquisitionsprozeß von 1479 gegen den kirchenkritischen Domprediger -»Johannes Rucherat von Wesel (ca. 1420-1481) dessen Lehren ab; im Konflikt um Johannes -»Reuchlin (1455-1522) und die rabbinische Literatur stellte sich die Mainzer Fakultät zweimal gegen Reuchlin und auf die Seite der Kölner Dominikaner (1510/11).
Als Kurfürst Albrecht von Brandenburg (reg. 1514-1545) Martin Luthers Brief vom 31.10.1517 mit der Anlage der 95 Thesen am 1.12.1517 an die Universität Mainz schickte, um ein Gutachten darüber zu erbitten, ließen die Mainzer sich zunächst Zeit. Albrecht mußte mahnen (11.12.), bis am 17.12. ein Gutachten erstellt wurde, das auf eine Verurteilung der Sätze Luthers verzichtete, sondern lediglich die Einholung der päpstlichen Entscheidung empfahl. Zweifellos hatte Luther an der Universität Sympathisanten; von Mitgliedern der theologischen Fakultät waren dies 1517 mit hoher Wahrscheinlichkeit Johannes Stumpf gen. Eberbach (gest. 1533), Adam Weiß (gest. 1534) und Melchior Ambach (gest. nach 1545). Unter dem lutherfreundlichen Wolfgang -»Capito (1478—1541), der von 1520 bis 1523 in Mainz als Kanzler und Berater Albrechts von Brandenburg wirkte, wurde Caspar Hedio (1494—1552) Domprediger und Dozent der theologischen Fakultät in Mainz (1520); bei Johannes Stumpf promovierte er zum Doktor der Theologie (1523). Stumpf, seit 1520 befreundet mit Capito und Hedio, wurde 1525 als Anhänger Luthers (und der aufständischen Bauern) inhaftiert, kehrte aber, vom Kurfürst begnadigt, zur alten Lehre zurück. Weiß wurde lutherischer Pfarrer in Crailsheim; Ambach, nach einem Reformationsversuch im kurmainzischen Bingen (1522-1524) vorübergehend gefangengesetzt (1524), wurde lutherischer Pfarrer in Neckarsteinach (1531) und Frankfurt am Main (1541). Hedio, seit Herbst 1523 Prediger am Straßburger Münster, wirkte später als akademischer Lehrer (Exegese des Neuen Testaments, alte und mittelalterliche Kirchengeschichte) im Sinne des Luthertums in Straßburg.
Von den Professoren der 1525 einsetzenden, streng katholischen Reaktion und Restauration seien genannt: Johann Dietenberger O.P. (gest. 1537), Autor polemischer, asketischer und katechetischer Schriften sowie einer deutschen Bibelübersetzung (1534); Friedrich Nausea (eigentl. Grau, gest. 1552), in Mainz Professor der Exegese und Kontroverstheologie, nachmals Hofprediger (1534) und Bischof (1541) in Wien; Konrad Necrosius O.P. (eigentl. Todt, gest. 1553), der Nachfolger Dietenbergers (1537); Michael Heiding (gest. 1561), Kontroverstheologe, später Bischof von Merseburg (1549). Erzbischof Daniel Brendel von Homburg (reg. 1555-1582) berief Kölner Jesuiten nach Mainz. Im Dezember 1561 konnte das Jesuitenkolleg eröffnet werden; 1568 erfolgte
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seine Anerkennung als eines Gliedes der Universität, verbunden mit der Zuweisung der Burse der Modertti und der meisten theologischen und philosophischen Lehrstühle. Aus der Fülle bedeutender Mainzer Jesuitentheologen des 16. und 17. J h . nenne ich stellvertretend: Nikolaus Serarius S. J . ( 1 5 5 5 - 1 6 0 9 ) , den Bibelexegeten und Historiker; M a r t i n Becanus S . J . (eigentl. van der Beek, ursprüngl. Schellekens, 1 5 6 3 - 1 6 2 4 ) , den Kontroverstheologen und nachmaligen Beichtvater Kaiser Ferdinands II. ( 1 6 1 9 ) , den fruchtbaren gegenreformatorischen Schriftsteller (Opera o m n i a , 2 Bde., M a i n z 1 6 3 0 ; das Manuale Controversiarum [1623] noch 1 7 1 4 nachgedruckt), der dem Kaiser zur Duldung der L u t h e r a n e r riet; schließlich A d a m Contzen S . J . ( 1 5 7 1 - 1 6 3 5 ) , den F.xegeten, Sozialethiker, Kontroverstheologen und nachmaligen Beichtvater des Kurfürsten M a x i m i l i a n I. von Bayern (1624). Über die rechtlichen und biographischen Aspekte der theologischen Fakultät im 18. Jh. informiert umfassend die Monographie von Brück (Mainzer theol. Fak., 1955). Trotz heftiger Gegenwehr, etwa des Exegeten Hermann Coldhagen S . J . (1718-1794), siegte schon früh die Aufklärungstheologie, deren Vertreter weithin noch der forschungsgeschichtlichen Aufarbeitung harren. So ist der lateinische Commentarius in libros Novi Testamenti (5 Bde., Bd. 4 f postum Mainz 1789) des „wegen aufklärerischer Tendenzen" 1782 suspendierten Exegeten Anton Vogt S . J . (1727-1784) wegen seines Materialreichtums und besonnenen Urteils noch immer lesenswert. Ähnliches gilt für Vogts Schüler, den u.a. an Johann David -»Michaelis orientierten Bibelwissenschaftler und Hebraisten Johann Daniel Christoph Ries S . J . (1742-nach 1820), der 1797 Dekan der Fakultät in Mainz war und von 1799 bis 1818 als Professor der Hermeneutik in Aschaffenburg wirkte. Norbert Nimis (1754-1811), bis 1790 Kapuziner, dann Weltpriester, gestorben als französischer Kommissar von Neustadt im pfälzischen Haßloch, ist der Autor eines seinerzeit von Predigern und Lehrern gern benutzten Katholischen Religionshandbuchs mit der heiligen Schrift des neuen Testaments (3 Bde., Mainz, 1788/89/92); kritisch-wissenschaftlich, dennoch kirchlich interessiert, pädagogisch geschickt, unpolemisch und Dokument einer milden Aufklärung, läßt Nimis' Handbuch ahnen, was ohne den Umsturz durch die Franzosenzeit aus der Theologie der Erthal-Ära hätte werden können. Während Nimis und sein Kollege Felix Anton Blau (1754-1798) sowie der in der philosophischen Fakultät wirkende Philosoph und Theologe Anton Joseph Dorsch (1758-1819) auch biographisch aus der Bahn geworfen wurden, überlebte der von Zeitgenossen — etwa von Friedrich Christian Laukhard (1757-1822) in Leben und Schicksale 1 (Halle 1792, 2 2 3 - 2 2 6 ) - als intoleranter Reaktionär geschilderte Hermann Goldhagen S . J . (1718-1794) nicht nur als Professor (1758-1764 und 1778-1792) die Aufhebung seines Ordens (1773), sondern, als Geistlicher Rat in München, auch die Wirren der Franzosenzeit. Goldhagen trat hervor als Autor zahlreicher antirationalistischer Werke und als Herausgeber des apologetischen Mainzer Religions-Journals (seit 1776); er war auch der - anonyme - Ubersetzer einer phantastischen, weit- und kirchengeschichtlichen „Auslegung" der Johannes-Apokalypse aus der Feder des englischen Benediktiners Charles Walmesley („Pastorini", Mainz 1785/86). Von den Professoren der Mainzer theologischen Fakultät haben nur der Bibelwissenschaftler und Hebraist Johann Daniel Christoph Ries S . J . (1742-nach 1820) und der Dogmatiker Franz Christoph Scheidcl (1748-1830) ihre Lehrtätigkeit in Aschaffenburg fortgesetzt (bis 1818).
3. Das Bischöfliche
Priesterseminar
(1805-1946)
Die Ernennung des Straßburgers Joseph Ludwig C o l m a r ( 1 7 6 0 - 1 8 1 8 ) durch N a p o leon zum Mainzer Bischof (1802) bezeichnet nicht nur das E n d e des Kurstaats, sondern auch das der vor 1800 in M a i n z betriebenen Theologie. Das von C o l m a r 1 8 0 5 im ehemaligen Kloster der M a i n z e r Augustiner-Eremiten eröffnete Priesterseminar sollte eine streng kirchliche, romtreue, antirationalistische Bildungsstätte werden. Von der alten theologischen Fakultät zum Seminar des neuen Bistums M a i n z g a b es weder personelle noch geistige Brücken; als Rechtsvorgänger des heutigen M a i n z e r Fachbereichs Katholische Theologie bedarf das Priesterseminar jedoch wenigstens einer historischen Skizzierung (ausführlich: Reinhardt/Jungnitz; ferner M a t h y , Univ. M a i n z , 1977, 2 7 0 - 2 7 2 ) . Als ersten Regens berief Colmar 1805 seinen elsässischen Landsmann Bruno Franz Leopold Liebermann (1759-1844; seit 1824 wieder in Straßburg, seit 1828 als Generalvikar). Um den scholastisch denkenden Dogmatiker (Institutiones theologiae dogmaticae, 5 Bde., Mainz 1819-1827) sammelte sich der „Mainzer Kreis", eine (erste) Mainzer Theologenschule mit den von Colmar berufenen Professoren Andreas Räß (1794-1887; seit 1842 Bischof in Straßburg) und Nikolaus Weis
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(1796-1869; seit 1842 Bischof in Speyer) sowie Liebermanns Schülern Johannes Geissei (1796-1864; seit 1837 Bischof in Speyer, seit 1845 Erzbischof in Köln, 1850 Kardinal), Heinrich Klee (1800-1840; seit 1829 in Bonn, seit 1839 in München) und Adam Franz Lennig (1803-1866; seit 1852 Generalvikar in Mainz). Als Sprachrohr dieser ersten Mainzer Theologenschule erschien seit 1821, begründet von Räß und Weis, die Zeitschrift Der Katholik (bis 1918). I m J a h r e 1830 e r r i c h t e t e d a s G r o ß h e r z o g t u m H e s s e n - D a r m s t a d t a n d e r Universität - • G i e ß e n eine k a t h o l i s c h - t h e o l o g i s c h e F a k u l t ä t . Von d e n G e l e h r t e n des M a i n z e r Pries t e r s e m i n a r s , d i e z w i s c h e n 1830 u n d 1851 teils in M a i n z , teils in G i e ß e n w i r k t e n (Reinh a r d t / J u n g n i t z 3 2 0 - 3 2 3 ) , verdient v o r allem d e r K i r c h e n h i s t o r i k e r K a s p a r Riffel (1807—1856) E r w ä h n u n g ; w e g e n seiner p o l e m i s c h e n D a r s t e l l u n g L u t h e r s (Christliche Kirchengeschichte der neuesten Zeit, 1841) w u r d e Riffel vorzeitig e m e r i t i e r t . Bischof W i l h e l m E m m a n u e l F r h r . v o n -»-Ketteler ( 1 8 1 1 - 1 8 7 7 ) b e t r i e b sogleich n a c h seiner B i s c h o f s w e i h e (25.7.1850) die W i e d e r h e r s t e l l u n g des M a i n z e r P r i e s t e r s e m i n a r s als a k a d e m i s c h e r B i l d u n g s s t ä t t e f ü r d e n K l e r u s seiner Diözese; m i t d e r E r ö f f n u n g des Semin a r s ( 1 . 5 . 1 8 5 1 ) w a r die G i e ß e n e r F a k u l t ä t z u m E r l ö s c h e n verurteilt. Riffel w u r d e Professor f ü r K i r c h e n g e s c h i c h t e a m e r n e u e r t e n S e m i n a r in M a i n z (1851); als Bindeglied z u r ersten P h a s e des P r i e s t e r s e m i n a r s f u n g i e r t e A d a m F r a n z L e n n i g (gest. 1866). Eine „zweite Mainzer Theologenschule" bildete sich; zu ihr gehörten u.a. der Moral- und Pastoraltheologe Christoph Moufang (gest. 1890), der Dogmatiker Johann Baptist Heinrich (gest. 1891), der Philosoph und spätere Mainzer Bischof (seit 1886) Paul Leopolod Haffner (gest. 1899), der Kirchenhistoriker und spätere Mainzer Bischof (seit 1899) Heinrich Brück (gest. 1903) sowie der Liturgiewissenschaftler und Kunsthistoriker Friedrich Schneider (gest. 1907). Von 1875 bis 1887 mußte das Priesterseminar die Restriktionen des -»Kulturkampfs hinnehmen; die Mainzer Priesterkandidaten studierten im bayerischen Eichstätt. Nach dem Tode des Bischofs von Ketteler (gest. 1877) verwaltete Christoph Moufang als Kapitularvikar die Diözese. Erst d e r n e u e Bischof P a u l L e o p o l d H a f f n e r (reg. 1 8 8 6 - 1 8 9 9 ) e r r e i c h t e die W i e d e r e r ö f f n u n g des S e m i n a r s , e r m ö g l i c h t d u r c h ein hessisches Gesetz v o m 5 . 7 . 1 8 8 7 ( „ U b e r V o r b i l d u n g u n d A n s t e l l u n g der G e i s t l i c h e n " ) ; jetzt w u r d e die H a b i l i t a t i o n d e r D o z e n t e n g e f o r d e r t u n d d a s M a i n z e r P r i e s t e r s e m i n a r als P h i l o s o p h i s c h - T h e o l o g i s c h e H o c h s c h u l e d e n U n i v e r s i t ä t s f a k u l t ä t e n gleichgestellt.
4. Die theologischen
Fakultäten
(seit 1946) bzw.
Fachbereiche
(seit
1973)
4.1. Katholisch-theologische Fakultät bzw. Fachbereich Katholische Theologie. Unter d e m E p i s k o p a t v o n A l b e r t S t o h r (reg. 1 9 3 5 - 1 9 6 1 ) e r f o l g t e die E r ö f f n u n g d e r J o h a n n e s G u t e n b e r g - U n i v e r s i t ä t ( 2 2 . 5 . 1 9 4 6 , s . o . A b s c h n . 1). D e r L e h r k ö r p e r d e r seitherigen Phil o s o p h i s c h - T h e o l o g i s c h e n H o c h s c h u l e w u r d e geschlossen ü b e r n o m m e n u n d als K a t h o lisch-theologische F a k u l t ä t in die U n i v e r s i t ä t integriert. Zu diesem Zeitpunkt (1946/47) lehrten die folgenden Professoren: Nikolaus Adler (Neues Testament), Johannes Kraus (Moraltheologie), Ludwig Lenhart (Kirchengeschichte), Ludwig Link (Kirchenrecht), August Reatz (Dogmatik, Dogmengeschichtc), Karl Schmitt (Praktische Theologie), Heinrich Schneider (Altes Testament), Hermann Schwamm (Apologetik, Religionswissenschaft), Peter Tischleder (Moraltheologie, Sozialethik). Bei der Umwandlung der Fakultät in den Fachbereich (Sommer 1973) gehörten dem Lehrkörper folgende ordentliche Professoren an: Adolf Adam (Praktische Theologie), Ludwig Berg (Christliche Anthropologie und Sozialethik), Anton Philipp Brück (Kirchengeschichte), Karl Suso Frank (Kirchengeschichte), Heribert Gauly (Pastoraltheologie), Rudolf Haubst (Dogmatik), Georg May (Kirchenrecht), Wilhelm Pesch (Neues Testament), Josef Schmitz (Fundamentaltheologie, Religionswissenschaft), Heinrich Schneider (Altes Testament), Theodor Schneider (Dogmatik), Günter Stachel (Katechetik, Religionspädagogik), Josef Georg Ziegler (Moraltheologie). Augenblicklich (Sommersemester 1991) umfaßt der Lehrkörper des Mainzer Fachbereichs Katholische Theologie folgende Universitätsprofessoren auf Lebenszeit: Arno Anzenbacher (Christliche Anthropologie und Sozialethik), Theofried Baumeister (Kirchengeschichte), Hansjakob Becker (Liturgiewissenschaft, Homiletik), Isnard W. Frank (Kirchengeschichte, Religiöse Volkskunde), Stephan Knobloch (Pastoraltheologie), Georg May (Kirchenrecht), Rudolf Mosis (Altes Testament),
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Marius Reiser (Neues Testament), Johannes Reiter (Moraltheologie), Martin Rock (Sozialethik), Ludger Schenke (Neues Testament), Josef Schmitz (Fundamentaltheologie, Religionswissenschaft), Theodor Schneider (Dogmatik, ökumenische Theologie), Bardo Weiß (Dogmatik). Ein Verzeichnis aller Mainzer Professoren und Dozenten der katholischen Theologie zwischen 1946 und 1980 (mit Biographie und Bild) findet sich bei Reinhardt/Jungnitz 3 4 0 - 3 4 9 . Der derzeitige Mainzer Bischof, Karl Lehmann (seit 1983), wirkte von 1968 bis 1971 als Professor für Dogmatik in Mainz. Von den zur Zeit (Sommersemester 1991) 422 Studierenden des Fachbereichs Katholische Theologie sind 256 Volltheologen (Promotion, Diplom, kirchliche Abschlußprüfung); 166 erstreben ein schulisches Lehramt.
4.2. Evangelisch-theologische
Fakultät bzw. Fachbereich
Evangelische
Theologie.
Anders als die k a t h o l i s c h - t h e o l o g i s c h e F a k u l t ä t k o n n t e die - z u n ä c h s t nicht vorgesehene, a b e r gerade von k a t h o l i s c h e r Seite von A n f a n g an g e f o r d e r t e - evangelische Schwesterfakultät a u f keine T r a d i t i o n e n zurückgreifen. Die für das neue Land Rheinland-Pfalz zuständigen evangelischen Kirchenleitungen hatten und haben ihren Sitz in Düsseldorf, Darmstadt und Speyer. Seit dem Ende des Casimirianums in Neustadt (1584; vgl. T R E 1 4 , 5 7 8 , 5 - 2 0 ) hatte es auf nunmehr (1946) rheinland-pfälzischem Boden keine Möglichkeit eines Studiums der evangelischen Theologie mehr gegeben; sowohl -»Gießen als auch -•Heidelberg lagen im „Ausland". Federführend von Seiten der evangelischen Kirchen war der rheinhessische Superintendent und nachmalige Propst, zuletzt Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Reinhard Becker in Albig (1897-1980). Ihm gelang es mit Hilfe der französischen Besatzungsmacht, im April 1946 den Berliner Pfarrer und Dozenten Wilhelm Jannasch (1888-1966) nach Mainz zu holen. Jannasch übernahm das Amt des Dekans - das er fünf Semester lang bekleidete - und die Aufgabe, so schnell wie möglich die Fakultät aufzubauen; bis zum Wintersemester 1946/47 waren zehn Professoren, Dozenten und Lehrbeauftragte gewonnen, darunter Jannasch als Professor für Praktische Theologie (vgl. Jannaschs Selbstzeugnis: Anfänge 1 6 - 2 1 ) . Freilich wurden die Jahre 1 9 4 7 - 1 9 4 9 überschattet durch das Unrecht der Suspendierung des Kirchenhistorikers Wilhelm Boudriot (1947; vgl. Dienst, Fall 9 3 - 1 0 1 ) . Je zwei Lehrstühle standen soglcich bereit für die Disziplinen Altes Testament, Neues Testament und Kirchengeschichte. Im Fach der Systematischen Theologie wurde der zweite Lehrstuhl geschaffen für den als Reformierten neben den Lutheraner Friedrich Delekat tretenden Werner Wiesner (1949). Für die Praktische Theologie war dies erst 1963 mit der Berufung Gert Ottos erreicht; zuvor hatte der Theologe und Mediziner Wilhelm Loew (1887-1977) als Lehrbeauftragter (1950) bzw. Honorarprofessor (1952) das Fach Praktische Theologie neben Jannasch und Manfred Mezger vertreten. Ein Lehrstuhl für „Allgemeine Religions- und Missionswissenschaft" wurde 1947 von der Goßnerschen Missionsgesellschaft als Stiftungsprofessur errichtet und mit Walter Holsten (1908-1982) besetzt. Seit 1946 lehrten Altes Testament-, Kurt Galling (1946-1955; gest. 1987), Friedrich Horst (1947-1959; gest. 1962), Arnulf Kuschke (1955-1968), Hans Walter Wolff (1959-1967), Christoph Barth (1967-1979; gest. 1986), Fritz Maass (1969-1975), Odil Hannes Steck (1976-1978), Horst Seebaß (1981-1989), Diethelm Michel (seit 1981) und Eckart Otto (seit 1991); Neues Testament: Ernst Käsemann (1946-1951), Eduard Schweizer (1946-1949), Erich Dinkler (1949-1951; gest. 1981), Werner Georg Kümmel (1951-1952), Gustav Stählin ( 1 9 5 2 - 1 9 6 8 ; gest. 1985), Herbert Braun (1952-1971; gest. 1991), Ferdinand Hahn (1968-1977), Egon Brandenburger (seit 1973) und Otto Böcher (seit 1978); Kirchengeschichte: Walther Völker ( 1 9 4 6 - 1 9 6 1 ; gest. 1988), Wilhelm Boudriot (1946-1947; gest. 1948), Adolf Hamel (1949-1958; gest. 1958), Martin Schmidt (1959-1967; gest. 1982), Rudolf Lorenz (1962-1979), Gustav Adolf Benrath (seit 1969) und Gerhard May (seit 1979); Systematische Theologie: Friedrich Delekat (1946-1960; gest. 1970), Werner Wiesner (1949-1968; gest. 1974), Wolfhart Pannenberg (1961-1967), Gerhard Sauter (1968-1973), Dietrich Ritsehl (1970-1983), Friedrich Beißer (seit 1976) und Eilert Herms (seit 1986); Praktische Theologie: Wilhelm Jannasch (1946-1956; gest. 1966), Manfred Mezger (1958-1976), Gert Otto (seit 1963) und Rainer Volp (seit 1979); Religions- und Missionswissenschaft: Walter Holsten (1947-1973; gest. 1982), Werner Köhler (1974-1984; gest. 1984) und Hans Wißmann (seit 1987). Zu den Besonderheiten der Fakultät bzw. des Fachbereichs gehört die Verbindung des zunächst mit Kurt Galling und jetzt mit Eckart Otto besetzten alttestamentlichen Lehrstuhls mit der Biblischen Archäologie. Das Studienfach Christliche Orientalistik und Judaistik, in Mainz begründet und erstmals vertreten durch Eugen Ludwig Rapp (1949-1973; gest. 1977), wird weitergeführt durch Günter Mayer (seit 1972) und Leo Trepp (seit 1988). Um die Ausbildung der Realschullehrer hat sich der Neutestamentier Ehrhard Kamiah (1973-1988) verdient gemacht. Als Lehrer und Forscher der Territorialkirchengeschichte seien die Lehrbeauftragten und nachmaligen Professoren Georg Biundo (1946-1968; gest. 1988) und Heinrich Steitz (1950-1979) genannt, als Vertreter der Kirchenmusik
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Diethard Hellmann (1963-1975), als praktischer Theologe und Sozialethiker mit dem Schwerpunkt Lateinamerika Bernd Päschke (seit 1971). W ä h r e n d im J a h r e 1960 nur e t w a 160 Studierende an der Evangelisch-theologischen Fakultät eingeschrieben w a r e n , beträgt ihre Z a h l heute (Sommersemester 1991) 444; davon sind 292 Volltheologen (Promotion, Fachbereichsexamen, kirchliches Examen) und 152 Lehramtsstudenten. Quellen Die Quellenlage ist äußerst ungünstig. Bei der Besetzung von M a i n z durch die Schweden sind die beiden ersten M a t r i k e l b ä n d e untergegangen (1631/32); die Bände 3 (1578-1658) und 4 (1659-1732) sind - mit A u s n a h m e der gemalten Wappenblätter der Rektoren (Stadtarchiv Mainz) - 1 9 4 4 unpubliziert im Staatsarchiv D a r m s t a d t verbrannt. Verstreute Angaben zu Professoren und Studenten der alten Universität gesammelt bei: Benzing (s.u.); M a t h y , Universität (s.u.), Personenregister; Praetorius (s.u.). Alte Univ.-Statuten u . a . bei D u c h h a r d t (s.u.) und H e r r m a n n , Bursen (s.u.), alte Vorlesungsverzeichnisse bei Brück, Mainzer theol. Fak. (s.u.). - Vorlesungsverzeichnisse (seit 1946), Berichte der Rektoren und Präsidenten (seit 1947), Statistiken usw. im Archiv der J o h a n n e s Gutenberg-Universität Mainz. Bibliographien Wilhelm E r m a n / E w a l d H o r n , Bibliogr. der dt. Univ. 2, Leipzig/Berlin 1904 = Hildesheim 1965, 7 3 9 - 7 4 7 (bis 1899). - M a t h y , Universität (s.u.), 3 8 1 - 4 0 2 (bis 1977). - G ü t h (s.u.), 1 5 4 - 1 5 8 (1977). Literatur Fritz Arens, Die kurfürstliche Univ. Mainz: H e l m u t M a t h y , Die Univ. Mainz 1477-1977, M a i n z 1977, 2 0 1 - 2 4 3 . - J o h a n n e s B ä r m a n n , Z u r Gesch. des Mainzer Universitäts-Fonds 1 7 8 1 - 1 8 2 2 , 2 Bde., Stuttgart 1990 (Recht u. Gesch. 8). - Gustav Bauch, Aus der Gesch. des Mainzer H u m a n i s mus: Beitr. zur Gesch. der Universitäten Mainz u. Gießen, 1907 ( A H G . N F 5), 3 - 8 6 . - Josef Benzing, Verzeichnis der Professoren der alten Univ. M a i n z (als Ms. gedruckt), M a i n z 1986. - D e r s . , Verzeichnis der Studierenden der alten Univ. M a i n z , Wiesbaden 1 9 7 9 - 1 9 8 2 (Beitr. zur Gesch. der Univ. M a i n z 13). - Karl Georg Bockenheimer, Die Restauration der Mainzer Hochschule im J a h r e 1784, M a i n z 1884. — H u b e r t B ö c k m a n n , Die Kath.-theol. Fak. der J o h a n n e s Gutenberg-Univ. in Mainz: Jb. der Vereinigung „Freunde der Univ. M a i n z " 3 (1954) 1 0 - 1 5 . - A n t o n Philipp Brück, Die Anfänge der Jesuiten in Mainz: JBMz 7 (1955/57) 1 9 6 - 2 0 7 . - Ders., Die Mainzer theol. Fak. im 18. Jh., Wiesbaden 1955 (Beitr. zur Gesch. der Univ. Mainz 2). - Ders., Art. M a i n z II. Univ.: R G G 3 4 (1960) 6 1 5 - 6 1 7 . - Ders., Art. Mainz 3. 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T h e o l . in M a i n z aus der Sicht ehemaliger Studenten: FS Wilhelm Jannasch, 1964 ( J H K G V 15), 7 7 - 1 8 7 . - Winfried Dotzauer, Ivo Wittich - Historiker, Jurist u. Gutenbergforscher: Tradition u. Gegenwart. Stud. u. Quellen zur Gesch. der Univ. M a i n z , Wiesbaden 1977 (Beitr. zur Gesch. der Univ. M a i n z 11,1), 8 0 - 9 9 . - Heinz D u c h h a r d t (Hg.), Die ältesten Statuten der Univ. Mainz, Wiesbaden 1977 (Beitr. zur Gesch. der Univ. M a i n z 10). - H a n n s W. Eppelsheimer, Art. M a i n z II. Univ.: R G G 2 3 (1929) 1864f. - Franz Falk, J a k o b Weider, der erste Rektor der Mainzer Hochschule (1478-1483): Beitr. zur Gesch. der Universitäten M a i n z u. Gießen, 1907 ( A H G . N F 5), 8 7 - 93. - Hans-Heinrich Fleischer, Dietrich Gresemund der Jüngere. Ein Beitr. zur Gesch. des H u m a n i s m u s in Mainz, Wiesbaden 1967 (Beitr. zur Gesch. der Univ. M a i n z 8). - Alois Gerlich, Die Gesch. einer segensreichen Stiftung. Entstehung, Entwicklung u. 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Major
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M a i n z 4). - D e r s . / H e l m u t M a t h y , Die Univ. M a i n z . Grundzüge ihrer G e s c h . , T r a u t h e i m / M a i n z 1965. - E h r h a r d K a m i a h , Liegt dergleichen im Interesse der Studenten? Ein Bericht über studentische R e f o r m b e s t r e b u n g e n im Fachbereich Ev. T h e o l . in M a i n z : Hessisches Pfarrerblatt 1 9 7 3 , 1 1 8 - 1 2 2 . - I r e n e L a n g e , Die kurfürstliche Univ. M a i n z u. der Beginn der R e f o r m a tion: E b e r n b u r g - H e f t e 11 (1977) 3 0 - 3 4 = B P f K G 4 4 (1977) 1 4 6 - 1 5 0 . - Ludwig Lenhart, Die phil.-theol. F a k . des M a i n z e r Priesterseminars als Geistesbrücke v. der alten zur neuen M a i n z e r Univ. ( 1 8 0 4 - 1 9 4 6 ) : D i e alte M a i n z e r Univ. G e d e n k s c h r . anläßlich der Wiedereröffnung der Univ. in M a i n z als J o h a n n e s - G u t e n b e r g - U n i v . , M a i n z 1 9 4 6 , 3 0 - 5 1 . - D e r s . , Die k a t h . - t h e o l . F a k . als Uberlieferungsträgerin einer fünfhundertjährigen Universitätsidee in M a i n z : M i s c e l l a n e a M o g u n t i n a , Wiesbaden 1964 (Beitr. zur G e s c h . der Univ. M a i n z 6), 1 2 - 2 3 . - G u n t e r M a n n / Franz D u m o n t (Hg.), Medizin in M a i n z . 4 0 J a h r e M e d . F a k . u. Klinikum 1 9 4 6 - 1 9 8 6 , M a i n z 1986. - G u n t e r M a n n / Werner Friedrich K ü m m e l / Gisela Kuhnert / Volker R ö d e l (Hg.), Medizin im alten M a i n z . Z u m 500jährigen J u b i l ä u m der J o h a n n e s Gutenberg-Univ., H i l d e s h e i m / N e w York 1977. - H e l m u t M a thy, J o h a n n e s G u t e n b e r g - U n i v . M a i n z (dt.-engl.-franz.), M a i n z 1983 2 1 9 8 9 . - Ders., Die M a i n z e r a k a d e m i s c h e Legion v. 1792: G e n e a l o g i e 9 / 1 8 (1969) 5 6 1 - 5 7 2 . - D e r s . , Stud. u. Quellen zur G e richtsbarkeit an der Univ. M a i n z : FS J o h a n n e s B ä r m a n n , W i e s b a d e n , I 1966 (Gesch. 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Volk 1 - 2 ( 1 9 5 2 - 5 3 ) 9 0 - 1 0 0 . 1 3 1 - 1 3 9 . - Wolfgang Prawitz, M a i n z u. die Anfänge der R e f o r m a t i o n : E b e r n b u r g - H e f t e 23 (1989) 8 3 - 1 1 2 = B P f K G 5 6 (1989) 2 5 5 - 2 8 4 . - Klaus R e i n h a r d t / Ingobert Jungnitz (Hg.), Augustinerstraße 3 4 . 175 J a h r e Bischöfliches Priesterseminar M a i n z , M a i n z 1980 (mit zahlreichen Beitr. zur k a t h . T h e o l . in M a i n z nach 1805). - Ferdinand W i l h e l m Emil R o t h , Z u r G e s c h . der M a i n z e r J u r i s t e n f a k u l t ä t im 15. u. 16. J h . : Hessische C h r o n i k 4 (1915) 1 8 1 - 1 8 4 . - Ders., Aus dem Leben einiger T h e o l o g i e p r o f e s s o r e n zu M a i n z im 1 5 . - 1 6 . J h . : Kath. 89 (1909) 4 2 2 - 4 3 1 . - Aloys R u p p c l , Die Lehrstätten der alten M a i n z e r Univ.: D i e alte M a i n z e r Univ. G e d e n k s c h r . anläßlich der Wiedereröffnung der Univ. in M a i n z als J o h a n n e s - G u t e n b e r g - U n i v . , M a i n z 1946, 2 4 - 2 9 . - Heinrich S c h r o h e , Die Wiederbesetzung erledigter Professuren. Ein Beitr. zur M a i n z e r Universitätsgesch. des ausgehenden 16. sowie des 17. J h . : Beitr. zur G e s c h . der Universitäten M a i n z u. G i e ß e n , 1907 ( A H G . N F 5 ) , 1 2 5 - 1 6 4 . - J ü r g e n Steiner, Die Artistenfakultät der Univ. M a i n z 1 4 7 7 - 1 5 6 2 . Ein Beitr. zur vergleichenden Universitätsgesch., Stuttgart 1 9 8 9 (Beitr. zur G e s c h . der Univ. M a i n z 14). - B a r b a r a W e b e r , J o h a n n Peter Weidmann ( 1 7 5 1 - 1 8 1 9 ) u. das M a i n z e r A c c o u c h e m e n t , M a i n z 1985. - H e r m a n n Weber (Hg.), Tradition u. G e g e n w a r t . Stud. u. Quellen zur G e s c h . der Univ. M a i n z , mit bes. Berücksichtigung der Phil. F a k . , I. Aus der Z e i t der kurfürstlichen Univ., Wiesbaden 1977 (Beitr. zur G e s c h . der Univ. M a i n z 11,1).
Otto Böcher Major, Georg
(1502-1574)
1. Leben 2. Werke nen/Literatur S. 7 2 9 )
3 . D e r majoristische Streit
4. Nachwirkung
(Bibliographien/Editio-
1. Leben Georg Maier (Meyer) wurde am 25. April 1502 in Nürnberg geboren. Schon 1511/12 in Wittenberg immatrikuliert, war er zunächst kurfürstlicher Sängerknabe (-»Friedrich der Weise). 1521 begann er das reguläre Studium und wurde am 3 1 . 3 . 1 5 2 2 B. A., Magister anscheinend im Oktober 1523. Von Luther (WA.B 3,70) und Melanchthon (MBW 357.
726
Major
455. 524) gefördert, konnte er schon 1526 seine ersten Werke publizieren (MBW [s. u. Editionen] 435. 436). Am 10.8.1528 heiratete er Margarete von Mochau aus Seegrehna bei Wittenberg (WA.B 4,509), deren Schwestern mit -»-Karlstadt und mit Gerhard Westerburg verheiratet waren. 1529 wurde er als Nachfolger —•Crucigers Schulrektor in - • M a g d e b u r g (vgl. Holstein), wo -»Amsdorff als Superintendent wirkte. Major machte sich durch eine vorbildliche Schulordnung und zusammen mit Joachim Greff durch bahnbrechendes Schultheater (Verzeichnis der im dt. Sprachraum erschienenen Drucke des 16. Jh., Stuttgart 1983ff [weiterhin: VD 16], M2114; Wimmer 40 - 4 4 ) einen bleibenden Namen. Die Zahl der Schüler betrug schließlich 600. Ostern 1537 kehrte er nach Wittenberg zurück und wurde Prediger an der Schloßkirche, wozu ihn Luther am 7.10.1537 ordinierte. Er mußte fünfmal werktags predigen, während die Sonntags- und die Mittwochspredigt dem dritten Theologieprofessor, Cruciger, oblag. 1542 wurde er Mitglied des Wittenberger Konsistoriums. Als der zur Reformation der Stadt Halle entsandte -»Jonas seine Wittenberger Professur endlich aufgab, wurde Major sein Nachfolger (WA.B 11,1-5) und dafür am 18.12.1544 von Luther zum Dr. theol. promoviert (WA 39/2, 284-336; WA.B 12,439-444). Am 31.5.1545 wurde er in die theologische Fakultät aufgenommen. Sein Predigtamt mußte er abgeben, obwohl ihn die Leute gern hörten, wie Luther bezeugt (WA.B 11,5). Gleichwohl dürfte er, nach seinen späteren Publikationen zu schließen, weiterhin fleißig gepredigt haben. 1546 wurde er zum Regensburger Religionsgespräch entsandt (WA.B 12,361 ff; MBW 4111, 4114f). In seinem gedruckten Bericht darüber (VD 16, M2112) verteidigte er entschieden die evangelische Rechtfertigungslehre. Nach Ausbruch des Schmalkaldischen Krieges publizierte er eine anonyme Flugschrift gegen den Kaiser (Waldeck; VD 16, M2033-2035). Als im November 1546 die Universität Wittenberg aufgelöst wurde, ging er nach Magdeburg. Von dort aus bemühte er sich um eine Stelle in seiner Heimatstadt oder anderswo (MBW 4475 u.ö., 4562 usw.). Nach der Niederlage von Mühlberg floh er im Mai 1547 mit Frau und zehn Kindern wie Melanchthons und Luthers Familien über Braunschweig bis Gifhorn und dann nach Nordhausen (MBW 4735, 4740, 4745 ff). Im August 1547 wurde er Stiftssuperintendent in Merseburg und damit oberster Mitarbeiter des evangelischen Bischofs Georg von Anhalt. Nach der Konsolidierung der Universität Wittenberg kehrte er Anfang März 1548 dorthin zurück (MBW 5093), wo er seine Familie gelassen hatte, versah wieder seine Professur für neutestamentliche Exegese und nahm seinen Sitz im Konsistorium ein. An mehreren Verhandlungen der Interimszeit war er persönlich beteiligt. Sachlich stand er auf Seiten Georgs von Anhalt, -»Bugenhagens und Melanchthons. Dadurch zog er sich die Angriffe der -»Gnesiolutheraner zu, die ihn beschuldigten, von Kurfürst -»Moritz gekauft worden zu sein (die Auszahlung des rückständigen Gehalts mochte wohl dafür genügen), und als Dr. Geiz Maior verhöhnten (z.B. BDG Nr. 14685). 1550 publizierte er eine Monographie über die hl. Schrift: De origine et autoritate verbi dei (VD 16, M 2 1 2 0 - 2 1 2 6 ; vgl. Ritsehl I 122ff; Keller, Der Schlüssel 103-108 mit 194f). Sie enthält einen Katalog der Wahrheitszeugen (->Flacius). 1551 erschienen eine gelehrte Widerlegung der römischen Messe und Heiligenverehrung: Refutatio horrendae prophanationis coenae domitii (VD 16, M 2 1 5 7 - 2 1 5 9 , vgl. MBW 6249) sowie ein eherechtliches Handbüchlein über die Verwandtschaftsgrade (VD 16, M1991-1995, vgl. Dieterich 98-100). Nachdem Georg Rörer im März 1551 Wittenberg verlassen hatte, übernahm Major die Herausgeberschaft der Wittenberger Lutherausgabe bis zu deren Vollendung 1559 (Wolgast 3 1 - 3 3 ) . Im Dezember 1551 wurde er für ein Jahr als Superintendent der Grafschaft Mansfeld nach Eisleben entsandt (MBW 6278). Im September 1552 war er kurz in Wittenberg (MBW 6550.5). Die Universität wünschte seine Rückkehr, wogegen ihn die Grafen von Mansfeld-Vorderort und -Mittelort für ein weiteres Jahr verpflichten wollten (MBW 6568). Doch als der seit 1547 geächtete, aber in Niedersachsen kämpfende Graf Albrecht
Major
727
von Mansfeld-Hinterort dank dem Passauer Vertrag E n d e 1 5 5 2 wieder in sein Land k a m , vertrieb er den umstrittenen Superintendenten, der in seine Wittenberger Ä m t e r zurückkehrte. N a c h Bugenhagens T o d 1558 w a r M a j o r ständiger Dekan der theologischen Fakultät. R e k t o r w a r er viermal: 1 5 4 0 / 4 1 , 1 5 4 4 / 4 5 , 1561 und 1 5 6 7 . 1561 trug er seine Vita in die Matrikel ein. Bevor der seit 1572 kranke M a n n a m 2 8 . N o v e m b e r 1574 v o m T o d erlöst wurde, mußte er noch die Katastrophe der Philippisten ( - » K r y p t o c a l vi nisten) erleben und im M a i die Torgauer Erklärung annehmen. Von seinen zwölf Kindern starben die meisten vor ihm ( A R G 2 9 , 2 7 6 A n m . 9; W A . B 1 1 , 4 f A n m . 2 2 ) . Schwiegersöhne wurden Friedrich Drachstedt ( C R 8 , 8 6 0 ) , Paul Crell ( R G G ) , Paul Eber d . J . und J o h a n n Bötticher ( A R G 2 9 , 1 7 5 f). 2.
Werke
M a j o r s zahlreiche, zum Teil in vielen Auflagen erschienene Schriften können, soweit sie nicht in 1 und 3 zitiert sind, hier nur pauschal vorgestellt werden. Durch die N u m m e r von V D 16, der bisher vollständigsten (wenn auch keineswegs kompletten) Bibliographie, sind sie einschließlich der N a c h d r u c k e identifiziert. Begonnen hat er mit Schulbüchern, schon 1525/26 mit Tabellen zum Memorieren der Rhetorik nach Melanchthon und Erasmus (VD 16, M 2 0 6 0 - 2 1 1 1 ; M B W 436) und mit einer Edition des Historikers Trogus (MBW 435). Als Magdeburger Rektor stellte er ein lateinisch-niederdeutsches Sachwörterbuch (de Smet), Lehrbücher der griechischen und lateinischen Grammatik (VD 16, M 2 0 2 0 f ) , der Rhetorik - in Frageform mit Textbeispielen - (VD 16, M 2 1 3 8 - 2 1 5 5 ; Koehn 3 3 1 - 3 4 5 ) sowie eine Anthologie von Sinnsprüchen (VD 16, M 2 1 7 6 - 2 1 8 4 ) zusammen und gab Luthers Katechismus lateinisch-niederdeutsch heraus (WA 30/1, 4 1 2 - 4 2 5 , 5 9 0 - 6 0 1 , 6 8 8 - 6 9 3 ; Reu H/1, 2 8 5 - 2 8 8 , H/2,433f). Beliebt war die von Luther angeregte Bearbeitung der Vitae patrum, 1544 (VD 16, M 2 2 0 5 - 2 2 1 0 ; WA 5 4 , 1 0 7 - 1 1 1 ; vgl. T R E 14,377), die noch im 18. Jh. gelesen wurden (Meinhold). Die Psalrni seu cantica, 1558 (VD 16, M 2 1 3 5 - 2 1 3 7 ) bieten Hymnen und Gebete vom AT bis zur Gegenwart. Das glossierte Psalterium (1547) wurde 1565 von Johannes Sturm bevorwortet und mit den Cantica in Straßburg verwendet (Knod). Ab 1549 publizierte er „den Dorfpfarrherrn und Hausvätern zu Dienst" viele Predigten (VD 16, M 1 9 9 7 - 2002.2018 f. 2127 - 2 1 3 4 . 2 1 9 3 f. 2214) in deutscher Sprache. Weitere Schriften handeln vom Apostolischen Glaubensbekenntnis (VD 16, M 2 0 0 3 f), von Gesetz und Evangelium (VD 16.M2215), vom Ehestand (VD 16, M2211), vom Jüngsten Gericht (VD 16, M2212), dazu mehrere Trostschriften (VD 16, M 2 1 9 5 - 2 1 9 9 ) . Die Confessio Saxonica hat er ins Deutsche übersetzt (CR 2 8 , 4 7 1 - 5 6 8 ) , ebenso eine Rede Melanchthons (Kochn Nr. 97 f, 108) und schon 1536/39 Psalmauslegungen Luthers (WA 40/3, 3, 6 f , 2 1 9 - 2 2 1 ) . 1552 beginnt die Reihe der lateinischen Kommentare zu den Paulusbriefen (VD 16, M 2 0 2 2 - 2 0 2 6 , 2185; Koehn Nr.330) und zu einigen Psalmen (VD 16, M 2 0 2 7 - v o r 2033). 1555 schilderte er das Leben des Apostels Paulus (VD 16, M 2 2 0 0 - 2 2 0 4 ) , wobei er sich um die Chronologie bemühte. Von 1556 bis 1568 erschienen in Lieferungen die Homeliae zu den Episteln und Evangelien der Sonn- und Feiertage (VD 16, M 2 0 3 6 - 2057). 1569f wurden sie mit den Enarrationes der Paulusbriefe in den drei Bänden Opera vereinigt (VD 16, M 1 9 8 8 - 1 9 9 0 ) . Diese enthalten also nur das exegetische Werk Majors sowie seine autobiographische Commonefactio histórica (VD 16, M 2 0 1 6 f ) . 1569 setzte er sich mit den Antitrinitariern auseinander (M2015). Zahlreich sind Majors Beiträge zu den Scripta publica der Universität Wittenberg (I—VII, 1546-1572, vgl. BDGIV,711 - 7 1 3 ; Hammer Nr. 2 7 2 . 3 4 3 . 3 8 9 . 4 2 7 ) , wozu auch die Verlautbarungen zum Tode Melanchthons gehören (VD 16, M 2 1 6 7 - 2 1 7 5 ; Hammer Nr. 2 0 6 - 2 1 9 . 277.303; z.T. CR 10,177-187. 206 - 208). Seine Voten als Respondent wurden auch in die Drucke der Reden Melanchthons aufgenommen (VD 16, M 2165 f, vgl. Koehn 1464), von denen er einige vorgetragen hat (vgl. Koehn 1461 und Nr. 234). Zwei Promotionsreden schrieb er 1570 (VD 16, M 2 1 1 5 - 2 1 1 8 ) . Leichenpredigten hielt er auf Bugenhagen (VD 16, M2119) und dt. auf die Fürsten Georg (VD 16, M2131) und Joachim von Anhalt (VD 16, M2113). 3. Der majoristische
Streit
Kurz bevor M a j o r im Dezember 1551 nach Eisleben k a m , publizierte Amsdorff eine Streitschrift gegen ihn und Bugenhagen ( T R E 2 , 4 9 3 . 1 5 - 1 7 ; Kolb, A m s d o r f 2 6 3 N r . 5 6 ; V D 16, A 2 3 4 0 ) , worin er ihn der Verfälschung der Rechtfertigungslehre beschuldigte. Die
728
Major
Eislebener Geistlichen wollten M a j o r als Superintendenten nur dann anerkennen, wenn er diesen Vorwurf entkräften und keine Änderungen vornehmen würde, die Mansfelder - Michael Coelius und Johannes Wigand — lehnten ihn überhaupt ab (Hieronymus Mencel bei Schlüsselburg 290ff). In seiner Antwort (VD 16, M1996; Preger I 360f) bekannte sich Major feierlich zu der Lehre, „daß gute Werke zur Seligkeit nötig sind" und - was noch problematischer ist - „daß niemand ohne gute Werke selig werde" (Lohse 115). Alsbald erschienen Gegenschriften von Amsdorff, Flacius, -»Gallus u.a. (Kolb, Amsdorf 263 Nr.59; Preger II, 550; Voit 179; VD 16, A2379, F158, G255; BDG 11,2). Die Notwendigkeit der guten Werke wird durch CA VI und XX bezeugt. Das Problem liegt in der näheren Bestimmung. In den Loci von 1535 wagte Melanchthon den Zusatz ad vitam aeternam (CR 21,429). Im Zusammenhang des Cordatus-Streits um die causae der Rechtfertigung wurde dies von Amsdorff am 14.9.1536 beanstandet (WA.B 7,539 ff) und von Melanchthon in der Neufassung 1543 nicht mehr verwendet (vgl. auch CR 9,969). Eine interne Stellungnahme Luthers zum necessaria ad salutem (WA.B 12,193; Greschat 230-242) wurde im Januar 1552 mit Melanchthons Antwort an -»Osiander publiziert (MBW 6294). öffentlich erörterte Luther das Problem in den Disputationen vom 10.10.1536 (WA 39/1,78-126; Datum WA 39/2,XV Nr. 10) und vom 1.6.1537 (WA 39/1,198-263); den Ausdruck necessaria ad salutem verwarf er in der ersten nicht so entschieden (ebd. 9 3 - 9 6 , 121) wie in der zweiten (224ff, 256f, vgl. CR 3,385). Die Disputation des 1.6.1537 wurde 1553 von Albertus Christianus in Magdeburg mit Glossen gegen Major publiziert (WA 39/1, 2 0 0 - 202). Daß Major, der seit Ostern 1537 wieder in Wittenberg lebte, am l . J u n i als Opponent aufgetreten sei, behaupten diese Glossen nicht. An der Antinomer-Disputation vom 12.1.1538 jedoch beteiligte er sich nachweislich aktiv (WA 39/1,482). Auch ein späterer Disputationsbeitrag galt den Werken (WA 39/2,184). Die Unerbittlichkeit des majoristischen Streits ist aus der Kirchenpolitik der Intcrimszeit zu erklären. Das -»Interim hält die guten Werke für nötig zur Seligkeit (Art. 7), was von den kursächsischen Theologen, darunter Major, nicht zurückgewiesen wurde (CR 7,22; MBW 5208.2.10). Auch das Leipziger Interim und seine Vorformen verwenden einmal das problematische zur Seligkeit (CR 7,63, vgl. MBW 5209, 5387). Die Gnesiolutheraner sahen dadurch das sola fide verraten. Am 25.1.1552, dem Feste Conversionis Pauli, brachte Major die Streitfrage auf die Kanzel und publizierte 1553 gegen Melanchthons (CR 8,64) und anderer Rat mit Widmung an die Stadt Eisleben Ein Sermon von S. Pauli und aller gottfürchtigen Menschen Bekehrung zu Gott (VD 16, M2186; Preger I, 364-373), von Flacius das lange Comment genannt. Major erläuterte hierin ausführlich seinen Satz; er schloß jedes Verdienst aus und bekannte sich zum sola fide. Die Seligkeit wird allein aus Gnade erlangt; zu ihrer Bewahrung sind aber die nachfolgenden guten Werke nötig, nicht als meritum, sondern als debitum. „Gute Werke sind des Glaubens und der Gerechtigkeit Früchte." Daß der Streit dennoch nicht zur Ruhe kam, hängt auch mit dem noch und wieder virulenten Antinomismus (s. T R E 13,86 f. 515; Mau) zusammen. Unter dem neuen mansfeldischen Superintendenten Erasmus Sarcerius mußten Majors Anhänger Stephan Agricola d. J. und Moritz Heling 1554 weichen. In Thüringen wurde seit 1554 Justus -»Menius angegriffen; er siedelte nach Kursachsen über. Amsdorff verstieg sich 1557 und 1559 zu dem Paradox, daß gute Werke zur Seligkeit schädlich seien (TRE 2,494), wobei er an den Kampf des frühen Luther gegen die scholastische Heilslehre anknüpfen konnte, aber dessen Frontstellung und den gegenwärtigen Stand der Diskussion mißachtete (Tschakkert 516). Deshalb wurde er sogar von den meisten Gnesiolutheranern verurteilt. Flacius stand sachlich nahe bei M a j o r s These (Frank 151 ff; Weber 120 f; Haikola 334; Keller: T R E 13,515). Er sah aber die Gefahr vor allem darin, daß ,Seligkeit' als gleichbedeutend mit Rechtfertigung' verstanden wurde (Preger 1,375). Indes ging der Schriftenkrieg weiter (BDG Nr. 48090 f), obwohl M a j o r seit 1558 auf seinen umstrittenen Satz mehrmals förmlich verzichtete (VD 16, M2005 - 2 0 1 4 . 2058f. 2160-2162; Preger I, 395f). 1563
Major
729
schrieb er an A r n s d o r f ! einen versöhnlichen B r i e f (Friedensburg: A R G ) und besuchte ihn d a n a c h in E i s e n a c h , o h n e d a ß eine Verständigung erzielt w u r d e (Brinkel 9 1 ) . Auch das A l t e n b u r g e r Religionsgespräch 1 5 6 8 / 6 9 ( S c h l ü s s e l b u r g 7 8 3 - 8 5 2 ; D ö l l i n g e r 5 3 3 f f ) k o n n t e die Spaltung nicht b e h e b e n . 1 5 7 0 publizierte M a j o r sein theologisches T e s t a m e n t ( V D 16, M 2 1 8 7 - 2 1 9 2 ) ; er b e k a n n t e sich erneut zum sola im S i n n e L u t h e r s und M e l a n c h t h o n s und v e r w a r f seinen Satz, insofern d a m i t die W e r k e „ a l s ein U r s a c h e und Verdienst der S e l i g k e i t " verstanden w ü r d e n . Diese E i n s c h r ä n k u n g w u r d e von seinen G e g n e r n als Beleg für seine U n b u ß f e r t i g k e i t angesehen ( z . B . Flacius: Schlüsselburg 2 6 6 f f , v g l . 3 5 ) . D i e - » K o n k o r d i e n f o r m e l lehnte M a j o r s Satz z w a r a b , g a b i h m a b e r m e h r R e c h t als A m s d o r f f . M e l a n c h t h o n s L e h r e , d a ß gute W e r k e n ö t i g sind als Folge der R e c h t f e r t i g u n g , a b e r nicht als Bedingung der Seligkeit, w u r d e darin festgeschrieben ( F C I V ) . 4.
Nachwirkung
D a ß M a j o r unter die Ketzer geriet, liegt nicht n u r an seiner Unvorsichtigkeit bei der F o r m u l i e r u n g eines heiklen P r o b l e m s , sondern a u c h an der U n v e r s ö h n l i c h k e i t seiner Feinde. N a c h der K l ä r u n g durch die F C hielt Schlüsselburg d e n n o c h eine scharfe Verurteilung für nötig. D i e O r t h o d o x i e suchte die U n t e r s c h e i d u n g und Zeitgleichheit von R e c h t fertigung und E r n e u e r u n g begrifflich zu fassen ( F r a n k 1 8 3 f f ) . K o n r a d H o r n e j u s ( - » H e l m stedt) und G e o r g - » C a l i x t wurden im sog. synkretistischen Streit wegen ihres angeblichen M a j o r i s m u s angegriffen. M a j o r s theologisches Anliegen, das unausweichliche Prob l e m der Heiligung und ü b e r h a u p t der christlichen E t h i k , w u r d e v o m Pietismus und den v e r w a n d t e n B e w e g u n g e n oder auch von A l b r e c h t - » R i t s c h l ( T s c h a c k e r t 5 1 9 f) in anderer Weise a u f g e n o m m e n . Wert und W i r k u n g seiner exegetischen W e r k e sind noch unerforscht. Bibliographien Wilhelm Hammer, Die Melanchthonforschung im Wandel der Jahrhunderte, I 1967, III 1981 (QRFG 35 + 49). - Horst Koehn, Philipp Melanchthons Reden. Verz. der im 16. Jh. erschienenen Drucke, Frankfurt/Main 1985 = Archiv für Gesch. des Buchwesens 25 (1984). - VD 16. Verz. der im dt. Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jh., Stuttgart 1983ff, bes. I. Abt. Bd. 13 (1988). - Oskar Waldeck, Die Publizistik des Schmalkaldischen Krieges: ARG 7 (1909/10) 38 Nr. 8 u. S. 45. Editionen Autobiographie: Album Academiae Vitebcrgcnsis II, Halle 1894, 19 f. - Briefwechsel vgl. RE 3 12,86 u. 24,57; CR 10,383 + 451; BDG Nr. 48093f; WA.B 16,125. 140. 148. Ferner: ARG 13 (1916) 2 8 0 - 2 8 5 . 2 9 9 - 3 0 3 . - ARG 21 (1924) 254f. - ARG 29 (1931) 274 - 2 7 7 . - FC SD IV: BSLK, 936 - 950 (Lit.). M B W = Melanchthons Briefwechsel, hg. v. Heinz Scheible, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977ff. Literatur Gottfried Arnold, Unpartheyische Kirchen- u. Ketzer-Historie, Frankfurt/Main (1697) 1729 = Hildesheim 1967,1, 8 2 2 - 8 2 6 ; II, 3 8 3 - 3 9 0 . - Ragnar Bring, Das Verhältnis v. Glauben u. Werken in der luth. Theol., 1955 (FGLP 10/7), 7 5 - 1 0 6 . - Karl Brinkel, Nikolaus v. Amsdorf: Des Herren Name stehtuns bei,hg. v. Karl Brinkel/Herbert v. Hintzenstern, Berlin 1 9 6 1 , 7 8 - 9 2 . - B e n n o v. Bundschuh, Das Wormser Religionsgespräch v. 1557, 1988 (RST 124), 9 9 - 1 0 2 . - Hartwig Dieterich, Das prot. Eherecht in Deutschland bis zur Mitte des 17. Jh. 1970 (JusEcc 10). - Ottmar Dittrich, Gesch. der Ethik IV, Leipzig 1932 = Aalen 1964. - I(gnaz) Döllinger, Die Reformation, ihre innere Entwicklung u. ihre Wirkungen III, Regensburg 1848 = Frankfurt 1962, 4 9 3 - 5 5 5 . - Franz Hermann Reinhold Frank, Die Theol. der Concordienformel II, (Erlangen 1861), 1 4 8 - 2 4 2 . - Walter Friedensburg, Gesch. der Univ. Wittenberg, Halle 1917. - Ders., Ein Brief Georg Majors an Nikolaus v. Amsdorff 1563: ARG 21 (1924) 254f. - Martin Greschat, Melanchthon neben Luther, 1965 (UKG 1). - Lauri Haikola, Gesetz u. Evangelium bei Matthias Flacius Illyricus, 1952 (STL 1) 3 3 4 - 3 3 6 . - Hugo Holstein, Das altstädtische Gymnasium zu Magdeburg: NJPP 130 (1884) 1 6 - 25. - G u s t a v Kawerau, Art. Major: RE 3 12 (1903) 8 5 - 9 1 ; 24 (1913) 57 (Lit.). - Rudolf Keller, Der Schlüssel zur Schrift. Die Lehre vom Wort Gottes bei Matthias Flacius Illyricus, 1984 (AGTL NF 5). - Ders., Art. Gnesiolutheraner: T R E 13 (1984) 5 1 5 - 5 1 9 . - G(ustav) Knod, Das Psalterium des Josias Rihel vom Jahre 1594: Mitt. der Gesellschaft für dt. Erziehungs- u. Schulgesch. 11 (1901) 276 - 2 8 6 . - Robert Kolb, Georg Major as Controversialist: ChH 45 (1976) 4 5 5 - 4 6 8 . - Ders., Nikolaus v. Amsdorf, Nieuwkoop 1978 (Bibliotheca Humanística & Reformatorica 24). - Bernhard Lohse, Dogma u. Erkenntnis in der
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Makarius
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Heinz Scheible Makarismen —»Bergpredigt, —•Formgeschichte/Formenkritik Makarius (Symeon von Mesopotamien;
4J5.Jh.)
1. Allgemeines 2. Makarius/Symeon und die M c s s a l i a n e r 4. Theologie 5. Nachwirkungen (Literatur S. 734)
1.
3. Quellen und Ubersetzungen
Allgemeines
Hauptsächlich unter dem Namen des „Makarius" ist ein umfangreiches Werk (Homilien, Traktate, Erotapokriseis, Logienreihen usw.) überliefert. Makarius gehört neben -»Evagrius Ponticus zu den ersten Mönchen, die im 4. Jh. schriftlich zu wirken begannen. Die Herkunft aus dem Mönchtum machen die Schriften deutlich: Der Verfasser will nicht die breiten Massen ansprechen, sondern „Hörer - er denkt in der Regel nicht an Leser" (Dörries, Theologie 206), die es ernst meinen mit dem Christentum. Die Forscher haben sich mehrheitlich auf den Namen Makarius/Symeon - nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen deutschen Veröffentlichungen (s.u.) - geeinigt. Das Wirken Symeons wird auf die Zeit zwischen 370 bis 430 datiert. Im Raum zwischen Mesopotamien und dem südlichen Kleinasien wird er gelebt haben. Beziehungen zum Kaiserhof sind nicht auszuschließen. 2. Makarius/Symeon
und die
Messalianer
Lange Zeit galt der berühmte Makarius der Ägypter, einer der Begründer des ägyptischen -• Mönchtunis, als der Verfasser der makarianischen Schriften. Erst im Jahre 1920 fand Louis Villecourt heraus, daß es nicht dieser Makarius war, sondern ein unbekannter Mönch, der sich den —»Messalianern angeschlossen hatte. Villecourt entdeckte, daß in den Homilien des Makarius Sätze einer von -»Johannes von Damaskus überlieferten
Makarius
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Liste mit Auszügen aus messalianischen Schriften enthalten sind. Aufgrund dieser Liste, die aus dem Asketikon, dem euchitischen Grundbuch, zitiert, erfolgte 431 in -»Ephesus die Verurteilung der Messalianer. Der Meinung Villecourts schlössen sich die meisten Forscher an. Werner Strothmann (Makariustradition 23 ff) und Hermann Dörries (Symeon 6 f) konnten den Namen des Verfassers ausfindig machen: nicht Makarius, sondern Symeon von Mesopotamien bzw. Symeones, ein von -»Theodoret (hist. eccl. IV,11) genannter Messalianerführer, ist vermutlich der Verfasser des makarianischen Schrifttums. Freilich bleibt der ägyptische Mönchsvater Makarius der „stille Partner des Theologen S y m e o n " (Dörries, Theologie 12); denn ohne den Namen des Makarius hätten die Werke nicht die Verbreitung gefunden, die ihnen zuteil wurde. Aus seinen Schriften sind nur wenige Angaben zur Biographie zu erschließen: „Die Landschaft am oberen Euphrat, die wohl die Stätte seines Wirkens war, hat ihn nicht geprägt; sie war für ihn und die Seinen die Fremde. Er war ein gebildeter Grieche, der mit seiner Mönchsschar in selbstgewählter Heimatlosigkeit lebte" (Dörries, Theologie 13). In Symeons Schriften wird die Lehrentscheidung der Synode von - * Konstantinopel 381 vorausgesetzt. Der Autor zitiert direkt keine anderen Autoren. Wie bei den meisten späteren griechischen Theologen gibt es aber Züge, die auf —»Orígenes hinweisen, ohne daß Makarius/Symeon ein Origenist gewesen ist (vgl. Dörries, Theologie 224; Desprez: SC 275, 55 Anm.2). Auch zu -»Basilius von Caesarea existieren inhaltliche Bezüge (vgl. Dörries, Symeon 4 5 1 - 4 6 5 ; ders., Theologie 435 —445; Gribomont, Monachisme 400—415; Desprez: DSp 10, 2 5 f ; SC 275, 4 7 - 5 1 ) . Reinhart Staats hat die literarische Abhängigkeit des —•Gregor von Nyssa von Symeon nachgewiesen (PTS 8; vgl. Staats, Messalianerforschung 54). Gregor ist vor 4 0 0 gestorben. Mit anderen Worten: Symeon ist ein Zeitgenosse der Kappadokier und hat Ende des 4. J h . gelebt. Untersucht werden müßten die Beziehungen zu Evagrius Ponticus (vgl. Dörries, T h e o logie 438 f) und zu syrisch-judenchristlichen Schriften (Ps. - Klementincn, Epistula apostolorum u.a.). Die Werke des - » M a r c u s Eremita und des -»Diadochus von Photice vermitteln die Auseinandersetzung innerhalb des Mönchtums, wie sie zu Lebzeiten Symeons erfolgte. Gribomont sieht in ihnen „in die Kirche integrierte Schüler" des M a k a rius (-»Askese). 3. Quellen
und
Übersetzungen
Es fällt schwer, sich eine Ubersicht über das Werk des Makarius zu verschaffen, da die ordnende Hand des Autors nur bei einer einzigen größeren Schrift, dem sogenannten Großen Brief, erkennbar ist; alle anderen Schriften liegen vor in unterschiedlichen Großsammlungen, in -»Florilegien und in Sammlungen anderer Autoren sowie Übersetzungen. Beim Sammeln seit dem 11. J h . wurden unterschiedliche Ziele verfolgt. Z . B . war der Sammler der 50 Geistlichen Homilien ein „spiritueller Theologe, kein Dogmatiker" (Schulze, GOF.S 24). M i t Gewißheit befinden sich in den Sammlungen auch Texte von Schülern (Desprez: S C 275, 13.20 A n m . 2 ) . Die Erarbeitung eines Urtextes wird kaum möglich sein. Sammlung I (CPG 2410 = B = Sammlung des Vaticanus Graecus 694) (64 Logoi). Logos 1 ist der Große Brief, hg. v. Werner Jaeger, Two Rediscovered Works of Ancient Christian Literature: Gregory of Nyssa and Macarius (Leiden 1954) und von Reinhart Staats: Makarios-Symeon. Epístola Magna, 1984 (AAWG PH 3, 134). - Die Logoi 2 - 6 4 hg.v. Heinz Berthold: Makarios/Symeon. Reden und Briefe. Die Sammlung I des Vaticanus Graecus 694 (B), I und II (GCS, Berlin 1973). Sammlung II (CPG 2411 = H = die 50 Geistlichen Homilien). Die 50 Geistlichen Homilien haben mehrere Ausgaben gehabt, die anfangs immer auf einem Manuskript basierten, darunter: ToS öaiou nazpÓQ Maxapíov TOV Aiyvituou 'OftiXiai v'. B. Macarii Aegyptii Homiliae quinquaginta, hg.v. Jean Picot, Paris 1559. - Gesamtausgabe, hg.v. Andrea Galland in Bibliotheca Veterum Patrum, Venedig 1770, mit einigen Verbesserungen in PG 34, 449-822. - Die erste kritische Ausgabe hg.v. Hermann Dörries/Erich Klostermann/Matthias Kroeger, Die 50 Geistlichen Homilien des Makarios, 1964 (PTS 4).
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Makarius
Zwei Handschriften der Sammlung II enthalten einen Anhang mit 7 Homilien (CPG 2414 = HA = H 5 1 - 5 7 ) , von denen H 5 4 und H 5 7 unecht sind, hg.v. G . L . Marriott, Macarii Anecdota. Seven Unpublished Homilies of Macarius, 1918 ( H T h S 5 ) . Sammlung Hl (CPG 2412 = C = 43 Homilien). Die 28 Schriften, die deutlich von der Sammlung II zu unterscheiden sind, sind hg.v. Erich Klostermann und Heinz Berthold: Neue Homilien des Makarius/Symeon. I. Aus Typus III, 1961 (TU 72). Ohne 8 Stücke, die auch in der Sammlung I vorkommen, wurden sie mit französischer Übersetzung hg.v. Vincent Desprez, Pseudo-Macaire, Œuvres Spirituelles I. Homélies propres à la Collection III, 1980 (SC 275). Sammlung IV = W = 26 Logoi (unveröffentlicht). Die Sammlung war zunächst nur arabisch bekannt (Codex Vaticanus Arabicus 84 = W). Das einzige vollständige griechische Manuskript, der Codex Parisinus Graecus 973 = X (auch „griechisch W " , 11. Jh.), wurde erst 1968 entdeckt. Die Varianten der anderen Manuskripte sind bei der Ausgabe der Sammlung I berücksichtigt. Die Sammlung IV ist ganz in der Sammlung I enthalten. Die an Dörries (Symeon) orientierte Zitierweise, die auch das in Vorbereitung befindliche M a k a r i u s - L e x i k o n von T h o m a s Weber wählt, sollte beibehalten werden: H = Sammlung II, C R = Sammlung III, B I und B II = Sammlung I, E = Epistola M a gna, H 51 ff = Homilien 5 1 - 5 3 , 5 5 und 5 6 ( M a r r i o t t ) . Eine einheitliche Zitierweise wird wohl ein Desiderat bleiben, da alle neueren Editionen nach eigenen Gesetzmäßigkeiten und Rahmenbedingungen arbeiten. Klarheit könnte nur eine Gesamtausgabe bringen. Die Verbreitung des makarianischen Schrifttums im byzantinischen Mittelalter bezeugen die Sammlungen von Exzerpten: In seinem Thesaurus Asceticus Sive Syntagma Opusculorum XVIII (Paris 1684) hat der Jesuit Pierre Poussines sieben Opuscula ascetica veröffentlicht ( C P G 2 4 1 3 ) . Opusc. I enthält Teile aus der Handschrift A (Sammlung I). Die Opusc. II—VII sind 150 Kephalaia (Auszüge aus der Sammlung IV). Die Opusc. I - V I I sind abgedruckt in PG 3 4 , 8 2 1 - 9 6 8 , die O p u s c . II—VII auch in der ikoKa).ia rcüv ÎF.pœv vtjnriKcäv, Athen 3 1 9 6 0 , III, 171 - 2 3 4 . Weitere E x z e r p t e sind in 4 4 Kephalaia und 2 4 Logoi zusammengestellt (Desprez: DSp 1 0 , 2 1 ; SC 2 7 5 , 1 8 f ) . Teile des Schrifttums sind unter anderen A u t o r e n n a m e n vorhanden: Symeon von M e s o p o t a m i e n , Basilius, Evagrius Ponticus, - » E p h r a e m Syrus, M a r c u s Eremita und Jesajas M o n a c h u s . Übersetzungen Alte Übersetzungen: 7 „Homilien" und 17 „Briefe" sind auf syrisch erhalten (CPG 2421 und 2415; vgl. Strothmann: OrChr 54, 9 6 - 1 0 5 ; syrischer Text: Strothmann, GOF.S 21 I, deutsche Übersetzung GOF.S 21 II). Deutsche Übersetzung der arabischen Übersetzung von W. Strothmann, Makarios/Symeon. Das arabische Sondergut (GOF S. 11). Deutsch: Des Heiligen Macarii Homilien Oder Geistliche Reden, übers, v. Gottfried Arnold, Leipzig 1696; ders., Ein Denckmahl des alten Christenthums, Bestehend in des Heiligen Macarii und anderer Hocherleuchteter Männer aus der Alten Kirche höchsterbaulichen und Außerlesenen Schrifften, Goslar 1699. - Des Heiligen Makarius des Ägypters 50 Geistliche Homilien, übers, v. Dionys Stiefenhofer 1913 (BKV 2 10). - Eine moderne deutsche Übersetzung ist in BGL angekündigt. Englisch: A. J . Mason, Fifty Spiritual Homilies of St. Macarius, London 1921 = Willits, California 1974; George A. Maloney, lntoxicated with God. The Fifty Spiritual Homilies of Macarius, Denville, N . J . 1978. Französisch: Les homélies spirituelles de Saint Macaire, Le Saint-Esprit et le chrétien, übers, v. Placide Deseille: Spiritualité orientale et vie monastique 40, Abbaye de Bellefontaine 1984. 4.
Theologie
M a k a r i u s / S y m e o n hat kein dogmatisches Werk vorgelegt. Seine Schriften stehen im ausdrücklichen Widerspruch zu einer „wissenschaftlichen" Theologie, sie beruhen auf einer „ E r f a h r u n g s t h e o l o g i e " (vgl. Dörries, T h e o l o g i e 2 0 ; die folgenden Zitate sind diesem grundlegenden Werk e n t n o m m e n ) . Aber gerade deswegen haben seine späteren Leser nie ganz dem Versuch widerstehen können, ihn in die N ä h e Augustins zu rücken oder als reformatorischen Zeugen vor Luther zu sehen; wobei Gemeinsamkeiten mit beiden Kirchenlehrern nicht zu übersehen sind. Symeon hat die grundlegende Erfahrung v o m einwohnenden Bösen gemacht: „ D i e
Makarius
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eingedrungene Sünde ist eine geistige Macht und Wesenheit des Satans; alles Böse hat sie eingesät. Heimlich wirkt sie auf den inneren Menschen und die Vernunft, und sie kämpft mit den Gedanken. Die Menschen aber wissen es nicht, daß sie von einer fremden Macht getrieben das Böse t u n " (H 15,49; vgl. 28). Dieses im Menschen einwohnende Böse entstammt nicht der menschlichen Natur, sondern ist wider die Natur (C 35,1); es handelt sich um eine Verführungs-, nicht um eine Zwangsgewalt. Symeon beschreibt dieses u. a. mit Bildern vom „Räuber im Hause" oder der „Schlange im Herzen". Der Ursprung des Bösen wird von ihm in doppelter Weise erklärt: 1. „Das Böse ist seit der Übertretung des ersten Menschen in die Seele eingedrungen" ( H 4 5 , l ) ; die Übertretung —»Adams geschieht gleichsam immer wieder neu in einem jeden einzelnen Menschen. 2. Das Böse wird durch den Satan (-•Teufel) bewirkt, der sich sowohl der Verlockungen der Welt als auch der -»Leiden und -»Krankheiten bedient (B 1,10,13 ff). „Weder hohe Geisterfahrungen noch auch die kirchliche Taufe reichen offenbar zu, den Satan aus dem Herzen zu vertreiben" (76). Die Ableitung der Sünde von der Übertretung Adams her legt es nahe, an Erbsünde (-»Sünde) zu denken. „Bei Symeon gibt es eine eigene Theologie des Erbbösen, nicht begrifflich, aber bildhaft deutlich geformt" (56), eine Erbsündenlehre hat er nicht entwickelt. Im Gegenüber zu manichäischen Vorstellungen (-»Manichäismus) erklärt er seine Lehre vom Zusammenwohnen von Gut und Böse mit dem Sonnengleichnis: „Die Sonne, die doch ein Körper und ein Geschöpf ist, leuchtet in übelriechende Orte, wo Totes und Schmutz liegt, und leidet doch weder Flecken noch Schaden" (H 16,3; 82). „Das Sonnengleichnis widerlegt nicht nur die Meinung, Gut und Böse seien nicht im selben Menschen zusammen denkbar, sondern zeigt, daß Symeon sowohl das Licht wie die Finsternis und beider Zusammensein ernst nimmt" (88). Durch seine innerseelische Erklärung gelingt es Symeon, deutlich zu machen, daß auch die Adamssünde den Menschen nicht schuldlos erreicht, sondern aufgrund des eigenen Ungehorsams. Die Verantwortung ist dem Menschen nie genommen. Ist etwas Böses geschehen, ist Reue erforderlich sowie die Bitte um Vergebung und göttliche Hilfe. Eine solche Verantwortung schieben die Manichäer ab. Z u m Bestand von Symeons Lehre vom Einwohnen des Guten und des Bösen im Herzen des Menschen gehört die Willensfreiheit (-»Wille/Willensfreiheit). Sowohl die Macht des Bösen als auch die Macht des Guten ist antreibend, nicht zwingend (vgl. B I 111,1 ff). Wenn auch die Macht des Bösen immer wieder von Symeon betont wird und es für ihn unmöglich ist, daß die einwohnende Sünde völlig ausgerottet werden kann - einen „Freien" hat Symeon noch nicht gesehen - , so kann der Satan doch eines nicht: Er kann nicht bestimmen, wie sich der von ihm Bedrohte entscheidet. Hier muß er taten- und ahnungslos zusehen (108). Auf diese Weise eröffnet sich ein weites Feld des freien Willens, das durch asketische Leistungen und innere Kämpfe angefüllt sein kann. Im Mittelpunkt dieser Bemühungen steht das -»Gebet (vgl. H 3,1-3). Grundlegend für Makarius/Symeon sind die Schriftstellen Lk 11,5-13 und Lk 18,1 - 8 a, wobei er insbesondere die „Unverschämtheit" des bittenden Freundes und die „Hartnäckigkeit" der Witwe herausstellt. Nur durch das intensive Gebet kann der Weg der Erlösung nicht verfehlt und die Einwohnung Christi erreicht werden. In diesem Zusammenhang wird deutlich, wie sehr Makarius/Symeon ein „Beter" und inhaltlich den Messalianern zuzuordnen ist. Er scheint einen eigenen „Stand der Beter" (vgl. 135 f) zu kennen, der eine besondere Art des Gebetes praktiziert: den Gebetskampf. Der Inhalt des Gebetes ist ein „Ruf des Gefangenen" (125) um Hilfe aus der Verstrickung in die Schuld. Aber das Gebet zeigt auch hoffnungsvolle Töne an, geht es doch um die Ankunft Christi in der -»Seele. Bei der Gebetserfüllung wird dem Menschen, das wieder zuteil, was ihm anfangs zueigen war: das Schauen Gottes bzw. des Lichtes (vgl. B I 50,24 ff, B II 156,5 ff, B 1222,4 ff, B 1228,3 ff). Das Gebet allein, d. h. die erbetene Gabe des -»Geistes, erschließt das Himmelreich, nicht die -»Taufe der Großkirche. Beim „wahren Gebet" wird die Gottheit erkennbar, und das Gebet braucht kein Ruf um Errettung von
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Makarius
der Macht des Bösen mehr zu sein, sondern ist Lobpreis des Geretteten. Die Gebetslehre von Makarius/Symeon beruht auf der tiefen Erfahrung von der Übermacht des Bösen. Als reflektierender Eremit dringt Symeon immer wieder bis an die „Wurzeln der Sünde" heran. Erst der erbetene heilige Geist kann von der Ubermacht des Bösen befreien. Anders als die meisten Theologen seiner Zeit (z.B. -»-Basilius von Cäsarea oder -»Marcus Eremita) steht für Symeon deswegen die Taufe nicht am Anfang des Geistempfanges, sondern gewährt nur ein Angeld (vgl. Hesse). Er blickt nicht auf die Taufgnade zurück, sondern sucht den vollen Geistempfang in „aller Spürbarkeit, Fülle und Kraft". Da dies durch „Kämpfe" erfolgen soll, ist ihm der Vorwurf, ein synergistisches Konzept zu vertreten, nicht ganz zu ersparen (-»Gnade IV). In einen großen Gegensatz zur Großkirche gerät Symeon aber durch seine Tauflehre. Die Mehrheit der zeitgenössischen Theologen betont immer wieder neu den Gnadencharakter der Taufe und die daraus erfolgende Verpflichtung zum Halten der Gebote. Symeon wird aus seelsorgerlichem Interesse heraus zum „Herold des heiligen Geistes" (451), der erbeten sein will. 5.
Nachwirkungen
In den Kreisen der Akoimeten war Makarius bekannt, wie die aus dem 5. Jh. stammende Vita Hypatii zeigt (vgl. Bartelink, Text Parallels 128 - 1 3 6 ; SC 1 7 7 , 3 8 - 4 1 und Wölfle). Makarius wird von den nestorianischen syrischen Mönchsschriftstellern des 7. und 8. Jh. gern zitiert (vgl. Strothmann, OrChr 54). Zu -»Symeon dem neuen Theologen lassen sich bisher nicht so enge Beziehungen herstellen, wie es anzunehmen wäre (vgl. Deppe). Dies überrascht; denn im 10. und 11. Jh. beginnt die starke mystische Renaissance in der Ostkirche. Die späteren Väter der hesychastischen Bewegung haben Makarius geschätzt. Es gibt eine enge Verbindung zwischen der Lichtlehre des Makarius/Symeon und der des -»Gregorius Sinaites (Beyer). —»Gregorius Palamas spricht von dem „großen Makarius". Es überrascht nicht, daß im Rahmen der „neohesychastischen Spiritualität des 1 8 . - 2 0 . J h . " (v. Lilienfeld, -»Hesychasmus 5) über die Philokalia des Nikodemus Hagioreites (1749-1809), die kirchenslawische Übersetzung durch Paissy Velickovskij (1722-1794) und die russische Übersetzung des Bischofs und Reklusen Fcofan (Govorov, 1815-1894) die Schriften des Makarius in weite Kreise der östlichen Christenheit gelangten. Gilles Quispel (2) hat den Satz geprägt: „Man darf wohl sagen, daß Makarius der große Heilige des Pietismus geworden ist." Johann -»Arndt kennt Werke des Makarius und hält ihn für einen Autor, der ex spiritu schreibt; dennoch gehört Makarius nicht zu den Arndt prägenden Lehrern (Schneider). Gottfried -»Arnold dagegen übersetzt nicht nur die Homilien als erster Deutscher, sondern sieht sie unter dem Gesichtspunkt der Erbaulichkeit und zitiert an vielen Stellen aus dem Werk des Makarius (vgl. Dörries, Geist und Geschichte; Benz; Schneider). Philipp Jakob -»Spener kennt Werke des Makarius; Johann Albrecht -»Bengel und Friedrich Christoph -»Oetinger setzen sich gründlich mit ihm auseinander (Weber). Trotz des Einflusses des Makarius/Symeon auf den -*Hesychasmus und den -»Pietismus fehlt eine zusammenhängende Wirkungsgeschichte. Literatur Ältere Literatur bei Johannes Quasten, Patrology, Utrecht, III J 1966. Literatur ab 1956: BPatr s. v. Macarius. Aelred Baker, Pseudo-Macarius and Gregory of Nyssa: VigChr 20 (1966) 2 2 7 - 234. - Ders., Corrections in Macarii Anecdota: J T h S NS 22 (1971) 5 3 8 - 5 4 1 . - Johannes H. van de Bank, Macarius en zijn invloed in de Nederlanden (Diss. theol. Utrecht 1977), Amsterdam 1977. - Ders., Makarios u. das Hüsgesinn der Lieften: GOF.S 24 (1983) 1 8 0 - 1 8 5 . -Gerhardus J . M . Bartelink, Text parallels between the Vita Hypatii of Callinicus and the Pseudo-Macariana: VigChr 22 (1968) 1 2 8 - 1 3 6 . - Ders., Callinicos: Vie d'Hypatios: SC 177 (1971) 3 8 - 4 1 . - E r n s t Benz, Die prot. Thebais. Zur Nachwirkung des Makarios des Ägypters im Protestantismus des 17. u. 18. Jh. in Europa u.
Makarius
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Otmar Hesse Makir -»Geschichte Israels
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Makkabäer/Makkabäerbücher
Makkabäer/Makkabäerbücher 1. Der Name 2. Erstes Makkabäerbuch 3. Zweites Makkabäerbuch 4. Drittes Makkabäerbuch 5. Viertes Makkabäerbuch 6. Stellung im Kanon (Literatur S. 743)
1. Der
Name
Der Name MaKtcaßaToq ist ursprünglich der Beiname des Judas, des dritten Sohnes des Priesters Mattatias aus Modein (el-midje), etwa 30 km nordwestlich von Jerusalem (I Makk 2,4; 3,1). Die Führung eines Beinamens entsprach einer Gepflogenheit jener Zeit; auch die vier Brüder des Judas trugen Beinamen (I Makk 2,2 f.5). Umstritten ist hingegen die Deutung des Beinamens. So gewiß hinter dem Wort MaKKaßaToq ein sonst nicht belegtes aramäisches Wort maqqabay stehen dürfte, dessen Verbindung mit aramäisch maqqaba' (hebr. maqqaebaet) ,Hammer' sehr wahrscheinlich ist, so unsicher ist, ob Judas damit als ,der Hämmerer', ,der Hammerartige' oder als ,der Hammerköpfige' (vgl. Bekh 43 b) bzw. ,der Hammergestaltige* bezeichnet werden sollte. In der Pluralform MaKKaßaToi wurde dieser Name in der Folgezeit auch auf die Brüder des Judas und ihre Anhänger übertragen. Daneben fand jedoch für Simon, der die politische Selbständigkeit der Juden erreichte und eine Dynastie begründete, sowie seine Nachkommen auch der Name ' A o a p a v a T o i (-»Hasmonäcr), vom Namen des Urgroßvaters des Mattatias, Hasmon (Ant XII 265), abgeleitet, Verwendung (Bell I 36). Als Stammvater des Geschlechts galt jedoch Jojarib (I Makk 2,1; 14,29), mit dem die Begründung einer der angesehensten Priesterklassen Jerusalems verbunden wird (I Chr 24,7). Die Verbindung des Namens ,Makkabäer' mit Schriften der L X X tritt erstmals bei Clemens Alexandrinus auf (Strom. 5,14,97); von Hippolyt wird erstmals die Numerierung dieser Bücher erwähnt (Comra. in Dan 3,4). Nicht eindeutig zu erklären ist der von Eusebius aus dem Kanonverzeichnis des Origenes in griechischer Umschrift überlieferte Titel des hebräischen Originals des I Makk (h.e. VI,25,2), der auch von der Pcschitta weitgehend bestätigt wird. Die hier gebotene Bezeichnung ZapßrjSaaßavaie)., zu der in Anlehnung an die Peschitta am Anfang hebr. segaer zu ergänzen ist, läßt an eine Bezeichnung als ,(Buch) des Fürsten des Hauses Gottes' denken, wobei sbn'y wohl als spätere, aus hsmn'y entstandene Glosse zu ,Haus Gottes' aufzufassen ist. Unter dem ,Fürsten des Hauses Gottes' wäre dann der Hasmonäer Simon zu verstehen (vgl. I Makk 14,47). Doch wurde auch eine Ubersetzung des hebräischen Buchtitels als (Buch) des Führers des Hauses der Söhne Gottes (Rost 55) oder (Buch) des Fürsten des Hauses der Söhne der Tapferen (Dommershausen 6) vorgeschlagen. In analoger Weise beziehen die Subskriptionen zum II Makk in den Unzialen dieses Buch auf die Person des Judas, indem sie es als tovöa TOÜ ftaKK(aß)aiov npa&cov ATIAZOH] (A) bzw. als looöa ßaKxaßaiou npaQcwv ETtiTOfit] (V) bezeichnen. 2. Erstes
Makkabäerbuch
Das I Makk wurde zunächst hebräisch abgefaßt. Das bezeugt auch noch Hieronymus: Maccabaeorum primum librum hebratcum repperi (Prologus galeatus in libro Regum), und das belegen neben dem noch bekannten hebräischen Titel zahlreiche Hebraismen, hebraisierend konstruierte Wortfolgen und Ubersetzungsfehler in dem griechischen Text des I Makk. Der hebräische Urtext ist jedoch verloren; so bildet der griechische Text der L X X , der in den Unzialen S, A und V sowie in 37 Minuskeln, die z.T. nur noch fragmentarisch erhalten sind und fast alle der lukianischen Rezension oder der Rezension q zugehören, vorliegt, die wichtigste Textgrundlage. Eine lateinische Übersetzung, die auf einem von den erhaltenen griechischen Handschriften abweichenden und wohl noch älteren griechischen Text beruht, dürfte bereits um 200 n.Chr. anzusetzen sein, da sich schon bei Cyprian und Lucifer von Calaris lateinische Zitate aus I Makk finden; auf sie geht auch der Vulgatatext des I Makk (La v ), der nicht von Hieronymus stammt, zurück. Eine syrische Ubersetzung liegt in zwei, auf griechische Handschriften zurückgehenden, teil-
Makkabäer/Makkabäerbücher
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weise aber wesentlich voneinander abweichenden Textausgaben (Sy I und Sy II) vor. Darüber hinaus existieren noch eine armenische und eine arabische Ubersetzung. Dagegen bietet Josephus in Ant eine beachtenswerte Textvariante, indem er bis XIII,212 neben I M a k k noch weitere Quellen (Bell, Nikolaus von Damaskus, Polybios) heranzieht und diesen ab XIII,213 in einer verkürzten, von I M a k k abweichenden Darstellung den Vorzug gibt. Daraus kann freilich keine Bestreitung der Einheit von I Makk 1 - 1 6 abgeleitet werden. Das I Makk berichtet nach einer mit Alexander dem Großen und der Entstehung der Diadochenreiche einsetzenden Einleitung (1,1-9) zunächst über den Regierungsantritt des Seleukidenkönigs Antiochus IV. Epiphanes und dessen Maßnahmen gegen die Juden und deren Religion (1,10-64), was den Aufstand unter dem Priester Mattatias auslöst (2,1-70). Danach behandelt es ausführlich die Kämpfe der Juden unter der Leitung des Judas (3,1—9,22), woran sich die kürzere Darstellung der wechselvollen Kämpfe unter dessen Brüdern Jonatan (9,23-12,53) und Simon (13,1-16,22) anschließt. Das Buch endet mit einem den Abschlußformeln des I/II Reg (vgl. I Reg 11,41;14,19 u.ö.) ähnelndem Hinweis auf eine andere Schrift, die gleichsam in Fortsetzung des I Makk über die Taten und Erfolge des Sohnes und Nachfolgers des Simon, Johannes Hyrkan, Auskunft gibt (16,23f). Die berichteten Ereignisse betreffen somit den Zeitraum von 333 v.Chr. bzw. 175 v.Chr. bis 135 v.Chr. und vermitteln damit zugleich einen Einblick in die seleukidische Geschichte von Antiochus IV. Epiphanes bis Antiochus VII. Sidetes. Für die Aufhellung des Entstehungsprozesses wie für die Rekonstruktion der Abfolge der Ereignisse nehmen die chronologischen Angaben eine Schlüsselstellung ein. Alle damit verbundenen Probleme löst am besten die Annahme von zwei verschiedenen, mit einem unterschiedlichen Epochebeginn rechnenden Ären, die im I Makk nebeneinander herlaufen: einer im Herbst 312 v. Chr. beginnenden Ära, die der offiziellen Zeitrechnung in den seleukidischen Westgebieten entspricht, und einer im Frühjahr 312 v. Chr. einsetzenden Ära, die die seit ca. dem 6. Jh. v. Chr. übliche jüdische Auffassung vom Jahresbeginn mit dem Nisan aufnimmt. Bieten die Datierungen nach der seleukidischen Herbstära nur Jahresangaben, so führen die der jüdischen Frühjahrsära folgenden Datierungen vielfach auch Monats- und Tagesangaben an. Immer wieder wird für die Frühjahrsära aber auch erst mit einem der babylonischen Chronologie entsprechenden Beginn im Jahr 311 v.Chr. gerechnet (z.B. Hanhart u.a.) oder versucht, alle Datierungen des I Makk auf nur eine Ära zurückzuführen, wobei man entweder an die Herbstära von 312 v.Chr. (Bringmann; Dommershausen) oder die Frühjahrsära von 311 v.Chr. (Kolbe; Bévenot; Abel; Fischer) denkt. Doch kommt man bei Annahme nur einer Ära nicht ohne die Korrektur einiger Datierungen aus. Die Datierungen nach der im Herbst 312 v.Chr. beginnenden Ära, die ausschließlich Ereignisse aus der syrischen Geschichte fixieren und immer mit einem seleukidischen Herrscher oder Thronprätendenten in Verbindung stehen, führen zu der Annahme einer seleukidischen Chronik als Quelle für die Aussagen über die syrische Geschichte. Demgegenüber dürften hinter den chronologischen Angaben, die der jüdischen Frühjahrsära folgen und die stets im Zusammenhang mit innerjüdischen Ereignissen begegnen, mehrere jüdische Quellen stehen. Unter diesen ist am eindeutigsten eine Judas-Vita, die die Kämpfe und Erfolge der Juden unter der Führung des Judas beschrieb, nachweisbar (vgl. 9,22); als ihr Verfasser könnte Eupolemos, ein gebildeter Jude aus dem Kreis um Judas (vgl. 8,17), in Frage kommen. In diese Vita, die bei strenger Gesetzestreue eine national-patriotische Tendenz ohne Bindung an eine bestimmte religiöse Richtung verfolgte, waren zahlreiche poetische Stücke (1,25-28.36-40; 2,44a/?ba; 3 , 3 - 9 a . 4 5 . 5 0 - 5 3 ; 4,24.30b-33.38; 7,17; 9,21) (Neuhaus 36) sowie eine Urkunde (8,23-30[32]) eingefügt. Für die Darstellung der Ereignisse unter Jonatan und Simon, die das Hohepriesteramt innehatten, wurden dagegen wahrscheinlich hohepriesterliche Tagebücher, wie sie für Johannes Hyrkan belegt sind (vgl. 16,24), zugrunde gelegt. Diese boten in einer gegenüber der Judas-Vita kürzeren und sachlichen Form, die einer Chronik nahekam, einen zusam-
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Makkabäer/Makkabäerbücher
menhängenden Überblick über alle wesentlichen Ereignisse aus der Amtszeit des Hohenpriesters mit genauen Datierungen; sie enthielten keine Zitate aus biblischen Büchern oder poetische Stücke. O b daneben auch noch Tagebücher der Hohenpriester vor Jonatan, vor allem von Alkimus (7,5; 9,54-56), herangezogen wurden, muß offen bleiben, - ebenso wie die Frage, ob für die Darstellung der Rolle des Mattatias eine gesonderte Quelle, etwa eine Legende, genutzt wurde. Doch wurden auch noch mündliche Uberlieferungen verarbeitet und aus einem Archiv (vgl. 14,49) Abschriften von Briefen und Urkunden jüdischer wie nichtjüdischer (seleukidischer, römischer, spartanischer) Herkunft eingefügt. An der Authentizität des Grundbestands dieser Dokumente besteht mit Ausnahme von 12,20—23 kaum Zweifel; abgesehen von 5 , 1 0 - 1 3 und 14,27-45 dürften sie alle im Original griechisch abgefaßt gewesen sein. Die aus diesem Quellenmaterial vom Autor des I Makk erstellte, im Stil und Charakter an Sam/Reg sich anlehnende Darstellung ist nicht immer streng objektiv und weicht gelegentlich vom historischen Ablauf ab, obwohl an der grundsätzlichen Richtigkeit keine Zweifel bestehen. Der Autor war ein national gesinnter, der Familie der Makkabäer wie dem jüdischen Gesetz fest verbundener Jude; vielleicht darf man ihn sogar als den „Hofchronisten" der Makkabäer bczeichncn. Er lebte in Palästina und verfaßte I Makk unter Johannes Hyrkan (135-104 v.Chr.), als dieser bereits auf eine längere Regierungszeit zurückblicken konnte, doch noch vor dessen Bruch mit den Pharisäern. Im Hinblick auf theologische Aussagen kommt I Makk keine besondere Bedeutung zu. Sein Wert beruht vor allem auf der in ihm zum Ausdruck kommenden Glaubenshaltung, für die unbedingtes Gottvertrauen und Festhalten an der Tora, Erfüllung ihrer Gebote und Einsatz für die Reinheit des Tempels grundlegende Inhalte sind. Jahwe, auf den alles Geschehen zurückgeführt wird, ist der Retter Israels, für dessen Hilfe die Befolgung des Gesetzes Voraussetzung ist. Dabei besteht zu Jahwe, dessen Name nicht gebraucht, sondern durch das Personalpronomen „ E r " (2,21 u.ö.) oder den Begriff „ H i m m e l " (3,18f. u.ö.) umschrieben bzw. ausgelassen (1,64) wird, jedoch nicht mehr jener direkte Kontakt, wie ihn das Alte Testament voraussetzt. Wunder ereignen sich nicht mehr; die Prophetie gilt als erloschen (9,27), obwohl das Auftreten eines neuen Propheten erwartet wird (4,46; 14,41). Das I Makk kennt jedoch keine Eschatologie (Arenhoevel) und macht keine Aussagen über eine Existenz nach dem Tode. Bemerkenswert ist das dynamische Verhältnis zwischen Gesetz und Zeitgeschehen; die Forderung des Sabbatgebots kann so der Notwendigkeit des Verteidigungskampfes am Sabbat untergeordnet werden (2,41). Lange Zeit umstritten waren einige historische Einzclfragen zur Entstehung und Anfangsphase des Kampfes der Makkabäer. Es erscheint jetzt jedoch gesichert, daß Antiochus IV., 176/75 v.Chr. zur Herrschaft gekommen, an einen 1. Feldzug nach Ägypten im Sommer 169 v. Chr. eine Plünderung Jerusalems anschloß, während auf einen 2. Ägyptenfeldzug im Dezember 168 v.Chr. sein Religionsedikt folgte, das zur Tempelschändung und dem Verbot der jüdischen Religionsausübung führte. Dieses Edikt widerrief er im Herbst 165 v.Chr. nach einem vergeblichen Versuch seines Statthalters für die Westgebiete, Lysias, den jüdischen Aufstand niederzuschlagen, worauf es im Dezember 165 v. Chr. zur Wiederweihe des Tempels kam. Im Spätherbst 164 v. Chr. starb Antiochus IV., und sein Sohn Antiochus V. garantierte den Juden nicht nur freie Religionsausübung, sondern setzte Ende 163 v.Chr. mit Alkimus auch einen legitimen Hohenpriester ein. Damit war das ursprüngliche Ziel des Kampfes der Makkabäer erreicht; mit seiner Fortsetzung wurde aus dem Religionskrieg ein Unabhängigkeitskrieg. - Die Motive für das Religionsedikt des Antiochus IV. ergeben sich genauer aus dem II M a k k . Danach hatte dieses das Ziel, den jüdischen Widerstand gegen die Oberhoheit des Königs zu brechen, nicht aber dem jüdischen Volk griechische Religion und hellenistische Lebensweise aufzuzwingen. Das Streben danach ging vielmehr von Gruppen innerhalb der Juden aus; hellenistische Reform und Religionsverfolgung erwuchsen aus „Motivationsketten, die sachlich und genetisch voneinander unabhängig w a r e n " (Bringmann 14).
Makkabäer/Makkabäerbücher 3. Zweites
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Makkabäerbuch
Das II Makk ist eine von einem Bearbeiter vollzogene Komposition aus einem griechisch abgefaßten Auszug (Epitome) aus einem umfangreicheren, aus fünf Büchern bestehenden, ebenfalls griechisch verfaßten Werk eines Jason von Kyrene (3,1-15,36) samt Vorwort (2,19-32) und Schlußwort (15,37-39) des Epitomators sowie zwei zunächst hebräisch oder aramäisch abgefaßten Briefen (1,1-2,18). Das Werk des Jason ist nicht mehr erhalten; auf jeden Fall stellt der Text des II Makk ab 2,19 kein Übersetzungsgriechisch aus dem Hebräischen dar. Der griechische Text der LXX, der in den Unzialen A und V sowie einer großen Anzahl von Minuskeln vorliegt und auch in der Rezension des Lukian und der Rezension q überliefert ist, bildet die wichtigste Textgrundlage. Daneben stellt die VL, auf die der Text der Vulgata zurückgeht, einen bedeutenden Textzeugen dar. Die syrische Ubersetzung folgt der lukianischen Rezension; eine armenische Übersetzung ist textkritisch ohne Bedeutung. Josephus hat II M a k k nicht gekannt, doch schon Hebr 11,35 f spielt auf 6,19.28; 7,7 an, und III Makk und IV Makk setzen II Makk voraus (Bickermann; Habicht).
Das II Makk zeigt, abgesehen von den beiden Einleitungsbriefen ( l , l - 1 0 a und 1,10b—2,18) und der Rahmung der Epitome (2,19-32 und 15,37-39) eine bewußt auf zwei Tempelfeste zielende Komposition: das am 25. Kislev beginnende Chanukkafest (10,8) und den am 13. Adar zu feiernden Nikanortag (15,36). Der Einsetzung jedes Festes geht eine Beschreibung des Untergangs des jeweiligen Tempelfeindes, Antiochus IV. bzw. Nikanor, voraus, der wiederum je ein jüdisches Martyrium gegenübersteht (6,18 ff bzw. 14,37ff). Daraus ergeben sich zwei Hauptteile: Der l.Teil (3,1-10,9) beschreibt die Vorgeschichte des Makkabäeraufstands und die Auseinandersetzungen mit Seleukus IV. Philopator und Antiochus IV. Epiphanes, der 2. Teil (10,10-15,36) die Kämpfe der Juden in der Zeit von Antiochus V. Eupator und Demetrius I. Soter. Hinter dieser Gliederung scheint jedoch die ursprüngliche Einteilung des Werkes Jasons noch in fünf formelhaften Sätzen, mit denen jeweils größere Berichtsteile abgeschlossen werden (3,40; 7,42; 10,9; 13,26; 15,37), durch. Neben dieser Grundlage im Werk des Jason weist die Epitome noch einige nichtjasonische Partien auf, die in den ebenfalls in Ich-Form gehaltenen Stellen 4,17; 5,17—20; 6,12-17 sowie in 3,24f.27f.30; 7,1-41; 9,18-27; 12,43-45; 14,37-46; 15,36 vorliegen. Nach diesen vom Epitomator vorgenommenen Texterweiterungen erfolgte ein nochmaliger Eingriff in den Text durch den Bearbeiter, der der Epitome die beiden Einleitungsbriefe voranstellte (nach Habicht nur 1,10b—2,18) und auf Grund des Inhalts des 2. Einleitungsbriefes einige Umstellungen innerhalb der Epitome vornahm. Die vom II Makk berichteten Ereignisse gelten somit dem Zeitraum von 187 v.Chr. (Auftreten von Seleukus IV.) bis 161 v.Chr. (Sieg des Judas über Nikanor). Anders als I Makk bietet II Makk nur wenige chronologische Angaben. Von einigen relativen Datierungen ohne Jahresangabe abgesehen, sind es sechs Datierungen in Urkunden sowie zwei Angaben, die nur eine Jahreszahl bieten; sie folgen alle der im Herbst 312 v. Chr. beginnenden seleukidischen Ära. Das legt die Annahme nahe, daß auch in II Makk bzw. von Jason eine seleukidische Chronik verarbeitet wurde. Daneben könnte auch die Judas-Vita für Jason eine weitere Quelle gewesen sein; es ist auffällig, wie stark Eupolemos, der als deren Verfasser gelten dürfte (s. o.), in 4,11 in den Vordergrund gestellt wird. Doch ist statt dessen auch an die Jüdische Geschichte des Eupolemos, die bis 158/57 v. Chr. reichte, als Quelle gedacht worden (Habicht 177f). Weitere Quellen Jasons (nach Goldstein: Dan 7 - 1 2 ; Memoiren von Onias IV.; Legenden) sind nicht mehr genauer festzustellen. Hingegen wurden aus Archiven noch Urkunden aufgenommen, von denen die vier Dokumente 11,16-21.22-26.27-33.34-38 jetzt fast allgemein als authentisch angesehen werden. Ebenso darf von den beiden Einleitungsbriefen der erste Brief ( l , l - 1 0 a ) , ein Chanukka-Festbrief an die Juden in Ägypten von 124 v.Chr., der in l,7f einen älteren Brief von 143 v. Chr. zitiert, als echt gelten. Dagegen handelt es sich bei dem
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Makkabäer/Makkabäerbücher
zweiten Brief (1,10b—2,18) um eine um 60 v.Chr. entstandene Fälschung, ebenso wie auch der Brief des Antiochus IV. an die Juden in 9 , 1 9 - 2 7 als eine Fälschung anzusehen ist. Für den literarischen Charakter des II Makk gilt dasselbe wie für die Epitome und das Werk des Jason: es ist der hellenistischen pathetischen Historiographie zuzurechnen. Ist es somit literaturgeschichtlich vornehmlich griechisch geprägt, so ist es theologiegeschichtlich doch ganz jüdisch bestimmt (Habicht). Jason war trotz seiner hellenistischen Bildung ein strenggläubiger Jude; immer wieder wird Gott erwähnt, begegnen Gebete, wird dem Tempel in Jerusalem als der Stätte der Gegenwart Gottes und seines Kultes größte Bedeutung zugemessen. Dagegen steht Jason der Familie der Makkabäer — Mattatias wird gar nicht erwähnt - distanziert gegenüber; nur Judas als Führer des Glaubenskampfes und Streiter für den Tempel wird davon ausgenommen. Jason war ein ausgezeichnet informierter, ernsthafter Historiker, der sein Werk wohl kurz nach dem Tod des Judas um 155 v.Chr. abfaßte. Die Anfertigung der Epitome ist schwerlich genauer zu datieren; sie dürfte aber wie ihre Vorlage in Nordafrika (anders Doran: in Jerusalem) entstanden sein. Die Umformung der Epitome zum II Makk kann jedoch erst nach 124 v.Chr., dem Datum des 1.Einleitungsbriefes, erfolgt sein, am ehesten wohl in der 2. Hälfte des 1. Jh. v.Chr. ebenfalls in Nordafrika bzw. Ägypten. Das II Makk bietet mehrere theologisch relevante Aussagen. Bereits von Jason stammt die Erwartung, daß Gott seinem Volk in Epiphanien, z. T. durch Engel vermittelt (3,26; 15,23), zu Hilfe kommt (2,21; 10,29f; 12,22; 15,27), weshalb mit Gebeten seine Hilfe erfleht (12,28; 14,15) und ihm dafür gedankt (15,34), aber auch auf die Fürbitte von Heiligen vertraut wird (15,14). Vom Epitomator wurde dazu die Hoffnung auf eine leibliche Auferstehung der Frommen (7,9.14.36; 12,43 f; 14,46), mit der das Gebet für die Toten (12,43 f) in Verbindung steht, sowie die Vorstellung von der creatio ex tiihilo (7,28) eingetragen. - Eine wichtige Stellung nimmt die theologische Verarbeitung des -»Leidens ein, was über die Auffassung von der Vergeltung geschieht. Die Leiden des Volkes sind die Folge von sündigen Handlungen, die Gottes Zorn erregten (6,12; 10,4). Ebenso leidet der Tempel, indem er durch den „Greuel der Verwüstung" entweiht wurde, infolge der Schuld des Volkes (5,17). Auf Grund der Besinnung des Volkes auf seinem Bund mit Gott erlangt der Tempel jedoch seine alte Geltung zurück. Dieses Vergeltungsschema gilt ebenso auch für die Feinde der Juden, die nach ihren Sünden gestraft werden (5,9; 9,5; 15,32). Eine besondere, vom Epitomator eingeführte Form der Sühne für die Schuld des Volkes bilden die Martyrien (7,38); sie bewirken, daß sich Gottes Zorn in Gnade verwandelt (8,5). In seiner religiösen Grundhaltung steht II Makk somit den Pharisäern nahe. Der historische Wert des II Makk besteht vor allem in der gegenüber I Makk ausführlicheren Darstellung der Vorgeschichte des Kampfes der Makkabäer. Dadurch wird deutlich, daß dieser durch einen innerjüdischen Gegensatz ausgelöst wurde. Indem dieser von einer Gruppe von Reformjuden vor Antiochus IV. gebracht wird, erhält dieser erst einen Anlaß zum Eingreifen. Die Entstehung des Glaubenskampfes der Makkabäer aus einem aus nkEOVE^ia entstandenen Parteienkampf steht freilich in Spannung zu dem das I Makk beherrschenden Vergeltungsgedanken. Wichtig für die Rekonstruktion des historischen Ablaufs sind ferner die vier Urkunden in 11,16 ff, die in der Reihenfolge: 3, 1, 4 (unter Antiochus IV.) sowie 2 (unter Antiochus V.) anzuordnen sind (Habicht). Dagegen weicht II Makk mit der Ansetzung des Todes von Antiochus IV. vor der Tempelreinigung sowie des 1. Lysiasfeldzugs nach der Tempel weihe von der historisch richtigen Abfolge der Ereignisse ab. So hat noch immer die Empfehlung von J . Wellhausen: „Man muß . . . von Fall zu Fall prüfen" ihre Berechtigung (158). 4. Drittes
Makkabäerbuch
Die im Original griechisch abgefaßte Schrift, von der am Anfang ein Satz oder noch mehr verloren gegangen sein muß (das SE in 1,1 wie der Text von 1,2; 2,25 weisen auf vorangegangene Ausführungen hin), steht zu den Makkabäern nur durch das ihrer Darstellung zugrunde liegende Schema: Verfolgung - Errettung in Beziehung. Der Inhalt
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Makkabäer/Makkabäerbücher
führt dabei in die vormakkabäische Zeit und erzählt von Ereignissen unter dem ptolemäischen König Ptolemäus IV.Philopator ( 2 2 1 - 2 0 4 v.Chr.), die den Jerusalemer Tempel und die ägyptischen Juden betreffen. Dementsprechend
wird III Makk
in Minuskeln
der lukianischen
Rezension
auch
als
MaKKaßaiK&v 'rj IlToXsßaiKÜiv bezeichnet (381; 534; 728) bzw. festgestellt: MaKKaßaiKcöv y' IJxoXefiaiKcöv ßä)J.ov äxpEiXev ¿mypätpeaSai (19). Von Minuskeln abgesehen liegt der Text des III Makk in den Unzialen A und V vor, dazu in der Rezension q sowie der lukianischen Rezension. Einer syrischen und einer armenischen Übersetzung kommt keine Eigenständigkeit zu; in die Vulgata wurde diese Schrift nicht aufgenommen.
III Makk erzählt, von dem 217 v.Chr. bei Rafia (heute refah) errungenen Sieg des Ptolemäus IV. über Antiochus III. ausgehend, zunächst von dem anschließenden, durch ein göttliches Strafwunder verhinderten Versuch des Ptolemäus IV., den Jerusalemer Tempel zu betreten (1,1-2,24). Nach Alexandria zurückgekehrt, versucht er, die ägyptischen Juden durch Teilnahme am Dionysoskult zum Abfall von ihrem Glauben zu bewegen. Als das bis auf wenige Ausnahmen mißlingt, sollen in Wut versetzte Elefanten diese Juden in der Rennbahn von Alexandria zu Tode trampeln, was jedoch dreimal durch göttliches Eingreifen vereitelt wird (2,25-6,21). Das bewirkt bei dem König einen Sinneswandel: Er veranstaltet für die Juden ein siebentägiges Gastmahl, verbunden mit der Erteilung eines Schutzbriefes und der Erlaubnis zur Tötung der abgefallenen Juden, woraus ein jährlich (vom 8. bis 14. Epiphi = 3.—9. Juli) zu wiederholendes Erinnerungsfest entsteht (6,22-7,23). Das Buch ist wahrscheinlich die Festlegende eines von der ägyptischen Judenschaft gefeierten Festes und in seinem Charakter Est und Jdt, auch der älteren Festlegende des Passahfestes, vergleichbar. Anlaß und Name dieses Festes sind indes nicht mehr feststellbar; III Makk nutzte jedoch teilweise gute historische Uberlieferungen. Das Vorhaben, die Juden Ägyptens durch Elefanten niedertreten zu lassen, kennt auch Josephus, verbindet es allerdings mit Ptolemäus VIII. Physkon (Ap II, 5 2 - 5 5 ) . Doch bildet auch bei ihm die Vereitelung dieses Planes den Anlaß zu einem von den Juden Alexandriens gefeierten Fest, so daß diesem Historizität zukommen dürfte. In analoger Weise hat auch die Erzählung über das Strafwunder, das Ptolemäus IV. im Jerusalemer Tempel widerfährt (2,21 - 2 4 ) , in dem Bericht des II Makk über das Ergehen des Heliodor bei seinem Versuch, den Tempel von Jerusalem zu plündern (II Makk 3), eine Dublette. Läßt das an eine Abhängigkeit des III Makk von II Makk bzw. der Epitome denken, so setzt III Makk eindeutig Dan sowie ZusDan voraus (6,6 = Dan 3,12ff bzw. 3,50 L X X und 3'). Als Abfassungszeit des III Makk ist so wahrscheinlich das 1. Jh. v. Chr. anzunehmen; der Verfasser dürfte ein gesetzestreuer Jude Ägyptens, genauer wohl Alexandrias, gewesen sein. Der Wert des III Makk liegt darin, daß es einen Einblick in die Situation des ägyptischen Judentums im 2./1. Jh. v.Chr., seine Ängste, Nöte, Hoffnungen und Freuden gibt und damit zugleich die Probleme der jüdischen Diaspora dieser Zeit aufzeigt. 5. Viertes
Makkabäerbuch
Die in einem sehr guten, einen umfangreichen Wortschatz mit zahlreichen in der Form einwandfeien Wortbildungen aufweisenden Griechisch abgefaßte Schrift steht mit den Makkabäern nur insofern in Verbindung, daß sie die Herrschaft der frommen Vernunft über die Triebe besonders durch Beispiele aus der Makkabäerzeit zu belegen versucht. Ihrer Gattung nach ist sie wohl eine Diatribe (E. Norden, Die antike Kunstprosa I 416ff), die jedoch in Verbindung mit der Feier des Tempelweihfests entstanden sein dürfte (Bickermann: PRE 14, 802). Sie ist in den Unzialen A, S und V sowie in mehreren Minuskeln überliefert, dazu liegt sie in einer syrischen Übersetzung vor. In der Vulgata fand sie nicht Aufnahme. Auffällig ist dagegen ihre Einordnung in Josephus-Handschriften und ihre Verbindung mit Josephus. So trägt IV Makk dort
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Makkabäer/Makkabäerbücher
den Titel: 'Icoainnov eig xovi; MaKKaßaiouq ßißXiov, neben dem auch noch die Titel: nepi aoxoKpäxopog koyw/xoö und nepi oaxppovoq ).öyov begegnen. D i e beiden letzteren Bezeichnungen u m r e i ß e n präzise den Inhalt des IV M a k k . Die R e g e l n der griechischen R h e t o r i k mit g r o ß e m G e s c h i c k a n w e n d e n d , wird nach einem P r o l o g zunächst der s t o i s c h e Satz von der H e r r s c h a f t der Vernunft über die T r i e b e philosophisch entfaltet und an Beispielen aus d e m Verhalten von J a k o b , J o s e f und David die K r a f t der V e r n u n f t , die a u f durch das Gesetz erlangte Bildung zurückgeführt wird, erläutert (1,1 - 3 , 1 8 ) . D e n Hauptteil der Schrift m a c h t d a n a c h die A n f ü h r u n g von Beispielen aus der Z e i t kurz v o r und w ä h r e n d der Auseinandersetzungen der M a k k a b ä e r mit den Seleukiden aus, w o b e i v o r allem die M a r t y r i e n des E l e a s a r s o w i e der sieben B r ü d e r und ihrer M u t t e r ausgeführt werden ( 3 , 1 9 - 1 7 , 6 ) , die aus II M a k k 6 , 1 8 — 7 , 4 2 entlehnt wurden. D a s Buch schließt mit einem E p i l o g a b , in dem eine fiktive G r a b i n s c h r i f t für die M ä r t y r e r sowie eine A n s p r a c h e der M u t t e r an ihre S ö h n e mitgeteilt werden und der in einen L o b p r e i s G o t t e s ausläuft ( 1 7 , 7 - 1 8 , 2 4 ) . Inwieweit neben d e m II M a k k (bzw. der E p i t o m e oder auch J a s o n von Kyrene) noch weitere Quellen herangezogen w u r d e n , ist nicht mit Sicherheit zu b e s t i m m e n ; a m ehesten darf n o c h mit der Verarbeitung von mündlicher Überlieferung gerechnet werden. Eine genauere E n t s c h e i d u n g in dieser F r a g e wird durch den sehr freien U m g a n g mit der biblischen Vorlage (vgl. 3 , 6 f f ) und durch offenbare Ungenauigkciten erschwert. D a r a u f ist dann a u c h die oft vertretene Auffassung, d a ß der T e x t an zwei Stellen gestört sei und zu Umstellungen nötige (1,5 f seien besser zu 2 , 2 4 - 3 , 1 zu stellen; 18,6 b - 1 9 füge sich schlecht an 18,6 a an) zurückzuführen. D e r A u t o r des I V M a k k hatte eine Ausbildung als R h e t o r erhalten, der er w o h l auch seine philosophische Bildung, auf die er stolz ist, verdankt. E r k e n n t die Stoa und läßt Einflüsse von Poseidonius, a b e r auch peripatctische Einflüsse e r k e n n e n . Zugleich wird a b e r i m m e r wieder a u c h seine sehr gute Vetrautheit mit den Überlieferungen der V ä t e r deutlich (vgl. 3 , 6 ff; 16,21); das jüdische Gesetz hat für ihn uneingeschränkt Gültigkeit (vgl. 5 , 1 6 . 2 5 ; 9 , 2 ; 15,3 ff; 1 6 , 1 7 f f . ; 18,1), und er ist stolz auf die A b s t a m m u n g von A b r a h a m (13,12; 18,1). S o vertritt er auch die jüdische Auffassung von der S ü h n e w i r k u n g des Leidens des G e r e c h t e n s o w i e die H o f f n u n g a u f ein Z u s a m m e n s e i n mit den Vätern vor G o t t ( 1 8 , 2 3 ) , w o m i t er allerdings den der hellenistischen Philosophie e n t n o m m e n e n G e d a n k e n von der U n s t e r b l i c h k e i t der Seele (vgl. dazu auch 14,6) verbindet; der Auferstehungsglaube wird d e m e n t s p r e c h e n d im IV M a k k nicht e r k e n n b a r . Ähnlich deutet er auch den jüdischen G o t t e s b e g r i f f in den der Stoa hinein. A u f eine B e r ü h r u n g mit der rabbinischen S c h r i f t e r k l ä r u n g führt die Auffassung des Isaak als E r w a c h s e n e r und Vorbild der M ä r t y r e r (7,14; 1 3 , 1 2 ) ; die allegorische Schriftauslegung m a c h t e er sich hingegen nicht zueigen. Im Vergleich zu Philo war er tiefer im J u d e n t u m verwurzelt. D a s IV M a k k ist so ein Zeugnis für das B e s t r e b e n des hellenistischen J u d e n t u m s , die Inhalte des eigenen G l a u b e n s und der eigenen T r a d i t i o n mit den hellenistischen Bildungsstoffen zu verbinden und so eine Stützung und Verteidigung des jüdischen Gesetzes in von hellenistischer A u f k l ä r u n g b e s t i m m t e r Z e i t zu b e w i r k e n . Als Verfasser dieser S c h r i f t ist d e m e n t s p r e c h e n d ein gebildeter gesetzestreuer J u d e aus einer g r ö ß e r e n D i a s p o r a g e m e i n d e , e t w a A l e x a n d r i a o d e r A n t i o c h i a (so Breitenstein 175), a n z u n e h m e n ; J o s e p h u s k o m m t als A u t o r j e d o c h nicht in B e t r a c h t . D i e Abfassungszeit ist k a u m genauer zu fixieren; die V o r s c h l ä g e s c h w a n k e n zwischen der M i t t e des 1. J h . v. C h r . und dem 1. Drittel des 2. J h . n . C h r . (so zuletzt Breitenstein 175). 6. Stellung
im
Kanon
D i e vier M a k k a b ä e r b ü c h e r h a b e n eine unterschiedliche Wertung und E i n o r d n u n g e r f a h r e n . W ä h r e n d sie alle in der L X X A u f n a h m e gefunden h a b e n , ü b e r n a h m die V g . nur I M a k k und II M a k k . D e r Wertschätzung dieser beiden Schriften in der lateinischen Kirche folgend, wurden I M a k k und II M a k k 1546 a u f dem Konzil von T r i e n t von der Katholi-
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sehen Kirche als kanonische Schriften anerkannt. Dagegen verwarf die griechische Kirche entweder alle M a k k a b ä e r b ü c h e r oder erkannte I M a k k , II M a k k und III M a k k , dem 8 5 . K a n o n der canones apostolorum folgend, an, die dann als deuterokanonisch galten. M a r t i n Luther wies 1534 in seiner ersten vollständigen Bibelübersetzung I M a k k und II M a k k den sog. Apokryphen zu und wertete diese beiden Schriften so als „ B ü c h e r , so der Heiligen Schrift nicht gleich zu halten, und doch nützlich und gut zu lesen sind" ( H . E . Bindseil und H . A . Niemeyer, Dr. M a r t i n Luther's Bibelübersetzung, 5 . T h e i l , 1853). W ä h r e n d die lutherischen Kirchen dieser Einschätzung Luthers folgten, verzichteten die reformierten Kirchen allmählich ganz auf I M a k k und II M a k k . Die russisch-orthodoxe Kirche entfernte beide Bücher im 19. J h . aus ihrem Kanon. III M a k k und IV M a k k erlangten zu keiner Zeit und in keiner Kirche eine den kanonischen Schriften ähnliche Stellung. Sie waren in ihrer Geltung und Wirkung auf den vorderorientalischen R a u m beschränkt; sie werden deshalb zu den sog. Pseudepigraphen gerechnet. Literatur Zu 1 Makk und 11 Makk Textausgaben: SeptSt I, 1039-1099. 1099-1139. - Göttinger Septuaginta IX/1 (Werner Kappler), 2 1967 und I X / 2 (Robert Hanhart), 2 1976. - Stuttgarter Vg. II, 1 4 3 2 - 1 4 8 0 . 1480-1512. - Paul Anton de Lagarde, Libri Veteris Testamenti Apocryphi Syriace, 1861, 1 6 2 - 2 1 3 und 2 1 3 - 2 5 5 . - Antonius Maria Ceriani, Translatio Syra Pescitto Veteris Testamenti II, 1876. Kommentare und Übersetzungen: Felix-Marie Abel, Les Livres des Maccabées, 1949 (EB). Ders./Jean Starcky, Les Livres des Maccabées, M961 (SB[JJ). - John R. Bartlett, 1973 (CBC). Hugo Bévenot, 1931 (HSAT).-Hermann Bückers, 1939 ( H B K ) . - J o h n Christopher Dancy, A Commentary on I Maccabees, Oxford 1954. - W. 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Makkabäer/Makkabäerbücher
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Makrokosmos/Mikrokosmos I
745
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Klaus-Dietrich Schunck Makrokosmos/Mikrokosmos I. Religionsgeschichtlich II. Philosophisch
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I. Religionsgeschichtlich (Literatur S. 747)
1. Die begriffliche Erfassung der Vorstellung von einem korrelativen Zusammenhang zwischen dem Universum einerseits und dem Menschen und seiner Lebenswelt andererseits als einem Makrokosmos-Mikrokosmos-Verhältnis geht zurück auf Aristoteles, der den Menschen als filKpdg KÖaytOQ bezeichnete (Physik VIII, 2, 252 b). Die zugrunde liegende Anschauung ist allerdings wesentlich älter und in der Religionsgeschichte öfters nachweisbar. 2. Verschiedene kosmogonische Mythen lehren eine substantielle Identität von Makrokosmos und Mikrokosmos, die sie auf den schöpferischen Akt der Tötung eines Urwesens zurückführen, aus dem beide Bereiche gleichermaßen hervorgegangen sind. Nach einer in der Edda (Grimnismal 40f) tradierten Vorstellung führte die -»Germanische Religion die Weltentstehung auf die Tötung des Urriesen Ymir zurück, aus dessen Fleisch die Erde erschaffen wurde, aus seinem Blut das Meer, aus seinen Knochen die Gebirge, aus seinem Haar die Bäume und aus seiner Hirnschale der Himmel; aus den Wimpern des Riesen schufen die Götter Midgard, die menschliche Lebenswelt, und aus seinem Gehirn die Wolken. Unter den Chinesischen Religionen vertritt der spätere Taoismus die Anschauung von einer Wcltentstchung aus dem Riesenkörper des Urwesens P'an-ku. Sein Atem wurde zum Wind, seine Stimme zum Donner, seine Augen zu Sonne und Mond, sein Blut zum Meer, sein Fleisch zum Erdboden, seine Haare zu Bäumen, sein Schweiß zum Regen und aus dem Ungeziefer, das er an seinem Leibe trug, entstanden die Menschen. Zahlreiche Entsprechungen zu dieser taoistischen Vorstellung finden sich in einer westtibetischen Version der Kesar-Sage. Nur ist hier das Urwesen, das selbst „aus der Leere", also aus dem Nichts entstand und dessen Körper sich zum gesamten Universum formte, die kLu-mo, die Königin der Geister der Unterwelt. Das babylonische Weltschöpfungsepos Enüma elisch (-»Babylonisch-assyrische Religion) führt die Weltentstehung auf zwei urzeitliche Wesen zurück. Aus der von ihm besiegten und getöteten Tiämat bildete der Gott Marduk die sichtbare Welt und aus Kingu, dem Usurpator der Götterherrschaft, die Menschheit. 3. Auf der Einsicht in die wesensmäßige Ubereinstimmung von Makrokosmos und Mikrokosmos kann im Götterglauben der -•Pantheismus beruhen, der Gott und die Welt als ein einheitliches Ganzes betrachtet und damit den Gegensatz von Transzendenz und Immanenz auflöst. Häufiger ist es jedoch, daß polytheistische Systeme (-»Polytheismus) makrokosmische und irdische Bereiche in der Weise harmonisieren, daß sie eine irdische Erscheinung und ihr makrokosmisches Analogon gleichermaßen ein und derselben Gottheit unterstellen. Bezeichnend hierfür ist die iranische Anähita, die enge Bezüge zum Wasser aufweist und als göttliche Herrin sowohl der als himmlisches Wasser vorgestellten Milchstraße als auch des Flusses Oxus gilt. 4. Die Verbindung zwischen der jenseitigen und der diesseitigen Welt kann durch den Regenbogen (Gen 9,12 ff) oder durch die axis mundi hergestellt werden. Ferner findet sich
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Makrokosmos/Mikrokosmos I
die Vorstellung von einer Jenseitsbrücke, die über Gewässer und schreckenerregende Abgründe von dieser Erde in eine jenseitige Welt führt. Charakteristisch hierfür sind die parsistische Cinvat-Brücke (-»Iranische Religionen) und die islamische Brücke as-Sirät (-•Islam). Die nordgermanische Mythologie (-»Germanische Religion) kannte die mit Gjallarbrü benannte Brücke, die über den Grenzfluß Gjöll zum unterirdischen Totenreich der Göttin Hei führt. Die Mithras-Mysterien (-»Mysterien/Mysterienreligionen) rechnen mit einer achtteiligen Leiter, die die Erde mit den acht Himmeln verbindet. 5. Für die Erde als Mikrokosmos gewinnt der korrelative Zusammenhang mit dem Ordnung, Makrokosmos entscheidende Bedeutung durch die Idee einer ganzheitlichen eines beide Bereiche gleichermaßen lenkenden Weltgesetzes. Es wird in verschiedenen Religionen durch „numinose Ordnungsbegriffe" (Landberger 369) zum Ausdruck gebracht. Zu ihnen gehören die ägyptische maat, das sumerische me, das altindische rta, dem arta im Altpersischen und asha im Avestischen sowohl etymologisch als auch sachlich entsprechen, ferner das chinesische tao (sinojap. dö), das soghdische nom und die altrussische prawda. Diese Termini bezeichnen das Prinzip einer kosmisch-ethisch-rituellen Ordnung des gesamten Universums, und sie sind, da der Bedeutungskreis, den sie begrifflich umschließen, umfassender ist als unsere in unterschiedlicher Weise auf die Ordnungen der Naturkr.itic, des sozialen Lebens und des Kultus bezogenen Begriffe, in moderne Sprachen nicht mit nur einem Wort übersetzbar. Denn sie betreffen die im modernen Denken getrennten Bereiche des Sakralen und des Profanen, und sie sind damit Zentralbegriffe einer Weltanschauung des „Universums" (de Groot). 6. Die Aufrechterhaltung einer universistischen Weltordnung obliegt dem Sakralherrscher (—»Königtum) als dem Mittler zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos und damit dem Garanten für den korrelativen Zusammenhang beider Bereiche. Er ist der Realisator eines numinosen Ordnungsbegriffes, den ebenso seine Untertanen zu verwirklichen haben. Dies bedeutet in ethischer Hinsicht ein im wesentlichen dem ins naturalis gemäßes Verhalten. Im Kult haben der Sakralherrscher oder die von ihm delegierten Priester Riten zu vollziehen, die der Sicherung bestehender Zustände und der Abwehr sie bedrohender Gefahren dienen. Dies gilt insbesondere für die periodische Repristination des kosmogonischen Aktes beim Neujahrsfest, das als Erneuerung der Welt verstanden wird. Hierfür war im vorderasiatischen Raum das babylonische Neujahrsfest (akitu) charakteristisch, an dem das Enüma elisch verlesen wurde. 7.1. In universistischen Systemen ist es geboten, die menschliche Lebenswelt der kosmischen Harmonie einzufügen und sie dadurch zu heiligen. Auf diesem Prinzip beruht die vor allem in Ostasien entwickelte und bis in die neueste Zeit praktizierte Geomantik (chin. feng-shui), nach der die Anlagen des Wohnhauses und der Siedlung von einer Wertung der Himmelsrichtungen bestimmt werden. Diese qualitative Einschätzung der Himmelsrichtungen ist unterschiedlich und läßt sich daher nicht in einer phänomenologischen Formel einheitlich wiedergeben. Oft, aber nicht durchweg, gilt der Norden als Reich der Dämonen, während die religiöse Blickrichtung nach Osten weit verbreitet ist und sich auch dort findet, wo sie nicht dem Ursprungsort einer Religion gilt. Sie meint dann nämlich die Gegend des makrokosmischen Ereignisses des Aufganges der als Prinzip des Lichtes und des Lebens täglich neu erscheinenden Sonne. In Indien, Ägypten, Babylonien, Griechenland und Rom war es vorherrschender Brauch, das Morgengebet mit dem Blick zur aufsteigenden Sonne zu verrichten. In Japan wenden sich die Fujiyama-Pilger noch heute des Morgens nach Osten, um das aufgehende Tagesgestirn zu grüßen. 7.2. Der vom Menschen errichtete Tempel symbolisiert häufig die mythische Vorstellung eines himmlischen Berges, oder er gilt als imago tnundi, als Abbild des Alls. Auch die Stadt besitzt ihr himmlisches Urbild. Dies gilt in bevorzugter Weise für die Städte des alten Mesopotamien, vor allem aber für die Vorstellung vom himmlischen Jerusalem (Apk 21, 2). 8.1. Für den Einzelmenschen ist die makro-mikrokosmische Spekulation in physi-
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scher wie in psychischer Hinsicht bedeutungsvoll. Für den Körper bildet sie die Grundlage einer vorwissenschaftlichen Medizin. Ein Text des zoroastrischen Bundahishn (28,2; Widengren, Iranische Geisteswelt 50) zeigt auf, welche Bezüge hier gesehen werden können: „ D i e H a u t ist wie das Himmelszelt, und das Fleisch wie die E r d e , und die K n o c h e n wie die Berge, und die Adern wie die Flüsse, und das Blut im Leibe wie das Wasser im M e e r e , und der Bauch wie das M e e r , und die H a a r e wie die Pflanzen, und w o das H a a r stark wächst wie das D i c k i c h t , und die M u s k e l n des Leibes wie M e t a l l . "
In Einzelheiten differieren die Vorstellungen über die mikrokosmische Gestait des menschlichen Körpers. Er besteht für Plato (Timaios 73 b) aus den kosmischen Elementen Feuer, Luft, Wasser und Erde. Dabei wird aber auch hier eine übergreifende Idee vertreten, die der ->Manichäismus zum Ausdruck bringt mit seiner Feststellung „über den Körper, daß er entsprechend dem Bilde des Kosmos eingerichtet ist" (Kephalaia L X X ) . 8.2. Wenn die Seele als individuelles und zugleich als kosmisches Prinzip verstanden wird, dann gewinnt diese Gleichsetzung soteriologische Bedeutung. Nach der All-Einheitslehre der indischen Upanishaden ist der Ätman, die menschliche Seele, identisch mit dem einzig realen Sein, dem Brahman. Es führt zur Erlösung aus dem karmisch bedingten Geburtenkreislauf (samsära), wenn in einem mystischen Erkenntnisakt diese Einheit durchschaut wird. Ausgedrückt wird diese Einsicht in Identitätsformeln wie dem „großen Wort" (mabäväkyam) der Upanishaden, das tat tvam asi lautet, „das bist du selbst"; es ist nämlich dein Ätman das allumfassende Brahman. Den gleichen Sinn hat die Identitätsformel aham brahmäsmi, „ich bin Brahman". Auch gnostische Spekulationen (-»Gnosis/Gnostizismus) beruhen auf mikrokosmisch-makrokosmischen Voraussetzungen, deren Erkenntnis zur Erlösung führt. „Der Mensch aber kann sie nur deshalb erlangen, weil er selbst die Welt im Kleinen in sich birgt; er ist der Mikrokosmos und vereint in sich alle Kräfte und Substanzen des Makrokosmos; er besteht aus Materie; aber in ihm ist auch der Logos, auch der göttliche Geist lebendig, der die oberen Regionen des Kosmos durchwaltet" (Leisegang 27). 9. Auf der Annahme, daß zwischen der Welt der Gestirne und irdischen Vorgängen eine geregelte und dem Menschen erfaßbare Beziehung bestehe, beruht die Astrologie, die versucht, das Geschehen auf der Erde und die Schicksale der Menschen aus bestimmten Konstellationen der Gestirne zu deuten und vorauszusagen. In umgekehrter Weise benutzt die -> Magie den Grundsatz der Entsprechung beider Bereiche, wenn sie durch irdisches Handeln außerirdisches Geschehen bestimmten will. Typisch hierfür war das aztekische Ballspiel (ollama), das den Himmelslauf der Sonne günstig beeinflussen sollte. Literatur C l a a s J o u c o Bleeker, D e Beteekenis van de Egyptische G o d i n M a - a - t , Leiden 1929. - Ders., L'idée de l'ordre c o s m i q u e dans l'ancienne Egypt: R H P h R 1962, 193 - 2 0 0 . - A n t h o n y Christie, C h i n . M y t h o l o g i e , W i e s b a d e n 1 9 6 8 , 4 7 f. - Kai D o n n e r , Uber soghdisch n o m „ G e s e t z " u. samojedisch nom „ H i m m e l , G o t t " : S t O r (1925) 1 - 6 . - M i r c e a Eliade, Traité d'histoire des religions, Paris 1949; dt.: Die Religionen u. das Heilige, Salzburg 1954. - August H e r m a n n F r a n c k e , A L o w e r Ladakhi Version o f the Kesar Saga, Kalkutta 1905. - Felix G e n z m e r , Die E d d a , G ö t t e r d i c h t u n g , Spruchweisheit u. Heldengesänge der G e r m a n e n , Düsseldorf 1981. - M a r c e l G r a n e t , L a Pensée Chinoise, Paris 1934; dt.: D a s chin. D e n k e n , M ü n c h e n 1963. - J . J . M . d e G r o o t , Universismus. Die Grundlage der Religion u. E t h i k , des Staatswesens u. der W i s s . C h i n a s , Berlin 1918. — R o b e r t Heine-Geldern, Weltbild u. B a u f o r m in Südasien: W B K G A 4 (1930) 2 8 - 7 8 . - Willibald Kirfel, Die K o s m o g r a p h i e der Inder, Bonn/Leipzig 1920. - G ü n t e r L a n c z k o w s k i , Art. M a k r o k o s m o s u. M i k r o k o s m o s : R G G J 4 (1960) 6 2 4 f . - B e n n o Landsberger, Die Eigenbegrifflichkeit der babylonischen Welt: Isl. 2 (1926) 3 5 5 - 3 7 2 . - H a n s Leisegang, Die G n o s i s , Leipzig 1924. - Franz M . T h . de Liagre B ö h l , Nieujaarsfeest en koningsdag in B a b y l o n en Israel, G r o n i n g e n 1927. — Werner M ü l l e r , Die hl. Stadt. R o m a q u a d r a t a , himmlisches J e r u s a l e m u. die M y t h e vom Weltnabel, Stuttgart 1 9 6 1 . - Heinrich Nissen, T e m p l u m , Berlin 1869. - Karl O b e r h u b e r , Der n u m i n o s e Begriff M E im Sumerischen, Innsbruck 1963. - Anders Olerud, L'idée de m a c r o c o s m o s et de m i c r o c o s m o s dans le T i m é e de Platon, Diss. Uppsala 1951.
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Günter Lanczkowski II. Philosophisch 1. Sinn, Weite und Ursprung der Denkfigur 2. K o s m o s - P o l i s - A n t h r o p o s ( P l a t o ) 3. Sympathie (Poseidonios) 4. Alles ist Seele (Plotin) 5. Symbolik und kosmische Vision (Hildegard von Bingen) 6. Spekulative Vollendung (Nikolaus von Kues) 7. limus terrae - microcosmus - biltnus gotes (Paracelsische Renaissance) 8. Weltspiegel und solipsistische Sprachwelt (Leibniz/Wittgenstein) (Quellen/Literatur S. 753)
1. Sinn, Weite und Ursprung der
Denkfigur
Makrokosmos-Mikrokosmos meint - g a n z wörtlich und ganz weit gefaßt - die Analogie einer großen und einer kleinen Welt-Ordnung. Insofern die große Weltordnung nichts anderes ist als der Kosmos, findet sich das Übereinstimmungsverhältnis schon in der Wendung Mikro-kosmos allein. Überdies sagt das Wort „Kosmos" selbst schon das schöne (nicht nur formale) Zueinanderpassen von Teil und Ganzem, dergestalt, daß womöglich jeder Teil das Ganze auf seine Weise sehen läßt, darstellt, ja ist. Dabei meint Kosmos zunächst (bei Homer) eine vom Menschen wohlgefügte Ordnung, z.B. eines Heeres, eines Frauenschmucks, eines Gesangs, oder des hölzernen Pferdes. Als erster überträgt Anaximenes (DK 13 B 2) das Wort auf die Welt: „Wie unsere Seele, die Luft ist, uns zusammenhält, so umfassen Hauch und Luft auch die ganze Weltordnung (oV.ov rov Koa^iov)". Von Anfang an also ist das Wort Kosmos in der Philosophie eine ausdrückliche Übertragung von der kleinen menschlichen auf die große Welt, und zwar so, daß die Gegenübertragung eingeschlossen ist. Solche Auffassung von Welt und Mensch (daß sie eine schöne Ordnung ausmachen) wird bei den Logikern (Heraklit, -»Aristoteles, -•Stoa) ihre Form, bei den Einheitsdenkern (von -*Plato bis -»Proklos) ihre Kraft gewinnen. Mikrokosmos kann naturgemäß jeder Teil der großen Welt heißen, insofern er wclthaft bzw. schön geordnet ist, also zum Beispiel die Erde, die Polis, ein Leib- und Lebewesen, ein Organ, ein Atom. Vor allem aber ist Mikrokosmos jener „Teil" der Welt, dem das welthafte Ganze und das „kosmische" Verhältnis der Teile zum Ganzen und untereinander deutlich wird: der Mensch. Weil in neuzeitlicher Subjektivitätsperspektive nicht der Mensch aus der Welt, sondern die Welt aus dem Menschen zu verstehen ist, können -•Novalis (Das allgemeine Brouillon, Nr. 407) und -»Schopenhauer (vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung II, §29) umgekehrt sogar die Welt als „ M a k r a n t h r o p o s " (großer Mensch) bezeichnen und je eigentümlich auslegen. Nun stehen sich Makrokosmos und Mikrokosmos in keiner Hinsicht unvermittelt und je für sich bestimmt gegenüber. Sie beziehen sich durchgängig aufeinander, sie durchdringen einander und sind nur in der lebendigen Einheit ihres Durch-einanders. Das gedankliche Fundament solchen Einesseins bildet die Grundanschauung des Hen kai Pan. Wenn alles eins ist, ist jeder Teil des Alls die Welt selbst, und die Welt ist ganz da in jedem ihrer Teile. Dann gibt es im Grunde keine Teile und kein aus Teilen zusammengestücktes Ganzes, sondern nur Kosmos, Harmonie von Harmonien. Die Forschung (maßgebend W. Beierwaltes) sieht den platonischen Leitgedanken des £V navxa in epochalen Abwandlungen durch die ganze Philosophiegeschichte hindurchgehen: so bei -»Dionysios Areopagita, -»Johannes Scottus Eriugena, Meister -»Eckhart, -»Nikolaus von Kues, Giordano -»Bruno, Marsilio -»Ficino, -»Leibniz, -»Novalis, -»Schelling und -»Hegel. Mit demselben Recht kann bei all diesen Denkern auch die Analogie von Makrokosmos-Mikrokosmos wiedergefunden werden. Freilich gilt: Nur wenn wir jeweils nach dem ermögli-
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chenden Ursprung fragen, bedeutet die Geschichte der Makrokosmos-MikrokosmosFigur mehr als die sich abwandelnde Wiederholung einer eingängigen Metapher. 2. Kosmos-Polis-Atithropos
(Plato).
Die vorsokratischen Philosophen haben den Menschen noch gar nicht als eigenes Thema herausgenommen, sind noch ganz in das Kosmische der Physis hineingehalten und entdecken deren elementare Ordnung, elementare Einfachheit, elementare Spannung. In solchem Denken erscheint die Makrokomos-Mikrokosmos-Analogie gleichsam noch vor dem Auseinandertreten von Welt und Mensch selbst elementar einfach als die eine Natur, der eine Logos, das eine Sein in allem. In diesen Zusammenhang gehört auch noch das Wort des Demokrit (DK 68 B 34) und die Bemerkung des Aristoteles über die Gleichheit der Verhältnisse von Ruhe und Bewegung in der kleinen Welt (C