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German Pages 778 [808] Year 1989
Theologische Realenzyklopädie Band XVIII
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Theologische RealenzyMopädie In Gemeinschaft mit Horst Robert Balz • James K. Cameron Wilfried Härle • Stuart G. Hall Brian L. Hebblethwaite • Richard Hentschke Wolfgang Janke • Hans-Joachim Klimkeit Joachim Mehlhausen • Knut Schäferdiek Henning Schröer • Gottfried Seebaß Clemens Thoma herausgegeben von Gerhard Müller
Band XVIII Katechumenat/Katechumenen - Kirchenrecht
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1989
Redaktion: Dr. Christian Uhlig Lieferung 1 / 2 Katechumenat/Katechumenen - Kirche N o v e m b e r 1988 Lieferung 3 / 4 Kirche — Kirchenlied August 1989 Lieferung 5 Kirchenlied - Kirchenrecht Oktober 1989
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig - pH 7, neutral)
ClP-Titelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Theologische Realenzyklopädie / in Gemeinschaft mit Horst Robert Balz . . . hrsg. von Gerhard Müller. - Berlin ; New York : de Gruyter Teilw. hrsg. von Gerhard Krause u. Gerhard Müller NE: Krause, Gerhard [Hrsg.]; Müller, Gerhard [Hrsg.] Bd. 18. Katechumenat/Katechumenen - Kirchenrecht. - 1989 Abschlußaufnahme von Bd. 18 ISBN 3-11-011613-8
© Copyright 1989 by Walter de Gruyter 8c Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Tutte Druckerei G m b H , Salzweg-Passau Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz Sc Bauer, Berlin 61
Katechumenat/Katechumcnen I Katechumenat/Katechuraenen I. Alte Kirche II. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart,
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I. Alte Kirche 1. Vorkonstantinische Zeit 2. Die Zeit der frühen Reichskirche chen Katechumenats (Literatur S. 5)
1. Vorkonstantinische
3. Das Ende des altkirchli-
Zeit
Das altkirchliche Katechumenat ist ursprünglich eine Phase des Christseins vor der -•Taufe, in der christliches Leben eingeübt und der christliche Glaube vertieft werden soll. Die ersten klaren Belege stammen aus dem letzten Drittel des 2. Jh. Die Apostolische Tradition -»Hippolyts von Rom (um 200) legt feste Regeln für die Katechumenen nieder, sachlich entsprechen sie weitgehend dem, was wir bei -»Tertullian in Karthago und —•Clemens von Alexandrien finden. Natürlich wird es von Anfang an eine Unterweisung der zum Glauben Gekommenen vor der Taufe gegeben haben. Das setzt schon Paulus I Kor 15,1-8 voraus; auch in Mt 28,19 f sind „Taufen" und „Lehren" als die zwei Aspekte des „zum Jünger Machens" zusammengestellt. Mehr ist auch bei -»Justin (apd. 161,2) nicht gesagt. Der römische Lehrer in der Mitte des 2. Jh. spricht hier von solchen, „die überzeugt sind und glauben, daß es wahr ist, was von uns gelehrt und gesagt wird, und die es auf sich nehmen können, so zu leben". Sie rüsten sich unter Gebet und Fasten zusammen mit der Gemeinde zur Taufe. Die Quellenlage erlaubt es nicht, die Geschichte der Taufunterweisung von der apostolischen Zeit zu Justin und Hippolyt als eine geschlossene Entwicklung zu zeichnen. In der -*Didache ist das ursprünglich selbständige Traditionsstück der Zwei-Wege-Lehre (1-6,2) erweitert so mit der Taufregel verbunden, daß diese Unterweisung zur Voraussetzung für den Vollzug des Taufbades wird (7,1). Das bestätigt den ethischen Aspekt der Katechese. Doch müssen auch die großen Themen des christlichen Glaubens behandelt worden sein, einschließlich Gebet und Gottesdienst. Die Abgrenzung zwischen geformtem Traditionsgut und Eigenformulierungen in frühchristlichen Schriften ist schwer zu ziehen, und gerade wenn man etwa bei -» Ignatius von Antiochien - sicher zu Recht — die selbständige Sprachkraft des Bischofs herausstellt (von Campenhausen, Elze, Paulsen), hat man doch vorauszusetzen, daß der Schreiber bei den Empfängern der Briefe Kenntnis der von ihm nur in Stichworten angedeuteten Stoffe, vor allem der Erzählungen vom Leben Jesu, voraussetzen konnte. Aus bereits späterer Zeit wird man diesem Aspekt der Katechese die Epideixis des -»Irenaus zuordnen können; hier wird allerdings von der christlichen Bibel her argumentiert. Soweit es einen eigenen Stand der Lehrer gab, ist sicher die Unterweisung in beiden Bereichen ihre Aufgabe gewesen, wenngleich man davon auszugehen hat, daß die Schule eine eigene christliche Lebensform gerade auch für Getaufte war, was sich wieder an Justin studieren läßt. Das Neue an dem voll ausgebildeten Katechumenat seit dem letzten Drittel des 2. Jh. ist, daß die Katechumenen nun einen eigenen Stand in der Kirche und doch noch vor ihren Toren bilden. Hippolyt rechnet mit einem in der Regel dreijährigen Katechumenat (trad. ap. c. 17), in das man nach sorgfältiger Prüfung förmlich aufgenommen wird. Aus den Bedingungen für die Zulassung zur Taufe sind jetzt Voraussetzungen für die Aufnahme in diesen Stand geworden. Grundlegend ist die scharfe Scheidung von Kirche und Nichtkirche als zweier Gesellschaften, die für die vorkonstantinische Epoche so charakteristisch ist. Die volle Ausbildung des Katechumenates gehört damit in die Neusammlung der Kirche um den Kanon der christlichen Bibel in dieser Generation hinein, ein Vorgang, der in der deutschen Forschung gern, wenn auch mißverständlich, als Ausbildung der altkatholischen Kirche beschrieben wird. Überzeugende Analogien oder gar Vorbilder für diese Institutionalisierung des Überganges von der unter der Macht des Bösen stehenden Welt in die in Gemeinden lebende Kirche, „wo der Geist blüht" (Hippolyt, trad. ap. c.
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Katechumenat/Katechumenen I
35 = 41), sind nicht zu erkennen, auch nicht im missionierenden Judentum, insbesondere seit die Kategorie der „Gottesfürchtigen" historisch ungreifbar zu werden scheint (Kraabel). Entsprechungen zur Unterweisung der Taufbewerber gab es in —>Qumran (1 QS 6,14ff; vgl. CD 13,11 ff) und der Proselytenmission, hier werden historische Zusammenhänge bestehen. Das gilt nicht für das Katechumenat, in dem es eben nicht um eine Strukturierung des interessierten Vorfeldes der Kirche geht, sondern um den Kreis von Menschen, der sich bereits entschieden hat, der glaubt und christlich lebt, aber die Taufe noch vor sich hat. Tertullian schreibt: „Ist Christus ein anderer für die Getauften, ein anderer für die .Hörenden'?... Wir werden nicht deshalb abgewaschen, damit wir aufhören, uns etwas zuschulden kommen zu lassen, sondern weil wir bereits aufgehört haben, weil wir nämlich im Herzen bereits gewaschen sind" (de paen. 6,15.17). Anders war es bei den Markioniten, wenn die Annahme A. von -»Harnacks zutrifft, daß ihren Katechumenen die Ehe gestattet war (187, Anm. 1); auch bei anderen christlichen Gruppen, die mit der Taufe das Gelübde der Ehelosigkeit verbanden - diese Praxis war in der Frühzeit in Ostsyrien verbreitet —, wird es um die Gemeinde der Getauften einen Kreis von verheirateten Gläubigen gegeben haben. Hier ist das Katechumenat dann zumindest als Möglichkeit ein lebenslanger Stand wie später im —•Manichäismus. Am besten unterrichtet sind wir über das Katechumenat in Großstädten wie Karthago und Rom, wobei Hippolyt deutlich ein fortgeschrittenes Stadium der Institutionalisierung erkennen läßt (Capelle, Schöllgen 279—286). Hier sind die Katechumenen einem Lehrer zugeordnet. Die kirchliche Eingliederung der freien Lehrer Roms, Karthagos und Alexandriens im Laufe des ausgehenden 2. und 3. Jh. hatte auch Folgen für die Gestalt des Katechumenates. Tertullian kennt bereits zumindest einen Lehrer, der auch Presbyter ist (Pass. Perp. 13,1), bei Hippolyt ist beides gleichfalls miteinander verbunden; -»Cyprian von Karthago schreibt von „Presbyter-Lehrern" (ep. 29); für -»Origenes wird es zur schweren Belastung, daß er als Lehrer kein eigentlich kirchliches Amt hat. Die alten christlichen Schulen standen allen Christen offen, wenn nicht sogar auch Heiden. Die Bindung der Kirche an die Norm der Wahrheit gemäß der christlichen Bibel zwang zur Unterscheidung rechtgläubiger und häretischer Schulen, am Ende steht der kirchliche Katechumenenunterricht durch einen vom Bischof beauftragten Amtsträger. Hippolyt legt fest, daß ein zum Glauben Gekommener zu einem Lehrer gebracht werden soll, der über die Aufnahme entscheidet. Dann ist er zu den Unterweisungen zugelassen, bei denen es nicht um gesonderte Lehrveranstaltungen für Taufkandidaten geht (trad. ap. c. 15). Beim Gebet dagegen sind Katechumenen und „Gläubige" getrennt, der Kuß als Besiegelung des Gebetes (Thraede) ist den Nichtgetauften verwehrt, sie sind kultisch noch unrein (c. 16); beim Abendmahlsgottesdienst erhalten sie nicht die Eucharistie, sondern Exorzismusbrot (-»Exorzismus) und partizipieren nicht am gemeinsamen Kelch, sondern trinken aus Einzelbechern (c. 26). Dafür werden sie nach der Unterweisung vom Lehrer gesondert gesegnet. Einen eigenen Unterricht für Katechumenen kennen anscheinend auch Tertullian und Clemens von Alexandrien noch nicht. „Nicht ein Traktat Tertullians richtet sich ausschließlich an Katechumenen . . . ; seine katechetischen Schriften sind somit nicht Teilstücke eines systematischen Katechumenenunterrichtes" (Schöllgen 282). Das könnte bei Clemens anders geworden sein; deutlich tritt die institutionelle Eigenständigkeit des Katechumenenunterrichtes erst bei Origenes heraus. Inhaltlich geht es weiter um die Einführung und Einübung in das christliche Leben in seiner ethischen Dimension und die Wahrheit des Glaubens; hier hat das Stichwort „Glaubensregel" seinen Ort. In beiden Richtungen geht es um das Verstehen der Heiligen Schrift. Daß der Katechumene eigentlich bereits ein Glaubender ist, gehört zu den Voraussetzungen des Theologumenons der „Bluttaufe": Nach Gottes Ordnung ist die Taufe der Weg zum Heil. Bei schwerer Krankheit kann der Katechumene vorzeitig getauft werden. Wird er oder sie als Gläubiger hingerichtet, dann ist eben dies Martyrium vollgültige Taufe. Die Zeit des Katechumenates ist nur bedingt durch die Teilnahme an Unterweisungen
Katechumenat/Katechumenen I
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geprägt, sondern eben durch die Bewährung des Glaubens und die Einübung ins Christsein. Das wird dadurch bestätigt, daß Kinder aus christlichen Familien als Säuglinge getauft werden können — was auch Tertullian voraussetzt, aber kritisiert — ohne Katechumenat. Später wird deutlich, daß sie auch nicht exorzisiert werden. Sie bedürfen nach der Überzeugung der Kirche Afrikas der Vergebung, aber sie wachsen nicht mehr in der Welt auf, die von den Dämonen bestimmt ist, sondern in der Kirche. Dem entspricht, daß die unmittelbare Taufvorbereitungszeit für Erwachsene von gesteigerten Exorzismen begleitet ist. Auch jetzt steht nicht die Belehrung im Vordergrund. Geprüft wird ihr Leben als Katechumenen, ob sie Witwen geehrt und Kranke besucht und ob sie das Evangelium gehört haben (Hippolyt, trad. ap. c. 20). 2. Die Zeit der frühen
Reichskirche
Als im 4. Jh. die Christen in kurzer Zeit von einer ausgegrenzten und immer wieder verfolgten Minderheit zur Mehrheitsreligion wurden und damit Kirche nicht mehr als Sondergesellschaft zu verstehen war, schwanden auch die Voraussetzungen für die bisherige Gestalt und Funktion des Katechumenates. Die Aufnahme in den Katechumenenstand konnte nun in dieser Epoche des Überganges die Möglichkeit einer Zuordnung zur christlichen Kirche noch vor der eigentlichen Entscheidung für die Taufe eröffnen. Wie konkrete Weltverantwortung im öffentlichen Leben im Beruf, etwa als Offizier, mit der im Katechumenat früher eingeübten Lebensform zu vereinbaren wäre, mußte neu erprobt und erfahren werden. Deshalb wurde es zum verbreiteten Ausweg, die erst verbindliche Taufe möglichst weit hinauszuschieben. Das Katechumenat wird dadurch entwertet; dafür gewinnt die unmittelbare Taufvorbereitung große Bedeutung. Diese Zäsur war schon bei Hippolyt angelegt, jetzt setzt es sich durch, die Kompetentenzeit dem nun stärker ausgeformten Kirchenjahr anzupassen, zu ihr gehört in jedem Fall die Fastenzeit vor Ostern. Erst jetzt werden die Katechumenatsriten deutlich erkennbar, wenngleich die Wurzeln in die vornizänische Zeit zurückreichen. Bei der Anmeldung zum Katechumenat hatten schon bei Tertullian (de bapt. 18) und Origenes (c. Cels. 111,51) Zeugen oder Bürgen eine Rolle gespielt, die späteren Paten. Daß die Aufnahme in diesen Stand durch eine Handauflegung oder die Bezeichnung mit dem Kreuz vollzogen wurde, wird alt sein. Natürlich setzte sie ein Gelöbnis voraus. Sie ließ sich als Zeit der Buße in besonderem Sinne verstehen. All dies wird jetzt festgeschrieben. Dennoch drohte das Katechumenat zu einer Möglichkeit des Christseins zu ermäßigten Bedingungen abzusinken. Die Polemik der Kirchenväter gegen diese Tendenz zielte dann sinnvollerweise nicht auf eine Aufwertung des Katechumenates, sondern wandte sich gegen das Aufschieben der Taufe. Die Wochen der Taufvorbereitung wurden in den verschiedenen Kirchengebieten liturgisch unterschiedlich durchgeformt. Gemeinsam ist, daß sie nun für gezielte Katechese genutzt werden. Diese intensive Zuwendung zu den Taufbewerbern wird die eigentliche Antwort auf den Massenandrang zur Kirche sein. Die Taufkatechesen des 4. und beginnenden 5. Jh. lassen sich darüber hinaus geradezu als der Wurzelboden christlicher Sakramentenlehre und als Rahmen für die Erklärung der katechetischen Grundeinheiten des Taufsymbols als Glaubensbekenntnis und des Vaterunsers beschreiben. Daß gerade diese Themen und Texte nun scharf heraustreten, hängt mit der eigentümlichen Theorie der -»Arkandisziplin zusammen. Sie besagt, daß der Kern des Christseins und des Lebens der Kirche, Glaube, Gebet und sakramentaler Gottesdienst, Geheimnischarakter hat. Erst dem voll Eingeweihten wird es offenbart. Diese Aufnahme einer paganen Kulttheorie hat ihre Vorgeschichte in der alexandrinischen Theologie und ihrer Rede von literarischen Mysterien. Jetzt entspringt sie dem Bemühen, das Besondere, Nicht-Selbstverständliche des Glaubens in einer Zeit festzuhalten, in der zahlenmäßig gesehen das Christsein eben gerade beginnt, als Selbstverständlichkeit zu gelten. Die Kompetentenzeit ist dann so aufgebaut, daß der Taufbewerber in ihr nacheinander in die Grundlagen des Christseins eingeführt wird; die Hauptstücke des Glaubens werden ihm
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Katechumenat/Katechumenen I
oder ihr liturgisch übergeben, vor allem das Symbol (traditio symboli), dem dann die Wiedergabe als Bekenntnis folgt (redditio symboli). Zur letzten Konsequenz ist diese Theorie in Jerusalem gesteigert worden. Hier wird es feste Ordnung, die Riten der Taufe und des Abendmahls - und im Rahmen der eucharistischen Liturgie das Vaterunser - erst den Getauften in der Woche nach Ostern zu erläutern. Die dann auch später weiter gebrauchte Jerusalemer Serie von 5 Mystagogischen Katechesen wird in den Handschriften teils Bischof -»Cyrillus von Jerusalem, teils seinem Nachfolger Johannes II. (386-417) zugeschrieben; sie stammt sicher erst aus den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts. Ihr geht eine andere Serie von Katechesen für Taufbewerber voran, in der das Taufsymbol ausgelegt wird und die sicher von Cyrill stammt, wohl noch aus seiner Zeit als Presbyter. Derartige Katechesen kennen wir auch aus dem Umkreis Antiochiens: -»Johannes Chrysostomus hat die Taufordnung einschließlich des Abendmahls den Katechumenen vor der Taufe geschildert und gedeutet; die Katechesen über Symbol, Vaterunser, Taufe mit Eucharistie des - » T h e o d o r von Mopsuestia sind in syrischer Übersetzung erhalten. Aus dem lateinischen Kirchengebiet kennen wir die katechetischen Predigten des -»Ambrosius zum Symbol und den Sakramentsriten, aufgrund von Nachschriften der Hörer {de sacramentis) und literarisch ausgearbeitet (de mysteriis) - hier sind wegen der Arkandisziplin die liturgischen Texte nur paraphrasiert, nicht zitiert. Eine Auslegung des Symbols in katechetischen Predigten ist auch aus der Feder des -»Nicetas von Remesiana erhalten. Diese Lehrpredigten sind unsere wichtigste Quelle für die Geschichte des Gottesdienstes und der Katechese in der genannten Epoche. Schon die große Zahl der erhaltenen Texte zeigt, welche Bedeutung diese Phase des Katechumenates jetzt hatte und daß die neue Aufgabe eine Blütezeit der Theologie eingeleitet hat.
Die rituelle Struktur der Taufvorbereitung sei für zwei Gemeinden herausgestellt: Antiochien und Rom. Der Anmeldung zur Taufe, das „Angeben des Namens" (so im Westen und in Ägypten) oder „Einschreiben" (im übrigen Osten), in der Regel zu Beginn der Fastenzeit, macht die Katechumenen zu Kompetenten (lat.) oder Photizomenen (griech.). Überall ist diese Zeit nicht nur durch die Mitteilung fester Formeln und liturgischer Vollzüge samt deren Deutung charakterisiert, sondern auch durch Schriftauslegung und Exorzismen. Der Abschluß der Katechese ist in Antiochien zu einem großen Gelöbnisakt am Karfreitag ausgebaut: Zur Stunde des Todes Christi sprechen die Täuflinge kniend - wohl auf einem Ziegenfell als Zeichen der Buße - die Taufabsage nach Westen und dann stehend nach Osten die Zusage an Christus und das Glaubensbekenntnis. Den Abschluß bildet die feierliche Proskynese vor Christus und eine Stirnsalbung. Der Brauch ist modifiziert nach Konstantinopel übergegangen. Daß die vorbereitende Unterweisung einen derart solennen eigenen liturgischen Abschluß erhält, der dann die Voraussetzung für den Empfang der Taufe ist, stellt heraus, daß die Theorie der Arkandisziplin gerade die Verbindlichkeit des Glaubens für das ganze Leben sicherstellen will. In Rom kannte man um 400 drei solcher Büß- und Gelöbnisakte, Skrutinien (Prüfungen) genannt, der erste folgte auf die Taufanmeldung, die hier nun eine Reihe ursprünglich an anderer Stelle verankerte Riten an sich gezogen hatte, wie Exsufflation, Exorzismus, Salzgabe, Handauflegung. Auch beim ersten Skrutinium geht es um die Absage an den Satan. Zum dritten Skrutinium am Samstag vor Ostern gehört die redditio symboli; für diesen Akt kommt in der byzantinischen Zeit seit Justinian dann der Name Pisteugis auf. Dies Glaubensbekenntnis hat in Rom alte Tradition. Schon aus dem 4. Jh. berichtete —•Augustin, daß -»Marius Victorinus das Taufsymbol „von einem erhöhten Ort im Angesicht des gläubigen Volkes" laut gesprochen habe (de civ. dei 8,2,5). Auch hier geht es um 355 um den Abschluß des Katechumates als einer Zeit der Unterweisung. Später ist dies Schema ausgebaut worden. Vor der traditio symboli steht um 500 die traditio evangeliorum und die traditio orationis. Evangelien und Vaterunser sind Fundament des Christseins und der Katechese wie das Symbol. Noch später, als sich die Kindertaufe durchgesetzt hatte und auch diese Form der Einführung in Glauben und Leben der Kirche damit überholt war, hat man in der Tiberstadt versucht, die überkommene liturgische Ordnung so umzuformen, daß jetzt Eltern und Paten angesprochen werden; sie sollten die Zurüstung ihrer Kinder auf die Taufe mitverantworten und mittragen. Diese Katechumenatsriten sind später in Ost und West alle mit der eigentlichen Taufli-
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K a t e c h u m e n a t / K a t e c h u m e n e n II
turgie v e r s c h m o l z e n w o r d e n und leben s o - in d e r R e g e l u m g e d e u t e t - in den T a u f o r d n u n gen der verschiedenen kirchlichen T r a d i t i o n e n w e i t e r . Als die G r e n z e zwischen Kirche und Gesellschaft s c h w a n d , h a t die N e u s t r u k t u r i e r u n g des K a t e c h u m e n a t e s herausgestellt, w a s die K i r c h e zur K i r c h e und den C h r i s t e n z u m C h r i s t e n m a c h t : d e r G l a u b e a n G o t t e s H e i l s t a t in J e s u s C h r i s t u s , greifbar in den E v a n g e lien, im H e r r e n g e b e t , d e m Symbol und den S a k r a m e n t e n . 3. Das Ende
des altkirchlichen
Katechumenates
Die Polemik gegen den T a u f a u f s c h u b h a t t e E r f o l g . Als die Kindertaufe zur fast ausschließlich g e ü b t e n G e s t a l t der Taufe g e w o r d e n w a r , blieb kein R a u m m e h r für d a s K a t e c h u m e n a t . F a k t i s c h ist es n u r allmählich g e s c h w u n d e n . In d e r Z e i t der frühmittelalterlichen M i s s i o n im Westen h a t die kirchenrechtlich festgeschriebene O r d n u n g , d a ß d e r T a u f e das K a t e c h u m e n a t v o r a u s z u g e h e n h a b e , n o c h den G a n g der Bekehrungsgeschichte beeinflussen k ö n n e n , e t w a bei - » C h l o d w i g (von der Steinen). D a s altkirchliche K a t e c h u m e n a t h a t im s p ä t e r e n Verlauf i m m e r wieder d a n n M o d e l l c h a r a k t e r b e k o m m e n , w e n n die Säuglingstaufe nicht m e h r die einzige F o r m sein k o n n t e , die T a u f e zu spenden. Literatur Hans v. Campenhausen, Kirchl. Amt u. geistl. Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, 1953 1963 (BHTh 14). - Ders., Das Bekenntnis im Urchristentum: Urchristliches u. Altkirchlichcs, Tübingen 1979, 2 1 7 - 272 = Z N W 63 (1972) 2 1 0 - 253. - Bernard Capelle, L'Introduction du Catechumenat ä Rome (1933): Travaux Liturgiques III, Löwen 1 9 6 7 , 1 8 6 - 2 1 0 . - Martin Elze, Überlieferungsgesch. Unters, zur Christologie der Ignatius-Briefe, HabSchr. Tübingen 1963. - Adolf v. Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, 1924 (TU 45). —Josef Andreas Jungmann, Art. Katechumenat: L T h K 2 6 (1961) 5 1 - 5 4 . - A . Thomas Kraabel, T h e Disappearance of the , G o d Fearers': Numen 28 (1981) 1 1 3 - 1 2 6 . - Georg Kretschmar, Die Gesch. des Taufgottesdienstes in der Alten Kirche: Leiturgia V, Kassel 1970,1 - 3 4 8 . - Ders., Die Grundstruktur der Taufe: J L H 22 (1978) 1 - 1 4 . - Ders., Frühkatholizismus. Die Beurteilung theol. Entwicklungen im späten 1. u. 2. J h . n. Chr.: Unterwegs zur Einheit. FS Heinrich Stirnimann, Freiburg, Schweiz/Freiburg, Brsg. 1980, 5 7 3 - 5 8 7 . - J . Mayer, Gesch. des Katechumenates u. der Katechese in den ersten 6 Jahrhunderten, Kempten 1868. - Henning Paulsen, Die Briefe des Ignatius v.Antiochia u. der Brief des Polykarp v.Smyrna. 2. Aufl. der Auslegung v. Walter Bauer, 1985 ( H N T 18). - H u g h M . Riley, Christian Initiation, Washington D . C . 1974 (The Catholic University of America, Studies in Christian Integrity 17). - Georg Schöllgen, Ecclesia sordida? Zur Frage der sozialen Schichtung frühchristl. Gemeinden am Beispiel Karthagos zur Zeit Tertullians, 1984 (JAC.E 12). - Wolfram von den Steinen, Chlodwigs Übergang zum Christentum: M I Ö G . E 12 (1932) 4 1 7 - 5 0 1 = 1963 (libelli 103). - Alois Stenzel, Die Taufe. Eine genetische Erklärung der Taufliturgie, Innsbruck 1958. - Klaus Thraede, Ursprünge u. Formen des .Heiligen Kusses' im frühen Christentum: J A C 11/12 (1968/69) 1 2 4 - 1 8 0 . 2
Georg Kretschmar
II. V o m M i t t e l a l t e r bis z u r G e g e n w a r t 1. Der Begriff Katechumenat 2. Verfall im Mittelalter 3. Katechumenat des Hauses und der Schule in der Reformationszeit 4. Intellektualisierung und Säkularisierung 5. Erneuerung des Katechumenats durch Zezschwitz 6. Aufkommen moderner Formen 7. Neustrukturierung 1930-1965 8. Gegenwärtige Religionspädagogik 9. Problemanzeigen (Literatur S. 12) 1. Der Begriff
Katechumenat
D e r Begriff K a t e c h u m e n a t betont einerseits die Eigenständigkeit des kirchlichen Erziehungs- und U n t e r r i c h t s h a n d e l n s , andererseits den inneren Z u s a m m e n h a n g verschiedener p ä d a g o g i s c h e r M a ß n a h m e n v o m E v a n g e l i u m her sowie ihren B e z u g z u m Gemeindeleben. D a s Leitbild v o m K a t e c h u m e n a t h a t sich in den geschichtlichen Perioden vielfach g e w a n d e l t , verblaßte, bleibt umstritten und h e r a u s f o r d e r n d . Die Alte Kirche übt den Katechumenat (s. o. I) als Institut der Taufvorbereitung. Als Unterricht nach der Taufe ist der Begriff erst für das 17. J h . nachzuweisen, 1830 in der Pastoraltheologie von Cl. -»Harms. In Abkehr von der rationalistischen Katechetik wird der Begriff breit entfaltet von
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Katechumenat/Katechumenen II
-»Zezschwitz. Neu aufgenommen wird das Katechumenatsdenken nach 1945, um in der Religionspädagogik nach den 60er Jahren wieder stark zurückzutreten.
2. Verfall im
Mittelalter
Die Überzeugung, daß Kinder von Eltern, die Glaubende sind, der Katechese nicht bedürfen, lebt im frühen Mittelalter aus dem Vertrauen auf die Teilnahme am Gottesdienst und gemeindlichen Leben sowie auf die Kraft gemeinsamer Sitte. Die Unterweisung der Kinder ist den Eltern zugeschoben. Nur die postbaptismale -»Handauflegung wird verselbständigt zur -»Firmung. Entsprechend war im missionarischen Handeln des frühen Mittelalters die Übernahme des Christusbekenntnisses ein korporativer Akt der Sippe, des Stammes und des Volkes (Kretschmar 303). In der karolingischen Zeit wird auch den Paten ihre Verantwortung für die getauften Kinder eingeschärft (Can. 19 der Synode von Arles 813). Aus Beichtfragen und -prüfungen entwickelt sich eine religiöse Unterweisung. Wichtiger katechetischer Ansatz wird die Bildkunst. Mit den Klostergründungen entwickeln sich Klosterschulen und Domschulen, vor allem zur Ausbildung des künftigen Klerus, später ausgeweitet zu Pfarr- und Stadtschulen. Neben den Lateinschulen entstehen im späten Mittelalter deutsche Lese- und Schreibschulen. 3. Katechumenat
des Hauses und der Schule in der
Reformationszeit
Der Katechumenat der Reformationszeit ist gebunden an den -»Katechismus. Luthers Katechismus, hervorgegangen aus Erfahrungen bei Kirchen- und Schulvisitationen, bald nachgeahmt, hat breiteste Wirkung und bildet wirkungsvolle neue Ansatzmöglichkeiten im Gemeindeaufbau. In der Umbruchszeit der Reformation entsteht ein Katechumenat des Hauses und der Schule (Zezschwitz 357ff). Die Zeit selber benutzt den Begriff nicht. Das Wort Katechismus meint ursprünglich mehr den Unterricht im Vollzug als das Buch, aber Luther bezieht sich auf den altkirchlichen Katechumenat: Taufe, Glauben und Lernen gehen zusammen. Inhaltlich will der KIKat elementare Unterweisung vermitteln sowie christlichen Glauben und christliches Leben einüben. In gleicher Weise haben die Katechismen die Pfarrherren, den gemeinen Mann und das junge Volk im Auge. Luther sieht, daß viele Getaufte nur dem Namen nach Christen sind. Dabei greift Luther nicht auf die narratio zurück, sondern auf Lehrstücke, die aber in die Schrift hineinführen sollen. Er betont, daß niemand zum Glauben oder Sakrament gezwungen werden soll. Doch der Christ muß Bescheid wissen und Antwort geben können im Glauben, vor allem im Beichtverhör vor dem Empfang des Abendmahls.
Darüber hinaus bekommt der Katechismus in vielfältiger Weise einen Sitz im Leben: Er soll gepredigt (Katechismuspredigten) und gelehrt werden (Katechismuslehre - Urzelle der evangelischen -»Konfirmation und fortgeführte Katechismuslehre nach der Abendmahlszulassung). Vor allem sollen die Hausväter den Katechismus mit Kindern und Gesinde traktieren. Luthers Anleitungen zum Beten greifen immer auf den Katechismus zurück. Zu den neugeschaffenen Gemeindeliedern gehören kennzeichnenderweise Katechismuslieder. Nicht zuletzt wird auch für die Schulen der Katechismus das Herzstück (die Schule partizipiert an der Katechumenatserziehung, Zezschwitz 379). An die Eltern und politisch Verantwortlichen hat Luther sich gewandt, daß Schulen neu- oder wiedererrichtet werden sollten (Predigt, daß man Kinder zur Schule halten soll 1530, An die Ratsherren 1524, und An den christlichen Adel deutscher Nation 1520). Die Reformationszeit versteht Schulen als seminaria ecclesiae et reipublicae. In dem et lag das künftige Problem. Jedenfalls enthalten die Kirchenordnungen der Reformation auch die Schulordnungen (Sehling). Luther selber wollte zeitlebens ein Kind und Schüler des Katechismus bleiben (Vorrede zum GrKat 1530). 4. Intellektualisierung
und
Säkularisierung
Unter dem Aspekt des Katechumenats sind für die Zeit bis zur -»Aufklärung folgende Entwicklungen bedeutsam: Entsprechend den politischen Grenzen spalten sich die deutschen Schulen in katholische und evangelische. Der Katechismus als Laienbibel verengt sich in der -»Orthodoxie auf eine Laiendogmatik, wird intellektualisiert. Der -»Pietis-
K a t e c h u m e n a t / K a t e c h u m e n e n II
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mus sucht dagegen die persönliche Frömmigkeit und Biblizität, während die Aufklärung ihrerseits die Intellektualisierung verstärkt. Die T h e o l o g i e wird zurückgedrängt durch Philosophie und Naturwissenschaft. Die Wandlungen wirken sich in Lebensgefühl und Bildungsideen aus. Der F ä c h e r k a n o n wird ausgeweitet, gerade auch durch T h e o l o g e n und Kirchenmänner ( - » C o m e n i u s , -»Spener, A . H . - » F r a n c k e ) . D e r Pietismus und die Aufklärung machen die -»Konfirmation populär und verpflichtend (Bindung an Dauer der Schulzeit und Schulpflicht). Die Schulen, abgesehen von den Gelehrtenschulen, bleiben Küsterschulen und unterstehen der geistlichen Schulaufsicht (Fooken). D e r staatliche Einfluß a u f das Schulwesen verstärkt sich, die Schulen werden weltlicher. D e r Religionsunterricht bleibt unangefochten Pflichtfach, aber - » R a t i o n a l i s m u s und konservative R e aktion stehen sich im Streit u m die Schule gegenüber. Die Fortschritte der Aufklärungszeit in der Methodik des Unterrichts zeigen sich u. a. in d e m Sokratisieren (nach dem Beispiel der Platonischen Dialoge durch F r a g e n aus dem M e n s c h e n Erkenntnis hervorlocken), das auch als Katechisieren bezeichnet wird, ohne die notwendige Beziehung zu christlichen Lehrstoffen zu behalten. Der weitere methodische Fortschritt über die Sokratik hinaus wendet sich gegen das Katechisieren als unwissenschaftlichen kirchlichen Unterricht.
5. Erneuerung des Katechumenats durch v. Zezschwitz In solchem Ringen zwischen Schule und Kirche, Theologie und Pädagogik erneuert - » Z e z s c h w i t z die Katechetik als Lehre v o m Katechumenat und fordert einen evangelischen Katechumenat. Neuere Arbeiten haben seinen Ansatz gewürdigt und kritisch dargestellt (Koziol: mehr bezogen auf Gegenwartsprobleme, Antony: mehr theologiegeschichtlich). Während die rationalistische -»Katechetik sich geschichtslos in didaktischen Regeln formalisierte und von ihrer kirchlichen Aufgabe löste, arbeitet Zezschwitz das geschichtliche Material auf in einem katechetischen Monumentalwerk. „Die Katechumenatsidee wird um eines gegenwärtigen Mangels willen beschworen, ohne daß doch der Wandel der Zeiten geleugnet werden kann, der der Reaktivierung des Katechumenats im alten Sinn engste Grenzen setzt" (Henkys, Zur Katechumenatsidee 54). Zezschwitz geht es um das Wesen des Katechumenats. Im altkirchlichcn Taufkatechumenat findet er „eine pädagogische Stufenleitung, deren Spitze das Heilige Abendmahl bildet" (199). Zwei Grundsätze der Pädagogik bestimmen ihn: „Wahrung und Achtung der persönlichen Freiheit" sowie „Anleitung zur persönlichen Seelsorge" (148). Der Katechumenat als Veranstaltung der Kirche will helfen, „daß die Aufnahme zur vollen gliedlichen Gemeinschaft der Kirche zugleich Einpflanzung in den vollen Heilsstand der Christen sei" (79). Taufe ist mehr als bloßer Aufnahmeritus in die Institution Kirche. Gott selber handelt voraussetzungslos, aber die Taufe gibt alles in Anfangsform, ist Einpflanzung und Basis. Es besteht ein Bedürfnis fremder Anleitung zur Lehre und zum Leben (263). Katechumenat will betont Erziehung zum kirchlichen Leben. Zezschwitz unterscheidet zwischen dem Katechumenat des Hauses und der Schule (357ff) und dem seelsorgerlichen oder Kirchenkatechumenat (397ff). Die Schule tritt dem Hause vor allem in der Aufgabe des Unterrichts zur Seite (379). Der Katechismus ist Katechumenenbuch, aber sein Inhalt will durch das Schriftwort belegt werden (386 f). Der Kirchenkatechumenat beginnt mit dem Eintritt in den Konfirmationsunterricht. Grundsätzlich besteht kein Unterschied zwischen der „christlich-kirchlichen Erziehung und der allgemein-menschlichen, aber sie fußt doch auf einem schon gegebenen objektiven oder subjektiven Verhältnis des Individuums zur Kirche und ihren Heilsgütern" (302). Zezschwitz denkt nicht daran, Schule zu bevormunden, aber er argumentiert von den Pflichten, welche die Kirche mit der Kindertaufe übernimmt, und er versteht die Schule als Gehilfin von Kirche und Haus. „Die Schule kann nie das Haus, aber wohl das Haus unter Umständen die Schule ersetzen" (364). Sowohl A n t o n y als auch Koziol verweisen bei Z e z s c h w i t z kritisch auf einen Hintergrund Hegelscher Geschichtsphilosophie, wenn die Idee des Katechumenats aus der geschichtlichen Entwicklung abgeleitet wird. Einflüsse von Schleiermachers Didaktik sind bei Zezschwitz k a u m zu erkennen, wohl aber von - » H e r b a r t (Antony 2 1 8 ) .
6. Aufkommen moderner Formen Für die Katechetiker des 19. J h . gilt weithin als Grundlage das W e r k von v. Zezschwitz. Katechetik wird verstanden als Lehre v o m Katechumenat, jedenfalls bei konfessionell-
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lutherischen und mehr konservativen, anders bei Vertretern liberaler Theologie. O.-» Baumgarten veröffentlicht 1903 Vorlesungen Neue Bahnen - Der Unterricht in der christlichen Religion im Geist der modernen Theologie gegen die Katechismusauslegungen des Generalsuperintendenten Th. -»Kaftan. Der Aufschwung der Pädagogik verbindet sich mit „moderner Theologie", ausgetragen im Kampf gegen den Katechismus (Helmreich 142). Schon aus dem 18. Jh. herüberreichend, verstärken sich im 19. Jh. breite Bemühungen um Kinder und Jugendliche (Sonntagsschule bzw. Kindergottesdienst, Jünglingsvereine und Kindergärten; vgl. -»Oberlin und Fröbel). Pädagogische, soziale bzw. karitative und kirchliche Anliegen verbinden sich. Allerdings sind die Träger zunächst nicht Kirchengemeinden, sondern freie Vereinigungen. Außerdeutsche und freikirchliche Erfahrungen und Ansätze werden von volksmissionarischen Tendenzen in einer sich entkirchlichenden Volkskirche übernommen. Anfänge evangelischer Jugendarbeit liegen in Erweckungsbewegung und Missionsvereinen, in sozialen Motiven einer industrialisierten Gesellschaft und ökumenischen Impulsen (CVJM, Pariser Basis). Verbunden mit der -»Jugendbewegung entstehen vielfältige evangelische Jugendverbände. Die Sonntagsschule beginnt in England (Raikes 1781) und wird von dem Baptisten Oncken nach Deutschland übertragen (Hamburg 1825), übernommen von Rautenberg (-•Wichern) und umgeprägt zum -»Kindergottesdienst. In den Wellen der Reformvorschläge zur Konfirmation spiegeln sich Versuche, christliche Kinder- und Jugenderziehung und -Unterweisung neu zu gliedern aus kirchlich-theologischen, missionarischen und pädagogischen Motiven (Confirmatio 47ff). Um das Verhältnis von Kirche und staatlicher Schule wird immer neu gerungen (Helmreich 70ff). Die Probleme (Schulreform und -Organisation, Elternrecht, Lehrerausbildung, Schulaufsicht) geraten in den Weltanschauungs- und Parteienstreit. Darunter leiden auch die Verhandlungen um die Schulartikel der Weimarer Verfassung und die Schulgesetzgebung in der Weimarer Republik (Wittwer 68ff). Mit der Revolution 1918 wird die längst überholte geistliche Schulaufsicht abgeschafft und die Trennung von Staat und Kirche vollzogen. Der schulische Religionsunterricht ist bis in die 30er Jahre des 20. Jh. beherrscht von der methodischen Frage. In der Zeit des -»Nationalsozialismus stößt der totale Staat ebenso mit dem Religionsunterricht wie der evangelischen Jugendarbeit zusammen. Gleichschaltungsmaßnahmen, sog. Entkonfessionalisierung, die Entchristlichung meint, und konsequente Beschränkungen leben aus dem weltanschaulichen Machtanspruch und einer verschwommenen völkischen Religiosität. Die Deutschen Christen übertragen diese weltanschaulichen Ideen einschließlich -»Antisemitismus in den kirchlichen Unterricht. 7. Neustrukturierung
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Unter den Erfahrungen der NS-Zeit legt die Bekennende Kirche das Schwergewicht auf die Schul- und Erziehungsfrage (Hunsche). Vorausgegangen waren Einsichten in die Bildungskrise und eine theologische Neuorientierung (-»Barth, Lutherrenaissance). Gegen den -»Kulturprotestantismus widerspricht Bohne (1929) der These, daß im Neuhumanismus der Schule eine wirkliche Einheit von Christentum und Kultur erreicht sei (Vorwort im epochemachenden Werk Das Wort Gottes und der Unterricht). Der neu erkannte Sachanspruch von Jesus Christus selbst, der Bibel und der Kirche öffnet unter den veränderten Verhältnissen ein neues Katechumenatsdenken. Hammelsbecks Der kirchliche Unterricht, „geschrieben aus der Not des Zusammenbruchs und aus der Freude der Erneuerung" (9) unterscheidet zwischen missionierendem und gemeindlichem Unterricht. Zu ersterem rechnet er den Religionsunterricht der Schule, Kindergottesdienst und Konfirmandenunterricht, zu letzterem Gemeindejugendarbeit, Nachkonfirmandenjahr, den nachbarschaftlichen Bibelkreis und den Gottesdienst. Das „zungenbrecherische" Fachwort Katechumenat will er allerdings vermeiden, erst recht das „noch ungehobeltere" Gesamtkatechumenat (12). Aber es geht um Einheit des kirchlichen Unterrichts im weiten Sinn. Besonders aufgegriffen wird der Begriff Katechumenat von Katechetikern in der DDR,
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nachdem hier das Ganze einer christlichen Kinder- und Jugendunterweisung nach 1945 neu organisiert werden muß, da ein schulischer Religionsunterricht nicht mehr geduldet wird und der Konfirmandenunterricht durch die Einführung staatlicher -»Jugendweihen unter Druck gerät. Die äußere Befreiung von den Tendenzen staatlicher Schulen ermöglicht von neu geprüften Einsichten her einen eigenen kirchlich und theologisch bestimmten Unterricht unter dem Namen „Christenlehre" mit einem neuen kirchlichen Lehrstand, den Katecheten. Bei den Grundsatzüberlegungen ist hier die Tradition des Katechumenats bewußt aufgegriffen, je länger je mehr auch kritisch. Die Beiträge dieser Debatte sind verstreut in der Zeitschrift Die Christenlehre, wichtige zugänglich gemacht von P. C. Bloth Christenlehre und Katechumenat in der DDR - Grundlagen, Versuche, Modelle. In der Bundesrepublik Deutschland wird nach 1945 der Religionsunterricht in den Schulen neu aufgebaut. Besondere Aufgaben stellt der Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen. Eine Auseinandersetzung über Schule und Kirche, Religionsunterricht und Konfessionalität wird umgangen durch den Rückgriff auf die Schulartikel der Weimarer Verfassung für das Bonner Grundgesetz. Wegen der Kulturhoheit der Länder werden nach dem Vorbild des Konkordats von 1933 mit den evangelischen Landeskirchen Staatskirchenverträge geschlossen, die offene Fragen zwischen den Ländern und Kirchen regeln. Das Gutachten Zur religiösen Erziehung und Bildung in den Schulen vom Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen ( 1 6 . 1 1 . 1 9 6 2 ) trägt der fortgeschrittenen Säkularisierung Rechnung und bejaht den christlichen Religionsunterricht in konfessioneller Trennung. Nach den Erfahrungen des Totalitarismus tritt die pluralistische Gesellschaft für Toleranz ein. Seit 1945 blühen die kirchlichen Bemühungen auf, evangelische Erziehung wissenschaftlich und praktisch zu fördern (Comenius-Institut, Katechetischc Ämter, Pädagogisch-thcologischc Institute, Zeitschriften: Der evangelische Erzieher, Evangelische Unterweisung, Schule und Leben, Der evangelische Religionslehrer an der Berufsschule-, Schulreferentenkonferenzen, Bildungssynoden der EKD). Der theoretische Ansatz vom Katechumenat war nach 1945 nicht erst von der politischen Situation in der D D R bedingt und nicht nur von den Kirchen in der D D R getragen. Hunsche berichtet in ihrem geschichtlichen Rückblick auf die Bekenntniskirche für 1936: „Die letzten Jahre hatten das Wissen um das Gesamtkatechumenat der Kirche aufs stärkste gefördert" (479). Die vorläufige Kirchenleitung legt 1937 eine Denkschrift vor Zur Erneuerung des kirchlichen Katechetenamtes (483), und das Bemühen um den Ausbau des kirchlichen Gesamtkatechumenats wird fortgesetzt (489). 1938 erscheint ein umfassender Altersstufenlehrplan (Alberts-Forck), der theologisch-methodisch zeigt, was Katechumenat bedeutet. Auf einer Arbeitstagung für kirchlichen Unterricht referiert Rott über den Altersstufenlehrplan-Gesamtkatechumenat-Gemeindekatechumenat, Thiel über den Kindergottesdienst im Geamtkatechumenat (503). Brunotte fordert 1942: Nach dem Kriege, wie auch immer die Lage der Kirche sich gestaltet, - Gesamtkatechumenat! (514) Aus der Arbeit der Schulkammer der Bekennenden Kirche kamen Impulse zur Erneuerung des Katechumenats (Lokies, Thiel). Andere Anstöße zur Katechumenatserneuerung ergab die Konfirmationsdebatte der 30er und später der 50er Jahre sowie Grundsatzbesinnungen der Jugendarbeit. M . Doerne forderte 1936 einen neuen grundlegenden Unterricht (Elementarkatechumenat) sowie einen Jugendkatechumenat als weiterführenden Unterricht (169ff). Der Historiker evangelischer Jugendarbeit L. Cordier veröffentlicht 1938 eine kleine Schrift Die Einheit in der Unterweisung des jungen evangelischen Menschen, die auch unter den Schranken der damaligen Einwirkungsmöglichkeiten auf die Jugend vom Auftrag der Kirche her zurückruft zur Einheit der katechetischen Arbeitszweige und zu sinnvoller Arbeitsteilung. Heinrich Rendtorff entwickelt 1946 in einem knappen Vorwort zu einem Werkbuch für Konfirmandenarbeit ein Programm: die Einheit der evangelischen Unterweisung im kirchlichen Katechumenat, sakramental und liturgisch bezogen, den Stufengedanken betonend. Der Rendtorffschüler Heubach fordert den Gesamtkatechumenat als Hilfe zum
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Glauben und als ständig neue Hilfe zur Bewährung des Glaubens im Leben. Im Grundriß der praktischen Thologie (1950) setzt A. D. Müller insgesamt beim Katechumenat an. Um einer Neuordnung der Konfirmation willen sucht Hauschildt die Konfirmandenunterweisung im evangelischen Katechumenat zu profilieren. In die Konfirmationsuntersuchungen auf der Ebene des Lutherischen Weltbundes bringen Fror und Hauschildt das Denken vom gegliederten Katechumenat ein (Confirmatio 60ff.76ff; Zur Geschichte 127ff). Fror definiert Katechumenat als ganzheitliche in sich gegliederte Ordnung der kirchlichen Unterweisung und Erziehung (128). Auf der VELKD-Synode 1963 unter dem Thema „Kirche und Jugend" stellt Fror umfassend Katechumenatsgedanken vor: „Die Integration von Unterweisung und Erziehung im kirchlichen Katechumenat". In dieser Phase des Katechumenatsdenkens geht es weniger um restaurative Tendenzen als um Impulse zur Neuordnung und Umstrukturierung des katechetischen Handelns, vorgetragen von Theoretikern und Praktikern. Die Verwirklichung blieb weit hinter den Vorschlägen zurück, und auch ein Konsens im Katechumenatsverständnis wurde nicht erreicht. Baltin unterscheidet vom Zielgedanken her konträre Auffassungen (Zum gegenwärtigen Gespräch 60ff). Henkys dagegen stellt aus der Entwicklung drei Typen fest: das Taufvorbereitungsinstitut der Alten Kirche, den Missionskatechumenat, und einen Teilbereich oder das Insgesamt des katechetischen Dienstes (Katechumenat und Gesellschaft 77). Er zieht es seinerseits vor, zwischen einem funktionellen und institutionellen Verständnis zu unterscheiden (79) unter Beachtung der originären und subsidiären pädagogischen Verantwortung der Kirche (83). Einleuchtend erschien der Ansatz beim Katechumenat, weil er das Kirchliche (nicht Verkirchlichung!) der religiösen Erziehung herausstellte, zugleich der Einheit und dem Ganzheitlichen der verschiedenen Formen gerecht wurde wie den Unterschieden und der Differenzierung im vielschichtigen Beziehungskomplex. Hier erschloß sich auch eine notwendige Konzentration auf elementare und fundamentale Dimensionen der Glaubenserziehung. Umstritten blieb das Ziel und damit die Dauer. Der Begriff der Mündigkeit ist unscharf, und ein lebenslanger „Katechumenat bis zum T o d e " überdehnt. Richtig ist, d a ß weder die Konfirmation noch die Zulassung zum Abendmahl als Katechumenatsabschluß erklärt werden können. Die Kritik am Katechumcnat erstreckte sich außerdem auf ein pädagogisches Theoriedefizit, angeblich mangelnde Weltbezogenheit kirchlicher Unterweisung, unzureichende Reflexion der Sozialgestalt der Kirche und einen vermeintlichen überholten Machtanspruch der Kirche (Hauschildt: Gloy, Ev. Religionsunterricht 235ff).
8. Gegenwärtige
Religionspädagogik
Das Interesse wendet sich wieder stärker dem schulischen Religionsunterricht zu, seiner Legitimation und der Aufnahme wissenschaftlicher Theologie. Breitgefächert verarbeitet die Religionspädagogik schnell wechselnde Wellen der Erziehungswissenschaft und Theologie (hermeneutische Pädagogik, Lerntheorie, psychologische Welle, soziologische Welle, Verhaltensforschung, Gruppendynamik, Curriculumforschung, empirische Wende, Themen- und Problemorientierung, Sozialisation, Informationstheorie, Wissenschaftstheorie, Ideologiekritik, politische Theologien), manchmal allzu schnell und nicht kritisch genug. Die Weite des notwendigen interdisziplinären Gesprächs ist imposant, die Literatur unübersehbar angewachsen, oft verwirrend für die Fragen der Laien und die lehrende Praxis vor Ort. Der empirisch-analytische Ansatz wird unentbehrlich, um bedingungsgerechtes und erfolgskontrolliertes Handeln zu ermöglichen (Nipkow 1,185ff). Aber Erfolgskontrolle bedarf schon in der Fragestellung der „Vor-Urteile", erst recht in der Auswertung der bewußt reflektierten Maßstäbe und Normen. Religionspädagogik und -»Katechetik als Handlungswissenschaften sind zwar angewiesen auf die vertieften Erkenntnisse der Humanwissenschaften, aber die Theologie bleibt primäre Bezugswissenschaft (Schröer). Über die Unterweisung in eigener Trägerschaft hinaus sind prononciert die Perspektiven bildungspolitischer Mitverantwortung der evangelischen Kirche aufgezeigt („Leben und Erziehen durch Glauben", EKD-Synode 1978 u. „Leben und erziehen - wozu?"). Insgesamt tritt das Denken vom Katechumenat in der westdeutschen Religionspädagogik fast ganz zurück. Das gilt auch für Frörs Religionspädagogik (1975), anders in der Katechetik in der D D R mit einem durchgehaltenen katechumenatstheologischen Ansatz (Henkys, Handbuch der Praktischen Theologie III, 14ff, auch Koziol). Aufgegriffen sind Anliegen vom Katechumenatsdenken unter dem Begriff der Gemeinde-
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pädagogik (Zusammenhang von Leben, Glauben u n d Lernen, 1982, hg. von der Kirchenkanzlei der EKD), mit hervorgerufen durch eine allgemeine Sinnkrise. R o s e n b o o m konstatiert eine Isolierung und relative Wirkungslosigkeit des kirchlichen Unterrichts und fordert: „ Z u den Aufgaben der Gemeindepädagogik m u ß es d a r u m gehören, die auf eine Differenzierung wie auch die auf Integration bedachten Tendenzen in einem Gesamtkonzept gemeindlicher Bildungsarbeit zu verbinden" (Leben und Erziehen 57). Der Begriff stellt alle kirchlichen Aktivitäten unter den Aspekt pädagogischer Verantwortung. Seine Weite ist seine Schwäche. Der Auftrag sui generis der Kirche in einer säkularen Welt tritt zurück. 9.
Problemanzeigen
Es geht nicht um Begriffe, sondern um die bestmögliche Lösung f ü r die Aufgabe „Glauben lernen". Vom reichen flexiblen Erbe des Katechumenats scheinen Problemanzeigen f ü r die Glaubenserziehung in der auf uns z u k o m m e n d e n Entwicklung möglich. Offenheit f ü r die Situation und Kontinuität sind immer neu zu wagen. Falsche Alternativen (Religionsunterricht oder Evangelische Unterweisung, Religionspädagogik oder Katechetik, Theologie oder Pädagogik) dürfen nicht lähmen. Kirche und Theologie sollen sich nicht nur Tendenzen anpassen, sondern steuern und planen. Allgemeine Grundvoraussetzungen f ü r das Glaubenlernen und die institutionellen Möglichkeiten bilden die Sozialgestalt der Kirche und das geistig-geistliche Klima der Epochen. Glauben lernen geschieht heute im Horizont des Unglaubens. Wenn die Volkskirche weiter zerbröckelt, hat das langfristig Konsequenzen f ü r den Religionsunterricht an staatlichen Schulen: Wenn er nichts beiträgt zur Glaubenserziehung, verlieren christliche Gemeinden ihr Interesse daran. Eine stark geschrumpfte Kirche verliert an Weltverantwortung und bildungspolitischer Mitverantwortung. Eine gewisse ekklesiozentrische Verengung wäre nahezu unumgänglich. Das Leitbild des klassischen Katechumenats zeigt ohne gesellschaftliche Stützen katechetische Verantwortung und missionarische Kraft. Schon die gegenwärtige kirchliche Situation fordert f ü r alle christlichen erzieherischen Aktivitäten missionarischen Willen, ohne pädagogisch verantwortungslos zu werden. Missionskatechumenat: Besonderer Überlegungen bedarf der Katechumenat in den -»Jungen Kirchen. Seine Praxis war auch in der Missionssituation der ersten und zweiten Generation außerordentlich uneinheitlich (Gensichen). Stephen Neill fordert von den Taufbewerbern: 1. eine Absage an bisherige religiöse Praktiken, die dem christlichen Glauben widersprechen, 2. eine Erklärung der Bereitschaft, an einem Unterricht teilzunehmen, um den Glauben besser kennenzulernen, 3. ein Versprechen, am Gottesdienst teilzunehmen, 4. die Bereitschaft, Grundregeln christlicher Sittlichkeit anzunehmen. Von der Gemeinde ist das Gebet für die Taufbewerber zu erwarten und die Bereitschaft, den Katechumenen beizustehen auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft. - Wenn die vorherrschenden Erwachsenentaufen abgelöst werden durch vorwiegend geübte Kindertaufe, treten ähnliche Probleme auf wie in volkskirchlichen Verhältnissen. Die katholische Kirche bemüht sich seit langem darum, einem Verfall des Katechumenats in den Missionskirchen zu wehren. Die evangelischen Landeskirchen in der Bundesrepublik Deutschland hatten 1970 28,5 Millionen Mitglieder, bis 1984 einen Verlust von 3,2 Millionen. 1963 wurden 475.583 Kinder getauft, 1984 nur 224.241 Kinder. Es starben mehr Menschen, als geboren wurden, und die Austrittsbewegung ist immer noch erheblich ( - • Kirchenentfremdung/Kirchenaustritte). 1984 gab es 28.703 Spättaufen (12,8 %), 1963 nur 7,4 %; in den Großstädten beläuft sich der Anteil der Spättaufen auf 20 bis 30 %. Veränderungen in der Taufpraxis bedeuten Herausforderungen an den Katechumenat. Wegen eines abgeflachteren, aber ähnlichen Trends gaben die katholischen Bischöfe 1982 eine Handreichung zu Fragen des Katechumenats in der Bundesrepublik Deutschland heraus, Stufen auf dem Glaubensweg. Die katholische Kirche erhofft sich von den Erneuerung des Katechumenats Chancen zur Verlebendigung von Kirche u n d Gemeinde u n d missionarische Ausstrahlungskraft in einer säkularisierten Gesellschaft (Werner und Clausen). Katechumenat meint hier den Eingliederungsprozeß Ungetaufter in die Kirche. Daneben wird auch von Ehe- u n d Elternkatechumenat gesprochen bzw. unter diesen Begriff die kirchliche Erwachsenenbildung subsumiert (dagegen Feifei, H b . der Religionspädagogik III, 347ff). Auch in refor-
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mierten Kirchen ist die Frage nach dem Gesamtkatechumenat nicht verstummt (Stinder). Veränderte Taufpraxis zwingt zu neuen Formen der Taufunterweisung. Wachsende Taufzahlen von jungen Menschen im Konfirmandenalter müssen zu Revisionen der T h e s e vom Konfirmandenunterricht als nachgeholtem Taufunterricht führen. Taufunterricht f ü r Erwachsene und Konvertitenunterricht können nicht gleichgesetzt werden. Der gesamte Sakramentsunterricht m u ß intensiver und bewußter gestaltet werden. Das gilt besonders für die Abendmahlserziehung (ebd. lOOff; Hauschildt, Überlegungen 250ff), f ü r die Beichterziehung ebenso wie f ü r eine umfassende liturgische Erziehung. Die evangelischen Kirchen können gerade dabei von alter und neuer Praxis der katholischen Kirche lernen. Erneuerungen bedürfen in der Z u k u n f t des ökumenischen Kontakts. Bei weiterem Rückgang der Effektivität häuslicher und schulischer Erziehung f ü r das Glaubenlernen wird der Konfirmandenunterricht k a u m weiter zeitlich ausgedehnt und inhaltlich überfrachtet werden k ö n n e n . Auf die Abwehr dieser Gefahren zielten die Entflechtungsvorschläge in den Debatten zur Konfirmationsreform. Kürzere Kurse könnten Lehrund Lernziele genauer profilieren. Abschlußhandlungen mit tragenden Riten (sekundär mit aufgeteilten kirchlichen Rechten) entsprechen dem Stufen-Ansatz des klassischen Katechumenats. Der herkömmlich symbolarme Protestantismus steht offenbar einer wachsenden Offenheit f ü r Symbole gegenüber. Sachgerechte Anpassungen an Situation und Zeit haben weniger auf oberflächliche Wellen als auf bestimmende G r u n d s t r ö m u n gen zu achten. Der Stufengedanke berücksichtigt Phasen und Stationen der menschlichen Entwicklung wie des geistlichen Wachstums. Glauben lernen meint einen offenen Lern- und Lebensprozeß. Die Differenzierung nach Altersstufen ist ebenso sachnotwendig wie die Gliederung nach spezifischen Strukturen der Erziehungsaufgaben und -möglichkeiten. Das Leitbild des Katechumenats betont die elementaren und fundamentalen Dimensionen und bleibt deshalb im Abschluß fließend. Gerade die im 19. u. 20. Jh. gewachsenen Fälle der Formen nötigen zur geklärten Koordination und bereitwilligen Kooperation, um so mehr, wenn einzelne Bereiche sich isolieren. Der Integrationswille ist zu stärken, um Aufgabenteilung verwirklichen zu k ö n n e n . Weil Glauben lernen im Vollzug und Geleit geschieht, ist entscheidend f ü r ein Gelingen „gemeinsames L e b e n " in der Gemeinde und in christlichen G r u p p e n , nicht zuletzt Dienstgruppen. D a r u m hat das Modell des Katechumenats immer gewußt, indem es Unterricht, Erziehung, Seelsorge, Gottesdienst, Verkündigung und Diakonie unter katechumenalen Perspektiven verknüpfte. Darüber darf der kognitive Bereich nicht vernachlässigt werden. Neben der Bibel selbst behalten die „ S u m m e n und Auszüge der Schrift", Credo und Katechismus, bleibende verbindliche Bedeutung, solange keine zeitnäheren gemeinsamen Katechismen vorliegen. Nicht zufällig hat der China Christian Council 1983 nach der Kulturrevolution einen neuen Katechismus zur gemeinsamen Einü b u n g in den G r u n d k o n s e n s des Glaubens mit starkem Rückgriff auf biblische Texte herausgegeben (deutsche Ausgabe: Die christliche Lehre 1985). Der mündige Christ m u ß von Bibel und Bekenntnis her argumentationsfähig sein gegenüber einer verbreiteten religiösen Infantilität. Der Katechumenat ist mehr als ein historisches F a k t u m , vielmehr eine herausfordernde, nicht überholte Aufgabe f ü r Kirche und Theologie. In Umbruchzeiten und w e n n bisherige christliche Unterweisung sich als ineffektiv erwies, w u r d e das wandlungsfähige Modell immer wieder neu entdeckt. Literatur Zoltan A. Antony, Die Lehre v. Katechumenat bei Gerhard v. Zezschwitz, Diss. Erlangen 1962. Walter Baltin, Die Gliederung des Katechumenats: Die Christenlehre 21 (1961) 75-87. - Ders., Zum gegenwärtigen Gespräch über den Katechumenat: Schule u. Kirche vor den Aufgaben der Erziehung, hg. v. Gert Otto/Hans Stock (ThPr.S)/Christenlehre u. Katechumenat, s. u., 5 9 - 6 5 . - Otto Baumgarten, Neue Bahnen. Der Unterricht in der christl. Religion im Geist der modernen Theol., Tübingen/Leipzig 1903. - Peter Constantin Bloth, Christenlehre u. Katechumenat. Eine Skizze zur Einf. in Tendenzen u. Konsequenzen heutiger kirchl. Katechetik: Christenlehre u. Katechumenat,
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Katenen
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Karl Hauschildt Kategorischer Imperativ -»Kant, -»Pflicht Katenen 1. Entstehung
2. Forschungsgeschichte
3. Arbeitsmethode
(Literatur S. 18)
1. Entstehung Katenen sind eine noch lange nicht abgeschlossene Aufgabe für Forschungsprogramme, Monographien und Editionen. Das Hauptinteresse an ihnen besteht in der Wiedergewinnung von altkirchlichen Texten, vor allem Bibelkommentaren, deren direkte Uberlieferung verloren ist, weil sie durch Katenen verdrängt wurden. Die Anfänge von Katenen sind in den Ausgang der griechischen Antike (6. Jh.) zu setzen; die Fülle der Handschriften vom 10.—16. Jh. vergegenwärtigt ihre nachwirkende Blüte in byzantinischer Gelehrsamkeit. Die literarische Bestimmung ist der Bibelkommentar, der sich aus Auszügen (wörtlichen Exzerpten) einer begrenzten Zahl von Einzelkommentaren zusammensetzt; die Autoren der Quellen werden mit Namen (im Genetiv) genannt, und Vers für Vers (Kommata) werden die Exzerpte der benutzten Autoren aneinandergereiht. Der biblische Text kann geschlossen für sich stehen, am inneren Rand des Blattes oder seltener auch in der Seitenmitte; durch Zahlen oder Zeichen werden dann die Exzerpttexte auf dem Rand zugeordnet (Randkatene). Vielleicht gleichzeitig entstand auch die alternative Form der Anordnung, bei der der biblische Text (Lemmata) den Exzerpten jeweils vorangestellt wurde und ein Verweissystem entfiel (Textkatene). Von Scholienkommentaren unterscheiden sich die Katenen dadurch, daß sie dem Textcorpus nicht Erklärungshilfen am Rande beifügen, sondern kontinuierlich gleiche Quellen ausschreiben und so die Bibelerklärung der vorangehenden Tradition sammeln und die Einzelkommentare überflüssig machen. Von -»Florilegien dogmatischer oder asketischer Art trennt sie ebenfalls die konsistente Benutzung der gleichen und begrenzten Zahl von Quellen. Die Möglichkeit des Auffüllens durch „Blütenlesen" einzelner Zitate oder Erklärungen von Bibelstellen in nichtexegetischer Literatur (Homilien, Traktate, Briefe) legte sich sehr bald nahe; auch die Übernahme von Scholien, vor allem hexaplarischer Notizen für alttestamentliche Texte, lag nicht fern. Folglich bieten die erhaltenen Katenenhandschriften ein sehr variables und komplexes Bild. Außerdem wurden Katenen durch Textverkürzung, Kombination mehrerer alter Katenen und Erweiterung bearbeitet, so daß die Traditionsgeschichte, die vor dem Einsetzen der handschriftlichen Überlieferung liegt, nur durch mühselige Analysen wiedergewonnen werden kann. Die Erfindung des Kommentars in Form der Katene ist nur aus Indizien zu erschließen. Aufgrund der erhaltenen Textüberlieferung wurde allgemein geschlossen, daß die nichtchristliche Literatur kein Vorbild für Katenen lieferte; das Fehlen von katenenartiger
Katenen
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Kommentierung klassischer Autoren in Papyri mit Unzialschrift führte zu dem Argument, daß die nichtchristlichen Kommentare dieser Art erst in die Zeit des Pergamentcodex in Minuskelschrift (9. Jh.) gehören, angelegt nach dem Muster der christlichen Katenen (vgl. Zuntz). Dem ist inzwischen widersprochen worden; die Gleichzeitigkeit und sogar umgekehrte Beeinflussung erscheint als gleichwertige Möglichkeit (vgl. Wilson) und führt nach -»Gaza zur Zeit des Procopius (ca. 475—528). Procopius werden Katenen zugewiesen, allerdings bezeugt allein in Überschriften von Katenenhandschriften und nicht über jeden Zweifel erhaben: zum Hohenlied, zu Proverbien und Kohelet mit Namen der Quellen (Ilpotconíoo xpionavov aoqnaxov é£,tjyrjnK&v etckoyibv énnofiij ano (pojvfjq... Kurzfassung der exegetischen Auszüge des christlichen Sophisten Procopius entsprechend den Lehren von Gregor etc.), zum Oktateuch und zu Jesaja ohne Namen (Ilpoicomov... T(5v éickoycöv Ennofit}). Zum Oktateuch sagt die Vorrede (PG 87, 22A-24A), daß er zuerst die Väter wörtlich ausgeschrieben, dann aber wegen des unmäßigen Umfangs und wegen der Wiederholungen wie auch Widersprüche einen einheitlichen Kommentar mit eigenen Zusätzen angefertigt habe. Das Wort inixopt] begegnet nicht in der Vorrede, dafür aber in den Handschriften für beide Arten der Überlieferung; Photius (Bibl. 206) hat „exegetische Scholien" zum Oktateuch von Procopius gelesen, und seine Beschreibung läßt vermuten, daß es nicht namentlich bezeichnete Väterexzerpte waren. Einen eindeutigen Beweis für die Verfasserschaft des Procopius gibt es nicht. Ins 6. Jh. als Entstehungszeit von Katenen weisen die Handschriften. Bekannt sind vier Katenen in unzialer Schrift (zu Hiob Patmius 171, s. VII/VIII, und Vat.gr. 749, s. IX; zu den Psalmen Taur. BI 10, s. VIII; zu Lukas Codex Zacynthius, s. VI?); diese sind mit Sicherheit abgeleitete Katenen, und ihre Existenz bedeutet, daß das Argument mit dem Schrifttyp einzuschränken ist. Weiterhin läßt sich feststellen, daß alle als original einzustufenden Katenen keine Quelle, die später ist als das 6. Jh., enthalten. Schließlich könnte für diese Entstehungszeit noch auf die hexaplarischen Notizen in einigen guten Katenenhandschriften verwiesen werden, obwohl nicht auszuschließen ist, daß sie sekundär in Katenen übernommen wurden. Abgesehen von Procopius nennen die Katenenhandschriften einige wenige Namen, die als Verfasser oder Bearbeiter in Frage kommen könnten. Den Johannes Drungarius (ó xtjq Apovyyapiaq) bezeichnet Par. gr. 159 (s. XIII) als den Autor eines Prologes, der zu allen vier großen Propheten in den übrigen - auch älteren — Handschriften anonym steht; einen ähnlichen Prolog bietet die Lukaskatene im Codex Zacynthius; es ist eine individuelle Katene, und der letztgenannte Codex wie auch die Quellen der Katene lassen auf eine Entstehungszeit um 700 schließen, jedoch gibt es für den Namen keine anderen Nachweise. Nicht besser bezeugt ist ein Presbyter Andreas (Jesaja-Katene in Par.gr. 156, s. X, und 3 späteren Handschriften derselben Katene; gleiche Subscriptio in der Katene Coislin 25, s. X, zu Acta und Katholischen Briefen); er dürfte als Abschreiber, vielleicht als Bearbeiter zu charakterisieren sein. Ebenso ist nichts bekannt über andere Namen, die von Katenenhandschriften wie Autoren der Kompilation genannt werden (z.B. Victor von Antiochien, Petrus von Laodicea, Leo Patricius, Philotheos). Deutlicher hebt sich Nicetas von Heraclia in der Katenenüberlieferung ab; in seiner Laufbahn war er Haupt der Patriarchatsschule in Konstantinopel, 1117 ist er als Metropolit von Herakleia bezeugt (vgl. Browning). Katenen von ihm sind überliefert zu den Psalmen, zu Matthäus, Lukas, Johannes und Paulus (Hiob ist fraglich); Titel und Prologe geben über seine Arbeitsweise Auskunft, und er konnte noch Kommentare benutzen, die danach verloren gingen; interne Analyse seiner Auslegungssammlungen zeigt, daß er auch Katenen ausgeschöpft hat. Die Exegeten der nachfolgenden Zeit schrieben wieder - unter Benutzung von Katenen - Kommentare; die Katenen wurden aber weiterhin reichlich abgeschrieben. Bestandteil der Katenen blieben auch die Kommentare von Häretikern; gelegentlich wird zur Rechtfertigung ihrer Benutzung (und abschriftlichen Weitertradierung) ein Satz Cyrills von Alexandrien (ad Eulog., ep. 44), daß nicht jedes Wort eines Häretikers häretisch sei, angeführt. Zur frühen Verbreitung der Katenen durch Übersetzungen fehlen Übersichten.
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Katenen 2.
Forschungsgeschichte
Die griechischen Handschriften bieten kein Äquivalent für das Wort Katene. Soweit Überschriften vorhanden sind, ist die typische Bezeichnung rcöv EI'Ç ... Ê^tjyrjrtKœv ÈKXoyœv Oüvaymyrj [Sammlung von exegetischen Auszügen zu (Bibelbuch)] oder avvaymyrj èÇqyrjoecov ânà ôiatpôptov âyicov nazépmv Kai ôiôaoKâXwv elç...
[Sammlung von Ausle-
gungen der heiligen Väter und Lehrer zu...]- Der lateinische Ausdruck catena (Kette) begegnet zuerst als Bezeichnung für den Exzerptkommentar des Thomas von Aquin, den er im Auftrage des Papstes Urban IV. zu den vier Evangelien anfertigte. Er selbst sprach von einer „fortlaufenden Auslegung" (expositio continua), und Continuum war zunächst der Titel. Der Thomasbiograph Wilhelm von Tocco teilt um 1320 mit: „Der Lehrer schrieb ein Werk über die vier Evangelien, das in wunderhafter Ordnung aus den Autoritäten der Heiligen zusammengesetzt war; aus ihnen legte er die Geschichte der Evangelien so aus, daß es gleichsam die Postille eines einzigen Lehrers zu sein schien" (Vita cap. 17). Von daher legte sich wohl die Bezeichnung „goldene Kette" (catena aurea; zuerst bezeugt 1321) nahe, die sich zu Beginn des 16. Jh. als Titel durchsetzt. Eine „Cathena aurea super Psalmos" erschien 1510 mit 5 Auflagen in Paris, aus der lateinischen Tradition von dem Kartäusergeneral François Du Puys (Puteus) selbst gesammelt. (Vgl. aber auch den Eintrag des Erfurter Bücherverzeichnisses von 1412 zu Amplon. F 371: Item septimus et octavus libri (Henrici) Hervordianis de cathena aurea et est cathena aurea secundum Homerum et Platonem, ut ait Macrobius, habitudo encium omnium [Ferner das 7. und 8. Buch Heinrichs von Herford über die goldene Kette, und die goldene Kette ist nach Homer und Plato, wie Macrobius sagt (Comm. 114,15), der Zusammenhalt alles Seienden].)
Im Streit mit der Reformation erwies sich neben den Kirchenväterausgaben die Katene als ein geeignetes Hilfsmittel, weil sie den selbstverfaßten reformatorischen Bibelkommentaren als die gesammelte und durch die alten Namen, wie sie die Katenen auswiesen, verbürgte Tradition entgegentreten konnten. Bernardus Donatus verweist in seiner Ausgabe (Verona 1532; die vollen Titel der alten Drucke bei Karo/Lietzmann und Devreesse; verkürzt in CPG IV C) des (Ps) Oecumenius, einer Katene zu Acta, Paulus und den katholischen Briefen, auf das Vorbild der Catena aurea des Thomas; er sagt, daß der Nutzen solcher Bibelauslegung die Zusammenfassung und die Bürgschaft der Namen der Quellen sei. Als der Marburger Sprachprofessor Johannes Lonicerus den Römerbrief aus einer Katenenhandschrift ins Lateinische übersetzte (Basel 1537) und die Ausgabe seinem Universitätskollegen Gerhard Geldenhauer (Noviomagus) widmete, bemerkte er den deutlichen Abstand zur reformatorischen Exegese und milderte ihn durch einige eigenwillige Ubersetzungen; das entging dem Löwener Hieronymiten und späteren Dominikaner Johannes Henten nicht, der daraufhin eine Neuübersetzung drucken ließ (Antwerpen 1545). Das Konzil von Trient gab dieser Kommentarform weiteren Aufschwung, und es wurden griechische Katenenhandschriften, meist in lateinischer Übersetzung, gedruckt: Francesco Zeffi (Zephyrus) zum Pentateuch (Florenz 1546); Aloysius Novarinus zur Genesis (Verona 1547); Io. Bernardus Felicianus zu Acta und Katholischen Briefen (Venedig 1545). Aloysius Lippomani (zu Genesis und Exodus, Paris 1546 u. 1550) formuliert die neue Begründung; denn die „Häretiker" beriefen sich auf die hebräischen und griechischen Bibeltexte, wozu eben die in den Katenen gesammelten Kirchenväter die altkirchlichen Antworten bereitstellten, wie sie der kirchlichen Tradition entsprechen. Daniele Barbaro (Venedig 1569 zum Psalter) ist überzeugt, daß der Übereinstimmung aller Kirchenväter nicht widerstanden werden könne. Editionen von Katenenhandschriften lassen sich vor allem die Jesuiten angelegen sein und beziehen in ihren Vorreden kontroverstheologische Stellungnahme: Paulus Comitoli zu Hiob (Venedig 1587); Theodorus Peltanus zu den Proverbien (Antwerpen 1614); Balthazar Cordier zu Lukas (Antwerpen 1628), zu Johannes (Antwerpen 1630), zu den Psalmen und Oden (Antwerpen 1643-1646), zu Matthäus (Toulouse 1646/7); Pierre Poussines zu Matthäus (Toulouse 1646/7), zu Mar-
Katenen
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kus (Rom 1673). Neben ihnen treten Theatiner hervor: Antonio Agellio zu Threni (Rom 1589) und Michele Ghislieri zu Jeremia (Lyon 1623). Fast wie eine Ausnahme zu betrachten sind der Gräzist Joannes Meursius (zum Hohenlied, Leiden 1617) und der anglikanische Bibliothekar Patrick Young (zu Hiob, London 1637). Nachdrucke ausgenommen, wird nur noch eine Katene ganz zum Druck gebracht (Nikephoros Theotokis zum Oktateuch, Leipzig 1772/3). Inzwischen hatten sich die Interessen für diese Form der Überlieferung geändert. Man suchte Unediertes für die einzelnen altkirchlichen Autoren, so die Jesuiten Fronton du Duc (1558-1624) und Jaques Sirmond (1559-1651), der Dominikaner François Combefis (1605-1679) und der Benediktiner Bernard de Montfaucon (1655-1741); ihnen ist der Lutheraner Johann Ernst Grabe (1666-1711) zur Seite zu stellen. Das Bedürfnis nach Übersichten der in den zahllosen Handschriften von Katenen noch ungehobenen Schätze schlägt sich nieder (Th. Ittig, 1707; J. A. Fabricius, 1715). Aber längst war man - zu Recht — mißtrauisch geworden gegen die Zuverlässigkeit der in den Katenen zitierten Autoritäten, wogegen sich z. B. der Jesuit Antonius Possevinus in seinem Apparatus sacer (Köln 1608) wendet. R. Simon beweist diese Zweifel (1693). Von nun an findet sich in den Literaturgeschichten regelmäßig ein eigenes Kapitel über Katenen. Erste Spezialuntersuchungen erscheinen (I. C. Wolf, 1712; I. F. S. Augustin, 1762). In der Neuauflage von Fabricius gibt G.C. Harles zusätzliche Informationen über Handschriften und in Katenen genannte Autoren (1802). Der neutestamentliche Textkritiker C. F. Matthäi veröffentlicht Katenen aus Moskauer Handschriften, die ihm zugänglich sind (1774,1775,1782). Wegen der Geschichte der altkirchlichen Bibelauslegung legt der Anglikaner J. A. Cramer alle Katenen zum Neuen Testament vor (Oxford 1838-1844). 3.
Arbeitsmethode
Noch unkritisch lassen die Kardinäle Angelo Mai (1782-1854) und Jean Baptiste Pitra (1812-1889) ihre Funde aus Katenenhandschriften drucken. Erst die philologische Kritik am Ende des 19. Jh. weist hier neue Wege. P. de —»Lagarde forderte für jegliche Edition von altkirchlichen Autoren, die Katenenüberlieferung einzubeziehen. P. Wendland formuliert das Programm einer Katalogisierung der Katenenhandschriften nach Klassen; H. -»Lietzmann verwirklichte es zusammen mit G. Karo, M. Faulhaber nahm nach eigenen Studien die Kooperation an. Es war deutlich geworden, daß das erste Interesse an den Katenen in dem Material lag, das sie allein aufbewahrt haben. Eine Klassifizierung des handschriftlichen Materials gelang, weil nach dem Vorbild von Probekollationen die Katenenhandschriften jeweils zu den einzelnen biblischen Büchern nach Typen geordnet wurden; auf diese Weise entstand eine Übersicht aller bekannten Handschriften mit Katenen, die leicht ergänzbar war (vor allem Rahlfs, Devreesse und Richard). Die Vergleichsstellen waren die Notierung des Inhalts der Katenenhandschrift mit Anfang und Ende ihrer Exzerpte und, falls vorhanden, der Autorenangabe; ein Textvergleich fand nicht statt, so daß weder direkte Apographa noch Verwandtschaft der Typen untereinander im Katalog von KaroLietzmann erkennbar werden. Wendland und Cohn wie auch die ersten Editoren der Berliner Kirchenväterausgabe erkannten, daß jeder Katenentyp für sich gesondert auf die Herkunft seines Materials untersucht werden müßte, um die Qualität der Texte und vor allem ihrer Zuweisungen kontrollieren zu können. Trotz anfänglicher Entdeckerfreude zeigte sich bald, daß zwar das Alter einer Handschrift in einem Katenentyp große Bedeutung hat, weniger jedoch die äußere Form der Notierung von Autorennamen. Erste Analysen von ganzen Handschriften entstanden auf Lietzmanns Anregung, aber die beiden erschienenen Bände der Catenen-Studien erfüllten nicht die in sie gesetzten Erwartungen der sichtenden Kritik. Nach verschiedenen Einzelstudien von G. Mercati gelang R. Devreesse ein methodischer Durchbruch, als er einen Typ der Psalmenkatenen als Vorlage für die Texte anderer Typen erweisen konnte. M. Richard verfolgte diese Methode systematisch und konnte für die Psalmenkatenen zwei Typen identifizieren, in denen die Quellen aus den Kommentaren ausgeschrieben wurden, während diese Texte in allen anderen
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Katenen
Typen sich als Auszüge oder Paraphrasen charakterisieren ließen. So war eine erste Genealogie gelungen, ausgehend von der Annahme, daß sehr wenige Katenentypen auf direkte Benutzung der Quellenschriften zurückgehen, dagegen die Vielfalt der Katenentypen von Katenen abhängt, sie umschreibt, auffüllt, verkürzt oder kombiniert. Ähnlich a r b e i tete Staab gleichzeitig zu Devreesse und kam zu überzeugenden Ergebnissen für d i e Pauluskatenen, ebenso Reuss für die Evangelienkatenen. In der Katenenforschung werden seit der Jahrhundertwende zwei unterschiedliche Wege eingeschlagen. Eine Richtung behauptet in Ubereinstimmung mit Faulhaber, d a ß Katenen jeweils vollständig zu edieren sind, damit erstens ihr Inhalt einschließlich aller Texte für jeden nachkontrollierbar vorgelegt wird und damit zweitens zu jedem Bibelvers die altkirchliche Auslegungsgeschichte überblickt werden kann. Die andere Richtung sucht in Fortführung der Berliner Kirchenväterkommission nach den einzelnen Autoren und strebt nach der Sammlung der Fragmente verlorener Kommentare, während die Überprüfbarkeit der Textzuweisungen durch Katenenindices zu leisten ist. Letztere R i c h tung macht geltend, d a ß die Texte in Katenen wie Fragmente und Mosaiksteine nur in d e r Zusammenschau des betreffenden Autors verständlich sind. Bei jüngsten Arbeiten ü b e r Katenen zu Genesis, Psalmen und H i o b hat sich gezeigt, daß tatsächlich die Typen in ihren ältesten Handschriften ganz analysiert, verglichen und, soweit möglich, an direkter T e x t überlieferung kontrolliert werden müssen, um die Urkatene erkennen zu können. V o m Forscher dann ausgewählte Teile können in tabellarischer Form die Abhängigkeiten vorführen. Einen Einblick in die Arbeitsweise eines Katenenschreibers, wie Verse als Arbeitseinheiten dienen, zu denen die Quellen ausgezogen werden, bietet die Ausgabe von Psalm 118 (ed. M . Harl). Die Hauptaufgabe besteht immer noch darin, unter den verschiedenen Katenen zu einer biblischen Schrift diejenigen Typen zu identifizieren, die ihr Material aus den von ihnen ausgeschöpften Quellen direkt entnommen haben. Diese Arbeit ist für die Katenen zu neutestamentlichen Schriften weitgehend geleistet, für diejenigen zu alttestamentlichen erst unzureichend. Das Problem besteht darin, daß zu mehreren biblischen Schriften keine der erhaltenen Katenentypen die ursprüngliche Katene darstellt, sondern nur abgeleitete Mischformen aus byzantinischer Überarbeitung erhalten sind. Den Forschungsstand von 1979 hat M . Geerard in CPG IV C übersichtlich verzeichnet. Lesbar ist diese Übersicht nur im Zusammenhang mit dem Katalog von Karo/Lietzmann, dem Verzeichnis von Rahlfs und dem Großartikel von Devreesse. Besonders irritierend sind Listen der in den Katenen zitierten Autoren, wenn sie nicht zwischen regelmäßig auftauchenden Elementen und gelegentlichen Streuzitaten unterscheiden; folglich ergibt sich bei vielen Katenen kein Einblick in den Aufbau des jeweiligen Katenentypus. Literatur Kataloge: Michael Faulhaber, Die Katenenhss. der span. Bibliotheken: BZ 1 (1903) 151-159.246-255.351-371. - Mauritius Geerard, CPG 4 (1980). - Georg Karo/Hans Lietzmann, Catenarum Graecarum Catalogus: NGWG. PH 1902. - Alfred Rahlfs, Verzeichnis der griech. Hss. des AT, 1914 (MSU 2). Allgemeines: Hans-Georg Beck, Kirche u. theol. Lit. im byz. Reich, 1959 2 1977 (Byz. Hb. im Rahmen des HAW 2/1). - Robert Browning, The Patriarchat School at Constantinople in the Twelfth Century: Byz. 32 (1962) 167-202; 33 (1963) 11-40. - René Cadiou, La bibliothèque de Césarée et la formation des chaînes: RevSR 16 (1936) 474-483. - Leopold Cohn, Zur indirekten Uberlieferung Philos u. der älteren Kirchenväter. Nebst einem Nachtrage v. P. Wendland: JPTh 18 (1892) 475 - 4 9 2 . - Robert Devreesse, Art. Chaînes exégétiques grecques: DBS 1 (1928) 1084-1233. Albert Ehrhard, Art. Katenen: Karl Krumbacher, Gesch. der byz. Lit. v. Justinian bis zum Ende des oström. Reiches (527-1453), 2 1897 = New York o.J. (HKAW 9,1), 206-218.-Michael Faulhaber, Katenen u. Katenenforsch.: ByZ 18 (1909) 383-395. - Christos Th. Krikonis, Catenae (griech.): Byzantina 8 (1976) 89-139. - Hans Lietzmann, Catenen. Mitt. über ihre Gesch. u. hs. Überlieferung. Mit einem Beitr. v. Hermann Usener, Freiburg/Leipzig/Tübingen 1897. - Giovanni Mercati, A quäle tempo risale „II Siro" dei commentatori greci della Bibbia?: Bib. 26 (1945) 1 - 1 1 = StT 296 (1984) 148-157. — Erwin Preuschen, An. Catenen: Adolf Harnack, Gesch. der altchristl. Lit. 1/2, Leipzig
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Katenen
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Katharer AovKäv Eòayyéfoov tinò Niiajza 'HpoucÀEÎaç (Kaxà ròv
KÙÒIKO. 'Ißrjpcav 371), Thessaloniki 1973 (BvÇavrivà rceífieva Kai fisterai 9) [vgl. Rez.: ByZ 70 (1977) 118-221]. - Max Rauer, Der dem Petrus v. Laodicea zugeschriebene Lukaskommentar, 1920 (NTA 7,2). - Ders., Form u. Uberlieferung der Lukas-Homilien des Orígenes, 1932 (TU 47,3). — Ders., Orígenes. Die Homilien zu Lukas in der Übers, des Hieronymus u. die griech. Reste der Homilien u. des Lukas-Komm., 2 1959 (GCS 49). Joseph Reuss, Matthäus-, Markus- u. Johannes-Katenen nach den hs. Quellen unters., 1941 (NTA 18,4-5). - Ders., Matthäuskomm, aus der griech. Kirche. Aus Katenenhs. ges. u. hg., 1957 (TU 61). Ders., Johannes-Komm. aus der griech. Kirche. Aus Katenenhs. ges. u. hg., 1966 (TU 89). - Ders., Lukaskomm, aus der griech. Kirche. Aus Katenenhs. ges. u. hg., 1984 (TU 130). — Marcel Richard, Les citations de Théodoret conservées dans la chaîne de Nicétas sur l'Évangile selon saint Luc: RB 43 (1934) 8 8 - 9 6 = ders., Opera II, Nr. 43. - Joseph Sickenberger, Titus v. Bostra. Stud. zu dessen Lukashomilien, 1901 (TU 21,1). - Ders., Die Lukaskatene des Niketas v. Herakleia unters., 1902 (TU 22,4). Paulus: Claude Jenkins, The Origen-Citations in Cramer's Catena on I Corinthians: JThS 6 (1905) 113-116. - Ders., Origen on I Corinthians: JThS 9 (1908) 231-247. 353-372. 500-514. Otto Lang, Die Catene des Vaticanus gr. 762 zum Ersten Korintherbrief analysiert, Leipzig 1909 (Catenenstud. 1). — Karl Staab, Die Pauluskatenen nach den hs. Quellen unters., Rom 1926. — Ders., Pauluskomm, aus der griech. Kirche. Aus Katenenhs. ges. u. hg., 1933 = 1984 (NTA 15). - Cuthbert Hamilton Turner, Greek Patristic Commentaries on the Pauline Epistles: DB(H) 1904, 484-531. Kath. Briefe: James Hardy Ropes, The Greek Catena to the Catholic Epistles: HThR 19 (1926) 383-388. - Karl Staab, Die griech. Katenenkomm. zu den kath. Briefen: Bib.5 (1924) 296-353.
Ekkehard Mühlenberg Katharer 1. Name
1.
2. Geschichte
3. Ursprünge
4. Lehre
5. Bedeutung
(Quellen/Literatur S. 29)
Name
Der Name geht auf die Bezeichnung Ka9apoi, die Reinen, zurück, als die sich schon die Gläubigen um —»Novatian bezeichnet hatten. Die Selbstbezeichnung der größten mittelalterlichen Häretikergruppe deuteten allerdings ihre Gegner anders: Sie stellten die berüchtigte Etymologie auf: „Vel Cathari dicutitur a cato, quia, ut dicitur, osculantur posteriora catti, in cujus specie, ut dicunt, apparet eis Lucifer" [Oder sie werden Katharer nach der Katze benannt, weil sie, wie gesagt wird, den Hintern einer Katze, in deren Gestalt ihnen Luzifer erscheint, küssen] (Alanus ab Insulis, Summa Quadrapartita, Liber 1, cap. 63). Im Mittelalter wurden die Katharer oft gleichwertig mit „Manichäer" bezeichnet oder auch als „Arianer". Dies ist wohl damit zu erklären, daß die Orthodoxie zunächst in Ermangelung eines detaillierten Namens auf die ihr bereits bekannten Ketzergruppen der alten Kirchengeschichte zurückgriff; aber vielleicht schlägt auch eine gewisse Grundkenntnis der neuen Häresien durch, da einige Parallelen, vor allem im Schöpfungsglauben und in der Christologie, zu den beiden genannten Häresien nicht zu übersehen sind. Sie selbst bezeichneten sich - neben cathari - als „gute Christen" oder einfach nur als „Christen", was bereits ihren religiösen Anspruch erkennen läßt. Wissenschaftlich sinnvoll erscheint von allen erwähnten Bezeichnungen nur „Katharer". Im deutschen Sprachraum wurde dieser Begriff allerdings pseudoetymologisch zu „Ketzer" umgebogen, und so werden die Katharer gewissermaßen zum Prototyp des mittelalterlichen Häretikers. 2.
Geschichte
Ab dem 11. Jh. kommt es in Frankreich, Italien, Deutschland und den Niederlanden zu einem vorerst sporadischen Auftreten von Ketzern, die schon — wie etwa 1022 in Orléans - das Materielle als unrein erachten und die Sakramente der kirchlichen Hierarchie zurückweisen, um stattdessen Sündenvergebung durch Handauflegen zu praktizieren. Aus diesem bereits erkennbaren kirchenkritischen, auf Spiritualität angelegten Ansatz wurde im 12. Jh. durch dualistisches, aus dem Osten über Händler und vor allem Kreuzfahrer mitgebrachtes Gedankengut eine breite Bewegung mit starken Zentren vor-
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Katharer
Katharer
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nehmlich in Südfrankreich und Oberitalien. 1163 benennen sie sich selbst in Köln das erste Mal als cathari. Die Impulse zu diesem Aufbruch speisten sich besonders aus der apostolischen Armutsbewegung (-»Armut). Der Dualismus gewann erst an Bedeutung, als die Katharer sich gezwungen fühlten, ihren theologischen Standpunkt von dem der Amtskirche abzusetzen, und kann somit nicht als der Kern oder als Auslöser für die Trennung von Rom gesehen werden. 1167 fand das sog. Konzil von St. Felix-de-Caraman bei Toulouse statt, in dessen Verlauf der Bogomile Niketas die Wandlung vom gemäßigten Dualismus zum RadikalDualismus durchsetzte sowie eine Bistumsgliederung der Katharer aufbaute. Hiermit beschritten die Katharer nun ihrerseits den Weg zur Verkirchlichung. Während in Südfrankreich die Katharer, welche dort nach der ersten südfranzösischen Diözese Albi Albigenser genannt wurden, weiterhin eine geschlossene, sowohl dogmatisch wie organisatorisch in vier Diözesen verbundene Gruppe blieben, zerHelen auf Grund von Lehrdifferenzen die italienischen Katharer schon vor 1190 in sechs Diözesen mit drei unterschiedlichen Konfessionen: Albanenser, Bagnolenser, Concorezzianer. Die Kirche stand diesem religiösen Massenzulauf zu heterodoxen Gruppen zunächst hilflos gegenüber; über Disputationen und Predigten ließ sich wenig erreichen. Jedoch wurden —»Dominicus durch die südfranzösischen Katharer und möglicherweise auch —»Franciscus von Assissi durch die italienischen Katharer zur Formulierung ihrer Ordensregeln angeregt und fingen damit einen Teil des heterodoxen Gedankengutes — apostolische Armut und Wanderpredigt — auf, um es in kirchliche Bahnen zu leiten. In Südfrankreich war es bereits 1181 zu einer kriegerischen Unternehmung gegen die Katharer gekommen; der eigentliche Ketzerkreuzzug wurde 1209-1229 gegen die Albigenser geführt, womit erstmals der Kreuzzugsgedanke ( - • Kreuzzüge) in einem christlichen Land in die Praxis umgesetzt wurde. -»Innozenz III. hatte sich nach der Ermordung seines Legaten Peter von Castelnau dazu ermächtigt gefühlt. Dieser Albigenserkreuzzug zerstörte nicht nur die intakte Bistumsorganisation der Katharer, sondern auch die gesamte blühende Kultur Südfrankreichs, das durch den Vertrag von Meaux (1229) an die französische Krone fällt. Trotzdem waren längst nicht alle Katharer vernichtet, und ihre Attraktivität war nicht erloschen. 1231 wurde die päpstliche -»Inquisition eingesetzt, die in den Händen der Bettelorden lag. Nachdem vor allem in Südfrankreich die theologische Blüte der Katharer durch den Kreuzzug und den Fall von Montsegur ausgerottet war und nachdem die Inquisition ihre Aufspüraktionen immer effizienter betrieb, verloren die Katharer soziologisch und theologisch ihr Profil. In Südfrankreich konnten sie sich in abgelegenen Pyrenäengegenden bis etwa 1330 halten, in Nordwestitalien und in Sizilien bis etwa 1412. 3. Ursprünge Ein ausgesprochener Glücksfall für die Erforschung der katharischen Lehre war 1939 der Fund des Liber de duobus principiis [Buch der zwei Prinzipien] des Jean de Lugio, an das eine lateinische Schilderung vom Ablauf der Geisttaufe, des sog. Consolamentum, angehängt war, und das nun als Rituel de Florence bekannt ist. Daneben sind von den Katharern selbst noch zwei Dokumente vorhanden: eine proven;alische Vulgataübersetzung, in der es augenscheinlich unmöglich ist, häretische Aussagen zu finden, und ein weiteres, ebenfalls in proven^alischer Sprache abgefaßtes Rituelde Lyon. Da das Consolamentum bei den Katharern als Initiationsritus Sakramentenstellung einnahm, sind die beiden Rituale von eminenter Bedeutung, besonders da sie einen Vergleich zwischen südfranzösischen und norditalienischen Katharern erlauben. Somit sind wir bezüglich ihrer Lehre nicht nur auf die Summen und Traktate ihrer orthodoxen Gegner und auf die Register der Inquisition angewiesen, sondern können den Wahrheitsgehalt der sie bekämpfenden Aussagen an Äußerungen der Katharer selbst messen.
Eine der hartnäckigsten Formen von Häresie war der -»Dualismus, der im Vergleich mit der sich langsam, aber stetig entwickelnden Komplexität des Trinitätsdogmas eine straffe Deutung von Gott und Weltzusammenhang zeigte. Schon in den ersten Jahrhunderten der frühen Kirche stellte der Dualismus, vor allem in Gestalt der -»Gnosis, eine der
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Katharer
ernsthaftesten Bedrohungen für die kirchliche Lehre dar. Daß aber der Sieg über die Gnosis wohl eher eine Verdrängung derselben und keinesfalls eine Ausrottung des Dualismus war, zeigte sich in aller Schärfe im Mittelalter. Hierbei wurde der Katharismus fast zum Synonym für den Dualismus, so daß sich die Frage nach dessen Ursprüngen stellt. Die Frage nach den Ursprüngen ist deshalb von Bedeutung, da je nach ihrer Beantwortung die Katharer als geprägt vom Geist des Christentums oder geprägt von heidnischen Philosophien und Systemen angesehen werden müssen. Jedoch muß festgehalten werden, daß hier eine sehr komplexe Polykausalität zugrunde liegt. Neben den immer wieder festgestellten Bezügen zu -»Manichäismus und Gnosis kommt gerade auch origenistischem Gedankengut eine auffallende, in Zukunft noch näher zu untersuchende Beeinflussung zu. Sowohl in den Vorstellungen zur Präexistenz der Seelen, dem Freien Willen und besonders dem Endheil aller Seelen zeigte sich -»Orígenes als Vordenker katharischer Glaubensauffassungen. Gerade eine Vermittlung der griechischen Väter, in deren Zusammenhang Orígenes zu sehen ist, kann auf dem Wege der „Missionierung" durch die -^Bogomilen und -*?aulicianer stattgefunden haben. Die östliche Sekte der Bogomilen hatte in den slawischen Gebieten von Bulgarien und Bosnien sowie in den byzantinischen Gebieten von Dragunthia in Thrakien und Konstantinopel ihre „Kirchen" errichtet, von denen diejenige im erstgenannten Bereich einem gemäßigten Dualismus folgte, während die andere im Bereich Thrakien und Konstantinopel dem Radikal-Dualismus anhing. Diese Hinwendung eines Teils der Bogomilen zum RadikalDualismus ist wohl durch den Einfluß paulikianischer Konvertiten zu erklären. Der Bogomile Nicetas, der das sog. Konzil von St. Félix-de-Caraman leitete, war aus Konstantinopel und somit natürlich Radikal-Dualist. Allerdings überzeugte Nicetas die Katharer von seiner Glaubensrichtung nicht etwa durch ein Darstellen seiner Dogmen, sondern durch den Hinweis auf den unwürdigen Lebenswandel der alt-bogumilischen Führer: Wenn die Vertreter der Lehre nicht der Lehre gemäß leben, kann auch die Lehre nicht wahr sein; nicht in erster Linie der Glaubens/w/m/f, sondern das Glaubensze«gw's ist den Katharern Maßstab für die christliche Wahrheit. Schon vor Nicetas kann sich aber auch ohne östliche Vermittlung dualistisches Gedankengut im Westen geformt haben, an dessen Anfang die Kritik an der Amtskirche stand; eine Kritik, die nun nicht mehr insbesondere vom Mönchtum wie in der Gregorianischen Reform, sondern von den Laien, die durch diese Reform ja immer mehr an aktiver Heilsverantwortung verloren hatten, formuliert wurde. Nicht überall standen also Manichäismus, Gnosis oder Bogumilen Pate, wenn in katharischen Aussagen heterodoxe Gedanken auftauchen. 4. Lehre Bei den Katharern ist die Vielfalt in der Ausprägung der Lehre auffallend, so daß sich nicht nur die südfranzösischen Albigenser von den italienischen Katharern unterscheiden, sondern auch die einzelnen Gemeinden untereinander. Da also eine dogmatisch festgelegte, auf Konzilien verkündete gemeinsame Lehre der Katharer fehlt, können hier nur die großen übereinstimmenden Linien aufgezeigt werden. Auch ihre Lehrverschiedenheit deutet letztlich darauf hin, daß für die Katharer wohl die moralischen Implikationen von ungleich größerer Bedeutung waren, und daß diese im Grunde das einende Band gewesen sind. Überwiegend folgten die Katharer einem Radikal-Dualismus, in dem sich Gott als das gute Prinzip, als Schöpfer aller geistigen Dinge, und das böse Prinzip, das alle materiellen Dinge geschaffen hat, unversöhnlich gegenüberstehen. So gelangen sie zur Annahme zweier Welten und zweier Schöpfungen; jede Erscheinung Gottes findet ihre negative, verkehrte Entsprechung auch im Reich Satans. Trotzdem werteten die Katharer die beiden Prinzipien nicht als gleichwertig; in ihrer Wortwahl ließen sie nur dem guten Prinzip den Namen „Gott" zukommen. Das böse Prinzip scheinen sie hingegen nicht personalisiert zu haben, denn Jean de Lugio etwa
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trennt expressis verbis das böse Prinzip von Satan bzw. vom Teufel, der nur als dessen Geschöpf, als eine seiner Manifestationen erscheint: „...et supplicium et viticula et diabolum non habere inicium neque finem, sive hec sunt nomina sumnti prittcipii tnali sive effectuum illius, qui festes sunt unius male cause..." [sowohl die Strafe als auch die Fesseln als auch der Teufel haben weder Anfang noch Ende, sei es nun, daß diese die Namen des höchsten Prinzips des Bösen sind, sei es, daß dies Namen der Wirkungen jenes Bösen sind, welche Zeugen sind der einzigen bösen Ursache] (Jean de Lugio, Liber de duobus principiis 332). Während für Gott, den immer wieder das Attribut verus [wahr] kennzeichnet, nur die Beschränkung gilt, Böses nicht wollen oder tun zu können, erscheint das Prinzip des Bösen weitaus gebundener: Das Böse kann immer nur in der Endlichkeit der Zeit zum Ausdruck kommen, worin sich seine wirkliche Natur enthüllt: Das eigentliche Böse ist das Nichtsein, es spiegelt Sein dort vor, wo in Wirklichkeit nur das Nichts ist. So lebt es von der Täuschung und wird, wenn sich das wahre Sein - die Liebe - offenbart, zugrundegehen. Das johanneische nihil aus Joh 1,3, dessen Existenz nur aus seinen Werken abgeleitet werden kann — ein weiterer Beleg für sein eigentliches Nicht-sein — erhält so bei den Katharern eine metaphysische, spirituelle Seite. Aber trotzdem wird auch eine Realität des Bösen behauptet, da das nihil notwendig dann entsteht, wenn Gott sich ent-äußert, es wird zur wirkungsvollen, ewigen Wurzel des Bösen. Die Katharer substantialisieren also das Nicht-sein; durch einen kosmologischen Transfer machen sie aus dem Bösen als psychologische und moralische Erscheinungsform eine Realität, eine eigene, zwar auf Gott zurückgehende, aber von ihm unabhängig wirkende Substanz. Selbst der Radikal-Dualismus der Katharer wäre demnach zwar grundsätzlich, aber ungleich. Die beiden Prinzipien unterscheiden sich sehr wohl in ihrer Wirksamkeit. Das nihil als die eigentliche Quelle des bösen Prinzips hat sehr wohl einen Anfang und auch ein Ende; eigentlich und real mächtig ist nur das gute Prinzip, dem einzig der Name „Gott" zukommt. Den Kampf zwischen gut und böse erklären die Katharer durch eine Reihe mythologischer Erzählungen, die sie überwiegend aus der Bibel gewannen, deren richtige Deutung für sie nur die symbolisch-allegorische sein konnte. Ihr Eklektizismus ist in bezug auf die Bibel nicht zu übersehen: Während die gemäßigten Dualisten unter ihnen etwa das gesamte Alte Testament als Werk des bösen Prinzips ablehnen, läßt Jean de Lugio es voll gelten. Gerade nämlich aus dem Alten Testament können die Radikal-Dualisten ihre Lehre und vor allem ihre Schöpfungsmythologie belegen. Beim Neuen Testament gaben sie deutlich dem Johannes-Evangelium, das ja stark den Unterschied zwischen Geist und Materie, zwischen dem Reich des Lichts und dem der Finsternis betont, den Vorzug; auf das Markus-Evangelium dagegen bezogen sie sich selten, da es besonders den Menschen Jesus nahebrachte. Eine creatio ex nihilo lehnen die Katharer ab und setzten die Schöpfung aus einer vorgegebenen Substanz dagegen. Für das Schicksal der Menschen war vor allem der Engelsturz die Erklärung: Luzifer als Mittler des Bösen gelingt es, in den Himmel einzudringen und mit den verschiedensten Versprechungen die Engel Gottes zu verführen. Diese fallen seiner Vorspiegelung zum Opfer und stürzen aus einem Loch im Himmel zur Erde. Aus einem Teil der gefallenen Engel werden die Seelen der Menschen, denn diesen Engeln gab Satan den Körper als Gewand, um ihre Erinnerung an die himmlische Heimat auszulöschen. Somit wird auch der Mensch dualistisch gedeutet: seine Seele gehört Gott an, sein Körper dem Teufel. Daneben tritt als dritter Pol der Geist, der schon der Geist der gefallenen Engelseele war, und somit überwiegt eigentlich im Menschen seine Hinwendung zum Guten, auch wenn sich die Grenzen zwischen Seele und Geist oft verwischen. Diese spezifische Seelenvorstellung führt konsequent zum Glauben an die Metempsychose, womit der Seele zu ihrem Zurückerinnern für ihre Reinigung nicht nur ein begrenztes menschliches Leben zur Verfügung steht. Gott wollte die gefallenen Engel retten und suchte deshalb nach einem Mittel. Dieses
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fand er in Jesus Christus. Jesus erscheint in den Mythen der Katharer einmal als reiner Engel, der von Gott wegen seiner Leidensbereitschaft adoptiert wird, ein andermal als Emanation Gottes. Die Katharer lehnen demnach radikal sein Menschsein ab - seine Wunder waren nie spiritueller Art - sowie seinen Kreuzestod. Die intensive Beschäftigung mit seiner Person beweist aber die Wichtigkeit Christi für die Katharer. Denn er ist der Befreier aus satanischer Macht, göttlicher Mittler für das menschliche Heil und Lehrer und Stifter der wahren Lehre, also der katharischen Kirche. Ohne seine Mission gäbe es keine Erlösung, er setzte das heilsnotwendige Consolamentum ein. Benannt nach Rom 1,12 und Kol 2,2 kann dies als Geisttaufe wiedergegeben werden, allerdings mehr der Bedeutung als der Übersetzung nach. Dies gilt aber nur für die Vulgata-Übersetzung, die das griechische oofi7ia.paic}.ti9rjvGerson, dem berühmten Kanzler der Universität Paris, dem „Abendstern unter den g r o ß e n T h e o l o g e n des M i t t e l a l t e r s " (v. Zezschwitz). Seine bedeutende Schrift De parvulis trahendis ad Christum hat zum Leitmotiv den Ruf Christi aus M t 19,14 und gelangt von hier aus über die Taufe zur Begründung einer eigenständigen Würde des Kindes, die unabhängig von den kindlichen Eigenschaften durch den universalen Heilszuspruch
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der Taufe konstituiert ist. Daraus erwächst eine „Denkrichtung vom Kinde her", in der das Kind selbst als Subjekt des Erziehungsanspruchs verstanden werden kann. Der Impuls dazu stammt bei Gerson freilich „nicht aus einer Reflexion über das Kind schlechthin..., sondern aus dem Anspruch Christi auf das getaufte Kind" (Petzold 28). Diese bemerkenswerte Kindessicht wurde jedoch schon von Gerson selbst nicht wirklich durchgehalten; die einseitig zielgerichtete pädagogische Reflexion überwiegt und zeigt bei aller Andersartigkeit im einzelnen dann doch im letzten eine erstaunliche Nähe zur ägidianischen Erziehungsauffassung. Vor allem teilt auch Gerson die Auffassung von der natürlichen, noch wenig verdorbenen Güte des Kindes, das anhand der Lehre Christi, des großen Vorbildes und Gesetzgebers, durch Appell und Gewöhnung „ad Christum" gebracht werden kann. Dabei mißt Gerson der Beichte, die er schon mit dem 5. oder 6. Lebensjahr beginnen lassen möchte, besondere Bedeutung zu und empfiehlt und erschließt sie der Kirche nachdrücklich als wichtiges Feld und Instrument der Kontaktnahme und Beschäftigung mit dem Kind (Petzold 38 ff; zur „Beichterziehung im Mittelalter" sind als historische Fundgrube von bleibender Bedeutung die material- und kenntnisreichen Ausführungen von C.A. Gerhard v. Zezschwitz 461 ff, bes. 515ff)- Als charakteristisch für das von Gerson gepflegte Beichtverhältnis zu den Kindern und Jugendlichen wird dabei allenthalben dessen starke gefühlsmäßige Anreicherung hervorgehoben, die einhergehe mit bewußter Herablassung zur Sphäre der Kinder bis hin zu ihren Spielen. In diesen G e d a n k e n G e r s o n s k ö n n t e tatsächlich ein überzeugendes Indiz gesehen w e r den für die Auffassung, die im Unterschied zur neueren F o r s c h u n g um Philippe Aries diesem spätmittelalterlichen Z e i t a l t e r bis hin zu M a r t i n Luther einen ausgesprochenen „Sinn für K i n d l i c h k e i t " attestieren m ö c h t e ( G u m b e l 2 1 1 ff). D a s wird belegt u . a . m i t Zeugnissen aus d e m Bereich der M y s t i k , eben jener Geistesrichtung, die v o m G e d a n k e n der G o t t e b e n b i l d l i c h k e i t her zum „ W u r z e l b o d e n des deutschen B i l d u n g s g e d a n k e n s " wurde (Schilling 19). Sie intonierte d a m i t b e t o n t und verstärkt eine Weise t h e o l o g i s c h e r K i n d b e t r a c h t u n g , die sich im Verlauf der Kindheitsgeschichte n o c h zu m ä c h t i g e r W i r k samkeit entfalten sollte. Insofern birgt dieses Z e i t a l t e r , das freilich — und d a r ü b e r h e r r s c h t allgemeiner Konsens - „ n o c h nicht das einzelne K i n d und das Wesen der Individualität in ihm zu fassen b e a b s i c h t i g t " ( G u m b e l 2 1 2 ) , in der T a t bereits typische E l e m e n t e und wichtige Ansätze künftiger Kindauffassungen in sich. D i e Linie der Kindessicht, wie sie von Ägidius von R o m verfolgt w o r d e n w a r , fand im humanistischen B i l d u n g s p r o g r a m m des - » E r a s m u s von R o t t e r d a m einen k o n z e n t r i e r t e n H ö h e p u n k t und w i r k m ä c h t i g e n A u s d r u c k . Die Natur, so proklamiert Erasmus in seiner Schrift Declamatio de pueris ad virtutem ac Hieras liberaliter instituendis (1529), übergab dir im Kinde „nichts als eine rohe Masse; es ist deine Sache, der fügsamen und zu allem bildsamen Materie die beste Form zu geben; wenn du es unterlässest, erhältst du eine Bestie, wenn du sorgsam bist, erhältst du sozusagen einen Gott (numeti)" (nach der Übersetzung v. Israel, Zschopau 1879, 8). Deutlicher und überspitzter lassen sich pädagogisches Selbstbewußtsein und optimistischer Glaube an die Allmacht der Erziehung kaum mehr ausdrücken. Die christliche Lehre von der Erbsünde .verkommt' zur bloßen „Hypothese" (Ernst Lichtenstein) ohne Realität und verliert auch als Neigung des Kindes zum Bösen jede konstitutive Bedeutung. Das naturalistische „Bild vom unbebauten, guten Acker", die Vorstellung von der „wachsartige(n) Plastizität der kindlichen N a t u r . . . , deren keimhafte Vernunft- und Erkenntnisanlagen durch vernünftige erzieherische Führung weit(est) emporgebildet werden können", beherrschen unter dem ,Credo' „Glaube mir, Menschen werden nicht geboren, sondern gebildet" die Kindauffassung des großen Humanisten (Petzold 64 f). Nicht die Taufe wird zum ,Bad der Wiedergeburt', sondern die Erziehung schafft die zweite Geburt, die aus dem unvollkommenen und ungebildeten Kind den Menschen macht. Die Kindertaufe wird dabei zum zeichenhaften pädagogischen monitum an die Eltern und Erzieher, die Kinder zu einer immer tieferen Aneignung der philosophia Christi zu bringen. Entsprechend fungiert das biblische Kinderevangelium für Erasmus nicht als Begründung für die Kindertaufe, sondern als Anregung für eine primär pädagogisch gemeinte Reform der Firmelung. Auch dahinter steht die Grundauffassung des Erasmus, daß die Menschwerdung des Menschen allein über eine naturgemäße - und das heißt: vernünftige Erziehung der Kinder .bewerkstelligt' werden kann; Kinder sind nur potentiell Menschen, eigentlich Mensch werden sie erst als gebildete Erwachsene. Im diametralen Gegensatz zur h u m a n i s t i s c h e n H o c h w e r t u n g der - » V e r n u n f t i m Bildungsprozeß der M e n s c h w e r d u n g steht M a r t i n L u t h e r s A n s c h a u u n g v o m Kind. L u t h e r
findet „das Menschliche in seiner schönsten Gestalt gerade beim kleinen Kind. Unschuld, N a t ü r l i c h k e i t , Furchtlosigkeit, G o t t v e r t r a u e n , alles das ist v o r n e h m l i c h im K i n d e s a l t e r
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d a " , und insofern kann ihm das Kind geradezu zum „Symbol des verlorenen Paradieses und . . . ein Vorbild des wahren Christenlebens" werden (vgl. zum folgenden Asheim 2 2 5 - 2 4 8 , bes. 2 3 5 ; außerdem Petzold bes. 8 4 - 8 9 ) . Diese überraschenden Töne der Lutherschen Kindbeurteilung, die besonders häufig in seinen Tischreden auftauchen, erfahren ihre theologische und ethische Erklärung und Profilierung primär von der Tauf- und Erbsündenlehre Luthers her. Auch das Kind ist danach in radikaler Auslegung von Gen 8,21 b totaliter der Erbsünde verfallen und in seinem selbstsüchtigen Motivationskern von ihr besetzt. Dabei ist zwar die Erbsünde besonders in der frühen Kindheit zutiefst dem menschlichen Auge verborgen, tritt aber je älter je mehr „im Bereich des Empirischen durch konkrete Einzelsünden an den Tag". Diese empirische Betrachtungsweise spielt mit, wenn Luther von der kindlichen Unschuld redet. Orientiert an einem fünfjährigen bzw. (an anderer Stelle) am herkömmlichen siebenjährigen Altersstufenschema wird das - eindrücklich kontrastierend zur Stufenargumentation des Ägidius von Rom — konkretisiert: „In der ersten Periode, der Zeit, wo Vernunft und Wille noch nicht erwacht sind..., ist die Erbsünde verborgen und gleichsam schlafend". In der zweiten Phase „erwacht die Vernunft wie aus einem tiefen Schlaf und entdeckt dann . . . einiges Böse", das dann in ersten konkreten Einzelsünden offen zutage tritt und schließlich in der dritten und vierten Stufe dominiert, „wenn sich diese Sünden gleichsam .befestigt' haben und die Vernunft .erwachsen' geworden ist" (Asheim 230f). Empirisch gesehen wäre somit das unschuldige Kind vor allem das Kind im Altersabschnitt unter sieben Jahren, wo die Sünde noch schläft, weil die Vernunft noch nicht wach ist. Luther konstatiert diese augenscheinliche Unschuld der Kinder; die vorbildliche Gewichtigkeit freilich, die er ihr erwiesenermaßen beimißt, resultiert nicht aus der Faktizität dieses Augenscheins, sondern daraus, daß sie mit Luthers theologischer Sicht konvergiert: Die hochgepriesene Unschuld der Kinder ist nämlich „eigentlich die Unschuld der Taufe, in der die natürliche Verdorbenheit der kindlichen Natur beseitigt ist durch den dem Kinde allein aus Gnade geschenkten Glauben" (Petzold 86). Damit wird vollends klar, daß „Luther nicht etwa eine Anthropologie des reinen, obzwar noch unvollkommenen, weil unvernünftigen Kindes" vertritt, sondern eine „Anthropologie des immer schon verdorbenen, aber von Gott in der Taufe in Gnade angenommenen Kindes" (Rabe 31 f). Hier ist der Ort, an dem Luthers bis in die jüngste Zeit umstrittene Lehre vom Säuglingsglauben als Begründungselement der Kindertaufe angesiedelt ist: Weil der Glaube allein Gottes Werk, allein durch Wort und Geist gewirktes Gottesgeschenk ist, muß man nach Luther auch für die Kinder, die getauft sind, daran festhalten, daß sie „glauben, wenn es auch ,unbewust ist, wie sie glewben, odder wie der glaube gethan sey', was auch unwichtig ist" (Asheim 239). Psychologisch zu konstatieren ist dieser Säuglingsglaube nicht; unabhängig von allen Voraussetzungen vernünftigen Verstehens und Leistens wird er dem Kind in der Taufe zugeeignet und vermittelt ihm damit zugleich die innere Reinheit und Unschuld, die seine biblisch proklamierte Vorbildlichkeit und Himmelreichsverheißung ausmacht (vgl. Ludolphy 37ff). Mit und unter der gottbedingten Voraussetzung der Taufgnade schließt sich der Kreis und ist man wieder bei Luthers Hochwertung des kindlichen „Standes" angelangt, den zu verlassen dem getauften Kind nicht einfällt. Dadurch wird der Blick frei und erschließen sich für Luther beim Betrachten und Beobachten der Kinder die vorbildlichen Elemente, die seine positive Würdigung und euphorische Apostrophierung der Kindheit veranlaßt haben. Trotz radikaler Ernstnahme der Erbsündenlehre durch Luther entließ diese Sicht des Kindes im Lichte der gratia praeveniens, der Vorgabe der Taufgnade, aus sich heraus durchaus Ansätze eines pädagogischen Denkens und Handelns, das mit seinen kindgemäßen Zügen und Bezügen keineswegs als dominant erbsündenfixiert bezeichnet werden kann. Luthers differenzierte und ,antirational' akzentuierte Kindessicht zwischen Erbsünde und Taufgnade, durch welche Erziehung und Bildung in ihrem Anspruch hätten relativiert und entlastet werden können, zeitigte diese Wirkung in der Folgezeit zunächst nicht, wenigstens nicht in dem Sinne, daß sie der Kindererkenntnis und -erziehung wirklich zugute gekommen wäre. Z w a r bedeutete Ph. -»Melanchthons „evangelischer Humanism u s " mit seiner - theologisches und pädagogisches Anliegen verknüpfenden - doppelten Zielsetzung von pietas und eruditio eine beispiellose pädagogische Arbeit an der reformatorischen Sache, konnte aber nicht verhindern, daß sich im Einflußbereich von lutherischer - » O r t h o d o x i e und -»Pietismus eine Kindbetrachtung und -behandlung im Schatten der Erbsündenlehre breit machte, die ihresgleichen in der christlichen Erziehungsgeschichte sucht. Wenn aus der Perspektive aufklärerischer Religionspädagogik die man-
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gelnde „Kinderkenntniß" orthodoxen Unterrichteris und Erziehens beklagt und in Z u sammenhang mit der Auffassung von der erbsündig verdorbenen Kindesnatur gebracht wird - „ ,Die Kinder . . . werden in ein übles Gerücht gebracht, als wenn sie Kinder des Teufels w ä r e n ' . . . voll H a ß und voll Bosheit gegen G o t t " (Christian Gotthilf Salzmann, zit. nach Lachmann 47) - , so ist das keineswegs nur überheblich böswillige Karikatur, sondern Signum einer Unterrichts- und Erziehungswirklichkeit, die in nicht unerheblichem M a ß e vom theologischen T o p o s der Erbsünde bestimmt wurde. Selbst Melanchthons pädagogisch motivierte und .psychologisch' reflektierte Abmilderung der radikalen lutherischen Auffassung von der völligen sittlichen Ohnmacht des natürlichen Menschen hinderte ihn nicht daran, die Notwendigkeit einer möglichst frühzeitig beginnenden Erziehung mit dem Gedanken der Erbsünde zu begründen: „Da die Menschen von N a t u r mehr zum Schlechten als zum Guten neigen, müssen sie von Jugend auf an gute Sitten gewöhnt w e r d e n " (zit. nach Spanuth 98). Wie m u ß t e sich demgegenüber die Erbsündenlehre erst auf diejenigen auswirken, die sich in ihren Erziehungs- und Unterrichtsauffassungen und -praktiken vom düsteren Bild leiten ließen, das die Konkordienformel vom erbsündlichen Verderbenszustand des Menschen zeichnete. Eine pessimistische Anschauung von der Kindesnatur und ihren Willensqualitäten w a r die zwangsläufige Folge; sie diente nicht nur zur theologischen Bemäntelung der meistenteils desolaten schulischen Umstände und pädagogischen Unzulänglichkeiten der Lehrer, sondern prägte vor allem den ganz auf Belehrung, G e w ö h n u n g und Disziplin abgestellten Erziehungs- und Unterrichtsstil dieser Zeit. Nicht der „Apfel", sondern die „ R u t e " wurde zum bestimmenden Zeichen und Instrument für den Lehrer, um durch Strafen und Züchtigungen der sündlichen N a t u r der Kinder, die auch als Getaufte noch dem Sündenzunder (fomes) ausgesetzt blieben, Schranken zu setzen. Viele der genauen Vorschriften, Regelungen und Gesetze in den Schulordnungen der Barockzeit atmen diesen Geist eines grundständigen Mißtrauens gegenüber den Kindern, deren sündhafte Verdorbenheit vor allem und zuerst die strenge Z u c h t der Rute verlangte. Systematische Bedeutung und Gestalt im Rahmen pädagogischer Theoriebildung und Praxis gewann diese Erbsünden-bestimmte Kindessicht allerdings nicht in der lutherischen Orthodoxie, sondern im Pietismus und da besonders bei A . H . —»Francke, für den die Auffassung von der durch die Erbsünde radikal verdorbenen menschlichen N a t u r neben der Betrachtung von Herzensfrömmigkeit und Tatchristentum zu einem der tragenden Pfeiler seines pädagogischen Denkens und Handelns wurde. Schon an den kleinsten Kindern entdeckte man die tiefe sündige Verderbnis der Kindes- und Menschennatur - „zu allem Guten verdrossen und zu allem Bösen geneigt und m u n t e r " (J. J. Rambach) und folgerte daraus als unabdingbare Aufgabe allen erzieherischen Handelns, den natürlichen Eigenwillen des Kindes zu brechen (vgl. Menck 27ff). Aus dieser Forderung, die gleichsam als Leitsatz pietistischer Kindererziehung gelten kann, leiteten sich die konkreten M a ß n a h m e n pietistischer Erziehungspraxis ab, die vornehmlich darauf aus waren, durch lückenlose Kontrolle und dauernde Beschäftigung dem kindlichen Eigenwillen keine Chance zur Entfaltung zu geben. Hinter dieser zutiefst pessimistischen Anthropologie des Kindes, der eine ebensolche Sicht der „ b ö s e n " Welt korrespondierte, trat nicht nur der positiv anknüpfende Gedanke an die Schöpfung und das Bild Gottes in den Kindern zurück, sondern mit ihr geriet auch die Taufe als positiver Ermöglichungsgrund christlicher Erziehungsarbeit aus dem Blick bzw. ging verloren an die pietistischen Zielsetzungen von Erweckung, Bekehrung und Wiedergeburt. Die solchermaßen Erbsünden-deduzierte und -reduzierte Kindbetrachtung und -Verachtung war zwar sicher im lutherisch und pietistisch geprägten Schul- und Erziehungswesen der zwei nachreformatorischen Jahrhunderte dominierend, doch ging diese Zeit auch nicht völlig in solch theologisch verstellter Kindessicht auf. H a t t e auf evangelischer Seite bereits Melanchthon pädagogischen Handlungsraum eröffnet und katholischerseits das —»-Tridentinum entsprechend erziehungswirksam „die Ehrenrettung des h o m o human u s " (A. Läpple) vollzogen, so w a r es dann vor allem die Reformpädagogik des 17. Jh. um
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W o l f g a n g R a t k e und Arnos Comenius, die mit ihrer „ n a t u r g e m ä ß e n P ä d a g o g i k " zukunftsweisende pädagogische Akzente setzte. Zwar bewegte sich besonders -»Comenius mit seiner Anthropologie zunächst noch ganz im Rahmen der orthodoxen Dogmatik und konnte sich seitenlang über die Erbsünden-bedingte Verdorbenheit bereits des kleinsten Kindes auslassen, aber er beließ es nicht bei dieser theologisch einseitigen Sicht, sondern schränkte sie durch Aufnahme anderer theologischer Topoi so ein, daß die Erziehbarkeit der Kinder an Raum gewann. In diesem Sinne wurden für Comenius Schöpfung und Gottebenbildlichkeit zu pädagogisch maßgeblichen theologischen Vorstellungen. Entscheidend war dabei, daß die schöpfungsmäßig im Kind angelegte Gottebenbildlichkeit durch den Fall nicht aufgehoben, sondern nur geschwächt war und durch die Taufgnade als grundsätzlich wiederhergestellt gelten konnte. Damit wurde die restituierte gottebenbildliche Natur zu Grund, M a ß und Ziel wahrhaft ,Natur'-gemäßer Erziehung, deren Weg von den Sinnen über das Denken zum religiösen Glauben führte. Nicht mehr fixiert auf die verdorbene Kindesnatur wurde der Blick frei für eine unvoreingenommenere Beobachtung der Kinder, ihre natürlichen Anlagen und den Gang ihrer Entwicklung, dem eine an der „Natur" orientierte Erziehung und Bildung Rechnung tragen mußte. Damit wurde der schöpfungs- und tauftheologisch „rehabilitierte" Naturbegriff gewissermaßen zum Eingangstor und Ermöglichungsgrund beginnender realistisch-empirischer Kindbetrachtung, der Comenius gerade im Blick auf die beiden ersten Stufen der Erziehung—der „Kindheit" ( 1 . - 6 . Lebensjahr) und der „Knabenzeit" ( 7 . - 1 2 . Lebensjahr) - zu beachtenswerten pädagogischen und didaktischen Einsichten gelangen ließ. N o c h ganz eingespannt in den R a h m e n christlichen Glaubens und von dessen d o g m a tischen M a ß g a b e n geleitet, deutet sich mit C o m e n i u s eine Entwicklung an, welche v o r ausweist auf die aufklärerische -»Religionspädagogik, die sich zugutehält, erstmals der Wirklichkeit des Kindseins im Prozeß religiöser Erziehung .wirklich' gerecht g e w o r d e n zu sein. F ü r einen solchen Anspruch w a r die Z e i t noch nicht reif; dazu bedurfte es besonders in pädagogischer Hinsicht n o c h eines erheblichen Erkenntniszuwachses und -fortschrittes, der sich vor allem in Verbindung mit den N a m e n J o h n L o c k e s und J . J . - » R o u s seaus etwa ab Ausgang des 17. J h . zunehmend verzeichnen läßt. Interessant und im P r o zeß wachsender Kinderkenntnis besonders erhellend sind die Ansichten v o m Kinde, die J o h n L o c k e ( 1 6 3 2 - 1 7 0 4 ) vertritt (vgl. zum folgenden Oppolzer). Bei ihm lassen sich mit einer „Anthropologie von oben her" und einer „Anthropologie von unten her" zwei grundverschiedene Ansätze feststellen, die relativ unvermittelt nebeneinander stehen. Mit ersterem partizipiert er auf seine Weise an der traditionellen christlichen Anthropologie und qualifiziert den Menschen „als Sohn oder Kind Adams" (Oppolzer 142f). Die damit notwendigerweise verlangte Auseinandersetzung mit der orthodoxen Erbsündenlehre beantwortet Locke dahingehend, daß zwar Adams Fall für alle seine Nachkommen ein Leben außerhalb des Paradieses „in einem Zustand der Sterblichkeit, ohne unangefochtenen Frieden und selbstverständliche Seligkeit" zur Folge hatte, nicht aber, daß damit zugleich auch über alle Menschen die ursündige Verderbnis gekommen wäre. Das Kind, dem als „tabula rasa" oder „ w a x " keine Ideen, auch nicht die des moralischen Handelns, angeboren sind, ist weder „ ,von Natur aus* einseitig gut noch . . . absolut verderbt"; vielmehr ist es von Geburt an „potentiell mit jenen Eigentümlichkeiten und Fähigkeiten ausgestattet, die allen Menschen als Kindern Adams eigen sind": Sein Leben ist von begrenzter Dauer und nicht ausnahmslos glückserfüllt; zugleich aber hat es „auch von Gott die Dispositionen mitbekommen, welche die Voraussetzungen diesseits- und jenseitsbezogener Glückseligkeit darstellen". Ihre Verwirklichung ist zur Erlangung der ewigen Seligkeit notwendig, wozu es „der maßgeblichen Hilfe seitens des Erziehers" bedarf (Oppolzer 147). Diese Hilfe ist nötig - und darauf beruht Lockes „naturrechtliche Begründung der elterlichen Erziehungsautorität" —, weil die Kinder im „imperfect State" ihrer Entwicklung noch mit vielen Unvollkommenheiten und „defects" behaftet sind. Vor allem geht ihnen noch der volle Besitz der Vernunft ab und sind sie, daraus resultierend, noch unfrei. Erziehung hat die Kinder via Gewöhnung, Übung, Umgang, Beispiel und vernünftiges Gespräch aus diesem Zustand der Unvollkommenheit herauszuführen. Diesen in ihrer deduktiven Allgemeinheit konventionellen Ausführungen über das Kind im Ableitungszusammenhang einer „Anthropologie von oben her" tritt nun eine „Anthropologie von unten her" zur Seite, in der erst man Lockes originäre pädagogische Leistung zu sehen hat. Das Neue an diesem im genuinen Sinne „psychologisch-pädagogischen Ansatz" ist seine „unübersehbare Tendenz zum Konkreten, Besonderen, Individuellen", die ermöglicht und verwirklicht wird über den empirischen Weg „psychologischer Beobachtung" und „pädagogischer Umgangserfahrung". „Locke empfiehlt allenthalben, die Natur und Wesensart der Kinder genau zu beobachten und zu studieren", denn: „Die rechte Erzie-
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hung ruhe nicht auf überkommenen Ansichten und Regeln, sondern auf der differenzierten Kenntnis der individuellen Fähigkeiten, Begabungen, Schwächen und entwicklungspsychologischen Bedingungen des Kindes und der Kindheit" (Oppolzer 155 f). D a s sind zweifelsohne zukunftsweisende T ö n e in Richtung einer empirisch arbeitenden Pädagogik, die alle bis dahin geübte, an der allgemeinen N a t u r des Menschen orientierte Kindbeschäftigung - einschließlich L o c k e s „ A n t h r o p o l o g i e von oben h e r " - „individual- und entwicklungspsychologisch verbesondert(e)" und d a m i t gewissermaßen r e a listisch-kritisch einholte und überholte. So begegnen sich in L o c k e s doppeltem pädagogischen Ansatz gleichsam zwei E p o c h e n und Weisen der Kindbetrachtung, wobei d e m empirischen Ansatz die pädagogische Z u k u n f t gehörte. L o c k e s „Überzeugung, daß m a n das Kind Kind sein lassen m ü s s e . . . , d a ß bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen als altersgemäß und -bedingt toleriert werden müßten, vor allem aber, d a ß die Kindheit als Entwicklungsphase nicht nur geduldet, sondern um des späteren Erwachsenseins willen durchlaufen werden m ü s s e " , wirkte bahnbrechend und stellte die Weichen in Richtung auf eine Pädagogik, welche „den Eigenwert der Kindheit im vollen U m f a n g " entdeckte und behauptete (Oppolzer 159). J . J . - » R o u s s e a u gilt in diesem Sinne allgemein als „ E n t d e c k e r der Kindheit, ihrer Eigenart und ihres E i g e n r e c h t e s " 1 , und es ist auch unbestreitbar, d a ß er im scharfen Gegensatz zu der in abgeschwächter F o r m auch noch bei L o c k e angelegten Meinung, w o n a c h die Kindheit nur eine Vorbereitungszeit auf das Erwachsenenleben sei, entschieden dafür plädierte, daß die Kindheit ihren Wert in sich selber habe. Das hatte es so tatsächlich in der Geschichte der Kindheit noch nie gegeben und wurde denn auch für Rousseaus Kindbeschäftigung zu einem M o m e n t , das ihm den Blick schärfte für das Kindgemäße und die Eigenheiten der kindlichen Entwicklung. Die ersten beiden Bücher des Emile, welche die Zeit bis zum 12. Lebensjahr, zur „Reife der Kindheit", behandeln, bestätigen das eindrücklich und machen zugleich Rousseaus leitende Perspektive, seinen kritischen Vor-Satz und Grund-Satz unübersehbar deutlich: „Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht; alles entartet unter den Händen der Menschen." Diese Gesellschaftsordnung ebenso wie Kultur und herkömmliches Erziehen radikal in Frage stellende programmatische Äußerung zeitigte im Blick auf die richtige Erziehung die wesentlich negativ angelegte Forderung, das gutgeborene Kind vor dem Verderben durch die Gesellschaft zu bewahren, es naturgemäß wachsen zu lassen und „natürlich" zu erziehen. Die diesem Programm einer sog. „negativen Erziehung vom Kinde aus" zugrunde liegende dualistische Anthropologie von hier gutem Naturmenschen und da verdorbenem Zivilisationsmenschen stand in offenem Widerspruch zur traditionellen Kirchenlehre. Zwar verwies Rousseau selbst mit Nachdruck auf die Übereinstimmung seiner Auffassung vom gut geborenen Kind mit dem christlichen Schöpfungsglauben, doch geriet bereits seine Berufung auf die Taufe, aus der die Kinder „so reinen Herzens hervorgegangen (seien) wie Adam aus den Händen Gottes" (Lettre ä M. de Beaumont, nach Rang 443 f), nur noch zu einem polemisch-ironischen Argument, nicht aber m e h r - wie etwa bei M . Luther oder Comenius - zu einer Erziehung im echten Sinne begründenden Vorgabe. Vor allem aber manifestierte sich in Rousseaus eindeutig und offen ausgesprochener Absage an die Erbsündenlehre sein Gegensatz zur kirchlichen Lehre; sie bedeutete mit der großen Resonanz, die sie auch in der aufklärerischen Theologie und Religionspädagogik fand, gleichsam das Aus für alle inskünftigen Versuche und Bestrebungen, dem Erbsündendogma in Erziehungs- und Bildungsbelangen noch einmal bestimmende Dominanz zu verleihen. Freilich gilt es zugleich festzuhalten, daß Rousseaus Programm einer negativen Erziehung insofern mit einer Erbsünden-determinierten „Pädagogik" übereinstimmte, als beide bei durchaus konträren anthropologischen Vorannahmen der direkten pädagogischen Aktion und Bildungsarbeit nur begrenzten Erfolg und Handlungsfreiraum einräumen konnten: Erbsünde und verderbte Gesellschaft setzten hier Grenzen. D e m aufklärerischen Erziehungsoptimismus tat dieser skeptische Einschlag in Rousseaus pädagogischer Botschaft keinen A b b r u c h . Hier eher in der Tradition der humanistischen Pädagogik eines E r a s m u s von R o t t e r d a m stehend, wurde der von L o c k e und Rousseau ü b e r k o m m e n e und inspirierte Z u g e w i n n an Kinderkenntnis selbstbewußt und erfolgsüberzeugt in pädagogische Reflexion und Aktion umgesetzt. D a v o n blieben auch die Kirchen in ihrer praktisch-theologischen Arbeit nicht unberührt. Vor allem die aufklärerische Religionspädagogik w a r es hier, die sich gegenüber den neuen pädagogischen
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Erkenntnissen aufgeschlossen zeigte und bestrebt w a r , sie im Z u g e ihrer Vermittlungsaufgabe und -arbeit der Theologie zu integrieren. Als beispielhaft in dieser Beziehung können insbesondere die Theologen unter den Philanthropen gelten, in deren religionspädagogischen Konzepten m a n erstmals ein ernsthaft u m die Integration von theologischen u n d pädagogischen Erkenntnissen bemühtes Erziehungsmodell sehen k a n n . Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811) z.B. demonstrierte mit dem Titel seines religionspädagogischen Hauptwerks Über die wirksamsten Mittel Kindern Religion beyzubringen (1780) nicht nur die betonte Bedeutung, die dem Kind und der richtigen „Kinder-Kenntniß" jetzt religionspädagogisch beigemessen wurde, sondern stellte mit dem Religionsbegriff zugleich den „Sachverhalt" in den Mittelpunkt seiner Religionspädagogik, in dem sich theologische und pädagogische Ansprüche miteinander vereinbaren ließen. Das erreicht er durch seine Definition von Religion als „gottähnliche Gesinnung", die ihm Entsprechung und Konvergenz von theologischer Komponente qua Gottähnlichkeit und pädagogisch-anthropologischer Komponente qua Gesinnung bot und ermöglichte (vgl. Lachmann 68f). Auf diese Weise formierte sich erstmals eine Religions-Pädagogik im echten Sinne, die im Gefolge von Rousseau und Locke den Kinderkenntnissen ihrer Zeit - besonders was die kindlichen Kräfte und ihre Entwicklung und Übung anlangte - voll genügte, ohne darüber die Ansprüche der Theologie vernachlässigen zu müssen. Letzteres wurde ermöglicht durch den Anschluß an die aufklärerisch-theologische Richtung der Neologie, die in theologisch-anthropologischer Hinsicht der Erbsündenlchre den Abschied gab und den Topos der Gottähnlichkeit bzw. Gottebenbildlichkeit auf den Schild hob. Salzmanns Religionspädagogik kann als exemplarischer Beleg gelten f ü r die theologische wie pädagogische Fruchtbarkeit und konvergente D y n a m i k , welche in der gottähnlichen Bestimmung des Kindes angelegt sind. Auf der anthropologischen Schiene gelang so der aufklärerischen Religionspädagogik eine konvergierende Integration der neuen pädagogischen und psychologischen Kinderkenntnisse in einen praktisch-theologischen Bereich, der bis dahin ausschließlich theologisch konzipiert und dominiert war. Das geschah in einer Zeit - 1779 w a r in -»Halle die erste ordentliche Universitätsprofessur für -•Pädagogik geschaffen und mit dem Philanthropen Ernst Christian T r a p p besetzt worden - , da die Pädagogik im Begriff w a r , sich unabhängig von der Theologie als eigenständige Wissenschaft zu etablieren, und trug damit gleichsam schon im vorhinein Ansätze einer Verhältnisbestimmung von Theologie und Pädagogik an sich, die durchaus als zukunftsweisend gesehen werden können. Zugleich zeichnete sich aber mit der Frage an die aufklärerische Religionspädagogik, o b ihr Anschluß an die Neologie - mit dem Erfolg gelungener Integration der Kinderkenntnisse — nicht gleichzeitig einen erheblichen Verlust an spezifisch christlichem Gehalt mit sich gebracht habe, ein Kardinalproblem ab, das die praktisch-theologische Kindbeschäftigung und -berücksichtigung besonders in didaktischer Hinsicht bis heute umtreibt. Im Blick auf den Fortgang theologischer Kindbcschäftigung im 19. und 20. J h . läßt sich im Verfolg der Aufklärung bei aller Differenzierung und Einschränkung im einzelnen beobachten, d a ß in der Regel dort, w o in Praktischer Theologie und Religionspädagogik christlicher Glaube als Religion apostrophiert und verhandelt wird, mit erhöhtem Interesse an den Kindesbelangen und verstärkter Aufgeschlossenheit gegenüber neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Entwicklungen aus d e m Bereich humanwissenschaftlicher Forschung gerechnet werden k a n n . N o c h ganz im Einflußbereich aufklärerischtheologischen Denkens zeigte sich das etwa an den religionspädagogischen Auffassungen eines J.Fr. - > H e r b a r t s oder eines F r . A . W . —• Diester wegs, die bei aller N ä h e zu philanthropischen Vorstellungen je auf ihre Weise mit einem ungeheuren Z u w a c h s an pädagogischen Erkenntnissen a u f w a r t e n können. Demgegenüber zwar theologisch unvergleichlich anders und origineller, belegen das auch F. D. E. —»Schleiermachers diverse Ausführungen zu Fragen und Problemen der Erziehung und speziell religiöser Erziehung, die gerade, was die „erste Periode der Erziehung" des „sprachlosen" und „sprechenden Kindes", wie es in den Pädagogischen Vorlesungen heißt, anbetrifft, einen Schatz an pädagogischen und psychologischen Einsichten, Beobachtungen und Entdeckungen aufweisen, der beachtlich ist. Religionspädagogisch zeitigte Schleiermacher allerdings im
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19. Jh. so gut wie keine Wirkungen. Erst im Rahmen liberaler Religionspädagogik griff Richard Kabisch wieder ausdrücklich auf ihn zurück - nicht von ungefähr, denn Kabischs religionspädagogisches Denken kreiste zentral um die, von Schleiermacher freilich verneinte, Frage der Lehrbarkeit von Religion. Entsprechend wurde hier gewissermaßen die religionspädagogische Ausrichtung am Religionsbegriff zum produktiven Einfallstor psychologischer Erkenntnisse. Nachdem sich in der Folgewirkung der Entdeckung des Kindes durch Locke und Rousseau die von der Theologie abgenabelte Pädagogik zu einer achtbaren eigenständigen Wissenschaft entwickelt hatte, erfolgte dieser Schritt für die Psychologie etwa ab Mitte des 19. Jh., als sich mit Arbeiten wie Adolf Kussmauls vierzigseitigen Untersuchungen über das Seelenleben des neugeborenen Menschen (1859) und vor allem Wilhelm Preyers Die Seele des Kindes (1882) bereits eine spezielle empirischanalytische Kinderpsychologie herausbildete. Kabisch stützte sich in seinem religionspädagogischen Plädoyer für die Lehrbarkeit der Religion u.a. auf Ergebnisse der Psychologie der Kindheit von Frederick Tracy und Joseph Stimpfl (1899/1907) und bezog sich im übrigen - um, wie er sagte, Schleiermachers Religionsverständnis psychologisch zu vertiefen - auf die experimentelle Psychologie von W. -»James und die psychologischen Arbeiten Wilhelm Wundts. Unter der mit Schleiermacher geteilten Annahme einer religiösen Anlage des Kindes gelangte Kabisch - in anderer Konsequenz als Schleiermacher - zu einer auch psychologisch begründeten und gestützten Religionspädagogik mit anthropologischen Implikationen und didaktischen Folgen, die nicht zuletzt auch deshalb im Blick auf seine Kindbeachtung und -betrachtung so bedeutsam sind, weil sie sich verbanden mit religionspädagogischer Sympathie gegenüber der „Botschaft" Ellen Keys vom Jahrhundert des Kindes (1900) und der durch sie inspirierten und motivierten pädagogischen Reformbewegung vom „Kinde aus".
Ähnliches wie zu Kabisch ließe sich auch für Otto Baumgarten — er forderte nachdrücklichst die Berücksichtigung des Kindes — und vor allem für Friedrich Niebergalls „Pädagogische Theologie" feststellen. Letzterer macht den Erziehungsbegriff zum Mittelpunkt seiner Theologie und maß dabei besonders in religionspädagogischer Hinsicht der Psychologie des Kindes und seiner Religion ebenfalls im Anschluß an Wundt und James großes Gewicht bei (exemplarisch aufschlußreich ist hier Friedrich Niebergalls 1911 veröffentlichter Aufsatz Die Entwicklung der Katechetik zur Religionspädagogik, jetzt auszugsweise abgedruckt: Wegenast 4 5 - 5 9 ) . Über fünfzig Jahre später gegen Mitte und Ende der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts läßt sich im Zuge einer „empirischen Wende" in Pädagogik und Religionspädagogik erneut eine verstärkte Hinwendung zum Kinde, seinen (Vor-)Gegebenheiten und Bedürfnissen, verzeichnen, diesmal vorrangig charakterisiert durch die intensive Auseinandersetzung mit Erkenntnissen sozialwissenschaftlicher Provenienz und hier insbesondere der Sozialisationsforschung. Auch jetzt wiederum gewinnt der seit der Ablösung der liberalen Religionspädagogik verpönte Religionsbegriff an religionspädagogischer Bedeutung, so daß man in ihm rückblickend tatsächlich so etwas wie einen Indikator bzw. ein Signum oder Signal humanwissenschaftlicher Aufgeschlossenheit im Verwendungsbereich Praktischer Theologie und Religionspädagogik sehen kann. 4. In der Praktischen
Theologie
der
Gegenwart
Nach dem 2. Weltkrieg kam der Anstoß, sich theologischerseits wieder verstärkt dem Thema Kind zu widmen, nicht aus dem Hause der Theologie selbst, sondern über A. Flitner, M. J . Langeveld und W. Loch von Seiten der Pädagogik. Andreas Flitner verlangte 1958 in seinem Beitrag Die Kirche vor den Aufgaben der Erziehung, daß in der Kirche „zunächst das Kind selbst und das Problem der Kindererziehung theoretisch und theologisch ernst genommen werden" müsse und verband diese Forderung mit der Feststellung: „In den theologischen Lehren vom Menschen kommt das Kind so gut wie nicht vor. Das Wesen des Menschen wird durchweg nach dem glaubensfähigen Erwachsenen" bestimmt (10). Flitner bezog sich dabei u.a. auf den holländischen Pädagogen Martinus J . Langeveld, der in mehreren Arbeiten zur Anthropologie des Kindes entschieden für die Ernst-
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n ä h m e des Kind-Seins als volle F o r m des M e n s c h - S e i n s eingetreten w a r , ehe er d a n n mit seinem wichtigen Buch Das Kind v o n Kind ett Religie,
und der Glaube
(Braunschweig 1 9 5 9 , als Übersetzung
Utrecht 1 9 5 6 ) direkt die T h e o l o g i e und „ R e l i g i o n s - P ä d a g o g i k " auf
d a s a u c h in religiöser Hinsicht erziehungsbedürftige K i n d a n s p r a c h . A u f breiter F r o n t Signalwirkung zeitigte freilich erst W e r n e r L o c h s p r o v o k a t i v betiteltes Büchlein Die leugnung
des Kindes
in der Evangelischen
Pädagogik
Ver-
(Essen 1 9 6 4 ) .
Loch konstatierte darin für die im konzeptionellen Umfeld der Evangelischen Unterweisung angesiedelte Evangelische Pädagogik der letzten drei Jahrzehnte eine „Theologisierung" (9) bzw. „Eroberung der Pädagogik durch die Theologie" (12) mit der Folge, daß „keinerlei empirische Forschungsbefunde über die Erziehungs- und Glaubenswirklichkeit des Kindes und Jugendlichen ihrer Z e i t " berücksichtigt wurden (16). Die Gründe für dieses „anthropologische Vakuum" (18) sieht er theologischerseits im Verständnis der Evangelischen Pädagogik „als angewandte Dogmat i k " , in der „Geringschätzung der historischen und empirischen Wissenschaften vom Menschen" und in der theologischen „Unerheblichkeit der kindlichen und jugendlichen Situation", pädagogischerseits im Anschluß an „eine gewisse Gegenbewegung gegen die Übertreibungen und Verstiegenheiten der sogenannten .Pädagogik vom Kinde a u s ' " (25) und in der „allgemeine(n) Vernachlässigung der empirischen Forschung in der deutschen Pädagogik" (27). Daraus erwächst für Loch die religionspädagogische Forderung nach „einer empirischen Anthropologie des kindlichen und jugendlichen Glaubens" (29), welche „die tatsächliche Situation des heutigen Kindes und Jugendlichen so genau wie möglich" zu berücksichtigen hat (18). Zukunftsweisende Ansätze und Aufgaben in dieser Richtung sieht Loch vor allem in der neuen „Fragestellung nach den verschiedenen lebensgeschichtlichen Gestalten des Glaubens" (31), in der besonders auch von Langeveld betriebenen „Relativierung des Entwicklungsbegriffs durch biographische und soziologische Kategorien" (34) und der Untersuchung der institutionellen und sozialen Voraussetzungen und „menschlichen Bedingungen des Glaubens". Angestoßen und vermittelt d u r c h das neben a n d e r e n v o n der E K D g e t r a g e n e und b e a u f t r a g t e Comenius-lnstitut in M ü n s t e r , d a s sich d u r c h T a g u n g e n , Veröffentlichungen und M a t e r i a l s a m m l u n g e n bis heute g r o ß e Verdienste u m die Kindesbelange in K i r c h e und T h e o l o g i e e r w o r b e n h a t , fanden die A n m a h n u n g e n d e r P ä d a g o g e n schließlich a u c h ihre theologische Reaktion. N a c h d e m katholischerseits bereits 1 9 6 2 / 6 3 kein Geringerer als Karl R a h n e r Gedanken zu einer Theologie der Kindheit veröffentlicht hatte, erklärte H a n s - D i e t e r Bastian in den Pädagogischen Forschungen 2 5 — der Veröffentlichungsreihe des Comenius-Instituts - die v o n Langeveld initiierte „ F r a g e n a c h Kind und G l a u b e " z u m theologischen „ Z e n t r a l p r o b l e m " , das „eine t h e o l o g i s c h e A n t h r o p o l o g i e des K i n d e s " verlangt (Kind u. G l a u b e 5). Einig mit Flitner und Loch attestiert Bastian der „gegenwärtigen dogmatischen Theologie", „das Kind im Blick auf den christlichen Glauben entweder ausdrücklich" zu disqualifizieren oder überhaupt nicht zu erwähnen. Er erklärt diesen Befund durch „die geheime Diktatur der Existenzdialektik Sören Kierkegaards", für den bekanntlich die .Wahrheit* gelte: „ , M a n kann nicht Christ werden als Kind, das ist ebenso unmöglich, wie es für ein Kind unmöglich ist, Kinder zu zeugen'" (8ff). „Summe des Bestands" für Bastian: „Kierkegaard besiegt posthum die Kinder in Marburg und Basel gleichermaßen erfolgreich" (12). Demgegenüber plädiert Bastian unter Rückgriff auf die neutestamentliche „Magna Charta für das Recht des Kindes in der Gottesherrschaft" (Mk 9 , 3 3 - 3 7 ; 1 0 , 1 3 - 1 6 ; Bastian 14) und auf Luther energisch für eine theologische Anthropologie des Kindes, der es nicht um die phänomenologische Existenz des Kindes geht, sondern entscheidend um das Kind unter dem „Zugriff Gottes". Wissenschaftstheoretisch steht dahinter zunächst ein steiles Trennungsmodell von hier theologischer und da phänomenologischer Anthropologie, hier rein Gott gewirktem Glauben und da kindlicher Religion. Die getrennt nebeneinanderstehenden Aussagen über das Kind coram Deo und das Kind nach den Erscheinungsweisen seiner Religion — unter Bezug auf W. Trillhaas und C. H. Ratschow erfährt der Religionsbegriff hier ansatzweise eine erste praktisch-theologische Rehabilitierung! - dürfen zwar „nicht ineinander gerinnen" und sind auch nicht beliebig austauschbar, verhalten sich aber „komplementär zueinander" und müssen sich „gegenseitig in Frage stellen oder erhellen. Vor allem muß es der Theologe dulden, daß alle seine anthropologisch relevanten Schlüsselbegriffe in den mannigfaltigen Untersuchungsbereichen der anthropologisch engagierten Wissenschaften in die Zerreißprobe genommen werden" (25). D a m i t schlägt Bastian in wissenschaftstheoretischer H i n s i c h t T ö n e a n , w e l c h e die A p o r i e der Einheit q u a strikter T r e n n u n g verlassen in R i c h t u n g einer Einheit in k o m p l e -
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mentärer Doppelheit von theologischer und pädagogisch-phänomenologischer Anthrop o l o g i e - ein Prozeß, der sich im Fortgang praktisch-theologischer Kindbeschäftigung zu weniger getrennt strukturierten Beziehungsmodellen auswachsen und auswirken sollte. Gegenüber einem praktisch-theologischen „Autarkiemodell" 2 , das sich selbstgenügsam mit theologischen Aussagen bescheidet, bedeutet Bastians Arbeit deshalb nicht nur insofern einen Fortschritt, als er das Kind überhaupt eines theologischen Blickes und Gedankens würdigt, sondern auch darin, daß und wie er sich den Ergebnissen, Problemen und Erfordernissen empirischer Kinderforschung stellt. Lochs und Bastians engagiertes Plädoyer zeitigte in der Systematischen Theologie der nachfolgenden Jahre und Jahrzehnte so gut wie keine Wirkung. Einzige Ausnahme blieben Jürgen Fangmeiers Studien zur Theologische(n) Anthropologie des Kindes, mit denen in bezug auf die Kindbeachtung der wenig überzeugende Versuch einer Ehrenrettung Karl Barths unternommen wurde. 1969 bestätigte eine Untersuchung der zeitgenössischen Lehrbücher evangelischer Ethik, was fünf Jahre zuvor von der Dogmatik behauptet worden war: Das Kind „in seiner relativen Eigenständigkeit gegenüber dem Leben der Erwachsenen" kommt nicht zu seinem Recht (Dreißigacker 167). Dieser Befund änderte sich auch bezüglich der neueren und neuesten Dogmatiken christlicher Glaubenslehre nicht. Selbst in den beiden jüngst erschienenen voluminösen theologischen Anthropologien, Wolfhart Pannenbergs Anthropologie in theologischer Perspektive (1983) und O t t o Hermann Peschs Frei sein aus Gnade (1983), findet sich das Stichwort Kind nicht. Fazit 1987: Für die Systematische Theologie ist das Kind nach wie vor weder Faktor noch Thema wissenschaftlicher Reflexion; weder wurde von ihr der Gedanke einer am Kind orientierten Theologie aufgegriffen, noch die Aufgabe einer theologischen Anthropologie des Kindes weiterverfolgt. Ein Erklärungsgrund für diese ,Kindabstinenz' der Systematischen Theologie dürfte darin zu sehen sein, daß sich mit der Praktischen Theologie oder genauer: der Religionspädagogik und -didaktik eine andere theologische Disziplin intensiv des Kindes und seiner Belange annahm. Zunehmend engagierter und gegenüber neuen humanwissenschaftlichen Entwicklungen aufgeschlossener schickte sich die Religionspädagogik in den auslaufenden sechziger Jahren an, der „Verleugnung des Kindes" ein Ende zu bereiten. Klaus Wegenasts 1968 erschienener Aufsatz Die empirische Wendung in der Religionspädagogik signalisierte die Richtung, in die sich die religionspädagogische Kindbeschäftigung fortan entwickeln sollte. Nicht mehr das theologisch definierte „getaufte Kind" der Evangelischen Unterweisung bestimmte in der Folgezeit das religionspädagogische Nachdenken, sondern das Kind und seine Lebenswirklichkeit im Lichte empirischer Tatsachenforschung. Z u m signifikanten Ausdruck dieser Intention wurde die didaktische und konzeptionelle Kategorie der Problemorientierung, über die relevante human- und sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse Eingang in die Religionspädagogik fanden. Didaktisch manifest wurde der Einstellungswandel gegenüber dem Kind u. a. in Siegfried Vierzigs curricular begründeter Religionspädagogik, in der dem Schüler und seinen Bedürfnissen vor den Lernzieldeterminanten theologische Fachwissenschaft und Gesellschaft eindeutige Priorität zuerkannt wurde (2ff) 3 . Freilich behauptete das Kind diese Priorität bei Vierzig nur vorübergehend. Bereits 1975 gab Vierzig der bis dahin für ihn leitenden Curriculumtheorie (S.B. Robinsohns) fachdidaktisch den Abschied und kreierte einen ideologiekritischen Religionsunterricht, in dem beeinflußt von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule die gesellschaftlich emanzipatorische Zielsetzung dominierte und der Schüler ins zweite Glied didaktischer Bedeutsamkeit zurücktrat. Was die Bezugswissenschaften dieser ideologiekritischen oder - wie sie in der Ausprägung G. Ottos, H.-J. Dörgers und J. Lotts heißt-gesellschafts- und religionskritischen Religionspädagogik betrifft, so ist nicht nur beachtenswert, daß die Dominanz der Theologie in einer Art „Religionswissenschaft" auf- und verlorengeht („Exodus-Modell" vgl. Anm. 2), sondern auch, daß unter ihnen der Pädagogik keine nennenswerte Rolle zukommt.
In diesem Zurücktreten der Pädagogik deutet sich ein für die religionspädagogische
Kind
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Kindbeschäftigung der siebziger Jahre symptomatischer Zug an: Nicht Pädagogen und Pädagogik, sondern die diversen ,nichtpädagogischen' Humanwissenschaften geben die bevorzugten Gesprächspartner und Bezugswissenschaften ab. So wird in Dieter Stoodts therapeutischem Konzept unter Rückgriff auf den symbolischen Interaktionismus Habermasscher Ausprägung der „Schüler selbst zum Gegenstand des Unterrichtes". Um ihm wirklich gerecht werden zu können, bedient sich Stoodt entsprechender Ergebnisse der noch jungen Sozialisationsforschung und bekommt auf diese Weise das Kind oder den Jugendlichen im Beziehungs- und Bedingungsrahmen seiner Sozialisation in den Blick: Nicht als „getauftes Kind" wie die Evangelische Unterweisung und auch nicht als menschliches „Fragewesen" wie der hermeneutische Religionsunterricht, sondern als „den Schüler in seiner Relation zu den Menschen, mit deren Hilfe und mit denen zusammen er aufwächst, sowie zu den Institutionen, den kulturellen Stereotypen, den Werten und den Sinnzusammenhängen, die ihm wie jenen vorgegeben sind, und den Schüler in seiner (Persönlichkeits-)Genese, in deren Verlauf er sich mit Hilfe älterer Menschen und zusammen mit Gleichaltrigen innerhalb der Institutionen und innerhalb jener Wert- und Sinnzusammenhänge eine Grundorientierung erwerben wird" (2f).
Mit dieser von Stoodt initiierten Einbeziehung von Erkenntnissen der (interaktionistischen) Sozialisationstheorie war der Religionspädagogik ein neues, ungemein komplexes Wissenschaftsgebiet eröffnet, dessen Forschungsergebnisse einen enormen, in der Zukunft nicht mehr wegzudenkenden Zugewinn für jede ernsthaft betriebene Kindbeschäftigung in Theologie und Kirche bedeuteten. Das besonders auch deshalb, weil es die Sozialisationstheorie(n) erlaubte(n), die lebensgeschichtliche Dimension und Dynamik des Menschen unter Einbeziehung der religiösen Komponente so zu erfassen, daß davon die verschiedensten praktisch-theologischen Aufgabenfelder tangiert wurden und profitieren konnten. Hier kommt vor allem den Arbeiten von Karl Dienst (Die lehrbare Religion 1976), Christoph Morgenthaler (Sozialisation und Religion 1976) und Reiner Preul {Religion-Bildung-Sozialisation 1980) das Verdienst zu, die verschiedenen Ansätze und Richtungen der Sozialisationsforschung sondiert und religionspädagogisch aufgearbeitet zu haben. Abgesehen von der damit geleisteten Aufklärung in wissenschaftstheoretischer Hinsicht kristallisierte sich ein Verständnis von religiöser Sozialisation heraus, welches das Kind weder als nur gesellschaftlich geprägt noch als ,b!oß' veranlagt, sondern als von Anbeginn an aktiv beteiligtes Subjekt ansah und dabei zugleich Raum gewann für pädagogisches Interesse und didaktische Intentionen. Als eine Frucht der praktisch-theologischen Auseinandersetzung mit der Sozialisationsforschung hat aus religionspädagogischer Sicht auch die verstärkte Beschäftigung mit der frühen Kindheit zu gelten. Sie resultierte daraus, daß sich die Sozialisationsforschung zunächst auf die Phase der Primärsozialisation konzentriert hatte, ehe sie sich dann der sekundären und schließlich auch tertiären Sozialisation annahm. Diese Beschäftigung mit der religiösen Sozialisation der ersten Kindheitsphase konnte sich - wie etwa die Ausführungen von Hubertus Halbfas zur Revision der religiösen Erziehung zeigen — in einer mehr oder weniger modifizierten Übernahme psychoanalytischer Ergebnisse im Anschluß an Sigmund Freud und seine Auffassungen von der psychosexuellen Entwicklung des Kindes erschöpfen, wurde aber besonders mit der Einbeziehung der Forschungsergebnisse Erik H. Eriksons zunehmend differenzierter und konvergenzträchtiger in bezug auf Theologie und Religionspädagogik. Eriksons Fortentwicklung der Psychoanalyse zu einer „Ich-Psychologie", welche die Ich-Entwicklung als Abfolge von Identitätskrisen mit dem Ziel der Ich-Identität darstellt (vgl. u. a. Identität urd Lebenszyklus 1973), gewann nicht zuletzt über den theologisch wie religionspädagogisch äußerst relevanten Begriff der Identität oder seine Ausführungen zum Urvertrauen („basic trust") für die Religionspädagogik große Bedeutung.
In dieser Hinsicht verdient besonders das Buch von Hans-Jürgen Fraas Religiöse Erziehung und Sozialisation im Kindesalter (1973) Beachtung: nicht nur weil in ihm Identität qua „im Glauben gelungene Identität" zum religionspädagogischen „Schlüsselbegriff" wurde (vgl. Glaube und Identität 1983), sondern auch, weil gerade diese Arbeit
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durch entschlossene und bedachte religionspädagogische Rezeption sozialisationstheoretischer Erkenntnisse psychoanalytischer und interaktionistischer Provenienz der wissenschaftlich so gut wie vergessenen religiösen Kleinkinderziehung wichtige Impulse vermitteln konnte. Unter dem übergreifenden Dach eines integrativen Sozialisationsverständnisses fand dabei die spezifisch didaktische und pädagogische Komponente im Prozeß der Primär- und Sekundärsozialisation des Kindes ihre Beachtung und Gewichtung primär über Lernbegriff und Werthaltungsverständnis. In beidem hat man wichtige Fixpunkte der jüngsten religionspädagogischen Beschäftigung mit dem Kind und seiner religiösen Sozialisation und Erziehung zu sehen. Dem scharfen Trennungsdenken in Sachen Glauben und Lernen wurde nicht allein bei Fraas der Abschied gegeben. Die Devise konnte jetzt lauten „Glauben heißt Lernen" (Fraas, Glaube und Identität 9). Das zeitigte nicht nur ein theologisches Umdenken, sondern setzte auch ein Lernverständnis voraus, das die behavioristische Lerntheorie in Richtung der Eigenaktivität, Kreativität und Verantwortlichkeit des Kindes entschieden relativierte und revidierte. Mit den Stichworten Werthaltung und „Verantwortungslernen" ist die ethische Dimension gegenwärtiger Kindbetrachtung angesprochen. Wie der Durchgang durch die Geschichte zeigte, gehörte diese ethische Betrachtungsweise des Kindes von allem Anfang an auch zur kirchlichen und theologischen Beschäftigung mit dem Kind. Nicht nur war die jahrhundertelange Auseinandersetzung um Unschuld oder Verdorbenheit der Kinder eine im wesentlichen ethisch dimensionierte, sondern vor allem enthielt auch jedes pädagogisch motivierte und orientierte Kindinteresse ethische Intentionen und Dimensionen. So gilt bis heute, daß mit Erziehung im engeren, präziseren Sinne moralische, ethische Erziehung bzw. Erziehung zu sittlicher Haltung oder Werthaltung gemeint ist. Entsprechend brachte die „empirische Wendung" in der Religionspädagogik für die Kinderkenntnis auch in ethischer Hinsicht einen wachsenden Zugewinn vor allem an entwicklungspsychologischen Erkenntnissen. Die grundlegenden Untersuchungen Jean Piagets zur kognitiven und moralischen Entwicklung des Kindes - von der heteronomen Phase des „Moralischen Realismus" qua „Moral der äußeren Regel" bis zur Phase der autonomen Moral (Das moralische Urteil beim Kinde 1954) - wurden endlich für die Religionspädagogik erschlossen und begegnen heute vorrangig in ihrer Weiterentwicklung durch die Forschungsergebnisse von Lawrence Kohlberg. Diese sind besonders im Blick auf die „vorkonventionelle" und „konventionelle Ebene" der kindlichen Moralentwicklung beachtenswert, obwohl auch sie bei durchaus empirisch verifizierten Befunden an der Problematik dieses einseitig kognitiv-verbalen Ansatzes partizipieren. Das Kind kommt nur nach der Entwicklung seines moralischen Urteilsvermögens in den Blick, nicht aber ganzheitlich mit seiner Fühlen, Handeln und Denken umfassenden komplexen Persönlichkeitsentwicklung. Hier führt die Übernahme von Erkenntnissen der „modernen Entwicklungspsychologie" (Rolf Oerter) zum Aufbau von Werthaltungen weiter, die als zusammengesetzt aus einer pragmatischen, affektiven und kognitiven Komponente verstanden werden. Eine Erziehung, die bei den Kindern bestimmte Haltungen anstrebt, muß dieser Komplexität Rechnung tragen. Besonders für das pädagogische und religionspädagogische Handeln in der Phase der Primärsozialisation ergeben sich dann aus der Tatsache, daß der Aufbau von Werthaltungen in der frühsten Kindheit mit der Handlungskomponente in unmittelbarer Verbindung mit der affektiven Komponente beginnt und die kognitive Komponente erst später im Zusammenhang mit der Sprachentwicklung hinzutritt, wichtige Einsichten und praktische Konsequenzen. Ethische Erziehung kann durch diese Anbindung an den Erwerb von Werthaltungen zu einem integralen Bestandteil ganzheitlicher Persönlichkeitsentwicklung im umgreifenden Horizont der primären und sekundären Sozialisation des Kindes werden 4 . Eine so perspektivierte Kindessicht eröffnet auch einer christlich motivierten und orientierten (ethischen) Erziehung die Möglichkeit, das Spezifikum christlichen Glaubens über religiöse Handlungsvollzüge, eine Atmosphäre der Liebe und des Vertrauens und denkend deutende Begleitung und Übung haltungsmäßig einzubringen. Unbenommen der Zusammengehörigkeit der drei Haltungskomponen-
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ten erlaubt dabei dieser Ansatz der Praktischen Theologie durchaus unterschiedliche Schwerpunktsetzungen je nachdem, ob es sich um das Kind in der Familie, im Kindergarten, im Kindergottesdienst oder im Religionsunterricht handelt. Eine vorläufig letzte Neuakzentuierung erfuhr die religionspädagogische Kindbeschäftigung mit Karl Ernst Nipkows Programm „Gemeinsam leben und glauben lernen" (Grundfragen der Religionspädagogik, III, 1982). Nipkow, der sich seit den sechziger Jahren wie kein anderer unermüdlich um die Erschließung human- und sozialwissenschaftlicher Forschungen für die Religionspädagogik bemüht hatte, vollzog mit diesem Programm insofern einen „Perspektivenwechsel", als er die bisher geübte relativ isolierte Befassung mit Kindheit oder Jugend ausweitete zu einem Verständnis „christlicher Erziehung", das als „gemeinsames Lernen zwischen den Generationen" auch die Erwachsenen mit in die religionspädagogische Reflexion einbezog. Er berief sich dabei u.a. auf die neuere Entwicklungspsychologie in ihrer Weiterentwicklung zur Lebenslaufforschung, die er vor allem über James W. Fowlers Konzept Stages ofFaith (1981) für sein generationsübergreifendes religionspädagogisches Anliegen fruchtbar zu machen suchte. Dabei fiel Nipkow aber nicht wieder zurück in eine einseitig strukturalistische Sicht der Kindesentwicklung, sondern ergänzte die entwicklungspsychologische Betrachtungsweise lebensgeschichtlich und gesellschaftlich durch die sozialisationstheoretische und wendete beide zu einer spezifisch religionspädagogischen Hermeneutik (76ff). Nur so lassen sich nach Nipkow „sozialwissenschaftliche und theologische Perspektiven verbinden" und bleibt wissenschaftstheoretisch der Anspruch eines „dialektisch-konvergenztheoretischen Ansatzes" gewahrt, in Zusammenhang und Unterscheidung Konvergenzen theologischer und humanwissenschaftlicher Perspektiven herauszuarbeiten. Von Bastian bis Nipkow war die praktisch-theologische Kindbeschäftigung der letzten drei Jahrzehnte begleitet von der Reflexion und Diskussion über das Verhältnis der Theologie zu den humanwissenschaftlichen Erkenntnissen vom Kindsein. Als Konsens suchender Rahmen für eine mit dem Kind befaßte Praktische Theologie bieten sich dazu folgende zusammenfassende Thesen: 1. Das Kind in praktisch-theologisch religionspädagogischer Sicht darf nicht nur aus der Perspektive einer Wissenschaft gesehen werden, sondern muß unter der bestimmenden Fragestellung christlicher Erziehung mehrperspektivisch erfaßt werden. 2. Solche mehrperspektivisch verlangte Kindbetrachtung erfolgt unter dem Anspruch an die Religionspädagogik, sich als Integrationswissenschaft bzw. Verbundwissenschaft zu verstehen. 3. Als solche ist die Religionspädagogik angesiedelt im Überschneidungsfeld von Theologie und Humanwissenschaften. In bezug auf das Kind muß sie danach vorrangig die wissenschaftlichen Befunde und Ansprüche von Theologie, Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Sozialisationsforschung zu integrieren suchen. 4. Eine solchermaßen integrative religionspädagogische Kindbetrachtung bedarf eines kritischen Potentials, mit dessen Hilfe das wissenschaftliche Überschneidungsfeld sondiert, Unterscheidungen, Übereinstimmungen und Transzendierungen signalisiert sowie Normatives und Faktisches auseinandergehalten und zusammengebracht werden können. 5. Für eine Religionspädagogik im Rahmen Praktischer Theologie bietet die christliche Theologie dieses Potential; sie gibt das normative Standbein ab und entwickelt die theologischen Inhalte und Kriterien, um die Verständnisse, empirischen Befunde und Deutungen der Humanwissenschaften mit der theologischen Sicht des Kindes in Beziehung zu setzen. 6. Theologisch entsprechend zugerüstet, bedeutet das für die Religionspädagogik im Blick auf das Kind die Aufgabe, die Erkenntnisse der Humanwissenschaften kritisch zu sichten und auf Entsprechungen, Divergenzen und Transzendierungspotenzen hin auszuloten. 7. Die religionspädagogische Sicht des Kindes ist als realistische Sicht auf die empiri-
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sehen Forschungsergebnisse der Humanwissenschaften angewiesen, muß sie aufnehmen und in ihren Deutungen und Folgerungen mit den theologischen Vorstellungen interpretativ vermitteln. 8. Unter dem integrativen Interesse einer Erziehung aus und zu christlicher Haltung ist die Religionspädagogik gegenüber der Theologie Anwalt des Kindes, gegenüber den Humanwissenschaften Anwalt der Hoffnungen, Erfahrungen und Zielvorstellungen, wie sie das Christentum vertritt! 9. Die religionspädagogische Sicht des Kindes erlaubt weder ein Autarkie-Verhältnis, wonach Religionspädagogik und Theologie sich selbst genug sind und keiner Kooperation mit den Humanwissenschaften bedürfen, noch ein rigides Dominanz-Verhältnis, in dem die Humanwissenschaften nur als bloße Hilfswissenschaften fungieren. Sie verlangt vielmehr ein Verhältnis kritischer Integration und Vermittlung von theologischen Einsichten und empirischen Befunden und Deutungen der Humanwissenschaften. 5. In Kirche und Gesellschaft
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Wenn auch das i m m e r wieder zu lesende Urteil, in den theologischen L e x i k a fehle „ d u r c h w e g " ein Artikel über das Kind ( z . B . Vrijdaghs 178; K. Wegenast, Kindsein, s. Lit. zu 2., 2 6 8 ) , so nicht stimmt (vgl. u . a . die Artikel „ K i n d e r " , „ K i n d e r p s y c h o l o g i e " [ H . R o t h ! ] , „ K i n d h e i t " [ M . J . Langeveld!] in der 3. Aufl. R G G 3 , 1 2 7 3 ff), so bleibt doch festzuhalten, d a ß die systematisch-theologische Reflexion sich bis heute so gut wie ausschließlich am E r w a c h s e n e n l e b e n , a m Christsein des E r w a c h senen orientiert. W i e gesehen, k a n n demgegenüber von einer „Verleugnung des K i n d e s " in der wissenschaftlichen Religionspädagogik heute nicht mehr gesprochen werden. I m Gegenteil: Bis zur theologischen Selbstverleugnung wurden die Kinderkenntnisse aus den diversen Forschungsgebieten der H u m a n w i s s e n s c h a f t e n religionspädagogisch rezipiert und integriert. Was vermißt wurde, w a r einmal das wechselseitige G e s p r ä c h zwischen Religionspädagogik und Humanwissenschaften; es blieb im wesentlichen bei einseitiger Rezeption durch die Religionspädagogik. Z u kurz im Reigen humanwissenschaftlicher Forschungsstimmen und -ergebnisse k a m außerdem die spezifisch pädagogische Dimension mit ihren Kategorien „ W o h l des K i n d e s " , „pädagogisches Verhältnis", „ p ä d a g o gische V e r a n t w o r t u n g " . H i e r sind Aufgaben angedeutet, deren sich die Praktische T h e o l o g i e in Fortsetzung ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Kind in Z u k u n f t ganz bewußt annehmen sollte. Sie kann dabei ausgehen von der aufs G a n z e gesehen guten und sachkundigen Arbeit, welche von den Vertretern der Religionspädagogik in den letzten J a h r z e h n t e n geleistet wurde und die nicht nur der T h e o r i e und P r a x i s des Religionsunterrichts zugute g e k o m m e n ist, sondern in der Folgezeit auch den gemeindepädagogischen Arbeitsgebieten der religiösen Kleinkindererziehung, des Kindergottesdienstes und des Konfirmandenunterrichts ( - » K o n f i r m a t i o n ) . An diesem Z u g e winn an Kindbetrachtung und -erkenntnis sollte die Praktische T h e o l o g i e festhalten. D a s verlangt von ihr kindgemäße Profilierung o h n e isolierende Ausgrenzung der Kinder aus der alle Generationen und Altersstufen umgreifenden G e m e i n s c h a f t der Christen als familia Dei.
Wie steht es auf diesem Hintergrund mit der Kindorientierung der Kirchen in einer Welt, die 1959 die „Rechte des Kindes" proklamierte, 1979 zum „Jahr des Kindes" erklärte und mit beidem gutwillige Zeichen setzte, die in symptomatischem Kontrast stehen zu der nach wie vor zu konstatierenden Kinderfeindlichkeit unserer Gesellschaft und Welt? Diese wird nicht nur durch das Phänomen der Armut belegt, welche besonders die Kinder der sog. Dritten Welt in einem kaum mehr vorstellbaren Ausmaß trifft, sondern auch durch die Situation in den reichen Ländern wie etwa der Bundesrepublik Deutschland, in denen Kindesmißhandlungen, Drogenabhängigkeit und Selbstmorde von Kindern besorgniserregend zunehmen5. Demgegenüber kann es keinen Zweifel daran geben, daß eine Kirche, die sich zu Jesu Parteinahme für das Kind, zum Kinderevangelium, bekennt und die bis heute die Kindertaufe als kinderfreundlichen Vollzug der gratia praeveniens praktiziert, als „Anwalt des Kindes in Gemeinde und Gesellschaft" (U. Becker) auftreten, reden und handeln muß. Die entschiedensten Worte in dieser Richtung finden sich in der 1976 vom Britischen Kirchenrat verlautbarten Stellungnahme The Child in Church. In ihr wird nach einer Überprüfung aller kirchlichen Arbeit mit Kindern am Ende der Schluß gezogen, daß „unsere Vorstellungen über das Christsein . . . sich hauptsächlich auf das Erwachsenenleben" beziehen und es deshalb „keinen geeigneten theologischen Rahmen (gebe), um den Platz des Kindes in der Kirche zu definieren". Vonnöten sei eine „Theolo-
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gie des Kindes" mit der Aufgabe, „ein spezifisch christliches Verständnis für die Natur und das Wesen des Kindes zum Ausdruck zu bringen" (Übersetzung aus: Dokumente, Texte und Tendenzen 2, Bad Boll 1978,13). Globaler und die gesellschaftlichen Phänomene der Kinderfeindlichkeit stärker in den Blick nehmend, fiel das Positionspapier des ökumenischen Rates der Kirchen zum Internationalen Jahr des Kindes (Genf 1978) aus. Für die Katholische Kirche ebenso wie für die Evangelische Kirche in Deutschland sucht man nach entsprechenden Verlautbarungen oder gar Denkschriften, die das Kind in seiner gesellschaftlichen und gemeindlichen Lage ausdrücklich thematisieren, bis heute vergeblich. Immerhin veranstaltete die EKD seit 1958 drei sog. Bildungssynoden (BerlinWeißensee 1958, Frankfurt/M. 1971, Bethel 1978), in denen bei aller Konzentration auf Schule und staatliches Bildungssystem auch die unterrichteten Kinder in den Blick kamen. Das galt vor allem für die Synode in Bethel, die mit ihrem Thema „Leben und Erziehen wozu?" die bis dahin vorherrschende Fixierung auf Schule und Religionsunterricht aufbrach und entschränkte in Richtung auf die Erziehungsverantwortung der Gemeinde auch für andere Bereiche kirchlicher Praxis. Entsprechend wären die Kirchen sicher gut beraten, wenn sie hinsichtlich der von ihnen verlangten .Kinderarbeit' - analog der gemeindepädagogischen Wendung in der wissenschaftlichen Religionspädagogik - nicht nur auf den schulischen Religionsunterricht setzen würden. Christliche Erziehung im Kindergarten, Kindergottesdienste, Familiengottesdienste und eine - analog der Jugendarbeit - eigenständige kirchliche Kindarbeit und kirchliche Kinderseelsorge wären hier die Tätigkeitsfelder, denen sich eine kinderfreundliche und kindgerechte Kirche verstärkt anzunehmen hätte. All das gibt es bereits in den Kirchen und wird vor Ort nicht selten mit bewundernswertem Einsatz und Einfallsreichtum betrieben. Doch kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß aufs Ganze kirchlicher Arbeit gesehen den Kindern bei weitem noch nicht das Gewicht zukommt, das die Kirche ihnen beimessen müßte, wollte sie wirklich vor der kinderfeindlichen Welt als glaubwürdiger Anwalt der Kinder ernst genommen werden. Solange etwa von Seiten der Kirchen, ihrer Ausbildung und ihrer Pfarrer der Kindergottesdienst noch weniger ernst genommen wird als der Erwachsenengottesdienst, solange noch die lebendige Unruhe der Familiengottesdienste die Gemeinde stört und ärgert, solange mangelt es den Kirchen noch an der nötigen Kinderfreundlichkeit, solange „wehren sie den Kindern" noch. Als symptomatisch für solches Abwehrverhalten könnte bis in die jüngste Zeit die besonders in den protestantischen Kirchen noch vorherrschende Praxis angesehen werden, den Kindern die Teilnahme am Abendmahl (-»Kinderkommunion) zu verweigern. Gibt es doch keinen theologisch zureichenden Grund, den Kindern, die von Jesus als vorbildliche Mitglieder des Reiches Gottes herausgestellt werden, durch Ausschluß vom Abendmahl die vollwertige Mitgliedschaft in der Kirche zu verweigern, es sei denn, man wollte ein einseitig an der Verstandesfähigkeit des gesunden (!) Erwachsenen bemessenes Glaubensverständnis zum obersten Maßstab machen. Hier zeichnet sich inzwischen eine kindbewußte Wendung und Öffnung ab, die sich für die lutherischen Kirchen Deutschlands besonders eindrucksvoll in der von ihrer Generalsynode am 28. Okt. 1977 verabschiedeten „Handreichung" zur „Teilnahme von Kindern am Heiligen Abendmahl" dokumentiert finden (abgedruckt: Comenius-Institut [Hg.], Abendmahl mit Kindern. Dokumentation 4, Münster im Juli 1983, 41 f)- Dieses kirchenamtliche Dokument hält bezüglich des Kinderabendmahls an „Lehre und Leben der Kirche" als dem entscheidenden Kriterium fest, verleugnet darüber aber keineswegs das Kind, sondern nimmt es in Einklang mit den religionspädagogischen Erkenntnissen in seiner Eigenart psychologisch und pädagogisch ernst und eröffnet getauften Kindern nach geeigneter Hinführung die Möglichkeit begleiteter Teilnahme am Abendmahl. Damit war eine Bewegung angestoßen, die in wenigen Jahren nahezu alle Kirchen der Ökumene dazu brachte, Kindern eine Teilnahme am Abendmahl zu ermöglichen. Darin könnte man durchaus Schritte und Zeichen eines Aufbruchs in Richtung einer Kirche sehen, die im Begriff steht, an und mit den Kindern die theologisch fundamentale Dimension des Kind-Evangeliums von Mk 10
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neu für sich zu entdecken. So würde das Abendmahl mit Kindern tatsächlich zu einem „Schlüssel, der unerwartet Türen öffnet, nicht nur für die Entwicklung eines ganzheitlichen Dienstes an Kindern, sondern für einen umfassenden Dienst der Kirchen an allen ihren Mitgliedern" (Geiko Müller-Fahrenholz 10). Es dürfte deshalb auch nicht von ungefähr kommen, daß z. B. die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands neun Jahre nach Erscheinen ihres Evangelischen Erwachsenenkatechismus, der übrigens unter der Überschrift „1.2.5 Eltern und Kinder" auch etwas zur Entwicklung des Kindes, zur Familie und christlichen Erziehung zu sagen weiß (Gütersloh 1975 3 1 9 7 7 , 5 9 9 - 6 2 8 ) , einen echten „Katechismus für Kinder" (Erzähl mir vom Glauben, Gütersloh/Lahr 1984) herausbrachte - auch das möglicherweise ein Hinweis auf eine kindbewußter werdende Kirche mit aussichtsreichen Konsequenzen: Nur wenn es den christlichen Gemeinden in Zukunft verstärkt gelingt, ihre im Sinne Jesu verstandene Kinderfreundlichkeit ,am eigenen Leibe' für ,alle* Welt sichtbar zu praktizieren, gewinnen sie den Berechtigungsgrund und die nötige Überzeugungskraft, um sich engagiert für die Belange der Kinder in der heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit einsetzen zu können. Anmerkungen 1
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Vgl. u. a. Rang 269. - Das .Kind-Entdecker-Prädikat' wurde häufig verliehen und beansprucht: So bezeichnete z. B. der Theologe Emil Brunner Jesus als den „Entdecker des Kindes" (Das Ewige in Zukunft und Gegenwart, Zürich 1953, 179), was nach dem o. unter 2. Gesagten nicht einer gewissen Berechtigung entbehrt. Ähnlich votiert der Marxist Milan Machovec (Jesus für Atheisten, Stuttgart 1972, 117). Victor Hugo dagegen proklamierte sich selbst zum .Kindentdecker', indem er ausrief: „Kolumbus hat Amerika entdeckt, ich dagegen das Kind". Vgl. die hilfreichen Strukturmuster für die Verhältnisbestimmung zwischen Theologie und Humanwissenschaften, wie sie Henning Schröer vorstellte (150-177, bes. 169f). Auf katholischer Seite kann in diesem Zusammenhang Josef Brechtken Die Wiederentdeckung des Kindes in der neueren anthropozentrisch ausgerichteten Religionsdidaktik preisen. Vgl. auch Frank Jehlc, der in seinem 1981 erschienenen Buch Augen für das Unsichtbare ebenfalls von der „Wiederentdeckung des Kindes" spricht (194ff). Vgl. dazu Bernhard Groms bedeutsamen Synthese-Versuch, ethisch-religiöses Leben als ganzheitlich-komplexen Lernprozeß aufzufassen. Seine Religionspädagogische Psychologie bietet dazu eine „Synthese" von Elementen der Lerntheorie, der kognitiv-strukturgenetischen Theorie Piagets und der psychoanalytischen Theorie Freuds und ihren Erweiterungen durch Erikson u.a. Vgl. für die BRD die neueren Arbeiten von Barbara Hille, Kindergesellschaft? Wie unsere Kinder aufwachsen, Köln 1980; Christine Heide, Kind in Deutschland. Eine traurige Bilanz, Hamburg 1984 und Sabine Lang, Lebensbedingungen und Lebensqualität von Kindern, Frankfurt/New York 1985. Literatur
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2. Gattungen
3. Relevanz und Forschungsdesiderate
(Literatur S. 182)
Bibliographie (Anfänge bei Reents, Reu, Schindler) und Geschichte der Bibel in der christlichen Erziehung vom —»Katechumenat der Alten Kirchc bis zu neuzeitlichen Konzepten für Familie und Elementarerziehung, Schulen und Kirchen mit konfessioneller und regionaler Differenzierung fehlen (-•Bibel IV). Das ist erstaunlich, wenn man die Bedeutung der Bibel als Basis aller christlichen Gruppen bedenkt und den prägenden Einfluß der in frühen Sozialisationsphasen vielbenutzten, teils bebilderten biblischen Jugendbücher (Longseller) auf moralische Einstellungen und Verhaltensweisen berücksichtigt. Ein Grund wird sein, daß die evangelische Katechetik bzw. -»Religionspädagogik primär nach brauchbaren Bibelbearbeitungen fragte, ohne die historisch-kritische Erforschung der Geschichte des Bibelgebrauchs im Erziehungsalltag im Kontext ihrer geistesgeschichtlichen und sozialen Entstehungsbedingungen unterschiedlicher Epochen zu analysieren. 1.
Begriff
D e r Begriff „ K i n d e r b i b e l " ist im R e f o r m a t i o n s j a h r h u n d e r t n a c h w e i s b a r : In seiner J o a c h i m s t h a l e r Bergwerkspostille Sarepta
benutzt J o h a n n e s M a t h e s i u s ihn a m Schluß
der 3 . Predigt beiläufig, vermutlich im Sinne des K a t e c h i s m u s als S u m m e biblischer W a h r heit: „ N u n h a t / e i n Christlicher B e r g m a n n in seinem C a t e c h i s m o und k i n d e r b i b e l / a u c h die z e - / h e n g e b o t , die m u ß einer mit sich fürs o r t n e m e n / s o wol als sein r i e m e n / m i t den e y s e n / o d e r seinen g r u b e n C o m p a ß / w e l c h e r jm alle stunde und a u - / g e n b l i c k w e i s e t / w o er recht zufaren s o l l e " (Sar 4 0 b . 1 5 6 2 . A u c h : G e o r g L o e s c h e 1 9 0 4 , 2 2 2 ) . „ K i n d e r B i b e l " (Tübingen: bey A l e x a n d e r H o c k 1 5 8 7 ) ist bei Mathesisus a u ß e r d e m eine Bezeichnung für eine k u r z e k a t e c h e t i s c h e Beicht- und A b e n d m a h l s l e h r e für Kinder mit F r a g e n . J o s u a O p i t z faßt ( 1 5 8 3 ) u n t e r d e m Titel Kinder
Bibel
ein S p r u c h b u c h zu L u t h e r s KIKat mit
zergliedernden F r a g e n ( R e u I I , X C V f . 5 5 1 - 5 7 4 ) , d a s die Schriftgemäßheit des K i n d e r k a t e c h i s m u s bekräftigen soll. Kinder und L a i e n lernen die Bibel in einer v o m K a t e c h i s m u s b e s t i m m t e n A u s w a h l d u r c h kirchliche Vermittlung konfessioneller P r ä g u n g kennen. Im 18. J h . , also in einer E p o c h e , die die Bedeutung d e r Kindererziehung für das B ü r g e r t u m b e t o n t e , handelt es sich um einen Sammelbegriff für unterschiedliche G a t t u n g e n von Bibelkürzungen und -bearbeitungen, die n a c h A u s k u n f t der Verfasser für Kinder und J u g e n d l i c h e als Benutzer konzipiert w a r e n in Weiterführung s o w o h l der H a n d b i b e l n in der jeweiligen V o l k s s p r a c h e (z. B. - » C o m e n i u s , M a n u a l n i k 1 6 5 8 ) als a u c h der adressatenbezogenen - » E r b a u u n g s l i t e r a t u r des B a r o c k . B e d e u t u n g s v a r i a n t e n : bei J o h a n n e s M e l chior (Herborn
31716)
für einen Auszug v o n Geschichten und L e h r s p r ü c h e n aus der
Heiligen Schrift, bei C h r i s t o p h H e i n r i c h K r a t z e n s t e i n für eine in F r a g e n und A n t w o r t e n
Kinderbibel
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abgefaßte Kinder- und Bilder-Bibel (Erfurt 1737), bei Abraham Kyburz 1) für ein bebildertes sechsbändiges Werk mit Biblischen Historien als Exempel (1737-1763), 2) für eine zweibändige „Catechetische Kinder-Bibel..." mit Anhängen nach der Methode Hübners (Bern 1744, Zürich 1745), bei Johann Georg Hager (Leipzig 1749) für eine Dogmatik und Ethik für Kinder, bei Joachim E. Berger (Berlin 2 1719) als Sammelbegriff für unterschiedliche Gattungen, z.B. Spruchbuch, Biblische Historien, Fragbibel, biblische Gedächtnisreime, Bilder-Bibel, z.B. Johannes Buno (Hamburg 1680), und bei Jeremias Gotthelf für die Bibel als grammatisches Übungsbuch (Jacob u. Wilhelm Grimm 11,733f). Daneben finden sich Synonyma: Bibelauszug mit doppelter Bedeutung 1) für Katechismus (Luther 1529) und 2) gekürzte Bibelausgabe zumeist im Oktavformat (Gotha 1660; Hübner, Vorrede, Leipzig 1714; Melchior, Herborn 1716). Parva Biblia (lat. u. dt. Michael Neander, Leipzig 1596); Johann Pappus um 1600 (vgl. Reu II,737ff), Lesebüchlein (Johann Saubert d.Ä. 1639), Bibelkern (Johann Caspar Müller, Zürich 1704; Johann Georg Franck, Göttingen 1745; katholisch: Johann Ignaz v. Felbiger/Benedikt Strauch 1777), Biblische Historien (Hartmann Beyer, Frankfurt 1555; Justus Gesenius Braunschweig, 1656; Johann Hübner, Leipzig 1714, Georg Friedrich Seiler 1782). Biblische Geschichte o f t heilsgesch. (Franz Ludwig Z a h n , Meurs 1831), Biblische Geschichten (Emanuel Meyer, Basel 1714); Johann Peter Hebel, Pforzheim/Stuttgart 1824); Biblische Erzählungen (Johann Peter Miller, Helmstedt 1753; Jean Marie Leprince de Beaumont 1756; dt. Leipzig 1760; Johann Jacob Hess u.a., Zürich 1772ff; Jacob Friedrich Feddersen, Halle 1776), Kleine Bibel (Carl Friedrich Bahrdt, Berlin 1780; B. C.L. Natorp, Essen 1804) und Schulbibel (Heinrich Gottlieb Zerrenner, Halle 1799). In Preußen wurden 1814 und 1825 Bibelauszüge für den Schulgebrauch im Zuge der seit Wöllner wirksamen Gegenaufklärung zwar verboten (vgl. Reents), blieben jedoch beliebt. Heute sind ca. 50 Bibelbearbeitungen der Aufklärung nicht mehr auffindbar. 2.
Gattungen
Vier wesentliche Gattungen der Kinderbibeltradition entstanden auf der Basis von Vorläufern und volkssprachlichen Übersetzungen im Reformationsjahrhundert; ihre konzeptionelle und gestalterische Vielfalt läßt sich zu einem nicht geringen Teil durch ihren jeweiligen „Sitz im Leben" in der christlichen Erziehung verstehen. Biblische Spruchbücher wurden als „Milchspeise" (I Kor 3,2; Hebr 5,12f), als „lautere Milch des Evangelii" (I Petr 2,2 benutzt von Spener) von unterschiedlichen Intentionen her gestaltet; die Gattung erschien den theologischen Hauptrichtungen wie lutherische -»Orthodoxie, -•Pietismus, -»Aufklärung und -»Rationalismus brauchbar: als Ergänzungen zum KIKat, um die Kenntnis des christlichen Glaubens durch Merkworte und Beweise zu festigen (vgl. Reu II, 1906; Fraas); im Sinne der kirchlichen Aufklärung: Johann Caspar Lavater, Christliches Handbüchlein . . . , Bern 1767; Georg Friedrich Seiler, Erlangen 1805; Johann Heinrich Christ. Beutler, Schnepfenthal 1809; Johann Römhild, Leipzig 1819; Der Kinderengel m. Holzschnitten von Ludwig Richter, Dresden 1859 und viele andere. Eine weitere Modifikation ist die kurzgefaßte Ordnung des Heyls in Frage u. Bibelspruch als Antwort (Johann Jakob Rambach, Erbauliches Handbüchlein für Kinder . . . Andere Aufl., Gießen 1734). Spruchbücher dienten zweitens zur Erbauung durch Perlen der Bibel (Göttingen 1911) als Vademecum in allen Lebenslagen. Drittens gab es Spruchbücher zum -»Kirchenjahr: Z u Sonntagsperikopen sollte ein Wochenspruch gelernt werden (z.B. Valentin Trotzendorf, Rosarium 1531-1556; Württ. Kirchenordnung von 1559; Thomas Andreas Kratzenstein, Wernigerorde o. J., Wilhelm Löhe, Haus-, Schul- u. Kirchenbuch, 1845). Ein vierter Typ sind ethische Spruchsammlungen nach dem Vorbild der Proverbien und des Jesus Sirach, in der evangelischen Erziehung vermischt mit allgemeinen Lebensregeln, beliebt in der späten kirchlichen Aufklärung (Jakob Friedrich Feddersen, Nürnberg 1786; Beutler, Schnepfenthal 1809), auch in Lesebüchern als Lehre zum Abschluß von moralischen Geschichten (Friedrich Eberhard von Rochow, Kinderfreund I 1776, II 1779). Ein fünfter Typ sind Alphabetsprüche (von Rambach 1734 bis zu Elisabeth Reuter,
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Berlin/DDR 1949 9 1968), ein sechster ist neuerdings die vor allem den Logien Jesu geltende Basisbibel von Arnulf Zitelmann (Weinheim/Basel 1972, Neuausg. 1982). (Zur Herkunft aus dem Altertum, zu weiteren Beispielen und zum Schulgebrauch vgl. v. Zezschwitz 11,2 § 48; Palmer.) Kritik äußerte Schleiermacher (SW XIII, Berlin 1850,392ff): Eine Masse einzelner Sprüche beibringen heiße, den lebendigen Gebrauch der Schrift im Zusammenhang zu stören. Zwei Formen der Wiedergabe erzählender Texte sind zu unterscheiden: die seit der Aufklärung beliebte freie Erzählung und die in der Orthodoxie verbreitete knappe, oft auf die Fakten hin gekürzte Textwiedergabe mit Anhängen. Letzteres wird hier als Katechetische Kinderbibel bezeichnet (Begriff von Abraham Kyburz 1744/45, rezipiert von Regine Schindler); sie ist für die Hand des Kindes „Zur Belehrung und Unterhaltung" gedacht mit ausgewählten biblischen Historien, zum Teil mit belehrenden, erbaulichen Anhängen, die oft auf II Tim 3,15-17 basieren oder mit anderen katechetischen Hilfen versehen sind. Die Textauswahl folgt nicht der gottesdienstlichen Perikopenordnung, sondern einer für Hausväter und Lehrer im Amt des Hausvaters ausgewählten kursorischen lectio continua. In einer Zeit der Bibelrenaissance entstanden seit Mitte des 17. Jh. biblische Handbücher für die Erziehung, die in der Abfolge der Bibel von der Schöpfung bis zu den Aposteln konzipiert waren: die Biblischen Historien von Justus Gesenius (Braunschweig 1656) und ein im Kontext der Gothaischen Reformbemühungen entstandener Nützlicher Auszug und Begrieff Der fürnembsten Biblischen Historien... (Gotha 1664). Beide kannten die bebilderte Historienbibel von Hartmann Beier (Frankfurt 1555, Abdruck bei Reu II). Im neutestamentlichen Teil folgen sie dem Muster der Evangelienharmonien; Episteln und Apokalypse fehlen. In der ersten Hälfte des 18. Jh. sind mindestens ein Dutzend fortlaufend konzipierte Bibelauszüge für Kinder nachgewiesen (Reents). Breit und lange wirkten auf der Schwelle von der Orthodoxie zur Frühaufklärung Johann Hübners Zweymahl zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien der Jugend zum Besten abgefasset... (Leipzig 1714, Neuausg. Lachmann/Reents). Hübner spricht durch kindgemäße Auswahl, bibelnahe Textgestaltung und dreifache Anhänge die rationalen Kräfte des Menschen — Gedächtnis, Verstand, Wille - an, um das Wort Gottes realitäts- und alltagsbezogen anzuwenden als Ergänzung zu Luthers KIKat. Hübner entspricht dem auf Aristoteles basierenden dreifachen Ziel der Lateinschule: doctrina, boni mores und pietas durch „Deutliche Fragen", „Nützliche Lehren" und „Gottselige Gedancken" in methodischer Strenge zu lehren. Dadurch wird ein bürgerlicher Tugendkatalog in die Bibel eingetragen und legitimiert. Die ursprünglich fehlende Anschauung wird durch Bilder von sieben Bearbeitern zwischen 1731 u. 1836 ergänzt. Hübners Werk war für Pietisten und Aufklärer Ausgangspunkt z. B. für Bearbeitungen; die Nachwirkungen sind auf dem Wege über das heilsgeschichtliche Konzept von Franz Ludwig Zahn (1831, zuletzt 1931) bis in neoorthodoxe Konzepte der Gegenwart nachweisbar (Gottbüchlein 1933; Jörg Erb, Schild des Glaubens, 1941, zuletzt 1972; Berlin/DDR 1948, 1 9 1968; Alfred Brenne 6 1973). Hübners Werk trug zur Konsolidierung des schulischen und häuslichen (z.B. Dostojewskij) Bibelunterrichts, zur Ergänzung bzw. Ablösung des Katechismusunterrichts und auch zur Überbrückung von Konfessionsgegensätzen unter Evangelischen seit 1815 bis in die Mitte des 20. Jh. bei. Die nach 1945 erschienenen Kinderbibeln sind auf Abhängigkeit von älteren Vorlagen zu prüfen. Nach 1945 knüpft die Christenlehre in der DDR an Katechetische Kinderbibeln der Bekennenden Kirche (Klara Hunsche 1940; Karl Witte 1940; J. Erb) an und entwickelt sie weiter: z.B. Walter Zimmermann (Hg.), Die Christenlehre (Altenburg 1949, Berlin/DDR 6 1959), im Auftrag der Gehörlosenarbeit der DDR Walter Lieder 1960 2 1961. Biblische Lesebücher: Maria Poetschke/Herwig Hafa, Das Wort läuft, Berlin/DDR 1970 «1986; Werner Schnoor 1972 5 1983. Biblische Erzählungen entstehen im Zuge der aufklärerischen Aufweichung des Inspirationsdogmas im Bewußtsein, durch Erziehung verändernd zu wirken. Da Jeanne-Marie LePrince de Beaumont (1711-1780) in ihrem berühmten Magasin des Enfants (4 Bde., London 1756; mindestens vier zeitgenössische deutsche Übersetzungen) nach John Lockes Forderung
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des Lernens als Vergnügen ihre Schülerinnen Stücke aus der Bibel erzählen läßt, die mit Märchen, historischen und geographischen Schilderungen abwechseln, unterscheidet sie: „Eine Historie ist eine wahre Begebenheit, und ein Mährchen ist eine unwahre Begebenheit, welche man schreibt oder erzählet, den jungen Leuten die Zeit zu vertreiben" (III. Gespräch); beide werden einer Erziehungsmoral unterstellt. Johann Peter Millers erbauliche Erzählungen der vornehmsten biblischen Geschichten ... (Helmstedt 1753, Grimma 1S 1838) wollen das kindliche Gemüt emotional prägen, um schon kleine Kinder Sündenerkenntnis zu lehren im Blick auf Glauben, Leben, Ermahnung, Strafe und Trost. Sie sind zwischen lutherischer Orthodoxie und Pietismus einzuordnen. Aufklärer wie die Zürcher Ascetische Gesellschaft (Altes Testament 1772, Neues Testament 1774), Jacob Friedrich Feddersen (1776), der Katholik Christoph v. Schmid (1801; ungezählte Auflagen und Bearbeitungen) und Johann Peter Hebel als bürgerlicher Erzähler im Biedermeier (1824, letzte Bearbeitung 1981 mit Bildern von Gustave Dore), Pietisten wie Christian Gottlob Barth (1831, zuletzt 1945) und liberale Lehrer wie Franz Wiedemann (1854 2 + 1924), die Schweizer Gottfried Frankhauser (4 Bde., Basel/Bern 1929ff) und Ernst Imobersteg (3 Bde., Zürich 1949ff), der aus ländlichem Arbeitermilieu stammende niederländische Jugendschriftsteller Anne de Vries (Kinderbibel 1955, Auflage: 1428000 im Jahr 1986; Neubearbeitung 1988), Jenny Robertson (engl. 1974, dt. als Brunnen-Kinderbibel 1976) und andere bearbeiteten beliebte Erzählbücher oft mit Infantilismen und moralisierenden Wertungen, die Vorurteilsbildung fördern können. Die Bibelgestaltungen jüdischer Autoren wie Schalom Asch (Berlin 1923 mit Holzschnitten von Hans Holbein d. J., zu Gen 28 mit Gottesbild) und Abrascha Stutschinsky (1964 mit Illustrationen von Amy Bollag u. Marion Etter) sowie die Bearbeitung durch sog. Sekten, z.B. Mein Buch mit biblischen Geschichten (engl. 1978, hg. v. der Watch Tower Society) und neuerdings analoge islamische Versuche bedürfen der Analyse. In der Gegenwart sind vor allem Versuche aus den calvinistisch geprägten Niederlanden zu nennen: Johanna Klink 1969; hcilsgesch.: Sipke van der Land 1976; Evert Kuijt/ Reint de Jonge 1977; Karel Eykmann/Bert Boumann 1978. Kritisch dagegen die „frechfrommfröhlichfreie" Neuerzählung zum Alten Testament von Fred Denger (Frankfurt 1984 8 1988), die Jugendliche von sich aus lesen, die theologisch eher als Antitext einzuordnen ist. Bilderbibeln: „Von den 17 dt. Bibeln vor Luther waren 15 illustriert" (TRE 6,148,20). Als Leyen Bibel im Erziehungskontext vermögender Familien spielten bebilderte Historienbibeln wie die Luther- und Zürcherbibel, Bilderkatechismen und Erbauungsliteratur bis zu Matthäus Merian (Icones Biblicae, Frankfurt 1625-1627; Biblia, Straßburg 1630) über Generationen eine Rolle. Im Rückblick auf seine Kindheit (geb. 1749) schrieb Goethe: „die große Foliobibel mit Kupfern von Merian ward häufig von uns durchgeblättert", sie habe ihn mehr interessiert als der Religionsunterricht des Hauslehrers (Dichtung u. Wahrheit 1,1). Eine Emanzipation der Illustrationen vom Text setzt in der 2. Hälfte des 16. Jh. ein und nimmt zu mit dem künstlerischen Rückgang der Bibelillustration im 17./18. Jh. und dem Übergang zu billigen, betzubindenden Bildserien zu unterschiedlichen Bibelbearbeitungen für Kinder. Während herausragende Einzelleistungen wie die biblischen Bilderrätsel von Melchior Mattsperger in der Tradition der Spruchbücher (Augsburg 1688), die mnemotechnischen Versuche von Johannes Buno (1674,1680), die Kinder- und Bilder-Bibel von Christoph Heinrich Kratzenstein (Erfurt 1737), die für die Jugend gedachte Gantz neue Biblische Bilder-Ergötzung . . . (Nürnberg, Endter o. J.) mit moralisierenden Vierzeilern unter Vermeidung von Gottesdarstellungen und mit der Erde als Kugel und der Poetische(r) Bilderschatz . . . (Leipzig 1758) in klarer Einheit von Bild und Text konzipiert sind, belegt die Geschichte der zu dem vielbenutzten Hübner beigehefteten Illustrationen und vergröbernden Nachstiche den Verfall der Bebilderungstradition (Lachmann). Philanthropen (Ringshausen 139ff) klagten über die künstlerische u. pädagog. Minderwertigkeit der Schul- und Kinderbibeln. Christian G. Salzmanns (1780) Kritik an Gottesbildern (zit. Lachmann 35) ist beachtenswert. Während um 1800 Schulbi-
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beln auch aus Preisgründen meistens bildlos sind, können die je 60 Biblischen Geschichten des Kupferstechers Johann Rudolph Schellenberg mit Kurzerzählungen vermutlich von Johann Caspar Lavater (Winterthur 1774,1779) als Neubeginn klassizistischer Prägung gewertet werden. Unter romantischem Einfluß entstanden weitere Neugestaltungen: Friedrich von Oliver, Volks-Bilder-Bibel (Hamburg 1836) und seine —in Verbindung mit Wilhelm Hey - Erzählungen aus dem Leben Jesu (Hamburg 1838), Peter Scheitlin (St. Gallen 1843), Wilhelm Corrodi (Zürich 1842/44), Albert Knapp (mit 24 Stahlstichtafeln, Nürnberg 1842/43 3 1853) und Th. Fliedner (Hg.), Schul-Bilderbibel . . . (in Teilen seit 1836, zuletzt Kaiserswerth 1884). Die großformatigen Stiche sollten mehreren Kindern zugleich „durch gute Bilder, die der Erhabenheit des Gegenstandes angemessen sind, das Gehörte noch eindringlicher und anschaulicher . . . machen" (A. Detmer in einer Anzeige Weihnachten 1844). Drei Gesichtspunkte wirken bei Fliedner zusammen: Erziehung des Kleinkindes im Sinne der Erweckung, Anschauung nach Pestalozzi und Bildgestaltung im Geist der ->Nazarener. Ein Heft mit Versen (1852) und eine methodische Anleitung von J.F. Ranke ( 3 1873) ergänzten das Werk, das sich vielleicht wegen Format und Preis nicht breit durchsetzte. Romantisch-katholisierende Darstellungen der Mutter-Kind-Beziehung und der Heiligen Familie am Werktag werden als auch im evangelischen Bürgertum als vorbildhaft gezeigt (A. Lorenz, Das deutsche Familienbild in der Malerei des 19. Jh., Darmstadt 1985; Joseph Führich abgedruckt bei Paul Faulhaber 1896; Gottbüchlein 1933; Christiana-Kinder-Bibel 1976; Kees de Kort 1979). Ferdinand Freiligraths Jugendgedicht Die Bilderbibel (1832), das sich nach Schindler möglicherweise auf Scheitlin bezieht, deutet das Problem an, die Bibel als Bilderbuch in ein fiktives Morgenland zu setzen: „Der Kindheit Lust und Freude - Alles dahin, dahin!" Um die Bibel wieder (?) zum Volksbuch zu machen, werden seit der 2. Hälfte des 19. Jh. Biblische Bilderbücher für Schule und Haus verbreitet: Burkhard Hummel: 30 Biblische Bilder zum Alten Testament u. 30 Biblische Bilder zum Neuen Testament (Schreiber, Eßlingen 1852. Ubers, in 12 Sprachen, sehr verbreitet. Bearbeiteter Nachdruck des Neuen Testaments, Eßlingen 1981). Bis heute wirkt das als Volksbuch konzipierte Lebenswerk des evangelischen Nazareners Julius Schnorr von Carolsfeld, Die Bibel in Bildern (Leipzig 1852-1860): 240 monumentale, gefühlsbetonte, „neudeutsch" wirkende Holzschnitte mit häufigen Gottesdarstellungen u. Textparaphrasierungen zur heiligen Weltgeschichte" des württembergischen Dekans Heinrich Merz (1816-1893) waren fast ein Jahrhundert-Hausbuch, gedruckt in Traubibeln, in ungezählten Kinder- und Religionsbüchern, Verteilschriften, Bibelteilen (zuletzt Neues Testament, Stuttgart 1951) und auf Anschauungstafeln. Neuerdings sind vier Reprints zumeist ohne kunst- und theologiegeschichtlichen Kommentar auf dem Markt (Konstanz 1976, München o. J., Zürich 1972 mit Nachwort von Ingeborg Krueger, verkleinert Dortmund 1978). Zwar wurde die Entstehungsgeschichte von Adolf Schahl nachgezeichnet (Phil. Diss. Leipzig 1936); Werkanalysen, Rezeptionsgeschichte und Analysen über die Folgen für die Mentalitätsbildung fehlen. Auch die Wirkung der nicht für Kinder konzipierten katholischen Bilderbibel in orientalisierendem Colorit von Gustave Dore mit Text von Allioli (franz. 1866, dt. 1867/70, Prachtausg. 1898, Reprint Luxemburg 1978) auf das evangelische Haus blieb unerforscht. Im 20. Jh. gilt dasselbe für Rudolf Schäfer (1878-1961), der als „Maler des deutschen Gemüts" Das Leben unseres Heilandes (Hamburg 1904) von Wilhelm Thiele durch Strichzeichnungen in das evangelische Haus dörflich-kleinstädtischer Prägung verlegte, im Auftrag der Sächsischen Bibelgesellschaft das Dresdener Schmucktestament (1914) und die Schäferbibel ( 6 1929, Stuttgart 1983) mit 384 Schwarzweißzeichnungen im Stile der Kleinkunst der Dürerzeit schuf und der Stuttgarter Jugend- und Familienbibel (1934) Farbbilder gab. Wilhelm Stählin fürchtete, „daß aus solchen Bildern nur eine kurzschlüssige Gemeindeorthodoxie . . . Nahrung zieht, und daß der so dringend nötige Versuch, unsere Gemeinden zu einem gehorsamen Hinhören auf den geschichtlichen Sinn der einzelnen biblischen Bücher zu erziehen, durch diese Art der Bilderbibel maßlos erschwert wird" (MGKK 35 [1930] 117—120). Neuerdings entstand in der DDR eine vom phantastischen Realismus inspi-
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rierte Bilderbibel: Von Gott erzählen. Bilder von Horst Bartsch (1985). - Eine Kritik neuerer Bibelcomics, Bilderbibeln, biblischer Bilder aus der christlichen Kunstgeschichte (z. B. Dietrich Steinwede, Kommt und schaut die Taten Gottes, Göttingen/Freiburg/Lahr 1982) findet sich bei Regine Schindler und Frank Jehle. Ergänzend ist kritisch zu beachten, daß ein Teil der Kinderbibeln Gottesbilder zeigt, eingebunden in ein vorneuzeitliches Weltbild. Trägt naiver Theismus möglicherweise zu einem diffusen Atheismus Erwachsener bei? Außerdem kann die vereinheitlichende Gestaltung durch jeweils nur einen Künstler die Ausbildung eines historisch-differenzierenden Verstehens erschweren. Zu kritisieren ist oft auch die einseitige Auswahl, da Passagen ohne Handlung oder Held meist entfallen. Die Bearbeitung von Bibelteilen für Kinder und Laien ist im 16. Jh. belegt (Luthers Passionale 1529, Repr. Kassel 1929 u. 1982; weitere Beispiele bei Reu II). Leben-JesuDarstellungen werden in der Aufklärung als „lehrende Exempel" (-*Herder) beliebt, z. B. Jacob Friedrich Feddersen, Das Leben Jesu für Kinder (Halle 1775, zuletzt 1827; Feddersen gibt nicht einmal das Vaterunser wörtlich wieder) und Eduard Hufnagel, Leben Jesu für kindliches Herz, Bedürfniß und Leben (Frankfurt/M. 1820), vom theologischen -•Liberalismus weitergeführt, z. B. von Helene Hartmeyer, Bilder aus dem Leben des Herrn Jesu für das kindliche Alter (Gütersloh 1893), Wilhelm Scharrelmann, Jesus der Jüngling (Leipzig 1920), und infolge der neuen Frage nach dem historischen Jesus (Ernst Käsemann) fortgesetzt von Dietrich Steinwede (Lahr/Düsseldorf 1972); mit künstlerischer Bildgestaltung: Rien Poortvliet/Rudolf Hagelstange, Er war einer von uns (nieder). 1974, dt. Oldenburg 1975); John Dräne (Gießen/Basel 1979); ausschließlich nach Lk: Max Bollinger (Lahr 1982); aus der Sicht eines Kirchenfernen (jedoch inhaltlich leider zu ungenau) Frederik Hetmann (Gütersloh 1982). Außerdem sind Themen wie Weihnachten, Jesu Jugend, Schöpfung, Arche Noah, Jona in Biblischen Bilderbüchern zumeist theologisch wenig reflektiert, aber beliebt. Als Bildungsbuch gilt die Bibel schon im Mittelalter (Petrus Comestor, Weltgeschichte des AT u. NT, 12. Jh.; Historienbibeln) vor allem im -»Humanismus (Otto Braunfels, Catalogi 1527, vgl. Reu II), in der Aufklärung (Johann Siegmund Stoy, Nürnberg 1779; Kaspar Friedrich Lossius, Gotha 1804-1812) und in der Gegenwart (vgl. Schindler). Die Fülle der Schulbibeln und Biblischer Lesebücher bedarf gesonderter Untersuchung. 3. Relevanz und
Forschungsdesiderate
Die evangelische Theologie muß die Relevanz des Themas „Kinderbibel" mit historischer und praktisch-theologischer Forschungsabsicht wiederentdecken. Nachwirkungen von Orthodoxie, Pietismus und Rationalismus sowie der Geschichte der -»Bibelübersetzungen auf die Gestaltung heutiger Kinderbibeln bedürfen ebenso der Klärung wie eine zu geringe Rezeption von Erkenntnissen der Bibelwissenschaften. Ideologiekritisch ist zu untersuchen, welche Auswahl bzw. Bearbeitung der Bibel in wessen Interesse getroffen wurde und in welcher Relation die realen Wirkungen von Bild und Text zu den Ursprungssituationen der biblischen Zeugen stehen. Vorurteilsbildung und Rassismusverdacht (z. B. blonde Jesusfigur, blauäugige Kinder, düsterer Judas, unsympathische Pharisäer) müssen vermieden, stattdessen Identifikationsmöglichkeiten eröffnet werden. Dem können thematische Längsschnitte dienen, z. B. Untersuchungen zu theologischen Loci, Vergleiche zwischen Grundwerten der jüdisch-christlichen Traditionen mit Tugenden in Kinderbibeln, Vergleiche zu Bildern und Texten wie „Isaaks Opferung" (Gen 22) und Zwölfjähriger Jesus im Tempel (Lk 2), Klären von Erziehungszielen, vorbildhafter Gestalten, Berücksichtigung von Friedens- und Kriegstraditionen, Prophetenbilder, Frauenund Kinderfiguren und vergessene Stücke der Bibel. Die Bibel enthält mehr, als das Projektionsbedürfnis der jeweiligen Epoche, Leserschicht und theologisch-kirchliche Richtung zu entdecken vermochten. Wechselseitige Rezeptionen belegen, daß die Bibel auch konfessionelle Gegensätze überbrücken kann. Didaktisch fällt der Bruch auf zwischen dem, was acht- bis zwölfjährige „Leseratten" von sich aus verschlingen (Bibelcomics,
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Kindergottesdienst filmähnliche
bebilderte Erzählungen, Volkstümlich-Moralisches wie de
Vries) und theologisch, pädagogisch, künstlerisch verantworteten
Bibelgestaltungen.
W e r die e i n g e s c h r ä n k t e n V e r s t e h e n s m ö g l i c h k e i t e n s ä k u l a r e r H e r a n w a c h s e n d e r für S y m b o l s p r a c h e u n d T e x t e a u s d e m A l t e r t u m k e n n t , w i r d w e i t e r n a c h s a c h - und k i n d g e r e c h t e n V e r m i t t l u n g s f o r m e n d e r B i b e l f ü r die n a c h w a c h s e n d e G e n e r a t i o n d e r c h r i s t l i c h e n G e meinden wie der Gesellschaft überhaupt suchen. D a s „ g l a u b e n d e " oder getaufte Kind d a r f n i c h t v o r a u s g e s e t z t w e r d e n . In d e r D D R s c h ä t z t e H . W a l t h e r ( s c h o n 1 9 5 1 ) , d a ß vielleicht 5 % aller K i n d e r s p ä t e r Z u g a n g z u r V o l l b i b e l finden ( C h r i s t e n l e h r e 1 9 5 1 , 1 7 6 ) . I m K i n d e s a l t e r sind G e r e c h t i g k e i t u n d L i e b e i m K o n t e x t der freisetzenden R e c h t f e r t i g u n g s b o t s c h a f t a l s b i b l i s c h e „ G r u n d w e r t e " zu v e r m i t t e l n , die in d e n K r i s e n d e r s p ä t e n I n d u s t r i e g e s e l l s c h a f t w e i t e r f ü h r e n k ö n n e n . D i e Z u k u n f t des sich w a n d e l n d e n
-»Chri-
s t e n t u m s in seinen p l u r a l e n B e r e c h n u n g e n w i r d d u r c h a l l g e m e i n v e r s t ä n d l i c h e V e r m i t t l u n g e n d e r B i b e l in p r ä g e n d e n L e b e n s p h a s e n m i t b e s t i m m t . Literatur Quellenangaben bei Reents u. Schindler, s.u. Joachim Berger, Instructorium Biblicum..., Berlin 2 1719. - Barbara Becz, Das Bild in der Kinderbibel: Religion heute 1986, 3 5 - 3 8 . - Martin Brecht, Christian Gottlob Barths „Zweimal zweiundfünfzig biblische Geschichten" - ein weltweiter Bestseller unter den Schulbüchern der Erweckungsbewegung: Pietismus und Neuzeit, 1985. FS Andreas Lindt (JGP 11), 1 2 7 - 1 3 8 . - Theodor Brüggemann/Hans-Heino Ewers, Hb. zur Kinder- u. Jugendlit. Von 1 7 5 0 - 1 8 0 0 , Stuttgart 1982. - Caspari, Art. Gesch., bibl.: R E 3 4 (1899) 6 1 9 - 6 2 2 . - Franz Dix, Gesch. Schulbibel, Gotha 1892. - HansJürgen Fraas, Katechismustradition, Göttingen 1971. - Kurt Fror, Art. Bibel IV. Im Unterricht: R G G 3 1 (1957) 1 1 4 7 - 1 1 5 1 . - A d o l f Harnack, Über den privaten Gebrauch der Hl. Sehr, in der Alten Kirche, Leipzig 1912. - Hugo Holtsch, Stud. über den bibl. Geschichtsunterricht in der ev. Volksschule, Breslau 1870. - Johanna Klink, Der kleine Mensch u. das große Buch, Düsseldorf 1978. Heinrich Kreutzwald, Zur Gesch. des Bibl. Unterrichts u. zur Formgesch. des bibl. Schulbuches, Freiburg 1957. - Carl Kühner, Art. Jugendlectüre u. Jugendliteratur (1862): Encyklopädie des gesammten Erziehungs- u. Unterrichtswesens, hg. v. K. A. Schmid, Gotha M880, 8 5 9 - 8 9 6 . - Rainer Lachmann/Christine Reents (Hg.), Johann Hübner, Zweymahl zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien . . . Ausgabe letzter Hand Leipzig 1731, Repr. Hildesheim 1986. - Traugott Mayer, Bibl. Geschichten im Religionsunterricht, Karlsruhe 1972. - H. Merz, Art. Bilderbibel: R E 2 2 (1878) 4 6 3 - 4 6 8 . - H. Merz/D. Hölscher, Art. Bilderbibel: R E 3 3 (1897) 2 1 1 - 2 1 7 . - Christian Palmer, Art. Spruchbuch: Enzyklopädie des gesammten Erziehungs- u. Unterrichtswesens..., Leipzig 9 ( 2 1887) 7 3 - 8 7 . - Christine Reents, Die Bibel als Schul- u. Hausbuch für Kinder, Göttingen 1984. - Dies., Die Jugend Jesu. Ein Exempel für Lehrer und Knaben: ru 1 (1985) 6 - 1 1 . - Johann Michael Reu, Quellen zur Gesch. des kirchl. Unterrichts in der ev. Kirche Deutschlands zwischen 1530 u. 1600, 9 Bde., Gütersloh 1 9 0 4 - 1 9 3 5 , Repr. Hildesheim 1976. - Sabine Rienitz, Johann Peter Hebels Bibl. Geschichtenentwurf 1 9 8 6 , 1 1 - 1 8 . - G e r h a r d Ringshausen. Von der Buchillustration zum Unterrichtsmedium, Weinheim 1976. - Regine Schindler, Die Bibel für Kinder - einst und jetzt, Zürich 1982. - Dies./Frank Jehle, Neuere Kinderbibeln, Zürich 1979 4 1987. - Hans Wolfgang Singer, Julius Schnorr von Carolsfeld, Bielefeld/Leipzig 1911 (Künstler-Monographien 103). — Erich Strohbach, Johannes Buno ( 1 6 1 7 - 1 6 9 7 ) , ein Zeitgenosse des Comenius: Die Schiefertafel 1979, 7 2 - 8 7 . Heinz Wegehaupt, Vorstufen u. Vorläufer der dt. Kinder- u. Jugendlit. bis in die Mitte des 18. Jh., Berlin/DDR 1977. - Ders., Alte dt. Kinderbücher-Bibliogr. 1507-1850, Berlin/Hamburg 1980. Klaus Wegenast, Art. Bibel V.: T R E 6 (1980) 9 3 - 1 0 9 . - D. Weidemann, Art. Bibellesen, Bibellektionen: Encyklopädie des gesammten Erziehungs- u. Unterrichtswesens I, Gotha 2 1876, 6 6 2 - 6 7 7 . Carl Adolf Gerhard v. Zezschwitz, System der christl.-kirchl. Katechetik, 2 Bde., Leipzig 2 1874. Christine Reents
Kinderfragen - » J u g e n d , -»Katechismus, - » K i n d Kindergottesdienst 1. Geschichtliche Entwicklung 2. Kindergottesdienst im Feld der Gemeindepädagogik 3. Zur Didaktik des Kindergottesdienstes 4. ökumenische Aspekte (Literatur. S. 188)
Kindergottesdienst 1. Geschichtliche
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Entwicklung
1.1. Vorläufer? In der Reformationszeit wurden spezielle Veranstaltungen für Kinder eingerichtet, die als kirchliche „Kinderlehren" mit stark katechetischer Ausrichtung oder in der Form von Kinderpredigten (Beispiel: Veit Dietrich in Nürnberg) durchgeführt wurden. Allerdings führt von daher keine unmittelbare Linie zum Kindergottesdienst der späteren Zeit. In der katholischen Kirche begegnen „Spurenelemente" von Kinderpredigt und Kindergottesdienst ab dem späten Mittelalter. Sie bleiben aber aufs Ganze gesehen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Ausnahmeerscheinungen und haben nur eine begrenzte Bedeutung. Im Jahre 1767 kam Friedrich Oberlin als Pfarrer ins Steintal im Grenzgebiet zwischen Elsaß und Lothringen. Seit 1770 sammelte er sonntags die Kinder und ließ sie von Laien in der biblischen Geschichte unterweisen. Daraus entwickelten sich die „christlichen Kleinkinderschulen". Ihr Interesse ist letztlich ein elementar-pädagogisches. Sie präfigurieren die späteren Kindergärten. In Württemberg, Baden und Bayern gab es Einrichtungen, die explizit den Namen „Sonntagsschule" trugen. Dabei handelte es sich um eine der Schulpflicht unterliegende Institution, die der Fortbildung der Jugend und Wiederholung des in der Volksschule Gelernten diente. In der ersten Unterrichtshälfte geht es um religiöse Thematiken, in der zweiten stehen „weltliche" Lernstoffe im Mittelpunkt. Das Ganze hatte aber einen liturgischen Rahmen mit Gebet und Lied. Gleichwohl sind diese „christlichen Kleinkinderschulen" und „Fortbildungs-Sonntagsschulen" keine direkten Vorläufer für die spätere Sonntagsschule anglo-amerikanischer Prägung, wie sie nach 1865 in modifizierter Form auch in Deutschland übernommen wurde. Vielmehr stellt diese Art von Sonntagsschule bzw. Kindergottesdienst etwas völlig Neues dar. 1.2. Der diakonisch-elementarpädagogische Ursprung in England. Die Entstehung in England ist auf dem sozialgeschichtlichen Hintergrund zu sehen. Im Zusammenhang der industriellen Revolution, der wirtschaftlichen Entwicklung sowie der Folgen einer Agrarreform drängte die arme Landbevölkerung immer stärker in die Städte. Ihre Kinder mußten sechs Tage in der Woche arbeiten und hatten keine Chance, Lesen und Schreiben zu lernen, zumal eine allgemeine Schulpflicht erst seit 1870 in England existierte. Robert Raikes, Buchdrucker und Verleger, hatte eines Tages in einer der Vorstädte Londons zu tun. „ D a fiel sein Blick auf eine Gruppe halbnackter Kinder, die sich in den Gassen herumbalgten, und als er mitleidig gegen eine Frau, die unter der T h ü r e eines der Häuser stand, sich darüber aussprach, erwiderte sie ihm: ,Ach, Herr, da sollten sie einmal am Sonntag herkommen! Heute sind die meisten Kinder in der Fabrik - aber am Sonntag sind sie frei, und da bringen sie die ganze Zeit zu in dem wüstesten Treiben, fluchen und schwören, d a ß einem angst und bange wird, und verüben die schändlichsten Dinge. In die Kirche kommen sie niemals, ebensowenig wie ihre Eltern!'" (zit. nach C. Berg 57).
Dieses Erlebnis veranlaßte R. Raikes dazu, den Gedanken einer vorbeugenden Arbeit mit den Kindern in die Tat umzusetzen. Im Juli 1780 brachte er eine Reihe solcher Art verwahrloster Kinder zu Frau King und zahlte ihr und weiteren Frauen einen Schilling pro Sonntag und ließ sie die Kinder nach einem gemeinsamen Besuch des Gottesdienstes im Lesen, vor allem anhand von Bibel und Katechismus, unterrichten. Nach einer Erprobungsphase von drei Jahren trat Raikes im Jahre 1783 an die Öffentlichkeit und publizierte einen Artikel über die Sonntagsschule. Dieser fand in ganz England Beachtung. Nun ging die Entwicklung rasch. Der Londoner Kaufmann William Fox gründete 1785 die Gesellschaft zur Gründung und Unterhaltung von Sonntagsschulen in Großbritannien. 1789 wurden bereits 300000 Kinder in Sonntagsschulen unterrichtet. Bald wurden auch Sonntagsschulen in Wales, Irland und Schottland eingeführt. Raikes schuf also eine diakonisch-elementarpädagogisch orientierte Institution, die im Zusammenhang von fehlendem allgemeinen Volksschulwesen, Kinderarbeit, Proletarisierung, Slums und Mangel an sozialen Einrichtungen zu sehen ist. Raikes stand religiös dem Methodismus nahe und gewiß war ihm auch die religiöse Seite bei diesem Vorhaben wichtig.
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Kindergottesdienst
In Hamburg kam es 1790 - als Ergänzung zum bisherigen Armenschulwesen - zur Errichtung einer Sonntagsschule nach englischem Vorbild. Ihr Zweck bestand darin, die Elementarunterweisung der arbeitenden Kinder zu verbessern und den Kindern zu ermöglichen, dem Gebot der Sonntagsheiligung angemessen nachzukommen. Doch nach 1811 wurde diese Sonntagsschule wieder eingestellt. Zur Gründung der ersten deutschen Sonntagsschule, die Bestand hatte, kam es 1825, ebenfalls in Hamburg. Sie kam durch die Initiative von Johann G. Oncken, dem späteren Begründer der ersten deutschen Baptistengemeinde, zustande, der sich mit Johann W. Rautenberg, einem lutherischen Pfarrer, zusammengetan hatte. Johann H. Wichern übernahm 1832 das Amt eines Oberlehrers an dieser Sonntagsschule, die unter seiner Leitung zu einer Blütezeit gelangte. In den folgenden Jahren kam es in Bremen, Berlin, Erlangen und Elberfeld zur Gründung von Sonntagsschulen. 1838 spricht Wicherns Freund Johann Hartwig Bauer in Hamburg erstmals von „Kinderkirche". Im Jahre 1847 taucht bei Eduard Klaiß der Begriff „Kindergottesdienst" auf. Auf dem Bremer Sonntagsschulkongreß von 1882 wurde später die endgültige Namensumwandlung in „Kindergottesdienst" beschlossen. 1.3. Die gemeindebezogene Sonntagsschule in den USA. Die Entwicklung des Sonntagsschulwesens in den USA ist verknüpft mit dem Namen von Francis Ashbury. 1786 brachte er von einer Englandreise die Idee der Sonntagsschule mit in die USA. Die Tatsache, daß in den amerikanischen öffentlichen Schulen keinerlei Religionsunterricht stattfand, führte dazu, daß das englische Konzept in der Weise verändert wurde, daß die Sonntagsschule zum Ersatz für den fehlenden Religionsunterricht der öffentlichen Schule wurde. So kam es zu einer ausschließlich biblisch-religiösen Orientierung des Unterrichts. 1791 wird die erste amerikanische Sonntagsschulvereinigung gegründet. Zielgruppe sind nicht nur die armen Kinder, sondern die gesamte Jugend der christlichen Gemeinden. Die Sonntagsschule entwickelte sich immer stärker zu einer zentralen Einrichtung der Gemeindearbeit, die noch heute in den USA alle Altersstufen bis ins Erwachsenenalter umfaßt. 1.4. Sonntagsschule als Kindergottesdienst in Deutschland. Daß die anfänglich vor allem von den Freikirchen getragene Sonntagsschulbewegung auch in den evangelischen Landeskirchen Fuß fassen konnte, ist vornehmlich das Verdienst des amerikanischen Kaufmanns Albert Woodruff sowie seines Dolmetschers Wilhelm Bröckelmann. Seit 1863 waren beide Männer in deutschen Städten für die Einrichtung von Sonntagsschulen nach amerikanischem Vorbild eingetreten. 1864 wurde in Stuttgart eine Sonntagsschule gegründet. 1869 forderte man auf dem Kirchentag in Stuttgart bereits programmatisch die „Sonntagsschule als Kindergottesdienst". Die Gemeinden öffneten sich zunehmend für die neue Einrichtung. Die Kirche wird Versammlungsort, der Pfarrer weithin zum Leiter. Die Sonntagsschule vereinigt nun konzeptionell zwei wichtige Dimensionen: die katechetische und die liturgische. Wichtig ist dabei, daß es sich um eine Laieninitiative handelt, die im Laufe der Zeit von den kirchlichen Behörden akzeptiert wurde. Für gemeindepädagogische Theorie und Praxis ist mit diesem Vorgang, daß hier eine von Laien inszenierte und getragene christliche Einrichtung innerhalb der Gemeinden zum Zuge gekommen ist, ein ganz wichtiger Aspekt enthalten, der nicht aufgegeben werden darf, sondern der besonderen „Pflege" bedarf. Die aus der Anfangsgeschichte sichtbar gewordenen unterschiedlichen Motive spielen eine wichtige Rolle. E.Ch. -»Achelis verweist die Sonntagsschule der Evangelisationsarbeit der -»Inneren Mission zu (III [ 3 1911] 314), während er die Kindergottesdienstarbeit im Bereich der Katechetik erörtert und als zweite Katechumenatstufe zwischen der häuslichen Erziehung und dem Konfirmandenunterricht ansiedelt (II [ 3 1911] 339). Bei F. Niebergall (III [1919] 237) heißt es: „Der Kindergottesdienst tritt immer mehr an die Stelle der Sonntagsschule. Denn die Kinder wollen nicht nur unterrichtet werden, sondern sie wollen vor allem feiern und sie sollen feiern lernen." Seit 1930 wird der gottesdienstliche Charakter immer stärker betont und als sein Ziel die Einführung der Kinder in den Gottesdienst als die Feier der Gemeinde herausgestellt. Am deutlichsten findet sich diese Linie bei G. Otto. Anders stellte sich die Situation in der Zeit des Dritten Reiches dar, als der Religionsunterricht in
Kindergottesdienst
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den öffentlichen Schulen faktisch zum Erliegen kam. O. Hammelsbeck (32ff) begründet daher den Kindergottesdienst vom Lehrauftrag Christi her und betont den lehrhaften Aspekt.
Nach 1945 erlebt der Kindergottesdienst eine neue Blüte. Die Reorganisation der Landesverbände sowie die Neubildung des Gesamtverbandes für die Kindergottesdienstarbeit in der EKD vollziehen sich ohne größere Probleme. Die Frage der Liturgie wird ausführlich diskutiert und der Ertrag der Diskussion in Kindergottesdienst-Agenden umgesetzt, die freilich keineswegs überall rezipiert werden. 1.5. Religionspädagogisch-themenorientierter Ansatz seit ca. 1970. Der Prozeß der kritischen Distanzierung im Verhältnis von Kirche und Gesellschaft, wachsende Konkurrenzangebote durch Sportvereine und Fernsehen, die Veränderung der Familienstruktur (wachsende Mobilität) fordern den Kindergottesdienst heraus. Als Antwort darauf wird die themenorientierte Kindergottesdienstarbeit entwickelt. Mit dem thematischen Ansatz bemüht man sich, die Kinder mit ihren Fragen, Problemen und Bedürfnissen in den Blick zu nehmen. Mit der Einführung eines kombinierten Text-Themen-Planes kommt es schließlich zu einem integrativen Gesamtkonzept, in dem das alte Perikopensystem und der neue themenorientierte Ansatz einander produktiv zugeordnet werden. In den letzten Jahren zeigte sich ein besonderes Achten auf den Fest- und Feiertagscharakter des Kindergottesdienstes. Hier meldet sich die liturgische Aufgabe in neuem Gewände. 2. Kindergottesdienst
im Feld der
Gemeindepädagogik
2.1. Eigenständiges Profil? Der Blick in die Geschichte läßt liturgische, pädagogische, missionarische, gottesdienstliche, erziehliche und gesellschaftskompensatorische Motive erkennen. Besonders wird das „Pendeln" zwischen gottesdienstlicher und pädagogischer Akzentuierung deutlich. Offensichtlich reagiert Kindergottesdienstarbeit sehr sensibel auf neue Herausforderungen. In dieser Flexibilität liegt ein erstes Spezifikum. Zum anderen ist es offenbar doch so, daß die Stärke dieses Arbeitszweiges gerade in seiner „ M i s c h f o r m " liegt. Weiterhin hat der Kindergottesdienst Anteil am Grundauftrag von Kirche, der Kommunikation des Evangeliums zu dienen. Eine Kirche, die kleine Kinder tauft, muß dafür Sorge tragen, d a ß diesen die Gabe ihrer Taufe zugänglich ist. Die Kinder brauchen einen eigenen Gottesdienst, der auf ihre Verstehensmöglichkeiten bezogen ist und sich an ihrem Lebensrhythmus orientiert. Auf diese Weise wird das Kind als glaubender Mensch ernst genominen und können die kindgemäßen Formen von Religiosität und Glauben angemessen berücksichtigt werden. Der Kindergottesdienst ist darum nicht eine Vorübung für den Erwachsenen-Gottesdienst, sondern Gottesdienst der Kinder.
Eine weitere Besonderheit sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Kindergottesdienstmitarbeiter stellen in den evangelischen Gemeinden eine große Gruppe dar, die nicht nur zahlenmäßig, sondern auch in ihrer Bedeutung als Modelle des Christseins für die Kinder wichtig ist. Die Beteiligung von Mitarbeitern ist Ausdruck dessen, daß der Kindergottesdienst Sache der ganzen Gemeinde ist. Hier wurde immer schon ein Stück „Beteiligungskirche" praktiziert. Zugleich wird etwas deutlich vom Zusammenhang von Gemeindepädagogik und Gemeindeaufbau. 2.2. Aufgaben des Kindergottesdienstes. Kindergottesdienst ist weder in „sozialtherapeutische Kinderarbeit" (I. Adam) noch in den „Gemeindegottesdienst der ganzen familia Dei" (Schmidt-Lauber) zu überführen, vielmehr hat er als selbständige Einrichtung bei der Kommunikation des Evangeliums vor allem folgende Aufgaben wahrzunnehmen: - Bekanntmachen und Vertrautwerden mit biblischen Texten und der in ihnen aufbewahrten Verheißung. — Aufbau von Beziehungen in der Kindergruppe und Einübung eines christlichen Umgangs miteinander. - Hinführen zu den Festen und Feiern der Feste des Kirchenjahres. — Zugänge eröffnen zu und Einüben von Liedern und Gebeten.
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Kindergottesdienst
- Modelle von Christsein kennenlernen an biblischen Gestalten und gegenwärtig lebenden Menschen. - Anleitung zum sachgemäßen Umgang mit Symbolen, Einübung in Symbolverstehen. - Bemühung um Verstehen von liturgischen Elementen und Anleitung „zum persönlichen Gebrauch". - Im Blick auf die liturgische Bildung und Erziehung geht es auch um die Aufgabe, zum Erwachsenengottesdienst hinzuführen.
Im Handlungsfeld Kindergottesdienst sind verschiedene Handlungsdimensionen miteinander verknüpft, aber die religionspädagogische dürfte besonderes Gewicht besitzen. Hinsichtlich der verkündigenden Dimension wird der Ansatz eines „verkündigenden Erzählens" den Kindern gerecht, weil diese sich im Blick auf die Wege der Aneignung des Glaubens schwerpunktmäßig in einer narrativen Phase befinden. Im Blick auf die gottesdienstlich-liturgische Handlungsdimension geht es um das unmittelbare Erleben von Fest und Feier, zugleich gilt es aber, die Aufgabe einer gottesdienstlich-liturgischen Bildung und Erziehung wahrzunehmen. 3. Zur Didaktik des
Kindergottesdienstes
3.1. Lebenssituation der Kinder und biblische Texte. Die Kindergottesdienstarbeit weiß sich dem biblischen Evangelium von der Menschenfreundlichkeit Gottes und den Kindern in ihrer konkreten Lebenssituation als den beiden Bezugspunkten verpflichtet. Im Alter von 3 bis 7 Jahren sind Kinder noch sehr phantasievoll. Sie werden angeregt durch Geschichten, Symbole und Gesten. Im Zusammenspiel mit Wahrnehmungen und Gefühlen ist die Phantasie in der Ausbildung langfristig wirksamer Bilder und Gefühle ausgesprochen produktiv. Das Weltbild ist, soweit es die Perspektiven anderer betrifft, im Ganzen egozentrisch. Im Alter von 6 bis 12 Jahren wird die Erzählung zum wichtigsten Mittel, um Erfahrungen verarbeiten und zuordnen zu können. Die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können, ermöglicht es, eine Welt zu entwerfen, die auf gegenseitiger Fairneß beruht. Kinder fangen an, für sich selbst Geschichten, Glaubensvorstellungen und Gebräuche zu übernehmen. Symbole werden jedoch noch eindimensional aufgenommen. Gegen Ende dieser Zeit nimmt die Fähigkeit zum logischen Denken, zur systematischen Durchdringung zu.
Im Blick auf die Kindergottesdienstkinder geht es zunächst um das Heimischwerden im christlichen Glauben und seinen Lebensformen. Gemäß dem narrativen Stadium der Kinder sind die biblischen Texte mit ihren Aussagen gerade auf dem Weg des Erzählens zu vermitteln. Die Formel vom „verkündigenden Erzählen" ist darum sachgemäß. Dabei muß nicht ausgeschlossen sein, daß es durchaus Kinderpredigten im engeren Sinne geben kann, wiewohl die Frage der Kinderpredigt auch heute noch kaum bearbeitet ist (so schon Rabus). Der Glaube der Kinder gründet in der Kommunikation mit dem Evangelium, wie sie sich im Gottesdienst der Kinder vollzieht. 3.2. Das Kirchenjahr als didaktisches Prinzip. Der Fest- und Feiertagscharakter des Kindergottesdienstes wurde im letzten Jahrzehnt zunehmend entdeckt. Dabei ist vor allem zu denken an (1) die Feste im Kreislauf des Kirchenjahres, aber auch an (2) Feste aus privatem Anlaß, (3) Personen-orientierte Feste und (4) Themen-/Bibel-/Problemorientierte Feste. Die Kirchenjahresfeste leben nicht zuletzt davon, daß sie sich Jahr für Jahr wiederholen. In der Wiederholung vollzieht sich eine Bestätigung und Vertiefung des jeweiligen zentralen Festthemas. Überlieferung ist auf Wiederholung angewiesen - im Sinne einer notwendigen Vergewisserung. Daß die eigene, schöpferisch-kreative Phantasie hinzukommt, in den Festverlauf einbezogen wird, das ist wichtig im Blick darauf, daß und wie wir Kindern Zugänge zum Kirchenjahr eröffnen. Kinder müssen beides erleben: „Den Grundbestand eines Festes, seinen ursprünglichen Sinn, seine feststehenden und wiederkehrenden Rituale - und die Möglichkeiten, das Fest jeweils mit eigenen Einfällen und Ideen zu gestalten, es zu verlebendigen durch die aktive Beteiligung mit Kopf, Herz und Hand" (T. Klocke/J. Thiele 157). Die einzelnen Feste erfahren ihre Zuspitzung z.T. in Symbolen. Weiterhin sind sie auf ein Lernen angelegt, das generationenübergreifend ist (vgl. Erntedank und Weihnachten).
Kindergottesdienst
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Theologisch gesehen sind sie mit ihren Themen und ihrem Vollzug selbst Symbole der Erlösung, der Freiheit und der Nähe Gottes. So bietet sich das Kirchenjahr als ein wesentliches didaktisches Prinzip für den Kindergottesdienst an. 3.3. Liturgische Bildung und Erziehung. So richtig es ist, d a ß die Kinder gemäß dem Prinzip „Lernen durch T u n " an liturgischen Vollzügen partizipieren, so notwendig ist es doch auch, daß bedacht und besprochen wird, was im Gottesdienstverlauf geschieht. Insofern geht es um eine begleitende liturgische Bildung im Blick auf die Elemente und Abfolge des Gottesdienstes, um Hinführung zu Liedern, Gebctserziehung, Vertrautmachen mit Elementen des Kirchenjahres usw. Der Zusammenhang mit Elternhaus und Kindergarten ist hier von erheblicher Bedeutung hinsichtlich der dort praktizierten Fest-, Gebets- und Sonntagskultur sowie des Umgangs mit Bibel, Symbolen und miteinander. An diesem Punkt gibt es freilich mancherlei Verlegenheiten. Die Entwicklung eines Curriculums für die liturgische Bildung steht noch aus. 3.4. Gemeinsam Glaubenlernen. Kindergottesdienst steht nicht isoliert da, sondern ist auf die Ergänzung durch gemeinsame Veranstaltungen angewiesen, bedarf des generationenübergreifenden Lernens. Es war schon auf die Kirchenjahresfeste hingewiesen worden. Ferner sind die Familiengottesdienste zu nennen. Diese stellen eine vergleichsweise junge Einrichtung dar. In ihnen kommt aber ein wesentlicher Grundzug der neueren Gemeindepädagogik besonders zum Tragen: das gemeinsame, generationenübergreifende Lernen von jung und alt. - Weiterhin ist die Kinderbibelwoche zu nennen. Dabei treffen sich in der Zeit der Schulferien über mehrere Tage Kinder zu gemeinsamer Andacht, Beschäftigung mit biblischen Texten, Singen usw. (vgl. Longardt/Gerts). - Auch bei den Kinderkirchentagen handelt es sich um eine neue Entwicklung, die für den Kindergottesdienst und das Miteinander-Glauben-Lernen von Kindern, Eltern und Gemeinde bedeutungsvoll ist. 3.5. Planen und Gestalten. Die „klassische" Planungsform bestand darin, an jedem Sonntag jeweils einen biblischen Text zu behandeln. Dem entsprach ein reiner Textplan. Die Bemühungen um eine Neugestaltung schlugen sich in Deutschland 1974 erstmals in einem zusätzlichen Themenplan nieder, der 27 Themen aus der Lebenswelt der Kinder anbot. Die weitere Entwicklung führte folgerichtig zu kombinierten Text-Themen-Plänen. Bei der Planung ist der Mitarbeiterkreis voll einzubeziehen - sowohl hinsichtlich der übergreifenden Gesamtplanung wie im Blick auf die Einzelvorbereitung für den jeweiligen Sonntag (vgl. Jantzen). Für die konkrete Durchführung gilt die Losung: methodische Vielfalt bei der Bemühung um die den Kindern gemäßen Lernwege des Glaubens. Dabei verlangt der „Eindruck", den eine biblische Geschichte bei den Kindern hinterläßt, danach, durch verschiedene Gestaltungsformen seinen „Ausdruck" zu finden, damit aus Zuhörern Mitbeteiligte werden. Für ein ganzheitliches Erleben mit Kopf, Herz und Hand ist die Selbsttätigkeit, die Kreativität wesentlich. 4. ökumenische
Aspekte
Die Sonntagsschulbewegung wuchs im 19. Jh. nicht nur in England, USA und Deutschland rasch weiter, sondern breitete sich durch ihre Verbindung mit missionarischen und ökumenischen Impulsen auch auf die Missionsgebiete aus. 1889 fand die erste Welt-Sonntagsschulkonferenz in London statt. 1907 wird die World Sunday School Association gebildet und 1947 entsteht der World Council of Christian Education (WCCE). Austausch, Kooperation und gegenseitige Unterstützung sind Ziele dieser weltweiten Zusammenschlüsse. Im Jahre 1971 geht der WCCE mit dem ökumenischen Rat der Kirchen zusammen. Zunehmend wurde nach der Kirche als einer Lerngemeinschaft und der Stellung der Kinder in ihr gefragt (zur Konsultation von Glion-sur-Montraux vgl. Scutcliffe). Es ist ein besonderes Kennzeichen, daß im ökumenischen Kontext die Frage nach dem die Generationen übergreifenden Lernen im Glauben im letzten Jahrzehnt in allen Kirchen aufgebrochen ist. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage des Abend-
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Kinderkommunion
mahles mit Kindern (-»Kinderkommunion) akut geworden und hat weltweit zu einer Öffnung hin zum Abendmahl mit Kindern geführt (vgl. . . . und wehret ihnen nicht!). In der katholischen Kirche stellt sich die Geschichte des Kindergottesdienstes anders dar (vgl. dazu Nastainczyk). Kindergottesdienst und -predigt haben zwar eine gewisse Tradition, bleiben aber letztlich bis in unser Jahrhundert Ausnahmeerscheinungen und von begrenzter Bedeutung. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickeln sie sich in Deutschland aber auf breiter Front. Dabei war zunächst die Verkündigungstheologie wesentlicher Motor. Nach einer Übergangsphase ist die Zeit seit 1968 durch eine wahre Springflut von Materialien und Entwürfen bestimmt, die deutlich machen, daß der Kindergottesdienst sich von der Verkündigung der Erwachsenen „emanzipiert" hat (Nastainczyk 107). 1970 und 1972 legt eine Kommission der Deutschen Bischofskonferenz für Fragen der Kinderund Jugendliturgie Richtlinien und Anregungen für den Gottesdienst mit Kindern vor. Im Jahre 1973 wird das Directorium de missis cum pueris veröffentlicht. Im Jahre 1981 folgt ein „Handbuch zum Lektionar für Gottesdienste mit Kindern", dem 1985 ein zweiter Band folgt. Diese Bände geben Einblick in die gegenwärtige katholische Situation, die nicht zuletzt durch entschiedenen Lebensbezug des Kindergottesdienstes, die Aufnahme von kreativen Methoden und die Frage nach einer angemessenen liturgischen Bildung gekennzeichnet ist. Literatur Ernst Christian Achelis, Lb. der Prakt. Theol., II u. III, Leipzig 3 1 9 1 1 . - G o t t f r i e d Adam, Kindergottesdienst: Gemeindepädagogische Kompendium. Hg. v. Gottfried Adam/Rainer Lachmann, Göttingen 1987,279-313 (Lit.). - Ingrid Adam, Aufgaben u. Ziele des Kindergottesdienstes: Kindergottesdienst heute. Hg. v. Comenius-Institut, Münster, I 1972, 6 8 - 7 2 . - Arbeitsfeld Kinderkirche heute u. morgen. Hg. v. Eberhard Dieterich/Friedrich Horstmeier, Stuttgart 1986. - Friedrich Wilhelm Bargheer, Kindergottesdienst im Feld der Gemeindepädagogik: WPKG 65 (1976) 95-112. Carsten Berg, Konzeptionsgesch. der Sonntagsschul- u. Kindergottesdienstarbeit im dt. Protestantismus seit 1800 unter Berücksichtigung ihrer angloamerikanischen Wurzeln, Diss. Theol. Hamburg 1985. - Paul M . Clotz, Z u r Theorie u. Praxis des Kindergottesdienstes: ThPr 21 (1986) 295-307 (Lit.). - Erhard Griese, Kindergottesdienst u. Helferamt, 1973 (PF 53). - Oskar Hammelsbeck, Der kirchl. Unterricht, München 1939. - Hb. zum Lektionar für Gottesdienste mit Kindern. Hg. v. Ralph Sauer, München/Düsseldorf, I 1981, II 1985. - Hans Hermann Jantzen, Jugendliche Mitarbeiter im Kindergottesdienst - Herausforderung u. Chance: Werkstatt gemeinde 2 (1984) 265-275. - Kindergottesdienst heute. Hg. v. Comenius-Institut, 10 Bde., Münster 1972-1978. - T h o m a s Klocke/Johannes Thiele, Mit Kindern durch das Kirchenjahr, München 1982. - Liturgie im Kindergottesdienst. Hg. v. Paul M . Clotz, Frankfurt a . M . 1985 (Materialhefte Nr. 45). - Wolfgang Longardt, Neue Kindergottesdienstformen, Gütersloh/Freiburg 1973 2 1976. - Ders./Dietmar Gerts, Kinderbibeltage - Kinderbibelwochen, Gütersloh 1987. - Mit Kindern Glauben erfahren. Kindergottesdienst - wohin? Hg. v. Martin Fries/Hans Bernhard Kaufmann, Gütersloh 1987. - Wolfgang Nastainczyk, Kinderliturgie u. Kinderpredigt in Deutschland: Christl.-pädagogische Bl. 93 (1980) 102-111. - Friedrich Niebergall, Prakt. Theol. II, Tübingen 1919. - Gert Otto, Der Kindergottesdienst, Gütersloh 1962. - Siegfried Rabus, Die Kinderpredigt, Hamburg 1967. - Hans-Christoph Schmidt-Lauber, Kindergottesdienst im ev. Deutschland: LJ 29 (1979) 9 4 - 1 1 1 . - John M . Sutcliffe, Learning Community, World Council of Churches 1974. - . . . und wehret ihnen nicht! Ein ökumen. Plädoyer für die Zulassung v. Kindern zum Abendmahl. Hg. v. Geiko Müller-Fahrenholz, Frankfurt a . M . 1981.-Wachsen wie ein Baum. Hg. v. Eberhard Dieterich/Klaus Stolzmann, Stuttgart 1982. Für weitere Literaturangaben sei auf das ausführliche Verzeichnis verwiesen: KindergottesdienstHelferhb. Hg. v. Jürgen Koerver u.a., Stuttgart 3 1985, 503-543.
Gottfried Adam Kinderkommunion Die Anfänge der Kinderkommunionspraxis liegen geschichtlich gesehen im Dunkeln; die Quellenlage ist hier ähnlich unklar wie bei der Frage nach dem Beginn der Kindertaufe (-•Taufe); sachlich greifen beide Problemkreise ineinander. Der in der Alten Kirche schon früh geübte Brauch, daß Neugetaufte sofort nach der Taufe auch das Abendmahl empfingen (vgl. Justin, Apol. 1,65), wurde auch nach der Ausbreitung der Kindertaufpra-
Kinderkommunion
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xis offensichtlich weitergeführt. Eine frühe sichere Bezeugung hierfür findet sich bei -•Cyprian, der von Kindern berichtet, die ctbum et poculutn dotnini empfangen haben (De lapsis 9), sowie in den Pseudapostolischen -»Konstitutionen, die anordnen, daß nach den Witwen auch die Kinder (xä naiöia) das Abendmahl erhalten sollen (VIII,13). Bald schon wurde aus Joh 6,53 die Notwendigkeit der Mahlteilnahme auch für die Kinder gefolgert; dieser Gedanke bekam ein solches Gewicht, daß mit dem Argument der Heilsnotwendigkeit der Kinderkommunion sowohl -• Augustin (De pecc.mer. 1,20; Serm. 174 u.ö.) als auch Innozenz I. (Ep. 182,93) umgekehrt die Notwendigkeit der Kindertaufe begründen konnten. Das dahinter stehende Verständnis des Abendmahls als (päpfiaKOV a9avaaiaQ, wie es bereits seit dem frühen 2. J h . (IgnEph 20,2) verbreitet war, prägt bis heute die Abendmahlspraxis der -»Orthodoxen Kirchen, die den altkirchlichen Brauch der Kinderkommunion in der speziellen Ausformung der Säuglingskommunion durch die Jahrhunderte hindurch beibehalten hat. Begründet mit Joh 6,53 und unter Hinweis auf das Kinderevangelium M k 1 0 , 1 3 - 1 6 sowie die als verbindliche Anordnung verstandenen Aussagen der Pseudapostolischen Konstitutionen, wird in den orthodoxen Kirchen wie den Erwachsenen auch den als Säugling Getauften unmittelbar im Anschluß an Taufe und Salbung mit dem heiligen Chrisma die Kommunion gereicht. Dadurch werden sie mit Christus „mystisch und in einem Leibe vereint"; ihre Seele wird dabei „gereinigt, geheiligt, geistlich genährt und mystisch unsterblich gemacht, der Leib aber empfängt zusammen mit der Seele den Samen der Unvergänglichkeit, der Auferstehung, der Unsterblichkeit und des ewigen Lebens" (Karmins 1060- Da die Kommunion sub utraque als von Gott geboten angesehen wird, bekommen auch die Säuglinge Brot (es werden keine Oblaten verwendet) und Wein, zu dessen Austeilung ein Löffel als eigenes liturgisches Gerät benutzt wird.
Eine völlig andere Entwicklung vollzog sich im kirchlichen Westen. Auch hier breitete sich die Praxis der Kinder- bzw. Säuglingskommunion zunächst in allen Kirchengebieten aus und wurde vielerorts bis ins hohe Mittelalter hinein beibehalten. Die theologische Begründung unterscheidet sich nicht von der im Osten. So findet sich noch bei Walter von Orleans (867) die Anweisung, daß die Eucharistie vom Priester stets bereitgehalten werden solle, damit im Falle einer Erkrankung eines Kleinkindes (parvulus) es sofort kommunizieren könne, damit es nicht ohne Wegzehrung sterbe (Capitula: PL 119,734f). Auch im Westen bekommen die Kinder Brot und Wein unmittelbar nach der Taufe. Der Ordo Romanus (-»Agende 5) schreibt vor, daß bei Kleinkindern dafür Sorge zu tragen sei, daß sie nach der Taufe keinerlei Speise zu sich nehmen und auch nur im äußersten Notfall gestillt werden sollen, bevor sie nicht Anteil am Sakrament des Leibes Christi hätten. Ein Erlaß von Paschalis II. aus dem Jahre 1118 zeigt, daß die Kinderkommunion auch im Westen noch im 12. Jh. gebietsweise verbreitet ist; er bestimmt, daß Kindern und Kranken anders als den übrigen Erwachsenen das in den Wein getauchte Brot gereicht werden solle (Ep. 535: PL 163,442). Relativ früh setzte jedoch auch schon eine gegenläufige Tendenz ein, die bewirkte, daß die Kinderkommunion mehr und mehr aus der Übung kam. Nach einem Beschluß der Synode von Mäcon (585) sollen den Kindern nach Beendigung der Messe und einer zusätzlichen Fastenzeit die Überreste der Kommunion, mit Wein benetzt, gegeben werden. Später finden sich mehrfach Anweisungen, Kindern nur vom ungeweihten Brot und Wein zu geben, womit die Kommunion der Kinder praktisch entleert wird. Ein ausdrückliches Verbot der Kinderkommunion sprach Bischof Odo von Paris bereits 1175 aus, als er anordnete, daß Kindern nicht einmal mehr ungeweihte Hostien gegeben werden dürften (Synodicae Const.: PL 212,66f). Als Ersatz bekommen sie mancherorts vom Wein, der beim Spülen des Kelches anfällt (Ablutionswein), ein Brauch, der sich teilweise in abgewandelten Formen noch jahrhundertelang erhalten hat. Grund für diese Entwicklung ist das zunehmend realistischer und dinglicher werdende Verständnis der Wandlung der Elemente Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi (-»Abendmahl III/2), was eine wachsende Scheu vor den gewandelten Elementen bewirkt; gleichzeitig steigert sich die Angst vor deren Profanierung, was die Frage nach einem
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würdigen Umgang mit ihnen immer mehr in den Vordergrund rücken läßt. Zudem bringt die wachsende Ehrfurcht auch die Forderung nach Anbetung und Verehrung der gewandelten Elemente mit sich ( - » T h o m a s von Aquin; Entstehung des Fronleichnamsfestes). All dies scheint bei Kindern nicht in ausreichendem Maße gewährleistet zu sein. So besteht ein innerer Zusammenhang zwischen dem Beschluß des IV. Laterankonzils im Jahre 1215 (-»Lateransynoden), die Wandlungslehre zu dogmatisieren, und der erstmaligen Festsetzung einer unteren Altersgrenze für die erste Kommunion durch eben dieses Konzil. Der Konzilsbeschluß (DS 812) bestimmt, daß die Pflicht zur Teilnahme an der Kommunion erst mit Erreichen der „anni discretionis" beginnt; gemeint ist das Alter, in dem der Vernunftgebrauch einsetzt und das Kind somit in der Lage ist, die geweihte Hostie von anderer Speise zu unterscheiden. Zugleich geht man davon aus, daß mit dem Vernunftgebrauch auch die Verantwortung des Menschen für seine Tatsünden beginnt und er daher nun der heiligen Kommunion bedarf. Obwohl man unter den „anrti discretionis" ursprünglich etwa das 7. Lebensjahr verstand, verschob sich das Erstkommunionsalter schon bald auf die Zeit zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr. In Konsequenz dieser Entwicklung verneinte das Konzil von Trient (-»Tridentinum) dann endgültig die Heilsnotwendigkeit der Kleinkinderkommunion (Sess. XXI, can. 4): „Si quis dixerit, parvulis antequam ad annos discretionis pervenerint, necessariam esse Eucharistiae communionem: anathema sit" [Wenn jemand behauptet, für Kinder sei die Teilnahme an der Eucharistie notwendig, bevor sie das Alter der Unterscheidungsfähigkeit erreichen, dann sei er verworfen] (DS 1734). In den folgenden Jahrhunderten blieb in der römisch-katholischen Kirche als Erstkommunionsalter das 1 0 . - 1 4 . Lebensjahr die Regel, wobei besonders im protestantischen Norddeutschland auch das Gegenüber zur Konfirmation eine Rolle spielte (vgl. Fischer 23); im Jansenismus (-»Jansen/Jansenismus) rückte es sogar bis zum 1 6 . - 2 0 . Lebensjahr hinauf. - Eine grundlegende, bis heute prägende Neuerung war die Einführung einer gemeinsamen feierlichen Erstkommunion im Zuge der Volksmissionen der Jesuiten im 17./18. Jh. Sie wurde noch im 18. Jh. allgemeiner Brauch, zusammen mit dem vorbereitenden Erstkommunionsunterricht. Eine tiefgreifende Änderung der Kommunionspraxis und besonders des Erstkommunionsalters der Kinder brachten dann erst die Dekrete des „eucharistischen Papstes" -»Pius X . ( 1 9 0 3 - 1 9 1 4 ) . Im Dekret Quam singulari vom 8 . 8 . 1 9 1 0 ordnete er die Vorverlegung der Erstbeichte und der Erstkommunion an (DS 3530), wodurch den Kindern das ihnen in der Taufe grundsätzlich gegebene Recht, an der Eucharistie teilzunehmen, zurückerstattet wurde. Die Rückkehr zur Kinderkommunionspraxis des Hochmittelalters, ohne dabei in Widerspruch zu den Festlegungen im Gefolge des IV. Laterankonzils und besonders des Tridentinums zu geraten, wurde hier dadurch ermöglicht, daß deren grundsätzliche Entscheidungen zwar übernommen, die einzelnen Anforderungen an die Kinder aber auf das unbedingt Notwendige begrenzt wurden. So ist nicht mehr der volle Gebrauch der Vernunft gefordert, sondern nur, „daß sie einigermaßen ihren Verstand gebrauchen können" (DS 3531); auch ist keine volle Kenntnis der Glaubenswahrheiten erforderlich, „es genügt die Kenntnis der ewigen Grundwahrheiten, d. h. sie einigermaßen zu kennen" (Jorio 17). Die „anni discretionis" werden, wie schon 1215, auf etwa das 7. Lebensjahr festgesetzt (D 3530); hier beginnt die Pflicht, dem Doppelgebot der Beichte und der Kommunion Genüge zu leisten. Daß diese Pflicht erst mit dem „Unterscheidungsalter" beginnt, ist begründet in der Auffassung, für die Kinder bestehe die Notwendigkeit der hl. Kommunion und die Verpflichtung dazu von der Zeit an, wo sie durch Sündigen die Taufgnade verlieren können" (Jorio 12), sowie durch die darin begründete enge Verklammerung von Beicht- und Kommunionssakrament. Das Dekret Quam singulari von 1910 ist bis heute grundlegend für die Praxis der Kinderkommunion der katholischen Kirche. Die Kirchen der Reformation kannten von Anfang an keine Kinderkommunion. Z w a r wurden von den Reformatoren gerade im Bereich der Abendmahlslehre grundlegende dogmatische Entscheidungen des Hochmittelalters nicht übernommen - so etwa die Wandlungslehre (-»Abendmahl III 3) - , doch sie änderten nichts an den Konsequenzen, die etwa die Entscheidungen des IV. Laterankonzils für die Kommunion der Kinder gehabt hatten. Die Reformatoren übernahmen das Erstkommunionsalter, das zu ihrer Zeit üblich war, eben das 1 0 . - 1 4 . Lebensjahr. Zudem bekam die in allen evangelischen Kir-
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chengebieten sich rasch ausbreitende -»Konfirmation schon bald ein solches Gewicht, d a ß sie sich nicht nur im katechetischen, sondern auch im theologisch-kirchenrechtlichen Sinne zwischen Taufe und erste Abendmahlsteilnahme schob; die altkirchliche Formel baptismus est admissio w u r d e im Protestantismus ersetzt durch confirmatio est admissio. Die Zulassung zum Abendmahl wurde „eigentlicher Inhalt" der -»Konfirmation, wie der Konfirmationsausschuß der EKD noch 1959 betonte. Begründet w u r d e diese Entwicklung mit der Forderung, d a ß das Sakrament im Glauben angenommen werden müsse (vgl. dazu die reformatorischen Katechismen) sowie besonders mit dem Hinweis auf I Kor 11,27-29, w o von „Selbstprüfen", „Unterscheiden des Leibes des H e r r n " und „ W ü r d i g k e i t " im Z u s a m m e n h a n g der Abendmahlsfeier die Rede ist. Z w a r hatte noch Luther sehr deutlich gesehen, d a ß Paulus in diesem Text nicht von der erstmaligen Zulassung von Kindern zum Abendmahl, sondern von Erwachsenen spricht, u n d k o n n t e ausdrücklich folgern: „Es steht aber nichts im Wege, d a ß auch Kindern das Sakrament des Altars gegeben werden k a n n " (non autem impedit, quin etiam pueris possit sacramentum altarisdari, W A . T R 1, N r . 365 S. 157). Doch bald schon w u r d e in der protestantischen Exegese ohne Berücksichtigung des historischen Kontextes aus I Kor 11 grundsätzlich gefolgert, d a ß Beichtfähigkeit, moralische Integrität und ausreichende intellektuelle Fähigkeit zum Verständnis des Abendmahls unabdingbare Voraussetzungen seien, ohne deren - überprüfte! — Erfüllung eine Teilnahme nicht möglich sei. Während in der anglikanischen Theologie diese Entwicklung schon im 17. Jh. unter Hinweis auf d a s nach d e m Neuen Testament mit der Taufe gegebene Abendmahlsrecht hinterfragt wurde, ohne allerdings zu einer Änderung der Konfirmationspraxis zu führen (vgl. Holeton 88 f), wurden im Bereich der deutschen Landeskirchen besonders im 18. und 19. Jh. die Anforderungen an die Kinder immer mehr verschärft. So rät Ph. J. -»Spener in seinen Theologischen Bedenken dazu, die erste Abendmahlsteilnahme möglichst hinauszuzögern, da eine „würdige niessung" „wahre demuth und erkenntnis unser eigen unwürdigkeit und sündlichen elends erfordert" (IV,243). Der praktische Theologe Alfred Krauss (1836-1892) nennt als Voraussetzung „volle Verständigung über die christlichen Heilswahrheiten und kirchlichen Unterscheidungslehren" (!) (Krauss 42). Im Blick auf die geforderte „Würdigkeit" werden gar ganze Kataloge erstellt über Gründe, jemanden vom Abendmahl fernzuhalten, wobei aufschlußreich ist, in welche Gesellschaft die Kinder hierbei geraten. Claus -» Harms z. B. unterscheidet 1830 drei „rationes distinguendi": „1. ratione des psychischen Zustandes: Kinder, d.h. die noch nicht konfirmiert sind, und Blödsinnige und Wahnsinnige dürfen nicht zugelassen werden." „2. ratione des physischen Zustandes: Wer eine ansteckende Krankheit hat, der nicht." „3. ratione des moralischen Zustandes: Ja, wer in einem Laster offenkundig lebt oder in einem heimlichen ... nein, dem gebe ich ... das Abendmahl nicht" (Harms 11,87-89). Da im Protestantismus des 19. Jh. der Mensch zunehmend von seinen intellektuellen Fähigkeiten her beurteilt wurde, entsprach es allgemeiner Oberzeugung, wenn E. Chr. Achelis betonte, daß „es eine Entweihung des Hl. Mahles ist, es Kindern im unbewußten Alter zu reichen" (Achelis 11,332). Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß in den ersten beiden Auflagen der RGG (1912 und 1929) lediglich der lapidare Satz vermerkt ist: „Die evangelische Kirche kennt keine Kinderkommunion." Um so mehr überrascht zunächst die sich ohne allzu große u n d kontroverse Diskussion vollziehende Wende im deutschen Protestantismus zu Beginn der 70er Jahre unseres Jahrhunderts; innerhalb weniger J a h r e wird sowohl im Bereich des Bundes Evangelischer Kirchen in der D D R als auch im Bereich der EKD in allen Landeskirchen die Kinderkommunion - man spricht dabei allerdings lieber von Abendmahl mit Kindern - zur Erprobung freigegeben. Doch läßt sich nachweisen, d a ß in Theologie und kirchlicher Diskussion in den letzten ca. 150 Jahren Teilprobleme und Einzelaspekte der Kinderabendmahlsproblematik in anderen Z u s a m m e n h ä n g e n sehr wohl schon, o f t bis ins einzelne gehend, erörtert wurden, allerdings ohne d a ß in der Regel die Konsequenz „Kinderkomm u n i o n " bereits in den Blick k a m . So wurde in den vielfältigen Bemühungen u m eine Reform der Konfirmation seit Mitte des 19. Jh. immer wieder die Formel confirmatio est admissio in Frage gestellt und die Trennung von Admission und Konfirmation gefordert, um die erste Abendmahlsteilnah-
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me entweder auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben (so schon J . H . -»Wiehern vor dem Stuttgarter Kongreß für Innere Mission 1869) oder aber in ein früheres Alter vorzuverlegen. Daneben wurde schon früh die kirchliche Praxis kollektiver Hinführung ganzer Jahrgänge zum Abendmahl kritisiert, weil hierdurch das Abendmahl entwürdigt werde, zu wenig auf den Entwicklungsstand des einzelnen Kindes eingegangen werden könne und das Elternhaus aus der Sakramentserziehung und Vorbereitung praktisch ausgeschlossen sei. Von kaum zu unterschätzender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Arbeit der jüngeren liturgischen Bewegung (-»Liturgische Bewegungen). Die in der Agendenreform nach dem 2. Weltkrieg im wesentlichen erfüllte Forderung, „daß die Feier des heiligen Abendmahls aus ihrem unwürdigen Platz als Nebengottesdienst oder Anhängsel an den Hauptgottesdienst befreit und als der eigentliche, freudige Höhepunkt alles gottesdienstlichen Lebens begriffen und gehalten wird" (Berneuchener Buch 109), ließ ganz neu die Frage nach der Berechtigung des Ausschlusses getaufter Glieder der Gemeinde von eben dieser Mitte des Gemeindelebens aufbrechen. Daneben wurde, ausgehend vom Verständnis des Abendmahls als Auferstehungsfest, das von Lob und Dank geprägt ist (eo/apiaxia), die inzwischen ebenfalls verwirklichte Forderung nach Trennung von Beichte und Abendmahl, die damals eine liturgische Einheit waren, erhoben. Mit dem Fortfall der obligatorischen Beichte vor jedem Abendmahl aber wurde ein Hauptargument der protestantischen Tradition gegen die Teilnahme von Kindern am Abendmahl, nämlich die Forderung nach „Beichtfähigkeit", wenn nicht gegenstandslos, so doch zumindest in seiner Überzeugungskraft wesentlich abgeschwächt. Ähnliche Bedeutung kommt der von K. -»Barth ausgelösten Diskussion um die Berechtigung der Kindertaufe zu. Hier ist der Zusammenhang mit der Frage nach der Kinderkommunion besonders deutlich, da die Argumente und Argumentationsketten, die für die Erwachsenentaufe vorgebracht wurden (Reife, Entscheidung, bewußtes Tun etc.) im wesentlichen die gleichen waren wie die Argumente, mit denen in der protestantischen Tradition das Abendmahl den Erwachsenen vorbehalten und die Kinder ausgeschlossen wurden. Die Zurückweisung dieser Argumente im Blick auf die Taufe hat nun auch ihre Anwendung auf das Abendmahl fragwürdig gemacht. Dies gilt z. B. für die Bestimmung des -»Glaubens, der weder von intellektueller Fähigkeit noch von geistiger Reife abhängig sein und noch viel weniger auf ein bestimmtes Lebensalter festgelegt werden kann, sowie besonders für die Zurückweisung der These, daß das Sakrament in den Bereich der Ethik gehöre. Auch die exegetische und liturgiegeschichtliche Forschung über das Abendmahl hat die Bereitschaft, über Kinderkommunion auch im evangelischen Bereich neu nachzudenken, wesentlich gefördert. So stellte z. B. die Erkenntnis, daß die Bedeutung des Abendmahls nicht auf die Vergewisserung der Sündenvergebung eingeengt werden darf, sondern die Aspekte der Gemeinschaft der Feiernden untereinander, der Freude und des Dankes gleichberechtigt zur Geltung kommen müssen, zugleich die Frage nach der Berechtigung des Ausschlusses getaufter, also zum Leib Christi gehörender Kinder. Besonders aber ist hier die Korrektur der traditionellen Deutung der Paulusworte aus I Kor 11,27-29 zu nennen, in denen ja nicht von der Würdigkeit und Beichtfähigkeit der Mahlteilnehmer, sondern von einem würdigen Vollzug der Mahlfeier die Rede ist; damit aber ist gegeben, daß in Vers 29 das öiaxpiveiv TO ampia ( = den Leib unterscheiden) ekklesiologisch zu deuten ist und nicht die Forderung nach einem bestimmten intellektuellen Reifegrad oder gar der Festlegung von anni discretionis, also einem bestimmten Zulassungsalter, stellt. I Kor 11,27-29 aber war bis dahin der einzige „Schriftbeweis", den man zur biblischen Begründung des Ausschlusses von Kindern vom Abendmahl meinte heranziehen zu können. Da es einen anderen Text hierfür nicht gibt, müßte sich der Ausschluß getaufter Kinder vom Abendmahl, sollte er biblisch begründet sein, aus dem Wesen des Abendmahls selbst herleiten lassen.
Zu all dem kommt hinzu, daß viele Kirchen der protestantischen Ökumene die Kinderkommunion seit längerem eingeführt oder zumindest erprobt haben. So können in der
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dänischen lutherischen Kirche seit 1955 Kinder ohne Altersbeschränkung nach vorheriger Zustimmung des Pfarrers am Abendmahl teilnehmen. Die finnische lutherische Kirche differenziert seit 1973 zwischen selbständiger (nach der Konfirmation) und nicht selbständiger Teilnahme am Abendmahl; letztere ist ab 5—7 Jahren nach Unterweisung und in Begleitung Erwachsener möglich. In den lutherischen Kirchen Amerikas, einigen reformierten Landeskirchen in der Schweiz, vielen anglikanischen Kirchen wie z. B. in Australien, Neuseeland oder Irland hat sich seit den 60er Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Taufe und nicht die Konfirmation zur Teilnahme am Abendmahl berechtigt (vgl. dazu Holeton/Kenntner). So verwundert es auch nicht, daß seit langem aus der Ökumene deutliche Anfragen an die bei uns geübte Admissionspraxis gekommen sind: „Wenn die Taufe, als Einverleibung in den Leib Christi, von ihrem ganzen Wesen her auf die eucharistische Teilhabe an Christi Leib und Blut hinweist, aus welchen Gründen könnte dann noch eine weitere Handlung dazwischengesetzt werden? Diejenigen Kirchen, die Kinder taufen, ihnen aber die Teilhabe an der Eucharistie verweigern, könnten vielleicht darüber nachdenken, ob sie die Folgerungen der Kindertaufe voll anerkannt und akzeptiert haben" (Accra 1974, Taufe V B 18, ähnlich wieder in Lima 1982, Taufe IV B 14 b). In der Praxis ergeben sich jedoch eine Fülle von Fragen und ungelösten Problemen, die zu sehr unterschiedlichen vorläufigen Festlegungen während der Erprobungsphasen in den verschiedenen Landeskirchen geführt haben. (Eine umfassende Dokumentation aller kirchenrechtlichen Festlegungen und Handreichungen der deutschen Landeskirchen zur Erprobung der Abendmahlsfeiern mit Kindern findet sich in: Comenius Institut Dokumentation 4, 1983.) Grundsätzlich abgelehnt wird die Säuglingskommunion. Das Abendmahl als „Sakrament der Gemeinschaft" erfordert zumindest die Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung sozialer Bezüge (vgl. I Kor 11), so daß eine Teilnahme von Kindern am Abendmahl vor dem Kindergarten- und Grundschulalter nicht in Frage kommt. Zudem will das Sakrament des Altars im Glauben empfangen werden; einen wie immer gearteten „Kinderglauben" schon im Säuglingsalter anzunehmen, wäre sicher zu weit gegriffen. Unterschiedlich sind die Auffassungen im Blick auf die notwendige Unterweisung bzw. Vorbereitung der Kinder. Unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Lernpsychologie — bei der religiösen Erziehung von Kindern ist die kognitive Komponente des Lernens gegenüber der affektiven und pragmatischen eindeutig sekundär - läßt sich ein learning by doing, eine einübende Teilnahme mit begleitender Unterweisung, durchaus vertreten. Auf diese Weise kann zudem vermieden werden, daß durch einen „Erstkommunionsunterricht" sich doch wieder eine Art von einheitlichem Zulassungsakt für ganze Jahrgänge zwischen Taufe und erste Mahlteilnahme schiebt und die bisherigen praktischen und theologischen Probleme mit der Konfirmation nur in ein früheres Alter vorverlegt würden. Außerdem wäre gewährleistet, daß die Familie als primäre Sozialisationsinstanz in einer seit Luthers KIKat nicht mehr dagewesenen Weise in die Sakramentserziehung mit einbezogen würde; Eltern und Paten wären als erste gefordert, zu antworten, „wenn dich heute oder morgen dein Sohn fragen wird: Was bedeutet das?" (Ex 13,14). Auch der Bedeutung frühkindlicher Erziehung und Prägung — kein Alter ist hier so wichtig wie die ersten sieben Lebensjahre, in denen die Grundmuster späterer Werthaltungen vorgeprägt werden — wird dadurch angemessen Rechnung getragen. Für eine solche Praxis ist allerdings erforderlich, daß die Kirche ihre erwachsenen Gemeindeglieder in einer intensiven Elternarbeit, vom Kindergartenbereich bis zur Konfirmandenelternarbeit, entsprechend vorbereitet und begleitet. Für die begleitende Unterweisung der Kinder haben sich Kindergottesdienst, Kinderbibeltage und -wochen, in deren Vorbereitung und Durchführung Eltern gut miteinbezogen werden können, bereits bewährt. Abendmahlsteilnahme von Kindern, die nicht ohne Begleitung von erwachsenen Bezugspersonen erfolgen soll, geschieht gegenwärtig meist in Familiengottesdiensten; je schneller sich die neue Praxis in den Gemeinden als „normal" einbürgert, um so häufiger
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nehmen Kinder dann auch am Abendmahl im „normalen" Gemeindegottesdienst teil. Dabei ist auf eine sorgfältige Gestaltung besonders auch der nonverbalen Verkündigungselemente (Symbole) besonderes Augenmerk zu legen (Brot statt Oblaten, Gemeinschaftskelch, weißer Talar u. a.). An eine Abendmahlsfeier für Kinder, ähnlich den katholischen „Kindermessen", ist nicht gedacht. Eine solche Praxis evangelischer Kinderkommunion setzt jedoch auf der einen Seite eine kinderfreundliche Kirche voraus - ein Zustand, von dem wir wohl noch recht weit entfernt sind, wenn in 11,5% der Gemeinden (Hannoversche Landeskirche 1985) überhaupt kein -»Kindergottesdienst stattfindet. Auf der anderen Seite ist eine -«Familie erforderlich, die ihre neue Aufgabe begleitender Sakramentsunterweisung wohl nur wird erfüllen können, wenn sie sowohl „intakt" als auch ausreichend kirchlich geprägt und gebunden ist. Beides ist z. Zt. erschreckend im Rückgang begriffen. So ist bei der Einladung der Kinder zum Abendmahl in den Gemeinden ganz besonders die gegenwärtige Situation der -»Volkskirche zu bedenken, deren Grundprobleme am Beispiel der Abendmahlsteilnahme besonders evident werden. So ist z. B. die Frage der Teilnahme ungetaufter Kinder noch ungelöst; auch wenn es hier in Einzelfällen eine Abendmahlsteilnahme auf Taufe hin geben mag, so muß doch, schon aus ökumenischen Gründen, festgehalten werden, daß die Abendmahlsteilnahme ungetaufter Kinder seelsorgerlich begründete Ausnahme bleibt (vgl. dazu Schröer). - Auch der Gegensatz von Kerngemeinde und Randsiedlern der Kirche wird bei der Hinführung von Kindern zum Abendmahl in besonderer Weise spürbar werden und kann zu einer beschleunigten Auseinanderentwicklung dieser beiden Gruppen führen. Daher werden der kirchliche Unterricht und die Konfirmation, deren Bedeutung in Zukunft nicht mehr in der Admission, sondern im feierlichen Abschluß des nachgeholten Taufkatechumenates mit Bekenntnis und Segenszuspruch liegt, mehr und mehr die Aufgabe der Integration sehr unterschiedlich sozialisierter Jugendlicher in die eine Gemeinde Jesu Christi übernehmen müssen. Bei aller Problematik, die die Einführung der Kinderkommunion in der evangelischen Kirche auch mit sich bringt, ist doch die Wiederentdeckung des Grundsatzes „baptismus est admissio" eine große Chance, kirchlich interessierte und engagierte Familien am zentralen Punkt des gottesdienstlichen Lebens der Gemeinde zu stärken und zu einer eucharistischen Glaubenspraxis zu führen. Eine solche Stärkung der Kerngemeinde wird nicht ohne Auswirkung auf den geistlichen Zustand der ganzen (Volks-)Kirche bleiben. Zitierte Quellen Accra 1974. Sitzung der Kommission für Glauben u. Kirchenverfassung. Ber., Reden, Dokumente, hg. v. Geiko Müller-Fahrenholz, 1975 ( Ö R . B 27). - Ernst Christian Achelis, Lb. der Prakt. Theol., Leipzig, II 3 1911. - Augustin, De peccatorum meritis et remissione et de baptismo parvulorum, ad Marcellinum libri tres, 1.1: PL 44, 1 0 9 - 1 5 2 . - Ders., Sermones: PL 38. - Das Berneuchener Buch. Vom Anspruch des Evangeliums auf die Kirchen der Reformation, hg. v. der Berneuchener Konferenz, Schwerin 1926. - Cyprian, Liber de lapsis: PL 4, 4 7 8 - 5 1 0 D . - Didascalia et Constitutiones Apostolorum, 2 Bde., hg.v. Franz Xaver Funk, Paderborn 1905. - Claus Harms, Pastoraltheol. In Reden an Theologiestudierende. Nach der Orig.Ausg. ( 1 8 3 0 - 3 4 ) aufs neue hg. in 2 T., Gotha 1888. Ignatius von Antiochien, Epistola ad Ephesios: P C 5, 6 4 3 - 6 6 2 . - Justin, Apologia prima pro Christianis ad Antonium pium: PG 6 , 3 2 7 - 4 4 0 . - Alfred Krauss, Lb. der Prakt. Theol., Freiburg, II 1893. - Odo von Paris, Synodicae Constitutiones: PL 2 1 2 , 5 8 - 6 8 . - Martin Luther, W a . T R 1. - Paschalis II., Epistolae et Privilegia: PL 1 6 3 , 3 1 - 4 4 8 . - Philipp J a k o b Spener, Theol. Bedencken/Und andere Briefliche Antworten..., 4. T., Halle 1715. - Taufe, Eucharistie u. Amt. Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben u. Kirchenverfassung des ö k u m . Rates der Kirchen, Frankfurt/Paderborn 2 1982 = Dokumente wachsender Ubereinstimmung. Sämtl. Ber. u. Konsenstexte..., hg.v. H. Meyer u.a., Frankfurt/Paderborn 1983, 5 4 5 - 5 8 5 . - Walter von Orleans, Capitula: PL 119, 725 - 7 4 6 . Johann Hinrich Wiehern, Die Aufgabe der ev. Kirche, die ihr entfremdeten Angehörigen wiederzugewinnen (1869): ders., SW, hg.v. Peter Meinhold, Berlin/Hamburg, III/2 1969, 1 4 3 - 1 6 8 .
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Kindertaufe - » T a u f e King, Martin 1. Leben 1.
Luther
(1929-1968)
2. Werk
3. Nachwirkung
(Werke/Literatur S. 197)
Leben
Martin Luther King wurde a m 1 5 . 1 . 1 9 2 9 als Sohn des schwarzen baptistischen Pfarrers Martin Luther King sen., und seiner Frau Alberta in Atlanta, Georgia, geboren. Mütterlicherseits Enkel eines Sklaven, wuchs er im relativen Wohlstand der schwarzen Mittelschicht auf, doch m a c h t e er früh schmerzliche Erfahrungen mit Rassendiskriminierung ( - » R a s s i s m u s ) . 1947 wurde er als baptistischer Prediger (-»Baptisten) ordiniert. Danach studierte er im Norden der USA Theologie (Crozer Theological Seminary in ehester, Penn., 1948-1951; Boston University, 1951-1953). In fundamentalistischer Religiosität (->Fundamentalismus) erzogen, empfand er die Begegnung mit -»liberaler Theologie als befreiend. Nach seiner Heirat mit Coretta Scott (1953) entschied er sich für ein Pfarramt in den Südstaaten: Von 1954-1959 war er Pastor an der Dexter Avenue Baptist Church in Montgomery, Alabama. 1955 promovierte er mit der Arbeit Ein Vergleich des Gottesbegriffs von Paul Tillich und Henry Nelson Wieman. Ende 1 9 5 5 wurde der bis dahin wenig bekannte King zum Vorsitzenden eines Komitees gewählt, das einen spontan entstandenen Protest gegen die Diskriminierung der Schwarzen in den Bussen von M o n t g o m e r y organisierte und nach einem J a h r erfolgreich w a r . Als Sprecher der Bürgerrechtsbewegung, deren organisatorische Basis schwarze Kirchengemeinden waren, erlangte King nationale Prominenz. 1 9 5 7 wurde er Präsident der Bürgerrechtsorganisation Southern Christian Leadership Conference. U m mehr Zeit für seine Führungsrolle im Befreiungskampf der Afro-Amerikaner zu haben, wechselte er 1960 an die Ebenezer Baptist Church in Atlanta, w o sein Vater die erste Pfarrstelle innehatte. King leitete gewaltlose Aktionen in den Südstaaten (u. a. in Albany, 1962; Birmingham, 1963; Selma, 1965), die zur Beseitigung krasser Rassendiskriminierung in öffentli-
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chen Einrichtungen und zu neuen Bürgerrechtsgesetzen (u. a. uneingeschränktes Wahlrecht für Schwarze) führten. King, der in seinem Leben mehr als dreißigmal verhaftet wurde, schrieb 1963 den „Brief aus dem Gefängnis in Birmingham" (Schöpf. Widerstand 56 ff). Anläßlich des „Marsches auf Washington", der schwarze und weiße Bürgerrechtler vereinte (August 1963), artikulierte er seinen Traum einer brüderlichen Gesellschaft („I have a dream", Testament der Hoffnung 121 ff). 1964, erst 35jährig, erhielt er den Friedensnobelpreis. 1966 begann er mit - wenig erfolgreichen - gewaltlosen Kampagnen gegen die wirtschaftlichen Folgen des Rassismus in Großstädten des Nordens (u.a. in Chicago, 1966). Seit 1967 führender Sprecher der Bewegung gegen den Vietnamkrieg, wurde er zur persona non grata bei vielen ehemaligen Verbündeten. 1968 plante er eine „Kampagne der Armen", um auf die Probleme aller Unterprivilegierten in den USA hinzuweisen. Als der 39jährige King zur Unterstützung streikender Müllarbeiter nach Memphis, Tennessee, kam, wurde er, der seit 1955 von Attentaten bedroht war, am 4.4.1968 von einem weißen Amerikaner erschossen, der vermutlich im Auftrag rassistischer Gruppen handelte. 2. Werk Als charismatischer Sprecher und Organisator der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung (-»Menschenrechte) trug King maßgeblich dazu bei, daß die unterdrückten AfroAmerikaner in den Jahren nach 1955 ein neues Gefühl ihrer eigenen Würde gewannen. Der Erfolg der gewaltlosen Aktionen gegen die Rassentrennung in den Südstaaten befreite die schwarze Minorität von dem verbreiteten Gefühl sozialer Ohnmacht und aus politischer Apathie. Ziel der Emanzipationsbewegung (-»Emanzipation) war jedoch nicht nur die Seibscbefreiung der Schwarzen, sondern auch die Befreiung ihrer weißen Unterdrücker zu wahrer Menschlichkeit. Wie keinem Schwarzen vor ihm gelang es King, die weißen Bürger auf die uneingelösten Versprechen der amerikanischen Demokratie und auf ihr Selbstverständnis als Christen anzusprechen. Er war inspiriert von der Vision der „beloved Community" (Stride 84), der „geliebten Gemeinschaft", seinem „Traum, d a ß . . .die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen k ö n n e n " (Testament der Hoffnung 124). Beschränkte er sich in der ersten Phase seines Wirkens (1955—1965) weitgehend auf den Kampf um volle Bürgerrechte für die schwarzen Amerikaner, so wurde er in seinen letzten Lebensjahren (1966-1968) zu einem Anwalt aller Unterdrückten und Unterprivilegierten. Ziel der von ihm geplanten „Kampagne der A r m e n " war „poor people's power": „ M a c h t f ü r die A r m e n " — nicht nur für Schwarze (ebd. 106). Immer wieder betonte er die „Wechselbeziehung zwischen Rassismus, Armut und Militarismus" (ebd. 22 u. 90). Die Erkenntnis dieses strukturellen Zusammenhangs führte ihn in die erste Reihe der Friedensbewegung gegen den Vietnamkrieg.
Die Verschärfung seiner Gesellschaftskritik und seine Befürwortung massenhaften zivilen Ungehorsams in seinen letzten Lebensjahren zeigen: King war kein naiv-harmloser „Apostel der Gewaltlosigkeit". In der Nachfolge Gandhis verstand er Gewaltlosigkeit als „aktiven Widerstand gegen das Böse" (Schöpf. Widerstand 30). Sein Plädoyer für Gewaltlosigkeit bei allen Protestaktionen war verbunden mit Kritik an struktureller Gewalt (-•Gewalt/Gewaltlosigkeit). Er insistierte auf Gewaltlosigkeit, weil er in der Durchbrechung des Gewaltzirkels eine unverzichtbare Bedingung für Selbstbefreiung und gesellschaftliche Versöhnung sah. In einer von Gewalt bestimmten Gesellschaft forderte er eine „Revolution der Werte" (Testament 88). Wenn auch King in seinem Rechenschaftsbericht „Mein Weg zur Gewaltlosigkeit" (Schöpferischer Widerstand 19 ff) die Bedeutung der „Social-Gospel"-Theologie, der Philosophie des „Personalismus" (-»Person) und des Theologen Reinhold -»Niebuhr (vgl. TRE 4,113 f) hervorhebt, so ist festzustellen: Entscheidend für seinen Glauben und seine Theologie waren die Glaubenstraditionen der „schwarzen Kirche" in den USA. Die Hoffnung auf -»Freiheit, das Streben nach sozialer Gerechtigkeit, der Glaube an die erlösende Macht unverdienten Leidens und die gemeinschaftsstiftende Kraft christlicher (Feindes-)
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Liebe sind Elemente schwarzer Frömmigkeit, an die King a n k n ü p f t e , indem er sich auf die Exodus-Tradition, prophetische Sozialkritik und die Jesustradition berief. M i t der „Social-Gospel"-Theologie betonte er nachdrücklich die gesellschaftliche Dimension christlicher Agape (-»Gesellschaft und Christentum). G a n d h i s gewaltlose Kampagnen sah er als einen erfolgreichen Versuch an, Jesu Liebesethik auch bei Konflikten zwischen G r u p p e n ernst zu nehmen. Der von seinen theologischen Lehrern in Boston (E. Brightman, H . DeWolf) vertretene „Personalismus" bestärkte ihn in seinem Glauben an die Gottesebenbildlichkeit und W ü r d e eines jeden Menschen. Sein T r a u m eines brüderlichen Zusammenlebens im „ H a u s der Welt" (Schöpf. Widerstand 87 ff) w a r Ausdruck seines christlichen Universalismus. King forderte von allen Christen und Kirchen - besonders von den Pastoren - „schöpferische Unangepaßtheit" (ebd. 8), die W a h r n e h m u n g einer prophetischen Rolle. Er sah es als ihre vorrangige Aufgabe an, „ f ü r die zu sprechen, die keine Stimme h a b e n " (Testament der H o f f n u n g 79). In der Parteinahme f ü r die Leidenden und Unterdrückten w u r d e er zum Anwalt einer Weltgesellschaft, die rassische, religiöse, nationale und wirtschaftliche Grenzen überwindet. 3.
Nachwirkung
D a ß die schwarze Minderheit in den USA w ä h r e n d der letzten J a h r e - trotz teilweise sich verschärfender A r m u t - deutliche Fortschritte in den Bereichen der politischen Repräsentation und der Bildung gemacht hat, ist eine direkte Folge des Wirkens Kings. Nicht nur in den USA, sondern auch in anderen parlamentarischen Demokratien, wie in Ländern der sog. 3. Welt, inspirieren Kings Visionen und seine „Philosophie der Gewaltlosigkeit" Bewegungen gegen Rassismus, A r m u t und Militarismus. Dazu tragen auch die von King verfaßten Bücher und seine publizierten Reden und Predigten bei, in denen er seine christliche Motivation und seine Erfahrungen mit gewaltlosen Aktionen dargestellt h a t . Das nach seinem Tode gegründete Martin Luther King, Jr., Center for Nonviolent Social Change in Atlanta/USA bemüht sich um die theoretische und praktische Vermittlung seines Erbes. Seit 1986 ist der auf Kings Geburtstag (15. Januar) folgende M o n t a g ein National-Feiertag in den USA (Martin Luther King Day). In weiten Teilen der ökumenischen Christenheit gilt King wegen seines christlich begründeten Widerstands gegen soziales Unrecht in der Form von Rassismus, Armut und Krieg als ein Prophet des 20. J h . Werke Stride Toward Freedom: The Montgomery Story, New York 1958; dt.: Freiheit, Kassel 1964. The Measure of a Man, Philadelphia 1959. - Strength to Love, New York 1963; dt.: Kraft zum Lieben, Konstanz 1964.-Why We Can't Wait, New York 1963; dt.: Warum wir nicht warten können, Düsseldorf 1964. - Where Do We Go from Here: Chaos or Community?, New York 1967; dt.: Wohin führt unser Weg?, Düsseldorf 1968. - The Trumpet of Conscience, New York 1967; dt.: Aufruf zum zivilen Ungehorsam, Düsseldorf 1969. - Testament der Hoffnung. Letzte Reden, Aufs. u. Predigten. Hg. v. Heinrich W. Grosse, Gütersloh 1974 5 1983. - Schöpferischer Widerstand. Reden, Aufs., Predigten. Hg. v. Heinrich W. Grosse, Gütersloh 1980. - A Testament of Hope. The Essential Writings of Martin Luther King, Jr., hg. v. James Melvin Washington, New York 1986 (Lit.). - (Das „Martin Luther King, Jr., Center for Nonviolent Social Change" in Atlanta/USA plant unter der Leitung von Clayborne Carson eine 12bändige wissenschaftliche Edition aller „Martin Luther King, Jr., Papers").
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Heinrich W. Grosse Kingo, Thomas Hansen -»Gesangbuch, -»Kirchenlied Kingsley, Charles -»Sozialismus Kirche I. Altes Testament und Frühjudentum II. Neues Testament III. Alte Kirche IV. Katholische Kirche V. Orthodoxe Kirche VI. Protestantische Kirche VI/1. Reformation und protestantische Orthodoxie VI/2. Neuzeit VI/3. 20. Jahrhundert VII. Dogmatisch VIII. Ethisch IX. Praktisch-theologisch
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Altes Testament und Frühjudentum 1. Volk Gottes als Selbstbezeichnung 2. Erwählungstheologie 3. Wichtige Kollektivbezeichnungen 4. ¿KKXtjaia und ouvaywyrj im hellenistischen Judentum (Literatur S. 216)
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Im Rahmen dieses Artikels hat die Erörterung alttestamentlicher und jüdischer Termini folgende Bedeutung: Die Kollektivbezeichnungen und Ausdrücke für repräsentative Versammlungen sind Hinweise auf politische wie theologische Implikationen und ein bestimmtes Selbstverständnis als Gruppe oder von Gruppen. Erst vor diesem Horizont werden neutestamentliche Versuche der kollektiven Identitätsfindung von Christen verständlich. Die zwischentestamentliche Zeit ist wichtig für die Ent-Nationalisierung (Verlust der Deckungsgleichheit mit -»Israel) vieler dieser Begriffe.
1. Volk Gottes als
Selbstbezeichnung
Das Wort 'am meint ursprünglich die männlichen Verwandten des Vaters bzw. die männliche Großfamilie. Es besteht eine deutliche Tendenz, dieses Wort für -»Israel im ganzen zu verwenden, während andere Völker mit dem Ausdruck gdj bezeichnet werden (charakteristisch ist das Nebeneinander beider Ausdrücke in I Chr 17,21). Außer in Ex 19,4-7; Ps 135 finden sich alle wichtigen Belege im Dtn (Kap. 4; 7; 14; 26; 32). Zum Wortfeld gehören außer „erwählen" (s. u. 2) besonders Begriffe, die das Eigentum Gottes an seinem Volk bezeichnen, sowie das Attribut „heilig". Spätestens Anfang des 2. Jh. v. Chr. nimmt man darüber hinaus an, daß alle übrigen Völker Engeln/Geistern anvertraut sind, während nur Israel allein Gott untersteht (Dtn 32,8f LXX; Sir 17,17; Jub 15,30ff; TPsJ zu Dtn 32,8 f). - Parallel zu „Volk Gottes" wird Israel auch „(erstgeborener) Sohn Gottes" genannt, so zuerst in Ex 4,22; Hos 2,1; 11,1 (für die späteren Belege vgl. Berger, Volksversammlung 194 Anm. 134). - Besonders oft wird die Verbindung Gott/Israel in der Bundesformel („Ich bin euer Gott, ihr seid mein Volk") beschrieben, auf die auch angespielt wird, wenn das Verhältnis zwischen Gott und Volk nicht in Ordnung ist (Hos 1,9) oder erst in Zukunft wieder intakt sein wird (z.B. Jer 31,31). In Sach 2,15 wird diese Beziehung auch auf die Heidenvölker ausgedehnt (sie werden Jahwe zum Volk sein). „Volk Gottes" ist überdies kein statisch gebrauchter Begriff, da Gott (im Exodusgeschehen) sein Volk aus der Mitte eines Volkes herausgeführt hat (Dtn 4,34; Ex 7,5). Durch den Bundesschluß am Sinai wurde es vollends sein Volk (Dtn 4,1 ff), und auch wenn Israel die anbefohlene Ausgrenzung nicht immer realisiert (Jes 1,10), wird es doch für immer sein Volk bleiben (Jer 31,36). 2.
Erwählungstheologie
Wenn im Neuen Testament Gemeinden als „Erwählte" angeredet werden (z. B. I Petr 1,1) oder wenn der Kreis der am Ende Geretteten als Erwählte beschrieben wird (z. B. Mt 22,14), dann greifen frühchristliche Autoren vor allem auf frühjüdische Erwählungstheologie zurück (-»Erwählung I.II), die folgende wichtige Elemente hat: 2.1. „Erwählung" ist Reflexion über das faktische Getrenntsein von anderen Völkern und Bewältigung dieser Isolation vor Gott. Die Erfahrung gegenseitigen Fremdseins zwischen Israel und Fremden wird in der Aussage, gerade Israel sei von Gott erwählt und geliebt, thetisch umgekehrt und so „auf den Kopf gestellt". 2.2. Wo im Frühjudentum die „Väter" nicht mehr als die „Auserwählten" genannt werden, wird in gleichem Maße auch die Erwählungskonzeption von „ganz Israel" gelöst. „Erwählung" bezieht sich dann vor allem auf die Träger der jeweiligen besonderen Offenbarung bzw. Auslegung (Trägerkreise der Henochliteratur und Qumrangruppe: äthHen 1,1.3.8 u.ö.; 1 QS 4,21 f u.ö.). Die Verbindung von „Erwählung" und „Gesetz" (so noch syrBar 48,20ff) wird hier abgelöst durch die von „Erwählung" und „Erkenntnis". Denn diese Gemeinde ist durch neues Wissen erleuchtet und hat darin ihr Wesen. — In der Erwählungstheologie des Frühjudentums spielen generell Mose und die „Väter" fast gar keine Rolle, denn die Heilsgüter der Vergangenheit sind entschwunden, und das gegenwärtige Heilsgut besteht in Erkenntnis. 2.3. Die Erwählungsvorstellung ist hier die soziologische Entsprechung zur apokalyptischen Soteriologie, nach der alles Heil erst zukünftig ist. Darin ist Erwählung durch Gott Summe und Kurzformel der gesamten Heilsgeschichte. Die Einzelposten aus dieser Geschichte (inklusive Exodus) sind verschwunden, Erwählen aber ist ein Tun Gottes, das gerade in der Gegenwart auch noch möglich und sichtbar ist. So ist an die Stelle der Erzählungen über Israels Erwählungsgeschichte die Reflexion über die gegenwärtige Auserwähltheit getreten. Sie ist als das Anderssein (gegenüber den anderen) anschaulich und erklärt wie ein Schlüssel das gesamte Vorher und Nachher, ja wird selbst bis zur -»Schöpfung hin (vorzeitliche Erwählung) ausgedehnt (vgl. AssMos 12,4ff).
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2.4. Die Erwählten sind Gottes Besitz, und daher sind sie — wie der -»Tempel als der typische Besitz Gottes - auch „heilig". Die Kategorien Besitz/Erbe/Heiligkeit sind so die wichtigsten Konstanten der frühjüdischen Erwählungstheologie (so Jub 1,29; 2,19ff; 15,30f). 2.5. Statt der „Völker" sind nun die Sünder zum Gegenbild der Auserwählten geworden. Dem entspricht, daß nach 1QH 16,13; 17,21 ff Gott den Auserwählten davon abhält zu sündigen. So wird Auserwähltheit jetzt durch den Gegensatz Gerechte/Sünder unterwandert. Und dieser Gegensatz ist überhaupt nicht mehr an Israel gebunden. 2.6. Die Unverbrüchlichkeit der Erwählung wird schöpfungstheologisch formuliert in Aussagen über die Erwählung vor der Zeit (AssMos 1,14; IV Esr 6,55), eschatologisch in Aussagen über den ewigen -»Bund (1 QS 4,22; 1 QSb 1,2). Dieser Unverbrüchlichkeit entsprechen auf Seiten der Menschen die Treue (auch moros), das Festhalten und das Bleiben (LibAnt 23,12; 1 QSb 1,1 f; 1 QH 15,23f). -»Beschneidung spielt keine erkennbare Rolle. 2.7. Der Erwählte wird eschatologischer Richter sein: Die Fremdheit, jetzt als Distanz zu anderen Völkern erfahren, wird sich dann in Superiorität umkehren (äthHen 38,3-5; 48,9). Aussagen wie Gen 12,3 mit einer positiven Rolle für die anderen finden sich selten; entscheidend ist nur die Identität durch Abgrenzung. 2.8. Erwählung ist grundlos, Gottes -»Liebe ist die letzte Instanz. Erst in IV/V Esr gehört „Rufen/Berufung" zum Wortfeld. Der Erwählte ist der direkte Partner Gottes und sein unmittelbarer Repräsentant in der Welt. Seine Nähe zu Gott bedeutet qualitative Differenzierung gegenüber allen anderen menschlichen Gruppen. Erwählung ist damit eine vor-moralische Qualifikation, aber gerade deswegen eine „Aufgabe"; in jüdischen Schriften wird sie fast mit Gerettetsein identisch. -•Paulus dagegen zerbricht diese Verbindung: Israel ist im ganzen erwählt, aber gerettet wird man nur durch den zusätzlichen Glauben an -»Jesus Christus. 2.9. Der Bundesgedanke findet sich nur sporadisch; nur in -»Qumran wird er häufig mit der Erwählung der Gruppe verbunden (s. 2.6). 2.10. Ein besonderer Topos wird die Rede von der festgelegten Zahl der Erwählten (numerus electorum), so in ApkAbr 22,6f; 29,17; syrBar 30,2;75,6: IV Esr 4,36f; 6,5; äthHen 47,4, dann auch in Rom 11,25; MartPol 17,2; I Clem 2,4; 58,2; 59,2; Const.Apost. V,15,3; Pistis Sophia 125 (Schmidt 205,17-27); Justin, apol. I 45,1; dial. 138; Ps.-Clem.Rec. 1,42; ActThom 156. - Während ursprünglich bei dem Ausdruck nur an „alle" Erwählten gedacht ist, wird er später mit Zahlenspekulation belastet. In jedem Falle wird der Ausdruck eschatologisch verstanden (alle zum Endheil Bestimmten). 3. Wichtige
Kollektivbezeichnungen
3.1. qahal bezeichnet ursprünglich die zum Jahwekrieg, zur Kultfeier und zur Rechtsprechung versammelte Gesamtheit der männlichen Vollbürger Israels ( q a h a l jhwh zuerst in M i 2,5) und daher im Dtn die Versammlung am Sinai. Trotz des deutlichen Bezugs von 'am jhwh und qahal zu den Institutionen des Jahwekrieges, des Rechts und des Kultus sind in vorexilischer Zeit die Grenzen der mit diesen Begriffen gemeinten Menschengruppe nicht klar und fest umrissen; jedenfalls ist diese Gruppe nicht mit dem staatlich verfaßten Volk identisch, was z . B . der weitere, „gesamtisraelitische" Horizont der vorexilischen Propheten zeigt. - In der persischen Zeit wird das Wort besonders geschätzt und daher in den Chronikbüchern oft gebraucht. In Neh 8,2.17 umfaßt qahal auch Frauen und wird „von der Versammlung g e b r a u c h t . . . , die der feierlichen Verlesung des Gesetzes durch Esra gewidmet war (Neh 8) und, wie die daraufhin folgende Durchführung des Laubhüttenfestes nahelegt, in Parallele z u r . . . Versammlung zur Tempelweihe Salomos oder gar zur Sinaiversammlung steht" (Rost 25). - In späterer Zeit wird das Wort verwendet bei Versammlungen mit Gelegenheit zu Ansprachen politisch-religiösen Inhalts. Die L X X übersetzt qahal meistens mit ÉKKktjaía, aber auch mit ouvaycoyrj. Da ¿KKÁ.r¡aía im Griechischen technisch festgelegt ist (politische Bürgerversammlung, nur die freien Männer betreffend), wird diese Übersetzung vermieden, wo sie unangebracht oder mißverständlich erschien. 3.2.'edah: In der Priesterschrift bezeichnet das Wort die um das Zeltheiligtum Versammelten. Diese Versammlung ist gegliedert, M o s e steht an ihrer Spitze; sie hat keinerlei kriegerische Funktion. Das „Bestreben der Priesterschrift, eine kultisch reine Gottesgemeinde darzustellen, gibt dem Wort eine theologische Bedeutung, die freilich nicht über die von 'am hinausgeht" (Rost 85). Außerhalb von P wird das Wort nur selten verwandt (etwas häufiger in den Psalmen). In Differenz zu qahal ist 'edah nicht das „ A u f g e b o t " zu
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Kriegszügen des Heerbannes, sondern lediglich Kultgemeinde, 'edah wird daher nur für Israel verwandt, was von qahal nicht gilt. In CD wird das Wort Selbstbezeichnung der Gemeinde des „Neuen Bundes". - Die Ubersetzung in L X X erfolgt zumeist durch aovaycoyij, das seitdem die jüdische Kultgemeinde bezeichnet, da Bezeichnungen paganer Kultvereine nicht auf sie anwendbar waren. Nur Dtn verwendet hier häufiger ¿KKhjaia. 4.
¿KKhjaia
und
oovayioyrj
im hellenistischen
Judentum
Indem das hellenistische politische Wort ¿KKhjaia auch in kultischen Kontexten der L X X und darüber hinaus begegnet, werden jüdische religiöse Zusammenkünfte politisch aufgewertet. So nennt -»Philo v. Alexandrien den jüdischen Hohenpriester npvxavig der heiligen ¿KKhjaia (Som 11,186f; SpecLeg 111,131). - Abgesehen davon wird EKKktjaia meist zur Wiedergabe von qahal verwendet, und so erhält die Übersetzung von qahal die besondere Konnotation des Redens und Zuhörens. Auch im paganen Bereich dient die ¿KKhjaia der Mitteilung von Gesetzen. Für Philo ist, wenn er das gegenwärtige Judentum beschreibt, ¿KKÄJjaia vor allem die Zusammenkunft der Gemeinde zum Synagogengottesdienst am -»Sabbat, parallel zu avAloyoq (Belege: Berger, Volksversammlung 173 Anm. 40). Im übrigen ist die jüdische ¿KKhjaia, ähnlich wie die zeitgenössische pagane, vor allem auf Gottes-(bzw. Herrscher-)lob bezogen und ist das Forum des sozialen Prestiges. Die Ältesten der jüdisch-hellenistischen ¿KKhjaia entsprechen in ihrer Funktion direkt den Prytanen im profanen Bereich (vgl. LibAnt 11,8; Jdt 13,12; Joel 2,16; I Makk 14,9 [Sin.]; auch Arist 310). Und schließlich ist die hellenistische Sitte, daß Monarchen ihren Willen der ¿KKhjaia brieflich mitteilen, in besonders hohem Maße gerade für das hellenistische Judentum belegt (Berger, a. a. 0 . 1 7 7 ) . Die Funktion der jüdischen ¿KKktjaia wird besonders gut aus Sir erkennbar (vgl. 1,30; 26,5; 50,20). Das Wort avvaycoyij löst einerseits das ältere Wort npooeuxij als jüdisches „Versammlungshaus" ab, bezeichnet aber andererseits jüdische und christliche „Versammlungen" und die gesamte „Gruppe" (darin parallel zu ¿KKhjaia). Entgegen der Meinung Schräges (ZThK 60; ThWNT 8) ist avvaycoyij nicht im Unterschied zu eKKhjaia besonders häufig mit -»„Gesetz" verbunden; solches läßt sich vielmehr auch für ¿KKkrjaia erweisen, ja es legt sich vom politischen Gebrauch des Wortes her auch nahe (vgl. Berger, Volksversammlung 184 Anm. 92). Wenn die Gemeinde von Qumran sich jähäd (Einung) nennt (z.B. in 1 QS 3,2), so verwendet sie einen Begriff zur Bezeichnung intensiver Gemeinschaft, wie er später bei -•Ignatius v. Antiochien in ähnlichem Sinne wieder begegnet (Phld 2,2 „in eurer Einung"; 3,2 „Einung der Kirche").
II. Neues Testament 1. „ K i r c h e " in der Geschichte des Urchristentums 2. Verschiedene Modelle von Gemeinde und Kirche nach den neutestamentlichen Schriften 2.1. Christologische Begründung 2.2. Erneuertes Israel 2.3. Kultische Identität 2.4. Kirche und Reich Gottes 2.5. Kirche als Gemeinde (soziologischer Ansatz) 3. ¿KKhjaia: Volksversammlung und Institution 4 . Die Bedeutung der „ G e g n e r " urchristlicher Gemeinden für die Entwicklung des Kirchenbegriffs (Literatur S. 216)
1. „Kirche" in der Geschichte des
Urchristentums
Jesus verstand das Gewinnen von Anhängern - laut Auskunft der Evangelien - als Sammeln (z. B. Mt 12,30; Joh 4,36) bzw. Suchen der verlorenen Schafe Israels oder - im Falle der Jüngerberufungen - als Schaffen von Prophetenjüngern. Eigenständig daneben steht die Konzeption der Zwölf (vgl. u. 2.2). Sollte ferner Mk 4,11 par. auf Jesus zurückgehen (vgl. dazu Berger, Einführung 13-18), so werden diejenigen, die Jesus nicht als Lehrer anerkennen, „die draußen" genannt. Vorösterlich könnte auch die Bezeichnung „die Kleinen" (Mk 9,42 par.) sein (s.u. 2.1.4). - In jedem Falle gibt es aber keinen Hinweis darauf, daß zu Lebzeiten Jesu über die korporative Identität des Jüngerkreises so nachge-
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dacht worden wäre, daß sich daraus in irgendeiner Hinsicht eine Konkurrenz zum bestehenden Volk Israel ergeben hätte. Vielmehr geht es um eine besondere, prinzipiell offene Gruppe innerhalb des Volkes. Die Bedeutung von -»Kreuz, -»Auferstehung und Osterglaube (und auch von -•Pfingsten nach Act 2) für das Werden von Kirche ist stark umstritten. Gerade die kritische Exegese hat hier und erst hier mit der Enstehung von Kirche rechnen können, da es auch erst von hier ab -»Glauben und eine „Urgemeinde" gegeben habe. Dieses Konzept wird - wegen der philosophiegeschichtlichen Implikationen - neuerdings infrage gestellt (vgl. Berger, Einführung 2 4 1 - 2 5 3 ) ; dem folgen wir hier. So nehmen wir den entscheidenden Schnitt nicht zwischen der Zeit vor und nach -»Ostern an, sondern erblicken Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Denkmodellen des frühen Christentums, die nicht in strikter zeitlicher Abfolge stehen (deren Resultat dann ein frühkatholisches Kirchenverständnis wäre), sondern eher in einem Nebeneinander, innerhalb dessen auch einige Modelle vorösterlichen Ursprungs sein könnten. Jedenfalls aber geht es um traditionsgeschichtliche Beziehungen und strukturelle Analogien zwischen diesen Modellen. Die lukanische Darstellung von -»Pfingsten (Act 2 , 1 - 1 3 ) hat für unsere Fragestellung nur sehr begrenzte Funktion, da es sich einerseits um die anfangshafte Erfüllung der (Universalismus bedeutenden) Geistverheißung Jesu an die Jünger, andererseits um die ätiologische Klärung der Uberwindung des Problems der Fremdsprachigkeit bei sich ausbreitender -»Mission handeln dürfte (vgl. T R E 12,183 f). Auch im -»Johannesevangelium wird der Paraklet nach Jesu Erhöhung gesandt (14,15ff; 15,26f; 16,5ff), und trotzdem bedeutet das so gut wie nichts für den Kirchenbegriff. Wichtig ist offenbar, daß in der nachösterlichen Zeit die auf Abkömmlinge der Gruppe der Hellenisten (Stephanuskreis) in -»Antiochien zurückleitbaren „Jünger" von Außenstehenden zuerst mit dem Namen „Christianer" genannt (Act 11,26; später auch I Petr 4,16) und damit zum ersten Mal als selbständige Gruppe greifbar werden. Dafür ist bereits christliche Heidenmission vorausgesetzt (Act 11,20b). Ähnlich, aber offenbar in sehr viel radikalerer Weise, geht es vor allem um Heidenchristen in der Mission des -»Paulus, der sich als Heidenapostel berufen weiß (Gal 1,16; 2,9). Seine Gemeinden bestehen sicher unabhängig von synagogalen Verbänden (was man von den Christianern in Act 11,26 nur vermuten könnte), und hier entsteht folgerichtig die Notwendigkeit einer theologischen Bestimmung der „Gemeinden" („[berufene] Heilige", „Auserwählte"; -»„Tempel Gottes", „Leib Christi", „Versammlung" [gr.: ¿KKÄrjoia] usw.). Mit dem Konzept der paulinischen Kollekte werden möglicherweise die heidenchristlichen Gemeinden des Paulus der Gemeinde in Jerusalem zugeordnet, wie analog im Judentum sogenannte „Gottesfürchtige" jüdischen Kerngemeinden (vgl. dazu Berger, Almosen). In der Heidenmission, die neben Paulus betrieben wird (wohl anfänglich auch von Petrus nach seinem Weggang aus Jerusalem, vgl. Act 1 0 - 1 2 ; vgl. ferner das Mt-Ev. und I Petr) wird ebenso wie bei Paulus der Begriff „Versammlung" gebraucht. Im übrigen werden hier schlicht theologische Prädikate Israels auf die Gemeinde übertragen („heiliges Volk", „königliches Priestertum" I Petr 2,9, aber auch „auserwählte Fremdlinge in der -»Diaspora" 1,1). Die Orientierung am Alten Testament ist eher stärker als bei Paulus (Mt und I Petr). Ähnlich ist die Selbsteinschätzung späterer judenchristlich orientierter Gemeinden (Jak 1,1: „Zwölf Stämme in der Zerstreuung"; Jud 1: „Berufene"; Apk 1 , 4 - 6 : „Versammlung", metaphorisch als „Königsherrschaft" und „Priester"). Charakteristisch anders ist die Selbsteinschätzung der Gemeinden im letzten Drittel des 1. J h . vor allem in zwei Bereichen: In Kol und Eph wird ganz entscheidend die paulinische Konzeption vom Leib Christi weiterentwickelt, wohl auch in impliziter Konkurrenz zu politischen Ansprüchen der römischen Kaiser und andererseits so, wie es das für das Judentum nicht gegeben hat. Dagegen stehen die Gemeinden, die Adressaten des Corpus Iohanneum sind (-»Johannesevangelium und -»Johannesbriefe) noch so nahe am Judentum, von dem sie erst frisch getrennt sind, daß eine eigene Ekklesiologie zunächst ganz zu
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fehlen scheint (auch das Bild vom Weinstock in Joh 15 bezieht sich nicht auf die Gruppe, sondern auf das Verhältnis jedes einzelnen zu Christus) und erst in II Joh belegt ist (die Gemeinde wird als „auserwählte Herrin" angeredet 1; ähnlich allegorisch personifiziert ist die „Versammlung" in Herrn vis 1,1,6 u.ö.). Bezüglich der historischen Entwicklung des Selbstverständnisses der Gemeinden sind daher wohl drei Linien wichtig: a) Weitgehende Übernahme von Prädikaten -•Israels, wie sie besonders in der zwischentestamentlichen Literatur belegt sind (Gemeinde ist dann entweder als parasynagogaler Verband gedacht oder repräsentiert, ähnlich wie auch zuvor schon Diaspora-„Gemeinden", einfach „Israel"). - b) Orientierung an paganen politischen Institutionen bzw. dafür gebräuchlichen Metaphern. - c) Ein korporatives Selbstverständnis ist entweder noch nicht gegeben (Joh; I Joh), oder die Konstituierung der Gemeinde wird erst für die eschatologische Zukunft erwartet (Mt 16,18; Joh 10,16; Did 9,4). - In der zweiten Hälfte des 1. Jh. sind für die Gewinnung überlokaler Strukturen im Kirchenbegriff besonders Rundbriefe („Enzykliken") wichtig, die an mehrere Gemeinden gleichzeitig gerichtet sind (Jak; I Petr; Apk und wohl besonders auch Eph). Gerade hier sind aber wieder die unter a) genannten jüdischen Kategorien (besonders: Diaspora) bedeutsam. Im folgenden gehen wir Modellen frühchristlicher Gemeindekonzeptionen nach, die man für traditionsgeschichtlich und/oder strukturell verwandt halten könnte; wir stellen sie uns nebeneinander als Hauptstränge bzw. Entwicklungslinien vor. 2. Verschiedene Schriften
Modelle
von Gemeinde
und Kirche nach den
neutestamentlichen
2.1. Christologische Begründung 2.1.1. Das paulinische „in Christus" als Ausgangspunkt einer Ekklesiologie. Diepaulinische Christusmystik bedeutet eine überaus enge und heilvolle Gemeinschaft jedes einzelnen Christen und daher auch aller gemeinsam mit Christus. Das zeigen besonders Immanenzformeln wie „Christus in mir" (z.B. Gal 2,20; eher inspirativ gedacht) und „in Christus" (sc. „zu sein"); letzteres bedeutet: Christus ist Ursprung aller heilvollen Kraft und zugleich Ziel aller Verähnlichung mit ihm. In den jüdischen und alttestamentlichen Analogien (meist „Sein in Gott") ging es regelmäßig entweder um Gottes Kraft und Macht, „in" der man existierte oder handelte, oder um Gottes Gesetz und Weisung als die Norm des Leben, an der man sich orientierte, so daß „Darinsein" Treue und Sich-Ausrichten nach einem Maßstab war. Kennzeichen des neutestamentlichen „Seins in Christus" ist nun eine hohe Durchlässigkeit, ja partikulare Aufhebung der Persongrenzen (nicht: der Person; das Ich des Menschen redet ja weiter) gegenüber Christus (Gal 2,20; 3,27f; Rom 6,10f). Denn jeder Christ hat Anteil am Sterben (als Mitsterben in der -»Taufe oder durch den Sühnetod Jesu) und Auferstehen (durch Teilhabe an dem Auferweckungsgeist: vgl. Rom 1,4 mit 8,11) Jesu Christi. Denn darin wird Christus als Macht/Kraft Gottes erfahrbar, so daß Gott jeden einzelnen umgestalten kann. Die besondere Weise der Messianität Jesu ist: Wer zu ihm gehört, hat an ihm teil und wird ihm ähnlich. Und die Kraft Gottes ist so in allen dieselbeeben dadurch sind die Christen untereinander verbunden, und alle früheren Differenzen, die Menschen trennen konnten, entfallen (Gal 3,27-29; I Kor 12,12f). Gal 3,27-29 bedeutet daher: Allein Christus hebt alles Trennende auf, weil er sonst nicht der eine Christus sein kann; der neue Weg zum Heil, den Paulus hier beschreibt, ist nur möglich als Teilhabe aller an der einen Person Jesu Christi, und diese Teilhabe ist so mächtig, daß es dafür keine Vorbedingung gibt. (In den scheinbar teilweise widerstreitenden Texten I Kor 11,2-16; 14,33—36 geht es Paulus dagegen um Gerechtigkeit als je neu zu organisierendes Miteinander unter Menschen; angesichts der schöpfungsmäßigen Unterschiede von 11,8 f gibt sie jedem das Seine, und dem widerspricht nicht, daß in allen Christus der gleiche ist.) Die Grundlage paulinischer Ekklesiologie ist mithin seine Messianologie: Weil Gottes
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eschatologisch geoffenbarte Kraft vollständig an Jesus Christus gebunden ist, kann alles Heil nur in „Identität" mit ihm („Christus anziehen": Gal 3,27; Rom 13,14) bestehen, die nicht Aufhebung der Personalität ist, sondern juristisch-sakramental (Gal 3,13—19) oder inspiratorisch (I Kor 12,12 f) zu denken ist. Über Paulus hinaus hat unter diesem Aspekt der Sühnetod Jesu eine wichtige Rolle: Stellvertretung verbindet die Teilhaber. Daher die Vorstellung, daß Jesus sich so ein Volk, seine Kirche, erwarb (Act 20,28; Eph 5,25-27; vgl. I Petr 1,18 f; Apk 1,5 f und 5,9 f). In Eph 1,4.7 ist dieses Modell verknüpft mit dem der vorzeitlichen Auserwählung aller Christen in Christus. In beiden Phasen aber ist die Verbindung zwischen ihnen äußerst eng. Wichtige Ansätze und Voraussetzungen für diese Denkweise bietet das zwischentestamentliche -»Judentum: Sehr weitgehende Aussagen über die -»Erwählung Israels können alternativ auch von wichtigen Einzelgestalten (Abel, -»Mose, -»Aaron, -»Abraham, -»Isaak und -»Jakob [Israel], im frühen Christentum von -»Jakobus) gemacht werden. Das bezieht sich vor allem darauf, daß die Welt um des Betreffenden willen erschaffen wurde oder durch ihn, daß er der Ersterschaffene vor aller Schöpfung war, oder daß er der eschatologische Richter sein wird. - In jedem Falle werden sehr weitgehende Erwählungsprädikate auf die Gestalt des jeweils einen und einzigen Gerechten übertragen, in ihm konzentriert oder von ihm stellvertretend wahrgenommen (besonders wichtig ist dabei natürlich die Gleichung Jakob/Israel). Diese Möglichkeit der Konzentration des erwählenden Handelns Gottes auf einen einzelnen macht die Bindung neutestamentlicher Ekklesiologie an Christologie verständlich. Dieser einzelne ist dann von Gott unverhältnismäßig bevorzugt, und alles kommt darauf an, zu diesem Gerechten zu gehören, der für Gottes „unvernünftige" Liebe absolut mehr bedeutet als die gesamte restliche Welt. Zu Jesus Christus wird diese Beziehung hergestellt durch Glaube, Nachfolge, Sich-Taufen-Lassen oder durch Teilhabe an seinem Sühnetod. Nach Eph 1,4 besteht seit Ewigkeit Auserwähltsein „in ihm". 2.1.2. Leib Christi. -»Paulus verwendet das Bild in Mahnreden, um Einheit und Verschiedenheit der Gaben aller in der Ortsgemeinde darzustellen (Rom 12,5: „als die vielen sind wir ein Leib in Christus"; I Kor 12,27 „Leib Christi"). Stellte Paulus sich einen kosmischen Riesenleib vor, wie ihn die orphische Dichtung (vgl. Berger/Colpe, Text Nr.524) für Zeus annimmt (so Käsemann, Leib)? 2.1.2.1. Dagegen spricht: a) „Leib" ist bei Paulus Metapher für eine Realität, die nicht selbst „Leib" ist, sondern Teilhabe am Geist durch die Taufe (I Kor 12,13) oder am Sühnetod („Blut" I Kor 10,16 f: Symbol ist der eine Becher beim Mahl) oder einfach am Selbst des Messias („Leib" I Kor 10,16 f; Symbol ist das Brot beim Mahl; -»Abendmahl). Durch alle diese Gaben (Geist, Sühnetod, Selbst des Messias) werden die Glieder der Gemeinde gleichmäßig untereinander verbunden, und daher bieten diese für alle gleichen, wirklichen Gaben die Berechtigung für die Metapher „Leib Christi". - b) Paulus spricht nur von der Ortsgemeinde, nicht von einem kosmischen Phänomen; entsprechend ist die Gemeinde auch nicht der Leib Christi, sondern nur „Leib Christi". - c) Das Verhältnis zwischen dem Selbst des Christus (seinem Leib), dem Brot beim Mahl (Realsymbol des Selbst; über das Brot wird gesagt: „Das ist mein Leib") und der Gemeinde als „Leib" (auf der Grundlage der Teilhabe) ist nach I Kor 10,16f; 11,27.29 differenziert vorzustellen: In I Kor 10,16 meint „Leib" das individuelle, leibhaftige Selbst des Christus, in I Kor 10,17 das auf Teilhabe daran gegründete (durch das Realsymbol des einen Brotes zugleich symbolisierte wie gestiftete) Leib-Sein der Gemeinde. Und nach 11,27.29 wird durch die Verletzung des Leib-Seins der Gemeinde (hier ist nur vom „Leib" die Rede; der Sache nach geht es hier um Nicht-Diskriminierung ärmerer Mitglieder) auch die zugrunde liegende Realität des individuellen Christus selbst tangiert. So ist die Relation GemeindeBrot-Christus weder platte physische Identität noch nur leere Symbolik, sondern repräsentierende Teilhabe. 2.1.2.2. Die Funktion des Bildes vom Leib bei Paulus ist vielfältig: a) Die Verschiedenheit der -»Charismen soll nicht zu Gegeneinander und Rivalität ihrer Träger führen. -
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b) Die Ärmeren und weniger Angesehenen sollen integriert werden - man soll sie weder für überflüssig halten, noch sollen sie sich als nicht zugehörig betrachten. — c) Die Aufforderung, gerade die Verachteten zu ehren, bezieht Paulus auch auf die -»Apostel (vgl. I Kor 12,24 mit 4,9 und 12,28): Im Unterschied zu den Zungenrednern sind Apostel und -»Propheten die am meisten Verachteten in der Gemeinde. - Obwohl Paulus die Zungenrede (I Kor 14,5a.18) und ähnliche Phänomene (I Thess 5,19f) anfänglich bejaht hatte, wird er doch angesichts der Zustände in Korinth vom „kirchenlosen Pneumatiker" zum Gemeindetheologen. So werden die Äußerungen der Geistesgaben mit Hilfe der Organisationsprinzipien hellenistischer Volksversammlungen (Auferbauung, Friedlichkeit, Unterordnung, Schicklichkeit, Wohlanständigkeit, Ordnung) sehr nachhaltig in ihrer —»Freiheit beschnitten. „Leib" ist im Umfeld des Paulus eine politische Metapher (vgl. dazu Berger/Colpe, Texte Nr. 145.450 f.524f) mit folgendem Gehalt: a) Solidarität aller Volksteile aufgrund des wechselseitigen Einander-Bedürfens oder aufgrund der Notwendigkeit, das Zerrissensein in Richtung auf Einheit zu überwinden. Überraschend wichtig sind unscheinbare Glieder, und es gilt das Prinzip der Sympatheia (Plato, pol. 462cd und I Kor 12,26). b) Erheblich verändert wird der Gehalt der Metaphorik, wenn vom Haupt des Leibes (s. u. 2.1.2.3) die Rede ist. Hier geht es jeweils um die metaphorische Legitimation absoluter Autorität dadurch, daß sie für die harmonische Beziehung der Glieder untereinander für konstitutiv erklärt wird. Nimmt man alle überlieferten metaphorischen Modelle von Leib für Gemeinschaft und auch von Haupt des Leibes als Führer der Gemeinschaft zusammen, so ergeben sich fünf Typen: a) Gemeinschaft als Leib (politisch; naturphilosophisch; Paulus). — b) Eine Person ist Haupt des Leibes (politisch; Philo vom Logos; Kol und Eph). - c) Das All als Leib des Zeus (orphisch). - d) Eine Gestalt impliziert eine Gemeinschaft (jüdisch). e) Eine Gemeinschaft ist der Leib einer bestimmten Person (Seneca; Paulus; Kol; Eph). 2.1.2.3. In der unmittelbaren Wirkungsgeschichte des Paulus wird die Metaphorik über Paulus hinaus entwickelt: -»Kol und ->Eph verwenden das Bild des Leibes grundsätzlich in bezug auf Christus als das Haupt; in beiden Briefen geht es auch nicht mehr nur um die Ortsgemeinde. Hier tritt die christliche Metaphorik zur römisch imperialen in ausdrückliche Konkurrenz: Nach Plutarch, Galba 4,3, wird Kaiser Galba aufgefordert, sein Amt als Haupt des Leibes zu übernehmen und Kaiser zu sein. In Senecas Schrift De dementia 1,5,1 f wird zu Nero gesagt: „Du bist der Geist (animus) des Staates, jener ist dein Leib (illa corpus tuum)"; daher sei eben die Güte (dementia) sehr notwendig; vgl. 1,4,1 (Herrscher als Lebensgeist); 11,2,1 (Haupt). - Christliche ¿KKXtjaia tritt hier zur römischen Machtentfaltung in Konkurrenz, ein Konflikt, der sich in demselben geographischen Raum wenig später anders in der Apk zuspitzen wird. Nach Kol und Eph wird der Leib vom Haupt her gebildet und wächst auf es hin. Christus hat in Kol und Eph daher als Haupt des Leibes dieselbe Funktion wie das „in Christus" bei Paulus. Zum Haupt des Leibes gehören bedeutet: Teilhabe an der Sühnewirkung des Todes Jesu und damit an der Auferstehung (Kol 1,18-20), Zusammenhalt des Leibes und Wachstum (Kol 2,19), wobei Wachstum die eschatologische Perspektive anzeigt. Dabei ist für das Christus-Enkomion in Kol 1,15-20 eine redaktionelle Hinzufügung von ¿KKhjaia in V. 18 a keineswegs notwendig anzunehmen. Vielmehr könnte der zweite Teil des Enkomions mit V. 18 beginnen (Aufbau des Ganzen nach dem Schema a-bb-a in den Anfangsworten der Verse), und dieser zweite Teil bezöge sich dann einheitlich auf Aussagen über die „Kirche": Sie ist das Instrument, mit dem Jesus seine Funktion als Versöhner und als Erstgeborener aus den Toten durchsetzt bis hin zur allgemeinen Auferstehung. Auch die Versöhnungsmetaphorik ist politischen Ursprungs. Wichtig für den Kol ist, daß zwar auch Mächte und Gewalten (bezogene Größen wegen des Engeldienstes der Gegner) dem Haupt untergeordnet sind, daß aber nur die Gemeinde Leib dieses Hauptes ist (2,19). Im Eph wird diese Ekklesiologie ausgeweitet: Während auch schon nach dem Kol die Christen von Christus „erfüllt" werden (2,10),
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bietet doch erst der Eph die Vorstellung, daß Christus Haupt und Fülle ist, durch die die Kirche als sein Leib erfüllt wird (1,23 f). Und anders als in Kol wird Christus nicht als das wahre H a u p t gegenüber den Engelmächten dargestellt (die diese Funktion nicht haben, sondern ihm untergeordnet sind), sondern im Eph geht es um die Einheit von Judenchristen (-»Judenchristentum) und Heidenchristen unter dem einen H a u p t , das die Einheit garantiert und prozeßhaft aus sich hervorwachsen läßt (2,14-22; 4,13-16). Die Irrlehre über den Sohn Gottes (4,13) besteht in einer Verkennung seiner Funktion als einheitsstiftendes H a u p t (3,4.6) für Judenchristen und Heidenchristen. Weil „Leib Christi" -»Versöhnung beider bedeutet, ist eine falsche Ansicht über die Kirche auch eine falsche über den Christus (2,14-16). Und Kirche ist für den Verfasser des Eph der eigentliche Inhalt der Offenbarung Gottes am Ende der Zeiten (3,5-12). Ein Vergleich von Eph 4 , 1 - 1 6 und I Kor 12,4-31 ergibt zudem wichtige Unterschiede: In I Kor 12 geht es um Bewahrung bestehender Einheit, im Eph steht sie erst als Ziel vor Augen (4,13). Im Eph sind die Gaben an die Menschen direkt mit der Erhöhung des Herrn verbunden, aber weder heißen sie -»Charismen, noch werden sie auf den Geist zurückgeführt. Sie werden auch nur zur -»„Erbauung" der Gemeinde (Leitung und Belehrung) und nicht im Sinne des charismatischen Reichtums von I Kor 12,8-11 und eben direkt vom Herrn gegeben, so aber ganz an ihn gebunden. Ziel ist im Eph die Vermeidung eines einzigen Irrtums (4,14), in I Kor 12 dagegen die Herstellung apostolischer Autorität in einem allgemeinen Durcheinander. 2.1.2.4. Im Unterschied zu vielen (Ausnahme: Seneca, s.o.) politischen (jüdischen und paganen) Analogien geht es bei Paulus wie in Eph und Kol immer um den Leib einer Einzelperson; sonst ist kaum je die Gemeinschaft „der Leib" eines einzelnen Menschen. Aber ehe man an eine Rezeption dieser seltenen Vorstellung (vgl. auch die Welt als Leib des Zeus, nach Berger/Colpe, Text Nr. 524) denkt, sollte man für den „Leib des Christus" mit einer Verknüpfung des stoischen Organismusdenkens mit dem unter 2.1.1 genannten Repräsentationsprinzip denken. Auch das Wachstum der Kirche zielt nicht auf eine quantitative Annäherung an den Kosmos, sondern ist qualitativ aufzufassen. Da der Eph die am meisten entfaltete Ekklesiologie des Neuen Testaments aufweist, ist deren Bedeutung eigens zusammenzufassen: In der Situation, da eine Reihe von christlichen Gemeinden theologisch „ortlos" sind, da sie entweder ins Judentum oder ins Heidentum zurückzufallen drohen, erneuert der Eph noch einmal das paulinische Modell einer Koexistenz von Judenchristen und Heidenchristen in der Kirche; von Paulus wird die grundlegende Ausrichtung an -»Israel übernommen, doch stärker als bei ihm wird die zentrale Rolle hervorgehoben, die allein der Sühnetod Christi hat. Eine Reihe von Prädikaten Israels (z. B. Erwähltheit vor der Schöpfung) werden christologisch enggeführt und dann ekklesiologisch ausgeweitet. So macht der Eph besonders deutlich, wie eng Ekklesiologie, Christologie und die theologische Beurteilung Israels zusammenhängen. - Da die Kirche auf diese Weise für den Eph selbst Inhalt des Geheimnisses Gottes ist, leibhaftige Offenbarung und das Ende des „Offenbarungsprozesses", ist sie der Inhalt von Gottes -»Weisheit und das „wahre Weltwunder". Die -»„Liebe" übertrifft nach 3,19 deshalb alle Erkenntnis, weil sie in der Kirche Realität wurde, und das ist von keiner Erkenntnis einholbar. Weil Kirche als Raum und Wirklichkeit Tat Gottes ist, ist sie auch in die -»Eschatologie einbezogen: Das Einswerden der Kirche ist das Ziel des eschatologischen Prozesses (4,1 ff, vgl. auch Did 9,4; 10,5). So leistet der Eph (neben M t 16,18 und Did) erste Reflexionen über die universale Dimension von Kirche. Dabei ist die ekklesiologische Metaphorik implizite Kritik am Anspruch des römischen Kaisertums. Schließlich ist die Beziehung Christus/Kirche auch Urbild und Fundament der Relation M a n n / - » F r a u in der -»Ehe; diese wird durch das umfassendere Geheimnis der ersten Beziehung getragen und begründet. Der Anlaß dürfte konkret sein: Der Ausdruck, d a ß die zwei zu einem werden in einem Leib, schafft eine Querverbindung zwischen 2,14.16 und 5,31; er ist ursprünglich sexuell gemeint (vgl. T R E 13,527f). Und nach I Tim 4,7; II Tim 3,6 sind vor allem Frauen Opfer judenchristlicher Propaganda. Daher der Schluß:
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K i r c h e II
D i e M a h n u n g d e r Eheleute zur Einmütigkeit h a t einen A n l a ß in d e r „ k o n f e s s i o n e l l e n " Situation des E p h , in der die F r a u e n eher judenchristlich orientiert w a r e n . 2.1.3.
Menschensohn
und Kirche.
Die b e o b a c h t e t e enge Verbindung v o n C h r i s t o l o g i e
u n d Ekklesiologie gilt a u c h für den M e n s c h e n s o h n und die zu i h m G e h ö r e n d e n . D a s ist bereits in d e r jüdischen Vorgeschichte des „ M e n s c h e n s o h n e s " angelegt ( D a n 7 : R e p r ä s e n t a n t d e r „ H e i l i g e n " ; ä t h H e n 7 1 , 1 7 : G e m e i n s c h a f t m i t d e n G e r e c h t e n , vgl. 6 2 , 8 - 1 5 ) . - Im N e u e n T e s t a m e n t geht es um Z u g e h ö r i g k e i t und Verähnlichung, und z w a r d u r c h G e s c h i c k g e m e i n s c h a f t ( M t 1 9 , 2 8 ; 8 , 2 0 . 2 2 ; L k 6 , 2 2 ; M k 2 , 2 3 f . 2 8 ; 1 0 , 4 3 - 4 5 ) , d u r c h Stellvert r e t u n g ( M k 1 0 , 4 5 ) , d u r c h wechselseitiges F ü r e i n a n d e r - E i n t r e t e n (Lk 1 2 , 8 f ; M t 1 0 , 3 2 f ) o d e r d u r c h T e i l h a b e a n der Vollmacht ( M k 2 , 1 0 p a r . ; M t 1 6 , 1 9 ; 1 8 , 1 8 ; 1 9 , 2 8 ) . W i c h t i g ist, d a ß a u c h die „ G e m e i n d e " hier teilhat a n der strikt e s c h a t o l o g i s c h e n A u s r i c h t u n g der M e n s c h e n s o h n t h e o l o g i e (vgl. das F u t u r in M t 1 6 , 1 8 ) . Die enge Beziehung M e n s c h e n s o h n / G e m e i n d e bleibt a u c h in der M e n s c h e n s o h n - V i s i o n A p k 1 , 1 3 ff e r h a l t e n , in d e r die sieben L e u c h t e r v o r d e m , der wie ein M e n s c h e n s o h n ist ( 1 , 1 3 ) , als die sieben G e m e i n d e n , d i e Sterne in seiner H a n d als deren B o t e n gedeutet w e r d e n ( 1 , 2 0 ) . 2.1.4.
Die „Kleinen"
als Gemeindebezeichnung.
Solche Aussagen ( M k 9 , [ 3 0 ] 3 5 - 4 2 ;
M t 1 8 , 1 - 1 4 ; vgl. M k 1 0 , 4 3 - 4 5 ) finden sich n u r im U m k r e i s der M e n s c h e n s o h n t h e o l o g i e u n d mit einer entsprechenden Dialektik v o n Niedrigkeit ( t r o t z v o r h a n d e n e r V o l l m a c h t b z w . B e d e u t u n g ) und H o h e i t (Wortfeld: g r o ß / k l e i n , g r ö ß t e r / g e r i n g s t e r ,
erster/letzter,
K i n d , D i e n e r , Sklave, sich klein m a c h e n ) . D e r m e t a p h e r n s p e n d e n d e Bereich ist d a s Feld sozialer G e l t u n g (vgl. A c t 8 , 9 f ; M t 5 , 1 9 ) , und dieses ist a u c h der „Sitz im L e b e n " ( z . B . M k 9 , 3 5 ; 1 0 , 4 4 ) . W i e der M e n s c h e n s o h n , s o w e r d e n a u c h die Kleinen n u r in der 3 . P e r s o n ( b e s p r e c h e n d e R e d e ) g e n a n n t (apokalyptische R ä t s e l r e d e ; Bezeichnung e s c h a t o l o g i s c h e r Identität). Die implizierte Weltanschauung hat folgende Elemente: a) Um groß zu sein, muß man selbst klein sein. - b) Weil das Kleinste das Wichtigste ist, muß man sich mit größter Sorgfalt ihm gegenüber verhalten (gegenüber Geboten, Menschen in Not, Gemeindemitgliedern, besonders gegenüber Sündern, Abgefallenen und Verirrten). Das gilt auch gegenüber den sozial weniger Angesehenen, die erfahrungsgemäß leichter durch Ärgernisgeben zu irritieren sind (Abergläubische, Autoritätsgläubige, Labile - ähnlich wie die „Schwachen" bei Paulus), so in M t 18,6.10. - Sinn dieser Aussagen ist: Das dem Augenschein nach Kleine und Geringe ist in Wahrheit groß vor Gott bzw. im Himmelreich. Dieser Dualismus konnte durch die Erfahrung des Geschicks Jesu nur verstärkt werden. - Funktion der Texte ist: Brüderlichkeit (Mt 23,8; 18,15) statt Prestigestreben (so auch unter Verwendung des Titels „die Kleinen" in der ApkPetr [NHC VII/3] 80), genaue Gesetzesbewahrung (Mt 5 , 1 7 - 1 9 ) und vor allem striktes Ernstnehmen scheinbar geringfügiger alltäglicher Handlungen. Gerade der Abschnitt M k 9 , 3 5 - 4 2 zeigt, wie nicht trotz, sondern vielmehr wegen der Rede von Himmelreich und Menschensohn kleine Handlungen des Alltagslebens ernst genommen werden müssen, und es ist bezeichnend, daß hier „Alltag" zusammen mit Kirche/Gemeinde vorkommt: In 9,35 geht es um die Zwölf, um die Existenzbedingung des neuen Israel, in 9,36 wird diese Bedingung ausgeweitet auf das Verhalten zu allem Niedrigen, in 9 , 3 7 - 4 1 begegnet jeweils das Stichwort „in meinem N a m e n " . Unter diesem Aspekt entspricht der Geringe/Hilflose von V.37 dem fremden Exorzisten von V.38 und der geringen Gabe von V.41 — insgesamt Phänomene, deren Verbindung mit Gott dem Augenschein nach als höchst unsicher und zweifelhaft erscheinen mußte. Durch das „im N a m e n " wird das zweifelhafte Tun eingebunden in eine Zielrichtung, die mit Sicherheit auf Gott trifft. Wegen des Namens begegnet man dann in der „Tiefe des Handelns" doch wieder Gott. Die Rede vom Namen Jesu, die Wirklichkeit seiner Kraft, bewahrt daher alltägliches kirchliches Handeln vor der Anfechtung, es sei vergeblich, zweifelhaft oder erfolglos (ganz anders Act 1 9 , 1 3 - 1 7 ) . Die absolute Auserwähltheit Jesu wird übertragen auf die Präsenz seines Namens, der dem Namen Gottes gleichgestellt wird (vgl. Phil 2,9). Der entscheidende Schritt zwischen der Zeit vor und nach Ostern ist daher hier nicht der vom verkündigenden zum verkündigten Jesus, sondern der von der Vollmacht und Auserwähltheit Jesu zum entsprechenden Gebrauch des Namens des Erhöhten. Die Reflexion über die Gemeindegrenzen in M k 9,38 - 4 0 zeigt, daß Jesus (nach M k ) diese „magischsakramental" entgrenzen möchte. Dabei weist die Bedeutung des Namens Jesu auf ein wichtiges charismatisches Element in aller Niedrigkeitstheologie. Daß Gemeinde durch die Reichweite der Verwendung des Namens Jesu bestimmt wird, erweist nochmals die Fundierung der Ekklesiologie in der Christologie. - In M k 9,42 geht es - strukturanalog zum Kontext - um „kleine Ursache/große Wirkung"; den „Kleinen" entspricht im Zusammenhang „Ärgernisgeben" der „Bruder" in I Kor
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8,13; R o m 14,13. Bei den „Kleinen" geht es um Brüderlichkeit in der (hier noch wenig gefestigten und daher anfälligen, vgl. M k 4,17) Gemeinde.
2.1.5. Stein-Metaphorik. Die Einheit von Ekklesiologie und Christologie wird besonders gut sichtbar an Eph 2,18-22; I Petr 2 , 4 - 6 im Vergleich zu 1 QS 8,7 (vom „Rat" der Gemeinde: „Dies ist die erprobte Mauer, der köstliche Eckstein, nicht werden seine Fundamente wanken, eine Stätte des Allerheiligsten"). Gemeinsam sind in Eph 2 und I Petr 2: Zugang (Hinzutreten) zu Gott; der Bau, in dem Christus Eckstein ist; die Gemeinde als Tempel (in Verbindung mit dem Wort „Geist"); das „auch ihr" bezieht die Angeredeten in den Bau ein. In 1 QS dagegen wird zwischen Bauwerk und Eckstein nicht unterschieden; das Bild der Fundamente ist zwar in Eph 2 separat auf Apostel und Propheten bezogen, aber das Bild des Ecksteins wird in beiden neutestamentlichen Texten auf Jesus angewandt. Eph und I Petr betonen gegenüber dem statischen Bild in 1 QS die Lebendigkeit der Gemeinde (I Petr 2,5: „als lebendige Steine werdet ihr erbaut"; Eph 2,22: „ihr werdet miterbaut im Geist"). — Distanz zum Tempelkult in Jerusalem ist in 1 QS wie in Eph und I Petr (beiden geht es wesentlich um Identitätsfindung für Heidenchristen) gegeben (vgl. ferner die Verwendung des Metaphernfeldes in I Kor 3,9-17). Wichtig ist, daß in den christlichen Texten die Gleichartigkeit von Christus und Gemeinde (gleiches Material; zusammen sind sie ein Bau) und die hervorragende Rolle des Ecksteins betont werden. So trat neben die organologisch gedachte Metapher vom Leib (s.o. 2.1.2) die architektonisch-funktional gedachte vom Bau. In beiden Metaphern geht es ähnlich um Abhängigkeit, Verbundenheit und Gleichartigkeit. 2.2. Erneuertes Israel Anhand seiner Zuwendung zu Sündern und Zöllnern als Randgruppen macht Jesus exemplarisch seinen Anspruch auf messianische Integration ganz Israels deutlich. Sein Tun ist Sammeln, er selbst ist Hirte (vgl. Mt 2,6; 9,36; 10,6; 15,24; Lk 19,10; Mk 6,34). So fehlen Grenzbestimmungen der Gruppe in der Anfangszeit nicht deshalb, weil es um einen rechtsfreien anarchischen Liebeskommunismus ging, sondern weil Jesus und seine Jünger sich im Judentum bewegen konnten wie Fische im Wasser. Daher kennt auch die Gemeinde des Johannesevangeliums, die sich gerade erst vom Judentum gelöst hat, noch keine eigene Binnenstruktur. Erst nach dem Heraustreten aus dem jüdischen Volksverband müssen christliche Gruppen sich eigene Organisationsformen schaffen, und diese stehen dann neben den anders gearteten charismatisch-prophetischen Funktionen des Anfangs, die wie selbstverständlich für „Israel" oder für die „Heiden" (Paulus) — also jedenfalls ethnisch orientiert - , nicht aber für abgegrenzte Gemeinden gegeben waren. Auch Paulus war in diesem Sinne zunächst „kirchenloser Pneumatiker" (s.o. 2.1.2.2). Aus diesen Gründen ist das Nebeneinander von charismatischen und organisatorischen Funktionen kein Problem der Parusieverzögerung oder des Frühkatholizismus, kurz: kein Problem des Verhältnisses von Kirche und Welt, sondern eines, das historisch mit der Loslösung aus Israel zusammenhängt. Im folgenden geht es zunächst um Modelle, nach denen sich die Jesusbewegung innerjüdisch als erneuertes Israel begreift: 2.2.1. Die Freunde des Bräutigams und die Braut. In den Evangelien wird Jesus zwar als Bräutigam beschrieben (zum Messias als Bräutigam vgl. PesK 149a; s. auch J. Jeremias: ThWNT 4 [1942] 1094f), nie aber die Jüngergemeinde als Braut. Vielmehr sind die Jünger die Begleitung des Bräutigams (Mk 2,19: Hochzeitsgäste; Lk 12,36: Sklaven des Bräutigams; Mt 25,1-13: Jungfrauen; vgl. auch Joh 3,29). Offensichtlich ist daher Israel die Braut, das Auftreten Jesu die hochzeitliche Zusammenführung von Messias und Israel - die Jünger sind dabei nur die Begleitschaft des Messias. Anders dagegen im Wirkungsfeld des Paulus (II Kor 11,2: Gemeinde als Braut, Apostel als Brautführer; vgl. Eph 5,25 - 2 7 ; Apk 21,2; Analogien im Alten Testament: Gott als Ehemann Israels Jes 54,5ff u.ö.). Diese beiden verschiedenen Blickrichtungen entsprechen einem je andersartigen Verhältnis Kirche/Israel. Ebenso verhält es sich bei den Prädikaten „Heilige", „Tempel",
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„Versammlung" (¿Ktckrjoia): Die synoptischen Evangelien stehen in einer hart geführten aktuellen Auseinandersetzung mit jüdischen Gruppen, um die sie werben (z.B. -»Pharisäer). Der Anspruch auf ganz Israel wird weiterhin erhoben, die Zwölf sind Mitte einer noch offenen Sammlung, die christliche Jüngergemeinde kann so, wie sie ist, nicht schon die Braut des Messias sein. Ebensowenig kann deshalb die Gemeinde „die Heiligen" genannt werden, und die „Versammlung" ist erst zukünftig erbaut (Mt 16,18). Umgekehrt müssen Paulus, der Eph und die Apk ihren Gruppen in der Situation theologischer Ortlosigkeit eine theologische Identität als messianische Gemeinde überhaupt erst zusprechen; daher auch die stärkere Betonung der schon geschehenen Vollendung. Möglicherweise hängt auch frühchristlicher Eheverzicht wenigstens teilweise zusammen mit einer sehr wörtlich genommenen Praktizierung der Reinheit der Braut (Gemeinde) für ihren Bräutigam, vgl. besonders Did 11,11 (dazu G . Bornkamm: T h W N T 4 [1942] 831,29ff) und ep. Clem. ad J a c . (Ps.-Clem. Horn.) 7,5. In Apk begegnet die Forderung nach Jungfräulichkeit (14,4) zusammen mit der Kirche als Braut (21,2; vgl. auch Weish 3,13 f mit Gal 4,27; ferner Berger, Volksversammlung 201 Anm. 156).
2.2.2. Kirche und himmlisches Jerusalem. Ohne christologische Ausrichtung können christliche Gemeinden in Beziehung zum himmlischen Jerusalem gesehen werden (Gal 4,26-28; Hebr 12,22f; Apk 21,10-27; vgl. auch 12,1-16). Es handelt sich dabei um symbolisch-utopische Identitätsfindungen auf der Basis der Konvergenz von -»Eschatologie und Ekklesiologie. Im Hintergrund stehen unterschiedliche Vorstellungen: orientalische Stadtgöttinnen, die zugleich Mütter der Stadtkinder sind; die hellenistische Konzeption der Metropolis; die endzeitliche Gemeinde als Frau nach IV Esr 9,38-10,56 und 1 QH 3,7ff; die Polis als weibliche Figur nach Jes 54,1 ff; Bar 4,9-5,9; Apk 2,26; I Petr 5,13; dazu auch II Joh 1 und die Bezeichnung der Vaterstadt als Herrin in der Inschrift aus Gerasa nach AuC 5 (1936) 214 f sowie der Titel „domina mater ecclesia" nach Tertullian, mart. 1,1. Die theologische Bedeutung dieser Metaphorik läßt sich folgendermaßen entfalten: a) Ganz und gar im Rahmen alttestamentlich-jüdischer Tradition ist der Blick so sehr auf Identitätsbestimmung von der Zukunft her gerichtet (wie in der Christologie im Falle des Menschensohnes und wie bei den „Kleinen", s.o. 2.1.3/4), daß eine angemessene Erfassung der auf Erden vorfindlichen sichtbaren Gemeinde unterbleibt. - b) Die Differenz zum bestehenden Judentum wird in Gal und Hebr nicht durch die Wahl neuer Metaphern zum Ausdruck gebracht, sondern durch typologisch behauptete neue Qualität: Es geht um das himmlische, nicht mehr um das irdische Jerusalem; um den Status der Freiheit, nicht mehr der Knechtschaft; um die Stadt des lebendigen Gottes, weil es sich um Blut handelt, das kräftiger schreit als das Abels (Hebr 12,22-24). - c) Entscheidend und jetzt schon errungen ist die Zugehörigkeit zu dieser Stadt (Gal 4,28 f: durch den Geist; Hebr 12,22f: „hinzugetreten" und „aufgeschrieben"; Apk 21,27 [vgl. V.7f]: „aufgeschrieben"; im übrigen gelten Einlaßbedingungen, s. Berger, Volksversammlung 188-190; vgl. auch Phil 3,20: Bürgerrecht). - d) Es gibt eine Verbindung zu -»Bund bzw. Bundesformel (Gal 4,24; Hebr 12,24; Apk 21,3). - e) Es ist vom Erben die Rede, und damit besteht eine Verbindung zur Landverheißung (Gal 4,30; Hebr 11,9; 12,17; Apk 21,7). - f) Hebr und Apk bringen im Kontext jüdische Reinheitsvorstellungen (nur der Reine hat Zugang). g) Besonders aus Hebr 11,10-16 und Phil 3,20 (Kontext) wird deutlich, daß der himmlischen Heimat auf Erden Fremdlingschaft bzw. alternatives Verhalten entspricht. - h) D. Georgi hat betont, daß nach Apk 21 das himmlische Jerusalem den Charakter einer multinationalen hellenistischen Großstadt besitzt. - Ergebnis: Wenn frühchristliche Gemeinden sich vom himmlischen Jerusalem her definieren, so ist entscheidend, daß sie die Schwelle der Zugehörigkeit zu ihm überschritten haben („Dazugehören ist alles") und sich orientieren an der qualitativen Differenz ihres Status zum vorfindlichen Israel. Dies bleibt jedoch im Rahmen jüdischer Zukunftserwartung. 2.2.3. Zwölferkreis und Kirche. Gäbe es eine Strukturierung von Kirche, die dem am nächsten käme, was Jesus selbst sich vorgestellt haben könnte, so wäre das ein Zwölfer-
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gremium mit zwölf Repräsentanten des eschatologisch erneuerten Israel. Daß Jesus die Zwölf um sich gesammelt hat, ist wegen der Judas- und Ostertradition (vgl. I Kor 15,5) gut möglich. Vor allem die liberale Theologie hat wohl den Blick auf die impliziten Konsequenzen dieses Phänomens versperrt: Es wären nicht nur Jesu Persönlichkeit und sein Selbstbewußtsein erfragenswert, sondern das Gremium der Zwölf wäre ernst zu nehmen als leibhaftiger und realsymbolischer Ausdruck von Jesu Programm zur Erneuerung Israels. Jesus wäre dann nicht nur der isolierte Prediger und Prophet, sondern er hätte die Zwölf als Träger, Delegaten und „Erben" seiner Vollmacht geschaffen und damit eine ebenso sichtbare wie anstößige Umsetzung seiner Botschaft in gesellschaftliche, institutionelle Wirklichkeit. Das wäre zwar noch etwas anderes als „Kirche", aber doch unübersehbares Dokument der Absicht Jesu, Botschaft und Heilungstaten nicht für sich bestehen, sondern sie gesellschaftliche Gestalt annehmen zu lassen und es nicht bei seiner eigenen Person als der isolierten Mitte zu belassen. Die Zwölf sind als Gremium der für ganz Israel gedachte Kristallisationspunkt eines erneuerten Israel. Die Beobachtung, daß die Zwölf in ihrer Bedeutung nach den vorliegenden Dokumenten des Neuen Testaments rasch zurückgetreten sind (s. TRE 3,433 f), spricht im übrigen nicht gegen diese Möglichkeit, sondern eher für raschen Wandel, große Vielfalt und Freiheit der Interpretation in der Kirchengeschichte des 1. Jh. Wichtig ist, daß es ein vergleichbares Gremium von zwölf Männern als den Repräsentanten der Laien Israels (neben drei Priestern) schon in Qumran gibt (1 QS 8,1). Denn hier wie dort stellen die zwölf Männer nicht nur die zwölf Söhne Jakobs dar (Jesus wäre dann in der Rolle Jakobs/Israels zu denken, was sich im Rahmen der Menschensohntheologie erklären läßt, s.o. 2.1.3), sondern sie sind im Rahmen frühpharisäischer Ideale auch als „innerer Kreis" von besonderer Qualität zu denken (vgl. 1 QS 8,11). Die Apk hat mit 21,14 ihre Bedeutung zutreffend erkannt. Daß die Zwölf bei der Darstellung des (neuen) Bundes im Abendmahl genannt werden, entspricht ihrer Funktion als sichtbare Zeichen des Neuanfangs Gottes mit Israel und im Blick auf Apk 21,14 der beobachteten Zuordnung von himmlischem Jerusalem und Bund (s.o. 2.2.2). Daß eine aktive Rolle der Zwölf in den Horizont der Menschensohnchristologie gehört (vgl. vor allem Mt 19,28), weist auf strukturelle und traditionsgeschichtliche Analogien zwischen beiden: a) Beide haben kollektive Struktur (Repräsentation Israels, s.o. 2.1.3). — ¿»J Irdische Gestalten erwarten absolute eschatologische Dignität, wobei ein Teil der Eschata jetzt schon realisiert wurde. — c) Es geht um für ganz Israel höchst wichtige Festlegungen auch juridischen Charakters (Jesus als Menschensohn; die Zwölf als Stammeshäupter des neuen Israel und eschatologische Richter; der Tod Jesu als Bundesschluß). - d) Auch die Symbolhandlungen Jesu sind hier einzuordnen - die Einsetzung der Zwölf ist eine von ihnen: Diese vergleichsweise geringen Taten haben eschatologische Bedeutung (die Tempelreinigung als Anbruch des messianischen Zeitalters; das Trinken des Kelches beim Mahl als die In-Geltung-Setzung des Neuen Bundes). - e) So ist auch nach Mk 4,11 das Gemeinde-Sein der Jünger ausgerichtet auf Gottes Reich. - Immer geht es darum, daß jeweils in der Gegenwart in niedriger Gestalt das Letzte und Entscheidende angebahnt und bis zu einem gewissen Grade verborgen präsent ist; jedenfalls aber besteht Personenidentität. 2.2.4. Die Heiligen, Berufenen und Auserwählten. Der Titel „Heilige" (äyioi) erfüllt im Neuen Testament dieselbe Funktion wie heute „Christen" (Xpiaxiavoi, im N T so nur in Act 11,26; I Petr 4,16), und zwar in abgrenzender Bedeutung (im Unterschied zu Nichtchristen). Aus diesem Grund werden „Heilige" gerade auch Christen in anderen Gemeinden genannt (z.B. I Kor 14,34), weil so der gemeinsame Nenner (ökumenische Gemeinsamkeit) in Differenz zu anderen benannt wird. Daher wird der Titel auch bei der übergemeindlichen Kollekte (z.B. Rom 15,26) verwendet, und so ist er auch im Präskript paulinischer Briefe (fehlt im Gal!) zu verstehen: Paulus schreibt an Christen eines anderen Ortes.
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Der Titel könnte aus dem Umkreis der Menschensohntheologie kommen (vgl. Dan 7 , 1 8 - 2 5 ; die Heiligen als Richter nach I Kor 6,2 f; die Heiligen als Begleitung des Menschensohnes im äthHen, z . B . in 58,5; die Verbindung von Heiligen [Myriaden] und Parusie nach D a n 7 , 9 - 1 3 in I Thess 3,13 neben 4 , 1 7 ; g r H e n 1,9 und Jud 14; Did 16,7). Die Meinung K. Holls, Paulus habe diesen selbstgerechten Anspruch ursprünglich nur der Jerusalemer Gemeinde durch Übertragung auf die Gemeinden in Korinth und R o m zerstören wollen, ist ganz unwahrscheinlich. Wichtig ist aber, daß der Titel, außer daß er Hoheit und Nähe zu G o t t ausdrückt, im Neuen Testament auch die Konnotation von N o t , Hilfsbedürftigkeit, Leidenmüssen und Angewiesensein auf fürsorgliches Dienen hat (z.B. Act 26,10: Gefängnis; II Kor 9,12; R o m 15,26; 8,27; 12,13; Eph 6,18; I T i m 5 , 1 0 ; Hebr 6,10; Apk 13,7.10; 14,12; 16,6; 17,6; 18,24; 20,9) - dieses offenbar im Gefolge einer Auslegung von D a n 7 , die für den M e n schensohn wie für die Heiligen auch die Zeit des Leidens und Ausgeliefertseins in den Blick nahm.
Für das theologische Verständnis sind noch folgende Aspekte wichtig: a) Es handelt sich um eine vor-moralische, sakralrechtliche Qualität; allerdings setzt Gottes Handeln Maßstäbe für die Reaktion der Menschen: Rom 16,2; I Kor 6,1 f; Eph 5,3. - b) Bei Paulus, in Kol, Eph und Apk wird der Titel auch im speziellen Sinne der Reinigung der Gemeinde durch Jesu Sühnetod verstanden (I Kor 1,30; Kol l,12-14.21f; Eph 2,16-19). Die gleiche Funktion zur Abgrenzung haben die Titel „Berufene" (Khjxoi) und „Auserwählte" (EKIEKTOI) (ZU Herkunft und Gehalt vgl. Berger, Volksversammlung 190-192). „(Be)rufen" wird oft gerade im Kontext von „Volksversammlung" verwendet (ebd. Anm. 127). „Heilig" und „auserwählt" sind im Judentum oft synonym (vgl. ebd. Anm. 128). 2.2.5. Volk (Gottes). „Volk" bezeichnet die Gemeinde fast nur im Zusammenhang mit Schriftzitaten, die dann auch noch die Paradoxie der Verwendung des Titels betonen (Hos 2,25 in Rom 9,25; vgl. 10,19; I Petr 2,10). Am offensten wird der Titel in I Petr 2,9; Tit 2,14 verwandt, doch nur anhand von Zitaten (Ex 19,5.6) und für rein heidenchristliche Gemeinden. Außer in Act 15,14ff (Am 9,11 f LXX) herrscht sonst überall Vorsicht. In II Kor 6,16 wird wie in Apk 21,3 die Bundesformel aus Ez 37,27 auf die Christen angewandt. Auffallend ist besonders das Fehlen des Begriffes „Volk" in Act 20,28 (hier nur lKKktjaia)\ Apk 1,6; 5,10, weil er sich hier aufgrund der Vorgeschichte der Wortfelder nahelegte (vgl. Berger, Volksversammlung 200 mit Anm. 153). „Volk Gottes" wird die Gemeinde nur in I Petr 2,10 genannt. Der Gesamtbefund läßt erkennen, daß an der Benennung Israels als Volk Gottes festgehalten wurde, weshalb eben Heiden (zumeist) nur paradoxerweise so genannt werden. 2.3. Kultische Identität 2.3.1. Die Gemeinde als Tempel. In Analogie zu Vorstellungen der Gemeinde von Qumran (1 QS 8,7) ist dieses Bild zur Bezeichnung christlicher Gemeinden sehr alt und weit verbreitet. Denn wenn in Gal 2,9 Jakobus, Kephas und Johannes als „Säulen" bezeichnet werden (zur Beziehung von Säule auf den Tempel vgl. Apk 3,12) und von diesen Kephas als „Fels" wiederum Grundlage eines Bauwerks sein soll (Mt 16,18; -»Petrus), dann gilt seit K. Holl (46): „Die Urgemeinde betrachtet sich selbst als einen gottgegründeten Bau und sieht dies dadurch verbürgt, daß bestimmte, noch lebende Persönlichkeiten von Christus dazu berufen sind, ihren Bestand zu sichern". Wiederum stoßen wir hier auf jenes eigenartige kirchliche Symbolverständnis, das wir oben (vgl. 2.2.3) für den Zwölferkreis dargestellt hatten: Konkrete lebende Personen sind von grundsätzlicher eschatologischer Bedeutung; Jesus und Petrus als einzelne, andere als Gremium. Denn wenn die Gemeinde Gottes Tempel ist, so bedeutet das Gottes Präsenz in ihr. In Qumran bedeutet das jedenfalls auch Konkurrenz zum Tempel in Jerusalem. Das gleiche gilt wohl auch für Paulus und I Tim. Diese Transformation der Tempelvorstellung ermöglicht u. a. die theologische Verarbeitung der Tempelzerstörung im Jahre 70 n. Chr. Noch nach Apk 21,3.22 gibt es im himmlischen Jerusalem keinen eigenen Tempel, so daß alle Einwohner der Stadt -»Priester sind (1,6; 20,6). Wird die Metapher „Tempel" daher auf die Gemeinde angewandt, so ist damit - wie bei -»„Bund" - ein Endzustand bezeichnet, der durch keine weitere Qualität gesteigert werden kann; daher bleibt das Bild in Apk 21 und partiell auch in Eph 2,20-22 (Wachs-
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tum) f ü r die künftige Vollendung reserviert. Die Verhältnisse sind somit ganz ähnlich zu beurteilen wie bei der Braut-Metapher (s. o. 2.2.1): Je mehr - abgesehen von der Gemeinde in Jerusalem - christliche Gemeinden aus Heidenchristen bestehen, um so stärker sind Prädikate, die sonst das Endheil bezeichnen, auf sie angewandt. Bei Paulus wird das Tempel-Sein der Gemeinde durch den -»-Geist begründet (I Kor 3,16; vom Leib des einzelnen auch in 6,19; zum Hintergrund vgl. Josephus, Ant 8,114, wonach im Jerusalemer Tempel Gottes Pneuma wohnt). Daraus abgeleitet ist die Präsenz Gottes in der versammelten Gemeinde nach I Kor 1 4 , 2 3 - 2 5 (Stichwort EKKÄrjcria), die die Reaktion hervorruft: „Wirklich ist Gott unter euch!" (14,25). Auch in Eph 2 , 2 0 - 2 2 ist die Gemeinde pneumatischer, heiliger Tempel. Das Bild in II Kor 6,16 zeigt auffällige Übereinstimmung mit dem in Apk 21,3 (Wohnort Gottes, Bundesformel). Für eine heidenchristliche Gemeinde dient das Bild des Tempels auch in I Petr 2,4 f zur Identitätsbestimmung (es wird die Opposition zu den von Götzen bewohnten Tempeln erkennbar). — I T i m 3,15 (Festigkeit und Unerschütterlichkeit des Baus aufgrund der Präsenz der Wahrheit) und Hebr 3,6 (Gemeinde als Haus des Christus: Als Sohn ist er über das H a u s gesetzt, während M o s e nur treuer Diener im Hause war) bieten sekundäre Vergleichsaspekte, die die Vertrautheit des Bildes voraussetzen. Für I Tim 3,15 ist besonders auf 1 QS 5,5 zu verweisen, w o die Gemeinde „Fundament der Wahrheit für Israel" (vgl. 9,3 f) genannt wird. Beide Texte zeigen noch einmal (vgl. o. 2.1.5): Erst sekundär werden Gebäudeteile wie der „Eckstein" oder das „Fundam e n t " christologisch oder auf die Apostel gedeutet (I Kor 3,11; Eph 2,20; I Petr 2,4; Apk 21,22). 2.3.2. Königliches Priestertum. Der Ursprung der in I Petr 2,5.9; Apk 1,6; 5,10 belegten Konzeption sind die Prädikate „Eigentumsvolk", „königliches Priestertum" und „heiliges Volk" in Ex 19,5 f; 23,22 LXX (mit Wirkungsgeschichte in J u b 16,18; 33,20; II M a k k 2,17; Philo, Sobr 66). M i t dieser M e t a p h e r wird - wie bei den Bezeichnungen „Heilige", „Braut", „ T e m p e l " und „Volk (Gottes)" - nur die Abgrenzung nach außen betont, aber nichts über die Binnenstruktur gesagt. I Petr 2 darf daher nicht im Sinne des allgemeinen —•Priestertums aller Gläubigen im Gegensatz zum Amtspriestertum ausgelegt werden, denn damit würden die Probleme einer Volkskirche auf Minoritätsgemeinden des 1. Jh. übertragen. Die o.g. jüdische Auslegung der Prädikate von Ex 19 und 23 hatte den Anspruch Israels auf Königtum kultisch neutralisiert und damit politisch ungefährlich (weil unvergleichbar) gemacht. Die freieste Rezeption der Vorstellung liefert Apk 1,6; 5,10: Im Unterschied zur jüdischen Rezeption wird der Vorgang des Erwerbens betont (Loskauf durch Jesu Sühnetod), vgl. Act 20,28; Tit 2,14. Der priesterliche Charakter der Gemeinde ist für die Apk besonders wichtig, da er sich als hymnischer Kult vor Gottes T h r o n realisiert (Apk 20,6 und die H y m n e n der Apk); ähnlich ansatzweise auch schon in I Petr 2,5 b. So stellt der —»Gottesdienst der Gemeinde in der Apk ein Gegenbild zum Kaiserkult dar. - Die christliche Rezeption von Ex 19,5 f; 23,22 LXX zeigt, d a ß kultische Elemente der Selbstdefinition Israels anhand des Sühnetodes Jesu Christi reaktiviert werden konnten. 2.3.3. Gottesdienstliche Identität der Gemeinde. Wenn die hellenistische politische Ekklesia wesentlich die zum Herrscherlob versammelte ist (vgl. Berger, Volksversammlung 168-170), dann gilt dieses um so mehr - auf Gott übertragen - von der religiös bestimmten jüdisch-hellenistischen und frühchristlichen Ekklesia. So sind nach der Apk (s. o. 2.3.2) die Christen als „Könige" und „Priester" dem im Himmel thronenden Kultkönig zugeordnet. Das aber bedeutet Gemeinschaft mit den himmlischen Ältesten und Engeln. Denn der kultisch (durch Jesu Sühnetod) gewonnene Z u g a n g zu Gott stellt die Erlösten in die Gemeinschaft des himmlischen Hofstaates Gottes, und daher sind die Christen „ M i t b ü r g e r " der Heiligen (Eph 2,19) und hinzugetreten zur EKKXrjaia der Erstgeborenen (Hebr 12,23). Bereits in dem jüdischen Gebet nach Apost.Const. 7,35 ist die irdische Ekklesia mit der himmlischen im Lobpreis verbunden (Material: Berger, Volksversammlung 193 f). - Die -»Liturgie hat die Erinnerung daran in den Präfationen der
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eucharistischen Hochgebete bewahrt. - Hinzuweisen ist auch auf die große praktische Bedeutung des Zusammenkommens zu gemeinsamem Mahl (Eucharistie und Agape): Die harten Sanktionen von I Kor 11,27-32 werden nur verständlich, wenn das Versammeltsein zum Mahl die - punktuell konzentrierte — Wirklichkeit des gemeinschaftlichen Erlöstseins selbst ausmacht. Und: Durch das Gedenken an den Tod (Kelch) promulgiert die Gemeinde als versammelte den Bund bis zu seiner endgültigen Realisierung (11,25 f f . 2.4. Kirche und Reich Gottes (-»Herrschaft Gottes) Der Satz A. —»Loisys, Jesus habe das Reich Gottes gepredigt, aber gekommen sei die Kirche, beschreibt eher Probleme liberaler Exegese und Theologie als solche des frühen Christentums: a) Die sogenannte Parusieverzögerung ist für das frühe Christentum selbst weitaus weniger problematisch, als es den Anschein zu haben pflegt. Es ist daher verfehlt, dieses Phänomen zum Generalschlüssel aller exegetischen Fragen zu machen, die das Verhältnis von Christentum und Welt betreffen. Die neutestamentlichen Autoren rechnen eher mit einem Universalität herbeiführenden Handeln Gottes (z. B. Mk 12,9; Act 1,6-8), und vor allem ist Naherwartung nicht zu isolieren von der Christologie. - b) Die Zulassungsbedingungen zu Ekklesia und Reich Gottes sind identisch (vgl. I Kor 5,11 mit 6,9f; Berger, Formgeschichte 182-184 zu Dtn 23,2-9). Die geschenkte Heiligkeit ist für das Eingehen in das Reich völlig ausreichend. £KKkrjaia bezeichnet eher den Gegenwarts-, „Reich Gottes" den Zukunftsaspekt des Heils. - c) ¿KKXrjaia ist das Volk des künftigen Reiches; der Ausdruck bezeichnet das Heil unter dem Aspekt des zugehörigen Volkes, während „Reich Gottes" dieses unter dem Aspekt des Herrschers und der Zeit der Vollendung beschreibt. - d) ¿KKkrjala wird im Neuen Testament sehr oft nicht als das zu Überwindende und Vorläufige angesehen, sondern entweder als das zu Vollendende (Mt 16,18; Eph 1,23; 4,13; vgl. Did 9,4; 10,5) oder als eine Gestalt von Gemeinschaft, hinter der keine weitere, zukünftige sichtbar wird (Paulus; Hebr 12,23). - e) Paulus vermeidet im Corpus des Rom den Ausdruck ¿KKÄr/oia, wohl weil die endgültige Heilsgemeinde nach Rom 11 erst als erweitertes Israel Zustandekommen wird. In der Apk werden die ¿KKkrjaiai der sieben Städte (Kap. 2f) offensichtlich abgelöst durch das vom Himmel kommende himmlische Jerusalem. Nur in diesen prononciert judenchristlichen Positionen wird daher hinter Kirche eschatologisch noch etwas anderes sichtbar. Verschiedene Perspektiven werden anhand des Verhältnisses von Dämonen und Kirche bzw. Reich Gottes erkennbar: Nach Lk 11,20 par. Mt 12,28 ist mit der Besiegung der Dämonen das Reich Gottes gekommen, und analog dazu ist nach Eph (l,20-22a vor 2 2 b - 2 3 und 4,8-10 vor 4,11-16) die Unterwerfung der Mächte bei der Erhöhung Jesu die sachliche Voraussetzung für Existenz und Qualität der Kirche (der Raum, der von der Fülle des Christus gefüllt wird; die kirchlichen Ämter). Anders steht nach Paulus die endgültige Unterwerfung der Mächte erst noch aus (I Kor 15,25 f), wenn das auch im Horizont des schon jetzt aktuellen „Reiches des Christus" gilt. In Differenz zu den Synoptikern und zu Paulus ist daher für den Eph alle negative Macht grundsätzlich besiegt. Was noch aussteht, ist nur noch das Wachstum der Kirche auf Einheit hin. 2.5. Kirche als Gemeinde (soziologischer
Ansatz)
2.5.1. Sozialgeschichtliche Fragestellungen. Aufgrund der Arbeiten von G. Theißen, A. Funk, W.A. Meeks und E. Plümacher ergibt sich für künftige Forschung eine Reihe von Themenkreisen: das Verhältnis zwischen Kirche und antiken (Kult-)Vereinen (vgl. dazu auch Berger/Colpe, Texte Nr. 447.513); die Frage nach Modellen für die Binnenstruktur von Gemeinden (Familie, Freundschaft, Mahlgemeinschaft) und nach Präformation kirchlicher Strukturen bei -»Johannes dem Täufer (Lehrer/Schüler-Verhältnis mit Konzentration auf den Lehrer wie im Gegenüber zum heilsmittlerischen Propheten; Einzeltaufe [?] als Entdeckung des religiösen Individuums [?]; „Jünger" neben Ortsgemeinden [?]); die Frage, wieweit „Gemeinden" wirklich homogen waren oder gewesen sein müssen (Kontrast zwischen intensiver Gegenseitigkeit wie in Hebr 12,15 einerseits und offenbar inhomogenen Gruppen wie in Mt andererseits, vgl. Mt 13,24-30; 20,1-16; 22,12-14; 23,8-12 und die Notwendigkeit von Kasuistik in Mt 18,15-17; zur Methode der Bekämpfung solcher Inhomogenität vgl. Mt 23,8-12 mit I Kor 12); die Klärung des Gemeindebegriffes überhaupt (Wie konstitutiv
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sind Zusammenkünfte? Bedeutung der Lokalitäten dafür? Landsmannschaftliches Gepräge? Vorbild synagogaler Verbände? Von welchem Ideal ließ sich Hebr 10,25 leiten? Christen als Sympathisanten [der Synagoge] ?); die Frage nach der Entstehung von Gemeindeverbänden (Bedeutung der Kollekte des Paulus dafür; Analogien zu paganen religiösen Kultverbänden, wie sie z. B. für Apk 2f in Ephesus, Pergamon und Smyrna belegt sind; Vorbild der jüdischen Diaspora[-Seelsorge] für I Petr und Jak [und Eph?]; Bedeutung der Pseudepigraphie in der Entstehung von Gemeindeverbänden).
2.5.2. Amt und Kirchenstruktur. Die traditionelle dualistische Scheidung zwischen Amt und charismatischen Funktionen läßt sich nach dem hier Dargelegten nicht erhärten. Als dessen Konsequenz ergibt sich vielmehr eine Dreiteilung in prophetische, symbolische und funktionale Ämter mit jeweiliger Entsprechung zur Christologie. Der Vorzug dieser Einteilung besteht darin, daß verschiedene Phänomene des 1. Jh. n. Chr., aber auch solche der späteren Kirchengeschichte von hier aus leichter verständlich werden: 2.5.2.1. Prophetische Ämter. Es handelt sich um -»Propheten, Prophetinnen, -»Apostel, Witwen, Lehrer. Die Männer sind nicht prinzipiell an Gemeinden gebunden und daher bis zum Ende des 1. Jh. großenteils noch auf Wanderschaft von Gemeinde zu Gemeinde; das mittellose Umherziehen diente ursprünglich dem Zweck, ganz Israel zu erreichen (vgl. Mt 10,23 b mit II Chr 17,7-9 und die Angaben Did 11,1 ff; auch Apk 2,2). -»Gebet, ekstatische Phänomene, (Wunder-)Zeichen und das Fehlen eines Gegensatzes zwischen Tradition und (z. T. visionär erlangter) Offenbarung sind hier wichtig. In der Christologie gilt Jesus vor allem als Prophet und Lehrer. 2.5.2.2. Symbolische Ämter. Gemeint sind alle in das oben (s. 2.2.3) genannte Verständnis eschatologischer Israel-Symbolik einbezogenen Personen (die „Säulen", die Zwölf, Petrus, die Donnersöhne in ihrer eschatologischen Funktion, vgl. dazu Berger, Einführung 217-240). Die Rolle dieser Personen betrifft immer die Gesamtheit der Christen, daher ihre Zuordnung zu Jerusalem. Seine Basis hat dieses Verständnis von Amt in einer entsprechenden Ekklesiologie (die Gemeinde als Heilige, als Tempel, s.o. 2.2.4; 2.3.1) und Christologie (Menschensohn), fortgeführt wird es - allerdings ohne eschatologischen Bezug-von -»Ignatius v. Antiochien (symbolische Abbildung von Gott, Christus und Aposteln durch Bischof, Presbyter und Diakone), und diese Art von Amt wäre eine (prospektive) Verständnishilfe für das Phänomen des —»Papsttums. 2.5.2.3. Funktionale Ämter. Hier geht es um Funktionen der praktischen Gemeindeleitung im engeren Sinn, die teilweise der Organisation sich selbst verwaltender jüdischer Gemeinden entstammen (Älteste), teilweise völlig profanen Ursprungs sind (Episkopen, Diakone [?], Leiter, Vorsteher). Sie haben keine ursprünglich religiöse Dimension. Dieses funktionale Amt wurde später (versehen mit „prophetischen" Restelementen, vgl. schon I Tim 1,18; 4,14) für die Kirche maßgeblich. Schon in I Kor 12,28-31 versucht Paulus, prophetische und funktionale (z.B. Leitung nach 12,28) Ämter einander zuzuordnen. 3. ¿KKhjaia: Volksversammlung
und
Institution
Außer den traditionellen jüdischen und alttestamentlichen Metaphern gebrauchen christliche Gruppen zur Selbstbezeichnung vor allem den griechischen politischen Begriff ¿KK^r/aia. Zwar hatte bereits die LXX den Ausdruck verwandt, aber damit ist weder geklärt, weshalb er im Neuen Testament (im Unterschied etwa zu crvvaycoyij) bevorzugt wird, noch, wie es dazu kam, daß ein Wort, das zunächst ja nur die aktuelle Versammlung benannte, zur Gruppenbezeichnung werden konnte. Im Unterschied zu W. Schräge (avvaycoytj; Ekklesia) kann man wohl nicht sagen, daß die Wahl des Begriffes acichjoia Kritik an und Distanzierung von der Gesetzlichkeit der Synagoge habe bedeuten sollen; und ebensowenig kann man sagen, daß ¿KKXtjaia vornehmlich vom Gottesvolk der Wüstenzeit gebraucht werde (s. dazu Berger, Volksversammlung 184-187). Allenfalls läßt sich feststellen, daß avvaycoyrj z. T. ausschließlich das Versammlungsort« bezeichnet, doch ist das Wort anderswo eben auch Gruppenname für Juden und auch für Christen (Irenaeus, haer. 3,6,1; Apost.Const 2,56; vgl. Berger, ebd. 184 Anm. 94). So geschieht die Verwendung von ¿KtcXijoia nicht im Gegensatz zum
Kirche II
215
Judentum, sondern im Anschluß daran, und christlich wird ¿KK^rjaia erst durch den Kontext und Zusätze wie „ i n . . o d e r „des Christus" (Gal 1,22; Rom 16,16), oder wenn Jesus sagt: „meine ¿KKÄtjoia" (Mt 16,18). Positiv gesehen erfolgt der Anschluß an die jüdische Begrifflichkeit, weil die christliche ¿KKkriaia wie die zeitgenössische politische und die jüdisch-hellenistische folgende Funktionen und Merkmale hat: a) Es geht um Lob Gottes (Act 2,46 f; I Kor 14,26; Eph 3,21) oder um Rühmen von Menschen vor anderen (II Kor 8,18; II Thess 1,4). - b) Vor der ¿KK^ijaia finden Strafverfahren statt (Mt 18,17; I Kor 5 f ) . - c ) Sie ist der Ort zum Hören und Reden (I Kor 14,4.5.13 usw.), und dabei sind Ruhe und Ordnung in der ¿KKhjma schon ein hellenistisches Problem (I Kor 14,40; vgl. Berger, Volksversammlung 182 Anm. 80). - d) Die christliche EKKktjaia kennt Älteste (Act und Jak), Vorleser und Ausleger der Schrift wie die jüdische; sie formuliert Beschlüsse mit Formeln wie die pagane (Act 15,22) und entsendet offiziell Boten wie diese. — e) Sie ist Adressat von Briefen wie die pagane und hellenistisch-jüdische. So deutet man wohl auch die „Engel" der „Gemeinden" in den Präskripten der Briefe Apk 2—3 am besten, wenn man sie als menschliche Übermittler der Briefe versteht: „Engel" wird auch der jüdische Hohepriester als Übermittler der Gebote Gottes genannt (vgl. Berger, ebd. 171 Anm. 25); Engeln müßte man keine Briefe schreiben, und äyyeXot; wird auch sonst parallel zu änöaiokoq gebraucht (analog auch die „Apostel der Gemeinden" II Kor 8,23). Die Voraussetzungen dafür, daß aus der aktuellen Versammlung namens ¿KKhjaia die Institution werden konnte, wurden im zwischentestamentlichen Judentum gelegt: Die Zulassungsbedingungen von Dtn 23,2-9 wurden nun generell auf das Politeuma der Juden (Philo, Virt 108) bzw. auf alle angewandt, die „den Namen Heilige tragen" (4 QFIor 1,4). Insbesondere Gruppen, die kultische Integrität zum Dauerzustand machten (Qumran: 1 QSa 2 , 5 b - 9 a ; vgl. Hebr 12,23), konnten fortwährend „versammelt" sein; so auch die Christen als „Geheiligte" und „Gereinigte" (analog zur „Fiktion" des immerwährenden Gebets, vgl. TRE 12,55,18-41). Daß bei Paulus ¿KKkTjaia die Einzelgemeinde, in Mt 16,18; Eph und Did 9 f wohl alle Christen bezeichnet, hat Analogien im Judentum, da auch Ortsgemeinden „Volk der Juden" genannt werden und Segenswünsche immer für ganz Israel gelten, auch wenn es sich um Einzelgruppen handelt (vgl. K. Berger, Apostelbrief und apostolische Rede: ZNW 65 [1974] 190-251, bes. Anm. 193; ders., Volksversammlung 200 Anm. 155). Außerdem hängt dieses mit der unterschiedlichen Eschatologie zusammen (vgl. o. 2.4): Wenn die ¿Ktckrjoia erst versammelt werden muß, steht das Entscheidende noch aus. 4. Die Bedeutung der „Gegner" urchristlicher Gemeinden für die Entwicklung Kirchenbegriffs
des
Ähnlich der anregenden Wirkung gnostischer Gegner des 2. und 3. Jh. n. Chr. (z. B. für Kanon, Bibelkommentare, Christologie) ist auch die gegnerischer Gruppen im 1. Jh. zu beurteilen, und zwar wesentlich auch für den Kirchenbegriff. So sind in Korinth die rivalisierenden Geltungsansprüche von Charismatikern der Anlaß für die Anwendung der Leib-Metaphorik; so ist in Kolossä die Verehrung von -»Engeln der Anlaß dazu, Christus als Haupt (des Leibes) zu denken, dem auch die Engel seit Anbeginn unterworfen sind (Kol 2,8ff). Bei den Adressaten des Eph wird das Bild des einen Leibes mit Christus als dem Haupt mit integrativer Funktion entworfen, weil die Einheit von Judenund Heidenchristen fraglich geworden ist (Eph 2,11 ff). So wird in den -»Pastoralbriefen Kirche als -»Haus gedacht (unter Betonung der Rolle des Hausvaters und der häuslichen Ordnung), weil die Gegner von Haus zu Haus ziehen und die Ehe verbieten (I Tim 3,14 ff). Für das Mk-Ev. ergeben sich Hinweise auf Rangstreit und allzu schroffe Abgrenzung von anderen, die theologisch mit Aussagen über die kollektive Bedeutung des erniedrigten Menschensohnes und des Namens Jesu (Gemeinde als Eigentum Gottes) beantwortet werden (Mk 9,33ff.38ff; 10,35ff). Für die Adressaten des Mt-Ev. ist die Betonung der „Kleinen" (Demut, Brüderlichkeit) wohl der Weg, gegenüber dem rivalisierenden An-
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K i r c h e II
s p r u c h p h a r i s ä i s c h e r G r u p p e n K i r c h e g l a u b w ü r d i g sein zu lassen und v o r d e m R ü c k f a l l i n s J u d e n t u m zu b e w a h r e n ( s . o . 2 . 1 . 4 ) . F ü r L u k a s ist d a s M o d e l l , H e i d e n c h r i s t e n seien wie Fremdlinge der judenchristlichen Kerngemeinde zugeordnet (Aposteldekret:
Act
1 5 , 1 9 - 2 1 . 2 8 f ; 2 1 , 2 5 ) , die A n t w o r t a n B e s t r e i t e r d e r m ö g l i c h e n E i n h e i t v o n J u d e n - u n d H e i d e n c h r i s t e n in d e r K i r c h e (Act 2 0 , 2 7 . 3 0 ) . U n d s c h l i e ß l i c h ist die j u d e n c h r i s t l i c h e A u s r i c h t u n g d e r A p k (inklusive des M o d e l l s v o m h i m m l i s c h e n J e r u s a l e m ) die A n t w o r t a u f die G e f a h r d e r s c h o n p r a k t i z i e r t e n N i v e l l i e r u n g i m h e i d e n c h r i s t l i c h e n S i n n ( K a p . 2 f ) , die als V o r s t u f e des A b f a l l s zum K a i s e r k u l t a n g e s e h e n w i r d . - S o gilt g r u n d s ä t z l i c h : J e k o n k r e t e r u n d d r i n g l i c h e r P r o b l e m e f r ü h c h r i s t l i c h e r G e m e i n d e n sind, u m s o s t ä r k e r u n d n a c h h a l t i g e r t r ä g t i h r e B e a n t w o r t u n g z u r P r c f i l i e r u n g des K i r c h e n v e r s t ä n d n i s s e s b e i . Literatur Samuel Applebaum, The Organisation of the Jewish Communities in the Diaspora: S. Safrai/M. 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Kirche II
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Kirche III
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Klaus Berger III. Alte Kirche 1. Eigenart und Grenzen der altchristlichen Ekklesiologie 2. Ekklesiologische Vorstellungen vom Anfang des 2. Jh. bis Irenaus und Hippolyt 3. östliche und westliche Ekklesiologie bis zum Konzil von Nicäa 4. Ekklesiologie im 4. Jh. 5. Optatus und Augustin 6. Die Kirche im Glaubensbekenntnis (Quellen/Literatur S. 225)
1. Eigenart und Grenzen der altchristlichen
Ekklesiologie
Im Laufe des 2. Jh. setzt sich nahezu allgemein die Vorstellung durch, daß die eine Kirche in der Vielzahl der Ortsgemeinden existiert. Sie ist ihrerseits Abbild, Teil und Vorwegnahme der himmlischen Kirche. Nur in Syrien, wo wandernde Asketen eine wichtige Rolle spielten, scheint sich dieses Kirchenverständnis mit Verzögerung eingebürgert zu haben (Kretschmar, Askese; s. TRE 4,214). Sowohl die Einzelgemeinde als auch die Gesamtkirche heißt ¿KKhjaia. Der Begriff trägt bereits im 2. Jh. in so hohem Maß technischen Charakter, daß er ins Lateinische übernommen wird. Im Syrischen setzt sich im 4. Jh. 'edtä durch, vielleicht zur Abgrenzung von der Synagoge (knüstä) (Murray 18). Die ältere Tendenz, verschiedene Vorstellungen von der Gemeinschaft der Christen zu kombinieren und auszugleichen (s. o. Abschn. II), setzt sich im 2. Jh. fort, gefördert durch die Kanonbildung. Die Auffassung der Kirche als des wahren Israels und die verschiedenen neutestamentlichen Bilder für die Kirche dienen als hermeneutischer Schlüssel für die ekklesiologische Deutung immer weiterer biblischer Texte (z. B. des -»Hohenliedes). Die altchristliche Ekklesiologie wird weitgehend im Rahmen der Schriftauslegung entfaltet. Die Kirche wird ihrem Wesen nach als die Gemeinschaft der an Christus Glaubenden verstanden, die vom Geist erfüllt und durch die Liebe verbunden sind. Neben dem Verständnis der Kirche als Heilsgemeinschaft wird allerdings zunehmend ihre Rolle als Heilsinstitution betont. Dies ergab sich aus der Verfestigung der kirchlichen Normen und Ämter, besonders aus der Ausbildung des Bußinstituts (-»Buße V). Die beiden Aspekte der Kirche werden jedoch nicht als Gegensätze empfunden, sondern gehen ineinander über. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert Ambrosius, wenn er in einem einzigen Satz die Kirche als Braut Christi, als Mutter der Gläubigen, als Leib Christi und als Gottesvolk beschreibt: „Mit ihm [Christus] vermählte sich die Kirche, die, vom Samen des Wortes und vom Geist Gottes erfüllt, den Leib Christi hervorbrachte, nämlich das christliche Volk" (expos. Luc. 111,38: Cui nupsit ecclesia,
quae verbi semine et spiritu dei pleno Christi corpus effudit, populum scilicet Christianum).
Die allgemein vertretene Anschauung, daß es „außerhalb der Kirche kein Heil gibt" (klassisch formuliert von -»Cyprian, ep. 73,21: salus extra ecclesiam non est), besagt nicht, daß die Kirche als solche die heilsvermittelnde Instanz wäre, sondern ergibt sich aus ihrer Bindung an Christus und ihrer Funktion als Bewahrerin der Wahrheit. Die Möglichkeit, daß zwischen Heilsbotschaft und kirchlicher Institution eine grundsätzliche Spannung bestehen könnte, wird von der altchristlichen Theologie noch nicht erörtert. Die zunehmende zeitliche Entfernung der Kirche von ihren Ursprüngen und ihre räumliche Ausdehnung bringt neue ekklesiologische und organisatorische Aufgaben. Die Einheit der Kirche wird zum Problem. Um sie zu wahren, muß die Glaubensüberlieferung normiert werden. Die Kirche wird vom Besitz der Wahrheit her verstanden. Die Durchsetzung des monarchischen Episkopats und die Verfestigung der übrigen Ämter (-• Amt/Ämter/Amtsverständnis V) setzt ältere Ansätze fort (s.o. S.214f). Die „charismatischen" Ämter treten zurück, dafür werden die funktionalen Ämter charismatisch überhöht. Der Geist muß das Amt legitimieren. Der Ausbau der Ämter ist nicht grund-
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sätzlich negativ zu bewerten: er entsprach den Bedürfnissen der wachsenden Kirche, doch barg die Steigerung der bischöflichen Macht und die Hierarchisierung natürlich auch Gefahren in sich. Schon sehr früh gewinnen einzelne Gemeinden, vor allem solche in großen Städten, die Stellung regionaler kirchlicher Zentren. Aus der Notwendigkeit gemeinsamen Handelns entsteht noch im 2. Jh. das Institut der -»Synode. Seit der konstantinischen Wende werden die kirchlichen Verfassungsstrukturen den Provinzen und teilweise auch den diese übergreifenden Diözesen des römischen Reiches angepaßt (—»KirchenVerfassung I). Am Ende der Verfassungsentwicklung steht das System der -»Patriarchate, wobei Rom mit zunehmendem Nachdruck seinen Primatsanspruch geltend macht (-»Papsttum). Diesen wird es freilich nur im Westen durchsetzen können. Eine scharfe Trennung zwischen der Kirche als von Gott berufener und vom Heiligen Geist belebter Gemeinschaft und ihrer rechtlichen Organisation wird nicht vorgenommen. Man empfindet keine prinzipielle Spannung zwischen Kirche und Recht. Die Ordnung in der Kirche wird entschieden bejaht, doch das Streben nach rechtlicher Uniformität hält sich in Grenzen (-»Kirchenordnungen, -»Kirchenrecht, —»Kirchenverfassung). Man scheut sich nicht, profane Amtsbezeichnungen und Rechtsformen zu übernehmen, und hält dabei die kirchlichen Ordnungen denen der „Welt" für überlegen. Seit der Duldung und Anerkennung der Kirche durch den Staat wird sie als Korporation zum Gegenstand kaiserlicher Gesetzgebung (corpus Christianorum: Toleranzedikt des Licinius und Konstantin bei Lactantius, De mort.pers. 48,8-9; Eusebius, h.e. X,5,11-12). Für die Ekklesiologie bleiben die kirchenrechtlichen Fragen nahezu ohne Bedeutung. Das Kirchenrecht erfüllt in der alten Kirche eine bloße Hilfsfunktion. Erst im Hochmittelalter tritt das Kirchenverständnis der Kanonisten selbständig dem der Theologie gegenüber. 2. Ekklesiologische
Vorstellungen vom Anfang des 2. Jh. bis Irenäus und Hippolyt
2.1. Die Quellen des 2. Jh. vor Irenäus zeigen verschiedene ekklesiologische Ansätze und Motive, ohne daß es zur Ausbildung umfassender Konzeptionen gekommen wäre. Für den I Clem (—»Clemens von Rom) sind die Christen der „heilige Teil" Israels (2.9,1-30,1), das erwählte Gottesvolk (59,3-4; 64) und die „Herde Christi" (16,1; 44,3; 54,2; 57,2). Die Vorstellung vom Christusleib erscheint unter dem Gesichtspunkt der Ordnung und der gegenseitigen sittlichen Verpflichtung der Glieder (37-38). Die starke Betonung der kirchlichen Ordnung als eines zeitlosen Ideals (vgl. besonders 19,2-20,12; 37) und die Begründung der Ämter mit den alttestamentlichen Kultvorschriften (40-43), unabhängig von der Bindung an Christus, ist problematisch. Doch es handelt sich nur um eine Tendenz, nicht um eine durchdachte ekklesiologische Theorie. -»Ignatius von Antiochien sieht die Kirche als eine Himmel und Erde umspannende kosmische Größe (IgnEph inscr.; 9,1; IgnPhld 9,1; IgnSm 1,2; 7,1 f). Als Ka9oXiKt) ¿KKXtjaia (Sm 7,2) tritt sie in den Einzelgemeinden sichtbar in Erscheinung; deren Amtsstrukturen entsprechen der Ordnung der himmlischen Kirche (Trall 3,1; Magn 6,1). Aus dieser Korrelation erwächst auch die Forderung der kirchlichen Einheit (Eph 5,1; Phld 7,2-8,1; Trall 11,2; Pol 1,2). Der II Clem (-»Clemensbrief, Zweiter) betont die Präexistenz der Kirche; sie ist Leib Christi und nach Gen 1,27 Christus wie die Frau dem Mann zugeordnet. Ihrem Wesen nach pneumatisch, ist sie „im Fleisch Christi" offenbar geworden (14). Hier mag gnostische Syzygienspekulation eingewirkt haben. -»Hermas erklärt einerseits die Kirche für präexistent (vis 11,4,1), andererseits schildert er sie im Bild eines im Bau befindlichen Turmes als eschatologische Größe (vis 111,1-8; sim IX). Wer sich vor der Vollendung des Baus heiligt und Buße tut (sim IX,32f; X), wird in die gereinigte Kirche der Endzeit eingehen (sim IX,18; IX,31: Reich Gottes). Die Aspekte der himmlischen und der empirischen Kirche durchdringen sich. 2.2. Die christlichen Gnostiker (-»Gnosis/Gnostizismus) haben zwar Schulen und esoterische Zirkel gebildet, wollten sich aber nicht gegen die Kirche stellen (Belege bei Koschorke). Die wahre Kirche befindet sich für sie im Himmel: entweder als besonderer
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Äon oder als Gemeinschaft aller Geistwesen (Irenaus, haer. 1,30,2; Tractatus Tripartitos, NHC 1/5,57,34-59,5; Vom Ursprung der Welt, NHC 11/5,124,25-32; 2. Logos des großen Seth, NHC VII/2,50,2-24; 51,13-20; 65,33-66,11; 68,13-16). Die irdische Kirche ist ihr Gegenbild (2 LogSeth, NHC VII/2,60,15-29). Die Gnostiker fühlen sich als Christen höherer Ordnung der irdischen Kirche zugehörig; sie bildet ein notwendiges Durchgangsstadium (vgl. Clemens Alexandrinus, exc. ex Theod. 58,1; Irenaus, haer. 111,15,2). Im Gegensatz zu den gnostischen Gruppen verstanden sich die Marcioniten (-»Marcion/Marcioniten) als die wahre Kirche und organisierten sich nach dem großkirchlichen Muster (klassischer Beleg: Tertullian, Adv.Marc. IV,5,3). 2.3. Die Apologeten suchen die heidnische Öffentlichkeit von der politischen und moralischen Ungefährlichkeit der christlichen Gemeinschaft zu überzeugen (-»Apologetik I). -»Justin der Märtyrer setzt sich nicht nur mit Heiden und Häretikern auseinander. In seinem Dialog mit dem Juden Tryphon führt er den Nachweis, daß die Christen das neue Gottesvolk sind (119-141; wahres Israel: 11,5; 123,9; 135,3; s.o. S.208f). 2.4. Eine einigermaßen geschlossene Ekklesiologie begegnet zuerst bei —»Irenaus von Lyon. Allerdings ist sie auch für ihn kein selbständiges theologisches Thema, sondern er sieht die Kirche nahezu ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihres Dienstes an der Wahrheit. Die von den Aposteln einhellig verkündigte Wahrheit ist in der Kirche unverändert bewahrt worden. Die Kirche ist „Gefäß" und „Haus" der Wahrheit (haer. 111,4,1; 24,2), Mutter und Ernährerin der Gläubigen (haer. 11,24,1; V,20,2) und teilt an ihre Kinder den Glauben aus (haer. III, praef.; 24,1; epid. 98). Der Sohn Gottes hat die Kirche gesammelt und ist ihr Haupt (haer. 111,6,1; 16,6; V,18,l). Die heiligen Schriften sind ihre Grundfeste (haer. 111,11,8; vgl. IV,32,1; V,20,2). Auf der ganzen Welt verherrlicht sie Gott und seinen Sohn (haer. IV,17,6; 19,1). Sie ist der Hafen der Wahrheit und des Heils; Trennung von ihr bedeutet Trennung von der Wahrheit (haer. 111,24,2; IV, praef. 1; 26,2; 33,7; V,34,3). Sie hat vom Herrn den Geist empfangen und ist der Ort der Charismen (haer. 111,17,2-3; IV,21,3; epid. 41; haer. 11,31,2; 3 2 , 4 - 5 ; 111,11,9;24,1; IV,33,15; V,6,l; 18,1). Ubi enim ecclesia, ibi spiritus dei; et ubi spiritus dei, illic ecclesia et omnis gratia: spiritus autem veritas [Wo nämlich die Kirche ist, dort ist auch der Geist Gottes; und wo der Geist Gottes ist, dort ist die Kirche und alle Gnade: der Geist aber ist die Wahrheit] (haer. 111,24,1). Dieser berühmte Satz besagt, daß Kirche, Geist und Wahrheit zusammengehören. Das Verhältnis von Geist und Institution wird dabei nicht weiter geklärt. Die weltweite Einheit der Kirche im Glauben erweist ihre Treue zur Verkündigung der Apostel (haer. 1,10-11; 11,9,1; 111,3,1.3; 12,7; V,19,2; 2 0 , 1 - 2 ; epid. 98). Unterschiede der kirchlichen Sitte tangieren die Einheit nicht (haer. IV,33,7; Brief an Viktor von Rom bei Eusebius, h.e. V,24,13). Das kirchliche Amt sieht Irenaus vor allem als Lehramt. Die Sukzession der Amtsträger garantiert die unverfälschte Überlieferung der Wahrheit (haer. 111,3,3). Die unmittelbar von den Aposteln gegründeten Gemeinden besitzen hinsichtlich der Zuverlässigkeit ihrer Lehrüberlieferung einen gewissen Vorrang (haer. 111,4,1). Die potentior principalitas [hervorragender Ursprung?] der römischen Gemeinde (haer. 111,3,2) ist jedoch keinesfalls auf einen Primat zu deuten (-»Papsttum). 2.5. Das Kirchenverständnis -»Hippolyts von Rom ist verwandt mit dem des Irenäus, weist aber auch auf die Anschauungen der späteren griechischen Theologie voraus. Die Kirche ist gegründet auf Christus; nur durch die dauernde Verbundenheit mit ihm kann sie bestehen (In Dan. 1,9,8; 17,8-12; IV,37,2; De antichr. 59). In der Bibel findet Hippolyt zahlreiche Typen der Kirche. Besonders charakteristisch ist die ekklesiologische Deutung der Gestalt der Susanna und des Paradieses: die Kirche ist eine heilige Gemeinschaft; als erneuertes Paradies bildet sie eine schon jetzt existierende eschatologische Wirklichkeit (In Dan. 1,14-18). Die Christen sind durch die Taufe geheiligt (In Dan. 1,16; 33; IV,59,4). Die Sünder, die nicht der empfangenen Heiligkeit entsprechend leben, gehören der Kirche nur scheinbar an (In Dan. 1,24,5; IV,38,2). Von diesem rigoristischen Kirchenverständnis aus ergab sich der Konflikt mit -»Calixtus I. von Rom, der angeblich unter Berufung auf Rom 14,4; Mt 13,30 und Gen 6 die Kirche als eine Gemeinschaft von Reinen und Unreinen
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verstand (Refutatio IX,12,20-23). Die Kirche ist durch den Geist im Besitz der Wahrheit. Insbesondere die Bischöfe sind zu deren Verkündigung befähigt und berufen (Refutatio I, praef. 6 - 7 ) . Einblick in Struktur und Praxis von Hippolyts römischer Sondergemeinde gewährt seine Kirchenordnung, die Traditio Apostolica (-*Kirchenordnungen). 3. östliche und westliche Ekklesiologie bis zum Konzil von Nicäa 3.1.1. In den ekklesiologischen Aussagen des -»Clemens von Alexandrien sind irdische und himmlische Kirche nicht voneinander zu trennen. Die Verwandtschaft mit gnostischen Vorstellungen ist unverkennbar. Die irdische Kirche ist Abbild der himmlischen (str. IV,66,1; VI,107,2). Letztere ist die „Versammlung der Auserwählten" (str. VII,29,4; ähnlich paid. 11,6,2; str. VII,68,5). Die wahren Gnostiker werden in ihr die höchsten Ränge einnehmen (str. VI,105,1-108,1). Die „katholische Kirche" ist eine, wie Gott einer ist, und älter als die Häresien, denn sie umfaßt die vor der Schöpfung erwählten Gerechten (str. VII, 106f). Die Kirche ist schließlich die Braut und jungfräuliche Mutter; in ihr und durch sie lehrt der Logos (paid. 1,22,2-3; 42; 11,98,1; 99,1). 3.1.2. Trotz aller Spiritualisierungstendenzen widmet Origenes der empirischen Kirche wesentlich größere Aufmerksamkeit als Clemens. Die „Kirchen Gottes" sind über die ganze Welt verbreitet; verglichen mit den „Kirchen" der Heiden (¿KK^rjaia = Volksversammlung), leuchten sie wie die Sterne im Kosmos (Cels. 11,29; zur Gegenüberstellung von Kirche und Staat vgl. noch Cels. 111,30; Horn. Num. 12,2; Comm.Ioh. 32,12,133; Cels. VIII,75). In ihrer Gesamtheit bildet die Kirche den Leib Christi (Horn. Iesus Nave 7,6; Comm. Mt. XIII,24; Comm. Joh. VI,48). Der Logos belebt und aktiviert sie als ganze wie jedes ihrer Glieder (Cels. VI,48). Die Kirche ist eine heilige Gemeinschaft (orat. 20,1; Horn.Gen. 2,4; Horn. Iesus Nave V,6), wenn auch Unwürdige in ihr leben (Horn. Iesus Nave 21,1; Horn. lerem. 15,3; frgm. 31 Klostermann). Die Forderung der persönlichen Vollkommenheit wird besonders an die Bischöfe und Kleriker gerichtet. Sie stehen in einem Entsprechungsverhältnis zu himmlischen Gestalten (Horn. Luc. 9; 23), und Christus selbst ist der wahre Bischof (Comm. Mt. ser. 10). Daraus ergibt sich die Höhe der Anforderungen, denen die Amtsträger zu genügen haben. Origenes übt eine „pietistische" Kritik an den Unzulänglichkeiten des zeitgenössischen Klerus (von Campenhausen, Kirchliches Amt 272ff). Wer sündigt, schließt sich aus der Heilsgemcinschaft der Kirche selbst aus (Horn. lerem, frgm. 48 Klostermann; Horn. Lev. 14,2 f; Horn. lud. 2,5). Umgekehrt bleibt ein ungerechter Ausschluß aus der Kirche geistlich ohne Folgen (Horn. Lev. 14,3; Comm. Mt. ser. 14). Die Wirksamkeit kirchlicher Entscheidungen hängt von der geistlichen Qualität der Amtsträger ab (Comm. Mt. XII,14). Der fromme, geisterfüllte Laie steht über vielen Bischöfen und ist bei Gott selbst ein Bischof (Horn. Num. 2,1; Comm. Mt. ser. 12; Horn. lerem. 11,3). Durch solche Gedankengänge wird die Bedeutung der institutionellen Kirche relativiert; letztlich kommt es auf Gottes unmittelbares Handeln und auf die geistliche Verfassung des einzelnen Christen an. Doch Origenes hat aus seinen Anschauungen keine kirchenrechtlichen Konsequenzen gezogen. 3.1.3. -»Methodius von Olympus, sonst ein Kritiker des Origenes, stimmt mit diesem in der Ekklesiologie weitgehend überein. Er sieht die Kirche einerseits als die „Frau" des Logos (nach Gen 2,21-24) und Mutter der Gläubigen, die sie durch die Taufe gebiert, andererseits als die Versammlung der Gläubigen selbst, wobei freilich nur die in Erkenntnis und Tugend Fortgeschrittenen die Kirche im eigentlichen Sinn bilden. Sie sollen ihrerseits den Anfängern weiterhelfen (Sympos. IV,8f; VIII,5-8). Die fortgeschrittenen Christen sind weitgehend mit den Amtsträgern identisch (De lepra 15), doch denkt Methodius nicht an ein Amtscharisma, sondern an die individuelle geistliche Reife (De lepra 17 f). 3.2.1. Die abendländischen Theologen haben von Anfang an stärker die sichtbare Kirche und ihre Organisation im Blick, doch darf man den Unterschied zwischen westlicher und östlicher Ekklesiologie in vornicänischer Zeit nicht überspitzen. Die Aussagen -»Tertullians über die Kirche zeigen je nach Abzweckung und Frontstellung verschiedene Aspekte. Apologetisch kann Tertullian die Kirche als „Körperschaft"
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(corpus) und Verein kennzeichnen (apol. 39; ecclesia wird mit curia [Ratsversammlung] wiedergegeben: apol. 39,21; cor. 13,1)- Ihrem wahren Wesen nach ist sie eine himmlische Größe (bapt. 8,4; 15,1; Marc. 111,24,3-5; cor. 13,4). Als himmlisches Reich steht sie in einem unüberbrückbaren Gegensatz zur Welt (mart. 2; spect. 25; cor. 13). Die Bilder vom Leib und von der Braut Christi dienen Tertullian zur Begründung sittlicher Forderungen (monog. 13,3; exh. cast. 5; pud. 1,8; 18,11). Aus der Leib-Christi-Vorstellung ergibt sich die Gleichsetzung von Kirche und Christus: in den Mitbrüdern tritt Christus selbst für die Büßer ein (paen. 10,5 f). Die Aussage, daß die Kirche der „Leib" (corpus) von Vater, Sohn und Heiligem Geist sei (bapt. 6,2), ist wohl im Sinne des anderen Satzes zu verstehen, daß die (himmlische) Kirche „selbst der Geist ist, in dem die Dreiheit der einen Gottheit ist" (pud. 21,16). Der Geist „sammelt jene Kirche, die der Herr schon bei dreien bestehen ließ" (ebd.; nach Mt 18,20). Gegenüber den Häresien betont Tertullian wie Irenaus die Einheit der Kirche. Sie entspricht der Einheit Gottes (bapt. 15,1) und manifestiert sich im einheitlichen Glauben der Einzelgemeinden sowie in deren Gemeinschaft untereinander (praescr. 20; virg. vel. 2,2). Die Apostel übermittelten den von ihnen gegründeten Gemeinden die Glaubenslehre; diese gaben sie unverändert an ihre Tochtergründungen weiter (praescr. 20 f; 32; Marc. IV,5). Träger der Überlieferung sind die Bischöfe (praescr. 32). Das kirchliche Amt ist um der Ordnung willen notwendig, doch können im Notfall die Laien sämtliche priesterlichen Funktionen ausüben (bapt. 17,1; exh. cast. 7,3; monog. 12). Umgekehrt ergeben sich aus dem Priestertum der Laien gleich hohe sittliche Anforderungen an alle Christen (exhort. cast. 7; monog. 7,8 f; 12). Der Sünder schließt sich selbst aus der Kirche aus (pud. 14,24). Als Montanist (-> Montanismus) hat Tertullian seinen Kirchenbegriff nicht verändert. Doch er kritisiert jetzt scharf die moralischen Schwächen der Bischöfe (cor. 1,5; fuga 13,3; ieiun. 17,4) und besonders ihren Anspruch, schwere Sünden zu vergeben {De pudicitia). Die wahre Kirche, die allein Vergebungsvollmacht besitzt, ist die „Kirche des Geistes" (ecclesia spiritus), nicht die verfaßte Kirche der Bischöfe (ecclesia numerus episcoporum: pud. 21,17). 3.2.2. —»Cyprian von Karthago war als Bischof mit äußerer Verfolgung und innerkirchlichen Konflikten konfrontiert. Seine Aussagen über die Kirche sind von dieser geschichtlichen Situation geprägt. Auch sein berühmter Traktat De ecclesiae catholicae unitate ist eine Kampfschrift. Der häufig variierte Satz, daß nur in der Kirche Heil ist (un. 6; ep. 52,1; 55,24; 71,1; 73,21; 74,7f), spricht die allgemeine Überzeugung der alten Kirche aus. Neu ist die überragende Stellung, die dem Amt, vor allem dem Bischof, zugewiesen wird: Der Bischof ist von Gott eingesetzt (un. 17; ep. 3,3; 48,4; 59,5; 66,1), er steht an Christi Stelle (ep. 59,5) und ist Nachfolger der Apostel (ep. 3,3; 33,1; 45,3). Er ist Garant der Einheit der Gemeinde (ep. 43,5). „Der Bischof ist in der Kirche und die Kirche im Bischof"; Gemeinschaft mit dem Bischof bedeutet Gemeinschaft mit der Kirche (ep. 66,8; 59,5). Sämtliche kirchlichen Funktionen liegen in der Hand des Bischofs (ep. 33,1). Er wacht über die Disziplin, lehrt, spendet die Sakramente und leitet das Bußverfahren (Altendorf 8 2 - 9 2 ) . Allerdings handelt er im Einvernehmen mit Klerus und Gemeinde (ep. 14,1.4; 16,1; 29). Und der Bischof, der versagt, verliert jegliche amtliche und geistliche Qualifikation (ep. 65,2; 67,3.9; 70,2; s. T R E 2,548). Sakramente können wirksam nur innerhalb der Kirche gespendet werden (ep. 55,8; 73). Die Einheit der Gesamtkirche erweist sich sichtbar in der Gemeinschaft der Bischöfe (un. 5; ep. 45,3; 46,2; 55,1.8.21.24; 66,8; 68,3.5; 72,3; 73,26). Es gibt nur ein einziges Bischofsamt; jeder Bischof übt es ganz aus, ist aber zur Solidarität mit den übrigen Bischöfen verpflichtet (un. 5). Heute besteht Konsens, daß Cyprian noch keinen römischen Primat kennt; er ist „Episkopalist". Die Einheit der Kirche wird jedoch nicht durch die Gemeinschaft der Bischöfe begründet; sie ist vielmehr vorgegeben, weil sie von Gott kommt und aus der Gemeinschaft mit Christus erwächst (un. 6f; ep. 45,3; 52,1; 55,24; 69,5; 74,4.6.11). Der starken Betonung des Amtes entspricht es, daß Cyprian vor allem vom Klerus persönliche Heiligkeit verlangt (ep. 65,4; 67,1-3.9; 70,2; 72,2). Doch sind Heiligkeit und Reinheit Wesenszüge der gesamten Kirche (hab. virg. 23; un. 6; ep. 59,1; 66,2; 73,11). Obwohl Cyprian sich gegen den Rigorismus
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Novatians wendet (ep. 54,3; 55,25; —»Novatian und seine Kirche), versteht er die Kirche nicht als ein corpus permixtum (Simonis 2 0 - 2 3 ) . Daher konnten sich Katholiken wie Donatisten auf ihn berufen. 4. Ekklesiologie
im vierten
Jahrhundert
4.1. Die konstantinische Wende bringt der Kirche staatlichen Schutz, Stärkung und Ausbau ihrer Institutionen. Kirche und Staat können jetzt (wie gelegentlich auch schon früher) in einer positiven, heilsgeschichtlichen Beziehung gesehen werden. Ausgehend von der „politischen Theologie" des Eusebius von Caesarea, entsteht im Osten die byzantinische Reichsideologie, in der irdisches Reich und Gottesvolk gleichgesetzt werden. Diese Anschauung schließt den Widerstand gegen staatliche Einmischung in Glaubensfragen nicht aus. Im Abendland kommt es durch andersartige geschichtliche Erfahrungen zu einem deutlicheren Bewußtsein des Unterschieds von Kirche und Staat. Augustin hat in De civitate dei die Fragen des Verhältnisses der Kirche zur Welt und zum Staat, wie sie sich in der neuen geschichtlichen Situation stellten, in bahnbrechender Weise behandelt (-»Kirche und Staat). 4.2. Im Osten wird die Ekklesiologie über den im 3. Jh. erreichten Stand hinaus kaum systematisch weiterentwickelt. Die Bezüge auf die Kirche sind in der theologischen Literatur, vor allem in der exegetischen, allgegenwärtig, und man ist sich in den großen dogmatischen Kontroversen bewußt, daß es um die Identität der Kirche geht. Doch es fehlt die äußere Nötigung, eine umfassende Lehre von der Kirche zu schaffen. Die 18. Katechese des —»Cyrillus von Jerusalem, in der die Worte und an eine heilige katholische Kirche aus dem Jerusalemer Taufbekenntnis erklärt werden, bietet „die Quintessenz dessen, was die Griechen allezeit von der Kirche ausgesagt h a b e n " (Harnack, Lehrbuch 11,111): Die Kirche heißt „katholisch" wegen ihrer Universalität, wegen ihrer unablässigen Lehrtätigkeit, weil sie Menschen aller Art umfaßt, weil sie sämtliche Sünden heilt und weil sie „jegliche Art von Tugend in Werken, Worten und mannigfachen pneumatischen C h a r i s m e n " besitzt (23). Der N a m e EKK^rjaia erklärt sich daraus, „daß sie alle Menschen beruft und zusammenführt" (24). N a c h der Verwerfung der Juden hat Christus eine „zweite K i r c h e " aus den Heiden „ e r b a u t " ( 2 5 . 2 7 ) . Die Näherbestimmung „katholisch" ist notwendig, um die heilige katholische Kirche von den Versammlungen der Häretiker zu unterscheiden. Sie allein ist unsere Mutter, ist die Braut Christi und bildet das „obere J e r u s a l e m " ab (nach Gal 4,26) (26). In der katholischen Kirche hat Gott die Ämter und Charismen von I Kor 12,28 eingesetzt (dieses Zitat ist die einzige Erwähnung des kirchlichen Amtes!), außerdem hat er ihr jegliche Tugend verliehen. In den Zeiten der Verfolgung bekränzte die Kirche die Märtyrer, jetzt, im Frieden, wird sie durch Könige, Machthaber und Menschen aller Art geehrt. Im Unterschied zum begrenzten Herrschaftsbereich der Könige umfaßt die Kirche die gesamte Ökumene (27). „Wenn wir uns in dieser heiligen katholischen Kirche unterweisen lassen und gut wandeln, werden wir durch sie das Himmelreich erlangen und das ewige Leben erben" (28).
Wahrscheinlich am deutlichsten hat -»Basilius von Caesarea die Gefahren der Veräußerlichung und Verweltlichung erkannt, die der Massenkirche drohten. Er hat das Mönchtum nicht nur äußerlich in die Kirche integriert; die asketischen Gemeinschaften sollen in vorbildlicher Weise den Leib Christi darstellen und das Ideal der Jerusalemer Urgemeinde verwirklichen (vgl. reg. fus. tract. 7: PG 31,928-933). Von hier aus erwartet er eine Rückwirkung auf die Gesamtkirche. Die paulinische Anschauung von der Kirche als Leib Christi, in dem die Vielfalt der Geistesgaben wirksam ist, bildet das ekklesiologische Leitbild des Basilius (Fedwick). Ein ähnlicher Rückgriff auf die paulinische Ekklesiologie ist bei -»Johannes Chrysostomus zu beobachten (Ritter). Man kann jedoch nicht von einer allgemeinen Neuentdeckung der ekklesiologischen Grundgedanken des Paulus durch die östliche Theologie des 4. Jh. reden. Dies zeigt ein Blick auf -»Gregor von Nyssa: Während Basilius die Gemeinschaft der Christen untereinander und ihren gegenseitigen Dienst betont, sieht sein Bruder Gregor die Einheit des Leibes Christi einseitig in der gemeinsamen Ausrichtung aller Glieder auf Gott {In illud: Quando sibi subiecerit omnia: PG 44,1317 A - 1 3 2 0 C; De perf. 197,19-200,3; In cant. XIII f). Die traditionellen ekklesiologischen Metaphern werden individualisiert (Hübner 202 f). Da Gregor die Sakramen-
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te lediglich als Zeichen eines geistigen, innerlichen Geschehens versteht (Hübner 170-183), reduziert sich für ihn die Funktion der Kirche auf die Anleitung zum Glauben und zur Tugend. Jedem Menschen ist das Ziel der „Angleichung an Gott" gesetzt (s. TRE 14,178). Durch die gleiche Gottähnlichkeit vereint, werden Menschen und Engel gemeinsam den eschatologischen Leib Christi bilden (Hübner 204—231). 4.3. Die großen abendländischen Theologen vor und neben Augustin —»Hilarius von Poitiers, -•Ambrosius und -»Hieronymus - übernehmen und variieren die traditionellen Vorstellungen von der Kirche, doch haben auch sie die ekklesiologische Theorie nicht wesentlich verändert oder fortgebildet. Den entscheidenden Impuls zu einer neuen theologischen Besinnung auf das Wesen der Kirche gab die Auseinandersetzung mit dem Donatismus (-»Afrika I). Gegenüber dem donatistischen Anspruch, allein die wahre, heilige Kirche zu sein und gültige Sakramente zu besitzen (s. TRE 1,666), galt es, die katholische Position zu verteidigen. Vor allem war theologisch zu begründen, warum die katholische Kirche die (korrekt gespendete) Ketzertaufe nicht wiederholte und die von „Traditoren" vollzogenen Weihen anerkannte (can. 8 und 13 der Synode von Arles 314: Acta et symbola conciliorum quae saeculo IV. habita sunt. Ed.E. J. Jonkers, Leiden 1954 [Textus Minores 19] 25 f). 5. Optatus und Augustin 5.1. Den Weg zu einer theologischen Uberwindung des donatistischen Kirchenverständnisses wies -»Optatus von Mileve: Die Heiligkeit der Kirche beruht auf den Sakramenten, nicht auf Personen (ecclesia una est, cuius sanctitas de sacramentis colligitur, non de personarum superbia ponderatur [die Kirche ist eine; ihre Heiligkeit ergibt sich aus den Sakramenten und wird nicht nach dem Hochmut von Personen beurteilt]: 11,1, S. 3 2 , 7 - 9 Ziwsa). Kein Mensch kann von sich aus wirklich heilig sein, es gibt nur „Halbvollkommene" (semiperfecti) (11,20). Niemand kann das Gericht Christi vorwegnehmen und die Sünder aus der Kirche ausscheiden (VII,2f)- Die Sakramente dagegen sind an sich (perse) heilig (V,4, S. 127,16). Sie sind Gabe Gottes, nicht der Menschen (V,4-7). Auf dieser Linie hat Augustin weitergedacht. 5.2. -*Augustin betont die räumliche und zeitliche Universalität der katholischen Kirche: Sie erstreckt sich weltweit und umfaßt die Gerechten von Abel an. Ihrem wahren Wesen nach ist sie der Leib Christi. Der Heilige Geist schenkt ihr die Liebe, die sowohl ihre Einheit mit Christus als auch die Einheit ihrer Glieder untereinander bewirkt (serm. 267,2; en. in ps. 32,2,s.2,21; tr. in ep. loh. 1,12; 10,3; tr. loh. 27,6). Allerdings stellt sich der Leib Christi in der empirischen katholischen Kirche nicht rein dar: In ihr sind viele Böse, die nicht wirklich zu ihr gehören (bapt. IV,3,4-5; V,27,38; c. litt. Pet. 11,108,247; ep. ad cath. 14,35; 21,60; doctr. ehr. 111,32,45). Es kann nicht gelingen, sie aus der Kirche auszuscheiden, auch nicht durch strenge Kirchenzucht (Ad Donatistas post coli. 4,6; 20,28). Die ecclesia mixta der Jetztzeit ist von der heiligen Kirche der Endzeit zu unterscheiden (Breviculus coli. 111,9,16; De civ. XX,9; retr. 11,44). Die Schilderung der „Gottesbürgerschaft" auf ihrer Pilgerfahrt zum ewigen Ziel im zweiten Teil von De civitate dei (XI-XXII) ist maßgebend von der Spannung zwischen diesen beiden Gestalten der Kirche bestimmt. Allein bei Gott steht fest, wer am Ende der Zeiten zur wahren Kirche gehören wird: Sie ist identisch mit der Zahl der zum Heil Prädestinierten (bapt. V,27,38). Die Sakramente gehören Gott und sind deshalb unabhängig vom Spender heilig und gültig. Wirksam werden sie allerdings nur innerhalb der katholischen Kirche (vgl. De baptismo; TRE 4,677). Augustin wird mit seinem differenzierten, mehrschichtigen Kirchenbegriff der Realität der Volkskirche im christlich gewordenen Imperium ungleich besser gerecht als die Donatisten. Er hat den Begriff der Heiligkeit sowohl der Kirche als auch des einzelnen gegenüber der älteren Theologie entscheidend vertieft. Dabei vermochte er die Ekklesiologie mit den Grundgedanken seiner Gnadenlehre systematisch zu verbinden. Augustins Kirchenverständnis bleibt durch das ganze Mittelalter hindurch
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wirksam und beeinflußt die Reformatoren. Wegen seiner Komplexität konnte es freilich sowohl theokratisch als auch spiritualistisch verkürzt werden. 6. Die Kirche im
Glaubensbekenntnis
Bereits vor dem Aufkommen fest formulierter -»Glaubensbekenntnisse begann man seit der zweiten Hälfte des 2. Jh. die Kirche in den Tauffragen zu nennen (Tertullian, bapt. 6,2; KOHipp 21, S.50 Botte; Cyprian, ep. 69,7; 70,2). Auch in der bekenntnisartigen Formel von Epistula Apostolorum 5 (16), wohl einer Fassung der „Glaubensregel" (s. T R E 13,406 f), taucht die Kirche auf. Es lag zweifellos nahe, neben dem Heiligen Geist die Kirche als den Ort seines Wirkens zu nennen. Die zunehmende Abgrenzung der Großkirche gegen die Häresie im 2. Jh. dürfte den Anstoß gegeben haben, dies ausdrücklich zu tun (Kelly, Glaubensbekenntnisse 152-160). In den Taufbekenntnissen des 4. Jh. wird die Nennung der Kirche zum Normalfall. In Rom heißt es einfach: „Ich glaube . . . an die heilige Kirche" (Marcellus von Ancyra bei Epiphanius, panar. haer. 72,3,1), in Jerusalem: „Wir glauben . . . an eine, heilige, katholische Kirche" (s.o. S. 223). Im -»Nicaeno-Constantinopolitanum, das vermutlich im Anschluß an ein Taufsymbol formuliert wurde und selbst bald als solches dienen sollte, tritt noch das Prädikat „apostolisch" hinzu (elç fiiav âyiav Ka9okiKt]v Kai ànoGTokiKtjv ÈKKhjaiav). Im -»Apostolischen Glaubensbekenntnis wird nach der „heiligen katholischen Kirche" die sanetorum communio genannt. Diese Wendung ist umstritten. Die Tendenz der heutigen Forschung geht dahin, sie als .Gemeinschaft mit den heiligen Personen' zu verstehen, d.h. als die durch die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche vermittelte Gemeinschaft mit den Frommen aller Zeiten. Doch ist auch die Deutung auf die .Teilhabe an den heiligen Dingen', d.h. die Eucharistie, nicht ausgeschlossen (vgl. Kelly, Glaubensbekenntnisse 381—390; TRE 3,550f). Seit sich die Lehre von der Gottheit des Heiligen Geistes durchgesetzt hatte und es im Zusammenhang damit zu einer scharfen begrifflichen Unterscheidung zwischen dem trinitarischen Gott und seiner Schöpfung gekommen war, stellte sich die Frage, inwiefern die Kirche (ebenso wie die Sündenvergebung und die Auferstehung) neben Vater, Sohn und Geist Gegenstand des Glaubens sein könne. Das Problem wurde mit Hilfe sachlicher und sprachlicher Überlegungen gelöst: Ambrosius erklärt, daß aus dem Glauben an Gott auch der Glaube an sein Werk folge (Explanatio symboli 6: SC 25 2 , 52—54). -»Rufin von Aquileia weist darauf hin, daß nur den göttlichen Personen die Präposition in vorangestellt sei (credo in deo patre), während Kirche, Sündenvergebung und Auferstehung des Fleisches im bloßen Akkusativ stünden. „Durch diese Präposition wird der Schöpfer von den Geschöpfen geschieden und das Göttliche vom Menschlichen getrennt" (expositio symboli 34. 37: CChr.SL 20,169f. 171) (vgl. Kelly, Glaubensbekenntnisse 152-154). Quellen Ambrosius, Expositio evangelii secundum Lucam/Fragmenta in Esaiam, 1957 (CChr.SL 14). Augustin, s. das Werkverzeichnis T R E 4 , 6 9 0 - 6 9 2 . - Clemens Alexandrinus, I - I V , 1 9 0 5 - 1 9 3 6 , I 3 1972, II 4 1985, III 2 1970, IV/1 2 1980 ( G C S 1 2 , 1 5 [52], 17,39/1 - 3 ) . - Cyprian, Opera omnia, 3 Bde., 1868-1871 (CSEL 3 / 1 - 3 ) . - Ders., Ad Quirinum - Ad Fortunatum - De lapsis - De ecclesiae catholicae unitate, 1972 (CChr.SL 3). - Cyrillus v. Jerusalem: PG 33. - Epiphanius, I—III, 1915-1933, II 2 1980 (GCS 25.31.37). - Epistula Apostolorum: NTApo 4 1 , 1 9 6 8 , 1 2 6 - 1 5 5 . - Eusebius, KG, 3 Bde., 1 9 0 3 - 1 9 0 9 (GCS 9 / 1 - 3 ) . - Gregor v. Nyssa, Gregorii Nysseni Opera. VI. In Canticum Canticorum, Leiden 1960; VIII,1. Op. ascetica, ebd. 1952 = 1963. - Hippolytus, Werke, I 1897; III 1916 (GCS 1.26). - Ders., Traditio Apostolica: La Tradition apostolique de Saint Hippolyte. Essai de reconstruction par Bernard Botte, 1963 4 1972 (LWQF 39). - Irenaeus, Adversus haereses: Contre les hérésies, I - V , 1 9 6 5 - 1 9 8 2 (SC 263f.293f.210f.100.152f). - Ders., Epideixis: Démonstration de la prédication apostolique, 1959 = 1971 (SC 62). - Justin der Märtyrer: Die ältesten Apologeten, hg. v. Edgar J . Goodspeed, Göttingen 1914 = 1984. - Lactantius, De mortibus persecutorum: Op. omnia, II/2,1897 (CSEL 27/2). - Methodius, 1917 (GCS 27). - Nag-Hammadi-Texte: Der zweite Logos des großen Seth, hg.v. Martin Krause: Franz Altheim/Ruth Stiehl, Christentum am Roten Meer, Berlin, II 1973, 1 0 6 - 1 5 1 ; Tractatus Tripartitus, hg.v. Rodolphe Kasser u.a., 2Bde., Bern
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1. Von der Karolingerzeit
bis zur Frühscholastik (9.-11.
Jh.)
Das theologische Verständnis der Kirche im Abendland, das in der -»Scholastik des 12. und 13. Jh. seinen ersten Höhepunkt erreicht, wird nur verständlich, wenn die politische Entwicklung, die mit der Missionierung der germanischen Völker einsetzt, wenigstens in ihren Grundlinien dargestellt wird. Die Bekehrung der -»Franken und Westgoten (s. T R E 12,509,45 ff) zum Christentum hat das Entstehen der Nationalkirchen des für den germanischen Bereich typischen sog. frühmittelalterlichen Landeskirchentums zur Folge, das in einer Symbiose zwischen Kirche und weltlicher Herrschaft besteht. Kennzeichnend für dieses Verständnis von -»Kirche und Staat ist die Krönung -»Karls d. Gr. durch Papst Leo III. am Weihnachtstag des Jahres 800. Der Kaiser, seine Nachfolger, die Könige und Fürsten verstehen ihre Gewalt als eine Funktion in der Kirche. Sie nehmen nicht nur rein weltliche Interessen wahr, sie sorgen sich auch durch die Ausübung ihrer Schwertgewalt um die Belange des Glaubens. Die Einigung der germanischen Völker, die Missionierung und Christianisierung fallen zusammen. Für das -»Papsttum bedeutet die Königssalbung (-»Königtum) die Anerkennung einer gewissen religiösen Oberhoheit und die Beauftragung zu einem officium und ministerium innerhalb der ecclesia. Eine erste Gegenbewegung sind die pseudoisidorischen Dekretalen (—»Kirchenrechtsquellen), die um die Mitte des 9. Jh. im fränkischen Land auftauchen. Die Absicht der Fälscher ist es, Ordnung und Recht in der Kirche von den -»Laien unabhängig zu machen. In der weiteren Entwicklung, vor allem in der gregorianischen Reform, werden die Dekretalen zur Stärkung der päpstlichen Monarchie herangezogen. Die vielfach ohne Einfluß Roms durchgeführten Nationalkonzilien und Provinzialsynoden werden auf die Autorität des Papstes zurückgeführt, von dem das ganze Leben der Kirche abhängt.
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Entscheidenden Einfluß auf die weitere politische und kirchliche Entwicklung hat die ganz von den päpstlichen Erneuerungsideen beherrschte cluniazensische Reform des 11. Jh., deren Ziel es war, die inzwischen auf verschiedenen Ebenen entstandenen Mißstände zu überwinden (-»Cluny). Die Kirche, die weitgehend in der Gewalt der Laien ist, sollte auf ihren eigentlichen Auftrag zurückgeführt werden. -»Petrus Damiani (gest. 1072) versteht die Kirche als Leib Christi und Gemeinschaft im Heiligen Geist, in der sich die römische Kirche einer göttlichen Autorität erfreut. Der Papst ist solus omnium ecclesiarum universalis episcopus [alleiniger Universalbischof aller Kirchen]. Für Kardinal -•Humbert, den Berater Leos IX., ist die Ecclesia Romana, die in Glaubensdingen unwandelbar ist, die niemals geirrt hat und niemals irren kann, caput, mater, fons et fundamentum [das Haupt, die Mutter, die Quelle und die Grundlage]. Von ihr empfangen alle Kirchen Leben und Festigkeit. Den Bischöfen kommt die Verantwortung für die Gesamtkirche nur zu ihrem Teil zu (-»Bischof). Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist bei Papst -»Gregor VII. erreicht, der jede Laieninvestitur verbietet und die Kirche ganz und gar von der päpstlichen Monarchie abhängig macht (-»Investiturstreit). Das Priestertum, nicht das Königtum ist der Stern in der Nacht. Ihm ist die Gewalt zu binden und zu lösen gegeben. Die von Gott gewollte Ordnung wird durchgesetzt, wenn sich alle der Disziplin Roms unterwerfen und dem Papst unterordnen, in dem alle kirchliche und weltliche Gewalt ihren Grund hat. Klar ausgesprochen ist diese Vorstellung in den 27 Leitsätzen des Dictatus Papae (1075), die das politische Glaubensbekenntnis Gregors VII. in knapper Form zusammenfassen. Dem Papst kommt der Jurisdiktionsprimat über die gesamte Kirche zu. „Der Papst wird zu einer Art Gott-Kaiser auf Erden gemacht, der alles und jedes im geistlichen und weltlichen Bereich richten kann, selber aber keiner irdischen Instanz Rechenschaft schuldet" (G. Schwaiger, Suprema potestas 634). In der Ordnung der Kirche wird jede Gewalt vom Papst abgeleitet. Der Papst ist der alleinige Gesetzgeber, die Quelle und Norm allen Rechtes, der universale und höchste Richter. Seine episkopale Gewalt steht über der des Ortsbischofs. Wenn für Gregor VII. auch die Kirche als mater et domina über dem Papst steht, so wird sie doch in der Praxis mit der römischen Kirche und diese mit dem Papst identifiziert. Im Zuge dieser Entwicklung wird dann im Anschluß an Lk 22,38 die sogenannte Zweischwertertheorie entwickelt, nach der die beiden Schwerter, die geistliche und weltliche Gewalt, dem Papst verliehen sind. Er überträgt das weltliche Schwert dem Kaiser und den Königen, die es in seinem Auftrag und nach seiner Weisung für die Kirche führen. 2. Die Frühscholastik
(12. Jh.)
Die Frage nach dem rechten Verhältnis zwischen sacerdotium und regnum beherrscht auch die Ekklesiologie und Politik des 12. Jh. Für -»Honorius Augustodunensis ist die politische Macht ein Teil der Kirche. Christus und die Kirche sind das himmlische Brautpaar, dessen Söhne die Kleriker und die Laien sind. Weil die Kleriker Anteil an der geistlichen Vollmacht haben, stehen sie höher als die Laien. Wenn Honorius auch der geistlichen und weltlichen Gewalt in ihrer Ordnung eine gewisse Eigenständigkeit zugesteht, so steht für den Verteidiger der gregorianischen Reform doch die Hegemonie der Kirche außer Zweifel. Christus hat die Christenheit, die Reich und Kirche umfaßt, dem Petrus und seinen Nachfolgern anvertraut, so daß der Papst den Kaiser ernennen kann. Nach -»Rupert von Deutz (gest. 1129/30) sind Kirche und Staat grundsätzlich voneinander unabhängig, so sehr der Staat in die religiöse Sphäre hineingehört, die durch die Kirche repräsentiert wird. Wenn auch das Ideal in der Koexistenz und Zusammenarbeit von Kirche und Staat besteht und die Kirche nicht mit politischen Kategorien erfaßt werden kann, so ist es in der konkreten Wirklichkeit doch selbstverständlich, daß die Könige ihren Beitrag zum Aufbau der Kirche leisten müssen und die Kirche ohne den weltlichen Arm nicht auskommen kann. -»Gerhoch von Reichersberg sieht die Quelle aller Mißstände in der Bindung der Kirche an den Staat, so daß die Ordnung nur herge-
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stellt werden kann, wenn die confusio zwischen Staat und Kirche aufgehoben wird. Die weltliche und geistliche Gewalt stammen von Christus, sind aber zu verschiedenen Zwekken den verschiedenen Welt- und Wirklichkeitsbereichen, dem Profanen und dem Geistlichen, zugeordnet. Als gemäßigter Anhänger der gregorianischen Reform betont aber auch Gerhoch, daß die Weltherrschaft Christi, in der alle Gewalt ruht, die Oberherrschaft der Kirche einschließt. Die Vollmacht des Papstes ist aber nicht absolut, sondern begrenzt, ebenso wie die Unfehlbarkeit nicht dem Papst persönlich, sondern der Ecclesia Romana zukommt. Einen beachtlichen Beitrag zur Ekklesiologie des 12. Jh. hat die Kanonistik (-»Kirchenrecht) geleistet, die sich in diesem Jh. als eigene Schuldisziplin entwickelt, wenn sie auch von der Theologie nur unvollständig getrennt wird. -»Gratian, der Vater der kirchlichen Rechtswissenschaft, fordert im Sinn der gregorianischen Reform ein eigenständiges, autonomes Recht der Kirche. Der Papst, der vicarius Petri, nicht vicarius Christi genannt wird, ist der oberste und letztlich auch einzige Gesetzgeber der Kirche. Dem apostolischen Stuhl steht die Einberufung der Konzilien zu. Bei den Dekretisten begegnen die Unterscheidung zwischen ordo und iurisdictio und die Elemente eines kooperativen Kirchenverständnisses, d. h. eines Verständnisses der Kirche als corpus, das Haupt und Glieder umfaßt. Daß die weltlichen Herrscher in geistlichen Dingen der Jurisdiktion der Kirche unterworfen sind, ist allgemeine Lehre der Kanonisten des 12. Jh. Der größere Teil der Dekretisten vertritt die Unabhängigkeit der königlichen Gewalt vom Priestertum. Roland Bandinelli gibt als Papst -»Alexander III. deutlich zu verstehen, daß die königliche Gewalt nicht allein im Dienste der Kirche steht, sondern ihren eigenen Bereich hat. An der Wende vom 12. zum 13. Jh. beansprucht -»•Innozenz III. als Haupt des populus christianus, nicht nur der ecclesia, die Fülle der geistlichen und weltlichen Gewalt. Auch die Autorität der Patriarchen wird auf diese plenitudo potestatis zurückgeführt, die in der dem Petrus verheißenen Binde- und Lösegewalt ihren Grund hat. Christus, der König der Könige und Herr der Herrscher, hat im Papst einen vicarius eingesetzt. Sinngemäß nennt sich Innozenz successor Petri und vicarius Christi, niemals aber vicarius Petri - eine Ausdrucksweise, die sich seit 1160 findet - , während in der vorausgehenden Zeit sehr häufig die Bischöfe, ja sogar die einfachen Priester als vicarii Christi bezeichnet werden. Der eigentliche Höhepunkt der Ekklesiologie des 12. Jh. ist dort erreicht, wo nicht rechtliche und politische Strukturen erklärt und verteidigt werden, sondern anhand der vielen biblischen Bilder das eigentliche Wesen der Kirche erläutert wird. Unter anderem wird die Kirche genannt: Haus und Tempel Gottes, Leib und Braut Christi, das pilgernde Gottesvolk, die apokalyptische Frau und die Mutter Kirche. Wenn Reich Gottes und Kirche auch nicht schlechthin identisch sind, so stehen sie doch miteinander in enger Kommunikation, so daß man die Kirche das Reich Gottes nennen kann. In der Kirche ist das Reich Gottes im Werden. Die gegenwärtige Kirche ist Teil des Reiches, aber der unvollkommene, der Vollendung entgegenharrendc Teil. Die christologische und sakramentale Sicht der Kirche begegnet in der Bezeichnung der Kirche als (mystischer) Leib Christi, die dem wahren (eucharistischen) Leib Christi gegenübergestellt wird und aus dessen Kraft lebt. In diesem Sinn definiert -»Hugo v. St. Viktor die Kirche: Ecclesia saneta corpus est Christi uno Spiritu vivificata, et unita fide utia, et sanctificata [Die Heilige Kirche ist der Leib Christi, der durch den einen Geist belebt und durch den einen Glauben geeint und geheiligt wird] (De sacr. 1.2p.2c.2: PL 176,416 C). Bei der Bezeichnung der Kirche als (mystischer) Leib Christi ist ein Bedeutungswandel zu beachten. Während in der Väterzeit die Kirche als corpus Christi verum (wahrer Leib Christi) und die Eucharistie wegen ihres Geheimnischarakters als corpus Christi mysticum (mystischer Leib Christi) bezeichnet wird, erhalten seit dem 9. Jh. die beiden Begriffe einen anderen Sinn. Bei Ratramnus und Paschasius Radbertus wird zum ersten Mal die Kirche als mystischer Leib bezeichnet. Ganz allmählich, eigentlich erst in der Hochscholastik, wurde diese Bezeichnung allgemein üblich. Große Bedeutung für die
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Bezeichnung der Eucharistie als wahrer Leib Christi hat die Verteidigung der Realpräsenz Christi in der Eucharistie gegenüber der symbolischen Entwertung durch -»Berengar von Tours. In der Frühscholastik wird der Ausdruck corpus Christi mysticum zum ersten Mal von dem der Schule des -»Gilbert Porretanus angehörigen Magister Simon gebraucht. Im Ausgang des 12. Jh. wird dann diese Bezeichnung allgemein üblich. Das Verständnis der Kirche als (mystischer) Leib Christi enthält eine Fülle von tiefgreifenden Aussagen über die Kirche und ihren Bezug zur Taufe und Eucharistie. 2.1. Die Eucharistie ist ein Symbol des mystischen Leibes Christi. Bei der Darbietung dieses Verständnisses von Kirche und Eucharistie werden im Anschluß an die Theologie der Väter die Gaben der Eucharistie und deren Gebrauch bei der Feier des Opfermahls gedeutet. An erster Stelle steht das Körner- und Traubensymbol, das die Einheit der Kirche darstellt. Die aus vielen Körnern und Trauben entstandenen Gaben der Eucharistie weisen auf den einen und geeinten Leib der Kirche hin (-»Bruno v. Köln). Weil das Brot aus vielen Körnern und der Wein aus vielen Trauben besteht, ist die Einheit der vielen Glieder des mystischen Leibes angedeutet (Alger v. Lüttich; Hugo v. St. Viktor). Das Werden des Brotes symbolisiert das Werden des mystischen Leibes (-»Honorius Augustodunensis). Die Körner und Trauben als Gestalten des wahren Leibes Christi weisen auf die Zusammensetzung der Kirche aus vielen reinen und unbefleckten Gliedern hin (-»Petrus Lombardus). Das dem Wein bei der Opferbereitung beigemischte Wasser bedeutet die durch die Eucharistie bewirkte Verbundenheit mit Christus und der Kirche (Bruno v. Köln). Der im Kelch mit Wasser vermischte Wein ist ein Symbol für das Blut und Wasser, das aus der Seitenwunde Christi geflossen ist, näherhin ein Symbol der Taufe und Eucharistie, durch die der mystische Leib auferbaut wird (Alger v. Lüttich). In einem ähnlichen Sinn wird das Wasser gedeutet, das bei der Bereitung des Brotes dem Mehl beigemengt wird. Das Wasser deutet auf die Taufe hin; das Feuer, in welchem das Brot gebacken wird, versinnbildet den Heiligen Geist, der den mystischen Leib durchglüht und beseelt (Honorius Augustodunensis). Durch die Teilung der Hostie in drei Teile werden die drei Stände in der Kirche versinnbildet, die im mystischen Leib in Eintracht und Frieden zusammenleben (Arnulf v. Rochester). Sie stellen Christus, das Haupt des mystischen Leibes, und die triumphierende und streitende Kirche dar (Hugo v. St. Viktor). Andere deuten die drei Teile auf die triumphierende, streitende und leidende Kirche (Ivo v. Chartres). 2.2. Die Eucharistie als Symbol und Wirkursache des mystischen Leibes. Die Eucharistie baut den mystischen Leib auf, sie ist das Lebensprinzip des mystischen Leibes. Weil wir in der Eucharistie den wahren Leib Christi empfangen und mit dem Haupt des mystischen Leibes verbunden werden, gehört die Eucharistie zu den heilsnotwendigen Sakramenten. Der mystische Leib, d . h . die Kircheneinheit ist res und virtus der Eucharistie (Alger v. Lüttich). Durch den Empfang der Eucharistie werden die Glieder der Kirche mit Christus verbunden, sie wachsen in der Kraft des Heiligen Geistes zu einer Einheit zusammen (Petrus Damiani). Weil die Gläubigen durch die Eucharistie Christus einverleibt und eingegliedert werden, macht sie die Kirche wirklich zum geheimnisvollen Leib Christi (Gerhoch v. Reichersberg). Die würdige Kommunion schafft die pax ecclesiastica [den kirchlichen Frieden], die unitas ecclesiae [die Einheit der Kirche] (Petrus v. Poitiers). Corpus Christi comedit corpus Christi. Per hoc quoque Christus fit corpus Christi [Der (mystische) Leib Christi genießt den (eucharistischen) Leib Christi; dadurch wird Christus zum mystischen Leib] (Honorius Augustodunensis, De corpore et sanguine Domini, c.4: PL 172,1252 B). 2.3. Der Priester bringt das eucharistische Opfer im Namen der Kirche dar. Daher soll die Eucharistie nicht ohne Teilnahme des Volkes gefeiert werden. Auch wenn der Priester allein zelebriert, ist er nur scheinbar allein. In Wirklichkeit bringt die Gesamtkirche, der ganze mystische Leib, in der Person des Priesters das heilige Opfer dar (Petrus Damiani). Der Grund für diese geheimnisvolle Opfergemeinschaft, durch die auch die nicht körperlich gegenwärtigen Glieder am Opfer teilnehmen, ist die gnadenvolle Einheit des mystischen Leibes, die die Glieder mit Christus dem Haupt und untereinander verbindet (Odo
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v. Cambrai). Die heilige Messe ist das Opfer Christi und zugleich das Opfer des mystischen Leibes. Der Priester am Altar ist der Vertreter des eigentlichen Opferpriesters und auch der Vertreter der ganzen Kirche. Die ganze Kirche mit all ihren Gliedern opfert in der Person des zelebrierenden Priesters. Sinngemäß wird von einem Teil der Theologen der Frühscholastik den Häretikern, Schismatikern, Simonisten und anderen von der Kirche getrennten Priestern die Vollmacht zur Darbringung des eucharistischen Opfers mit einer je verschiedenen Begründung abgesprochen. Wenn andere diesen Priestern die Wandlungsvollmacht zusprechen, so halten sie doch eine solche Darbringung des Opfers für fruchtlos. Honorius Augustodunensis spricht den Apostaten, Exkommunizierten und Simonisten die Konsekrations- und Opfergewalt ab, weil sie außerhalb der Kirche stehen und damit das Sakrament der Einheit der Kirche nicht vollziehen können. Nach Hugo v. Amiens raubt zwar eine moralische Unwürdigkeit des Priesters nicht die Konsekrationsgewalt; der Exkommunizierte hingegen kann nicht mehr minister ecclesiae sein und im Namen der Kirche das Opfer darbringen. Wegen der Trennung von der Kirche ist nach Gerhoch von Reichersberg der Geist Christi bei der Sakramentenspendung von Schismatikern nicht gegenwärtig und wirksam. Es soll aber ausdrücklich angemerkt werden, daß es auch bereits in der Frühscholastik Theologen gibt, die die Gültigkeit der -»Sakramente, die durch die von der Kirche getrennten Priester gespendet werden, annehmen. In diesem Sinne spricht Roland Bandinelli allen gültig geweihten Priestern, auch den Häretikern, die Konsekrationsgewalt zu. 2.4. Taufe und Eucharistie als die Sakramente der Eingliederung in den mystischen Leib. Die meisten Theologen der Frühscholastik schreiben der Eucharistie in irgendeiner Form die Eingliederung in Christus und in seinen mystischen Leib zu. Wenn manche Autoren diese Eingliederung mit einer gewissen Ausschließlichkeit auf die Eucharistie beziehen, so wird doch, bei Berücksichtigung aller Texte, die -»Taufe nicht ausgeschlossen. Die Taufe bewirkt in Abhängigkeit von der Eucharistie die Eingliederung in die Kirche. Wenn von der Heilsnotwcndigkeit der Eucharistie gesprochen wird, so bleibt zu beachten, daß nicht der tatsächliche Empfang der Eucharistie gefordert wird, sondern die in der Taufe eingeschlossene Sehnsucht nach der Eucharistie als hinlänglich erachtet wird. Durch die Taufe wird gleichsam die Eucharistie in voto empfangen. Taufe und Eucharistie zusammen machen also zu Gliedern des Leibes Christi. Die Einheit von Glaube, Liebe, Taufe und Eucharistie stellt Hugo v. St. Viktor folgendermaßen dar: Per fidem membra efficimur, per dilectionem vivificamur. Per fidem accipimus unionem, per caritatem accipimus vivificationem. In sacramento autem per baptismum unimur, per corpus Christi et sanguinem vivificamur. Per baptismum efficimur membra corporis, per corpus autem Christi efficimur participes vivificationis (De sacr. 1.2p.2c.l: PL 176,416B) [Durch den Glauben werden wir zu Gliedern (des Leibes Christi), durch die Liebe werden wir belebt; durch den Glauben empfangen wir die Einheit (des Leibes), durch die Liebe empfangen wir die Belebung. Im Sakrament der Taufe werden wir geeint, durch den Leib und das Blut Christi belebt. Durch die Taufe werden wir Glieder des Leibes, durch den Leib Christi werden wir des Lebens teilhaftig]. In der Schule -»Abaelards wird die Meinung vertreten, daß allein die Taufe in den Leib Christi eingliedert, während die Eucharistie nur das Symbol des mystischen Leibes ist. Was die Sakramente der Kirche betrifft, so ist bedeutsam, daß in der Mitte des 12. Jh. zum erstenmal die Siebenzahl auftaucht (Petrus Lombardus, Sententiae Divinitatis, Traktat De Sacramentis des Magister Simon). Eine Unklarheit besteht hingegen in der Beurteilung der Stufen des Weihesakramentes. Im Anschluß an -»Petrus Lombardus vertreten die meisten Theologen und ein Teil der Kanonisten die Meinung, daß der Episkopat kein Ordo, sondern eine Würde sei. Diese Theologen beziehen sich auf die Anschauungen des -»Ambrosiaster und des -»Hieronymus, die die ursprüngliche Gleichheit von Episkopat und Presbyterat annehmen.
232 3. Die Hochscholastik
Kirche IV (13. Jh.)
Die Ekklesiologie der Hochscholastik (13. Jh.) ist u.a. gekennzeichnet durch eine Erklärung des Verständnisses der Kirche als mystischer Leib Christi, die Betonung der päpstlichen Monarchie und Unfehlbarkeit und die Erläuterung des O r d o und der Sakramentenspendung durch Häretiker und Schismatiker. 3.1. Die Kirche als der mystische
Leib
Christi
3.1.1. Das Verständnis der Kirche als Leib Christi. Sieht man von —»Duns Scottus ab, dessen Christologie einen anderen Aufbau hat, so begegnen bei den großen Lehrern der Hochscholastik vor allem im Zusammenhang der Christologie eingehende ekklesiologische Aussagen. Von -»Alexander v. Haies, -»Bonaventura, -»Albert d.Gr. und -»Thomas v. Aquin wird die aus der Frühscholastik bekannte Lehre von der Kirche als Leib Christi übernommen und durch die Erklärung der gratia Christi capitis [der Gnade des Hauptes Christi] breit entfaltet. Unter den Franziskanertheologen kommt -»Bonaventura (gest. 1274) die größte Bedeutung zu. Wie die anderen Scholastiker unterscheidet er beim Gottmenschen Jesus Christus, in dem die Fülle der Gnadengaben wohnt, eine dreifache Gnade: Die gratia singularis personae gibt ihrem Träger eine ganz einzigartige Stellung, insofern sie ihn Gott wohlgefällig macht und die Sünde fernhält; die gratia unionis bewirkt die Einigung der göttlichen und menschlichen Natur, so daß der Gottmensch als Mittler der Versöhnung wirken kann; durch die gratia capitis ist Christus, in dem die Überfülle der Gnade wohnt, denen, die zu ihm kommen, in geistlicher Beziehung das, was das Haupt des Leibes für die mit ihm verbundenen Glieder ist. Christus besitzt die Gnade des Hauptes in der Quell- und Ursprungsfülle (plenitudo fontalis originalis), d.h., die in Christus gegebene Fülle der Gnade kann auf die Glieder des Leibes der Kirche überfließen und den Einfluß der Bewegung und Empfindung hervorrufen. So ist Christus voll der Gnade und Wahrheit, aus dessen Fülle wir alle empfangen haben (vgl. Joh 1,16). Die Wirkung der Gnade des Hauptes ist weder räumlich noch zeitlich eingeschränkt. Sie kann wirksam werden (potentiell) und ist wirksam geworden (aktuell) bei den Bewohnern des Himmels und der Erde, im Limbus patrum und Purgatorium (-»Fegfeuer). Dabei macht es im wesentlichen keinen Unterschied, ob es sich zeitlich um das Wirksamwerden vor oder nach der Inkarnation des Gottmenschen handelt. Ebenso ist es ohne Bedeutung, ob die von der gratia capitis Erfaßten noch auf Erden oder schon in der Vollendung sind. - • T h o m a s v. Aquin sieht in der heiligen Menschheit Christi den formalen Sitz der Fülle der Gnade des Hauptes, die auf die Glieder überströmt, so d a ß Christus der Mittler zwischen Gott und den Menschen und die Menschheit Christi ein Instrument der Gottheit und die Brücke zur Welt sein kann. Weil Christi Menschheit das Instrument der Gottheit geworden ist, hat sie an der Fülle und Herrlichkeit der Gottheit teil und ist mit der übergroßen Fülle der Gnade ausgestattet, die vom Haupt auf die Glieder des Leibes überströmt. So geht die Gnade von der Gottheit durch die Menschheit als einem vollerfüllten Organ weiter an die anderen Menschen. T h o m a s identifiziert die gratia capitis formaliter mit der persönlichen heiligmachenden Gnade des Erlösers, insofern sie überfließend ist. Durch die plenitudo gratiae, durch das Uberfließen dieser Gnade, wird der Mensch Jesus formal das H a u p t seines Geschlechtes und des Leibes der Kirche. Im Anschluß an -»Augustinus bezeichnet Thomas den Heiligen Geist als die Seele der Kirche, die dem ganzen mystischen Leib ebenso die letzte Vollendung gibt, wie die Seele unseren Leib vollendet. 3.1.2. Die Glieder des mystischen Leibes der Kirche. Aus der Lehre von Christus, dem Haupt der Kirche, und der damit verbundenen gratia capitis ergibt sich für Bonaventura, d a ß die Gerechten aller Zeiten, die den übernatürlichen Glauben und die übernatürliche Liebe haben, zum mystischen Leib Christi gehören. Dies gilt sowohl für das Alte wie für das Neue Testament. Abel und die übrigen Gerechten des Alten Bundes gehören zur ecclesia praecedens; sie wurden gerechtfertigt durch den Glauben an das zukünftige Lei-
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den Christi. Im Neuen Bund gehören zur Kirche zunächst die Heiligen des Himmels, dann aber auch die Gerechten auf Erden, d. h. diejenigen, die aktuell im Besitz von Glaube und Liebe sind. Auch die Seelen im Fegfeuer, die gewissermaßen noch auf Erden sind, gehören dem Leib Christi an. Verschieden beurteilt werden die Sünder. Sie werden gelegentlich Glieder der Kirche genannt, manchmal wird ihnen diese Qualität auch abgesprochen. Als membra mortua [tote Glieder] gehören sie auf jeden Fall nur numero [der Zahl nach], aber nicht merito [dem Verdienste nach] dem mystischen Leib an. Die gleiche Ansicht begegnet bei -»Albert d . G r . Auch Thomas v. Aquin vertritt die Meinung, d a ß jene Christen, die gläubig sind und die Taufe empfangen haben, aber den Gnadenstand nicht besitzen, nur in einem unvollkommenen Sinne [imperfecta] Glieder des Leibes Christi sind. Hingegen werden die Gerechten des Alten Bundes, die die Offenbarung Gottes empfangen und Christus und sein Reich erwartet haben, zu den Christgläubigen gerechnet und dem mystischen Leib zugezählt. 3.1.3. Der eucharistische Leib und der mystische Leib Christi. D a ß die Eucharistie der Vertiefung der Gliedschaft am mystischen Leib dient, übernehmen die Theologen des 13. Jh. von der Frühscholastik. So ist nach Bonaventura nicht nur der gnadenhafte Einfluß Christi als des Hauptes auf die Glieder des Leibes notwendig, sondern auch die Speisung durch eine geistliche Nahrung. Das corpus Christi verum ist die Nahrung für das corpus Christi mysticum. Die eucharistische Speise ist die verbindende und einigende Kraft des mystischen Leibes. Der mystische Leib ist die res signata [die bezeichnete Sache] der Eucharistie. Was die äußeren Gestalten andeuten, das bewirkt das corpus Christi verum, nämlich die Einigung des corpus Christi mysticum, in der Art, daß die Glieder geeint und einander ähnlich werden in der Einheit des Glaubens und der Liebe. Wer die eucharistische Speise genießt, wird in den mystischen Leib „ m e h r " inkorporiert, als dies in der Taufe geschehen ist. Auch Thomas v. Aquin spricht davon, daß die eigentliche Wirkung der Eucharistie die Einheit des mystischen Leibes ist: res huius sacramenti [seil, eucharistiae] est unitas corporis mystici (S.th.p.3q.73 a.3) [Die Sache (Wirkung) dieses Sakramentes ist die Einheit des mystischen Leibes]. 3.2. Die päpstliche Monarchie und die Unfehlbarkeit des Papstes 3.2.1. Die päpstliche Monarchie. Die Theologen aus den beiden großen Bettelorden haben den Vorrang des Papstes gegenüber den Bischöfen nicht zuletzt im Blick auf ihr eigenes Wirken und ihre Stellung in der Kirche hervorgehoben (-»Papsttum). Bonaventura, „der wichtigste Theoretiker der päpstlichen Monarchie" (Y. Congar), bezeichnet unter Bezugnahme auf M t 16,18 und Joh 21,16ff den Papst als den obersten Hirten der ganzen Herde. Sein Vorrang in der Kirche besteht darin, daß er als vicarius Christi an die Stelle Christi, des Hauptes der Kirche, tritt und damit an der Tätigkeit Christi, des Hauptes aller Gnaden, Anteil erhält. Weil -»Petrus die Eigenschaften des caput-pastor Christus hat, kann auch er und jeder seiner Nachfolger caput ecclesiae genannt werden. Die Kirche sollte in Petrus und im Papst ein einziges und einigendes sichtbares Oberhaupt haben, das auf Erden die Stelle des mystischen Hauptes innehat und soweit möglich an der Stellung Christi capitis teilnimmt. Weil im Papst die Fülle der Gewalt ruht, haben alle anderen nur den ihnen verliehenen Teil der kirchlichen Gewalt. Christus ist hierarcha praeeipuus, der Papst seine sichtbare Realisierung auf Erden. Auch T h o m a s v. Aquin ist der Meinung, d a ß die Apostel ihre Gewalt von Petrus erhalten haben und somit die Bischöfe ihre Jurisdiktionsgewalt vom Papst empfangen. -»Aegidius von Rom, ein eifriger Schüler und Verteidiger des Thomas, der General der Augustinereremiten und spätere Erzbischof von Bourges, führt die Gedanken seines Lehrers weiter, wenn er sagt, daß der Papst als Vertreter Christi auf Erden die Spitze, den Gipfel der Kirche innehat und somit Kirche genannt werden kann: Papa qui potest dici ecclesia. Der Franziskaner Alvaro Pelayo (gest. 1349 oder 1353) bezeichnet den Papst als den monarcha principalis des ganzen christlichen Volkes und de iure der ganzen Welt. Ihm kommt alle Gewalt auf Erden zu, die Christus hatte. Als H a u p t der Kirche steht er
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über den Konzilien: Corpus Christi mysticum ibi est, ubi est caput, scilicet papa [Der
mystische Leib Christi ist dort, wo das Haupt, d.h. der Papst ist]. -»Augustinus Triumphus, ebenfalls ein Schüler des Thomas von Aquin und ein Angehöriger des Ordens der Augustinereremiten, sagt in seiner Summa de potestate aus dem Jahre 1320, daß sich jegliche Gewalt auf Erden vom Papst als dem alleinigen Vikar Christi auf Erden ableitet, so daß der Satz gilt: Papa est nometi iurisdictionis [Der Papst ist ein Name für die Jurisdiktion] (q.4 a.2). Der Papst steht nicht nur über jedem positivem Recht; man kann auch nicht vom Papst an Gott oder das allgemeine Konzil appellieren, weil die Autorität des Konzils vom Papst abhängt. Diese kurz dargestellte theologische Entfaltung des päpstlichen Primats findet ihren Niederschlag in der Bulle Unam satictam (1302) des Papstes -•Bonifatius VIII. (DS 8 7 0 - 8 7 5 ) : Die eine katholische Kirche, ohne die es weder Heil noch Vergebung der Sünden gibt, hat nicht zwei Häupter wie ein Monstrum, sondern nur ein Haupt, nämlich Christus und den Petrus und dessen Nachfolger, dem alle Gewalt auf Erden, die beiden Schwerter, die geistliche und weltliche Macht, übertragen ist. Die Unterwerfung der gesamten menschlichen Kreatur unter den Papst ist heilsnotwendig.
Porro subesse Romano Porttifici omni humanae creaturae declaramus, mus omnino esse de necessitate salutis (DS 875).
dicimus, diffini-
3.2.2. Die Unfehlbarkeit des Papstes. Die im einzelnen schwierige Lehrentwicklung über die Unfehlbarkeit des Papstes kann hier nicht erschöpfend dargestellt werden. Wenn man aber im Auge behält, daß die höchste Gewalt des Papstes dessen Lehrgewalt einschließt, ist der Weg zum Verständnis der Unfehlbarkeit des Papstes als des Hauptes der Kirche geebnet, wenn auch die spätere Lehre der katholischen Kirche nicht einfach im 13. Jh. ausgesprochen ist. Wie für die übrigen Theologen dieses Jh. steht für Bonaventura fest, daß die Gesamtkirche im Glauben nicht irren kann. Die Kirche steht nicht über dem Papst, so wie der Leib nicht über dem Haupt steht. Weil Haupt und Leib zusammengehören, besitzt die Kirche nicht eine eigene vom Papst losgelöste Unfehlbarkeit. Im Gegenteil: Nur zusammen mit dem Papst oder - besser gesagt - durch den Papst besitzt die Kirche die Unfehlbarkeit. Der eigentliche Grund für die Unfehlbarkeit der Kirche ist der Einfluß der Gnade des Hauptes auf die Glieder der Kirche. Das trifft in einzigartiger Weise für Petrus und den Papst zu. Auch für Thomas steht fest, daß die Gesamtkirche nicht irren kann, weil in ihr der Geist der Wahrheit ist und Christus dem Petrus zugesagt hat, daß sein Glaube nicht wanken werde (Lk 22,32). Da sich dieses Gebet aber nicht nur auf die Kirche, sondern auf den Glauben des Petrus bezieht, steht dem Papst als dem Vikar Christi das Urteil in Glaubensfragen zu. Die Einheit des Glaubens der Kirche ist nur dann garantiert, wenn bei auftretenden Kontroversen der Vorsteher der Gesamtkirche verbindlich entscheidet.
3.3. Das Verständnis des Ordo Auch im 13. Jh. ist die Frage, welche Weihestufen zum sacramentum ordinis gehören, noch ungeklärt. Weil der Ordo vornehmlich auf die Eucharistie, konkret auf die Konsekrationsgewalt, bezogen wird, bezeichnen die meisten Theologen, unter ihnen auch Alexander v. Haies, Bonaventura, Albert d.Gr. und Thomas v. Aquin im Anschluß an die Sentenzen des Petrus Lombardus den Episkopat nicht als Ordo, sondern als eine zum Priestertum hinzukommende Würde (-»Bischof; -•Priester). Die Bischofskonsekration wird folgerichtig nicht als Sakrament, sondern als Sakramentale (-»Sakramentalien) verstanden. Zahlreiche Kanonisten hingegen betrachten den Episkopat als einen selbständigen, vom Presbyterat verschiedenen Ordo. Geklärt ist im 13. Jh. das Problem der Spendung der Sakramente durch einen von der Kirche getrennten Priester. Auch die von den Häretikern gespendeten Sakramente sind gültig, wenn der Spender die erforderliche Weihegewalt besitzt und die Form und Intention der Kirche wahrt. Auch der degradierte Priester behält die Gewalt zu konsekrieren, wenn er auch nicht das Recht zur Ausübung dieser Gewalt hat. Nach Bonaventura spenden die Häretiker unter den oben genannten Umständen wahre Sakramente; sie verleihen
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aber nicht die Frucht der Sakramente, weil der Heilige Geist nicht außerhalb der Kirche wirkt. 4. Die Spätscholastik
(14.-15.
Jh.)
In der Ekklesiologie des ausgehenden 13. Jh. und des 14. Jh. werden die Stellung des Papstes und der Konzile in der Kirche in einem neuen Licht betrachtet. Vor allem wird das Verhältnis zwischen Kirche und Staat erörtert. Jakob Capocci von Viterbo (gest. 1308), ein für Thomas begeisterter Theologe des Augustinerordens, lehrt in seinem 1302 herausgegebenen Traktat De regimine christiano, daß die geistliche Gewalt die weltliche Gewalt nicht hervorbringt, aber ihr befiehlt und sie richtet. Der -»Staat ist als naturrechtliche Einrichtung mittelbar in Gott begründet, muß aber durch die geistliche Gewalt, die unmittelbar von Gott kommt, vollendet werden. Da die weltlichen Herrscher in der Kirche verstanden als Versammlung der Gläubigen - sind, haben auch sie den Auftrag, die Gläubigen zu ihren übernatürlichen Zielen zu führen. Der der Thomistenschule zugehörige Johannes Quidort v. Paris (gest. 1306) (-»Staatsphilosophie) geht einen Schritt weiter, wenn er in seinem Ende 1302 oder Anfang 1303 erschienenen Traktat De potestate regia et papali sagt, daß das Regnum kraft natürlichen Rechts unmittelbar von Gott kommt und somit seine eigene Ordnung hat. Der König wird vom Papst zwar über den Glauben, nicht aber über seine Herrscherkunst unterwiesen. Geistliche und weltliche Gewalt sind voneinander unabhängig; sie sollen sich gegenseitig ergänzen. Einer Theologie, nach der die Kirche vom Papst hergeleitet wird, stellt Johannes Quidort eine Ekklesiologie gegenüber, die den Papst in die Kirche einordnet. Der Papst ist das oberste Glied der Kirche, dem als Haupt der Kirche die Aufgabe zukommt, für die Einheit der Kirche zu sorgen und sie zu bewahren. Weil der Glaube der Kirche und nicht dem Papst zukommt, kann der Papst ohne ein allgemeines Konzil nicht über den Glauben bestimmen. Auch der Dominikaner Petrus de Palude (gest. 1342) vertritt in seinem 1325 verfaßten Traktat De potestate papae die Ansicht, daß die Könige ihre weltliche Jurisdiktion nicht vom Papst erhalten, wenn sie auch im Blick auf die geistigen Dinge diesem indirekt untergeordnet sind. Auch die Gewalt der Apostel kann nicht von Petrus und die der Bischöfe nicht vom Papst abgeleitet werden. Eine weitaus größere Bedeutung als die genannten Theologen kommt indes Marsilius v. Padua und Wilhelm v. Ockham zu. Unter dem Einfluß der aristotelischen Staatsphilosophie hat -»Marsilius v. Padua in seinem 1324 vollendeten Defensor pacis, dem wohl revolutionärsten kirchenpolitischen Werk der beginnenden Neuzeit, eine deutliche Gegenposition zum bisherigen Verständnis der mittelalterlichen ecclesia universalis erarbeitet, die zu deren Auflösung führen mußte. Nicht der Staat ist der Kirche, sondern die Kirche dem Staat untergeordnet. Die Gesetzgebungsgewalt steht allein dem Volke zu. Der vom Volk gewählte Herrscher hat als Repräsentant der communitas perfecta fideliinn Frieden und Einheit zu sichern und für den Vollzug der Gesetze zu sorgen. Den Priestern hingegen ist die Verkündigung und Sakramentenspendung übertragen. Der Kirche steht keine Zwangsgewalt (vis coactiva) zu, auch nicht beim Gebrauch der Schlüsselgewalt. Der Primat des Papstes ist nicht von Christus gestiftet, er hat sich vielmehr geschichtlich entwickelt. Die höchste kirchliche Autorität ist das vom Papst einberufene Konzil (-•Synode). -»Wilhelm v. Ockham, der sich bereits kritisch mit dem Defensor pacis auseinandersetzt, hat für die Theologie der kommenden Jh. eine beachtliche Bedeutung erlangt. Die weltliche Gewalt hängt nicht vom Papste ab. Die Könige haben ihre Gewalt unmittelbar von Gott oder der Gemeinschaft, die die Gewalt nach weltlichem Recht kommissarisch überträgt. Die Kirche ist prinzipiell von der staatlichen Gewalt unabhängig. Bei Versagen des Klerus kann der Kaiser als hervorragender gläubiger Laie in der Kirche in kirchliche Angelegenheiten eingreifen. Andererseits kann auch der Papst unter Umständen (casualiter, nicht regulariter) in den weltlichen Bereich eingreifen, wenn die dort normalerweise zuständige Instanz nicht vorhanden ist. Unfehlbar ist nur die Gesamtkirche. Der Papst,
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die römische Kirche, das Kardinalskollegium und der gesamte Klerus können irren. Weil das allgemeine Konzil die Gemeinschaft der Kirche nicht in vollkommener Weise repräsentiert, kann es dem Irrtum verfallen. Sinngemäß bedürfen die Konzilsentscheidungerl zu ihrer Sicherheit noch einer nachträglichen Approbation durch die Gesamtkirche, die immer dann anzunehmen ist, wenn nach der Verkündigung der Konzilsakten kein Widerspruch erfolgt. Die Ekklesiologie des 15. Jh. ist u. a. durch zwei Aspekte geprägt: Während in den vorausgehenden Jh. die Lehre über die Kirche vor allem im Zusammenhang der Ghristologie und der Sakramentenlehre erörtert wird, entstehen nun eigene Traktate über die Kirche. Dazu wird im Anschluß an die Probleme der Hoch- und Spätscholastik das Verhältnis von Papst und Konzil erörtert. Die bereits im 14. Jh. klar zutage tretende Auflösung der alten Ordnung erhält gegen Ende dieses Jh. durch die Lehre von John Wyclif und Johannes Hus einen mächtigen Auftrieb. Die Ekklesiologie von -»Wyclif (gest. 1384) ist von seiner Prädestinationslehre her zu verstehen. Es gibt nur eine geistige Kirche, die durch die Vorherbestimmung Gottes geprägt ist. Die Einheit der Kirche geht auf die prädestinierende Liebe Christi zurück. Dem bisherigen Verständnis der Kirche als der congregatio fidelium wird das neue Verständnis der Kirche als der congregatio omnium praedestinatorum gegenübergestellt. Diese geistige Kirche besteht seit Anfang der Welt. Sie zählt zu ihren Gliedern die Gerechten des Alten Bundes und die Engel und Heiligen des Himmels. Da es möglich ist, daß Prädestinierte zu einer gewissen Zeit Sünder sind und Verdammte sich im Zustand der Gnade befinden (-»Prädestination), ist das wahre Wesen der Kirche eschatologischer Art. Wirkliche Glieder der Kirche sind allein die Prädestinierten. Die anderen können in ecclesia sein, sind aber nicht de ecclesia. Die wahre Kirche ist somit nur von Gott erkennbar. -»Hus, der in vielen Punkten von Wyclif abhängig ist, nennt in seiner Schrift De ecclesia (1412-1413) die Kirche universitas oder numerus praedestinatorum. Diese Kirche, die der Leib und die Braut Christi ist, wird Christus in der eschatologischen Vollendung versammeln und unter seine Königsherrschaft stellen. Sie hat Christus allein zum Haupt und Fundament. Wenn der Papst Haupt der Kirche genannt wird, so gilt dies nur für den äußeren Bereich. Im übrigen kommt dem Papst der Titel Vicarius Petri nur im Sinne eines Primats der Tugend zu, insofern er die Eigenschaften des Petrus nachahmt. Sieht man von den Thesen Hus', die 1414 von der Pariser Universität zensuriert und 1415 vom Konzil von -»Konstanz verurteilt wurden, ab, so steht im Mittelpunkt der Ekklesiologie dieser Zeit die Frage nach der Superiorität des Konzils über den Papst (-•Konziliarismus). Da es seit Juni 1409 drei Päpste gibt, gewinnt die Lehre, daß allein die Gesamtkirche unfehlbar ist, der Papst hingegen in eine Irrlehre verfallen kann, eine besondere Bedeutung. Nur ein Konzil kann über den Papst richten und, wenn es nötig ist, ihn absetzen. Wenn auch im Normalfall der Papst ein Konzil einberuft, so kann es in einer Notsituation auch ohne ihn geschehen. Weil der Papst ein Teil der Kirche ist, ist er der ganzen Kirche unterworfen. Die Vorstellung, daß die Universalkirche durch das Konzil repräsentiert wird, begegnet in dieser Zeit immer wieder in der Formulierung Concilium ecclesiam universalem repraesentans. Diese Entwicklung erreicht ihren Höhepunkt in dem Dekret Haec Sancta des Konzils von Konstanz, das am 6.4.1415 verabschiedet wurde: Et primo declarat quod ipsa [synodusj in Spiritu Sancto legitime congregata, generale concilium faciens, et ecclesiam catholicam militantem repraesentans, potestatem a Christo immediate habet, cui quilibet cuiuscumque status vel dignitatis, etiam si papalis existat, obedire tenetur in his quae pertinent ad fidem et exstirpationem dicti schismatis, ac generalem reformationem dictae ecclesiae Dei in capite et in membris [Als im Heiligen Geist rechtmäßig versammelt, ein allgemeines Konzil bildend und die katholische streitende Kirche repräsentierend, hat die Synode ihre Gewalt unmittelbar von Christus. Ihr hat jedermann, welchen Standes und welcher Würde auch immer, selbst der päpstlichen, zu gehorchen in allem, was den Glauben, die Überwindung des besagten Schismas und Reform dieser Kirche an Haupt und Gliedern betrifft]. Im Blick auf die spätere Verurteilung des Konziliarismus und das Dogma des I. Vatika-
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nischen Konzils über den päpstlichen Primat (-+Vaticanum I) ist in der katholischen Theologie immer wieder die Frage erörtert worden, ob die Entscheidung des Konzils von Konstanz allgemein gelten sollte oder nur für die Überwindung des augenblicklichen Notstandes gedacht war. Dieses Problem kann hier nicht eingehend erörtert werden. Konkret geht es um die Frage, ob die späteren Päpste der Konzilsentscheidung zugestimmt haben. Dabei bleibt freilich zu bedenken, daß das damals geltende Recht in der Zustimmung des Papstes keine Bedingung für die Gültigkeit einer Konzilsentscheidung gesehen hat, wenn auch Konzilsentscheidungen ohne eine wenigstens implizite Zustimmung des Papstes nie ökumenische Bedeutung erlangt haben. „Historisch betrachtet kann man also nicht sagen, die Lehre des Dekrets ,Haec Sancta' habe die Zustimmung der Päpste gefunden. Nach seiner eigenen Lehraussage schließlich bedurfte das Konzil keiner solchen Zustimmung; es hat sie auch nie gesucht" (Y. Congar, Die Lehre von der Kirche vom abendländischen Schisma bis zur Gegenwart 22). Das Konzil von Basel (-»Basel-Ferrara-Florenz) erneuerte in der Sitzung vom 15.2.1432 die Konstanzer Superioritätsbeschlüsse: Die allgemeine Synode hat ihre Gewalt von Christus. Jederman, auch der Papst, muß ihr in Sachen des Glaubens und der allgemeinen Kirchenreform gehorchen. Wer sich in diesem Punkte dem Konzil widersetzt, ist zu bestrafen. In der 18. Sitzung (26.6.1434) wurden die Konstanzer Dekrete über die Autorität und Gewalt der allgemeinen Konzilien wiederum erneuert. Eine andere Sicht der Kirche und der darin eingeschlossenen Autorität und Vollmacht des Papstes begegnet in der Bulle Laetentur caeli des Konzils von Florenz vom 6.7.1439, in der die Privilegien des apostolischen Stuhles und des römischen Papstes deutlich ausgesprochen werden: Diffinitnus, sanctam Apostolicam sedem, et Romanum Pontificem, in Universum orbem tenere primatum, et ipsum Pontificem Romanum successorem esse beati Petri principis Apostolorum et verum Christi vicarium, totiusque Ecclesiae caput et omnium Christianorum patrem ac doctorem existere; et ipsi in beato Petro pascendi, regendi ac gubernandi universalem Ecclesiam a Domino nostro Jesu Christo plenum potestatem traditam esse; quemadmodum etiam in gestis oecumenicorum Conciliorum et in sacris canonibus continetur (DS 1307) [Wir bestimmen, daß der Heilige Stuhl und der Römische Bischof den Vorrang über den ganzen Erdkreis innehat; weiter, daß dieser Römische Bischof Nachfolger des heiligen Petrus, des Apostelfürsten, wahrer Stellvertreter Christi und Vater und Lehrer aller Christen ist; daß ihm im heiligen Petrus die volle Gewalt, die ganze Kirche zu weiden, zu regieren und zu verwalten, von unserem Herrn Jesus Christus übergeben ist, wie es die Verhandlungsberichte der allgemeinen Kirchenversammlungen und die heiligen Rechtssätze enthalten]. In der Bulle Pastor aeternus gregem des V. Laterankonzils (-*Lateransynoden) vom 19.12.1516 (DS 1445) wird der Konziliarismus erneut verurteilt und die Autorität des Papstes über das Konzil ausgesprochen. Daß mit diesen Verurteilungen die anstehenden Probleme nicht gelöst waren und die konziliare Idee in anderen Formen wieder auflebte, zeigt der weitere Verlauf der Kirchengeschichte. Unter den im 15. Jh. entstandenen Abhandlungen über die Kirche, aus denen die inzwischen erfolgte Reflexion über die Kirche sichtbar wird, sei als erste der Tractatus de Ecclesia des Dominikaners und späteren Kardinals Johannes v. Ragusa (gest. 1443) genannt. Er bestimmt die Kirche als universitas fidelium bonorum et malorum orthodoxam fidem tenentium, in sacramentis ecclesiasticis societatem habentium [die Allgemeinheit der Glaubenden, der Guten und der Bösen, die den wahren Glauben festhalten und in den kirchlichen Sakramenten eine Gemeinschaft bilden]. Gegen Wyclif und Hus stellt er ausdrücklich fest, daß es sichtbare Merkmale der Kirche geben muß, daß man die Glieder der Kirche weder aufgrund der göttlichen Prädestination noch aufgrund der heiligmachenden Gnade erkennen kann. Bereits vor Bellarmin wird die Unterwerfung unter den Papst, die zum Band des Glaubens und der Liebe hinzukommen muß, zu den Wesensmerkmalen der Kirche gerechnet. So sehr der Papst supremus hierarcha genannt wird, der über jedem einzelnen steht, ist er doch der Kirche in ihrer Gesamtheit und somit auch dem
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Generalkonzil untergeordnet. Der Papst ist caput vicarium et ministerielle, dessen dienende Vollmacht dem Ziel der Kirche, die allein unfehlbar ist, unterworfen ist. -•Nikolaus von Kues wurde 1432 zum Baseler Konzil gesandt und der Deputatio fidei zugeteilt. Unter Berufung auf die Konstanzer Dekrete verteidigt er zunächst im Sinn eines gemäßigten Konziliarismus die gottunmittelbare Autorität des Konzils. Der Papst ist der Vertreter Christi an der Spitze der Einheit der Glaubenden; seine Gewalt ist aber von der der übrigen Bischöfe qualitativ nicht verschieden. Petrus hat von Christus keine größere Gewalt empfangen als die übrigen Apostel: Papa tiott est universalis episcopus sed super alios primus [Der Papst ist nicht Universalbischof, sondern der erste über den anderen]. Für die ökumenizität eines Konzils genügt es nicht, daß der Papst ein Konzil einberuft und den Vorsitz führt; es setzt die Teilnehmer aus den fünf Patriarchaten voraus: Ex quinque patriarchalibus sedibus plenum universale concilium colligitur [Aus den fünf Patriarchalsitzen versammelt sich ein volles Universalkonzil]. Sinngemäß stellen die Papstkonzile des Mittelalters Konzile des römischen Patriarchats dar. Das ökumenische Konzil repräsentiert die Kirche; es empfängt seine Gewalt von Christus; es steht in jeder Hinsicht über dem Papst und dem Apostolischen Stuhl. Das Konzil besteht in der Cortcordantia, die der Heilige Geist bewirkt und die die Unfehlbarkeit garantiert. Quanto maior est concordantia, tanto infallibilius iudicium [Je größer die Übereinstimmung, desto sicherer das Urteil]. Nachdem sich Nikolaus von Kues 1437 von Basel abwandte, vertritt er eine papalistische Idee: Die Apostel haben ihre Schlüsselgewalt von Petrus empfangen. Das Konzil kann irren. Es empfängt seine Gewalt vom Papst, dem sichtbaren Haupt der Kirche. Bei allem Wandel seiner Lehre bleibt Nikolaus im Grunde genommen dem Repräsentationsgedanken insofern treu, als die Gewalt der Kirche übergeben ist, vom Konzil repräsentiert wird und eine Gemeinschaft in ihrem Präsidenten, in unserem Fall dem Papste, vorhanden ist. Wohl die größte Bedeutung hat im 15. Jh. die Summa de Ecclesia des 1439 zum Kardinal ernannten spanischen Dominikaners Juan de Torquemada erlangt, der an den Konzilien von Konstanz, Basel und Ferrara-Florenz als einflußreicher Verfechter der päpstlichen Vollmacht teilgenommen hat. Im Sinn der Tradition erläutert Torquemada das Wesen der Kirche anhand der zahlreichen biblischen Bilder: Sie ist das Ackerfeld, der Weinberg, der verschlossene Garten, der versiegelte Quell, der Brunnen des lebendigen Wassers, das Haus und die Familie Gottes, das Zelt und der Tempel Gottes und die Braut Christi. Das Kernstück der Ekklesiologie ist unter dieser Rücksicht aber das Verständnis der Kirche als mystischer Leib Christi. Dabei vertritt Torquemada die Auffassung, daß Christus das Haupt und zugleich Glied der Kirche ist. Als Haupt der Kirche verleiht Christus den Gliedern der Kirche die Empfindung und Bewegung, ein Gedanke, den Torquemada aus der Ekklesiologie der großen Theologen der Hochscholastik übernimmt. Im Anschluß an den Vulgata-Text von I Kor 12,17: Vos autem estis corpus Christi, et membra de membro nimmt Torquemada an, daß Christus nicht nur Haupt, sondern auch Glied seines mystischen Leibes ist. Diese für die Tradition ungewöhnliche Vorstellung erklärt Torquemada durch den Hinweis, daß das physische H a u p t unseres Leibes zugleich ein Glied des Leibes ist, nicht nur einen Einfluß ausübt, sondern auch erfährt. Christus das Haupt ist nicht einmal seiner Menschheit nach einem Einfluß der Glieder seines Leibes ausgesetzt, sondern nur der Einwirkung seiner Gottheit, die der mit ihr hypostatisch verbundenen Menschheit Bewegung und Empfindung jnitteilt wie ein Haupt seinen Gliedern. Da Christus auch als Gott H a u p t der Kirche ist, kann er seiner Menschheit nach Glied der Kirche genannt werden, insofern seine Menschheit die Gottheit zum Haupte hat. Für das weitere Verständnis der Ekklesiologie Torquemadas ist seine Definition der Kirche bedeutsam: Universitas fidelium quae unius veri Dei cultu, unius fidei confessione conveniunt (Summa 1,1) [Die Kirche ist die Gesamtheit der Gläubigen, die im Kult des einen wahren Gottes und im Bekenntnis des einen Glaubens übereinstimmen]. An ande-
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rer Stelle fügt er hinzu: Qui fide et oboedientia Apostolicae Sedis perseveratit [Die im Glauben und Gehorsam gegenüber dem Apostolischen Stuhl verharren]. Die Frage der kirchlichen Gliedschaft beantwortet Torquemada sehr differenziert. Im Sinne der christlichen Tradition geht er davon aus, d a ß die Katholizität der ecclesia universalis in ihrem ununterbrochenen Fortbestand von Abel, dem ersten Gerechten, bis zum Ende der Welt verwirklicht ist. Die Kirche als sichtbare Gemeinschaft wird nicht nur durch denselben Glauben, sondern auch durch die Regierungsgewalt des Bischofs und zuletzt des Papstes, der eine Zensur verhängen kann, zusammengeschlossen. Setzt man das voraus, so lautet die grundsätzliche Entscheidung, daß alle Gläubigen zur Kirche gehören, ob sie vorherbestimmt sind oder nicht, ob sie im Stand der Gottesliebe sind oder nicht, so lange sie den unversehrten Glauben bekennen und nicht durch eine Zensur von der Kirche abgeschnitten sind. Die Exkommunizierten werden somit nicht als Glieder der Kirche anerkannt. Diese Meinung wird freilich dahingehend eingeschränkt, daß sie im Falle einer ungerechten Bestrafung, den Glauben und Gnadenstand vorausgesetzt, durch die Liebe mit der ecclesia universalis verbunden bleiben. Die Katechumenen sind mentaliter etsi non corporaliter, merito etsi non numero [geistig, wenn auch nicht leiblich, dem Verdienste, wenn auch nicht der Zahl nach] zur Einheit der Kirche zu rechnen. Die gläubigen Sünder gehören auf irgendeine Weise zur Kirche, weil sie im Glauben mit den übrigen Gliedern übereinstimmen; sie gehören aber nicht perfecte et proprie [völlig und im eigentlichen Sinn] zur Kirche. Ecclesia universalis und ecclesia Romana werden von Torquemada gleichgesetzt und letzten Endes mit dem Apostolischen Stuhl und dessen Inhaber identifiziert. Der Ausdehnung nach ist die Römische Kirche eine Einzelkirche, dem qualitativen Gesichtspunkt nach ist sie Gesamtkirche. Der Römischen Kirche gebührt der Ehrenname „katholisch", weil sie die christliche Religion stets makellos bewahrt hat. Weil der Papst das Haupt der Kirche ist, kommt ihm die Fülle der kirchlichen Gewalt zu, aber nicht in dem Sinn, daß ihm diese Gewalt von einer Gemeinschaft übertragen wäre, sondern von Christus her, der ihm diese Vollgewalt vor allen anderen und für die anderen übergeben hat. So ist der Papst der Ursprung und die Quelle aller Gewalt in der Kirche {una fontalis origo totius potestatis ecclesiasticae). Weil Petrus unmittelbar von Christus zum Bischof bestellt wurde, stammt die Jurisdiktionsgewalt aller Würdenträger in der Kirche vom Papst. Der Papst ist eigentlich nicht ein Teil der Kirche, sondern das Ganze der Kirche. Sinngemäß steht das Konzil in völliger Abhängigkeit vom Papst. Der Grundsatz der Vertreter der konziliaren Idee synodus maior papa kann nur für noch nicht entschiedene Glaubensfragen gelten. 5. Das 16. ]h. Im 16. Jh. wird von den Theologen, die zum Teil in der Auseinandersetzung mit den Reformatoren standen oder am Konzil von Trient teilgenommen haben, der Primat und die Lehrautorität des Papstes mit Nachdruck betont und - von Ausnahmen abgesehen jede Art des Konziliarismus zurückgewiesen. So betont ->Cajetan, daß der Papst zwar als Privatperson irren könne, bei der offiziellen Ausübung seines Lehramtes hingegen ist er aufgrund des Beistandes des Heiligen Geistes unfehlbar, weil ein Irrtum des Papstes in einem definitiven Spruch einem Defekt der ganzen Kirche gleichkäme. Die der Kirche eigene Entscheidungsvollmacht ruht vornehmlich (principaliter) im Papst. Die Gewalt des Papstes ist die der Gesamtkirche, an der die anderen nur Anteil haben. Konzilien sind zwar zweckmäßig, aber nicht notwendig. Das Konzil ist nur ratione capitis unfehlbar, und nicht etwa aus einer der Kirche irgendwie innewohnenden Kraft. Gegenüber der Entscheidung des Papstes hat das Konzil nicht eine intensivere, sondern lediglich eine extensive Gewalt, d.h., der Verbindlichkeitsgrad der Konzilsentscheidung ist nicht größer und tiefer als eine unfehlbare Entscheidung des Papstes, sie hat lediglich eine breitere Grundlage. Die Kirche ist eine Monarchie. Vom Papst als dem episcopus universalis leitet sich auf ordentlichem Wege jede Gewalt in der Kirche ab. Ähnliche Auffassungen vertritt Sylvester -»Prierias, einer der frühen italienischen
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Gegner Luthers. Er steht in der Tradition des Spätmittelalters, wie sie vor allem von Augustinus Triumphus und Juan Torquemada vertreten wurde. Unter Berufung auf Thomas v. Aquin vertritt Prierias die Meinung, daß die oberste Jurisdiktion direkt von Christus der Person des Petrus verliehen wurde, so daß allein der Papst sich der Fülle der Gewalt erfreut, während alle anderen nur zur Mitsorge berufen sind. Die unfehlbare Kirche kann unter einem mehrfachen Aspekt gesehen werden. Wenn sie auch formaliter das Gesamt des gläubigen Volkes einschließt und repräsentativ im allgemeinen Konzil in Erscheinung tritt, so enthält doch die römische Kirche die Autorität der ganzen Kirche; schließlich ruht sie im Papst und seiner Verbindung mit dem Kardinalskollegium (—•Kardinal/Kardinalskollegium). Sinngemäß erlangen Konzilsentscheidungen erst durch die päpstliche Approbation ihre Verbindlichkeit. Ambrosius Catharinus, ein zum Teil eigenwilliger und streitbarer Theologe und Teilnehmer des Konzils von Trient (gest. 1553), nimmt ebenso wie Prierias an, der Papst sei die virtualis ecclesia. Christus habe Petrus und dessen Nachfolgern die Schlüsselgewalt übertragen, weil sie als „Bild" (Typus) der ganzen Kirche fungierten. Im Papst ruht die Gewaltenfülle so, daß sie durch ihn an alle anderen weitervermittelt wird, denen der Auftrag obliegt, ihm bei der Sorge für die Gemeinschaft beizustehen. Im Blick auf die Tradition des Dominikanerordens erstaunlich ist die Position des Franz von ->Vitoria, der den Konziliarismus nicht rundweg verwirft. Seit der Entscheidung des V. Laterankonzils ist es zwar höchst gefährlich, die konziliaristische These zu vertreten. Da diese jedoch nicht als Irrtum verurteilt wurde, bleibt das Problem offen. Weil das Evangelium vom Primat Petri spricht, während es einen Vorrang des Konzils über die Kirche nicht lehrt, ist es sicherer (securius), daß der Papst über dem Konzil steht. Aber die Ansicht, daß das Konzil seine Gewalt von Gott erhalte, ist besser begründet als die Annahme, daß die Gewalt des Konzils vom Papst stammt, wenn dieser auch der Hirt aller Gläubigen bleibt. Wenn dem Papst auch die Irrtumslosigkeit zukommt, so ist er doch vor seinen Entscheidungen zu einer angemessenen Konsultation verpflichtet. In schwierigen Fällen muß er ein Konzil einberufen, anderenfalls würde er nachlässig handeln. Melchior Cano (gest. 1560), ein Zeitgenosse und unmittelbarer Schüler des Franz v. Vitoria und bedeutender Theologe des Konzils von Trient, steht wiederum in der Tradition seines Ordens, wenn er die Unfehlbarkeit des Papstes deutlich hervorhebt. Der römische Bischof hat die Aufgabe des Petrus, Lehrer des Glaubens zu sein und seine Brüder zu stärken, übernommen. Als dem obersten Hirten der Kirche kommt ihm eine unfehlbare Autorität zu. Ein allgemeines Konzil, das vom römischen Bischof kraft der ihm eigenen Autorität weder zusammengerufen noch bestätigt worden ist, kann im Glauben irren. Auch die Einberufung des Konzils durch den Papst allein garantiert noch nicht dessen Unfehlbarkeit. Diese ist erst durch die Bestätigung des Papstes gegeben. 6. Das Konzil von Trient und die nachtridentinische (16.-17. Jh.) 6.1. Das Konzil von
Kontroverstheologie
Trient
Das Konzil von Trient (-»Tridentinum) hat keine Entscheidungen über die Kirche getroffen, so sehr es in seiner Durchführung von der in der Hoch- und Spätscholastik entfalteten Vorstellung über das Konzil und dem Verhältnis von Papst und Konzil beherrscht war. „Seine Dekrete sind Dekrete des Konzils, das von den päpstlichen Legaten präsidiert wurde; sie sind nicht Dekrete des Papstes mit der Approbation des Konzils" (Y. Corfgar, Die Lehre von der Kirche vom abendländischen Schisma bis zur Gegenwart 51). Eigentliche ekklesiologische Themen wurden auf dem Konzil nur nebenbei besprochen. Selbst die in den vorausgehenden Jh. theologisch diskutierten Probleme, etwa die Frage, ob der Episkopat göttlichen Rechts sei, ob die Jurisdiktion der Bischöfe vom Papst abgeleitet werden müsse, wurden wegen der verschiedenen Meinungen der Konzilsväter nicht entschieden. Das Konzil begnügte sich in der 23. Sitzung vom 15.7.1563 mit der allgemeinen Formulierung, daß es in der Kirche kraft göttlicher Einsetzung eine Hierarchie gebe,
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die aus Bischöfen, Priestern und Dienern besteht (DS 1776) und daß den Bischöfen eine Superiorität gegenüber den Priestern zukomme, die in der Gewalt der Spendung der Firmung und der Weihen besteht (DS 1768,1777). Erst im tridentinischen Glaubensbekenntnis (13.11.1564) stehen die Sätze: „Ich anerkenne die heilige, katholische und apostolische römische Kirche als Mutter und Lehrerin aller Kirchen. Ich verspreche und schwöre Gehorsam dem Papst, dem Nachfolger des heiligen Petrus, des Apostelfürsten, und dem Stellvertreter Jesu Christi" (DS 1868). 6.2. Die nachtridentinische
Kontroverstheologie
In der Ekklesiologie der nachtridentinischen Scholastik werden die wichtigen Themen der Hoch- und Spätscholastik unter bestimmten Gesichtspunkten aufgenommen und weitergeführt und dabei auch Fragen, die sich aus der Begegnung mit den Reformatoren ergeben, einbezogen. Roberto -»Bellarmini, der bedeutendste Kontroverstheologe dieser Zeit, dessen Einfluß noch auf dem I. Vatikanischen Konzil und in der Enzyklika Mystici Corporis (1943) deutlich spürbar ist, bietet folgende Definition der Kirche: (Ecclesiatn esse) coetum hominum eiusdem Christianae fidei professione, et eorumdem sacramentorum communione colligatum, sub regimine legitimorum pastorum, ac praecipue urtius Christi in terris Vicarii Romani Pontificis (Contr. 41.3c.2) [Die Kirche ist die Vereinigung der Menschen, die durch das Band des Bekenntnisses desselben Glaubens und die Teilnahme an denselben Sakramenten unter der Leitung der rechtmäßigen Hirten und besonders des einen Statthalters Christi auf Erden, des römischen Papstes, verbunden sind]. Die von Bellarmini mit Nachdruck betonte Sichtbarkeit der Kirche erscheint in dem Satz: Die Kirche ist eine Gemeinschaft von Menschen, die so sichtbar und greifbar ist wie die Gemeinschaft des römischen Volkes oder das Königreich Frankreich oder die Republik Venedig. Glieder der Kirche im eigentlichen Sinne sind nach der oben genannten Definition nur die Katholiken. Die Katechumenen gehören aufgrund des Glaubens der Potenz nach zur Kirche. Die Häretiker sind nicht in der Kirche, wenn auch aufgrund des Taufcharakters eine gewisse Bindung zur Kirche vorhanden ist. Die Schismatiker, die das sichtbare Haupt der Kirche leugnen, gehören auch dann nicht der Kirche an, wenn sie sonst alle Bedingungen erfüllen. Die Kirche ist nach Art einer Monarchie aufgebaut, so daß die Regierungsgewalt beim Papst liegt. Als Hirt der ganzen Kirche empfängt er seine Gewalt unmittelbar von Christus und nicht durch die Vermittlung der Gläubigen. Die Bischöfe sind nicht Vikare des Papstes, sondern wirkliche Hirten. Sie erhalten aber ihre Jurisdiktion nicht von Gott, sondern vom Papst, ebenso wie die Apostel zu Petrus im Verhältnis der Abhängigkeit standen. Wenn der Papst ex cathedra spricht, ist er aufgrund der Verheißung von Mt 16,18 unfehlbar. Die in Lk 22,32 enthaltene Gebetszusage richtet sich an Petrus und nicht - wie manche meinen - an die Kirche. Dennoch betont Bellarmini, daß die Gesamtheit der Gläubigen ebenfalls Anteil an der Unfehlbarkeit hat, so sehr ein Urteil in Glaubenssachen nur den Hirten zusteht. Bezüglich der Konzilsidee, deren Ursprung nach Bellarmini probabilius göttlich ist, vertritt er die Meinung, daß die vom Papst bestätigten Konzilien nicht irren können, da sie die Kirche repräsentieren. Die konziliaristischen Dekrete von Konstanz und Basel werden für nichtig erklärt, da sie nicht auf rechtem Wege zustande gekommen sind, weil man sie ohne Aussprache verabschiedet hat und sie dadurch dem Wesen des Konzils widersprechen. Bedeutsam ist die Vorstellung Bellarminis, daß zwar ein Konzilspräses der Mehrheit des Konzils folgen muß, während der Papst als Haupt der Kirche ein solches Votum zurückweisen und sich der Minderheit anschließen kann. So sehr die Position Bellarminis für die kommende Zeit maßgeblich blieb, so gab es doch in einzelnen Fragen noch unterschiedliche Meinungen. So bietet Gregor v. Valencia (gest. 1603) eine Definition der Kirche, in der der Papst nicht ausdrücklich erwähnt wird, während die wahre Verehrung Gottes, das rechte Bekenntnis des Glaubens und der Emp-
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fang der T a u f e die Glieder der Kirche miteinander verbindet. Wenn auch die Schismatiker von der Kirche ausgeschlossen sind, so sind doch die verborgenen Häretiker, die ä u ß e r lich den Glauben bekennen, kraft dieser externen Verbindung membra arida ecclesiae (dürre Glieder der Kirche). Generell darf m a n sogar alle Häretiker quadam ratione a u f grund des Taufcharakters zur Kirche rechnen. Das Konzil hat nicht einmal eine relative Eigenständigkeit; als Institution k o m m t ihm lediglich eine durch den Papst vermittelte Autorität zu, so d a ß die Konzilsväter aus sich nur als Ratgeber und nicht als Richter fungieren, während die Unfehlbarkeit des Konzils allein durch den Papst gegeben ist u n d garantiert wird. Francisco -»Suärez beurteilt die Stellung der Bischöfe etwas positiver. Er rechnet z w a r die Unfehlbarkeit des Papstes zu den Glaubenswahrheiten, betont aber doch, d a ß d e r Gesamtkirche die Verheißung der Unfehlbarkeit gegeben ist, also nicht sämtliche Bischöfe irren k ö n n e n . Vor allem darf man den Papst nicht von den Bischöfen trennen. Es gehört zur Art der Kirchenverfassung, d a ß die Bischöfe unter dem Papst als Vikar Christi Anteil a m Leitungsamt haben. Wenn ein Generalkonzil notwendig wird, k a n n es auch durch d a s Kardinalskollegium oder durch die Z u s t i m m u n g der Bischöfe einberufen werden. Versuchen des Papstes, es zu verhindern, darf m a n Widerstand leisten, da dieser seine Gewalt mißbraucht. Freilich wäre das Urteil eines solchen Konzils kein eigentlicher Rechtsakt, weil der Papst keinen Richter über sich hat. Auch Luis - » M o l i n a meint, allein dem rechtmäßigen und o r t h o d o x e n Papst stehe die Autorität zur Einberufung des Konzils zu. Gibt es aber in Zeiten des Schismas Zweifel a n der Legitimität eines Papstes, so darf ein Konzil auch ohne dessen Einwilligung zusammentreten. Für den Fall eines häretischen Papstes darf ein Konzil auch gegen dessen Einwilligung zusammentreten und ihn absetzen. Auf einem ordnungsgemäßen Konzil haben nur die Bischöfe die Autorität, in Glaubens- und Sittenfragen zu entscheiden; sie vertreten die Gläubigen und dürfen sogar die Gesamtkirche genannt werden. Irrtumslosigkeit erlangt das Konzil freilich erst durch die päpstliche Bestätigung. Auch Johannes a St. T h o m a (gest. 1644) lehrt bei aller Betonung der Unfehlbarkeit des Papstes, d a ß die Gesamtheit der Gläubigen stets von einem Irrtum frei bleibt, und d a ß die Bischöfe auf d e m Konzil, trotz der Abhängigkeit vom Papst, nicht zu Legaten und Vikaren des Papstes werden, sondern gubernatores ecclesiarum sind. Was die Sakramente betrifft, so wird in der nachtridentinischen Zeit die Siebenzahl von allen Theologen mit Nachdruck gegenüber jeder anderen Zählweise verteidigt. Sieht man von den Vertretern der strengen Thomistenschule ab, so setzt sich in dieser Zeit die Lehre von der Sakramentalität des Episkopates immer mehr durch und wird bald allgemein gelehrt. Desgleichen wird der D i a k o n a t von den nachtridentinischen Theologen fast allgemein als sakramentaler O r d o betrachtet. Die vier Niederen Weihen, die neuerdings von der Kirche abgeschafft sind, und der Subdiakonat werden von den meisten Theologen des 16. und 17. Jh. noch f ü r sakramental gehalten. 7. Gallikanismus 7.1. Der
und
Febronianismus
Gallikanismus
Neben der scholastischen Ekklesiologie ist das 17. Jh. entscheidend durch das Entstehen des -»Gallikanismus geprägt. Dabei sind verschiedene Stufen dieser Geistesrichtung zu unterscheiden. Der Pariser Professor André Duval (gest. 1638) verwirft die auf den Konzilien von Konstanz und Basel vertretene Superiorität des Konzils über den Papst. Da Konzil und Papst eine Autorität darstellen, eine Cathedra bilden, darf man sie nicht voneinander trennen. Konzile sind ohne den Papst nicht unfehlbar, sie sind es aber vor einer ausdrücklichen Approbation durch den Papst. Weil die Kirche nicht einfach vom Papste herkommt, ist eine Rezeption der amtlichen Entscheidungen durch die Glieder der Kirche bedeutsam. Kirche und Episkopat dürfen nicht einfach auf eine Teilhabe an der absoluten Monarchie des Papstes eingeschränkt werden. Es genügt nicht, daß der Papst ex cathedra entscheidet, er muß ex untiate cathedrae sprechen. Eine Definition des Papstes muß mit der Appro-
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bation dieser Entscheidung durch die Gesamtkirche verbunden werden. Beide zusammen bewirken, daß ein solches Urteil als glaubensverbindlich qualifiziert werden kann. Jacques-Bénigne -»Bossuet, der maßgeblich an der Ausarbeitung der vier Artikel der Assemblée du Clergé de France vom 19.3.1682 (s. TRE 12,19,39ff) beteiligt war und als Gegner des Universalprimats und der Unfehlbarkeit des Papstes im Sinn des Konziliarismus die Autorität der Konzilien betont, geht davon aus, daß die Apostel und somit auch die Bischöfe unmittelbar von Christus die gleiche Gewalt empfangen haben wie Petrus. Der Papst als episcopalis collegii totiusque catholicae communionis princeps [Führer des Bischofskollegiums und der ganzen katholischen Gemeinschaft] besitzt in seiner Person die Fülle der Gewalt, die die Bischöfe als Hirten ihrer Einzelkirchen in einem begrenzten und untergeordneten Rang erhalten. Die Entscheidungen des Papstes sind für die Gesamtkirche nur verbindlich, wenn die Zustimmung der Bischöfe erfolgt ist. In diesem Sinn sind d a n n der 2. und 4. gallikanische Artikel zu verstehen: D e m N a c h folger Petri steht die plenitudo potestatis in geistlichen Sachen zu, jedoch in der Weise, d a ß die Dekrete der 4. und 5. Sitzung des Konstanzer Konzils über die Autorität der allgemeinen Konzilien voll in Kraft bleiben. Die Obergewalt der allgemeinen Konzilien kann nicht auf die Zeit des Schismas eingeschränkt werden. Dem Papst steht in Glaubenssachen die Entscheidungsgewalt zu, und seine Anordnungen gelten f ü r alle Kirchen. Aber diese Entscheidungen sind nicht unumstößlich, wenn nicht die Z u s t i m m u n g der Kirche hinzukommt. 7.2. Der
Febroniatiismus
In Deutschland erlangte der Gallikanismus in der Gestalt des Febronianismus eine große Bedeutung (-»Febronius/Febronianismus). Der Trierer Weihbischof Johann Nikolaus von Hontheim (1701-1790) vertrat unter dem Pseudonym Febronius die Ansicht, daß die Schlüsselgewalt principaliter et radicaliter der Kirche gegeben ist und von dort her auf ihre Diener und auch auf den Papst übergeht. Alle Bischöfe haben die gleiche Gewalt. Wenn es um den Glauben geht, ist jeder Bischof der Bischof der ganzen Kirche. Das allgemeine Konzil steht über dem Papst. An die Stelle der päpstlichen M o n a r c h i e soll die Pluralität der Nationalkirchen treten, deren Organe die Nationalkonzilien sind, über denen das Generalkonzil steht. Der Papst hat nur einen primatus ordinis ac consociationis. Die Bischöfe können die Erklärungen der Päpste a n n e h m e n oder ablehnen. Wenn Hontheim auch seine Thesen widerrufen hat, so fand doch die febronianische Position eine große Verbreitung. 8. Die Aufklärung
(18. Jh.)
Die vielfachen Anstöße, die die -»Aufklärung f ü r das Verständnis der Ekklesiologie gebracht hat, können hier nur in ihren Grundlinien dargestellt werden. Wenn in den zusammenfassenden Darstellungen dieser Zeit darauf hingewiesen wird, d a ß in dieser Periode der Geistesgeschichte die Vernunft aus der selbstverschuldeten Abhängigkeit befreit, das Konfessionelle in das Allgemeinchristliche aufgehoben und die Kirche zu einer moralischen Anstalt der Gesellschaft erhoben wird, so sind gewiß Kennzeichen der Aufklärung genannt, aber das Spezifische der katholischen Ekklesiologie ist nur a n n ä hernd getroffen. Die Kirche wird in dieser Zeit als corpus credentium, als Körperschaft der Glaubenden, als wohl gegliedertes lebensvolles Ganzes verstanden, d e m Ghristus eine hierarchische O r d n u n g eingestiftet hat. Sie ist eine Gesellschaft von Menschen, die zur Verehrung Gottes in der christlichen Religion zusammengerufen sind. Sie ist das durch Christus in göttlicher Autorität gestiftete Reich Gottes auf Erden, der Wirkungsbereich des erhöhten Herrn (Klüpfel). Die Kirche ist der Leib Christi, dessen Glieder verschiedene Gaben und Aufgaben haben, eine geistige Gesellschaft vieler Menschen, welche durch gemeinsame Religionsübungen verbunden sind, um die gemeinsame Glückseligkeit als Endzweck zu «reichen (Stattler). Sie erzieht die Menschen zur H u m a n i t ä t im Geiste der Religion. Die K:rche ist als eine öffentliche Lehranstalt, als öffentliches sittliches Gemeinwesen u n d als Anstalt der Gottesverehrung gestiftet. Als Ziel ist ihr die Bewahrung und Verbreitung der christlichen Religion aufgetragen. Sieht man die Kirche im Verhältnis zur Religion, so
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wird die von Franz Oberthür (1745-1831) gebotene Umschreibung der Kirche als eine von Gott gestiftete Schule der inneren Religion verständlich. Die Kirche ist eine auf Befehl Gottes zusammengekommene Gesellschaft von Menschen, die dieselbe Religionslehre bekennen und dieselben heiligen Übungen vollziehen. Als äußere Lehranstalt der inneren Religion muß die Kirche für die Pflege der Tugend sorgen. Mit dieser Grundvorstellung verbindet sich die Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche, insofern sich die Kirche als alleinige, unfehlbare Lehranstalt der Religion erweisen muß (Klüpfel, Zimmer). Unter Zugrundelegung des zeitgenössischen Wissenschaftsideals sehen eine Reihe von Theologen ihre Aufgabe darin, die christliche Religion als wahre Religion und die Kirche als unfehlbare Lehrerin und Hüterin dieser Religion aufzuweisen. Da die verschiedenen christlichen Konfessionen teilweise sich ausschließende Wege zum Heil lehren, muß es in der katholischen Kirche ein unfehlbares Lehramt geben, damit sie den wahren Weg zum Heil aufzeigen kann. So wird die Kirche zur unfehlbaren Schiedsrichterin in Fragen des Glaubens und der Religion. Von dieser grundsätzlichen Sicht her erlangt die Frage der Unfehlbarkeit der Kirche ein großes Gewicht. Daß der Gesamtkirche die Unfehlbarkeit zukommt, wird in der Regel aus der Tradition übernommen. Diese Unfehlbarkeit ist nichts anderes als die Bewahrung und Dauer der Kirche bis an das Ende der Zeiten. Sie wird aus der Vorsehung Gottes begründet als das fortwährende Wirken Gottes in der Kirche, das sie in dem Stand erhält, in dem sie am Anfang von Christus gestiftet wurde. Es gibt jedoch in dieser Zeit durchaus auch kritische Stimmen gegenüber der Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche, die gelegentlich geleugnet, meist aber nur eingeschränkt wird. Abzulehnen ist die Unfehlbarkeit der Kirche nach Benedikt M . Werkmeister (1745-1823), weil sie die natürliche Anlage und Bestimmung der menschlichen Vernunft einengt und das natürliche Licht auf unabhängige Prüfung der Meinung und den freien Gebrauch des Verstandes unterdrückt. Christus hat nicht eine Gleichförmigkeit gewollt, sondern nur ein allgemeines Gerüst gegeben, das durch freie Forschung und den Gebrauch der Vernunft ausgefüllt werden sollte. Die Verteidiger der Unfehlbarkeit der Kirche schränken sie auf die Amtsträger ein. Den hörenden Gliedern der Kirche kommt eine passive Unfehlbarkeit zu, die von der Unfehlbarkeit der Vorsteher abhängig ist. Besonderes Gewicht erlangt die Unfehlbarkeit der Kirche auf dem Konzil, das die Kirche repräsentiert, wenn dort Einigkeit herrscht. Während die Apostel auch einzeln unfehlbar waren, sind die Bischöfe nur als Körper aller Bischöfe zusammen mit ihrem Oberhaupt unfehlbar (Storchenau). Die Hirten der Kirche, auch die Bischöfe, sind dem Papst um der Einheit willen untergeordnet. Der Papst hat um der Wahrung der Einheit willen einen eindeutigen Vorrang mit unbeschränkter Vollmacht (Simpert Schwarzhueber, 1727-1795). Der Papst ist Stellvertreter Christi und nicht delegierter Sprecher der Bischöfe. Eine Unterordnung des Papstes unter den Gesamtepiskopat im Sinn der konziliaristischen Idee wird abgelehnt (Benedikt Stattler, 1728-1797). In der Frage nach dem Verhältnis von Papst und Bischofskollegium vertritt M a r t i n Gerbert ( 1 7 2 0 - 1 7 9 3 ) eine Auffassung, die an die Kontroversen unserer Zeit erinnert: Den Aposteln und ihren Nachfolgern, dem Bischofskollegium, wurde uneingeschränkt die volle Leitungsgewalt übergeben. Die gleiche Leitungsgewalt wurde auch dem Petrus und seinen Nachfolgern übertragen. Papst und Bischofskollegium können daher diese ihnen anvertraute Vollmacht nur gemeinsam, in Gemeinschaft miteinander, ausüben. Ein deutliches Beispiel für die Verteidigung der päpstlichen Unfehlbarkeit, die nahezu den Entscheidungen des I. Vatikanischen Konzils g l e i c h k o m m t , ist Eusebius A m o r t ( 1 6 9 2 - 1 7 7 5 ) , der gegen alle Strömungen der Gallikaner betont, daß der römische B i s c h o f feierliche Glaubensentscheidungen ohne vorausgehende Beratung als unveränderliche Glaubensregel allen Kirchen vorschreiben kann, es also nicht von der Z u s t i m m u n g der Kirche a b h ä n g t , was als unwiderrufliche Definition des Papstes zu gelten hat. A m o r t weist freilich auch darauf hin, daß der Papst moralisch verpflichtet ist, vor der Definition einer Lehre gewissenhafte Nachforschungen über das Enthaltensein einer Wahrheit in der Schrift und der Tradition zu machen.
Kirche IV 9. Das 19.
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Jahrhundert
In der E n t w i c k l u n g der E k k l e s i o l o g i e an der Wende v o m 18. zum 19. J h . k o m m t J o h a n n M i c h a e l - » S a i l e r (1751 — 1832) die entscheidende Bedeutung zu, da er den Weg von der A u f k l ä r u n g zur - » R o m a n t i k gewiesen hat. Für den „ b a y e r i s c h e n K i r c h e n v a t e r " (G. Schwaiger) ist die K i r c h e im Sinn des r o m a n t i s c h e n Organismus-Begriffes und der paulinischen Vorstellung v o m Leib Christi ein v o m Heiligen Geist beseeltes lebendiges Wesen, ein vielgliedriger L e i b , der von Christus, d e m H a u p t , regiert wird. 9.1. Die katholische Tübinger Schule. D i e g r ö ß t e Bedeutung für die Ekklesiologie des 19. J h . hat die k a t h o l i s c h e -»-Tübinger Schule und hier w i e d e r u m J o h a n n A d a m - » M ö h ler. Für J o h a n n Sebastian D r e y ( 1 7 7 7 - 1 8 5 3 ) , den Begründer der Schule, ist die K i r c h e die Trägerin der O f f e n b a r u n g durch die G e s c h i c h t e und daher zugleich die lebendige R e a l objektivation des R e i c h - G o t t e s - G e d a n k e n s . D i e Einheit und Vielheit der von Christus gestifteten K i r c h e sind keine G e g e n s ä t z e , sondern dialektisch einander zugeordnete G r ö ßen. D i e Einheit d a r f nicht im Sinne von U n i f o r m i t ä t oder G l e i c h f ö r m i g k e i t bestehen; sie muß eine die Vielheit und M a n n i g f a l t i g k e i t involvierende Einheit sein, die durch den Nachfolger Petri repräsentiert wird. W i e in Christus die Z w e i h e i t von göttlicher und menschlicher N a t u r die personale Einheit nicht gefährdet, so ist der K i r c h e die Z w e i h e i t der G e w a l t e n , das episkopale Prinzip der Vielheit und das primatiale Prinzip der Einheit, förderlich. D i e kirchliche H i e r a r c h i e darf nicht v o m r ö m i s c h e n B i s c h o f aus konstruiert werden; es m u ß vielmehr u m g e k e h r t das einheitsstiftende A m t des Papstes von der primären Pluralität der B i s c h ö f e her konzipiert werden. Nach J. A. -»Möhler, dessen Ekklesiologie einen entscheidenden Einfluß auf die folgende Zeit, vor allem auf -»Döllinger und die Römische Schule ausgeübt hat, stellt nicht die Hierarchie das Wesensprinzip der Kirche dar. Das eigentliche und innerste Zentrum der Kirche ruht vielmehr im Heiligen Geist, der Seele der Kirche, von dem alles Leben kommt. Der Heilige Geist schafft die Einheit und stellt das fortwährende Identitätsprinzip der Kirche dar; er sorgt für ihre Ausbreitung und die Entwicklung des kirchlichen Organismus. Im Gegensatz zur Theologie der nachtridentinischen Zeit und der Aufklärung wird die kirchliche Hierarchie vom innersten Wesen der Kirche her verstanden. Der in der Kirche wirkende Geist schafft den kirchlichen Organismus mit den verschiedenen Funktionen. Der Bischof stellt die Einheit der Diözese, der Metropolit die Einheit mehrerer Diözesen, der Papst die Einheit der ganzen Kirche dar (vgl. T R E 11,777,37ff). Unter Hinweis auf die göttliche und menschliche Natur Christi spricht Möhler vom gottmenschlichen Wesen der Kirche, die wesentlich unsichtbar und sichtbar zugleich ist. Die Kirche ist zu verstehen „als die äußere Produktion einer innern bildenden Kraft, als der Körper eines sich selber schaffenden Geistes" (Die Einheit der Kirche oder das Prinzip des Katholizismus 170). Weil der letzte Grund der Sichtbarkeit der Kirche in der Menschwerdung des Wortes Gottes liegt, nennt Möhler in einer freilich nicht unmißverständlichen Formulierung die Kirche die andauernde Fleischwerdung des Wortes Gottes. 9.2. Ignaz von Döllinger. Beeinflußt von Möhler hat Ignaz von -»Döllinger, der für viele nur als Gegner der Entscheidungen des I. Vatikanischen Konzils in die Geschichte eingegangen ist, einen wichtigen Beitrag zur Ekklesiologie geleistet, den er freilich nach der Exkommunikation im Jahre 1871 zum Teil selbst widerrufen hat. Die Kirche wird zunächst unter Bezugnahme auf das Neue Testament und die Kirchenväter verstanden als die Arche und Stiftshütte, als Bau und Tempel Gottes, als der neue Bau, zu dem Christus das Fundament gelegt hat, und als Haus, das auf einem Felsen gebaut ist. Die Ecclesia ist die Versammlung der Berufenen und Eingeladenen. Sie ist die Communio Sanctorum, die Gemeinschaft der Heiligen, ein lebendiger Organismus, in dem man Leib und Seele unterscheiden kann. Den Leib, die äußere Kirche, bildet die Menge derer, welche durch das äußere Bekenntnis und denselben Glauben, dieselben Sakramente und die Unterordnung unter die rechtmäßigen Kirchenvorsteher verbunden sind. Die Seele der Kirche, die innere Kirche, besteht aus der Gemeinschaft der Heiligen und wahrhaft Erwählten, welche durch die ihnen verliehene Gabe des Heiligen Geistes mit Christus und untereinander verbunden sind. Die Kirche ist eine Gemeinschaft mit bestimmten Zwecken, die der Gesetze bedarf, die den Gliedern der Kirche Vorteile und Wohltaten, aber auch Verbindlichkeiten bringen. Die Kirche ist der Leib Christi, ein lebendiger Organismus, der durch die Eucharistie verwirklicht wird. Die innere Einheit der Kirche bedarf einer äußeren Struktur, die diese Einheit fördert. Sie reicht vom Bischof, dem Mittelpunkt der Diözese, bis zum Papst, dem sichtbaren Oberhaupt der Kirche, dem Mittelpunkt der kirchlichen Einheit. Döllinger bezeichnet des öfteren den Primat des Papstes als
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den „Schlußstein" im Bau der Kirche. Dabei müssen allerdings der Primat des Petrus und die jeweilige Ausprägung des Papsttums deutlich unterschieden und das Verhältnis zwischen Primat und Episkopat beachtet werden. Die Gewalt der Bischöfe ist von Gott gegeben. Das eigene Recht der Bischöfe muß durch die Beziehung zum Papst mit der Verantwortung für die Weltkirche verbunden werden. Der Heilige Geist bewirkt in der gesamten Kirche die Unfehlbarkeit, die auf dem allgemeinen Konzil als der Ecclesia congregata in Erscheinung tritt. In seiner frühen Zeit, die noch nicht von der Ankündigung des I. Vatikanischen Konzils überschattet ist, bietet Döllinger durchaus auch Ausführungen über die Unfehlbarkeit des Papstes. Die Kirche kann ihre Unfehlbarkeit dartun durch das Oberhaupt, durch den Episkopat und durch ein Konzil. Einem durch Stillschweigen der Bischöfe genehmigten Urteil des Papstes kommt die höchste Autorität zu. Den Glaubensentscheidungen des Papstes wird eine provisorische letzte Instanz zugebilligt, solange die Gesamtkirche auf einem Konzil nicht davon abrückt. 9.3. Die Römische Schule. Großen Einfluß auf das I. Vatikanische Konzil (-»Vatikanum I) und die von der Kirche geförderte Neuscholastik hat die Römische Schule, deren Vertreter von der Tübinger Schule, vor allem von Möhler, beeinflußt sind. Giovanni Perrone ( 1 7 9 4 - 1 8 7 6 ) , der Begründer dieser Schule, dessen Praelectiones theologicae noch zu seinen Lebzeiten in der 31. Aufl. erschienen sind, bezeichnet im Anschluß an die Ekklesiologie ->Bellarminis die Kirche u.a. als societas, coetus, corpus morale bzw. persona moralis. Anders als bei Bellarmini zählt Perrone zum corpus morale nicht so sehr die Gläubigen in ihrer Gesamtheit, sondern die Nachfolger der Apostel, die Bischöfe in ihrer Verbindung mit dem Papst. Aus dem coetus fidelium wird der coetus pastorum. Als corpus pastorum ist die Kirche wesentlich lehrende Kirche, der die Gläubigen zu folgen haben. Der Papst ist selbstverständlich unfehlbar im Sinne des I. Vatikanischen Konzils, das Perrone vorbereitet und dessen Dekrete er kommentiert hat. Die Schismatiker und Häretiker sind vollkommen von Christus getrennt und in keiner Weise mehr mit der Kirche verbunden. Neben diesem juridischen Kirchenbegriff sind aber die Einflüsse aus Möhlers Symbolik zu spüren, so etwa wenn Perrone zunächst zurückhaltend, später aber deutlicher von der Kirche als der Inkarnation Christi, der ,incarnazione permanente, mistica', spricht. Carlo Passaglia (1812-1887), der „genialste Theologe der römischen Schule" (W. Kasper), sieht die Kirche hinsichtlich ihrer Wirkursache trinitarisch, insofern sie von Gott, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist den Ausgang nimmt. Die Grundlage der Kircheneinheit ist daher letzten Endes in der Einheit der göttlichen Dreifaltigkeit zu suchen, deren Bild die Kirche ist. Der Heilige Geist, der zugleich der trinitarische Geist der Liebe ist, wirkt in der Kirche fort und macht sie zum mystischen Leib. Die Kirche ist Leib Christi, weil Christus das Haupt ist und die Würde des Hauptes dazu führt, daß auch der unwürdige Rest, die Glieder des Leibes, mit dem Namen Christi geschmückt wird. Durch den Heiligen Geist, der die Kirche von innen her formt, empfängt diese das geistliche Leben und wird zu einer Einheit. Clemens Schräder (1820-1875), der Schüler Passaglias, der mit seinem Lehrer das erste Schema zu einer dogmatischen Konstitution über die Kirche entscheidend beeinflußt hat, ist innerhalb der Römischen Schule der Hauptvertreter der Lehre von der Kirche als dem mystischen Leib, die ganz aus dem Geist der Symbolik Möhlers entfaltet wird. Schräder versteht die Kirche als gottmenschliche Einheit und als Fortsetzung der Inkarnation Christi auf Erden. Das Leben des mystischen Leibes wird vom Heiligen Geist bewirkt. Neben dieser Schau der Kirche wird Schräder zum entschiedenen Verteidiger der Belange des Papsttums. In dem zweibändigen Werk über den Papst De unitate Romana (1862 und 1866) führt er unter anderem aus: Der Papst ist das Zentrum, der Ursprung, das Fundament und Prinzip der Einheit der ganzen Kirche, die Urquelle, von der sich die Ströme über die übrige Kirche ausbreiten. Er ist der höchste Hirte, Lehrer und Bischof der ganzen Kirche, dem alle in der Kirche untergeordnet sind. Uber die Rechte der Bischöfe weiß Schräder wenig zu berichten. Er erweckt sogar den Anschein, daß sie bloß Delegierte des Papstes sind. Für Johann Baptist Franzelin (1816-1886), der zusammen mit Schräder zu „den Meisterschülern Passaglias" (H. Schauf) gehört und als einer der vier Konsultoren der Spezialdeputation zur Vorbereitung der Konzilsvorlagen berufen wurde und maßgeblichen Anteil am ersten Entwurf des Kirchenschemas hatte, ist die Kirche ein corpus morale, freilich in ordine supernaturali. In dieser Körperschaft bleibt die individuelle Unversehrtheit und Freiheit eines jeden Gliedes trotz mancher Unterordnungen so weit wie möglich erhalten. Die Einheit dieser moralischen Körperschaft wird durch das ihr gegebene gemeinsame übernatürliche Ziel, die Erlösung in Christus, erreicht. Neben
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dieser mehr juridischen Sicht der Kirche begegnet auch das Verständnis der Kirche als mystischer Leib, von dessen Haupt den Gliedern die Charismen und die Gnade zukommen. Auch bei Franzelin wird eine Beziehung zwischen der Inkarnation und der Kirche hergestellt. Es ist das Ziel derMenschwerdung gewesen, das Menschengeschlecht dadurch zu erlösen, daß sich Gott selbst mit der menschlichen Natur vereinigte. Der göttliche Sohn wurde wahrer Mensch und damit den Gliedern der Kirche wesensgleich. Auf diese Weise entstand ein unmittelbares Band zwischen Christus und der Kirche. Weil Gottheit und Menschheit allein im Gottmenschen Jesus Christus eine vollständige Einheit bilden, kann die Kirche nicht im vollen Sinn Inkarnation bzw. deren Fortsetzung sein. Die Eklclesiologie der Römischen Schule wurde in Deutschland vor allem durch den Kölner Dogmatiker Matthias Joseph Scheeben ( 1 8 3 5 - 1 8 8 8 ) verbreitet, der sie von seinen römischen Lehrern Passaglia, Franzelin und Schräder übernommen hat, aber auch in besonderer Nähe zur Tübinger Schule steht und vor allem in Möhler ein Vorbild sieht. Auch Scheeben bezeichnet die Kirche als mystischen Leib und versteht sie als einen lebendigen Organismus, dessen Gemeinschaft aus dem eucharistischen Leib ihr Leben empfängt.
9.4. Das I. Vatikanische
Konzil. Die Glaubensentscheidungen des I. Vatikanischen
Konzils (—•Vatikanum I) berücksichtigen nur den Primat und die Unfehlbarkeit des Papstes. Die wichtigsten Aussagen der Constitutio dogmatica I. Pastor aeternus de Ecclesia Christi vom 1 8 . 7 . 1 8 7 0 (DS 3 0 5 0 - 3 0 7 5 ) können folgendermaßen zusammengefaßt werden: „Nach den Zeugnissen des Evangeliums hat Christus, der Herr, den Vorrang der Rechtsbefugnis (primatum iurisdictionis) über die gesamte Kirche unmittelbar und direkt dem heiligen Petrus verheißen und verliehen... Wer daher sagt, der heilige Apostel Petrus sei nicht direkt von Christus, dem Herrn, zum Fürsten aller Apostel und zum sichtbaren Haupt der ganzen streitenden Kirche aufgestellt worden oder er habe nur einen Vorrang der Ehre (primatum honoris) und nicht den Vorrang der wahren und eigentlichen Rechtsbefugnis (primatum iurisdictionis) von unserem Herrn Jesus direkt und unmittelbar erhalten, der sei ausgeschlossen." Der Vorrang des Petrus hat in dem römischen Papst seine beständige Fortdauer. „Der Heilige Apostolische Stuhl und der römische Bischof hat den Vorrang über den ganzen Erdkreis... Er ist wahrer Stellvertreter Christi, Haupt der gesamten Kirche und Vater und Lehrer aller Christen... Die römische Kirche besitzt nach der Anordnung des Herrn den Vorrang der ordentlichen Gewalt (primatum ordinariae potestatis) über alle anderen Kirchen. Diese Gewalt der Rechtsbcfugnis (potestas iurisdictionis) des römischen Bischofs, die wirklich bischöflichen Charakter hat, ist unmittelbar... Diese Gewalt des obersten Hohenpriesters tut der ordentlichen und unmittelbaren Gewalt der bischöflichen Rechtsbefugnis (ordinariae ac immediatae episcopalis iurisdictionis potestati), in der die Bischöfe, die, eingesetzt vom Heiligen Geist, an die Stelle der Apostel getreten sind und als wahre Hirten die ihnen anvertrauten Herden weiden und leiten, jeder die seine, gar keinen Eintrag. Sie wird vielmehr vom obersten und allgemeinen Hirten anerkannt, gefestigt und verteidigt... Der römische Bischof ist der oberste Richter aller Gläubigen... Wer also sagt, der römische Bischof habe nur das Amt einer Aufsicht oder Leitung (officium inspectionis vcl directionis) und nicht die volle und oberste Gewalt der Rechtsbefugnis (supretnam potestatem iurisdictionis) über die ganze Kirche...oder wer sagt, diese Gewalt sei nicht ordentlich und unmittelbar... der sei ausgeschlossen... In diesem apostolischen Vorrang, den der römische Bischof als Nachfolger des Apostelfürsten über die ganze Kirche innehat, ist auch die höchste Lehrgewalt (suprema magisterii potestas) eingeschlossen... Wenn der römische Bischof in höchster Lehrgewalt (ex cathedra) spricht, d.h. wenn er seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen waltend, in höchster apostolischer Amtsgewalt endgültig entscheidet, eine Lehre über Glaube und Sitten sei von der ganzen Kirche festzuhalten, so besitzt er aufgrund des göttlichen Beistandes, der ihm im heiligen Petrus verheißen ist, jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei endgültigen Entscheidungen in Glaubens- und Sittenlehren ausgerüstet haben wollte. Diese Entscheidungen des römischen Bischofs sind daher aus sich, nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche (ex sese, non autem ex consensu ecclesiae) unabänderlich (irreformabiles)." Da der definierte Text klare und präzise Aussagen macht, sollen nur einige erläuternde Bemerkungen angefügt werden, die vor allem den mißverständlichen Text im Blick auf die Konzilsverhandlungen deuten und in die zeitgenössische Ekklesiologie einordnen. So sehr die Primatsgewalt des Papstes mit aller Deutlichkeit herausgestellt und als bischöfliche Gewalt bezeichnet wird, so ist doch der Papst dadurch weder von der Kirche noch vom Bischofskollegium gelöst, sondern in sie eingeordnet. Der Hinweis, d a ß die päpstli-
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che Gewalt eine wirkliche Rechtsbefugnis und nicht nur ein Amt der Aufsicht ist, richtet sich gegen die gallikanischen Strömungen. Daß die oberste Gewalt des Papstes der ordentlichen und unmittelbaren Gewalt der Bischöfe, die vom Heiligen Geist eingesetzt sind, keinen Eintrag tut, sagt der Text ausdrücklich. Dies wird zudem erhärtet durch die Kollektiverklärung der deutschen Bischöfe vom Januar und Februar 1875 (DS 3112-3116), die sich gegen die Zirkulardepesche Bismarcks vom 14.2.1872 wendet, in der behauptet wird, durch den allgemeinen und unmittelbaren Jurisdiktionsprimat seien die Bischöfe zu Beamten des Papstes degradiert worden. In der Erklärung der deutschen Bischöfe, die von Papst -»Pius IX. ausdrücklich gebilligt wurde, wird u.a. gesagt: Der Bischof von Rom ist nicht der Bischof einer anderen Diözese. Wenn er in Notfällen in den Bereich einer Diözese eingreift, so tut er das nicht als Bischof dieser Diözese, sondern als Oberhaupt der gesamten Kirche. Am mißverständlichsten ist ohne Frage der Satz, daß die Kathedralentscheidungen des Papstes aus sich, nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche unabänderlich, d. h. unfehlbar sind. So bedauerlich es ist, daß alle Versuche, eine Formulierung zu wählen, die den Papst in die Gesamtkirche einbindet, etwa durch den Zusatz „gestützt auf das Zeugnis der Kirche" gescheitert sind, so ist diese Einbindung tatsächlich gegeben, da die Unfehlbarkeit des Papstes als eine Gabe bezeichnet wird, mit der Christus seine Kirche ausgerüstet hat. Die Einfügung „nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche" sollte allen konziliaristischen und gallikanischen Tendenzen für immer ein Ende bereiten. Der Ausdruck „Zustimmung" (consertsus) hat hier einen juristischen Sinn und nicht den üblichen theologischen Sinn „Übereinstimmung im Glaubenszeugnis". Daß der Papst vor einer feierlichen Entscheidung den Konsens der Kirche erfragen muß, ist seine selbstverständliche moralische Pflicht. Man wollte nur in der konkreten Situation seinen Spruch nicht an bestimmte Mittel der Konsultation binden und ihm die Freiheit in den Mitteln der Wahrheitsfindung lassen. Auf jeden Fall handelt es sich bei der päpstlichen Unfehlbarkeit primär um die Unfehlbarkeit der Kirche, insofern sich die päpstliche Unfehlbarkeit von der Kirche her bestimmt und nicht umgekehrt. 10. Das 20.
Jahrhundert
Nach der Uberwindung der Krise des sog. -»Modernismus, dessen eigentliche Probleme weitgehend ungelöst blieben, kam es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu einem neuen Aufbruch, so daß von einem „Erwachen der Kirche in den Seelen" (Romano Guardini) und von „dem Jahrhundert der Kirche" (Otto Dibelius) gesprochen wurde. Die liturgische Bewegung und Erneuerung (-•Liturgische Bewegungen) haben diese Entwicklung gefördert. Die Enzyklika -»Pius' XII. über die Kirche Mystici Corporis (1943) und über die heilige Liturgie Mediator Dei (1947) sind Marksteine dieser Entwicklung. 10.1. Mystici Corporis. Wenn dieses Rundschreiben über die Kirche auch im Anschluß an die paulinische Theologie und die Ekklesiologie der kirchlichen Tradition die Kirche als mystischen Leib bezeichnet und damit das weitgehend juridisch-hierarchische Verständnis der Kirche überwunden hat, so enthält es doch gerade in ökumenischer Hinsicht große Probleme. Nach Mystici Corporis besteht eine untrennbare Einheit zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche, zwischen Rechts- und Liebeskirche. Diese so verstandene Kirche Christi wird mit der römisch-katholischen Kirche gleichgesetzt. Da sich gerade gegen diese Vorstellung Widerspruch erhoben hat, erneuerte der Papst in der Enzyklika Humani generis (1950) seine Auffassung von der Identität des mystischen Leibes mit der römisch-katholischen Kirche. Für die Kirchengliedschaft sind nach Mystici Corporis drei Voraussetzungen notwendig: die gültig empfangene Wassertaufe, das Bekenntnis des wahren Glaubens und die Verbindung mit der kirchlichen Obrigkeit. Die Schismatiker und Häretiker, im Verständnis der Enzyklika alle nichtkatholischen Christen, gehören nicht zur Kirche, „mögen sie auch aus einem unbewußten Sehnen und Wünschen heraus in einer gewissen Beziehung zum mystischen Leib des Erlösers stehen". Diese Vorstellung „beinhaltet eine fiktive Psychologie, indem sie den nichtkatholischen
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Christen einen Wunsch unterstellt, den sie bewußtseinsmäßig ausdrücklich verneinen" (J. Ratzinger, Das neue Volk Gottes 101). Die Sünder hingegen werden als befleckte oder kranke Glieder der Kirche bezeichnet. Es kann nicht übersehen werden, daß die Enzyklika Mystici Corporis hinsichtlich der Reichweite der Gliedschaft und des Heilsauftrages der Kirche zum Teil andere Akzente setzt, als sie die kirchliche Tradition der Väter und die Scholastik bieten. 10.2. Das II. Vatikanische Konzil. Die Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils (-»Vatikanum II), des Konzils der Kirche über die Kirche, kann hier nur in einigen Grundlinien dargestellt werden. Der ökumenisch bedeutsamste Gesichtspunkt besteht darin, d a ß die Vorstellung einer Identifikation der Kirche Christi mit der römisch-katholischen Kirche zwar nicht preisgegeben, aber doch vorsichtig weiter entwickelt wird. In diesem Sinne heißt es: Haec Ecclesia in hoc mundo ut societas constituía et ordinata, subsistit in Ecclesia catholica (Lumen Gentium 8) [Diese Kirche (Christi), die in dieser Welt als Gesellschaft verfaßt und geordnet ist, ist verwirklicht in der katholischen Kirche]. Das Wort subsistit, das der aristotelischen Kategorienlehre entnommen ist, meint einen bestimmten M o d u s des Seins, und zwar dessen wesentliche und wichtigste Verwirklichungsweise, neben der es noch andere Weisen des Seins gibt. In diesem Sinn spricht dann das Konzil von Elementen der Kirche, die sich außerhalb des Gefüges der katholischen Kirche befinden, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen, wie etwa das geschriebene Wort Gottes, das Leben der Gnade, Glaube, Hoffnung und Liebe und andere Gaben des Heiligen Geistes (LG 8; UR 3). Die nichtkatholischen christlichen Kirchen werden Ecclesiae vel communitates ecclesiasticae, ecclesiales [Kirchen oder kirchliche Gemeinschaften] genannt (LG 15; UR 3,19,22). Anders als in der Enzyklika Mystici Corporis nimmt das II. Vatikanische Konzil eine gestufte Kirchengliedschaft an: Voll in die Kirche eingegliedert sind jene Getauften, die im Besitz des Geistes Christi sind, die ganze Ordnung der Kirche und alle in ihr eingerichteten Heilmittel annehmen und in ihrem sichtbaren Verband mit Christus, der sie durch den Papst und die Bischöfe leitet, verbunden sind, und dies durch das Band des Glaubensbekenntnisses, der Sakramente und der kirchlichen Leitung und Gemeinschaft. Mit denen, die durch die -»Taufe der Ehre des Christennamens teilhaft sind, den vollen Glauben aber nicht bekennen oder die Einheit der Gemeinschaft unter dem Nachfolger Petri nicht wahren, weiß sich die Kirche aus einem mehrfachen Grunde verbunden (LG 14—15; UR 3-4,22). Es bleibt zu beachten, daß das Konzil die Ausdrücke Häretiker und Schismatiker nicht gebraucht. Ja, sogar jene, die das Evangelium nicht empfangen haben, sind auf verschiedene Weise auf das Volk Gottes hingeordnet. Dabei werden die Juden und die Muslim in besonderer Weise gewürdigt (LG 16).
Im Blick auf die Entscheidungen des I. Vatikanischen Konzils hat das 3. Kapitel der dogmatischen Konstitution über die Kirche eine besondere Bedeutung erlangt, da es die oberste Gewalt und Unfehlbarkeit in der Kirche nicht nur dem Papst, sondern auch dem mit dem Papst verbundenen Kollegium der Bischöfe zuspricht. Daß die Bischofsweihe ein eigenes Sakrament ist, wird vom Konzil in aller Deutlichkeit gelehrt. Subjekt der Unfehlbarkeit ist das Kollegium der Bischöfe, dessen Haupt der Papst ist und das ohne dieses Haupt nicht vollständig ist. Andererseits handelt der Papst bei definitiven Kathedralentscheidungen als Haupt des Kollegiums der Bischöfe. Mißverständlich bleibt freilich die dem 3. Kapitel der Kirchenkonstitution beigefügte erläuternde Vorbemerkung (Nota praevia explicativa), die besagt, daß „der Papst als höchster Hirte der Kirche seine Vollmacht jederzeit nach Gutdünken {ad placitum) ausüben kann, wie es von seinem Amt gefordert ist". Wenn der Nachsatz auch die eigentliche Richtung der Erklärung angibt, so kann doch leicht der Eindruck entstehen, daß die Entscheidung des I. Vatikanischen Konzils nicht nur übernommen, sondern noch verschärft ist. Ein wesentlicher Gesichtspunkt der Kichenlehre des II. Vatikanischen Konzils ist die Communio-Ekklesiologie. Die Kirche wird nicht nur als Geheimnis bezeichnet und mit biblischen Bildern (Volk Gottes, Leib Christi, Braut Christi usw.) erläutert, sie wird „gleichsam Sakrament, d.h. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit" genannt (LG 1). Die sichtbare Kirche ist eine
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komplexe Wirklichkeit, die aus einem menschlichen und göttlichen Elemente zusammenwächst. Wie das biblische Bild „Volk Gottes" drückt das Wort communio den typischen Gemeinschaftscharakter aus, der nicht aus dem Willen der Menschen, sondern aus Gott stammt. „Communio ist nicht nur göttliche Gabe, sondern auch menschliche Aufgabe, nicht nur Institution, sondern darin auch lebendiger Vollzug" (W. Aymans, Handbuch des katholischen Kirchenrechts 11). Diese communio hat sakramentalen Charakter, insofern die eucharistische und die kirchliche communio in einem unlösbaren Zusammenhang stehen. Durch den Genuß des eucharistischen Leibes wird die Kirche immer mehr mystischer Leib Christi. Durch die Eucharistie wächst die Einheit des Volkes Gottes (LG 1). Die Kirche ist primär communio fidelium, Gemeinschaft der Glaubenden, insofern alle Christen aufeinander verwiesen und angewiesen sind und ihren Beitrag zum Aufbau des Leibes Christi leisten müssen. Wenn auch der Ausdruck communio ecclesiarum in den Konzilstexten nicht erscheint, so ist doch die mit diesem Ausdruck gemeinte Sache vielfach zugesprochen. Nach der Kirchenkonstitution (23) besteht die Gesamtkirche in und aus Teilkirchen. Die Gesamtkirche gewinnt in der Teilkirche ihre konkrete Gestalt, weil dort die Sendung der Kirche in Wort und Sakrament vollzogen wird. So wird die Teilkirche zur sichtbaren Erscheinungsform der Gesamtkirche. Literatur Franz Xaver Arnold, Die Staatslehre des Kardinals Bellarmin, München 1934. - Roger Aubert, Vaticanum I: Gesch. der ökum. Konzilien, hg. v. G. Dumeige/H. Bacht, Mainz, XII1965. - Winfried Aymans, Das synodale Element in der Kirchenverfassung, München 1970. - Heinrich Bacht, Primat u. Episkopat im Spannungsfeld der beiden Vatikanischen Konzile: Wahrheit u. Verkündigung. FS Michael Schmaus, hg. v. Leo Scheffczyk u.a., München, II 1967, 1447—1460. — Remigius Bäumer (Hg.), Lehramt u. Theol. im 16. 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V. Orthodoxe Kirche 1. Prinzipien orthodoxer Ekklesiologie 1.1. Kirche als theologische Frage 1.2. Die induktive Priorität 1.3. Das trinitarische Gleichgewicht 1.4. Ekklesiologische Aspekte 2. Der christologische Aspekt 2.1. Leib Christi 2.2. Christus, das Haupt 2.3. Kirche und Eucharistie 3. Der trinitarische Aspekt 3.1. Trinitarisches Geheimnis 3.2. Synodale Autokephalie 3.3. Kirche oder Kirchen? 4. Der pneumatologische Aspekt 4.1. Das Werk des Parakleten 4.2. „Säule und Fundament der Wahrheit" 4.3. Die Identität des Glaubens 4.4. Pneumatologische Kosmologie 5. Die Kirche und die Kirchen 5.1. Orthodoxie-Heterodoxie 5.2. Kirchliche Oikonomia 5.3. Einheit als Koinonia (Quellen/Literatur S. 260)
1. Prinzipien orthodoxer
Ekklesiologie
1.1. Kirche als theologische Frage. Bezeichnenderweise hat die Ekklesiologie in der o r t h o d o x e n Kirche keine dogmatische Fixierung erfahren (vgl. T R E 9 , 2 8 , 3 5 f f ; 57,33ff). Auch das künftige „Heilige und G r o ß e Konzil" der o r t h o d o x e n Kirche wird, wie der endgültige T h e m e n k a t a l o g zeigt, dieses dogmatische Desiderat nicht direkt angehen (Jensen). Auf die Frage nach ihrer ekklesiologischen Identität zögern gewöhnlich o r t h o d o x e Theologen, eine dogmatische Definition zu geben, und a n t w o r t e n mit dem W o r t des Philippus: „ K o m m und sieh!" (Joh 1,46; vgl. Bulgakov, L ' O r t h o d o x i e 11; Florovskij, Le corps 10). Diese Haltung ist nicht die Folge einer Unklarheit oder Unsicherheit im Glau-
Kirche V
253
ben, sondern sie entspricht der patristischen Überzeugung, daß die Kirche als ein lebendiger Organismus eine Wirklichkeit ist, die wir eher durch die Teilhabe an ihr erfahren als durch eine rational-analytische Betrachtung erfassen können. Die einzige dogmatische Fixierung, mit der die Christen fünfzehn Jahrhunderte lang lebten, w a r ihr Glaube „ a n die eine, heilige, katholische und apostolische K i r c h e " . Die Undefinierbarkeit der orthodoxen Kirchlichkeit läßt sich nicht durch philosophisch-theologische Denkkonstruktionen überwinden, sondern am ehesten durch eine Bildsprache, die aus dem organischen Bereich entnommen wird. Daher sind die weitgehend nach westlichem Muster konzipierten, relativ neuen Kirchendefinitionen orthodoxer Dogmatikhandbücher und Katechismen wenig hilfreich; denn sie sind primär nicht genuiner Ausdruck der Selbsterfahrung der Kirche, sondern der Problematik bzw. konfessioneller Abgrenzungsmentalität ihrer Zeit. Sie sind mehr Zeugen einer kontroverstheologischen Gesinnung als Aussagen über die Kirche selbst (vgl. G. Florovskij, Le corps 10 f). Anders dagegen versucht die neupatristische orthodoxe Theologie, das Mysterium Kirche zu ergründen, indem sie von der Gesamtschau der göttlichen Ökonomie ausgeht und die Kirche als das Fundament des ganzen theologischen Gebäudes ansieht. 1.2. Die induktive Priorität. Bei einer solchen Betrachtung der Kirche als einer W i r k lichkeit, die wir konkret, in actu wahrnehmen und erleben, d. h. als einer ontologischen Realität vielfältiger Gestaltung, gehen konsequenterweise die theologischen Bemühungen um ihre Umschreibung von der „ S c h a u " des erfahrbaren Mysteriums aus. Durch die Natur der Kirche zum einen, die als Ortskirche sich verwirklicht und als solche auch die Gesamtkirche manifestiert, den schauend betrachtenden Geist und die induktive Denkweise der Griechen zum anderen wird die spezifisch o r t h o d o x e ekklesiologische Betrachtungsweise bestimmt. Im Unterschied zu der deduktiven Spekulation des Westens geht die orthodoxe Ekklesiologie induktiv vor und gibt der Ortskirche die Priorität vor der pyramidal strukturierten Universalkirche. Dieser Unterschied in der Sichtweise, der sich in den Kirchenstrukturen widerspiegelt, ist nicht als Prinzipienfrage der Ekklesiologie behandelt worden, obschon die sich allmählich unterschiedlich entwickelnden Kirchenstrukturen im Osten und Westen zu Auseinandersetzungen geführt haben. Theologisch kam dieser Unterschied auf einer anderen Ebene zum Ausdruck, die in einer engen Beziehung zur Ekklesiologie steht, nämlich der Trinitätstheologie, insofern die Lateiner das Mysterium der Dreieinigkeit von der einen Natur der drei Personen her zu ergründen versuchen, während die Griechen von den personalen Erscheinungen des dreieinigen Gottes ausgehen, dessen eine Natur und Einheit sie in der erotischen Relation und in der Perichorese der drei Personen erkennen (->Trinität). In ihrer Bemühung, eine genuin o r t h o d o x e Ek1.3. Das trinitarische Gleichgewicht. klesiologie zu entwerfen, geht die o r t h o d o x e Theologie von der Einheit der Heiligen Dreieinigkeit aus und betont deren relationale Existenzweise in konkreten Personen (vgl. Zizioulas, L'etre 3 4 f). Der monistische Bezug der Ekklesiologie auf eine der drei Personen der Trinität bedeutet die Zerstörung der trinitarischen Einheit der Kirche und damit eine Einengung und Verzerrung des Kirchenbildes mit weitgehenden Konsequenzen für die Kirchenstruktur und das Verständnis der Heilsökonomie. Der Verlust des trinitarischen Gleichgewichts führt zu einseitigen Sichtweisen der Ekklesiologie, die durch eine patrozentrische, christozentrische oder pneumatozentrische Ausrichtung in Gefahr gerät, in einen Patromonismus, Christomonismus oder Pneumatomonismus zu verfallen, die große Kirchenspaltungen mitverursacht haben. Vor allem in der Vernachlässigung des pneumatologischen Aspekts der Ekklesiologie erblicken orthodoxe Theologen den Grund nicht nur für die Spaltung zwischen der Ost- und der Westkirche, sondern auch in der Westkirche infolge der Reformation (vgl. Clement 97; N. Nissiotis, Theol. der Ostkirche 65). Der Schlüssel des ekklesiologischen Gleichgewichts zwischen dem christologischen Sakramentalismus, der in seiner Einseitigkeit zum Institutionalismus und Klerikalismus führt, und dem pneumatologischen Prophetismus, der isoliert die Gefahr eines subjektivierten Spiritualismus mit sich bringt, liegt in der Theologie der Dreieinigkeit. Sie allein kann die spannungsvolle Komplementarität von Geheimnis und Freiheit, Ereignis und Institution, Amt und Charisma, Einheit und Vielfalt garantieren. 1.4. Ekklesiologische
Aspekte.
In Anbetracht der vielfältigen Dimensionen des Myste-
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Kirche V
riums Kirche gehen orthodoxe Theologen von unterschiedlichen Ansätzen aus, ohne jedoch das trinitarische Prinzip aus den Augen zu verlieren. Christologie und Pneumatologie sind trinitarisch verankert. Denn es kann nicht die Rede vom Sohn sein, ohne den ihn zeugenden Vater und den seine Inkarnation und unsere Eingliederung in seinen Leib bewirkenden Geist mitzudenken. In der relationalen Daseinsweise der Trinität liegt begründet, daß die Kirche Christi, sein Leib, auch die Kirche des Heiligen Geistes und des Vaters, der ganzen Heiligen Dreieinigkeit ist. Die verschiedenen Aspekte stellen k o m p l e m e n t ä r e , synchrone Dimensionen der Ekklesiologie dar. Es handelt sich nicht um sich gegenseitig ausschließende oder um aufeinanderfolgende Betrachtungsweisen einer T h e o l o g i e , in deren System die Heilsökonomie in diachrone Phasen der Beziehungen der Dreieinigkeit zur Welt gegliedert wird. Eine solche empirischindividualistische Sicht würde zwar einer historisch-linearen Betrachtungsweise entsprechen, nicht jedoch dem Wesen der drei göttlichen Personen, zu deren Identität die innertrinitarische Relation gehört. Dies bedeutet für die Ekklesiologie, d a ß das Wesen der Kirche, wenn sie auch eine historische Wirklichkeit darstellt, mit den Denkmodellen einer historisch-linearen Analyse nicht erkannt werden kann; genausowenig wie das Inkarnations- und das Pfingstereignis, wenn sie aus der Sicht ihres chronologischen Geschehens und nicht ihres inneren Z u s a m m e n h a n g s gesehen werden, der die Geschichte transzendiert und heilsökonomische Ereignisse in die richtige Dimension rückt; vgl. N . M a t s o u k a s , Aoy/jamaj II, 3 5 1 , der das ekklesiologische Kapitel seiner D o g m a t i k mit dem Abschnitt „Schöpfung und K i r c h e " beginnt.
2. Der christologische
Aspekt
2.1. Leib Christi. Der zweifache Bezug des Begriffes „Leib" im Neuen Testament, zum einen auf die Christologie und zum anderen auf die Ekklesiologie (vgl. T R E 16,690,30ff), legt es nahe, in der Ekklesiologie von der Christologie auszugehen (vgl. Florovskij, Le corps 22f; ders., Christ and His Church 164; Zizioulas, Die pneumatol. Dimension der Kirche 135). Unter den Bildern, die die Urkirche zur Darlegung ihres Selbstverständnisses verwandte, entspricht dem Mysterium christlicher Existenz am ehesten die paulinische LeibTypologie, nach der Christus das Haupt der Kirche und sie seinen Leib darstellt (Kol 1,18.24; 2,19; Eph 1,23; 4,16; 5,23.30). Durch diese Parallele erscheint die Kirche eher als Organismus denn als eine Organisation. „Sie ist sein Leib, die Fülle dessen, der alles mit allem erfüllt" (Eph 1,23). Als Leib und „Pleroma" (Fülle) Christi stellt die Kirche die Fortdauer des inkarnierten Logos dar; sie ist Christus selbst in seiner Fülle, die alles umfaßt (vgl. Eph 2,21 f). Im Sinne des Organismus besteht sie nicht aus Teilen, sondern aus Gliedern, die in ihrer Verbindung nicht in einer M a s s e , in einem Kollektiv aufgehen, sondern eine h a r m o n i s c h e Einheit bilden, in der die personale Eigenständigkeit und Einmaligkeit der Glieder gewahrt bleibt. Anschaulicher und tiefgründiger, als —»Plato seinen Idealstaat mit dem Bild des Leibes beschreibt (vgl. R e s publicaV, 4 6 2 b - d ) , spricht - » P a u l u s von der Einheit des Leibes und der Vielfalt der Glieder, die einen einzigen Leib bilden (I K o r 1 2 , 1 2 - 3 1 a). Es handelt sich um eine im eigentlichen Sinn des Wortes liturgische Einheit, bei der die pneumatische Vielfalt der Charismen (vgl. I Kor 1 2 , 1 - 1 1 ) und die Liebesrelation der Glieder grundlegend sind. D a m i t ist schließlich der pneumatologische C h a r a k t e r dieses christologischen Ansatzes ersichtlich: Den fortdauernden „ A u f b a u des Leibes C h r i s t i " (Eph 4,12) bewirkt der Heilige Geist (vgl. I Kor 12,11).
2.2. Christus, das Haupt. Der spezifische Bezug der Kirche auf Christus wird deutlicher und schärfer noch durch die existentielle Verbindung Leib-Haupt. Die Glieder des Leibes werden zu einem lebendigen Organismus zusammengefügt, dessen Haupt Christus ist. Die Vereinigung der Glieder im Leib Christi ist nicht nur eine Gliedergemeinschaft, sondern auch eine unlösbare Vereinigung der Glieder mit Christus selbst (Eph l,22f; 2,15f). Zwischen den Gliedern gibt es eine Vielfalt, nicht jedoch einen ontologischen Unterschied. Es gibt kein Glied, das durch seine Funktion über der Kirche stünde; dies kommt allein Christus zu, „der als Haupt alles überragt, über die Kirche gesetzt" ist (Eph 1,22), für die er sich selbst hingegeben hat (Eph 5,25; vgl. T R E 9,745,10ff). Aufgrund dieser mystischen Verbindung besitzt die Kirche eine besondere Seinsart, die in ihrer transzendierenden Identität zum Ausdruck kommt. Sie stellt zwar ein sichtbares,
Kirche VI/3
275
Geist ergriffen und durch ihn in unzweideutiger, wenn auch fragmentarischer Weise bestimmt sind" (ST 111,250). Der göttliche Geist ergreift schöpferischen Besitz vom menschlichen Geist, der in verschiedener Hinsicht von Zweideutigkeiten verzerrt ist. Dieser Geist Gottes, der unzweideutiges Leben schafft (wenn auch fragmentarisch), hat seine zentrale Manifestation im „Neuen Sein" in Jesus Christus gefunden, schafft aber hin und her in der Welt Geistgemeinschaft. Solche Geistgemeinschaft ist „manifest", wo es zur ausdrücklichen Begegnung mit Jesus Christus gekommen ist. Hier entstehen Kirchen, die allerdings selbst ständig auch durch Zweideutigkeiten gekennzeichnet sind und unter dem Auftrag stehen, den Geist Gottes gegen diese Zweideutigkeiten zur Geltung kommen zu lassen („Paradox der Kirchen"). Es gibt aber auch „latente" Geistgemeinschaft, ohne ausdrückliches Bekenntnis zu Jesus Christus, und zwar in politischen, künstlerischen, nichtchristlich-religiösen Gruppierungen und Bewegungen, selbst in explizit kirchenkritischen oder antichristlichen. Dies entspricht der Tatsache, daß Tillich auch mit Offenbarung in den unterschiedlichsten außerchristlichen Konstellationen rechnet. Vor allem Glaube und Liebe sind Kennzeichen von Geistgemeinschaft, die ihrerseits die vom göttlichen Geist erschlossene „Dimension der Tiefe" oder des „Unbedingten" wahrnehmen (Syst. Theol. 111,136). Wenn Tillich formulieren kann: Der göttliche Geist „ist die ,Tiefe' aller kulturellen Schöpfungen und stellt in ihnen eine vertikale Richtung zu ihrem letzten Grund und Ziel her" (a. a. O. 185), dann ist die Verbindung zu kulturprotestantischen Traditionen ganz deutlich. Sie zeigt sich dann etwa auch dort, wo Tillich neben den aufbauenden Funktionen der Kirchen aufgrund des göttlichen Geistes von ihren Funktionen des stillen Durchdringens, des kritischen Urteilens, der Prophetie spricht (a.a.O. 246f). Damit geht es Tillich um eine Überwindung der Trennung von Kirche und Welt im Blick auf das Reich Gottes als das die Kirche überschreitende Ziel der Geschichte, an der es aber eben jetzt bereits zu partizipieren gilt. Kirchen wären in diesem Sinne auch Repräsentanten des Reiches Gottes (vgl. TRE 15,234,49ff). 6. Schwerpunkte
der neueren
Diskussion
Die ekklesiologische Diskussion in der deutschen evangelischen Theologie seit den 50er Jahren des 20. Jh. läßt u. a. folgende Schwerpunke erkennen: a) In einer kleiner gewordenen Welt und angesichts der fortschreitenden -»Säkularisierung hat die Reflexion auf die missionarische Dimension der Kirche einen deutlichen Akzent bekommen. Der dritte Teil der Ekklesiologie Karl Barths in der Kirchlichen Dogmatik (KD IV/3) bedeutet in diesem Zusammenhang ein Signal. Wichtig war hier vor allem auch die ökumenische Diskussion in der Mitte unseres Jahrhunderts (Walter Freytag, Karl Hartenstein, Hans-Jochen Marguli), in der man zunehmend von dem klassischen, auf -»Bekehrung ausgerichteten ekklesiozentrischen Missionsverständnis abkam und -»Mission im Kontext des eschatologischen Heilshandelns Gottes an der ganzen Welt sah (Georg Vicedom, Missio Dei. Einführung in eine Theol. d. Mission, 1958). Als Ziel der Mission wurde immer weniger die rettende Bekehrung von Menschen als vielmehr die Aufrichtung des Schalom in der Welt angesehen, wofür die Kirche allenfalls Werkzeug, aber niemals eigener Zweck sein dürfte (Johannes Christian Hoekendijk). Allerdings ist diesen Aussagen, insbesondere wo sie sich z. T. mit Gedanken über ein sich in den politischen Veränderungen der Welt ohnehin vollziehendes der Kirche vorauslaufendes Heilshandeln Gottes verbanden, nicht nur von evangelischer Seite (z.B. in der Frankfurter Erklärung von 1970; vgl. auch T R E 12,365,10ff), sondern etwa auch im Raum der DDR widersprochen worden (Werner Krusche), und sie sind vom Zentralausschuß des ÖRK korrigiert worden (Erklärung Mission und Evangelisation, 1982). Zugleich wurde die Forderung nach missionarischen Gemeindestrukturen bis hinein in die Gestaltung des Gottesdienstes und die kirchlichen Ordnungen erhoben (vgl. auch die Rückbesinnung auf Barnten III). Ergänzend dazu ist als Aufgabe der Kirche ihr Dienst an der (auch nichtchristlichen) Gesellschaft reflektiert worden. Im Anschluß an die Bonhoeffersche Formel „Kirche für andere" (vgl. T R E 12,325,13 ff) hat sich die Kirche als Zeug-
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Kirche V
Die Struktur der Kirche, die sich in Ortskirchen manife3.2. Synodale Autokephalie. stiert, widerspiegelt anschaulich das Mysterium der göttlichen Dreieinigkeit: die geheimnisvolle Identität und Verschiedenheit zugleich der drei Personen. Dieser trinitarischen Sicht der Kirche entspricht die theologische Grundhaltung des Ostens, nach der die Ortskirche nicht als Teilkirche, als Teil eines Ganzen, sondern als die konkrete Wirklichkeit der einen Kirche Christi verstanden wird. Jede Ortskirche ist auf demselben Fundament gegründet und erfährt in einer ihr eigenen Weise die Gegenwart des auferstandenen Herrn in seiner Ganzheit bei der Feier der Eucharistie. Das ist die theologische Begründung für die pluriforme Struktur der alten ungeteilten Kirche und für das Autokephaliesystem der orthodoxen Kirchen, die konsequenterweise in geistiger Gemeinschaft zueinander stehen. Die orthodoxe Kirchenstruktur baut auf zwei einander ergänzenden Prinzipien auf: der -»Autokephalie und der Synodalität, d. h. der grundsätzlichen Eigenständigkeit jeder Ortskirche und der dialogischen Verbindung der Ortskirchen zueinander, die ihren Konsens synodal ausdrücken (-»Synode) und in der eucharistischen Gemeinschaft erfahren. Das bedeutet auf der Ebene der Ökumene die Annahme einer Koinzidenz von Einheit und Vielgestaltigkeit, insofern im orthodoxen eucharistischen Kirchenverständnis jede Ortskirche mit ihrem Bischof als eine eucharistische Gemeinschaft den Leib Christi darstellt. 3.3. Kirche oder KirchenWestliche Theologen sprechen von der orthodoxen Kirche gewöhnlich im Plural und betonen die nationale Identität der orthodoxen autokephalen Kirchen bis zu der absurden Unterscheidung der orthodoxen Theologen nach ihren Nationalitätszugehörigkeiten. Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, daß dieser Sprachgebrauch bei katholischen Theologen oft den indirekten Hinweis auf einen ekklesiologischen Makel impliziert - vgl. z. B. den Sprachgebrauch des II. Vatikanums - , während bei evangelischen Theologen der Wunsch nach Bestätigung ihrer Kirchenstruktur zumindest indirekt eine Rolle spielt. Im Kontext westlicher Ekklesiologien läßt sich nicht sagen, ob der Singular oder Plural der orthodoxen Kirchenstruktur entspricht. Diese Alternative existiert in der orthodoxen Ekklesiologie überhaupt nicht. Die orthodoxe Kirche existiert als Einheit in der Vielfalt und Vielfalt in der Einheit. Insofern ist beides richtig, sowohl der Singular wie auch der Plural; es kommt auf die Perspektive an, ob man die ekklesiologische Ontologie der orthodoxen Christenheit meint oder ihre konkrete Gestalt, ihr Wesen, das eins ist, oder das Ereignis, das in der Vielfalt geschieht, in der das Wesen Wirklichkeit ist. Ontologisch gesehen, ist die orthodoxe Kirche eine, nicht jedoch im Sinne der römisch-katholischen Einheit, die den Universalprimat eines Bischofs, des Papstes, voraussetzt (-•Papsttum). Andererseits darf man nicht die orthodoxe Christenheit Kirchen nennen im Sinne der evangelischen Kirchen, die sich im Glauben und in der Lehre voneinander unterscheiden. Der paulinischen Aufforderung: „Alles soll in Anstand und Ordnung geschehen" (I Kor 14,40) versucht die orthodoxe Kirche in ihrer Gesamtheit zu entsprechen durch das Rangordnungsprinzip der Bischofssitze, die zwar ontologisch-ekklesiologisch gleich sind, organisatorisch-verwaltungsmäßig jedoch eine Rangordnung der Würde und Autorität aufweisen, die nicht göttlichen Rechts ist, sondern aus dem Leben der Kirche gewachsen ist und dem Wohl der Kirche dient. Daher auch haben sich ökumenische Konzilien damit befaßt und nicht nur einen „Ehrenvorrang" z.B. des Ökumenischen Patriarchen (->Konstantinopel), sondern konkrete Kompetenzen und Befugnisse festgelegt; vgl. dazu Máximos von Sardes und Jensen 1 5 3 - 1 6 9 .
4. Der pneumatologische
Aspekt
4.1. Das Werk des Parakleten. „Und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Parakleten geben, der für immer bei euch bleiben soll" (Joh 14,16). Im Hinblick auf die Existenz der Kirche erscheint hier Christus als der „Große Vorläufer des Heiligen Geistes" (Evdokimov 89), der sein Werk zur Vollendung bringen wird. Ihre Existenz verdankt die Kirche dem Geist, der eine anthropomorphe Gemeinschaft zur Christusgemeinschaft, zur Kirche, macht. Er bewirkt die christophore Gemeinschaft, indem er die Glieder miteinander und mit dem Haupt verbindet (Act 2,44-47). Durch die Gegenwart des Geistes ist die Kirche keine bloße soziologische Institution, sondern ein
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gotterfüllter Organismus. Deswegen werden sie und ihre Glieder, obwohl Sünder, „heilig" genannt - communio sanctorum (vgl. R o m 1,7; I Kor 1,2; II Kor 1,1; Eph 1,1 u . ö . ) . Die Rede von der „sündigen K i r c h e " läßt offensichtlich diesen Z u s a m m e n h a n g außer Betracht und konzentriert sich auf die Werke der Menschen. 5
Das Koramen des Geistes eröffnet eine neue Dimension, in der das Transzendente und Zeitlose konkrete Gestalt annimmt. Schöpfung, Neuschöpfung, Neugeburt des Menschen, Heiligung der Welt werden vom Geist eingeleitet, der durch die Propheten gesprochen, bei der Inkarnation des Logos mitgewirkt, die Salbung Jesu zum Messias bezeugt hat und am Pfingsttag auf die Gemeinde Christi herabkam, die ein Gefäß der Gaben des Heiligen Geistes in der Welt ist: „Wißt ihr nicht, daß 10 ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?" (I Kor 3,16; vgl. ebd. 6,19; Eph 2,22). In der Schöpfung erhält der Mensch das Leben durch den Geist, und in seiner Neugeburt vergegenwärtigt der Geist durch die Myronsalbung (-»Salbung), die die -»Taufe vollendet, das Pfingstereignis, das seine Eingliederung in den Leib Christi bewirkt. Neues Leben, jegliche heiligende Handlung der Kirche ist das Werk des Parakleten, der in ihr wohnt. Darum gehört die Epiklese, die Anrufung des IS Hl. Geistes, zu jeder Handlung der Kirche im Namen Gottes. Das Pfingstereignis ist die Quelle des mystischen Lebens und Wirkens der Kirche in der Welt. Dies wird deutlich bei der Beauftragung der Jünger durch den auferstandenen Hohenpriester, der ihrer Sendung die Geistspendung vorausschickt: „ E m p f a n g t den Hl. Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie v e r g e b e n . . . " (Joh 2 0 , 2 2 f ) . Die Kirche, in 20 der der Heilige Geist wohnt, vergegenwärtigt durch ihre heiligenden Handlungen das Pfingstgeschehen und damit das ewige Leben auf Erden als Vorgeschmack der künftigen Welt (vgl. H e b r 6 , 5 ) . 4.2. „Säule und Fundament der Wahrheit". Durch den ausdrücklichen Hinweis Christi, er selbst sei die Wahrheit (Joh 14,6), wird deutlich der transzendierende Charakter der 25 Heilswahrheit hervorgehoben, die die Grenzen menschlicher Logik und objektivierter, abstrakter Systematik sprengt. Wahrheit ist hier eine Wirklichkeit, die sich nicht abstrakttheoretisch erfassen läßt, sondern als ein Ereignis im Leben der Kirche erfahren wird. Erkenntnis der christlichen Wahrheit bedeutet Erfahrung der Heilswirklichkeit in der Gemeinschaft, „denn das Reich Gottes besteht nicht in W o r t , sondern in K r a f t " (I Kor 30 4,20). D a r u m bedeutet das Partizipieren an dieser Wahrheit Freiheit (Joh 8,32), reines Herz (I Petr 1,22), Heiligung (Joh 1 7 , 1 7 - 1 9 ) . Als Leib Christi verkörpert die Kirche durch die Kraft des in ihr wohnenden Heiligen Geistes die Wahrheit als eine erlebte Realität. Insofern ist es unangebracht, von der „Unfehlbarkeit der K i r c h e " zu sprechen (vgl. die gleichlautende Arbeit von Harkianakis, Ilepi TÖ äXäQrjzov), die nicht ein Wahrheitsinsti35 tut ist, sondern die Vergegenwärtigung der Wahrheit als ein Leben in der Wahrheit. Daraus läßt sich erkennen, daß zwischen der Identifizierung der Wahrheit mit Christus und der Überzeugung, daß die Kirche „die Säule und das F u n d a m e n t der Wahrheit i s t " (I Tim 3,15), kein Widerspruch besteht. Als die Fortdauer des inkarnierten ->Logos stellt die Kirche eine Widerspiegelung himmlischer 40 Realitäten dar, die in einem symbolischen Realismus erfahrbar werden und zugleich auf die Wahrheit hinweisen, die eine eschatologische Dimension hat. Auf dem Weg dahin, der ein Weg in der im „Bild" vorweggenommenen eschatologischen Wahrheit ist, wird die Kirche nach der Verheißung Christi durch den „Geist der Wahrheit" geführt (Joh 16,13). Der Geist ist aber weder einzelnen Individuen noch bestimmten, privilegierten Gruppen verliehen, sondern jedem einzelnen in der 45 Gemeinschaft der Glaubenden. Losgelöst von dieser Gemeinschaft gibt es weder Leben noch Wahrheit. Darum ist entscheidend bei der -»Häresie nicht die Abweichung von der Lehre der Kirche, sondern die Absonderung von ihrer Gemeinschaft, die die Wahrheit ist. Die Überzeugung, daß die Wahrheit weder durch Einzelpersonen kraft eines Amtes noch durch Institutionen gesichert werden kann, bringen die Patriarchen des Ostens in ihrer Stellungnahme vom Mai 1848 zur Enzyklika des 50 Papstes -»Pius IX. In suprema Petri apostoli sede zum Ausdruck: „Bei uns haben weder Patriarchen noch Konzilien jemals vermocht, Neuerungen einzuführen, da der Verteidiger der Glaubenslehre der Leib der Kirche selber, d. h. das Volk selbst ist" (Karmiris II, 920). Insofern stellt auch das ökumenische Konzil nicht ein Papstkollektiv dar, sondern ein pneumatologisches Ereignis der Kirche, die als Gemeinschaft die gelebte Wahrheit verkündet und vor Irrtum zu bewahren versucht (zu diesem 55 Fragenkomplex s. Kallis, Volk Gottes). 4.3. Die Identität des Glaubens.
Die pneumatologische Dimension der Kirche läßt erkennen, daß
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Kirche V
die menschlichen Bemühungen, die letzte Sicherheit für das Fortleben der Wahrheit in autonomen Ämtern und Institutionen zu suchen, dem Wesen der Kirche und ihres Glaubens widerspricht. Die Verquickung der Wahrheit mit einer Autorität bedeutet die Verlagerung der Authentizität des christlichen Zeugnisses vom Heiligen Geist auf eine Institution, die das pneumatophore Volk Gottes entmündigt, indem sie den Geist für sich reserviert bzw. sie selbst an seine Stelle tritt. Damit verfällt die Kirche zu einer Art selbstgenügsamer menschlicher Institution mit logisch begründeten Autoritätsprinzipien und Sicherheitspfändern. Die einzige und letzte Sicherheit ist die Gegenwart des Parakleten in der Kirche, Klerus und Volk, die mit einer Vielfalt von Charismen der Wahrheit dienen. Die Kirche existiert und tritt als Ganzes auf. Es gibt keine gesonderten Handlungen einer privilegierten Gruppe, sondern nur Akte der Kirche in ihrer Ganzheit. Wahrheit ist nur in und durch die Kirche vollziehbar, d.h. in der Gemeinschaft des Volkes Gottes, das Laien und Klerus umfaßt. In diesem Sinne meint auch die I. Interorthodoxe Vorbereitungskommission für das „Heilige und Große Konzil" der orthodoxen Kirche: „Beide Stände sind unentbehrliche und notwendige konstituierende Elemente der Kirche, miteinander verbunden und untrennbar" (IJpdc rr/v MeyäXfjv LuvoSov 34). Auf diese existentielle Beziehung von Amt und Gemeinde weist auch die auf die Alte Kirche zurückgehende Praxis hin, nach der ein -»Bischof für ein bestimmtes Bistum gewählt und geweiht wird. Selbst die ekklesiologisch suspekte, spätere Einführung der Titularbischöfe, denen eine nicht mehr existierende Diözese nominell zugewiesen wird, liefert einen eindeutigen Beleg für das Bewußtsein der Kirche, daß ein von der konkreten Gemeinde losgelöstes Amt nicht existiert (vgl. Kanon 6 des IV. ökumenischen Konzils; -»Chalkedon). Diese existentielle Bezogenheit des Amtes auf die Gemeinde wirft ein besonderes Licht auf das Verständnis der apostolischen Sukzession, die der Gemeinde zukommt, als deren Haupt der Bischof personal und korporativ sie besitzt und nicht umgekehrt. Diese vertikale Dimension der Identität des Glaubens, der Bezug der Ortskirche auf Christus, den der Bischof in der Eucharistie bildhaft darstellt, und die diachrone Verbindung mit allen Gemeinden (Kontinuität der Apostolizität) bedingen schließlich auch die horizontale Verbundenheit der Ortskirchen als Träger des einen apostolischen Glaubens. Darum trägt jeder Bischof und nicht nur der Bischof einer Stadt Verantwortung auch für die Gesamtkirche, die ihn zum Bischof weiht (vgl. die Weiheordnung nach Const.Ap., Kanon 4; IV. ökumenisches Konzil, Kanon 4).
4.4. Pneumatologische Kosmologie. Die Vorliebe der orthodoxen Kirche für die Pneumatologie und den transzendenten Charakter der Kirche hat zu dem weitverbreiteten Vorurteil geführt, die orthodoxe Kirche sei derart jenseitsorientiert, daß sie das Diesseits aus den Augen verliere. Sie konzentriere sich so sehr auf das „himmlische" Leben nach dem Tod, daß sie das Leben auf Erden übersehe. Es läßt sich gewiß nicht leugnen, daß im Osten ein gewisser Hang zum „Monophysitismus" (-* Monophysiten) latent ist wie im Westen zum „Nestorianismus" (-»Nestorius/Nestorianischer Streit). Diese scheinbare Asymmetrie der orthodoxen Ekklesiologie ist darin begründet, daß sie die Kirche aus einem theozentrisch-eschatologischen Blickwinkel betrachtet, in dessen Perspektive die konkrete Wirklichkeit in der Geschichte im Kontext der Gesamtschau der Kirche, von der Schöpfung bis zur Parusie, gesehen wird. Gerade aber die Pneumatologie führt zu einer ausgewogenen, gemeinschaftsbezogenen mystischen Spiritualität, die die Kirche vor einem Soziologismus bewahrt, der der Welt mit ihren eigenen Mitteln helfen will, indem man nicht Gott zu ihr und ihre Probleme in die Kirche hineinträgt, sondern Systeme entwickelt, die Kirche zu einer Gesellschaft umgestaltet, die sich von anderen zeitgenössischen Gesellschaftsformen nur durch ihr neutestamentliches „Manifest" unterscheidet. Das Pfingstereignis aber bedeutet eine Scheidung zwischen Kirche und Welt, denn der Geist ist nur auf die Kirche herabgekommen und hält sie durch seine Gegenwart heilig. Sie ist nicht von dieser Welt, aber in dieser Welt, ein Teil dieser Welt und für diese Welt „das Salz der Erde" (Mt 5,13). Ihre Existenz ist nicht egozentrisch, sondern auf die Welt ausgerichtet, der sie die Gaben des Geistes vermittelt. Die im Geistfeuer getaufte Kirche ist das Instrument, durch das der Geist in die Welt hineinwirkt und sie verwandelt. „Das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist" (Tit 3,5) zielt auf die ganze Schöpfung ab, die ihrer Erlösung entgegenharrt (Rom 8,21 f). Die Exklusivität der Kirche bedeutet keine Selbstzufriedenheit einer esoterischen Glückseligkeit, sondern Verpflichtung und Verantwortung im Geist, der ruft: „Seht, ich mache alles neu" (Apk 21,5). Die Vision des „neuen Jerusalem", von dem hier die Offenbarung des Johannes spricht, ist eine eschatologische Realität, die mit der Kirche im Anbruch begriffen ist.
Kirche V 5. Die Kirche
und die
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Kirchen
5.1. Orthodoxie - Heterodoxie. Besonders durch den ökumenischen Dialog, durch den die orthodoxe Kirche direkt mit einem ekklesiologischen Pluralismus konfrontiert wird, ist sie herausgefordert, in der Ökumene Zeugnis über ihren Glauben zu geben, sich selbst zu definieren und ihr Verhältnis zu ihren Dialogpartnern ekklesiologisch zu bestimmen. Bedeutet der Dialog mit den anderen Kirchen auf der Basis der Gleichberechtigung und der gegenseitigen Achtung indirekt deren Anerkennung als Kirchen, oder sind die Grenzen der Kirche Christi mit den eigenen, denen der Orthodoxie, identisch? Unabhängig davon, daß eine verbindliche Antwort der orthodoxen Kirche auf die Frage nach dem Kirchlichkeitscharakter der anderen Kirchen aussteht, führt die orthodoxe Kirche den ökumenischen Dialog von Anfang an nicht auf der Basis einer ekklesiologischen Gleichheit aller Mitgliedskirchen des Weltrats der Kirchen (vgl. den Vorlagetext der III. Panorthodoxen Vorkonziliaren Konferenz v. November 1986: Episkepsis 17 [1986] Nr. 369,15; Panorthodoxe Konferenzen). Wer hier den orthodoxen Standpunkt bestimmen will, darf nicht den Unterschied übersehen, der zwischen offiziellen, schuldogmatischen Stellungnahmen, die oft einen prinzipiellen, streng kanonischen Charakter besitzen, und der Haltung der orthodoxen Kirche, die von dem Gedanken der Oikonomia geleitet wird, besteht. Der Vorlagetext über die Beziehungen der orthodoxen Kirche zu der übrigen christlichen Welt derselben Panorthodoxen Konferenz wirkt auf den ersten Blick unversöhnlich und erinnert auch vielleicht im ersten Teil an den Entwurf der Dogmatischen Konstitution über die Kirche (Lumen Gentium, Art. 8,2) des II. Vatikanums: „Die orthodoxe Kirche als die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche ist sich ihrer Verantwortung für die Einheit der christlichen Welt voll bewußt. Sie erkennt die faktische Existenz aller christlichen Kirchen und Konfessionen an und glaubt zugleich, daß ihre Beziehungen zu diesen auf der Grundlage einer möglichst baldigen und objektiven von diesen Kirchen vorzunehmenden Klärung der gesamten ekklesiologischen Frage beruhen müssen und insbesondere auf ihrer umfassenden Lehre über die Sakramente, die Gnade, das Priestertum und die apostolische Sukzession. Die bilateralen theologischen Dialoge, die heute von der orthodoxen Kirche geführt werden, sind authentischer Ausdruck dieses Bewußtseins" (Episkepsis 17 [1986] Nr. 369, 9). Dieser Text spiegelt die Verlegenheit in Anbetracht des unausweichlich erscheinenden Dilemmas wider, sich selbst als die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche zu sehen oder dies auch anderen, mit der orthodoxen Kirche nicht in Gemeinschaft stehenden Kirchen zuzuerkennen und damit sich selbst in Frage zu stellen. Ohne die ökumenische Bedeutung des Textes schmälern zu wollen, möchte ich hoffen, daß das Panorthodoxe Konzil eine andere, weniger doktrinäre Sprache findet, die der pluriformen, autokephalen Struktur der Orthodoxie und ihrer dialogisch-synodalen Gesinnung entspricht, die mehr Oikonomia als Gesetzesstrenge walten läßt, damit das Dilemma seine Schärfe verliert. 5.2. Kirchliche Oikonomia. Das in der orthodoxen Pastoral angewandte Prinzip der Oikonomia, der barmherzigen Philanthropia und Freiheit (vgl. dazu A. Kallis, Orthodoxie 5 7 - 6 1 ) als Nachahmung der göttlichen Heilsökonomie (Kol 1,25; Eph 1,10; 3,2.9) weist darauf hin, daß nach der Akribeia (der strengen Einhaltung der Normen) entworfene Stellungnahmen und Definitionen in der Praxis zwar richtungweisend sind, nicht jedoch als eine Knebelung des Geistes und der Freiheit im ökumenischen Handeln der Kirche gelten. Dies läßt sich im Leben der orthodoxen Kirche, aus dem man eigentlich ihre Ekklesiologie zu verstehen versuchen sollte, eindeutig belegen. Denn obwohl die orthodoxe Kirche immer, und zwar zu Recht, sich selbst als die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche verstanden hat, hat sie zugleich gerade auf dem Weg zu ihrem Konzil eine besonnene Unsicherheit gezeigt, indem sie wie auch bei früheren panorthodoxen Versammlungen die künftige Zusammenkunft nach einem Schwanken in der Terminologie das „Heilige und Große Konzil" der orthodoxen Kirche genannt hat (vgl. Jensen 101-126). Z w a r lassen sich grundsätzliche Glaubensdissense nicht durch die Oikonomia überwinden, doch die pastorale Dimension der Kirchenspaltungen (zur pastoralen Dimension des ökumenischen Dialogs vgl. Papandreou, OeokoyiKoi öiäXoyoi 4 3 - 5 5 ) , die primär nicht eine Sache der Doktrin, sondern des Lebens ist, erfordert, daß alle Bemühungen um
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Kirche V
die Wiederherstellung der Gemeinschaft in Christus in Analogie zu seinem menschenliebenden Handeln, d.h. nach dem Prinzip der Oikonomia, vorgehen. Diese Überzeugung äußert auch die I. Interorthodoxe Vorbereitungskommission für das Panorthodoxe Konzil: „ . . . All dies zeigt nicht nur, daß unsere heilige orthodoxe Kirche ein sehr großes M a ß an Freiheit bei der Anwendung der Oikonomia zu den ihr gegenüber außenstehenden Brüdern in Christus besitzt, sondern daß diese Oikonomia in der O r t h o d o x i e . . . auch die künftigen Beziehungen der orthodoxen Kirche zu den anderen Kirchen und Konfessionen ordnen wird" (ilpdt; xtjv
MeyäXriv £Cvo5ov 62 f).
5.3. Einheit als Koinonia. Auf der Suche nach Strukturen und Organen der Gemeinschaft der Kirchen werden in der internationalen ökumenischen Bewegung verschiedene Entwürfe der Koexistenz und der Einheit der Kirchen diskutiert (vgl. H. Fries/K. Rahner, J. Ratzinger, E. Schlink, Y. Congar, H. de Lubac, O. Cullmann u.a.), in Dokumenten multilateraler und bilateraler ökumenischer Kommissionen Konvergenzen und Konsense erreicht, während parallel im Leben der Christen Gemeinschaft gesucht wird (vgl. z. B. die Taize-Gemeinschaft). Unabhängig von den Unterschieden, die die verschiedenen Modelle aufweisen, scheint mir allerdings ein Dissens über den Sinn der Begriffe Einheit und Gemeinschaft zu bestehen. Dies hat seine prinzipiellen Ursachen m . E . in den unterschiedlichen philosophischen und soziologischen Ansätzen der Theologie und Kirchenstruktur. Die platonische oder aristotelische Einheitsvorstellung, das griechische Polisideal oder das römische Staatswesen wirken in die Theologie und Kirchenstruktur hinein. Exemplarisch hierfür ist der Briefwechsel zwischen Papst -»Paul VI. und dem ökumenischen Patriarchen Athenagoras. Auf die Feststellung des Papstes, zwischen der katholischen „Kirche" und den orthodoxen „Kirchen" bestehe „eine fast vollständige, wenn auch nicht vollkommene Gemeinschaft" (Tomos Agapis Nr. 283), reagierte der Patriarch mit der Feststellung: „Es handelt sich nicht um Einheit, da wir vereint sind in der historischen Person Christi, noch um eine organische Vereinigung, da wir niemals vereinigt waren" (Episkepsis 2 [1971] Nr. 28, 2; vgl. dazu A. Kallis, Orthodoxie 148 f)- Athenagoras weist auf das Prinzip der Pentarchie hin, das mehr dem pneumatologischen und trinitarischcn Charakter der Kirche entspricht: die Einheit in der Vielfalt, die eine Koinonia mit Christus und miteinander ist (I J o h l , 6 f ) . „In der Ökumene", meint -»Johannes Chrysostomus, „ist die Kirche eine, auch wenn sie durch die vielen Orte getrennt i s t . . . Und wenn der Ort trennt, eint doch der Herr, der allen gemeinsam ist" (Horn. I in I Kor I: PG 61,13).
Die Koinonia der Kirchen bedeutet im Kontext der orthodoxen Ekklesiologie weder Union durch Verschmelzung noch Zusammenfügung divergierender Teile noch eine demokratische, d.h. durch Mehrheitsbeschlüsse zustandekommende Einheit, sondern ein Zusammenfallen pluriformer bzw. unterschiedlicher, gleichberechtigter, selbständiger Gemeinschaften in Christus durch seine Vergegenwärtigung in der gemeinsamen Eucharistie. So wird die Kirche auch in ihrer Gesamtheit das Mysterium der göttlichen Dreieinigkeit widerspiegeln: die geheimnisvolle Identität und Verschiedenheit zugleich der drei wesensgleichen, unterschiedlichen Personen, die in sich die Einheit und Verschiedenheit vereinen. Quellen Dokumente wachsender Ubereinstimmung. Sämtl. Ber. u. Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene. 1 9 3 1 - 1 9 8 2 . Hg. u. eingel. v. Harding Meyer/Hans Jörg Urban/Lukas Vi-
scher, Paderborn/Frankfurt 1983. - Ioannis Karmiris, Td Aoypaxixä xai Zvpßohxä
Mvtiftela xfjg
'Op9oö6{oo Ka9ohxf} Vatikanum II wurde zwar weiterhin eine radikale Trennung von Staat und Kirche bei Betonung der jeweiligen Eigenständigkeit abgelehnt und materialiter die societas-perfecta-Lehre beibehalten, aber der religiös neutrale Charakter des Staates nun anerkannt. Zugunsten des beiden angehörenden Bürgers sollen Kirche und Staat kooperieren. Obwohl sich die evangelischen Kirchen der modernen Gesellschaft mehr geöffnet hatten (-»Kulturprotestantismus), standen auch sie der Demokratie vor dem Zweiten Weltkrieg sehr distanziert gegenüber. Auch wenn nach diesem Krieg die christlich-demokratischen Bewegungen große Bedeutung erlangten und die Kirchen wie in Deutschland maßgeblich am Aufbau einer demokratischen Gesellschaft beteiligt waren, blieben viele theologische und strukturelle Vorbehalte. Unter Aufnahme von Impulsen aus der Ökumene (Oxford 1937, Amsterdam 1948, Neu Delhi 1961) und der Erfahrung, daß sich die Kirchen immer mehr ihrem Wesen gemäß relativ frei entfalten konnten, kam es auch hier zu einem langsamen Wandel der kirchlichen Einschätzung der Demokratie. Daß die enge Bindung, die die Kirchen heute gegenüber der freiheitlichen Demokratie empfinden, ein sehr neues Phänomen ist, mag verdeutlichen, daß es in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) erst 1985 in einer Denkschrift zur ersten positiven Würdigung der liberalen Demokratie in einer offiziellen Stellungnahme der evangelischen Kirche kam. Es ist jedoch ein Kennzeichen der offenen demokratischen Gesellschaften, daß sie historisch gewachsene Grundlagen des Staat-Kirche-Verhältnisses bewahrt haben. So ist beispielsweise die Trennung von Staat und Kirche in der BRD sehr viel weniger konsequent durchgeführt als in Frankreich. In der einen Gesellschaft wie in der BRD sind die Kirchen in ihrer Rechtsstellung hervorgehoben, und ihre Arbeit erfährt großzügige direkte und indirekte Unterstützung durch den Staat (Finanzhilfen, Erziehung, Religionsunterricht in der Schule, Erwachsenenbildung, Theologische Fakultäten, Militär-, Gefängnis- und Krankenhausseelsorge, diakonische und soziale Aufgaben, Schutz des religiösen Lebens, Rundfunk). In anderen Gesellschaften wie in Frankreich, wo die akonfessionelle Laizität des Staates eine Verdrängung des Religiösen aus dem öffentlichen Leben bewirken sollte, gewannen die Kirchen Boden zurück. Bei Wahrung der religiösen Neutralität ist heute in vielen Bereichen Kooperation möglich (Erziehungs-, Sozial- und Fürsorgewesen). So läßt sich in sämtlichen liberalen Demokratien trotz verschiedener Voraussetzung und Gesetzeslage eine Angleichung des Verhältnisses von Staat und Kirche beobachten, das sich zwischen den beiden geschilderten Situationen in der BRD und in Frankreich bewegt. Dabei sind die Kirchen in einem ständigen Ringen mit den gesellschaftlichen Kräften wie auch mit den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, denen der paritätische und pluralistische Staat ebenfalls volle Entfaltungsmöglichkeiten gewährt. 4. Enge Verbindung
von Staat und
Kirche
4.1. Durch die französischen Eroberungen und die Errichtung von Republiken nach französischem Muster (Niederlande, Schweiz, Italien), wie durch die „Fürstenrevolution" in Deutschland mit dem Reichsdeputationshauptschluß vom 25.2.1803, die die Einheit von Staat und Kirche „in der Wurzel" (J. Heckel, GAufs. 344) zerschnitt und das Ende der Reichskirche bedeutete, war vor allem die römisch-katholische Kirche in diesen Ländern in große, vor allem materielle Abhängigkeit vom Staat geraten (-•Napoleonische Epoche). So trat sie zum einen in einen Kampf um ihre Freiheit ein (s. u.), vor allem
Kirche und S t a a t IV
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aber stellte sie sich in vorderster F r o n t auf die Seite der Gegenrevolution. Die Folgen der Revolution sollten ü b e r w u n d e n und vielerorts die alten Z u s t ä n d e wiederhergestellt werden. So k a m es in den meisten europäischen L ä n d e r n zu einem erneuten Bündnis von Staat und Kirche. Verstärkt nach dem W i e n e r K o n g r e ß (1814/15) dominierte unter der Führung der „Heiligen A l l i a n z " (Verbindung von R u ß l a n d , Preußen und Österreich) die R e s t a u r a t i o n ( G e d a n k e v o m christlichen Staat). Im 1815 als einzigem der geistlichen Staaten wiederhergestellten ->Kirchenstaat kamen die alten feudalaristokratischen Strukturen wie auch die kirchliche Gerichtsbarkeit wieder zu ihrem Recht. In Frankreich lebte unter den Bourbonen noch einmal ein Stück Ancien Régime auf, und in den italienischen Staaten erwachte der Geist der Gegenreformation. In Spanien wurden die —»Inquisition und die bischöfliche —• Zensur wieder eingeführt. Da viele Regenten in der Verbindung von Thron und Altar ein sicheres Bollwerk gegen den Geist der Revolution sahen, wurde die Kirche immer wieder in ihre alten Rechte eingesetzt. D e n n o c h b a h n t e sich in den katholischen L ä n d e r n das E n d e des „ ä l t e r e n " Staatskirchentums an. D i e Gebietsveränderungen nach der Säkularisation von 1 8 0 3 und nach dem Wiener K o n g r e ß h a t t e n bereits eine N e u o r d n u n g des Verhältnisses von Staat und K i r c h e herausgefordert. Wollte m a n z. B. in Österreich den praktizierten gemäßigten - » J o s e p h i nismus auch auf die neuen G e b i e t e übertragen, so stieß m a n auf erhebliche Schwierigkeiten. D a z u k a m , d a ß sich die F o r d e r u n g nach Religionsfreiheit mit dem Erstarken des Liberalismus i m m e r mehr durchsetzte; a u f der anderen Seite stand der Sieg des Ultramontanismus. B e i m -> V a t i k a n u m I wurden —»Febronianismus und - » G a l l i k a n i s m u s verurteilt. Z u d e m setzte das D o g m a von der päpstlichen U n f e h l b a r k e i t auch eine deutliche M a r k i e r u n g in der K o m p e t e n z a b g r e n z u n g von K i r c h e und S t a a t . D a s E n d e des J o s e p h i nismus als praktizierter S t a a t s f o r m w a r bereits durch das K o n k o r d a t mit Österreich 1855 gekommen. Dies bedeutete zwar nicht das E n d e des S t a a t s k i r c h e n t u m s auf r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e r Seite, doch fortan wurde es k o n k o r d a t ä r festgelegt. D i e M a c h t zum Verhandeln mit den Regenten lag i m m e r mehr ausschließlich bei der - » K u r i e , die der Ü b e r o r d n u n g s d o k t r i n der Staaten nicht nur mit dem U n f e h l b a r k e i t s d o g m a ein gewaltiges Z e i c h e n entgegensetzte. O f t kollidierten dabei die Interessen des nationalen Katholizismus mit den Interessen R o m s . M i t dem mit ungeheurer A u t o r i t ä t ausgestatteten Papst an der Spitze strebte R o m die Einheit und den Z u s a m m e n s c h l u ß der „ k a t h o l i s c h e n W e l t " an. D a b e i sollte sowohl das gesamte Kulturleben beeinflußt als auch die soziale Frage durch die K i r c h e unter der Führung des P a p s t t u m s gelöst werden (—»Kirche und Welt). Bei Verhandlungen mit den Staaten bewies die r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e K i r c h e zunehmend langen A t e m und ergriff in den 2 0 e r und 3 0 e r J a h r e n jede vorteilhafte Gelegenheit zum A b s c h l u ß eines K o n k o r d a t e s . Von besonderer T r a g w e i t e w a r e n dabei die 1929 mit den Faschisten in - » I t a l i e n und 1933 mit den Nationalsozialisten in D e u t s c h l a n d geschlossenen K o n k o r d a t e (—»Nationalsozialismus und K i r c h e n ) . Ganz anders als im Nationalsozialismus, bei dem der Staat die Kirchen auf lange Sicht ausschalten und beseitigen wollte, kam es im Faschismus zu einer sehr engen Kooperation zwischen Staatsmacht und Klerikalismus. In den Lateranverträgen von 1929 wurden für beide Seiten günstige Vereinbarungen getroffen (Befreiung des Papsttums aus der „Gefangenschaft" durch Gründung des souveränen Vatikanstaats, Abschluß des Konkordates, das die katholische Religion mit vielen Rechten als Staatsreligion anerkennt und eine große finanzielle Entschädigung für die 1870 erlittenen Verluste einerseits, andererseits die Anerkennung des Königreichs Italien mit Rom als Hauptstadt und das Verbot parteipolitischer Betätigung des Klerus durch den Papst; vgl. TRE 16, 415, 1 ff). Für Mussolini ergab sich daraus eine außen- wie innenpolitische Stabilisierung; mit der Kirche verband ihn vor allem der Kampf gegen Sozialismus und Kommunismus, Liberalismus und Freimaurerei. Die Kirche behielt einen großen Einfluß auf das Familien- und Erziehungswesen, auch wenn es heftige Auseinandersetzungen um die Jugenderziehung gab. Das italienische Modell einer klerikal-faschistischen Verbindung beeinflußte vor allem auch —»Österreich und —»Spanien, wo der römisch-katholischen Kirche im Konkordat von 1953 eine so starke Position wie in keinem anderen Land zugesprochen wurde. Überhaupt kann man sagen, daß die römisch-katholische Kirche mit Diktaturen faschi-
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stischen Einschlags gern enge Verbindungen einging (Argentinien und andere lateinamerikanische Staaten, Kroatien). Der Entwicklung der modernen demokratischen Staaten Rechnung tragend, läutete das - » Vatikanum II das Ende des Staatskirchentums im Bereich der römisch-katholischen Kirche ein. Individuelle Religionsfreiheit und die institutionelle Freiheit der Kirche vom Staat bildeten nun die Grundlage für das gegenseitige Verhältnis. Loyale Z u s a m m e n a r beit auf beiden betreffenden Gebieten sollte den Bürgern dienen. So kam es in der Folge des Konzils zuletzt auch in Spanien ( 1 9 7 6 / 1 9 7 9 ) und Italien (1984) zum Ende des Staatskirchentums. Eine Ordnung gegenseitiger Freiheit und freundschaftlicher Z u s a m m e n a r b e i t trat an dessen Stelle. 4.2. Insgesamt ist im 19. Jh. in den protestantischen Kirchen Deutschlands ein Z u g zur Verselbständigung zu beobachten (Einrichtung von königlichen -»Konsistorien, Schaffung eines evangelischen Oberkirchenrates und später von Synoden), doch ist dies keinesfalls als Distanzierung der Kirche v o m Landesherrlichen Kirchenregiment zu werten. Der Herrscher behielt seine Stellung. Das E n d e des Landesherrlichen Kirchenregiments durch die Beseitigung der M o n a r c h i e 1918 bedeutete für die deutschen Kirchen eine große Umstellung. Sie hatten große Probleme mit der unfreiwillig gewonnenen Freiheit, was in der Distanz zum „religionslosen S t a a t " , wie die Weimarer Republik fälschlicherweise verstanden wurde, Ausdruck gewann. 4.3. In den skandinavischen Ländern zeigt es sich, daß gerade im Luthertum von Seiten der Kirchen nur sehr geringes Interesse an der Auflösung des gewachsenen Staatskirchentums besteht. In der zweiten Hälfte des 19. Jh., am Ende des Zweiten Weltkriegs und danach kam es zur schrittweisen Gewährung der Religionsfreiheit und der Möglichkeit des Kirchenaustritts. Die Erfahrungen mit der religionsfeindlichen Besatzungsmacht während des Krieges führten besonders in -»Norwegen und -•Finnland zu einer größeren Distanz gegenüber dem Staat, so daß diese Kirchen heute eine sehr viel größere Bewegungsfreiheit haben als die Kirche im vom Krieg verschont gebliebenen -»Schweden (1979 lehnte die Synode der schwedischen Kirche es ab, sich mit Hilfe des Staates als eine vom Staat unabhängige Volkskirche umzuorganisieren). In ihrer Gesetzgebung sind die nordischen Kirchen weiterhin vom Staat abhängig, der auch weitgehend bei Bischöfen und Pfarrern sein Ernennungsrecht behauptet. Haupt der Volks- bzw. Staatskirche ist nach wie vor der König, für die kirchliche Gesetzgebung ist ein „konfessionsloses" Parlament zuständig (so in -»Dänemark, Norwegen und Schweden; ähnlich, aber ohne Monarchen, in Island und Finnland). Dafür genießen die lutherischen Kirchen große Privilegien (Besteuerungsrecht, staatliche Zuschüsse, z.T. Wahrnehmung staatlicher Verwaltungsaufgaben, Schulbereich). 4.4. In dem ähnlich konfessionell geschlossenen -»Griechenland ist die griechisch-orthodoxe Kirche Staatskirche. Als einzige der autokephalen Kirchen des Ostens kann sie die traditionelle enge Verbindung weiterführen, da die anderen entweder in kommunistischen oder islamischen Staaten leben, die ihnen mehr oder weniger feindlich gegenübertreten. Analog zu den Entwicklungen im übrigen Europa kam es, wenn auch sehr spät, zur Gewährung von Bekenntnisfreiheit für alle „bekannten Religionen". Diese unterliegen allerdings wie die griechisch-orthodoxe Kirche der staatlichen Überwachung. 4.5. In Großbritannien, wo die Church oflreland (1871) und die Church of Wales (1920) freiwillig auf ihre staatskirchenrechtliche Stellung verzichtet haben, bestehen noch in England (-»Kirche von England) und -»Schottland ( T h e Church of Scotland) Staatskirchen. Die Vorherrschaft der Kirche von England war jedoch durch die Toleranzgesetze (1829) gemindert worden. Bei weitgehender Beibehaltung der überkommenen Verbindung von Anglikanischer Kirche und dem Staat in England erscheint sie trotz dieser herausgehobenen rechtlichen Stellung auf dem Weg, im stark säkularisierten Staat eine Denomination unter den anderen zu werden (vgl. T R E 9,646 f). So läßt sich überall, w o die traditionellen staatskirchlichen Beziehungen aufrechterhalten wurden, eine R ü c k n a h m e der staatlichen Verwaltungsaufgaben durch die Kirchen, eine stärkere, wenn auch immer noch sehr eingeschränkte kirchliche Unabhängigkeit, und vor allem die Gewährung von Religionsfreiheit beobachten. Eine Strafverfolgung bzw. Ausweisung aus dem L a n d bei Kirchenaustritt oder Wechsel der Konfessionszugehörigkeit, wie es noch M i t t e des 19. J h . im Staatskirchentum die Regel w a r , ist heute überall undenkbar.
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5.1. Einer der Hauptzüge im Verhältnis von Staat und Kirche im 19. und 20. J h . war das Ringen um die Freiheit der Kirche und die Durchsetzung der Religionsfreiheit wie die Entwicklung hin zum paritätischen, weltanschaulich neutralen Staat. Hauptträger des Ringens um die Freiheit war dabei im 19. J h . die römisch-katholische Kirche. Ihrem Selbstverständnis als alleiniger Hüterin der christlichen Wahrheit nach ging es ihr dabei nur um ihre eigene Freiheit, während sie andernorts die Unterdrückung anderer Konfessionen unterstützte, da der „ I r r t u m " kein Recht habe. Dennoch bedeutete der Weg des Katholizismus von der Überwindung der Nationalkirchen des Ancien Régime hin zur Weltkirche sehr viel für die Gewährung der Religionsfreiheit, wie wir sie heute in den meisten Ländern der Erde haben. In den protestantischen Staaten, in denen, verstärkt durch die Gebietsveränderungen durch den Reichsdeputationshauptschluß und den Wiener Kongreß, viele Katholiken als Minderheiten lebten, sah sich die römisch-katholische Kirche dem Machtanspruch des protestantischen Staatskirchentums gegenüber. Die Konflikte traten dabei vor allem dann auf, wenn die staatlichen Aufsichtsrechte in sacra hineinreichten oder wenn der Staat in von der Kirche besetzte Felder durch eigene Gesetzgebung einbrach. Dem staatlichen Machtanspruch stellte sich die römisch-katholische Kirche auf breiter Front entgegen; ob in -»Irland, wo die erste katholische Massenbewegung unter Daniel O'Connell ( 1 7 7 5 - 1 8 4 7 ) einen langwierigen, aber letztlich erfolgreichen Kampf um die Freiheit ihrer Kirche führte, oder etwa in den —»Niederlanden, wo der belgische Katholizismus eine für viele europäische Staaten vorbildliche Lösung des Verhältnisses von Staat und Kirche erreichte (vgl. T R E 5,518 f). Dabei mußte er allerdings auch empfindliche Niederlagen hinnehmen (—»Schweiz). Große Auswirkungen zeigten auch die Auseinandersetzungen in Deutschland, wo der Kölner Kirchenstreit heftige Wellen schlug:
Während auf der einen Seite Erzbischof Clemens August Droste zu Vischering den durch päpstliches Dekret verurteilten Hermesianismus ( - » H e r m e s ) bekämpfte, wurde dieser vom preußischen Staat gefördert. Dazu brach ein weiterer Konflikt anhand der Mischehenfrage aus. Während die 30 preußische Regierung gegen ein päpstliches Breve von 1830 mit den Bischöfen ein Abkommen getroffen hatte, das die seit 1803 in Preußen gültige Mischehenregelung gewährleistete, forderte Droste zu Vischering, daß die Praxis durch das Breve gedeckt sein müsse. Hier stand letztlich die Forderung nach freier und ungebundener Ausführung kirchlicher Lehre und Ordnung gegen die Tradition des Staatskirchentums preußischer Prägung. Im Laufe des gut drei Jahre währenden Streites, bei dem 35 Droste zu Vischering in Festungshaft genommen, ihm jedoch kein Prozeß gemacht wurde, zeigte sich, daß die katholische Presse trotz Zensur eine ernstzunehmende Größe geworden war. Bedeutende Schriften, allen voran C o r r e s ' Athanasius, brachten den Katholizismus in eine Aufbruchstimmung. Zum Teil verbündete sich der Katholizismus vorübergehend mit dem -»Liberalismus, obwohl dieser in der Regel nicht gerade für die Freiheit der Kirche eintrat. Als unter Friedrich Wilhelm IV. der 40 Kölner Kirchenstreit beigelegt wurde, hatte die katholische Kirche auf ganzer Linie gesiegt.
Nachdem die römisch-katholische Kirche in der Mitte des 19. J h . den Grundsatz der Koordination mit den wichtigsten Deutschen Staaten durchgesetzt hatte, kam es im -»Kulturkampf (s. auch —»Deutschland, —»Schweiz, -»Österreich, -»Ungarn) zu einem weittragenden Zusammenstoß. Die trotz Verlust des Kirchenstaates (1870) erstarkte 45 päpstliche Zentralgewalt sah sich den „Kampfgesetzen" des preußischen Staates gegenüber. Als 1887 nach über 15-jährigen Auseinandersetzungen der Friede hergestellt wurde, hatten beide, der stärkste und modernste Staat des damaligen Europa und das Papsttum, große Zugeständnisse gemacht. 5.2. Für die evangelischen Kirchen gab es diese prinzipielle Auseinandersetzung über so einen längeren Zeitraum zum erstenmal im Dritten Reich. Während die Bekämpfung für die römisch-katholische Kirche eine von vielen in diesem Jahrhundert war, ergab sich für den Protestantismus eine völlig neue Situation. Als der -»Nationalsozialismus nach dem Scheitern von Hitlers reichskirchlichen Plänen und den mißglückten Versuchen der
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Gleichschaltung der evangelischen Kirchen mit den -»Deutschen Christen sein kirchenfeindliches Gesicht zeigte und durch die Besetzung der Kirchenbehörden, durch Förderung des Neuheidentums (-»Deutschgläubige Bewegungen), die Auflösung der kirchlichen Jugendarbeit und vieles mehr die kirchliche Arbeit behinderte und schließlich bekämpfte, wurde die bisher praktizierte und gelehrte Haltung gegenüber dem Staat prinzipiell in Frage gestellt. Waren die Protestanten — sieht man einmal von einigen Ausnahmen in katholischen Staaten ab - bisher vom Staat gefördert und geschützt worden und nicht gewohnt, dem Staat gegenüber eine rechtlich eigenständige Haltung einzunehmen, so erwies sich nun die alleinige Konzentration auf das Geistliche als nicht länger durchführbar. „Unter dem totalitären und kirchenfeindlichen Regime wurde schlagartig deutlich, d a ß die herkömmliche Scheidung in innere Angelegenheiten, die der Staat den Kirchen überläßt, und äußere Angelegenheiten, in denen der Staat Mitwirkungsrechte genießt, unerträglich ist" (v. Campenhausen, Staatskirchenrecht 43). Folgerichtig wurde in der Barmer Theologischen Erklärung jegliche Unterordnung der Kirche unter den Staat verworfen. Auch ihre eigene rechtliche Ordnung wollte die Kirche nun nicht mehr dem Staat überlassen, sondern selbst ihrem eigenen Wesen gemäß ordnen. Dem korrespondierte der im Kirchenkampf ausgeübte Widerstand gegen staatliche Eingriffe und gegen Beschränkungen in den Angelegenheiten der Kirche. So traten die evangelische ähnlich wie die römisch-katholische Kirche nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs dem Staat mit der Forderung nach Freiheit und Eigenständigkeit gegenüber. 5.3. Die Verwirklichung dieser Forderung war allerdings auch nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit ein großes Problem und wird es auch weiterhin bleiben. Für viele Kirchen ist sie außer Sicht. Im Gegenüber zum totalitären oder auch zu manchem islamischen Staat ging es und geht es für sie schlicht ums Überleben. Das Handlungsspektrum ist breit, der Handlungsspielraum in der jeweiligen Situation oft sehr eingeschränkt. In unterschiedlicher Zuspitzung führen hier die Staaten einen Kampf mit dem Ziel der völligen Beseitigung der Kirchen. Glaubensfreiheit ist dort in weiter Ferne. Ganz anders sind die Gefahren für die Freiheit der Kirche in den liberalen Demokratien. Dem weltanschaulich „neutralen" Staat wird es zunehmend zur Notwendigkeit, Kirchen- und Religionsfreiheit zu gewähren. Er kommt allerdings nicht umhin, den Kirchen ihrer Bedeutung und ihrer Lebenskraft gemäß Rechnung zu tragen. Bei Gewährung von Parität und differenzierter vertraglicher Förderung der Kirchen fordert der Staat im Gegenzug in vielen Bereichen die Mitwirkung der Kirchen in seinem Sinne (oft den parteipolitischen Interessen der jeweiligen Regierung entsprechend). Von solchen weltanschaulichen Bindungen droht den Kirchen stets Gefahr für ihre innere Unabhängigkeit. Auch Entwicklungen, bei denen demokratische Staaten bewußt ihre „Wertneutralität" verlassen, müssen aufmerksam beobachtet werden (z.B. bei der Entschließung des europäischen Parlaments über die sog. Jugendreligionen von 1984 [-»Neue Religionen], die einem Mißbrauch der Religionsfreiheit wehren soll). Denn die Grenzen für derartige staatliche Eingriffe in die Religionsfreiheit können nicht klar genug gesteckt werden. Literatur Andreas Aarflot, Neueste Entwicklungen im Verhältnis y. Staat u. Kirche in Norwegen: ZEvKR 29 (1984) 570-578. - Per-Olov Ähren, Staat u. Kirche in Schweden: ZEvKR 10 (1963/64) 2 2 - 4 5 . Alfred Albrecht, Koordination v. Staat u. Kirche in der Demokratie, Freiburg/Basel/Wien 1965. Rudolf Amelunxen, Das Kölner Ereignis, Essen 1952. - Roger Aubert, Kirche u. Staat in Belgien im 19. Jh.: Beitr. zur dt. u. belgischen Verfassungsgesch. im 19. Jh., hg. v. Werner Conze, Stuttgart 1967, 5 - 2 5 . — Norbert August, Staat u. Kirche in Lateinamerika. Das Verhältnis v. Staat u. Kirche in den Verfassungen, im Erziehungs- u. Bildungswesen u. im Eherecht in den Ländern des Cono Sur, München 1985 (Beitr. zur Soziologie u. Sozialkunde Lateinamerikas 14). - Richard Bäumlin, Die ev. Kirche u. Staat in der Schweiz seit dem Kulturkampf: ZSRG.K 76 (1959) 249-277. - Georges Bavaud, Das Verhältnis v. Kirche u. Staat v. Leo XIII. zum Zweiten Vatikanischen Konzil: Kirche Staat im Wandel. Eine Dokumentation, hg. v. der Arbeitsgemeinschaft christl. Kirchen in der Schweiz, Zürich 1 9 7 4 , 7 7 - 83. - Waldemar Besson, Die christl. Kirchen u. die moderne Demokratie: Staat u. Kirche im Wandel der Jahrhunderte, hg. v. Walther Peter Fuchs, Stuttgart u . a . 1966,
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V. Ethisch 1. Vorbemerkungen 2. Typische Konstellationen 3. Lehrbildungen der Gegenwart 4. Probleme in Deutschland 5. Internationale Perspektiven 6. ökumenische Urteilsbildung 7. Verallgemeinerungsfähige Merkmale (Literatur S. 404)
1. Vorbemerkungen D a s Verhältnis von Kirche und Staat ist in äußerst mannigfaltiger Weise Gegenstand von theologisch-ethischen Reflexionen und Konzeptionen. Entsprechend den sehr unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich der Aufgaben, Begründungen und Entfaltungsmöglichkeiten einer Ethik überhaupt begegnen auch sehr vielfältige W a h r n e h m u n g e n der Phänomene von Kirche und Staat. Die Wahrnehmungsunterschiede sind durch die jeweilige soziokulturelle U m w e l t und deren Geschichte bestimmt: W ä h r e n d m a n in E u r o p a das heutige Verhältnis von Kirche und Staat immer n o c h durch d a s jahrhundertelange Ringen zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt begründet und erklärbar finden kann, war dieses Modell einer Dyarchie für viele andere Gebiete und Staaten niemals tauglich. Es ist heute unter den Voraussetzungen von weltanschaulichem und religiösem Pluralismus sowie fortschreitender -»Säkularisierung einerseits, erneuerten organisierten Religionen fundamentalistischer A r t (besonders im - » I s l a m ) andererseits vollends unbrauchbar. E b e n s o reicht die Vielfalt der sozialen und rechtlichen Gestaltungsformen der Kirche, die jeweils einer politischen Wirkeinheit „ S t a a t " gegenüberstehen, von traditionell geprägten F o r m e n des Staatskirchentums (Skandinavien, England) über den Pluralismus
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der Denominationen (USA, -»„Junge Kirchen") bis zu verfolgten Basisgemeinden und Untergrundkirchen. Man m u ß die eurozentrische Selbstwahrnehmung von Kirche und Theologie aufbrechen, um die legitime Vielfalt des Verhältnisses von Kirche und Staat zu würdigen. Wenn richtig ist, daß die Christenheit in ihr ökumenisches Zeitalter eingetreten ist, dann kann auch die ethische Reflexion der Beziehungen von Kirche und Staat nicht länger allein vor dem Hintergrund europäischer und nordamerikanischer Geschichte vollzogen werden, auch wenn diese Herkunft nach wie vor prägende Kraft hat. Aber das historische Modell von Imperium und Sacerdotium, -»Kaisertum und Papsttum ist partikular geworden. In manchen staatlich organisierten Gesellschaften hat es ohnehin nie nennenswerten Einfluß gehabt. Deshalb müssen sich die Kirchen der Christenheit in der Gegenwart auf die verschiedensten historisch gewachsenen Beziehungen zur politischen Gewalt einlassen — bisweilen, wie in -»• Korea und Deutschland, im Kontext einer gemeinsamen, aber antagonistisch verstandenen nationalen Herkunft. In vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ist im Zuge der Dekolonialisierung inzwischen ein modernes Religionsrecht entstanden, das auch die Stellung der christlichen Kirchen neben den anderen (organisierten) Religionen regelt, ohne daß man freilich vom Wortlaut der Verfassungen und Gesetze auf die tatsächlichen Verhältnisse schließen dürfte. Formalrechtlich tendiert das Religionsrecht insbesondere der jüngeren Staaten auf eine konfessionelle beziehungsweise religiöse Neutralität des Staates, aber in Wirklichkeit verbirgt sich dahinter oftmals ein erbittertes Ringen um missionarische und politische Einflußnahme. Umfassende Dokumentationen und interkulturell vergleichende Analysen liegen hierzu kaum vor (ein nicht weiter verfolgter Ansatz findet sich in Church and State, dt. Ausg.), zumal in vielen Ländern die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen und Beziehungen oft einem abrupten Wandel unterliegen (vgl. China und die Christen). Unter diesen Umständen kann ein ökumenisch orientierter ethischer Beitrag nur typisierend und problemorientiert einige systematisch belangreiche Konstellationen und Konflikte im Verhältnis von Kirche und Staat umreißen. Wenn man die Aufgabe einer theologischen Ethik darin sieht, der Orientierung der Lebensführung im Lichtc der biblischen Offenbarung zu dienen, dann ist auch der besondere Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen im Unterschied zu den vorhergehenden historischen und juristischen Darstellungen deutlich. 2. Typische
Konstellationen
Gemeinschaften von Christen haben seit den Anfängen in Palästina unter den verschiedensten politischen und rechtlichen Ordnungen existiert (vgl. Aland). Freilich sind den biblischen Schriften moderne staatsrechtliche Anschauungen fremd; das Neue Testament enthält keinen terminus technicus für „Staat" und verwendet auch den griechischen 7TÖAi?-Begriff nicht im politisch-staatlichen Sinn. In der Regel wird von politischen Ordnungs- und Herrschaftsformen konkret und situationsbezogen gesprochen — von obrigkeitlichen Gewalten (Rom 13,1), Herrschern, Fürsten, Kaisern, Statthaltern, das heißt von tatsächlich handelnden Instanzen und Personen. Ihnen erweisen die Christen Achtung und Gehorsam, aber keine Verehrung. Ihre Loyalität gegenüber den politischen Gewalten ist begründet in deren schützender Funktion und begrenzt durch die unantastbare Freiheit, das Evangelium zu verkünden (vgl. den programmatischen Schlußsatz des lukanischen Doppelwerkes, Act 28,31). Der Gehorsam der Christen gegenüber staatlichen Gewalten steht daher grundsätzlich unter dem Vorbehalt der Clausula Petri, derzufolge man Gott mehr gehorchen muß als den Menschen (Act 5,29). In dieser Konstellation einer ursprünglichen Differenz sind von Anfang an die Möglichkeiten von Kooperation und Konflikt angelegt. Weil der Glaube der Christen ihr Handeln in der Welt leitet und formt, nimmt auch die Gemeinschaft der Christen mit Notwendigkeit sichtbare und damit „rechtliche" Gestalt an (vgl. Roloff). Die Weigerung,
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a m Kaiserkult teilzunehmen, die Diakonie an den gesellschaftlich Ausgegrenzten und die Gleichachtung der Geistesgaben in der Gemeinde unabhängig von Klasse, Rasse oder Geschlecht haben die Christenheit immer wieder in einen Gegensatz zu den politischen Ordnungen und den gesellschaftlichen Gepflogenheiten gebracht. Der tiefere Grund dieser Differenz liegt in der eschatologisch bestimmten Erwartung des Reiches Gottes, dessen Kommen beziehungsweise Nähe jede irdische Herrschaft als vorläufig relativiert und ihre kultisch-religiösen Wurzeln entmythologisiert. Auf der anderen Seite ist es immer wieder geschehen, daß die „siegende Kirche" (Andresen) ihre Diaspora-Situation zu überwinden vermochte und eine enge Verbindung mit den politischen Gewalten einging (vgl. den Literaturbericht von Kretschmar). Wenn der (römische) Kaiser ökumenische Konzilien einberuft, ihnen vorsitzt und in ihre Entscheidungen eingreift, und wenn Organisation, Ämterbesetzung und Finanzierung der Kirche von den Trägern der politischen Herrschaft geregelt werden, wird der Verlust der Eigenständigkeit zum Preis für den „Sieg" der Kirche. Mit dem Edikt des —»Theodosius von 381 wird erstmals ein förmliches Glaubensbekenntnis Bestandteil des Staatsrechtes; Orthodoxie wird zur politischen Aufgabe (Beck, Jahrtausend 87 ff) und mittels des Ketzerrechtes notfalls auch gewaltsam erzwungen. Vor allem Kaiser Justinian hat eine umfassende kirchliche Gesetzgebung betrieben, die u. a. das kirchliche Ämterwesen und das Vermögensrecht umfaßte (vgl. Beck, Geschichte 38ff). Dieses System der Staatskirche, das in den verschiedenen Teilen des römischen Reiches durchaus eine große Vielfalt kirchlicher Gestaltungen zuließ, setzt einen bestimmten Typus von Kirche voraus. Dessen anstaltlicher Charakter ist nach M a x -* Weber durch vier wesentliche Merkmale bestimmt: einen Berufspriesterstand, universalistische Herrschaftsansprüche der Hierokratie, rationales und insofern lehrbares Dogma und Ausbildung des Amtes als Träger des Charisma (688 ff). Davon unterscheidet Weber den Typus der „Sekte" als Verein von individuell charismatisch qualifizierten Personen, die dem Ideal einer ecclesia pura der sichtbaren Gemeinde verpflichtet sind. Diese von der historischen Mannigfaltigkeit abstrahierende Unterscheidung soll u.a. darauf aufmerksam machen, d a ß der anstaltliche Typus der Kirche auf eine möglichst große Personalidentität und Zusammenarbeit von Gesellschaft und Kirche angelegt ist, während der Sektentypus stärker die Differenz betont und Konflikten nicht ausweicht, gerade darin aber eine besondere soziale Funktion der Stabilisierung der Differenz von Kirche und Staat wahrnimmt. 3. Lehrbildungen
der
Gegenwart
Die kirchlich-theologischen Lehren hinsichtlich des Verhältnisses von Kirche und Staat beziehen sich stets in auswählender und wertender Weise auf die geschichtlichen Ausprägungen der genannten typischen Konstellationen. Die römisch-katholische Kirche verfügte auf der Basis der thomistischen Theologie bis zum II. Vatikanischen Konzil über eine relativ einheitliche Lehrmeinung (vgl. Mikat), derzufolge Kirche und Staat als je für sich autonome, eigenem Recht folgende societates perfectae zusammenwirken im Dienst am ewigen Heil und zeitlichen Wohl aller Menschen. Das Konzil hat diese Grundlagen nicht aufgegeben, aber durch seine Erklärung zur Religionsfreiheit (Dignitatis humanae) ausgeweitet und besonders in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et Spes) auf die gesamte Menschheitsfamilie bezogen. Die römischkatholische Kirche sieht sich seither an kein besonderes politisches System gebunden und will hinsichtlich ihrer Aufgabe und Zuständigkeit mit keiner politischen Gemeinschaft verwechselt werden; zugleich „nimmt sie das Recht in Anspruch, in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzumachen, ihren Auftrag unter den Menschen unbehindert zu erfüllen und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen" (Gaudium et Spes 76). Jenseits der Parolen von „Einheit" oder „Trennung" und rivalisierender Suprematsansprüche geht es um ein Zusammenwirken
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der Kirche mit den politischen Gewalten im Interesse der -»Freiheit und gleichen Rechte aller Menschen (-»Menschenrechte). Auch wenn in den evangelischen Kirchen, besonders in Deutschland, lange Zeit sehr kontroverse Auffassungen bezüglich Staat und Recht vertreten wurden (vgl. nur Simon: Hb. d. Staatskirchenrechts; Macht und Recht; Zillessen, Die Freiheit), hat doch die Barmer Theologische Erklärung (-»Nationalsozialismus und Kirchen) von 1934 dem Protestantismus nicht nur einen klar profilierten Kirchenbegriff vermittelt (vgl. Burgsmüller), sondern auch zu einer Neuorientierung im Verhältnis zu Staat und Politik verholfen (vgl. Für Recht und Frieden). Die 5. Barmer These, der nicht Rom 1 3 , 1 - 8 sondern I Petr 2,17 voransteht, bekennt, „daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem M a ß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt f ü r Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt." Diese Bekenntnissätze enthalten markante Stärken und Schwächen. Sie sind darin konsensfähig geworden, daß sie erstens (in der Folge sowohl lutherischer wie reformierter Traditionen) die Würde des Staates in einer Anordnung Gottes begründet sehen (vgl. CA 16: quod legitimae ordinationes civiles sint bona Opera Dei), und zwar unabhängig davon, ob die Inhaber staatlicher Gewalt um diese Grundlegung wissen und sie anerkennen. Sie beziehen zweitens die göttliche Anordnung auf die staatlichen Aufgaben der Wahrung von Recht und Frieden und vertreten insofern eine funktionale Staatsauffassung (Huber, Folgen 97), welche unter sehr verschiedenen äußeren Bedingungen konkretisiert werden kann. Drittens bezeugen die Sätze mit dem Hinweis auf Gottes Reich, Gebot und Gerechtigkeit, daß die politische Verantwortung nicht autonom besteht, sondern in der Verantwortung vor Gott ihren Grund hat. Daraus ergibt sich folgerichtig in den Verwerfungssätzen der 5. These sowohl die Ablehnung jeder totalen Ordnung durch den Staat als auch der Anmaßung der Kirche, selber staatliche Aufgaben zu erfüllen. Die Barmer Erklärung hat damit zu ihrer Zeit zwei klare Grenzziehungen für das Verhältnis von Staat und Kirche formuliert, die freilich unter gewandelten Bedingungen neuer Konkretisierungen bedürfen. Geschieht das nicht, werden die Bekenntnissätze zu vagen Programmsätzen. Präzisierungsbedürftig waren in und nach „Barmen" die Einengung auf das scheinbar statische Verhältnis zweier Hoheitsmächte, deren gemeinsame gesellschaftliche Grundlage unbestimmt blieb, das Verhältnis zur demokratischen Staatsform und die Würdigung der Funktionen des Sozialstaates. Auch und vor allem der Rechtsbegriff, dessen polemische Spitze 1934 evident war, ist seinerzeit ohne materiale Begründung und Entfaltung geblieben. Diese Schwächen waren Gegenstand rechtstheologischer und sozialethischer Arbeiten nach 1945, wie sie insbesondere in kirchlichen -»Denkschriften ihren Niederschlag fanden. Unter ihnen nimmt die offizielle Denkschrift der EKD über Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe (1985) einen besonderen Rang ein, wird hier doch erstmals die demokratische Staatsform eingehend theologisch und sozialethisch gewürdigt (vgl. dazu Jüngel/Herzog/Simon). 4. Probleme in
Deutschland
Für die Stellung der Kirchen zum Staat war in Deutschland nach 1945 die Entwicklung antagonistischer gesellschaftlicher und politischer Ordnungen einschließlich ihrer partiell gegensätzlichen Legitimitätsgrundlagen entscheidend. Vor allem die evangelischen Kirchen waren bemüht, auch eine sozialistische Staatlichkeit als legitimen Rahmen der Evangeliumsverkündigung anzuerkennen und damit die Unabhängigkeit kirchlicher Existenz von bestimmten politischen Systemen zu wahren. Es ist bemerkenswert, daß die
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Grundlagen der geltenden staatskirchenrechtlichen Beziehungen in beiden deutschen Staaten (wenigstens dem Wortlaut nach) weitgehend übereinstimmen: (1) die staatliche Garantie der Religions- und Gewissensfreiheit, (2) die grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche (unbeschadet der partnerschaftlichen und rechtlichen Ausgestaltung der Beziehungen im einzelnen), (3) die staatliche Anerkennung der Eigenständigkeit des kirchlichen Rechtes (in unterschiedlichen Grenzen) und (4) die staatliche Anerkennung der öffentlichen Wirksamkeit organisierter Religionen in Verkündigung und Sozialarbeit. Die Unterschiede sind freilich auch offenkundig: In der Deutschen Demokratischen Republik mangelt es aufgrund des Fehlens einer Gewaltenteilung und einer dem Bürger zugänglichen Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit an Chancen, Verletzungen der staatskirchenrechtlichen Prinzipien durch den Staat einzuklagen. Der Staat ist nicht nur seinem Selbstverständnis zufolge indifferent gegenüber organisierten Religionen, sondern benachteiligt die Gläubigen nach wie vor in verschiedenen Formen. Auf der anderen Seite steht die tatsächliche Privilegierung der Großkirchen in der Bundesrepublik Deutschland durch Staat und Gesellschaft, welche nach 1945 die „Tendenz auf ein Maximum institutioneller Sicherheit und politischer Einflußnahme" der Kirchen gefördert hat (Hesse 1565). Kritische Stimmen fragen deshalb, „ob nicht die innere geistliche Kraft der Kirchen hinter ihrer starken Stellung in Staat und Gesellschaft zurückbleibt" (Wilkens: T R E 8, 597). Diese Frage kontrastiert bemerkenswert mit einer neueren Tendenz, zumindest in der Bundesrepublik Deutschland, für den neuzeitlichen säkularen Staat die Notwendigkeit religiöser Legitimation, jedenfalls im Falle von Krisenlagen, zu postulieren. Seit E.-W. Böckenförde 1967 fragte, „ o b nicht auch der säkularisierte weltliche Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muß, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt" (Die Entstehung des Staates 61), ist die Tendenz erkennbar, die Frage bejahend zu beantworten und eine Wechselwirkung, ja Affinität von Rechtsstaat und Christentum zu behaupten. Damit wird aber die Verpflichtung des modernen Staates des Grundgesetzes zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität (Schiaich) im Kern infragegestellt. Die für den säkularen Staat grundlegende Nicht-Identifikation mit religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen wird zurückgenommen, zumindest weitgehend relativiert, wenn erneut von „der Staatsgewalt als allgemeinem Subjekt der politischen Gemeinschaft" und von einer „implizit theologischen Struktur der Verfassungslehre" gesprochen wird, die der Annahme einer „von Gott vorgegebenen Ordnungsstruktur" verpflichtet sei (T. Rendtorff; kritisch zu dieser Tendenz Schiaich, Konfessionalität — Säkularität — Offenheit). Gerade in Deutschland, wo die Kirchen gelernt haben, in kritischer Solidarität mit gegensätzlichen politischen und gesellschaftlichen Ordnungen zu leben und so jeweils „der Stadt Bestes" zu suchen (Jer 29,7), sollten dagegen die religiöse Neutralität des Staates und das Fehlen verbindlicher weltanschaulicher Grundlagen und Werte in der modernen Demokratie als Bedingungen der Friedens- und Freiheitssicherung für Gläubige, Atheisten und Gleichgültige anerkannt werden (zur Kritik an der Berufung auf verbindliche „höchste Werte" vgl. Böckenförde, Kritik der Wertbegründung, und Picht). Das schließt nicht aus, sondern gerade ein, daß der Staat auf den Grundlagen seiner Religionsneutralität und der rechtlichen Eigenständigkeit der Kirchen die (nicht nur großen) Religionsgemeinschaften in paritätischer Form schützt und unterstützt, so daß diese organisatorisch und finanziell in der Lage sind, sich an der Wahrnehmung staatlich geförderter gesellschaftlicher Aufgaben in angemessener Weise zu beteiligen, beispielsweise in den Bereichen der Krankenversorgung, Altenpflege, Sozialarbeit und im Bildungswesen einschließlich der Theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten. Die staatskirchenrechtliche Garantie derartiger kirchlicher Wirkungsmöglichkeiten begründet freilich keine kirchlichen Monopolansprüche (Hesse), sondern sollte die Kirchen immer wieder zu selbstkritischer Prüfung veranlassen, ob durch ihre Privilegierung die Freiheit und Unabhängigkeit ihres öffentlichen Zeugnisses gefährdet wird (vgl. Huber, Neumann, Simon u.a.).
402 5. Internationale
Kirche und Staat V Perspektiven
Trotz der Kirchenspaltung im Zeitalter der Reformation hatte sich in Europa noch jahrhundertelang eine wesentliche Voraussetzung enger Beziehungen zwischen Staat und Kirche erhalten lassen: die hohe konfessionelle Homogenität der Territorialstaaten. Aber Kriege, Kolonialisierung und Dekolonialisierung, internationaler Handel und Verkehr sowie die damit einhergehende wachsende soziale Mobilität haben diese religionspolitischen Grundlagen zerstört. Die Forderung nach Religionsfreiheit im Rahmen internationaler Kontakte galt freilich zunächst der Ausbreitung der eigenen Religion; sowohl die Missionare des spanischen Goldenen Zeitalters (von Ausnahmen wie Las Casas, de Sahagun und Jakob dem Dänen abgesehen) wie die nordamerikanischen Pilgerväter dachten nicht daran, die freie Religionsausübung Andersgläubiger zu schützen. Erst bei den Dissentern Roger Williams und William Penn bildete die Garantie der Glaubens- und Gewissensfreiheit die Basis ihrer kolonialen Neugründungen (Geldbach; Litteil). Diesem Weg folgte auch die Verfassung der Vereinigten Staaten, die in ihrem ersten Amendment die entscheidende Bestimmung enthält: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion or prohibiting the free exercise thereof." Nicht Toleranz, also gewährte Duldung, sondern Religionsfreiheit, also ein Recht jedes Menschen, wird damit erstmals zur Grundlage des Verhältnisses von Staat und Kirchen. Die Stellung zur jüdischen Religion ist dabei häufig entscheidend dafür geworden, ob diese Grundlage allgemeiner Achtung sicher ist. Demgegenüber war in zahlreichen Gebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas die Forderung nach —»Religionsfreiheit ein unerläßliches Mittel, fremde Länder den Missionaren, Händlern und Soldaten aus Europa und Nordamerika zu öffnen. 1801 forderte ein koreanischer Christ in einem Brief an den Bischof von Peking, die Religionsfreiheit in Korea, welche als Bedrohung der neokonfuzianischen Staatsphilosophie empfunden wurde, militärisch erzwingen zu lassen (Min). Ende des 19. Jh. mußte Korea in Verträgen mit Japan, den USA, England, Frankreich, Deutschland, Italien und Rußland das Recht freier Religionsausübung einräumen, wie ähnlich zuvor China (vgl. TRE 7,751 ff). Das Verhältnis von organisierten Religionen zur politischen Herrschaft erweist sich dabei insgesamt als von den Wechselfällen der Missionsgeschichte geprägt, wie man besonders deutlich an den Beispielen -»Indiens und -»Indonesiens sehen kann. Die Kolonialmächte versuchten häufig, die vorherrschende Religion des Heimatlandes zur Staatsreligion auch der Kolonien zu erheben (vgl. die Privilegierung der reformierten Kirche durch die Vereinigte Ostindische Kompanie der Holländer, s. Müller-Krüger), gerieten damit aber immer wieder in kolonialpolitische Konflikte und scheiterten schließlich in den Dekolonialisierungen des 20. Jh. Eine umfassende, interkulturell-vergleichende Untersuchung der staatskirchenrechtlichen Entwicklungen vor diesem Hintergrund ist ein Forschungsdesiderat der Missionsgeschichte und der ökumenischen Theologie insgesamt. Obwohl die meisten Staaten, die nach 1945 ihre Unabhängigkeit erlangt haben, formal Religionsfreiheit und kirchliche Eigenständigkeit garantieren, zeigen sich in der Praxis massive Einschränkungen. Die neuen politischen Führer erwarten häufig von den Religionen nicht kritische Distanz, sondern politische Unterordnung und Unterstützung des „nation building" (zu Indien vgl. Dehn; zum frankophonen Schwarzafrika Sartorius). Die Neigung, die Kirchen gefügig zu machen — sei es durch Diskriminierung und Unterdrückung, sei es durch Privilegierung und Anpassung - , ist vielerorts unverkennbar. In fundamentalistischen islamischen Staaten sind Religions- und Glaubensfreiheit massiv bedroht (vgl. die Verfolgung der Baha'i im Iran), aber auch in Staaten, die formal Religionsfreiheit garantieren, gibt es Tendenzen, den älteren Staatskult wieder zu beleben (zu Japan vgl. Terazono). Auf der anderen Seite ist aber in den letzten Jahren besonders in Europa die Tendenz zu einer Entflechtung der Beziehungen von Staat und Kirche zu beobachten. In Italien und Spanien hat die Katholische Kirche ihre Privilegien als Staatskirche zugunsten eines freie-
Kirche und Staat V
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ren Verhältnisses im Gegenüber zu Staat und Gesellschaft aufgegeben. Diese Entwicklung wird vielleicht künftig auch die skandinavischen staatskirchlichen Verhältnisse stärker entwicklungsbedürftig erscheinen lassen. Zugleich zeichnet sich im kommunistischen Herrschaftsbereich eine Neuorientierung der staatlichen Religionspolitik ab: Trotz fortschreitender Säkularisierung ist das aus Gründen der politischen Ideologien vorausgesagte Absterben der Religionen nicht eingetreten; vielmehr erweisen sich die Kirchen als wichtiger Raum und Anwalt gesellschaftlicher Diakonie und öffentlicher Kritik. 6. Ökumenische
Urteilsbildung
Die weltweite ökumenische Gemeinschaft der Kirchen steht in der Gegenwart einer unübersehbaren Vielfalt staatlicher religionsrechtlicher Ordnungsformen gegenüber. In vielen Ländern befinden sich die christlichen Kirchen nicht nur in einer Diaspora-Situation, sondern haben unter mangelndem Schutz der Religionsfreiheit bis hin zu massiven Verfolgungen zu leiden. In anderen Ländern sehen sich die Kirchen gemäß Act 5,29 zum Widerstand gegen eine pervertierte Staatsgewalt verpflichtet, welche ganzen Bevölkerungsteilen aufgrund ihrer Rassenzugehörigkeit die bürgerlichen und -»Menschenrechte weitgehend vorenthält (vgl. Bekenntnis und Widerstand). Im Protest gegen derartige Formen staatlicher Unterdrückung ist nach 1945 das Ethos der Menschenrechte (Huber/Tödt, Honecker, Raiser) immer mehr zum Kriterium für ein befriedigendes, allgemeiner Anerkennung fähiges Verhältnis von Kirche, Staat und Gesellschaft geworden. In der Geschichte des Ökumenischen Rates der Kirchen kam dabei seit seiner ersten Vollversammlung in Amsterdam 1948 dem Schutz der Religionsfreiheit besondere Bedeutung zu. Folgende vier Grundsätze haben seither die Orientierung der ökumenischen Sozialethik in diesem Bereich geprägt: „(1) Jeder Mensch hat das Recht, seinen eigenen Glauben und sein Glaubensbekenntnis selbst zu bestimmen. (2) Jeder Mensch hat das Recht, seinen religiösen Überzeugungen im Gottesdienst, im Unterricht und im praktischen Leben Ausdruck zu geben und die Folgerungen aus ihnen für die Beziehungen in der sozialen oder politischen Gemeinschaft offen auszusprechen. (3) Jeder Mensch hat das Recht, sich mit anderen zusammenzuschließen und mit ihnen eine gemeinsame Organisation für religiöse Z w e c k e zu bilden. (4) Jede religiöse Organisation, die entsprechend den Rechten der Einzelperson gebildet oder aufrechterhalten wird, hat das Recht, selbst ihre Grundsätze und ihre Praxis im Dienste der Ziele zu bestimmen, für die sie sich entschieden h a t " (Die erste Vollversammlung, 130ff).
Seither ist die ökumenische Bewegung diesen Zielen verpflichtet, und insbesondere die Commission ofthe Churches on International Affairs hat immer wieder Verletzungen der Menschenrechte im allgemeinen und der Glaubens- und Religionsfreiheit im besonderen angeprangert und sich für Abhilfe eingesetzt (vgl. die Annual Reports bzw. Background Informations, die in Genf erscheinen). So erweist sich der kirchlich-ökumenische Beitrag zur Entwicklung eines weltweiten Ethos der Menschenrechte als wichtiges Gestaltungselement im Verhältnis von Staaten und Religionen auf dem Boden einer weltanschaulich, religiös und konfessionell pluralistischen Weltgesellschaft. 7. Verallgemeinerungsfähige
Merkmale
Angesichts dieser Vielfalt fällt es schwer, global verallgemeinerungsfähige „Essentialia eines akzeptierbaren Verhältnisses" von Kirche und Staat anzugeben. Vielleicht kann man mit Simon (Hb. des Staatskirchenrechts) folgende verallgemeinerungsfähige Kriterien vorschlagen: Erstens ist die Religionsfreiheit, unabhängig von staatlicher Verleihung, Fundament und Kriterium evangelischen Staatsverständnisses. Zweitens ist die Eigenständigkeit der organisierten Religionen in der Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten ungehindert von staatlicher Einflußnahme unverzichtbar. Drittens muß das öffentliche Wirken der Kirchen in Wortverkündigung und Diakonie ungeschmälert gewährleistet sein. Religionsfreiheit, kirchliche Eigenständigkeit und öffentliche Wirksamkeit nehmen
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dem Staat nichts von dem, was ihm zukommt, aber sie geben ihm in kritischer Solidarität loyale Staatsbürger. Literatur Kurt Aland, Das Verhältnis v. Kirche u. Staat in der Frühzeit: ANRW 11/23,1 (1979) 60-246. Carl Andresen, „Siegreiche Kirche" im Aufstieg des Christentums. Unters, zu Eusebius v. Caesarea u. Dionysios v. Alexandrien: ANRW H/23,1 (1979) 387-429. - Karl Barth, Christengemeinde u. Bürgergemeinde, 1946 21970 (ThSt 104). — Ders., Christi. Gemeinde im Wechsel der Staatsordnungen. Dokumente einer Ungarnreise 1948, Zollikon-Zürich 1948. — Ders., Rechtfertigung u. Recht, 1938 *1970 (ThSt 104). - Hans-Georg Beck, Das byz. Jt., München 1978. - Ders., Gesch. der orth. Kirche im byz. Reich, Göttingen 1980. - Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation: ders., Staat-Gesellschaft-Freiheit, Frankfurt 1976, 42-64. - Ders., Kritik der Wertbegründung des Rechts: OIKEIOSIS. FS Robert Spaemann. Hg. v. 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Wolfgang Lienemann Kirche und Welt 1. Grundsätzliches 2. Die Anrede der Kirche an die Welt 3. Politik als Vermittlung zwischen Kirche und Welt 4. Die Kirche und die Weltentwicklung (Literatur S. 418)
1.
Grundsätzliches
1.1. Zum Begriff -* Welt. Sprachgeschichtlich ist das Wort ,Welt' im Deutschen vermutlich eine christliche Neubildung (vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch 14, 1458). Es gibt ursprünglich als Menschenalter, Zeitalter, „Welt"alter das kirchenlateinische Wort saeculum wieder, also die Zeitlichkeit der Welt. Saeculum, aimv, ein von Hause aus zeitlicher Begriff, wird freilich bereits im späten Altertum und frühen Mittelalter in einer umfassenden Bedeutung verwendet (Grimm 1459). Auch wird das griechische Wort alebv im Neuen Testament häufig mit KÖOfiOi; gleichgestellt. Entsprechend sinnverwandt wurde das Wort mundus zu saeculum gebraucht. Im Mittelalter wird aufgrund der häufigen johanncischen Entgegensetzung von Welt und Offenbarung (vgl. Joh 1,1 ff; 1,10; 4,4 f; 16,33; 18,36; 1. Joh 5,19: „Die ganze Welt liegt im Argen") mundus zur sündigen, diesseitigen Welt. Der Liedvers „In der Welt der Welt entfliehen" von Siegmund Birken, benutzt zwei verschiedene Bedeutungsschattierungen von „Welt", nämlich die „böse" Welt, welcher der Christ entflieht, und das Sein in der Welt. Noch in M. Heideggers Formulierung der „Verfallenheit an die Welt" spielt diese Bedeutung von Welt als „arge", böse Welt mit.
Im allgemeinen Sprachgebrauch ist die Verwendung des Wortes Welt außerordentlich vielfältig. Aus dem zeitlichen Begriff, der christlich-lateinischen Ursprungs war, wird die Bezeichnung des diesseitigen, zeitverhafteten Daseins und alles Daseienden. „ W e l t " wird zum Inbegriff dessen, was nicht himmlisch, göttlich, ewig ist. Der Begriff enthält die Unterscheidung von dieser und jener Welt. Die Welt ist vergänglich. Einwirkungen der lateinisch-griechischen Vorstellungen von der Entsprechung zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos (-»Makrokosmos/Mikrokosmos) führen außerdem in der Neuzeit zu einer neuen Akzentsetzung im Weltbegriff. Welt verbindet sich nun einerseits mit der Vorstellung eines naturwissenschaftlichen Weltbildes, französisch monde, und bezeichnet dann andererseits seit dem 18. J h . metaphorisch ein abgeschlossenes Ganzes. „ W e l t " bezeichnet die Ganzheit eines Bereiches, auch die Gesamtheit der sinnlich und geistig erfaßbaren Erscheinungen und Sachverhalte. Der Begriff „ W e l t " ist mithin ein überaus schillernder und diffuser Begriff von außerordentlicher Bedeutungsvielfalt. Der Weltbegriff entsteht von Hause aus durch eine Synthese aus antiker Kosmos-Idee und christlichem Schöpfungsbegriff. Welt und die jeweilige Interpretation dieses Wortes, als Lebensraum des Menschen, ist abhängig von der gesamten Lebens- und Weltanschauung. Wesentliche Veränderungen des Weltverständnisses brachte vor allem die moderne Naturwissenschaft mit ihrem veränderten -»Weltbild, ihrer -•Weltanschauung. Der Begriff Welt ist also, für sich genommen, rein formaler Art. Er bezeichnet einen Seins-Bestand, eine Vielfalt als Einheit. „Der kategorial leere Begriff empfängt seinen Inhalt durch z. T. heterogene Elemente, die das durch ihn ausgesagte Bezugssystem defi-
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Kirche u n d Welt
n i e r e n " ( G . G l o e g e : R G G 3 6 , 1595). M a n s p r i c h t b e i s p i e l s w e i s e v o n e i n e r „ W e l t " Arbeit, des Sportes, der Sprache, des Glaubens usw., aber auch der „Welt der Antike", M i t t e l a l t e r s , d e r G r i e c h e n . Welt b e z i e h t sich f o r m a l a u f e i n e T o t a l i t ä t , ein U n i v e r s u m . B e d e u t u n g s b r e i t e l ä ß t sich a n d e n K o m p o s i t a v o n W e l t v e r d e u t l i c h e n : Sie r e i c h e n W e l t a c h s e ü b e r W e l t k i n d (Lk 16,8) u s w . b i s z u W e l t z w e c k .
der des Die von
Die Komposita enthalten im wesentlichen zwei begriffliche Schwerpunkte: Einmal bezeichnet Welt häufig eine Universalität, die Dimension des „Welt"weiten, Globalen, z.B. Weltatlas, Weltbester, Welthandel, Weltherrschaft, Weltkrieg, Weltmarkt, Weltmeister. Z u m anderen beschreibt Welt eine Einstellung zur Welt, eine Haltung (z.B. Weltbejahung, Weltflucht, Weltüberdruß, Weltverachtung). Ein nur im Deutschen nachweisbares Wort ist „Weltfrömmigkeit". Hinter dieser Einstellung zur Welt („Weltanschauung") steht des weiteren gelegentlich die ursprüngliche Unterscheidung von weltlich und geistlich, etwa im Begriff Weltgeistlicher, Weltpriester, dem saecularis, dem in der Welt lebenden Kleriker, im Unterschied zum Mönch, der sich aus der Welt zurückgezogen hat (spiritualis). Auch hinter Worten wie Weltüberwindung oder Weltweisheit steht diese Unterscheidung von weltlich und geistlich. Wortverbindungen wie Alltagswelt, Arbeitswelt, Innenwelt, Ideenwelt, Lebenswelt usw. bestätigen die Vielfalt der Zusammenhänge, auf welche das Wort „Welt" sich bezieht. In Verben wie „entweltlichen" (R. Bultmann formuliert: Der Glaube „entweltlicht") und „verweltlic h e n " (säkularisieren) tritt nochmals der im Wort „Welt" angelegte Gegensatz von weltlich-geistlich, diesseitig-jenseitig zu Tage. Mit L. -»Wittgenstein kann man schließlich feststellen: „Die Welt ist alles, was der Fall ist" (Tractatus Logico-Philosophicus, Satz 1). D i e s e U n s c h a r f e d e s Begriffs Welt v e r f ü h r t z u G l o b a l f o r m u l i e r u n g e n w i e „ G o t t u n d W e l t " o d e r a u c h „ K i r c h e u n d W e l t " . In d e r a r t i g e n F o r m e n ist n i c h t z u e r k e n n e n , o b sie s y n t h e t i s c h - a d d i t i v - e n t s p r e c h e n d d e m h e b r ä i s c h e n „ H i m m e l u n d E r d e " als Bezeichn u n g d e s Alls (die h e b r ä i s c h e S p r a c h e k e n n t k e i n b e s o n d e r e s W o r t f ü r „ W e l t " ) - o d e r a n t i t h e t i s c h g e m e i n t s i n d (Welt als d a s N i c h t - G ö t t l i c h e , K i r c h e als G e g e n b e g r i f f z u Welt). A m Begriff „ W e l t v e r a n t w o r t u n g " ( u n d s e i n e r u n k l a r e n V e r w e n d u n g in d e r e v a n g e l i s c h e n S o z i a l e t h i k ) k a n n m a n diese D o p p e l d e u t i g k e i t a u f z e i g e n : W e l t v e r a n t w o r t u n g k a n n einmal die ökumenische, weltweite, globale Verantwortung meinen. D a s Wort k a n n aber a u c h d a z u d i e n e n , e i n e n spezifisch „ w e l t l i c h e n " A u f t r a g d e r K i r c h e , im U n t e r s c h i e d z u m „eigentlichen", geistlichen, kirchlichen zu benennen. I m Begriff , W e l t ' v e r e i n e n sich d r e i t h e o l o g i s c h b e d e u t s a m e M o t i v e : a) Der Weltbegriff, der für die Theologie von Belang ist, bildete sich aus einer Verbindung von christlichen und antiken Vorstellungen. Der biblische Schöpfungsglaube betont die Distanz von Gott und Welt und lehnt einen Pantheismus oder Panentheismus ab. Der dogmatische Satz von der creatio ex nihilo verweist auf die Weltüberlegenheit Gottes. Dennoch wird die Welt nicht als böse verworfen (wie im gnostischen oder manichäischen Dualismus). Die Billigungsformel von Gen 1,31 gibt der Welt, der Schöpfung einen Eigenwert. Die prinzipielle Beurteilung von Welt, die Einstellung zur Welt gibt im christlichen Glaubensverständnis der Schöpfungsglaube. Der Schöpfungsglaube unterscheidet Gott den Schöpfer von der Welt als seiner Schöpfung. Die Welt ist endliche Welt, befristete Zeit (I Kor 7,31; 1. Joh 2,17). Der biblische Schöpfungsglaube konnte sich mit der antiken Kosmosvorstellung von der Welt als Ordnung verbinden; er gerät freilich in Spannungen zur antiken Vorstellung von einer Weltseele, einer Allnatur. b) Der Weltbegriff ermöglicht einen Pluralismus von Perspektiven der Weltbetrachtung. Die Unterscheidung von Außenwelt und Innenwelt stellt eine wesentliche Differenz in einer möglichen Weltbetrachtung heraus: Binnenbetrachtung und Außenbetrachtung können divergieren; dies gilt gerade auch für die Sicht des Verhältnisses von Kirche und Welt, die nach einer Betrachtung „von innen" und „von a u ß e n " sehr unterschiedlich ausfallen kann. Die Vielfalt der Perspektiven zieht die Unscharfe des Begriffs Welt nach sich. c) Welt ist zeitlich. Die Geschichtlichkeit von Welt und deren Bedeutung führt zu einer Geschichte von Weltdeutungen und Weltanschauungen. Welt ist Geschehen, Dynamik. Veränderung kennzeichnet das Dasein der Welt. Die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Welt, wie sie sich heute stellt, ist ein Problem der neuzeitlichen Welt. Das Weltverständnis des Christen wird infolge der Weltdeutung in Wissenschaft und Öffentlichkeit strittig. Verweltlichung der Welt, „Säkularisierung" des Bewußtseins, Autonomie stellen den tradierten Weltbezug der Kirche und des Glaubens in Frage. Die Welt als die Gesamtheit von Natur und Kultur trennt sich von Kirche und Religion. Die Welt wird als Produkt des Menschen begriffen; Weltgestaltung wird zur menschlichen Aufgabe. Denn Welt ist menschlicher Entwurf, „Welt des Menschen". Zugleich stellt sich das Problem der Welt-
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Orientierung, der Sinnhaftigkeit von Welt, verschärft. Welt wird erst infolge der Sinnkonstitution, welche der Mensch leistet, verstehbar und ein begreifbares Ganzes. Sie wird zur „Vorstellung" und ist nicht mehr objektiv feststellbare Wirklichkeit, ontologische Faktizität. Nach Kant (Kritik der reinen Vernunft A684/B712) ist Welt gerade kein möglicher Gegenstand von Erkenntnis, sondern eine regulative Idee, der gedachte Inbegriff aller Gegenstände, die Totalität der Synthesis. Welt konstituiert sich für den Menschen erst durch eigenes Erkennen und Handeln. Der Mensch ist „in der Welt"; dadurch hat er ein Verhältnis zur Welt.
1.2. Die Unbestimmtheit des Verhältnisses von Kirche und Welt. Der Unbestimmtheit und Weite des Weltbegriffs entspricht die Unscharfe der Relation von Kirche und Welt. Dabei ist auch der Begriff der -»Kirche nicht eindeutig: Was wird als Kirche bezeichnet: die verfaßte Kirche, das Kirchentum, die „Amtskirche", die Hierarchie oder die Gesamtheit aller Christen, das Kirchenvolk? Die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche, von leiblicher, äußerer und geistlicher, innerer Christenheit ist ebenfalls für die Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Welt grundlegend und ausschlaggebend. J e nachdem, ob man unter Kirche die Gesamtheit aller Christen oder nur Amtsträger, kirchliche Gremien versteht, verschiebt sich die Perspektive von drinnen und draußen. Der Christ als „Laie" lebt im -»Beruf, im Alltag der Welt. Er hat ein „Weltamt". Solche Weltlichkeit christlichen Glaubens ist freilich von einer Zuständigkeit und einem Weisungsauftrag kirchlicher Instanzen, Organisationen in „weltlichen" Angelegenheiten zu unterscheiden. Wollte man das Verhältnis von Kirche und Welt umfassend erörtern, so müßte man insgesamt die Stellung der Kirche zum -»Staat (-»Kirche und Staat), zur -»Kultur, zum Alltagsleben durch die Kirchengeschichte hindurch wie in ihren aktuellen Problemen darstellen. Das Thema „Kirche und Welt" erweitert sich dann zum Thema Kirche in der Welt, wobei die geschichtlichen Wandlungen der Welt und ihre Rückwirkungen auf die Kirche zu berücksichtigen sind. Auch schließt diese Thematik die Beziehung von Glaube und Theologie zu Weltanschauungen, Ideologien, Wissenschaftssystemen und Weltdeutungen ein. Fundamental für den christlichen Glauben ist jedenfalls die Unterscheidung von „Welt" und Heil, von weltlich und geistlich, saecularis und spiritualis. Diese Unterscheidung kann auf verschiedene Weise erfolgen, als Unterscheidung von sacerdotium und imperium, von civitas terrena und civitas dei, von zwei Reichen, Regierweisen Gottes, von zwei Relationen ( c o r a m deo und corarn mundo), von Heil und Wohl, von temporalia und spiritualia. In ihrer jeweiligen geschichtlichen (und konfessionellen) Ausformung ist diese Unterscheidung außerordentlich variabel. Zwei epochale Fehldeutungen, „Häresien" im Verhältnis von Kirche und Welt begleiten dabei das Christentum in seinen Weltbeziehungen. Karl Rahner nennt diese Fehldeutungen „Integralismus" und „Esoterismus". Weithin üblich ist auch die Bezeichnung der zwei Extreme als „Säkularisierung" der Kirche und „Sakralisierung". „Integralismus" versteht und würdigt Welt nur als Gegenstand kirchlichen Handelns und Mittel kirchlicher Selbstdarstellung. Die Welt hat keinen legitimen Eigenstand, keine rechtmäßige „Eigengesetzlichkeit" und Eigenlogik. Erst durch das Handeln der Kirche gewinnt die Welt ihre Würde und Legitimität. Die mittelalterlichen Theorien von der potestas directa der Kirche auch im weltlichen Bereich, einer potestas indirecta in temporalibus oder einer potestas directiva gehen von der Prämisse aus, daß die Welt in allem der „Heiligung" durch die Kirche bedürfe. Die Folge dieser Fehldeutung des Kirche-Welt-Verhältnisses im Integralismus ist in praktischer Hinsicht ein Klerikalismus, ein theokratischer Anspruch. Die Kirche beansprucht dann auf allen Lebensgebieten für sich Allzuständigkeit und Alleinzuständigkeit. Sie gerät dabei freilich notwendig in Spannung zur Uberzeugung christlichen Glaubens, wonach zwar die gesamte Welt als Schöpfung sich Gottes Wirken verdankt, aber nicht erst das Wirken der Kirche die Welt in allen ihren Bezügen zu erhalten und zu gestalten vermag. Der „Esoterismus" hingegen zieht aus der fehlenden Allzuständigkeit der Kirche den umgekehrten Schluß, der christliche Glaube habe es nur mit dem Heil der einzelnen Seele zu tun. Der Schluß einer prinzipiellen Weltflucht und Weltdistanz der Christen wird aus solcher unzulässigen Entgegensetzung von Heil und Wohl gezogen. Die fehlende Allzuständigkeit der Kirche in weltlichen Dingen wird als Nichtzuständigkeit interpretiert. Man verzichtet deshalb darauf, den Glauben überhaupt
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auf Welt zu beziehen. Der Glaubende lebt vielmehr grundsätzlich „entweltlicht". Zur Begründung für diese Weltflucht kann nicht nur ein Dualismus von Heil und Welt herangezogen werden, der alles „Weltliche" einer absoluten und geschlossenen Eigengesetzlichkeit unterworfen sieht und darum der Zuständigkeit christlichen Glaubens entzogen sein läßt, sondern auch eine prinzipielle Verwerfung der bösen Welt. Christsein heißt in diesem Fall, die Welt verlassen - ein Motiv, das die mönchische -»Askese seit ihren Anfängen und in ihrer Geschichte oft geprägt hat. Der Esoterismus begründet eine Gleichgültigkeit gegenüber der Welt, den sozialen Verhältnissen, dem Unrecht der Welt und den Nöten der Zeit.
Eine sachgerechte Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Welt wird die Fehldeutung beider Extreme vermeiden müssen. Es geht also um die Bestimmung der richtigen Mitte im Verhältnis von Kirche und Welt. Dabei ist diese Mitte nicht im Sinne eines schlechten Kompromisses zu verstehen, sei es, daß man auf den integralistischen Anspruch nur deshalb verzichtet, weil sich die Welt faktisch einer kirchlich-religiösen Integration verweigert und entzieht, sei es, daß sich die esoterische Trennung und der Rückzug aus der Welt praktisch nicht durchhalten läßt. Vielmehr geht es um die Wahrnehmung einer notwendigen Beziehung mit Hilfe einer Unterscheidung von Kirche und Welt, der Unterscheidung weltlicher und geistlicher Zuständigkeit, der Verbindung von Einheit und Differenz. Diese Unterscheidung in der Zusammengehörigkeit ist insbesondere das Grundanliegen der reformatorischen —•Zweireichelehre. Sie gibt eine fundamentaltheologische Theorie der Wirklichkeit, indem sie „Fundamentalunterscheidungen" vollzieht: Gott und Welt, coratn deo und coram mundo, Glaube und Werke, Schöpfung und Erlösung werden unterschieden - aber gerade nicht getrennt. Solche Unterscheidungen lassen sich nicht schematisch in Form rechtlicher Kompetenzen und festgelegter Funktionen fixieren. Immerhin wird man zwischen Zuständigkeiten der Amtskirche, der Kirche als —»Institution und Aufgaben der Christen unterscheiden können und müssen. Amtskirche und kirchliche Gremien können in der Regel für sich keine direkte politische oder wirtschaftliche Zuständigkeit beanspruchen. Sie werden sich in ihren Äußerungen und Stellungnahmen auf das Grundsätzliche und die Voraussetzungen politischer und ökonomischer Entscheidungen beschränken müssen. Dies ist freilich weniger eine Folge politischer oder rechtlicher Beschränkung kirchlicher Zuständigkeit „von außen" her, als vielmehr Aufgabe kirchlicher Selbsterkenntnis und Selbstbeschränkung „von innen" heraus. Christen ihrerseits handeln und leben in ihrem Beruf und Weltamt in der Welt und sind auch in diesem Beruf als Christen verantwortlich. Kirchliche Weisung und Autorität kann im Regelfall die eigene Urteilsbildung und Entscheidung nicht abnehmen. Das Verhältnis des Christen an seinem Weltort, im Beruf, in der Alltagswelt zu den von ihm jeweils zu treffenden und zu verantwortenden Entscheidungen ist ein anderes als das von kirchlichen Instanzen, die nicht aus direkter Betroffenheit und Verantwortung, sondern aus einer gewissen Distanz heraus werten, urteilen und fordern. Jedes christliche Urteil über die Welt wird ferner im konkreten Einzelfall die Ambivalenz weltlicher Phänomene zu bedenken haben: ihre Offenheit für böse und gut, entsprechend dem reformatorischen Wirklichkeitsverständnis, wonach Mensch und Welt simul iustus et peccator sind.
Im Einzelfall ist die Grenzbestimmung in der Unterscheidung von Glaube und Welt, von Weltverfallenheit oder Weltflucht häufig schwer zu ziehen. Grenzüberschreitungen, sei es in Richtung auf einen Integralismus, sei es in Richtung auf eine esoterische Weltverachtung und Weltflucht, ereignen sich immer wieder. Entscheidend ist für die grundsätzliche Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Welt, daß überhaupt eine Einsicht in die theologische Notwendigkeit der Unterscheidung von coram deo und coram mundo, von kirchlichen und weltlichen Zuständigkeiten besteht; sodann, daß die geschichtliche Bedingtheit des Verhältnisses von Kirche und Welt bedacht wird; und schließlich, daß eine legitime Eigenständigkeit, der Eigenstand der Welt anerkannt wird und eine Sensibilität für falsche Grenzziehungen vorhanden ist. 1.3. Die Neubestimmung des Weltverhältnisses durch das —• Vatikanum II. Eine Neubestimmung der Stellung der Kirche zur und in der neuzeitlichen Welt für den römischen Katholizismus traf das 2. Vatikanische Konzil. Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes („Über die Kirche in der Welt von heute") ist keine dogmatische Erklärung, sondern vom
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pastoralen Anliegen geprägt, eine existentielle Solidarität der Menschen in der Kirche mit den Menschen in der Welt und mit den Problemen der heutigen Welt zu bezeugen. Die Soziallehre kehrt sich von einem essentialistischen und ontologischen Denken ab und wird ihrerseits selbst geschichtlich verstanden. Die Pastoralkonstitution geht methodisch nach dem Schema vor: Analyse einer Situation (bzw. einer Anschauung, Theorie); Beurteilung auf einer Grundlage, die allen Menschen zugänglich ist (Rationalität, Naturrecht), wie im Licht des christlichen Glaubens; sowie Hinweis auf Konsequenzen, die aus Situationsanalyse und Beurteilung zu ziehen sind. In Abkehr von einer integralistischen, vorkonziliaren Weltsicht anerkennt das Konzil ausdrücklich die Unantastbarkeit der W ü r d e der menschlichen Person (Art. 12). Diese Anerkennung der Personwürde begründet auch das Recht der Religionsfreiheit. Artikel 1 9 - 2 1 gehen pastoral auf den Atheismus ein, argumentieren also nicht apologetisch und aus dem Blickwinkel kirchlicher Disziplin. Artikel 3 6 spricht von der richtigen Autonomie der irdischen Wirklichkeit. In einer Fußnote wird auf den Fall ->Galilei verwiesen. Das Konzil hat hier zwar nicht offen ein Fehlverhalten der katholischen Kirche gegenüber der modernen Naturwissenschaft eingestanden, betont jedoch für Natur und Gesellschaft, daß die geschaffenen Dinge „ihre eigenen Gesetze und Werte haben, die der Mensch schrittweise erkennen, gebrauchen und gestalten m u ß " . Mit dieser Betonung der „richtigen Autonomie der irdischen Wirklichkeit" vollzieht das Konzil die Öffnung zur Welt hin. Art. 4 2 beschränkt die Sendung der Kirche ausdrücklich auf die religiöse Ordnung. Diese Feststellung enthält eine Absage an die mittelalterliche Zweigewaltenlehre.
Das Stichwort „Dialog" ist insgesamt kennzeichnend für die Haltung des 2. Vatikanischen Konzils gegenüber der heutigen Welt. Die Kirche tritt der „Welt", der Gesellschaft nicht doktrinär mit autoritativen Lehren und Forderungen gegenüber. Sie sucht pastoral, seelsorgerlich Nöte und Freuden der Welt zu teilen. Damit verlieren kirchliche Forderungen zwar formal an Verbindlichkeit. Sie gewinnen jedoch damit einen neuen Zugang zur Wirklichkeit der Welt. Gegenstand des Dialogs zwischen Kirche und Welt sind alle heutigen Lebensfragen: Menschenrechte; Kultur; Ehe und Familie; Wirtschaft; Politik und staatliche Ordnung; Friede. Eine besondere Aufmerksamkeit richtet die katholische Kirche seit der Enzyklika Populorum progressio 1967 auf die Weltentwicklung, auf Entwicklungspolitik und -hilfe und die Ordnung der Weltwirtschaft. 1.4. Die neuzeitliche „Welt" als säkularisierte Welt. Das Verhältnis von Kirche und Welt hat in der Neuzeit, verglichen mit vorneuzeitlicher Kultur und Gesellschaft, eine spezifische Fassung erhalten infolge des Phänomens der Säkularisierung. Der Begriff der -*•Säkularisierung ist freilich außerordentlich vielschichtig und umstritten. Das Wort Säkularisation wurde in seinem spezifischen Sinn einer Verwandlung von kirchlichem Vermögen in Staatsbesitz erstmals vom französischen Gesandten in den Vorverhandlungen zum Westfälischen Friedensvertrag am 8 . 4 . 1 6 4 6 benutzt ( J . G . von Meiern, Acta Pacis Westphalicae publica II, 15 § 14). Das Phänomen der Säkularisation als solches, der Verweltlichung von -»Kirchengut ist freilich älter. Nicht nur in christlichen Herrschaftsbereichen fand immer wieder eine derartige Umwidmung statt. Das Deutsche Reich kennt drei große Säkularisationsepochen: die der Fränkischen Zeit unter Karl Martell ( 7 1 5 - 7 4 2 ) , die der Reformation und Nachreformationszeit, beispielsweise mit der Umwandlung des Gebiets des Deutschen Ritterordens in das weltliche Herzogtum Preußen (1525), sowie die der Säkularisation des Klosterbesitzes in evangelischen Territorien und schließlich den Reichsdeputationshauptschluß (1803). Aus dem politisch-rechtlichen Begriff Säkularisierung wurde der ideenpolitische und ideologiekritische Begriff der Säkularisierung.
Säkularisierung ist eine umstrittene Kategorie, welche die Emanzipation neuzeitlicher Welt von religiöser Bevormundung und die Profanisierung auf den Begriff bringen will und deuten soll. Die mittelalterliche Lebenswelt betrachtete im ->Corpus Christianum Kirche und Welt durchgängig als Einheit, so daß auch die politische Welt als christlich empfunden wurde (sacrum imperium) und sowohl innerlich auf den geistlichen Bereich hingeordnet als auch institutionell mit der Kirche verknüpft war. Auch die mittelalterliche Philosophie verstand sich nicht als eigenständige weltliche Wissenschaft, sondern war eine der Theologie untergeordnete Disziplin. Eine Scheidung von geistlichem, im Sinne von kirchlichem, und weltlichem Bereich entwickelte sich im politischen Raum erst
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seit dem -»Investiturstreit. Diese Entwicklung verstärkte sich in der R e f o r m a t i o n infolge der Konfessionsspaltung. Vor allem aber ist die Säkularisierung in Gestalt der T h e o r i e eines rein weltlichen Staatsverständnisses letztlich von der Aufklärung bewirkt w o r d e n . Die Aufklärung (H. Grotius, S. Pufendorf, P. Bayle) forderte nämlich den toleranten und religiös-neutralen Staat. Die mittelalterlich-traditionelle Sicht eines geschlossenen, Kirche und Welt gleichermaßen übergreifenden christlichen Weltverständnisses mitsamt dessen Wert- und Ordnungssystem wird in der - » N e u z e i t aufgebrochen. Die Säkularisierung, „Verweltlichung" der Welt und eine Pluralisierung der religiösen Überzeugungen und Weltanschauungen entsprechen sich. Zugleich wird Säkularisierung zur Streitfrage um die „Legitimität der N e u z e i t " (H. Blumenberg). Blumenberg bezeichnet Säkularisierung als eine Unrechtskategorie. Denn strittig ist nach ihm, inwieweit die profane, säkulare Welt des 19. und 2 0 . J h . überhaupt von einem christlichen E r b e s t a m m t und geprägt ist. Sind die Menschenrechte Säkularisierung christlichen, vor allem reformatorischen FreiheitsVerständnisses? Haben der Fortschrittsgedanke und die innerweltlichen R e f o r m und Revolutionsvorstellungen, vornehmlich die neuzeitliche - » U t o p i e , tatsächlich die christlichen Hoffnungsgedanken der - » E s c h a t o l o g i e und des - » C h i l i a s m u s beerbt? Ernst Bloch hat die eschatologische Hoffnung in ein „Prinzip H o f f n u n g " säkular-atheistisch transformiert; K. L ö w i t h erklärt die m o d e r n e Geschichtsphilosophie als Folge der Säkularisierung der christlichen Eschatologie. M a x Webers berühmte Kapitalismusthese sah den Ursprung der neuzeitlichen Wirtschaft in einer religiösen Wurzel. Jedenfalls ist die F r a g e nach Folgewirkungen oder gar n a c h einem bleibenden E r b e christlichen Glaubens und kirchlichen Wirkens ein Schlüsselproblem des unter dem Stichwort „Säkularisier u n g " erörterten Verhältnisses von Kirche und Welt. Dieser Vorgang zunehmender Differenzierung, z. T. sogar Dichotomisierung von Kirche und Welt läßt sich in mehrfacher Hinsicht betrachten. Unter rechtlicher Perspektive geht es vor allem um das Verhältnis von Staat und Kirche und um deren wechselseitige rechtliche Beziehungen im -»Staatskirchenrecht. Diese Perspektive kann sich politisch erweitern zur Frage der Beziehung zwischen Kirche und -»Politik. Im Kulturkampf des 19. Jh. wie im Kirchenkampf des 20. Jh. (-»Nationalsozialismus und Kirchen) war dies ein Streitpunkt. Dabei geht es um die Abgrenzung zwischen zulässiger und unzulässiger kirchlicher Einflußnahme auf politisch-weltliche Entscheidungen. „Säkularisierung" benennt in diesem Zusammenhang die Aufgabe der Unterscheidung zwischen fragwürdigen kirchlichen, klerikalen Ansprüchen und legitimer öffentlicher Stellungnahme der Kirche zu politischen Sachverhalten. Unter wissenschaftlicher Perspektive geht es um die Befreiung und Verselbständigung der Wissenschaften von kirchlicher Aufsicht und Normierung. Dieser Prozeß vollzog sich zuerst in den Naturwissenschaften (Kopernikus, Galilei), dann in den Geisteswissenschaften (z.B. das Autonomieprinzip der Ethik Kants). Solchem Streben der Wissenschaften nach Autonomie haben die Kirchen noch im 20. Jh. widersprochen (vgl. z.B. in der katholischen Kirche den Antimodernisteneid, 1910, in evangelischen Kirchen die Ablehnung des Weltbildes der Evolution mit Berufung auf einen fundamentalistisch verstandenen Schöpfungsglauben). Säkularisierung wird hier als Loslösung der Welt von Kirche und Religion, als Abfallprozeß der neuzeitlichen Geschichte gedeutet und kritisiert. Die theologische Reflexion hat die Verweltlichung, die Säkularisierung lange Zeit nur negativ bewertet. Eine positive Auslegung hat Friedrich -»Gogarten gegeben. Er unterscheidet Säkularisierung als legitime Folge christlichen Glaubens von „Säkularismus" als ideologischer Verabsolutierung. Eine legitime Säkularisierung unterscheidet zwischen Gottesverhältnis und Weltbezug. Der Glaube hält sich im „Rückhalt" und setzt dadurch vernünftige Verantwortung in der Welt frei. Säkularismus dagegen verklärt die Weltlichkeit zur Diesseitsreligion. Für die theologische Deutung der Säkularisierung wurde ferner Dietrich -»Bonhoeffers Auffassung von mündiger Welt wichtig. Die Anerkennung der Mündigkeit der Welt und die Forderung nach einer nichtreligiösen Interpretation wurde z.T. hermeneutisch (Postulat nicht-religiöser Sprache), teils ekklesiologisch (weltliche Gestalt der Kirche) interpretiert, schließt aber auch gesellschaftstheoretisch an die Zuordnung von Kirche und Welt im -»Kulturprotestantismus an. Bereits Richard -»Rothe hat im 19. Jh. die Säkularisierung der Kirche gefordert, freilich unter der Voraussetzung einer christlichen Durchdringung der Welt. Im Gedanken einer „Christlichen Welt" (Martin Rade, Ernst Troeltsch) wurde ebenfalls die Säkularisierung der Kirche ins Positive gewendet, eine Vorstellung, die von Trutz Rendtorff mit dem Entwurf einer Theorie der Christentumsgeschichte aufgenommen wird. Über den Einfluß der institutionalisierten Kirche auf die Gesellschaft hinaus sollen die Wirkungen des Christentums auf die
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moderne Welt analysiert werden. Säkularisierung ist hier oftmals eine Optimierungskategorie. Säkularisierung wird in dieser Sicht nicht kirchen- und religionskritisch als Geschehen der Entsakralisierung, der „Entzauberung" der Welt ( M a x Weber) verstanden, sondern positiv als Profanisierung im Sinne einer reformatorisch verstandenen Befreiung zu echter Weltlichkeit. Diese Argumentation hat auf katholischer Seite J . B . Metz in seiner „Theologie der Welt" aufgegriffen und als Politische Theologie formuliert.
In der innerkirchlichen Diskussion kann sodann die -»Kirchensoziologie das Thema der Säkularisierung im Blick auf das Verhältnis von Kirche und Welt unter der Fragestellung aufgreifen, ob nicht eine verstärkte Sakralisierung und Hierarchisierung innerkirchlicher Zuständigkeiten und Kompetenzen einen Macht- und Bedeutungsschwund der Kirche für die alltägliche Lebenswelt zur Folge hat. Die binnenkirchliche „Verkirchlichung" der Lehrautorität und des Zentralismus führt nämlich zur Antithese von außerkirchlicher „Welt" und sich als eigenständigem Sozialgebilde verfestigender, kirchlicher Organisation und Bürokratie. Das Problem der Emanzipation der Welt von der Kirche, der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der Lebensbereiche wird damit auch zum Organisations- und Strukturproblem der Kirche selbst. Wissenssoziologisch und kulturphilosophisch läßt sich darüber hinaus fragen, ob eine völlige Loslösung der Welt von religiöser Sinngebung und von Kirche, welche Lebensdeutung vermittelt, auf die Dauer überhaupt möglich ist oder Kultur und Gesellschaft nicht grundsätzlich einer religiösen Sinngebung und Wertvermittlung bedürfen. Im Begriff einer civil religiort oder in der Vorstellung von der Kirche als „Seele der Gesellschaft" wird diese Frage artikuliert. Diese Betrachtung der Säkularisierungsthematik unter verschiedenen Perspektiven zeigt, daß a) das Verhältnis von Kirche und Welt eine spezifische Frage neuzeitlicher Selbst- und Weltdeutung ist, daß b) dieses Verhältnis nicht einlinig zu deuten ist, sei es mit Hilfe einer Beerbungsthese oder sei es mit Hilfe einer Abfallstheorie, und daß c) schließlich die Frage sich mit grundsätzlichen und weitreichenden Auffassungen von Zeit- und Weltverständnis verbindet. Denn in der Säkularisierungsdebatte werden Legitimationsdefizite und Sinnfragen erörtert, die eine rein autonom-säkular sich begreifende Gesellschaft von sich aus nicht zu bewältigen und zu beantworten vermag. Kirchen und Kultur, Soziologie wie Anthropologie (vgl. W. Pannenberg) haben daher fundamentaltheologische Problemstellungen unter dem Begriff Säkularisierung aufgeworfen, welche die Stellung der Kirche zur Welt in ein neues Licht rücken. In der Spannung von religionskritischer Negation von Kirche und kritikloser Affirmation der Welt in Form der jeweiligen Gesellschaft seitens der Kirche zeigt sich vielmehr, daß die „reine" Weltlichkeit, die völlige Rationalität und totale Vernünftigkeit von Welt eine Täuschung ist und daß die Emanzipation vom christlichen Glauben nicht nur legitime Autonomie, Selbständigkeit der Welt und humane Profanität bewirken kann, sondern teilnimmt an den jeweiligen geschichtlichen Zweideutigkeiten von Welt und Zeit. 1.5. Kirche und Schöpfung. Einen neuen Aspekt und damit neue Fragestellungen hat neuerdings die Diskussion um das Verhältnis von Kirche und Welt durch die ökologische Krise, die Gefährdung der Umwelt gewonnen (-»Ökologie). Die Frage nach der Stellung der Kirche zur Welt wird aufgrund dieser geschichtlichen Erfahrung zur Frage nach der Stellung der Kirche zur -»Schöpfung, zur -»Natur. Denn auch wenn die Kirche sich selbst als „neue" Schöpfung, als „erlöste" Welt versteht und bezeichnet, bleibt sie doch als Kirche in der Welt Teil der Schöpfung und der Natur. Aus dem Schöpfungsglauben folgt eine Umweltverantwortung. Die Themen Schöpfungslehre und Schöpfungsverantwortung standen in evangelisch-theologischer Dogmatik und Ethik traditionell am Rand. Die Schöpfungslehre wurde durch eine umfassende Christozentrik (z. B. bei Karl Barth) umgriffen. Theologischer Personalismus und die Interpretation des Glaubens als Existenzvollzug blendeten den Weltbezug und die außermenschliche Welt aus (z. B. R . Bultmann). Die Schöpfungsthematik wird reduziert auf die existentielle Situation des Menschen und die kerygmatische Anrede an den Menschen in der Welt. Zwar hatte die Schöpfungslehre herkömmlich nach wie vor ihren Ort in der Anthropologie (der Mensch als Geschöpf, als imago dei.
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die Einheit von Leib und Seele). Aber die theologische Kosmologie wurde im wesentlichen bestimmt von der Auseinandersetzung mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild der Neuzeit, mit Theorien der Weltentstehung und vor allem mit der Evolutionslehre Darwins. Diese traditionelle apologetische Auseinandersetzung um die Vereinbarkeit von biblischem Schöpfungsglauben und neuzeitlicher Naturwissenschaft wird nunmehr durch die Einsicht in die Gefahren der Weltzerstörung und des ökologischen Untergangs überlagert und verändert. Die im Gefolge der Auseinandersetzung zwischen Schöpfungstheologie und Naturwissenschaft im 19. und 20. J h . eingebürgerte scharfe Trennung zwischen theologischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnis der Natur und Schöpfung ist damit prinzipiell infragegestellt. Die vor allem von der -»Dialektischen Theologie vertretene These, Theologie und Naturwissenschaften würden zwei völlig verschiedene Erkenntnisweisen vertreten, läßt sich so nicht mehr aufrechterhalten. Die „Welt"erkenntnis naturwissenschaftlicher Forschung, der Aufweis von systemimmanenten Strukturen und Prozessen, erweist sich auch theologisch als bedeutsam. Die Fragestellung verlagert sich freilich aus der Erkenntnistheorie in die Ethik. Der Versuch, den Glauben - unter Berufung auf die Nichtobjektivierbarkeit des Glaubensvollzuges - von der „natürlichen", naturgegebenen Wirklichkeit der Welt zu lösen und von „weltlichen" Bedingtheiten freizuhalten, ist damit gescheitert. Die Wirklichkeit der Schöpfung gilt es vielmehr gerade als Einheit von Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit zu begreifen.
Diese Veränderung im Schöpfungsverständnis kommt auch im Verhältnis von Kirche und Welt zum Vorschein. Die „Weltverantwortung" der Kirche hat in besonderer Weise die Schöpfung und Natur einzubeziehen. Die Welt als Schöpfung ist Gabe Gottes, dem Menschen damit vorgegeben und seiner Fürsorge aufgegeben. Auch die Ordnung der Welt ist dem Menschen vorgegeben und von ihm zu beachten und zu achten. Eine „Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz", Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung (1985) hat, ausgehend von den Herausforderungen der ökologischen Krise, ethische, dogmatische und kirchlich-praktische Aufgaben angesprochen. Der Schöpfungsglaube verpflichtet die Kirche dazu, Welt und Natur als Verantwortungsaufgabe zu erkennen. Die „Erklärung" stellt dazu fest: „Die Wiederentdeckung der Welt als kreatürlich bewohnte und genutzte Schöpfung Gottes sowie als Mitkreatur steht uns eigentlich noch bevor" (Nr. 63). In der ethischen Diskussion werden u. a. kontrovers diskutiert die Anthropozentrik der Natur- und Weltbetrachtung, Eigenrecht und Eigenwert von Tieren und Natur, die Freiheit zum Verzicht (Askese, Verzicht auf wissenschaftlich-technische Bemächtigung, vor allem in der Energienutzung, Kernenergie und Biotechnik, Genforschung). Die Weltzuwendung der Kirche muß in dieser Hinsicht Gestalt gewinnen in einer ökologischen Ethik. Zugleich stellt sich die innerhalb der evangelischen Theologie weithin als obsolet betrachtete Thematik „natürlicher Theologie" thematisch neu und dringlich. Welche Bedeutung hat die „natürliche" Erkenntnis, die Erfahrung von Welt für die Erkenntnis Gottes und den christlichen Glauben? Wie verhalten sich die in der Welt, in der „Natur" gewonnenen Einsichten und Erfahrungen zur geschichtlichen Offenbarung in der Person Jesu von Nazareth als dem Heilbringer Christus? Auch wenn inzwischen weithin der mißverständliche und mißbrauchte Terminus „natürliche Theologie" durch die Formel „Theologie der Natur" ersetzt wurde, stellt sich damit erneut die alte Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Welt. Die Weltwirklichkeit ist als Schöpfungswirklichkeit in ihrer Vielschichtigkeit wie in ihrer, infolge der Verfallenheit der Welt (als Welt des Menschen wie als außermenschliche Natur) an die Macht der Sünde, evidenten Ambivalenz und Zweideutigkeit theologisch zu bedenken. Das Weltverhältnis, welches der Schöpfungsglaube prägt, greift allerdings nicht einfach alte Fragestellungen theologischer Kosmologie (Gott als Welturheber, Weltgrund, Weltursache, natürliche Kausalität und die Kontingenz göttlichen Schöpfungshandelns) in metaphysischer Gestalt wieder auf, sondern begreift die Wirklichkeit der Welt als Raum und Umwelt von Glaube und Kirche. Kirche als „Kreatur des Evangeliums" (M. Luther, WA 2, 430) und Schöpfung als von Gott erhaltene und auf Erlösung hoffende Welt werden durch die neue Wahrnehmung und Beachtung der natürlichen Umwelt als dem Lebensraum von Mensch, Tier und Natur in ein Wechselverhältnis gesetzt. Die fundamentaltheologischen Konsequenzen aus
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der Entdeckung dieses Wechselzusammenhanges sind bislang noch nicht zureichend geklärt. 2. Die Anrede der Kirche an die Welt 2.1. Welt als Öffentlichkeit. Welt wird durch Öffentlichkeit zur gemeinsamen Erfahrung von Menschen. Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet „Welt" oft die Gegenposition zu Kirche. Kirche und Welt werden in Form einer Selbstunterscheidung der Kirche von der Welt einander gegenübergestellt. An die Stelle des Wortes „Welt" können auch die Begriffe Gesellschaft, Öffentlichkeit treten. Öffentlichkeit ist der Schauplatz von Welt. Das kanonische Recht kennt den technischen Ausdruck forum zur Bezeichnung des Gerichtsstandes. Mit der Unterscheidung von forum internum und forum externum wird zwischen kirchlichen Rechtsakten unterschieden, die im Gewissensbereich gelten bzw. vor der Öffentlichkeit gültig sind. Die kirchenrechtliche Ausgestaltung und Bedeutung der Unterscheidung von forum internum und forum externum sowie die Verrechtlichung von Gewissensentscheidungen sind hier nicht zu erörtern. Wichtig ist in unserem Zusammenhang lediglich, daß von alters her zwischen Gewissensbereich und Öffentlichkeit bei Rechtsakten unterschieden wurde. Die Beziehung zwischen Kirche und Welt kann dann auch thematisch so formuliert werden: Kirche und Gesellschaft, Kirche und Öffentlichkeit, noch eingegrenzter: Kirche und neuzeitliche, „moderne" Welt. Die Frage der Rechtsstellung der Kirche in der Öffentlichkeit ist im Staatskirchenrecht zu bedenken. Unter ethischer Fragestellung ist im Blick auf das Verhältnis von Kirche und Welt aber auch die Aufgabe der Kirche zu bedenken, vor der Öffentlichkeit für den Schutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit des einzelnen und die Wahrung der persönlichen Privatsphäre einzutreten sowie auf die Gefahren öffentlichkeitswirksamer Darstellungen und Manipulation aufmerksam zu machen (z.B. in politischen Darstellungen, in der Werbung der Massenmedien). Der Begriff der -»„Öffentlichkeit", der zwar von Hause aus ein Freiheit ermöglichender Leitgedanke liberaler Demokratie und einer „offenen", kommunikativen Gesellschaft ist, ist nämlich nicht gefeit vor Mißbrauch (z. B. Einschränkung der Entscheidungs-, u. U. der Lebensfreiheit des einzelnen durch Propaganda, Werbung, öffentlichen Druck, Öffentlichkeit). Die Struktur der Öffentlichkeit ist auch bei der Anrede der Kirche an die Welt zu bedenken. Als Mittel der Anrede an die „Welt", die Öffentlichkeit hat die EKD das Instrument der Denkschriften entwickelt. 2.2. Öffentliche Stellungnahmen der Kirche 2.2.1. Praxis: Die Denkschriften der EKD. öffentliche Erklärungen der EKD. Für die öffentlichen Stellungnahmen, Äußerungen der EKD hat sich die Bezeichnung „Denkschriften" eingebürgert. Ergänzend zu den Bestandsaufnahmen in T R E 8, 49, 14 ff ist nachzutragen: Frieden wahren, fördern und erneuern, 1981; Solidargemeinschaft von Arbeitenden und Arbeitslosen. Eine Studie zur Arbeitslosigkeit, 1982; Grundsätze zur Weiterentwicklung der Rentenversicherung und Altersversorgung in der Bundesrepublik Deutschland, 1982; Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Wachsen und Weichen, Ökologie und Ökonomie, Hunger und Überfluß, 1984; Menschengerechte Stadt. Aufforderung zur humanen und ökologischen Stadterneuerung, 1984; Weltbevölkerungswachstum als Herausforderung an die Kirchen, 1984; Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, 1985; Die neuen Informations- und Kommunikationstechniken. Chancen, Gefahren, Aufgaben verantwortlicher Gestaltung, 1985; sowie eine gemeinsame evangelisch-katholische Stellungnahme Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung, 1985.
Die Frage nach kirchlicher Verbindlichkeit und theologischer Begründung von Denkschriften und kirchlichen Stellungnahmen zu gesellschaftlichen und politischen Themen ist nach wie vor strittig. Neben den Denkschriften, deren Inhalte, Argumentationen und Adressaten jeweils im Einzelfall zu bedenken sind, finden sich weitere grundlegende kirchliche Stellungnahmen:
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Ausgangspunkt der Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Welt war die Barmer Theologische Erklärung von 1934 (-»-Nationalsozialismus und Kirchen). Für die Klärung des Verhältnisses von Kirche und Welt nach dem 2. Weltkrieg wurde die Stuttgarter Erklärung zur Schuld der Deutschen vom 19. Oktober 1945 wegweisend. Die Stuttgarter Schulderklärung hinterläßt alles in allem allerdings einen „zwiespältigen Eindruck" (Greschat 109), da ihre Formulierungen im einzelnen nicht präzise und daher auslegungsfähig sind. Es sind denn auch unter Berufung auf die Erklärung unterschiedliche kirchenpolitische, politische und kirchliche Folgerungen gezogen und Entscheidungen getroffen worden, weil sich aus dem Text selbst die Unterscheidung zwischen kirchlichem Mandat und weltlicher Zuständigkeit nicht eindeutig ergibt. Eindeutig in seinen Aussagen und seiner Intention ist hingegen das Darmstädter Wort des Bruderrats der EKD „ Z u m politischen Weg unseres Volkes" (vom 8. August 1947), das angesichts der sich abzeichnenden Spaltung Deutschlands und der gegensätzlichen politischen Entwicklung in Ost und West in sieben Thesen Irrtümer ansprach und aus der Einsicht, daß „wir als Deutsche in unserem politischen Wollen und Handeln in die Irre gegangen sind", eine politische Option der Kirche mit theologischer Begründung ableitete. Strittig blieb, ob das Bekenntnis zur Versöhnungstat Gottes in Jesus Christus ein politisches Programm enthält und ob die Kirche ein politisches Bekenntnis vertreten und verlangen kann. Das Darmstädter Wort gilt als Manifest eines staats- und gesellschaftskritischen „Linksprotestantismus", der dem Evangelium unmittelbar eine politische Weisung entnimmt. Am Darmstädter Wort tritt die Spannung im Verhältnis von Kirche und Politik, Kirche und Welt insofern zutage, als sie überhaupt nicht eigens reflektiert wird. Manche Kritik am Darmstädter Wort war und ist freilich rein politisch begründet und müßte deshalb auch anhand politischer Kriterien beurteilt und bewertet werden. Die in der Auseinandersetzung um das Darmstädter Wort sichtbar werdenden Gegensätze, die z. T. auf fundamentalen Differenzen in der Zuordnung von Kirche und politischer Welt beruhen, traten dann nach der Entstehung zweier selbständiger deutscher Staaten vor allem im Streit um die Wiederbewaffnung Deutschlands (1950-1955) und um die atomare Bewaffnung unübersehbar zutage. In der Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche (1982) wird die Friedensfrage gleichfalls als Bekenntnisfrage bezeichnet. Mit dieser Betonung des Bekenntnischarakters wird einerseits die Dringlichkeit der Friedensfrage hervorgehoben, andererseits aber zugleich ein spezifisch politisches Mandat für die Kirche beansprucht. Die Frage eines direkten politischen Auftrags der Kirche und einer unmittelbaren Zuständigkeit in weltlichen Angelegenheiten ist innerhalb der evangelischen Christenheit kontrovers und ungeklärt; zumindest seit 1945 ist man sich dabei grundsätzlicher Gegensätze innerhalb der evangelischen Kirche bewußt. Auch die Zuordnung von christlichem Bekenntnis und ethischer Vernunft ist in diesem Zusammenhang strittig. Die tatsächliche Praxis der Denkschriften hat sich darum oftmals unabhängig von diesem ungelösten Grundsatzstreit entwickelt und versucht, über Sachfragen soweit wie irgend möglich innerkirchliche Verständigung (—»consensus) zu erzielen. Eine bemerkenswerte Ortsbestimmung der Stellung der Kirche in der DDR und in der sozialistischen Gesellschaft hat 1963 die „Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der D D R " veröffentlicht: „Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche". Diese Überlegungen bereiten die spätere Formel „Kirche im Sozialismus" vor, die bewußt nicht „Kirche für den Sozialismus" oder „Kirche des Sozialismus" lautet, sondern an die Formulierung „Kirche in der Welt" anklingt und damit die Spannung von Bezogenheit und Distanz zwischen Kirche und Sozialismus als Erscheinungsform einer „mündigen", säkularen Welt ausspricht. 2.2.2. Maßstäbe des Redens der Kirche zur Welt (Kriterien öffentlicher Äußerungen). A) Grundsätzliches. In der evangelischen Kirche und Theologie ist heute weitgehend unbestritten, daß es eine verfehlte Trennung von Kirche und Welt gibt und gegeben hat,
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die sich auf eine dualistische Interpretation der -»Zweireichelehre stützt. Die Betonung des politischen Auftrags der christlichen Gemeinde wird daher als notwendiges Korrektiv solcher Trennung aufgenommen. Im Beziehungsfeld von Kirche und Welt haben sich jedoch im 20. Jh. Veränderungen ergeben, die sowohl das Selbstverständnis der Kirche wie die Beziehung der Kirche zur politischen Welt betreffen. Die Kirche wird inzwischen allein schon durch ihre Existenz zum politischen F a k t u m . Der öffentliche Anspruch der Botschaft der Kirche wird ebenfalls hervorgehoben; die Kirche wendet sich nicht nur an einzelne Christen, sondern an die gesamte Gesellschaft, die „ W e l t " . Innerhalb dieses grundsätzlichen Konsenses gibt es jedoch noch eine Reihe offener Fragen, die vor allem die Grenzziehung zwischen Kirche und Welt betreffen. Offen und theologisch strittig ist die theologische Begründung des öffentlichen Wortes, der Anrede der Kirche an die Welt. Kann das öffentliche Reden der Kirche notwendig nur ein spezifisch christliches Wort sein? Muß ein kirchliches Wort zu weltlichen Angelegenheiten einen christlichen Inhalt oder eine ausdrückliche christliche Begründung haben? Diese Frage wird unterschiedlich beantwortet. Die Begründung eines „politischen Gottesdienstes" mit Hilfe des Theologumenons der -> „Königsherrschaft Christi" soll eine eigene, einzigartig theologische, im engeren Sinne christologische Begründung für öffentliche Äußerungen der Kirche abgeben. Die reformatorische Zweireichelehre hingegen enthält mit ihrer Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Regiment (Regierweise), von -»Gesetz und Evangelium eine andere Sicht: Nicht besonderes prophetisches Zeugnis, sondern argumentative Teilnahme am öffentlichen Dialog in der Welt ist der Kirche aufgetragen. Mit der Anerkennung der Menschenrechte als humanen Maßstäben sind damit profane, allgemeine Kriterien der Ethik auch der Kirche vorgegeben. Auch hinter der Auseinandersetzung um einen status confessionis in der Friedensfrage kommt dieses Problem der Zuordnung von humaner und christlicher Ethik zum Vorschein. Wenn freilich alles Humane die Kirche angeht („Nihil humanum mihi alienum est"), stellt sich die weitere Frage, nach welchen Gesichtspunkten weltliche Themen aufgenommen, angesprochen und erörtert werden sollen. Das 2. Vatikanische Konzil hat diese Frage unter die Forderung nach dem Achten auf die „Zeichen der Zeit" gestellt. Es geht hier um eine Prioritätensetzung, um die Dringlichkeit, den rechten Zeitpunkt, den Kairos kirchlicher Äußerungen. Im Zusammenhang mit dieser Frage stellt sich gleichzeitig häufig eine andere Frage, nämlich die nach dem Adressaten: Soll die Kirche sich an die allgemeine Öffentlichkeit, die Welt, oder soll sie sich nur an die eigenen Kirchenglieder, die Christen wenden? Mit der Frage des Adressaten ist gleichzeitig häufig die Frage auch der Wahl der Sprache verbunden: Sollen öffentliche Erklärungen in Verkündigungssprache, im Predigtstil verfaßt werden oder sollen sie sich auf die Plausibilität einer sachlichen Argumentation berufen? Die Anrede an die Welt liegt gelegentlich allein schon deshalb nahe, weil die Kirche nicht über die Macht verfügt, politische Entscheidungen zu treffen. Allerdings wird eine rein „weltliche" Erklärung weder bei den Kirchengliedern noch bei den „weltlichen" Adressaten Gehör finden, sofern die innere christliche Legitimation zu einer solchen Stellungnahme nicht erkennbar ist. Die öffentlichen Äußerungen der Kirche sind ein besonders prägnantes Beispiel kirchlicher Sprache, gelegentlich aber auch der Sprachlosigkeit. Probleme wirft ferner die Verbindlichkeit, die Autorität kirchlicher Erklärungen auf. Nach außen hin ist es wichtig, daß die Erklärungen formal korrekt von zuständigen Gremien und in einem entsprechenden Verfahren entstanden sind. Nach innen hängt freilich alles von der sachlichen Überzeugungskraft kirchlicher Erklärungen ab. Schließlich ist strittig, ob kirchliche Erklärungen nur Grundfragen ansprechen können, also die allgemeinen Prinzipien humaner und christlicher Ethik in Bezug zu gesellschaftlichen Sachverhalten bringen sollen, oder ins einzelne gehende konkrete Empfehlungen, Aufforderungen und Handlungsanweisungen geben können. Eine generelle Beantwortung dieser Frage ist gewiß nicht möglich. Jedoch werden sich im Regelfall kirchliche Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen auf grundsätzliche Gesichtspunkte beziehen und Maßstäbe benennen, die in jedem Fall zu beachten sind. Denn kirchliche Ratschläge haben in der Regel nicht selbst die politische Umsetzung zu vollziehen. In Ausnahmefällen kann freilich bei konkreten Mißständen und evidenten Problemen eine konkrete Weisung gegeben werden. Kirchliche Worte sollten aber darauf achten, das seelsorgerliche Ziel der Beratung und des Mitdenkens zu achten, ohne dadurch die eigene Urteilsbildung und Entscheidung der Angesprochenen zu ersetzen. Gerade die Art und Weise der kirchlichen Zuwendung an die Welt muß den spezifisch kirchlichen Charakter erkennen lassen. Kirchliche Stellungnahme kann nicht einer ideologischen Verstärkung und Verhärtung von weltlichen Positionen verpflichtet sein.
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B) Kirchliche Interpretation öffentlicher Erklärungen. Die Auseinandersetzung um Zulässigkeit und Verbindlichkeit kirchlicher Stellungnahmen zu politischen Fragen nach der Ostdenkschrift Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn (1965) hat zur Denkschrift Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen (1970) geführt. Diese Denkschrift ist das Ergebnis einer Beratung und Verständigung zwischen unterschiedlichen Überzeugungen und Interessen; sie beruht also auf einem Kompromiß verschiedener Meinungen, dokumentiert aber die Grundiibereinstimmung („Erkenntnisse", hinter die nicht zurückgegangen werden kann) wie auch strittige und offene Fragen. Über die inhaltlichen Maßstäbe, an denen kirchliche Erklärungen zu messen sind, konnte die Denkschrift kein Einverständnis herstellen. Sie stellt daher lediglich unterschiedliche „Gesichtspunkte zur Erarbeitung kirchlicher Stellungnahmen" zusammen und empfiehlt ein pragmatisches Vorgehen. In solchem pragmatischem Vorgehen soll „eine Entscheidung nur im Hin und Her zwischen theologischen und durch Sachanalyse geleiteten Erwägungen gewonnen werden" (Nr. 64). Es bleibt freilich unbefriedigend, daß in der Denkschrift ein theoretisches Defizit in der theologischen Klärung des Öffentlichkeitsbezugs der Kirche durch praktische Verfahrensvorschläge überspielt wird. Die Unzulänglichkeit bloßer verbaler Anrede der Kirche an die Welt ist erkannt. Das Handeln der Kirche selbst, ihrer Leitungen, Gemeinden und Glieder, ist die Bewährungsprobe kirchlicher Erklärungen, die Probe auf die Glaubwürdigkeit ihrer Stellungnahme. Zur Vorstellung der Verwirklichung und Umsetzung von Erklärungen wird freilich wenig gesagt. Eine Wirkungsanalyse von Denkschriften ist bislang jedoch überhaupt nur in Ansätzen versucht worden.
Die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland hat sich 1973 in einem Arbeitspapier der Sachkommission V Aufgaben der Kirche in Staat und Gesellschaft in vergleichbarer Weise wie die evangelische Denkschrift zum politischen Auftrag geäußert. Daß die Denkschrift Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen die Probleme nicht durchgängig gelöst hat, zeigt nochmals ein Votum des Theologischen Ausschusses der EKU Möglichkeiten und Grenzen eines politischen Zeugnisses der Kirche und ihrer Mitarbeiter (1982) auf. Anlaß zu dieser Veröffentlichung war die Kritik an der „Politisierung" der Kirche, vor allem daran, daß Pfarrer ihren kirchlichen Amtsauftrag zu politischen Aktionen und Erklärungen mißbrauchen würden. Das Votum bekräftigt zwar die politische Dimension des kirchlichen Auftrags. Es empfiehlt aber unter der Überschrift „Praktische Erwägungen" Verfahrensregelungen und Kompetenzverteilungen zur Unterscheidung von kirchlichem Amt und politischem Mandat. In einem grundsätzlichen Rahmen stellt das Votum des Theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz Was gilt in der Kirche? Die Verantwortung für Verkündigung und verbindliche Lehre in der Evangelischen Kirche (1985) die Thematik öffentlicher Stellungnahmen der Kirche. Dargestellt werden die theologischen Grundlagen rechter Verkündigung (Schrift und Bekenntnis, Rechtfertigungsbotschaft) sowie die Verantwortlichkeiten für die Verkündigung und vor allem die Möglichkeiten und Formen eines evangelischen Lehramtes. Dabei wird eine „Diktatur der Ethik" zurückgewiesen. 3. Politik als Vermittlung zwischen Kirche und Welt Die Klärung des Verhältnisses von Kirche und Welt spitzt sich zu in der Frage nach der Beziehung zwischen Kirche und -»Politik. Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments ist Christi Reich nicht von dieser Welt (Mt 4,17; Joh 18,36). Die weltlichen Fürsten herrschen, wohingegen Jesu Jünger dienen sollen (Mt 20,25). Es scheint darum zumindest widersinnig zu sein, gerade Politik als Vermittlung, als Medium zwischen Kirche und Welt zu bezeichnen. Dennoch, auch wenn die Kirche selbst sich nicht der Politik verdankt, ist und lebt sie gleichwohl in der politischen Welt. Öffentlichkeit bezeichnet den Schauplatz, den Ort von Welterfahrung. Politik ist insofern für den christlichen Glauben Inbegriff von .Welt, als dieser von Anfang an zwischen geistlich und weltlich, zwischen dem
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verheißenen Reich Gottes und den Reichen dieser Welt unterschieden hat. Das kirchliche Sclbstverständnis hat sich zu allen Zeiten von einer Umwelt abgegrenzt, wenn auch auf recht verschiedene Weise, und sich nicht mit der Welt schlechthin identifiziert. Die Unterscheidung von polis und ecclesia wie die Beziehung zwischen beiden Größen bestimmt a u c h die Selbstauifassung, die Kirche von sich selbst hat. Allerdings sind dazu der Begriff v o n -•Politik u n d Politische Theologie sowie das Verhältnis von kirchlichem Auftrag und weltlicher Politik zu klären. 4. Die Kirche und die
Weltentwicklung
Die Frage nach der Beziehung von Kirche und Politik tritt a m deutlichsten zutage angesichts der krisenhaften Verschärfung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung d e r Welt. Die globale Interdependenz der Länder der Welt wie die ökumenische Verbind u n g der Kirchen miteinander hat die Hilfe bei der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung auch zu einem zentralen kirchlichen T h e m a gemacht. Entwicklung ist dabei ein relativer und ein normativer Begriff. Es geht um die B e k ä m p f u n g von Welthunger und Weltarmut, um mehr Gerechtigkeit im Verhältnis zwischen Industrieländern und L ä n d e r n der Dritten Welt. M a n vergleicht deshalb die Entwicklungsfrage mit der sozialen Frage des 19. J h . Die Enzyklika Populorum Progressio erklärte, Entwicklung sei der neue N a m e f ü r Friede. Die Bekämpfung der N o t und die Suche nach Gerechtigkeit und sozialem u n d wirtschaftlichem Ausgleich verbindet sich mit der T h e m a t i k des Weltfriedens, der Sicherheit, des gesellschaftlichen Wandels, politischer Partizipation u n d der Bewahr u n g kultureller Identität. Außerdem sind regionale und nationale Unterschiede, Eigenständigkeit u n d Selbstbestimmungsrechte zu wahren, die nicht durch globale Erklärungen u n d Lösungen einer einheitlichen, uniformen „Welt"entwicklung bewältigt werden k ö n n e n . Die Vielfalt der Entwicklungsproblematik macht die Berufung auf die Orientier u n g an der einen Welt ( „ O n e World") zu einem suggestiven Schlagwort. Es gibt heute weder eine weltweite Gemeinwohlgerechtigkeit noch eine Weltregierung. Die in Uppsala 1968 leitende Vision der „einen Welt" wird immer mehr zur E r f a h r u n g des Zusammenlebens im Konflikt. Die Einheit der Welt erweist sich immer weniger als schönes Ideal und i m m e r mehr als schrecklicher Z w a n g . Seit der Weltwirtschaftskrise 1974 haben sich die Gegensätze eher vergrößert. Die Uberlebensthematik betrifft zwar alle Menschen und alle Völker. Aber aus der Betroffenheit entsteht nicht die Einheit der Welt als Handlungseinheit. Die internationale Verflechtung stellt die nationale Souveränität in Frage; die ökumenische Verantwortung relativiert konfessionelle Verhaltens- und Betrachtungsweisen der Kirchen. Die zunehmenden Ungleichheiten in der sozioökonomischen Lage zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern gefährden den Weltfrieden. Der Nord-SüdKonflikt gewinnt an Schärfe. Die grundlegenden Fakten — Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum, ungleiche Einkommensverteilung, Ernährung, Lebenserwartung und extreme Armut - lassen sich nicht allein durch karitative Hilfsmaßnahmen (Entwicklungshilfe) verändern, sondern fordern politisches Handeln (Entwicklungspolitik) und Strukturveränderungen auf dem Weltmarkt. („Neue Internationale Wirtschaftsordnung"). Seit den 70er Jahren fordern die Entwicklungsländer a) eine Umstrukturierung des Welthandels, b) eine stärkere Berücksichtigung der Eigenziele der Entwicklungsländer und c) eine verstärkte Multilateralisierung der Entwicklungshilfe, ökonomische Vorschläge sind die Bildung von Erzeugerkartellen, die Nationalisierung der Grundstofferzeugung, Rohstofflager zur Marktberuhigung und Ausgleichsfinanzierung, Beseitigung von Handelshemmnissen in den Industrieländern, u.a. Dazu gehört vor allem eine Neudefinition der politischen und ökonomischen Macht in der internationalen Ordnung sowie eine Zusammenarbeit, die auf Gerechtigkeit, Solidarität und Partnerschaft beruht und den Frieden sichert. Sicherheitsinteressen und handelspolitische Interessen der Industrienationen halten vielfach Entwicklungsländer in Abhängigkeiten. Entwicklung ist ein Befreiungsprozeß. In Montreux definierte man (1970) als Entwicklungsziel: „Das Hauptziel der Entwicklung muß in drei untereinander zusammenhängenden Teilzielen gesehen werden, nämlich Wirtschaftswachstum, Eigenständigkeit und soziale Gerechtigkeit, wobei von diesen dreien die Gerechtigkeit an erster Stelle steht."
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Die Entwicklung der Welt stellt damit den Kirchen Aufgaben, die nicht nur pragmatisch zu lösen sind, sondern insgesamt eine Neubestimmung ihres Verhältnisses zu Welt, Politik und ökonomischer Verantwortung erforderlich macht. Die Komplexität der Entwicklungsproblematik darf allerdings nicht auf den ökonomischen Aspekt des Wirtschaftswachstums in den Entwicklungsländern verkürzt werden, sondern hat politische Maßstäbe (wie -»Demokratie, Achtung der Menschenwürde) und kulturelle und religiöse Identitäten zu achten. Die Entwicklung hat der Entfaltung des ganzen Menschen zu dienen und zugleich die Selbstbestimmung der Völker zu fördern. Sie stellt deshalb auch eine Bildungsaufgabe, sie soll „Hilfe zur Selbsthilfe" geben und hat sich an den Grundbedürfnissen der Bevölkerung zu orientieren. Ein besonderes Problem stellen die Verschlechterung der Welternährung, die vielfach eine Verteilungsfrage ist, und das Scheitern der Entwicklung der Landwirtschaft sowie die Weltwährungsordnung dar. Kirchliche Äußerungen zur Entwicklungshilfe sind: Katholisch: Die Enzyklika Papst Pauls VI. Populorum progressio (1969); die Erklärung der römischen Bischofssynode 1971 De iustitia in mundo. Evangelisch: Der Entwicklungsdienst der Kirche - ein Beitrag für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt. Eine Denkschrift der EKD (1973). ökumenische Stellungnahmen: Weltkonferenz des ÖRK für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966 (Appell an die Kirchen der Welt. Dokumente der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft, 1967), die Weltkirchenkonferenzen in Uppsala (1968), Nairobi (1975), Vancouver (1983). Literatur Zu 1.1. und 1.2.: Alltagswissen, Interaktion u. gesellschaftliche Wirklichkeit, hg. v. einer Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, 2 Bde., Wiesbaden 1973 5 1981. - Carl Amery, Fragen an Welt u. Kirche. 12 Essays, Reinbek 1967. - Alfons Auer, Gestaltwandel des christl. Weltverständnisses: Gott in Welt. 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Kirche und Welt
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Kirchenbau I
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Martin Honecker
Kirchenaustritt —> Kirchenentfremdung/Kirchenaustritte Kirchenbau I. II. III. IV. V.
Der frühchristliche Kirchenbau Mittelalter Kirchenbau des 16. bis 18. Jh. (Spätgotik bis Frühklassizismus) 19. und frühes 20. Jahrhundert Moderner Kirchenbau (ab 1919)
442 456 498 514
I. Der frühchristliche Kirchenbau 1. Allgemeines 2. Die Basilika 3. Andere Kirchenbautypen gen: Liturgie, Funktion, Gestalt, Ausrichtung (Literatur S.441)
1.
4. Abschließende Bemerkun-
Allgemeines
1.1. Voraussetzungen für die Entwicklung eines christlichen Kultbaues. Die Kultübungen der frühen Gemeinden fanden in größeren Privaträumen oder anderen Baulichkeiten statt, die von einem Gemeindemitglied zur Verfügung gestellt wurden (Act 2,46; vgl. Rom 16,3 ff; Kol 4,15). Im Gegensatz zu den paganen Kultgebäuden, die durch die Anwesenheit der Gottheit geheiligt waren und deren Kultus sich im Freien vollzog, fand der Gottesdienst der Christen stets in geschlossenen Räumen statt, die lediglich als Versammlungsstätten dienten. Der Tempel des heiligen Gottes ist die Gemeinde selbst (I Kor 3,16; II Kor 6,14 ff; Eph 2,21 f). Gottes Haus kann kein von Menschenhand errichteter Bau sein (Act 7,44-50). So gab es also in den ersten Jahrhunderten des Christentums keine christliche Sakralarchitektur, so daß -»Minucius Felix sagen konnte: delubra et aras non habemus (Octav. 32,1; vgl. Arnobius, adv. pag. 6,1). Doch gibt es im 3. J h . auch eine Reihe von Nachrichten, die zeigen, daß diese Auffassung nunmehr nur eine ideale Forderung darstellt. So berichtet denn auch Eusebius (h.e. 7,13) von Kulträumen und Kirchenbauten der christlichen Gemeinden, die nach der Verfolgung im Jahre 260 wieder zurückgegeben oder in der nachfolgenden Friedenszeit errichtet wurden. Wenn Eusebius die Pracht und Größe dieser Bauten rühmt, so wird es sich hierbei um eigenständige und z.T. auch eigens errichtete Kultbauten gehandelt haben (h. e. 10,2,1). Das wird bestätigt durch -»Porphyrius, der sagt, daß die Christen die Tempel imitieren, indem sie gewaltige Häuser bauen (adv. Christianos frg. 76; 93 Harnack). Nach Lactanz (Mort. 12,3) konnte Diokletian von seinem Palast in Nicomedia die christliche Kirche der Stadt sehen, die er im Zuge seiner antichristlichen Maßnahmen zerstörte.
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Kirchenbau I
An der Wende zum 4. Jh. war der eigenständige, gegebenenfalls aufwendige christliche Kultbau, der auch als Sakralbau ( f a n u m , Heiligtum) aufgefaßt wurde, offenbar selbstverständlich. Dieser Situation entsprechen auch die für die christlichen Kultgebäude schon seit dem beginnenden 3. Jh. überlieferten Namen wie domus dei, ecclesia, dominicae, domus, dominicum bzw. OIKOQ 9eoü, ¿KKltjaia, KüpiaKÖv usw., die sich auf einen eigenen christlichen Kultbau beziehen (vgl. z.B. Tertullian, Val. 2,3; idol. 7,1; ux. 2,8; Hippolytus, Dan. 1,20 u.a.). Wie diese Kirchengebäude ausgesehen haben, wissen wir nicht. Keiner dieser älteren Bauten hat sich erhalten. Auch von den Baulichkeiten, die von den römischen Titelkirchen nachkonstantinischer Zeit umschlossen oder überbaut wurden, läßt sich keiner mit Sicherheit als vorkonstantinischer christlicher Kultbau identifizieren. Lediglich in D u r a - E u r o p o s a m E u p h r a t ist ein christlicher Kultbau aus d e m zweiten Viertel des 3. J h . aufgedeckt w o r d e n . E s ist ein für den Kult adaptiertes H a u s , das allein d u r c h die Ausstattung als christliches Kultgebäude ausgewiesen ist. A u c h die Apostolischen - » K o n s t i t u t i o n e n v o m Ende des 4 . J h . , in denen älteres M a t e r i a l z u s a m m e n g e t r a g e n ist, sagen über den K i r c h e n b a u lediglich, daß er langgestreckt und n a c h O s t e n ausgerichtet sein soll, mit zwei N e b e n r ä u m e n (Pastophoria) für das Kultgerät. D a s G a n z e solle einem Schiff gleichen ( 2 , 5 7 ; 3 ) .
So wissen wir also nicht, ob der frühchristliche Kultbau der vorkonstantinischen Zeit bereits eine eigene architektonische Prägung besessen hat, die ihn, soweit es sich um Neubauten handelte, als solchen auszeichnete und die die Ausbildung einer spezifischen Architektur des christlichen Kultgebäudes begründete. 1.2. Bauaufgaben. Im Gegensatz zur Architektur der römischen Kaiserzeit, in der die großen profanen Massenbauten wie Thermenanlagen, Amphitheater, Forumsbasiliken die Leitmotive der architektonischen Entwicklung waren, wird seit dem frühen 4. Jh. nunmehr in der Gestalt des christlichen Kirchenbaues wieder der Kultbau zur führenden Bauaufgabe der Architektur, der auch die Verteidigungsbauten an Bedeutung kaum nahekommen. Vornehmste Bauaufgabe ist die Gemeindekirche mit den für den Kultus und das Gemeindeleben notwendigen Annexbauten. Daneben gibt es schon früh in konstantinischer Zeit die Coemeterial- und Memorialkirche, vor den Toren der Stadt auf den Friedhöfen gelegen und für den Märtyrer- und Totenkult bestimmt, seit dem späten 4. Jh. häufig das Märtyrergrab in den Kirchenbau selbst einschließend. Aus diesen Gedenkbauten entwickeln sich die großen komplexen Pilgerheiligtümer, die noch am Ausgang der Antike zu den aufwendigsten Bauaufgaben der christlichen Architektur gehören. Seit dem 5. Jh. treten Kirchen, die mit Klostergründungen verbunden sind, ebenso hinzu wie Kirchen in großen Villen, den Zentren umfangreicher Latifundien, die gleichsam als Eigenkirchen der Bevölkerung dieser Landgüter wie der umliegenden Dörfer dienten. Sie sind besonders zahlreich in Gallien und Nordafrika. Kirchen dieser Art werden von -»Johannes Chrysostomus ausdrücklich von den Grundbesitzern angefordert (hom. in Act. 18,4: PG 60,147), um die Landbevölkerung zu christianisieren. Mit dem an Bedeutung zunehmenden Märtyrerkult und vor allem seit dem späten 6. und frühen 7. Jh., mit dem die Translationen der Märtyrerreliquien beginnen, verschwindet der Unterschied zwischen Gemeinde- und Memorialkirche (-»Heilige/HeiligenVerehrung; -»Reliquien). Für keine dieser Bauaufgaben gibt es einen festgelegten Bautypus, wenn auch der basilikale, längsgerichtete Kirchenbau bis zum Ausgang der Antike ganz allgemein den Haupttypus des christlichen Kultbaues darstellt. 1.3. Bauherren, Auftraggeber, Bauwesen. Die Namen zahlreicher römischer Titelkirchen, die von der Tradition in die vorkonstantinische Zeit verwiesen werden, scheinen Gemeindeglieder als Stifter zu belegen: z. B. titulus Clementis, titulus Pudentis u. a. Nach 312 errichten -»Konstantin und Mitglieder der kaiserlichen Familie dem Christengott, dem der Sieg verdankt wurde und der nach alter römischer Auffassung nun auch das Heil des Staates garantierte, bedeutende Kultbauten: nicht nur die Bischofskirche von —»Rom, die Lateransbasilika, sondern auch die Gedächtnisbasilika über dem Grabe Christi in -»Jerusalem, die Basilika über der Geburtsgrotte in -»Bethlehem und Memorialkirchen
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Kirchenbau I
über den c h r i s t l i c h e n C o e m e t e r i e n R o m s ( - » F r i e d h o f ) , die A p o s t e l k i r c h e in —• K o n s t a n t i nopel. Daneben stiftete Konstantin auch die Bischofskirche in der Residenzstadt -»Antiochien, einen aufwendigen Zentralbau, und andere Kirchenbauten in -»Italien, in -»Afrika (Constantina [Cirta]) und in -»Palästina. Aber das kaiserliche Patronat ging weiter: Konstantin weist den Bischof Eusebius von Caesarea an, alles, was er und seine Amtsbrüder im Reich für den Wiederaufbau verfallener Kirchen oder die Vergrößerung oder den Neubau von Kirchen benötigen, von den Provinzstatthaltern auf Geheiß des Kaisers anzufordern (Eusebius, vita Const. 2,46). Auch in der Folgezeit treten die Kaiser als Stifter vor allem bedeutender Kirchenbauten in den Residenzstätten auf: -»Theodosius I., Arcadius und Honorius lassen die Paulsbasilika in R o m errichten, Konstantin und Konstantius II., Theodosius II. und -»Justinian besorgen den Bau und jeweiligen Neubau der Hagia Sophia in Konstantinopel. Den kaiserlichen Stiftern folgt der Gotenkönig Theoderich mit der Errichtung der Palastkirche S. Appolinare in -»Ravenna. D a n e b e n stiften p r i v a t e A u f t r a g g e b e r s c h o n seit d e m 4 . J h . G e m e i n d e k i r c h e n , wie die N a m e n r ö m i s c h e r T i t e l k i r c h e n belegen ( z . B . titulus
Patnmachii).
M e i s t sind es h o c h g e -
stellte P e r s ö n l i c h k e i t e n und A n g e h ö r i g e der o b e r s t e n S c h i c h t : Pammachius ist Senator; Galla Placidia, die Tochter Theodosius I., läßt in -»Ravenna die Kirche S. Giovanni Evangelista als Dank für wundersame Errettung erbauen; der gotische Heermeister Flavius Valila dediziert im letzten Viertel des 5. J h . die römische Kirche S. Andrea; Johannes Studios, Senator, errichtet um 450 in Konstantinopel Kirche und Kloster des Hl. Johannes, und Iulia Anicia aus kaiserlichem Geblüt stiftet neben ihrem Palast um 527 die besonders aufwendige große Polyeuktos-Kirche ebendort. Iulianus Argentarius, ein Bankier, errichtet ein Jahrzehnt später auf eigene Kosten die dem Hl. Vitalis geweihte Kirche in Ravenna und die große Gedächtniskirche für den Hl. Apollinaris bei Classe. Dem gleichen Personenkreis sind die seit dem 5. Jh. in Süditalien, Nordafrika und Gallien auf den großen Landgütern errichteten Kirchen und Klöster zuzuschreiben. A u c h P ä p s t e w e r d e n im 4 . J h . s c h o n als Stifter v o n G e m e i n d e k i r c h e n (tituli)
in R o m
genannt ( z . B . D a m a s u s ) . Seit d e m 5 . J h . tritt d e r P a p s t in R o m als Stifter a u f w e n d i g e r Kirchenbauten auf. So konkurrieren S. Maria Maggiore und S. Stefano Rotondo in Rom auch an Größe und Aufwand mit den älteren kaiserlichen Bauten, der Neubau des Lateransbaptisteriums unter Sixtus III. (432-440) dürfte an Pracht die ältere kaiserliche Stiftung übertroffen haben. 2 . Die
Basilika
2.1. Die Basilika 2.1.1.
der konstantinischen
Die Lateransbasilika.
Zeit
D i e L a t e r a n s b a s i l i k a ist das erste offizielle, r e p r ä s e n t a t i v e
K i r c h e n g e b ä u d e der C h r i s t e n h e i t . V o n K a i s e r K o n s t a n t i n b a l d n a c h 3 1 3 g l e i c h s a m als ex voto für die im Z e i c h e n des C h r i s t e n g o t t e s g e w o n n e n e S c h l a c h t an der M i l v i s c h e n B r ü c k e gestiftet, w a r die basilica
Lateranensis,
w i e sie in Q u e l l e n des 4 . J h . g e n a n n t wird ( z . B .
H i e r o n y m u s , ep. 7 7 , 4 ) , die K i r c h e der c h r i s t l i c h e n G e m e i n d e R o m s und des r ö m i s c h e n Bischofs. Die Kirche, von Ost nach West gerichtet, bestand aus einer fünfschiffigen, von Säulen getragenen Halle von insgesamt 100 m Länge und 55 m Breite. Das 90 m lange, 27 m breite und 18 m hohe Mittelschiff wurde im Westen von einer Apsis abgeschlossen. Die Obergadenwände des Mittelschiffes, die auf einer Architravkolonnade ruhten, waren von großen Fenstern über jedem Interkolumnium durchbrochen. Zwei verhältnismäßig niedrige (15 und 9 m hoch) und fast gleichbreite Seitenschiffe, die durch Säulenarkaden getrennt wurden, flankierten das Mittelschiff zu beiden Seiten. Nur die äußeren Seitenschiffe wurden durch Fenster belichtet. Ein gemeinsames Pultdach und die geringere Belichtung setzten die Seitenschiffe somit deutlich von dem hochaufragenden, hell belichteten Mittelschiff als zentralem Festsaal ab. Die Apsis war ebenfalls von Fenstern durchbrochen, während über die Gestaltung der Fassade, abgesehen von den drei Portalen, die sich in das Mittelschiff öffneten, nichts bekannt ist. Die inneren Seitenschiffe liefen im Westen in der Länge des Mittelschiffes bis zum Ansatz der Apsis durch, die kürzeren äußeren Seitenschiffe jedoch endeten an je einem niedrigen, über die äußere Flucht der Kirche vorspringenden kapellenartigen Anbau, der somit vor dem westlichen Abschluß der mehrschiffigen Halle durch die Andeutung einer Querachse offenbar die Grenze des Presbyteriums in den mittleren Schiffen vor der Apsis bezeichnete. Die Mauern
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bestanden aus Ziegelschalmauern mit Mörtelgußkern und hatten nur eine verhältnismäßig geringe Mauerstärke, ausreichend, um einen hölzernen Dachstuhl, der die Schiffe überdeckte, zu tragen. Ob der Dachstuhl über dem Mittelschiff durch eine hölzerne Kassettendecke geschlossen war, ist unbekannt. Kassettendecke und auch offener Dachstuhl werden in der zeitgenössischen Architektur nebeneinander verwandt und sind auch in den literarischen Beschreibungen nicht immer deutlich zu scheiden. Der Außenbau blieb schmucklos, während der Innenbau kostbar ausgestattet war: ein Fußboden aus kostbaren bunten Marmorplatten im Mittelschiff, eine Wandverkleidung aus bunten Marmorplatten (Marmorinkrustation) am aufgehenden Mauerwerk und eine Mosaikdekoration, vielleicht noch ohne figürlichen Schmuck, in der Apsiskalotte. So steht die Lateranskirche in Rom, der erste offizielle, repräsentative christliche Kultbau, vor uns als ein in der Konstruktion einfacher, in den Dimensionen und der Ausstattung jedoch aufwendiger Großbau, der damit in Konkurrenz mit den öffentlichen Großbauten der Hauptstadt trat.
Die Wesensmerkmale dieses, von den Quellen basilica genannten Baues sind die gerichtete, von Säulenstützen getragene, von hölzernen Dachstühlen überdeckte, mehrschiffige Halle, deren Mittelschiff nicht nur wesentlich breiter und höher als die Seitenschiffe ausgelegt ist, sondern das durch den mit großen Fenstern durchbrochenen Obergaden auch im Gegensatz zu den begleitenden Nebenschiffen hell durchleuchtet ist: das Mittelschiff ist damit als der zentrale Festsaal gekennzeichnet, in dessen Mitte durch einen abgeschrankten Weg (solea) der Prozessionsweg für die Kleriker und durch das weit vor die Apsis vorgezogene Presbyterium der eigentliche Kultplatz abgegrenzt war, während das Volk im wesentlichen von den Seitenschiffen aus dem heiligen Geschehen gefolgt zu sein scheint. 2.1.2. Die Basilika von Tyros und andere Basiliken. Die Basilika als mehrschiffige, gerichtete Halle hat offenbar in den städtischen Zentren des Reiches unmittelbare Verbreitung gefunden. So beschreibt Eusebius die von Bischof Paulinus in Tyros um 316/17 geweihte Kathedrale, die also fast gleichzeitig, jedenfalls aber nur wenig später als die konstantinische Bischofskirche in Rom errichtet worden war, als dreischiffige gewestete Basilika (h.e. 10,4,36—45). Das Mittelschiff, von zahlreichen Fenstern durchlichtet und von einem Dachstuhl überspannt, erhob sich über die niedrigeren und dunkleren Seitenschiffe. Das basilikale Schema wiederholt auch die wohl schon um 324 erbaute Bischofskirche von Asnam (Orleansville, Algerien). Der Bau weist, wenn auch in wesentlich reduzierten Maßen, wieder-
Kirchenbau I
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um fünf Schiffe und eine in die Außenmauer eingezogene Apsis auf. Eine andere Variante des basilikalen Hallenbaues bietet die Kathedrale von Trier, ebenfalls aus konstantinischer Zeit, die aus zwei dreischiffigen großen, 73 m langen und 3 0 - 3 8 m breiten, nebeneinander angeordneten Hallen bestand, die durch zwei Stützenreihen in ein breiteres Mittelschiff und schmalere Seitenschiffe unterteilt waren. Im Osten schlössen diese Hallen rechtwinklig ab und besaßen dort im Innern der Halle ein abgeschranktes Presbyterium. 2.1.3. Umgangsbasiliken. In R o m b e s t a n d in k o n s t a n t i n i s c h e r Z e i t n e b e n d e r L a t e r a n s b a s i l i k a n o c h e i n e w e i t e r e V a r i a n t e des b a s i l i k a l e n K i r c h e n b a u e s : die v o n K o n s t a n t i n und Mitgliedern seiner Familie vor d e n T o r e n der Stadt über den christlichen Friedhöfen zu E h r e n d e r M ä r t y r e r e r r i c h t e t e n C o e m e t e r i a l b a s i l i k e n .
H> b 0
10 20 30 io
Rom, S. Agnese und Mausoleum der Constantina, Mitte 4. Jh. (nach Deichmann) Es handelt sich um fünf Bauten (S. Sebastiano, SS. Pietro e Marcellino, S. Agnese, S. Lorenzo; vielleicht die Basilika von Tor de Schiavi). Alle diese Coemeterialkirchen sind auf kaiserlichem Grund und Boden errichtet und, wie es scheint, in der Mehrzahl mit einem Mausoleum für ein Mitglied der kaiserlichen Familie verbunden. Es sind dreischiffige basilikale Hallen von 7 0 - 1 0 0 m Länge mit Pfeilern oder Säulen als Stützen der überhöhten Mittelschiffswände. Im Westen sind die Seitenschiffe im Halbrund als Umgang um das Mittelschiff herumgeführt. Die Gestalt dieser Basiliken mit dem breit gelagerten, gestaffelten Apsidenbereich, die, wie es scheint, außerhalb Roms kaum Nachfolge gefunden hat, scheint durch die Bestimmung dieser Bauten als Gedächtniskirchen bedingt zu sein, die neben der Feier der Eucharistie auch den Gedächtnisfeiern des Toten- und Märtyrerkultes dienten wie auch dem Gedächtniskult des Kaisers und seiner Familie. 2.1.4. Die Querhausbasilika. E i n e a n d e r e V a r i a n t e des b a s i l i k a l e n K i r c h e n b a u e s k o n s t a n t i n i s c h e r Z e i t stellt d i e P e t e r s b a s i l i k a d a r , die v o n K o n s t a n t i n in d e n z w a n z i g e r J a h ren des 4. J h . als G e d ä c h t n i s k i r c h e ü b e r d e m G r a b e des A p o s t e l s P e t r u s a m v a t i k a n i s c h e n Hügel vor der Stadt errichtet wurde. Dieser monumentale Bau, der die Lateranskirche in der Größe um ein Drittel übertraf, hatte eine Gesamtlänge von 123 m. Wie die Lateranskirche besaß die Peterskirche fünf Schiffe, deren Mittelschiff von Architravkolonnaden, die Seitenschiffe aber von Arkadenkolonnaden begrenzt waren. 16 nicht axial an die Interkolumnien gebundene Fenster durchbrachen den Obergaden des Mittelschiffes. Anders als bei der Lateransbasilika war der westliche Abschluß des Baues gestaltet: Zwischen
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Kirchenbau I
Apsis und mehrschiffiger Halle schob sich hier ein quergelagerter Baukörper, auch im Außenbau deutlich von der Halle abgesetzt und mit seitlichen Annexbauten über die Flucht der Schiffe hinausragend. Dieses Querschiff, durch zahlreiche Fenster hell erleuchtet, war gleichsam ein monumentaler Schrein über dem Petrusgrab. Vor der Apsissehne im Querhaus gelegen, war dieses Zielpunkt des Pilgerweges, der in einer effektvollen architektonischen Inszenierung über den Torbau des Atriums, das als Vorhof dem Heiligtum vorgelagert war, zum Querhaus hinter dem Triumphbogen führte, w o das Grabmal der Verehrung der Gläubigen zugänglich war. Der Richtungsbau der Basilika als christlicher Kultbau erhielt hier also aus den Erfordernissen des Märtyrerkultes eine eigene monumentale Akzentuierung, die in der Folgezeit durch die Vorbildhaftigkeit dieses bedeutenden Pilgerzentrums weite Verbreitung finden sollte.
R o m , St. Peter, konstantinisch (nach Brandenburg) 2 . 2 . Die Entwicklung 2.2.1.
Drei-
des basilikalen
und Mehrschiffigkeit.
Kirchenbaues
bis zum Ausgang
der
Antike
N a c h den m o n u m e n t a l e n fünfschiffigen kaiserli-
chen Basiliken R o m s setzt sich als S t a n d a r d t y p u s für die G e m e i n d e k i r c h e die dreischiffige basilikale Halle, deren Mittelschiff d u r c h eine Apsis abgeschlossen w i r d , überall im Reic h e d u r c h . E s ist d e r Typus, den n a c h der B e s c h r e i b u n g des Eusebius s c h o n die Bischofskirche von T y r o s repräsentierte und S. M a r c o , die älteste, u m 3 3 6 errichtete P f a r r k i r c h e R o m s . D a n e b e n a b e r behauptete sich für r e p r ä s e n t a t i v e B a u t e n a u c h weiterhin d e r fünfschiffige Typus der Basilika. Als kaiserliche Stiftung vertritt ihn bezeichnenderweise die G r ü n d u n g der Paulusbasilika in R o m v o m E n d e des 4 . J h . , die die Gestalt der Petersbasilika in der fünfschiffigen H a l l e m i t v o r g e l a g e r t e m Q u e r h a u s und Apsis w i e d e r a u f n i m m t . Diesem repräsentativen Raumkonzept der kaiserlichen Basiliken folgen in der Fünfschiffigkeit auch die konstantinischen Stiftungen der Grabesbasilika in Jerusalem und der Geburtsbasilika in Bethlehem. Aber auch die Bischofskirche der kaiserlichen Residenz -»Mailand, die um die Mitte des 4 . J h . errichtet wurde. Die schon erwähnte Bischofskirche von el Asnam (Orleansville), im heutigen Algerien, steht unter dem gleichen Vorbild, das sie den Bedürfnissen einer kleineren und weniger bedeutenden Gemeinde entsprechend abwandelt und reduziert. Das Konzept lebt weiter in der Basilika von Epidauros in Griechenland und den Kathedralen von Ravenna und Salamis auf Zypern, die noch im 4. oder an der Wende zum 5. J h . entstanden sind. Fünf (z.B. Basiliken von Dermech, Karthago; 6. Jh.), sieben (z.B. Basilica maiorum, Karthago; 6. Jh.), acht (Basilika von Tipasa, um 450) und sogar neun Schiffe wiesen nordafrikanische Kirchen auf, wobei die neunschiffige Basilika von Damus el Karita (Karthago), die dem 6. J h . angehört, eine Ausnahme darstellt.
Kirchenbau I
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2.2.2. Emporenbasiliken. Wie profane Marktbasiliken häufig, konnte auch die christliche Basilika mit Emporen ausgestattet werden. Der Grund dafür dürfte ein zweifacher sein: Einerseits konnte somit Raum für eine größere Anzahl von Gläubigen geschaffen werden, während gleichzeitig auch eine Steigerung der architektonischen Wirkung erzielt wurde. Das früheste Beispiel dürfte die konstantinische Grabeskirche von Jerusalem gewesen sein. Wie hier findet sich der Emporenaufbau auch an einer anderen frühen Pilgerstätte, der großen Basiliken von Tebessa in Algerien aus der Wende vom 4. zum 5. Jh. und in der Coemeterial-Kirche von SS. Nero ed Achilleo in der Domitillakatakombe in Rom vom ausgehenden 4. Jh. Doch findet sich die Empore auch bei Bischofs- und Gemeindekirchen (so wohl bei der Hagia Sophia Konstantius' II. in Konstantinopel um 360 und der Basilika von Trier im Neubau unter Gratian um 380). Vor allem im 5. Jh. ist der Typus der Emporenbasilika verbreitet, vornehmlich in Nordafrika (Basilika der Menasstadt, Anfang 6. Jh.; Djemila, frühes 5. Jh.; Thelepte, 5. Jh.; Tigzirt, 5. Jh.), Konstantinopel (Studioskirche, Mitte des 5. Jh.) und im griechisch-ägäischen (H. Demetrios, Saloniki, spätes 5. Jh.; Acheiropoietos, Saloniki, 3. Viertel 5. Jh.; Lechaion-Basilika, Korinth, 3. Viertel 5. Jh.) und kleinasiatischen
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Kirchenbau I
Raum, in Syrien und auf dem Balkan (Bischofskirche von Stobi, Mitte 5. Jh.). Hier hat die Empore auch häufig als Aufenthaltsort für die Frauen oder Katechumenen während der Liturgie, aber auch zur privaten Andachtsübung gedient. Späte Nachzügler sind die über den Gräbern der Heiligen am Ende des 6. und im frühen 7. J h . errichteten Emporenbasiliken von S. Agnese und S. Lorenzo in Rom, die offenbar bei beschränkten Dimensionen den Pilgermassen genügend Raum bieten sollten. Entsprechend konnten sich bei diesen Bauten wie schon bei der konstantinischen Grabeskirche in Jerusalem und bei Emporenbasiliken des 5. Jh. im Osten die Proportionen verändern: Gegenüber dem breiter werdenden Mittelschiff und der größeren Höhenausdehnung wird die Halle in der Länge reduziert, die Seitenschiffe gegebenenfalls an der Eingangsfront herumgeführt, so daß ein fast quadratischer Grundriß erreicht werden konnte (Studiosbasilika). So konnte auch bei der Grabeskirche, der Studioskirche in Konstantinopel und der Acheiropoieta in Saloniki der Obergaden des Mittelschiffes fehlen und die Schiffe unter einem durchgehenden Satteldach vereint werden. Die nordafrikanischen Emporenbasiliken wie auch die römischen Kirchen S. Lorenzo und S. Agnese weisen dagegen einen Obergaden auf.
20
2.2.3. Die Querhausbasilika. Bei der konstantinischen Petersbasilika war das Querhaus monumentaler Schrein über dem Petrusgrab und diente auch der Liturgie der Märtyrerverehrung und den Pilgerbesuchen am Märtyrergrab. Doch findet sich das Querhaus auch schon früh in Bischofs- oder Gemeindekirchen. Die Thecla-Basilika, die Bischofskirche von Mailand aus der Mitte des 4. Jh., hat ein Querhaus, das allerdings nicht über die Flucht der basilikalen Halle vorspringt. Die Aufteilung des Langhauses in fünf Schiffe setzt sich zudem im Querhaus fort. Wahrscheinlich setzte sich das Querhaus der TheclaBasilika auch im Außenbau nicht so deutlich vom Langhaus ab, wie es bei der Peterskirche in Rom der Fall war.
Mailand, Kathedrale (S. Thecla), Mitte 4. Jh. (nach Stanzi)
Hier werden offenbar Tendenzen zu einer besonderen architektonischen Gestaltung des Presby25 teriumsbereiches und seiner Abgrenzung vom Längsbau durch eine Querachse fortgesetzt, wie sie im Ansatz bereits bei der Lateransbasilika durch die beiden kapellenartigen Anbauten am äußersten Seitenschiff im Bereiche des Presbyteriums sich ankündigen. Darüber hinaus bot ein Querschiff Raum für eine größere Anzahl von Klerikern und einer sich festlich entfaltenden Liturgie.
In dieser Funktion ist das Querhaus in der Folgezeit im ganzen Mittelmeerbereich 30 verbreitet. Vor allem der Gedanke der Aussonderung und Hervorhebung eines zentralen, liturgisch bedeutsamen Bereiches bestimmt nunmehr Funktion und allgemeine Gestalt des Querschiffes. Seine Gestalt ist je nach den Provinzen des Reiches und der Zeitstellung sehr variabel. So begegnet das entsprechend der Schiffszahl des Langhauses unterteilte Querschiff wie bei der Bischofskirche 35 von Mailand (Gruftkirche in Abu Mena, Ägypten, 3. Viertel 4. Jh.; fünfschiffige Basilika in Epidauros, um 400; Ilissos-Basilika, Athen, 1. Hälfte 5. Jh.; Nicopolis, Basilika B, um 500, mit Raumtren-
Kirchenbau I
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nung nur im Mittelschiff, während die Kolonnaden der Seitenschiffe am Querhaus enden; Bischofskirche in Korykos, letztes Drittel des 5. Jh.; Basilika in Kraneion-Korinth, 6./7. Jh.). Die Querhäuser konnten auch über die Flucht des Langhauses übergreifen (S. Pietro in Vincoli, Rom, Mitte des 5. Jh.; Basilika, Korinth ,Lechaion', 3. Viertel 5. Jh.; Basilika A, Nicopolis, 2. Viertel 6. Jh.; übergreifende halbrunde Apsiden am Querhaus s.: Basilika, Dodona, 6. Jh.; Basilika in Panormos, Kreta). Z. T. erfolgt die Abgrenzung des zentralen Kultraumes durch eine große Bogenstellung, die die ganze Breite des Querhauses überspannt, so daß eine Vierung entsteht (Nicopolis, Basilika A; Korkyros, Basilika extra muros, 5. Jh.; Apollonia, Ostkirche, 5. Jh.). Schon früh gibt es Beispiele, bei denen die Vierungspfeiler am Schnittpunkt von Querhaus und Mittelschiff verstärkt sind, was auf eine Überhöhung dieses zentralen Raumteiles schließen läßt (Ilissos-Basilika, Athen, 1. Hälfte 5. Jh.; Basilika, Korinth-Lechaion, 3. Viertel 5. Jh.). Die zentralisierenden Tendenzen, die sich andeutungsweise in dieser Lösung finden, sind verstärkt in den Bauten, in denen die Vierung und das Querschiff in das Zentrum der basilikalen Halle verlegt ist, wie bei der Basilica maiorum in Karthago mit allerdings durchlaufenden Seitenschiffen der siebenschiffigen Basilika und die Damus el Karita genannte neunschiffige Basilika ebendort mit einem Querschiff und Vierung. Beide Kirchen sind Memorialbauten und nicht vor das Ende des 5. Jh. zu datieren. Die Vierung ragte sicher über die Schiffsdächer hinaus, wenn auch eine Eindeckung mit einer Wölbung (Leichtbaukuppel) nicht gesichert ist. Ein weiterer Typus der Querschiffsbasilika, wiederum mit vielfachen Varianten, ist die Basilika mit mehrschiffigem Q u e r h a u s (mit nur teilweise umlaufenden Schiffen: El T a g h b a , E n d e 5 . J h . ; Perge, Basilika A und B, 5 . / 6 . J h . ; Philippi, Basilika A , um 5 0 0 ; mit allseitig umlaufenden Schiffen: S a l o n i k i , D e m e t r i o s b a s i l i k a , letztes Drittel 5. J h . ; Abu M e n a , M e n a s b a s i l i k a 6. J h . ; H e r m o p o l i s , Basilika 6. J h . , die Querschiffe enden in halbrunden Apsiden, denen die K o l o n n a d e folgt). 2.2.4. Die Kreuzbasilika. W i r d das L a n g h a u s über das Q u e r h a u s hinaus verlängert, so entsteht die Kreuzbasilika.
Kal'at Sem'an, Pilgerkirche des Simeon Stylites, letztes Viertel 5. Jh. (nach Stanzl)
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Kirchenbau I
Der Typus ist möglicherweise an einem kaiserlichen Bau, der konstantinischen Apostelkirche in Konstantinopel, zuerst verwirklicht worden. Von dort hat er dann vor allem für aufwendige M e m o rialbauten weitere Verbreitung gefunden (Sichern, Kirche über dem Jakobsbrunnen, 4. Jh.; Ephesos, Johanneskirche, Mitte 5. J h . ; mit nur um ein Joch leicht verlängertem Langhaus: Gerasa, Kirche der Propheten, Apostel und Märtyrer, 465; Salona, Kreuzbasilika, 490/540; mit verlängertem Ostarm und oktogonalem Zentrum: Kal'at Sem'an, Syrien, um 476/90). Wie die vorher schon genannten Basiliken mit ausgeschiedener Vierung, besaßen auch diese Kreuzbasiliken ein überhöhtes Vierungsquadrat. M i t dieser ü b e r h ö h t e n Vierung, die d a s kultische Z e n t r u m o d e r die verehrungswürdig e Stätte a u c h i m A u ß e n b a u b e t o n t e und die den B a u k ö r p e r der Kirche als ein E n s e m b l e gegeneinander abgesetzter und abgestufter, hierarchisch z u g e o r d n e t e r Teile begreifen läßt, wird deutlich, d a ß sich die christliche Basilika a u f der Basis des ursprünglichen einfachen und variablen R a u m g e f ü g e s n u n m e h r zu einem reich gestalteten B a u t y p u s entwickelt hat, d e r über die Voraussetzungen d e r antiken A r c h i t e k t u r , die ähnliches n u r in Ansätzen k a n n t e , hinausweist. 2 . 2 . 5 . Die Kuppelbasilika.
Im kilikisch-isaurischen Bereich Kleinasiens ist m i t B a u t e n
aus d e m E n d e des 5 . J h . eine Anzahl K i r c h e n b e k a n n t , die einen neuen Typus des basilikalen K i r c h e n b a u e s darstellen. Vor der häufig vertieften C h o r p a r t i e mit Apsis wird hier d u r c h die Einfügung v o n Pfeilern in d a s basilikale dreischiffige G r u n d s c h e m a ein d a s Schiff dominierender zentraler R a u m t e i l ausgeschieden, d e r ü b e r h ö h t und häufig w o h l a u c h von einer Kuppel überspannt w a r . Die zentralisierenden Tendenzen, die sich in der Betonung der Vierung in der Querschiffsbasilika und in der Basilika mit zentraler Vierung wie besonders auch in der Kreuzbasilika bemerkbar gemacht hatten, finden in diesem Bautypus nun eine besondere Ausformung. Die Längsausdehnung des basilikalen Raumes wird rhythmisiert und zugunsten der Höhenentwicklung des Baukörpers umgestaltet (Alahan Monastir, Ostkirche, nach 462, um 500?; Dag Pazari, Kirche A, Ende 5. J h . ; Meriamlik, Kuppelbasilika, letztes Drittel 5. J h . ; Konstantinopel, Hagia Irene, um 532; Ephesus, Marienkirche, 6. Jh.). Mit einem ungeteilten Querschiff verbunden,erscheint dieser Bautypus dann bei der Basilika B von Philippi aus dem 6. J h . Dieses System wird nun auch auf die Kreuzbasilika übertragen, vielleicht zuerst bei der justinianischen Erneuerung der konstantinischen Apostelkirche in Konstantinopel und in ihrer Nachfolge dann bei dem justinianischen Neubau der Johanneskirche in Ephesus. Die Auseinandersetzung mit dem basilikalen Längsbauschema, die die vorgenannten Bauten durch eine Rhythmisierung des Richtungsbaues mit der Betonung eines Zentrums mit überhöhender Kuppeleindeckung zeigen, manifestiert sich ähnlich auch in der Vierungs- und Kuppelbasilika.
Alahan Monastir, Kirche, um 500 (nach Krautheimer)
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Diese Entwicklung zu einem komplizierten, hieratisch gegliederten Bau mit abgestuften, einander über- und untergeordneten, in der Höhe gestaffelten Baukörpern und Raumteilen findet ihren Höhepunkt in der justinianischen Sophienkirche in Konstantinopel, die zugleich die Tradition der Emporenbasilika und des seit dem 4. J h . vielleicht im Bereich der kaiserlichen Architektur entwickelten mehrgeschossigen, gegliederten Zentralbaues in sich vereint. Damit weist dieser neue, auf der Grundlage der Basilika unter Einwirkung ursprünglich unabhängiger Baugedanken entwickelte Bautypus über die Voraussetzungen der spätantiken Architektur hinaus. 2.2.6. Basilikale Komplexanlagen. Die konstantinischen Architekten fügten bei der Petersbasilika dem basilikalen Längshaus einen eigenen quergelagerten Baukörper, das Querhaus, zwischen der Halle und der Apsis im Westen an. Dieses Querhaus, von der Basilika deutlich im Innenbau und im Außenbau abgesetzt, hatte die Aufgabe, als eigener Baukörper das Petrusgrab vor der Apsissehne besonders hervorzuheben und Raum zu schaffen für die Zeremonien des Märtyrerkultes und der privaten Verehrung der Gläubigen. Die Basilika wurde also hier entsprechend den Funktionen des Memorialbaues, der das verehrte Denkmal mit einschließen sollte, durch einen weiteren Baukörper erweitert. Die Adaptabilität und Flexibilität des basilikalen Typus zeigt sich in der Gestaltung dieser Anlage und der in der Folgezeit entstehenden Memorialbauten und Pilgerzentren, die die basilikale Halle mit anderen Baukörpern zu einer kompositen Anlage verbinden. Keine dieser Anlagen gleicht der anderen, einen festen Typus gibt es nicht. Noch in konstantinischer Zeit wurden auf Veranlassung des kaiserlichen Hauses in Rom eine Reihe von Memorialkirchen errichtet, die an den Ausfallstraßen der Stadt über den christlichen Coemeterien gelegen, dem Gedächtnis der Märtyrer gewidmet waren (s.o.). Diese Basiliken, die offenbar bedingt durch die Erfordernisse des Märtyrer- und Totenkultes als Umgangsbasiliken ausgelegt waren, waren in einigen Fällen mit kaiserlichen Mausoleen verbunden. So befand sich wohl schon an der Basilica Apostolorum an der Via Appia an der südlichen Flanke ein großes, durch eine Arkadenstellung mit der Kirche verbundenes Mausoleum. Ein großes Rundmausoleum, das der Kaisertochter Konstantina als Grablcge diente, war an das Atrium der Agnesbasilika an der Via Nomentana angebaut. Die bedeutendste Anlage dieser Art war jedoch die Basilika ad duas lauros an der Via Labicana über der Katakombe SS. Pietro e Marcellino, die die Umgangsbasilika im Osten mit einem großen Rundmausoleum verband, das an die Kirche mit einer wie ein Querhaus wirkenden Vorhalle angeschlossen war. In dieser axialen Anbindung von Mausoleum und Basilika, die darin traditionellen Prinzipien der römischen Architektur folgte und in der das kaiserliche Mausoleum, das ursprünglich für Konstantin selbst als Grablege bestimmt war, der Gegenpol zu der Apsis der Kirche bildete, war eine überzeugende Lösung für diese komposite Anlage gefunden. Die Zuordnung der den einzelnen Funktionen dienenden Baukörper zu einem organischen, übersichtlich gegliederten Ganzen ist hier der Bedeutung des Kultes entsprechend überzeugend gelungen. Eine ähnliche Lösung finden wir in der konstantinischen Geburtskirche in Bethlehem. Hier ist allerdings der Zentralraum, der über der Geburtsgrotte Christi errichtet wurde, Zielpunkt der Anlage: An Stelle der Apsis ist ein oktogonaler Zentralbau mit einem wie ein Querschiff wirkenden Querriegel der basilikalen Halle angesetzt.
Komplexer und aufwendiger ist die Anlage der konstantinischen Grabeskirche gestaltet. Der Emporenbasilika mit Apsis im Westen ist ein von Säulenhallen umgebener Hof angegliedert, der den Felsen von Golgotha als heilige Stätte mit einschließt. In der Achse der Basilika ist dem Hof im Westen ein Zentralbau mit Umgang und Emporen angefügt. Dieser gegliederte Zentralbau, der in Auslegung und Aufbau einen wohl in der kaiserlichen Architektur entwickelten Typus repräsentiert, stellte den imposanten architektonischen Rahmen für das Grab Christi dar. So sind in dieser repräsentativen Anlage in einer sich steigernden axialen Abfolge, ausgehend von der Basilika und in der Grabesrotunde kulminierend, verschiedene Baukörper zusammengefaßt. Eine axiale Anordnung in einem geschlossenen vielgliedrigen Baukomplex von Baptisterium, Gruftkirche über dem Grab des Heiligen Menas und großer Querschiffsbasilika im Osten weist auch das Pilgerheiligtum des 5. J h . von Abu Mena in Ägypten auf. Im 6. J h . wurde hier dann die Gruftkirche in einen aufwendigen Dreikkonchen-Bau und die Menasbasilika in eine Querschiffsbasilika mit umlaufenden Schiffen verwandelt. Die Vorbilder dürften wiederum im Bereiche der kaiserlichen
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Architektur Konstantinopels zu suchen sein. Eine überlegte und geplante Anordnung der Baugruppe weist auch das große Pilgerheiligtum von Tebessa in Algerien aus der Zeit um 400 auf. Allerdings ist hier der Memorialbau selbst, ein Trikonchos, der großen Basilika im Süden und auf tieferem Niveau angeschlossen. Dem 6. J h . gehört bereits der Komplex der Basilika von Damus el Karita an, die wohl ebenfalls eine Gedächtnisstätte und ein Pilgerheiligtum gewesen ist: Trikonchos als Memorialbau, großes halbrundes Atrium und neunschiffige Querschiff-Vierungsbasilika schließen sich hier auf einer Achse von West nach Ost an. Weitere umfangreiche Bauten sind im Osten der Anlage angegliedert. Eine andere Lösung bietet das Wallfahrtszentrum von Kal'at Sem'an in Syrien aus dem späten 5. J h . : Hier ist der oktogonale zentrale Memorialbau mit vier basilikalen Kreuzarmen verbunden, so daß eine Anlage entsteht, die zwischen Kreuzbasilika und kompositer Komplexanlage vermittelt.
Der kurze Uberblick macht deutlich, daß es einen festen Typus für diese Komplexanlagen, Memorial- und Pilgerheiligtümer nicht gibt. Bevorzugt wird für besonders repräsentative und vom Kaiser gestiftete oder geförderte Bauten offenbar die axiale Anordnung, wobei der eigentliche Memorialbau der Gedächtnisbasilika unmittelbar angeschlossen, oder ihr durch vermittelnde Hofanlagen angegliedert werden konnte. 2.2.7. Doppelapsidenbasiliken. Vor allem in Nordafrika, aber auch in Spanien sind Basiliken verbreitet, die eine Gegenapsis besitzen, die häufig später eingebaut worden ist (Nordafrika: Thelepte, Basilika 3; El Asnam, Basilika, 324 und 5. Jh.; La Skhira, Basilika, 4. Jh.; Haidra, Basilika 1, 6. Jh.; Haidra, Candidus-Basilika, S./6. Jh.; u.a. Bauten. Spanien: Casa Herrera, um 500; Torre de Palma, um 500; San Pedro de Alcantara, um 500; u.a. Bauten). Neben den Gegenapsiden gibt es in Nordafrika wie in Spanien in manchen Basiliken ein zweites Sanktuarium am anderen Ende der Schiffe, das sich nicht im Außenbau ausprägt. Die Gründe für das Vorhandensein solcher Gegenapsiden oder Gegensanktuarien sind unterschiedlicher Natur. Die meisten dieser Apsiden haben dem Märtyrerkult gedient, wie Inschriften und Reliquienbestattungen belegen. Daneben gibt es aber auch Apsiden, die für die Bestattung bevorzugter Personen (Bischöfe) errichtet wurden (z.B. Orleansville; Tipasa; Sabratha u.a.). Schließlich ist in einigen Fällen auch eine Umorientierung des Kirchengebäudes vorgenommen worden; die Apsis ist in diesen Fällen immer späteren Datums (6. J h . ; Sbeitla; Haidra; LaSkhira; Cyrene). Auch die Gegenapsiden und Sanktuarien waren mit Altären und in Nordafrika auch mit Priesterbänken ausgestattet. Ein abgeschrankter Gang konnte die beiden Sanktuarien durch die Länge des Mittelschiffes miteinander verbinden. Durch die Gegenapsiden wird die eindeutige Ausrichtung, die für die christliche Basilika charakteristisch ist, modifiziert: Der Bau erhält mit der zweiten Apsis oder dem zweiten Sanktuarium eine Bipolarität, wie sie bereits eine Reihe mehrschiffiger Profanbasiliken der frühen und hohen Kaiserzeit aufwiesen.
2.2.8. Doppelbasiliken. Zu den kompositen Anlagen sind auch die Doppelbasiliken zu zählen, die schon in konstantinischer Zeit auftreten. Es handelt sich um zwei nebeneinander liegende Basiliken, wie etwa die zwischen 313 und 319 errichtete Doppelkirchenanla-
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g e v o n Aquileia und die ebenfalls n o c h in k o n s t a n t i n i s c h e r Z e i t e n t s t a n d e n e A n l a g e m i t zwei g r o ß e n parallel a n g e o r d n e t e n und eng m i t e i n a n d e r verbundenen Basiliken in T r i e r . A n d e r e D o p p e l k i r c h e n a n l a g e n finden sich a n a n d e r e n O r t e n des R e i c h e s , häufig in Istrien ( N e s a c t i u m , Pola u . a . ) , aber a u c h in N o r d a f r i k a , s o in Djemila (Cuicul, Algerien, frühes 5 . J h . ) , vielleicht in Konstantinopel aus der Z e i t d e r konstantinischen D y n a s t i e (S. Irene u n d S. Sophia) und a x i a l aufgereiht und d u r c h Säulenhöfe m i t e i n a n d e r verbunden die B i s c h o f s k i r c h e v o n G e r a s a (4. J h . ) und eine d e m H l . T h e o d o r g e w e i h t e M e m o r i a l k i r c h e des späten 5. Jh. Der Grund für eine solche Gruppierung ist nicht eindeutig geklärt und mag auch nicht für alle bekannten Beispiele der gleiche gewesen sein. Es ist zudem zu beachten, daß diese Anlagen z.T. als solche geplant und z. T. erst allmählich entstanden sind. Vielleicht ist in solchen Anlagen eine Kirche für Katechumenen neben der Gemeindekirche oder aber eine Memorial- (Märtyrer-)kirche neben der Bischofs- oder Gemeindekirche miteinander verbunden. Doch konnte auch eine alte Bischofskirche neben dem repräsentativen Neubau weiterbestehen wie in Antiochia in konstantinischer Zeit (vgl. Eusebius, vita Const. 3,50). 2.3. 2.3.1.
Die architektonischen Mauertechnik
Elemente
und Eindeckung.
In Auslegung und A u f b a u w a r die christliche
Basilika v o n einfacher K o n s t r u k t i o n : eine stützengetragene H a l l e ü b e r d e c k t v o n einem h ö l z e r n e n D a c h s t u h l . E n t s p r e c h e n d dünn w a r e n die W ä n d e dimensioniert. Die M a u e r technik folgte in den verschiedenen R e g i o n e n des Reiches der traditionellen Überlieferung. In R o m bestanden die Mauern aus Ziegel-, Ziegelschalen- oder Mischmauerwerk aus Tuffquadern mit abwechselnd mehreren Reihen von Ziegeln. Während Ziegelmauerwerk in Oberitalien üblich war, verwendete man in Istrien, Dalmatien und Griechenland Mörtelmauerwerk z.T. mit Ziegeldurchschuß, Quadermauerwerk mit Ziegeldurchschuß und Gußmörtelkern herrschte mit Variationen in Konstantinopel vom 4. bis 6. Jh. vor. Quadermauerwerk begegnet dagegen in Kleinasien, Syrien und Palästina sowie in Ägypten und Teilen Nordafrikas, neben dem wie in Spanien einfaches Bruchsteinmauerwerk verwendet wurde. Der Außenbau war meist schlicht und undekoriert. Größere Aufmerksamkeit wurde dem Außenbau in Kleinasien, Syrien, Palästina und Ägypten gewidmet, also in den Bereichen, in denen auch der Quaderbau vorherrschte. Die Schiffe w a r e n v o n hölzernen Dachstühlen überspannt: ein Satteldach über d e m Mittelschiff, Pultdächer über den Seitenschiffen. Z u r A b d e c k u n g w u r d e n v o r allem T o n ziegel v e r w e n d e t , aber a u c h Bleiziegel und Bronzeziegel für a u f w e n d i g e r e B a u t e n . Vornehmlich dürfte der offene D a c h s t u h l vorgeherrscht h a b e n , wie er n o c h im M i t t e l a l t e r gemeinhin üblich w a r . D o c h wird bei aufwendigeren B a u t e n und kaiserlichen Stiftungen, wie in d e r r ö m i s c h e n A r c h i t e k t u r , eine Kassettendecke den D a c h s t u h l verkleidet h a b e n (Eusebius, h. e. 1 0 , 4 , 4 3 ; vita C o n s t . 3 , 3 2 , 3 6 ; 4 , 5 8 ; Paulinus v o n N o l a , ep. 3 2 ; Prudentius, Perist. X I 2 1 9 f). In Syrien (Hauran) konnten die Quadersteinbauten auch mit Steinplatten abgedeckt sein. Mit der Vierungs- und Kuppelbasilika, die seit dem ausgehenden 5. J h . in Konstantinopel und Kleinasien auftritt, wird die östlicher Baugewohnheit schon der Kaiserzeit entstammende Wölbungstechnik aus radial gemauerten Ziegeln verwendet. Neben der Kuppel über dem Quadrat (Vierung) sind nunmehr gegebenenfalls Teile des Mittelschiffes und auch die Seitenschiffe und Nebenräume dieser Basiliken eingewölbt, um den Schub der Kuppel des Mittelschiffes aufzunehmen. Entsprechend wird nun in Konstantinopel und Kleinasien massives Quadermauerwerk und Quader-Ziegelmauerwerk verwendet, das bereits zur Kaiserzeit in Westkleinasien und an der ägäischen Küste bekannt war und somit auf älterer römischer Tradition fußt. Leichtbaugewölbe aus Tonröhren waren im Westen im 4./6. J h . bekannt. 2.3.2.
Stützen
und Bauplastik.
Wichtiges konstruktives und v o r allem den R a u m e i n -
d r u c k in d e r gerichteten H a l l e mit der perspektivischen F l u c h t b e s t i m m e n d e s E l e m e n t w a r e n die Stützen der H a l l e . Hier wurden vornehmlich Säulen in dichter Reihung vom 4. J h . bis in das frühe Mittelalter hinein verwendet. Sie konnten einen Architrav unter der aufgehenden Hochschiffwand oder Empore tragen (Rom, S. Peter, Lateransbasilika; S. Lorenzo, 4. Jh., S. Maria Maggiore, 5. J h . - Konstantinopel,
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Studiosbasilika, Mitte 5 . J h . ; Jerusalem, konstantinische Grabeskirche; Bethlehem, konstantinische und justinianische Geburtskirche). Deutlich untergeordnet in der Bedeutung erscheint die Säulenarkade, die in der Kaiserzeit zuerst in severischer Zeit an repräsentativen Großbauten verwendet wird, in den Nebenschiifen der Laterans- und Petersbasilika in R o m in konstantinischer Zeit. Sie erscheint zum ersten Mal in einem Großbau in der am Ende des 4. J h . von den Kaisern Theodosius, Arcadius und Honorius errichteten Paulus-Basilika in R o m im Hauptschiff. Bei den an der Wende zum 5. J h . und in der Folgezeit errichteten Titelkirchen in R o m ist sie die Regel. Die organischere Verbindung der Arkadenkolonnade mit der Schiffshochwand erlaubte zudem, auf kostbare Marmorarchitrave zu verzichten und größere Interkolumnien zu verwenden. Z u r Vermittlung zwischen Kapitell und aufgemauertem Bogen wurde nach Vorstufen im 4. J h . (S. Constanza, Rom, Mitte 4. Jh.) der Kämpfer entwickelt (Ravenna, S. Giovanni Evangelista, zweites Viertel 5. Jh.) und schließlich als neue unklassische Kapitellform das Kämpferkapitell (Konstantinopel, Studiosbasilika, Mitte 5. Jh.), das schließlich im 6. J h . in verschiedenen Formen die Kapitellplastik Konstantinopels und des Ostens bestimmt. Für die Säulenschäfte, Kapitelle und Basen wurden vor allem Spolien verwendet, so auch an Großbauten wie der konstantinischen Petersbasilika in R o m oder an Stiftungen der kaiserlichen Familie wie S. Giovanni Evangelista in Ravenna um 430. Dagegen sind die Kapitelle für die große Basilika S. Paolo am Ende des 4. J h . eigens für diesen Bau hergestellt worden: im Stil konservative korinthische Kapitelle für das Mittelschiff, korinthische und komposite Vollblattkapitelle für die Seitenschiffe. Mit aus stadtrömischer Produktion stammenden Vollblattkapitellen sind auch die Titelkirchen an der Wende zum 5. J h . in R o m ausgestattet. Mit dem Auslaufen einer Eigenproduktion an Bauplastik in R o m im Laufe des 5. J h . werden mit Ausnahme des aufwendigen Baues von S. Stefano Rotondo (2. Hälfte 5. Jh.) nunmehr bis ins Mittelalter hinein nur noch Spolien verwendet. Die Produktion an Bauplastik ist seit dem 5. Jh., abgesehen von lokalen Werkstätten in Nordafrika, im wesentlichen in Griechenland (Thasos), Konstantinopel und Umgebung, Kleinasien und Syrien konzentriert. Griechenland und in größerem Maße die Steinbrüche und Werkstätten in und um Konstantinopel versorgen im späten 5. und vor allem 6. Jh. den mediterranen M a r k t durch Exporte nicht nur von Kapitellplastik, sondern auch von Ausstattungsstücken wie Schrankenplatten, Altären und Ambones.
Doppelsäulen als Stützen begegnen in Basiliken Nordafrikas (z. B. Basilica maiorum, Karthago). Statt der Säule tritt auch schon früh der Pfeiler mit der Arkadenhochwand in der frühchristlichen Basilika auf. Auch dies steht in der älteren Tradition der römischen Architektur. So hat der Thermensaal des 2. J h . in S. Pudenziana Pfeilerarkaden gehabt. Die frühesten christlichen Pfeilerbasiliken sind die Umgangsbasiliken konstantinischer Zeit in Rom (s.o. 2.1). Häufiger war die Pfeilerbasilika in Nordafrika (Hippo Regius, Bischofskirche, 2. Hälfte 4. Jh.; Benian, Basilika, um 430; Ptolemais, Libyen, Basilika, Mitte 5. Jh.). Eine Sonderform zeigt die große Basilika von Thebessa (Algerien) aus der Zeit um 400 mit der Kombination von Pfeilern und vorgelegten Säulen. Zahlreich waren die Pfeilerbasiliken in Syrien, wo der Haussteinbau vorherrschte (Cyrrhus, Basilika, 2. Hälfte 5. J h . ; Qalb Loze, Basilika, um 500; Anderin, verschiedene Basiliken des 6. Jh.). Von diesen Vorbildern scheint auch ein im Westen seltenes Beispiel einer Pfeilerbasilika wie S. Michele in Africisco in Ravenna aus der Mitte des 6. J h . abzuhängen. Eine Sonderform sind die Kreuzpfeilerbasiliken Syriens (z.B. Resafa, Basilika A, Mitte 5. J h . ; Ruweiha, Bizzoskirche, 6. Jh.).
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2.3.3. Die Ausstattung der frühchristlichen Basilika. Der mehrschiffige Richtungsbau der frühchristlichen Basilika hatte im Mittelschiff, das wesentlich breiter und höher als die Seitenschiffe und hell belichtet war, den eigentlichen Festsaal, an dessen dem Eingang gegenüberliegenden Ende das heilige Geschehen vollzogen wurde. Die Ausstattung mit liturgischen Einrichtungen war nach Ort und Zeit unterschiedlich. Das Sanktuarium (Presbyterium, Bema, Hierateion, Thysiasterion) konnte, wie die Lateransbasilika zeigt, weit in das Mittelschiff hinein reichen. Der -» Altar stand vor der Apsis oder weiter vorgeschoben im ersten Drittel des Schiffes wie wohl auch in der Petersbasilika. In Nordafrika (z. B. Tebessa, um 400; Karthago-Dermesch, 6. Jh.) ist diese Lage des Altares durch den archäologischen Befund verschiedentlich gesichert. Ursprünglich noch im 4. Jh. war der Altar aus Holz, seit dem 5. Jh. aus Stein. Der Altarplatz war zum Mittelschiff abgeschrankt. Über dem Altar konnte ein Baldachin stehen. Im Osten des Reiches war der abgeschrankte Platz auch mit Lesepulten oder -»Kanzeln (Pyrgos, Ambo) für den Lesegottesdienst ausgestattet, die jedoch im Westen nicht vor dem 6. J h . auftreten. Ein langer abgeschrankter Gang (solea) lief häufig vom Altarplatz bis über die Mitte des Schiffes hinaus (Lateransbasilika; Tebessa, um 400). Er dient zum Einzug der Kleriker. Ein ebensolcher Gang konnte im östlichen Reichsteil den Altarplatz mit dem weit in das Schiff vorgeschobenen Ambo verbinden (Korinth, Lechaion-Basilika, 3. Viertel 5. J h . ; Konstantinopel, Polyeuktoskirche, Hagia Sophia, 6. Jh.). Bei den nordafrikanischen und spanischen Gegenapsidenbasiliken verband ein abgeschrankter Gang durch das Mittelschiff die beiden am Ende der Schiffe gelegenen Sanktuarien (z. B. Junca; Casa Herrera). In der über das Mittelschiff häufig leicht erhöhten Apsis befanden sich die steinernen halbrunden Priesterbänke, in deren Mitte ein steinerner Sessel als Bischofsthron stand, der in den Quellen schon für Kirchenbauten des 3. J h . bezeugt wird (Eusebius, h. e. 7,30,9). Da das Mittelschiff vom Altarplatz und der solea eingenommen wurde, nahm die Gemeinde im wesentlichen von den Seitenschiffen aus an der Opferfeier teil. Dem entsprachen offenbar auch die Schrankenanlagen, die in einige Basiliken noch nachzuweisen sind und die das Mittelschiff von den Seitenschiffen trennten (S. Paolo, Rom; Basilika, Tebessa). Die einzelnen Gruppen der Gemeinde nahmen von bestimmten Plätzen in den Schiffen am Gottesdienst teil. Die Einteilung des Fußbodendekors (Mosaiken) und Inschriften im Mosaikboden konnten den Standplatz (statio) der einzelnen Gruppen bezeichnen. Im einzelnen aber zeigt die Überlieferung und auch der archäologische Befund, daß in diesen Dispositionen eine große Vielfalt herrschte.
Im Gegensatz zum schmucklosen Äußeren vor allem im Westen des Reiches waren die Basiliken im Innern kostbar ausgeschmückt. Für die Säulen, Basen und Kapitelle wurden häufig kostbare Marmore, z.T. auch Buntmarmore verwendet. Wenn Spolien verwendet wurden, wurden sie paarweise einander gegenüber, die kostbarsten Stücke in der Nähe des Sanktuariums, eingesetzt. Der Fußboden bestand in aufwendigen Bauten aus bunten Marmorplatten, die vor allem im Mittelschiff verlegt wurden, während die Seitenschiffe häufig mit Mosaikböden ausgelegt waren. In weniger aufwendigen Bauten bestand der Boden nur aus Mosaik, meist mit geometrischen Mustern, seltener, im 4. Jh. und wieder seit dem späten 5. Jh., mit figürlichen Motiven. Meist wird der Boden nicht durch ein einheitliches Muster bedeckt, sondern aus einzelnen Mosaikfeldern bunt zusammengesetzt. Einzelne solcher Felder konnten von Gemeindemitgliedern oder Klerikern gestiftet werden, die dies durch eine in den Boden eingelassene Inschrift festhielten. Die aufgehenden Wände konnten in unterschiedlicher Weise geschmückt sein: mit Marmorinkrustation (opus sectile) in z. T. komplizierten Mustern, in die zuweilen auch figürliche Motive eingestreut sein konnten, oder aber mit einem entsprechenden gemalten Wanddekor. Triumphbogen und Apsiskalotte waren mit Mosaik geschmückt und auch die Mittelschiffswände über den Arkaden konnten mit Mosaik geschmückt sein. In der römischen Kirche S. Maria Maggiore sind kleine Mosaikfelder mit biblischen Szenen in eine Stuckdekoration der Mittelschiffswände eingefügt, die die Obergadenzone durch eine Pilasterarchitektur gliedert. Eine solche plastische Gliederung der Mittelschiffswände begegnet auch in der Hausteinarchitektur Syriens und in Nordafrika (Tebessa). Wandbilder in zyklischer Anordnung mit biblischen Szenen sind uns schon aus dem 4. J h . bezeugt (Nilus v. Ancyra, ep. 66), aber erst aus dem 5. J h . bis ins Mittelalter erhalten geblieben (S. Paul und S. Peter in R o m ) . Ein Beispiel aus dem 6. J h .
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R o m , S. Maria Maggiore, 432/40 (nach Brandenburg)
bieten die neutestamentlichen Szenen der Mosaikdekoration der Obergadenwände von S. Apollinare nuovo in Ravenna.
2.3.4. Nebenräume und umgebende Bauten. Wie antike Heiligtümer konnte auch die christliche Basilika mit einem von Säulenhallen umstandenen Vorhof (atrium) versehen sein. Er diente dazu, den eintretenden Gläubigen zu sammeln und den Kultbau vom Getriebe der Stadt abzuschirmen. Aber auch die Gläubigen, die die Kirche nicht mehr fassen konnte, fanden hier einen Platz, wie uns dies für die Peterskirche in Rom vom Ende des 4. Jh. berichtet wird (Paulinus v. Nola, ep. 13,11/13). Das Atrium dieser Kirche ist neben dem der Basilika von Tyros, das Eusebius beschreibt, das früheste uns bekannte (Eusebius, vita Const. 4,59). In der Mitte stand ein Brunnen (cantharus), der der Erfrischung und Reinigung diente. Der Zugang zum Atrium konnte besonders prächtig ausgestaltet sein (Propylon; vgl. Eusebius ebd.). Auch halbrunde Apsiden begegnen (Lechaion-Korinth, Basilika, Ende 5. J h . ; Karthago, Basilika von Damus el Karita, 6. Jh.).
Auch der gesamte Kirchenbezirk konnte von einer Umfassungsmauer (nepißoXot;, ambitus) umgeben sein, wie uns das Eusebius für die Kirche von Tyros schildert und wie er bei syrischen Kirchen sich erhalten hat (Eusebius ebd.; Cod. Theodos. 9,45). Häufig findet sich auch eine dem Eingang vorgelagerte Säulenhalle (Narthex). An diese und auch am Ende der Seitenschiffe zu beiden Seiten der Apsis konnten sich kleinere Nebenräume befinden, die der Vorbereitung des Kultes und der Liturgie selbst dienten sowie als Aufbewahrungsorte für das liturgische Gerät und die während der Liturgie dargebrachten Opfergaben der Gemeinde. Die in der Wissenschaft heute für diese Räume gebräuchlichen Namen Prothesis und Diakonikon sind willkürlich. In Syrien befand sich in einem dieser Nebenräume häufig ein Märtyrergrab (Reliquiengrab). Den Basiliken waren häufig -*Baptisterien mit weiteren Nebenräumen angegliedert, meist an der Flanke der Kirche, aber auch im Anschluß an das Atrium (Timgad; Parenzo), an die Vorhalle (Djemila) oder die Apsis (Henchir Deheb). Als weitere Anbauten werden von Paulinus von Nola (um 400) an der Felixbasilika von Cimitile cubicula (Kapellen) erwähnt, die als Grablege, aber auch als Andachtsräume dienten (ep. 32). Aber auch Bäder, Armenhäuser, Triklinia, Wohnbauten für den Klerus (episcopia) oder Klosteranlagen neben Hospizen werden in den Quellen vor allem für Pilgerheiligtümer angeführt. Ein schönes Beispiel für ein solches vielgliedriges Ensemble bieten der christliche Bezirk von Djemila (Algerien) aus dem ersten Viertel des 5. J h . und dann die Pilgerheiligtümer von Abu Mena (Ägypten), Tebessa (Algerien), S. Peter in Rom seit dem 5. Jh., Qalat Seman (Syrien) (vgl. auch oben).
2.4. Zusammenfassung Dieser Überblick hat deutlich gemacht, daß der im frühen 4. Jh. durch die Architekten Konstantins in Rom geschaffene Bautypus der Basilika in der Folgezeit in Ort und Zeit eine große Variabilität und Flexibilität in Form und Gestalt aufweist. Er ist der wand-
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lungsfähigstc spätantike Bautypus, der als Bauform noch in der Spätantike und in ihrer Nachfolge dann auch im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein eine führende Rolle in der Geschichte der Architektur gespielt hat und den wichtigsten Typus des christlichen Kultbaues überhaupt darstellt. Während die gerichtete, meist dreischiffige, mit einem hölzernen Dachstuhl eingedeckte Säulenbasilika in Rom und im Westen des römischen Reiches bis in das Frühmittelalter hinein ihre vorherrschende Stellung bewahrt hat, wird sie im Osten, vor allem in Kleinasien und in der neuen Hauptstadt Konstantinopel, in ihrer Vorrangstellung für den christlichen Kultbau seit dem späten 5. Jh., und vor allem im 6. Jh., durch neue Formen zurückgedrängt (Kreuzbasilika, Vierungsbasilika, Kuppelbasilika). Der basilikale Richtungsbau wird nunmehr unter dem Einfluß gliedernder und zentralisierender Tendenzen, die sich in der spätantiken Architektur des Ostens seit dem 5. Jh. manifestieren und durch die Übertragung der Lösungen der spätantiken Wölbungstechnik und der im spätantiken gegliederten Zentralbau vornehmlich im Rahmen der kaiserlichen Architektur entwickelten Strukturen grundlegend umgestaltet, so daß vor allem neue Raumformen und ein gestaffelter Baukörper entstehen, die, wie das Beispiel der Hagia Sophia in Konstantinopel lehrt, Abschluß und letzter Höhepunkt antiker Architektur darstellen. Die Wirkung dieser Entwicklung auf das im Westen vorherrschende Konzept der basilikalen Halle für den christlichen Kultbau zeigt sich auch in der einzigartigen Verbindung von Kreuzbau, Rundbau und fünfschiffiger Basilika in dem repräsentativen Großbau von S. Stefano Rotondo in Rom (2. Hälfte 5. Jh.), der aber in der Architektur der Spätantike ohne Nachfolge geblieben ist. 2.5. Ursprung und Entstehung der frühchristlichen Basilika Aus einem Brief Konstantins an Eusebius von Caesarea geht hervor, daß der Kaiser selbst Sorge dafür getragen hat, daß nach der Anerkennung der Kirche als offizieller
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Religionsgemeinschaft die nun zu klein gewordenen Kirchen vergrößert, die in der Verfolgungszeit verwahrlosten wiederhergestellt und die nun benötigten neu errichtet wurden (Eusebius, vita Const. 2,46). So war die Möglichkeit einer schnellen und unmittelbaren Vermittlung der von den römischen Architekten entwickelten Bauideen gegeben. Auch andere östliche Religionsgemeinschaften im römischen Reich haben für ihre Kultbauten, in denen sich die Gemeinde im Unterschied zu den traditionellen Kulten der griechisch-römischen Welt zusammenfand, den basilikalen Bautypus in unterschiedlichen Ausprägungen verwendet (z.B.: Serapistempel zu Milet; die inschriftlich Basilica Hilariana genannte, große, fünfschiffige kaiserzeitliche Pfeilerbasilika der Magna Mater in Rom; die Synagoge von Sardis, 3./4. Jh.). Offenbar bot sich der in der römischen Architektur in unterschiedlichen Varianten und Dimensionen ausgeprägte, von Stützen getragene, mehrschiffige Hallenbau, der Basilica genannt wurde und der, ohne auf eine bestimmte Funktion festgelegt zu sein, zur Aufnahme von Menschenansammlungen diente, für die Adaption als Kultbau solcher Religionsgemeinschaften als selbstverständlich an. Dieser Bautypus leitete sich aus der Architektur der Städte des hellenistischen Ostens her, wo die großen Platzanlagen von Hallen gesäumt waren, die dazu dienten, die Agora in geeigneter Weise durch diese überdachten Anlagen zu erweitern (z.B. Attalos- und Eumenes-Stoa an der Athener Agora). Diese ein- oder zweischiffigen, ein- oder zweistöckigen Hallen, hießen basilike stoa offenbar in Anlehnung an die königlichen Stiftungen hellenistischer Zeit, die den Typus etablierten. Inschriftlich ist dieser Name u.a. für die langgestreckte, nunmehr schon dreischiffige Stoa augusteischen Datums am Staatsmarkt in Ephesus gesichert, die auch bereits ein erhöhtes Mittelschiff aufweist. In der lateinischen Version der Inschrift wird diese Halle bezeichnenderweise einfach basilica genannt. Im Westen, wo diese Hallenbauten seit dem 2. Jh. v. Chr. in italischen Städten zum festen Bestand öffentlicher Bauten gehörten, bezeichnete die Basilica einen entwickelteren Bautypus im Sinne des Raumbaues. Um die Kapazität der Halle als Versammlungs- und Aufenthaltsraum zu erweitern, war man dazu übergegangen, die Säulenhalle im Rechteck anzuordnen, so daß ein oblonger Säulensaal mit Umgang entstand. Nach außen waren die Hallen meist geschlossen bis auf jene Längsseite, mit der sie an das Forum grenzte. Die Belichtung des mittleren Raumteiles erfolgte durch Öffnungen in der meist zweigeschossigen Säulenstellung des Mittelschiffes, entweder über dem ebenfalls zweigeschossigen Umgang oder durch einen Obergaden, der den Umgang überragen konnte. Einen festgelegten Bautypus gab es aber nicht, vielmehr zeigten diese repräsentativen öffentlichen Hallenbauten entsprechend der Funktion als Aufenthalts- und Versammlungsräume unterschiedlicher Bestimmung eine bemerkenswerte Vielfalt an Formen im Grundriß wie im Aufriß. Dies zeigt deutlich die spätrepublikanische Basilika von Pompei, die mit einer Schmalseite am Forum liegt und von dort auch zugänglich ist. An der gegenüberliegenden Schmalseite des dreischiffigen, allseitig geschlossenen Säulensaales lag das Tribunal. Dieser gerichtete Bau stellt eine durch die lokalen topographischen Bedingungen bestimmte Formvariante dar, die das gleichsam offene Grundkonzept und die in dem Bautypus liegenden Möglichkeiten erkennen läßt. Der entscheidende Schritt zum Richtungsbau - nach möglichen Vorstufen - wurde aber spätestens mit dem Bau der Basilika am severischen Forum von Leptis Magna vollzogen. Auch diese Basilika, die nach außen fast ganz geschlossen ist, liegt mit der Längsseite am Forum. Deutlich treten die Seitenschiffe gegenüber dem breiten Mittelschiff an Bedeutung zurück. Die großen Apsiden an beiden Schmalseiten bilden den Beziehungspunkt des Raumes. Auch hier muß der Saal dem Besucher als eine längsgerichtete Halle erschienen sein. Ein kleinerer Bau, aus der ersten Hälfte des 3. Jh. zeigt die in den vorgenannten Bauten angelegten Tendenzen klarer ausgebildet: Die Basilika von Tipasa in Algerien hat den Zugang zu dem allseitig geschlossenen Bau über eine Treppe an der südlichen Schmalseite. Diesem Eingang gegenüber befand sich am anderen Ende des langgestreckten dreischiffigen Baues eine Apsis mit flankierenden Nebenräumen. Über dem Mittelschiff befand sich ein durchfensterter Obergaden, der bei der zivilen Basilika nicht die Regel war. Wenn auch die Grundrißlösung und der Aufriß der Basilika von Tipasa im 3. Jh. keineswegs selbstverständlich für zivile Basiliken sind, so mag dieser Bau mit seiner den christlichen Basiliken so auffällig ähnlichen Gestalt doch zeigen, wie sehr in der zeitgenössischen Architektur die Tendenzen zum Richtungsbau angelegt waren und andererseits die Grundstruktur der profanen Basilika als Aufenthalts- und Versammlungsbau offen war für vielfältige Variationsmöglichkeiten in der Gestaltung. Es dürfte somit deutlich sein, daß innerhalb des Typus der Profanbasilika der Kaiserzeit die wesentlichen Elemente und das Raumgefüge der christlichen Basilika bereits angelegt waren. Die frühchristliche Basilika, wie sie uns in der Lateranskirche und in der Beschreibung der Basilika von Tyrus durch Eusebius exemplarisch entgegentritt, ist dem Bautypus nach also der profanen römischen Basilika zuzuordnen, deren Gattungsname ja
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auch auf sie übertragen wurde. Die Variabilität des Grundtypus der Säulenhalle (Basilica) als Versammlungs- und Aufenthaltsraum für größere Menschenmengen sowie ihr Formenreichtum gaben die Möglichkeit, diesen Bautypus für die Bedürfnisse der christlichen Gemeinde und ihres Kultes zu adaptieren und ihm im Falle der Lateransbasilika die Größe zu verleihen, die dem vom Kaiser gestifteten Kultbau der Gemeinde der Hauptstadt zukam. Die in ihrer Grundstruktur flexible Säulenbasilika bot die Möglichkeit der Variierung und auch Reduzierung in den Dimensionen und Raumteilen auf die Bedürfnisse kleinerer Gemeinden und die lokalen Gegebenheiten auch in anderen Regionen des Reiches. Diese Überlegungen dürften deutlich machen, daß die Schaffung der christlichen Basilica nicht so sehr ideologischen oder ideellen Erwägungen folgt, wie häufig in der Forschung postuliert wurde, die auch in der falschen Deutung des Terminus Basilica einen Bezug zum herrscherlichen Thronsaal hergestellt hat, sondern daß hier vielmehr praktisch-funktionclle Voraussetzungen, die Erfordernisse des Kults und gleichzeitig das Bedürfnis nach einem repräsentativen Bau für die Gestaltung der christlichen Basilika und ihre Anbindung an den Typus der in der römischen Architektur geläufigen Säulenhalle maßgeblich waren. 3. Andere
Kirchenbautypen
3.1. Saalkirchen Neben den kreuzförmigen Kirchen mit ungegliederter Halle (s. u.) bestand auch der einfache, rechteckige Saalbau mit und ohne Apsis als Kultbau. Er war vor allem im nordadriatischen Raum (z.B. Nesactium, 5. Jh.) und den nördlichen Provinzen (Noricum, Balkanprovinzen, Gallien, Germanien, Britannien) verbreitet. Aber auch in Syrien begegnen diese einfachen Saalbauten (z.B. Qirq Bize, 4. Jh.). 3.2. Zentralbauten Neben der Basilika als vorherrschendem Bautypus für den frühchristlichen Kirchenbau von seinen Anfängen bis zum Ausgang der Antike begegnet der Zentralbau in zahlreichen Beispielen in verschiedenen, meist schon auf Voraussetzungen der römischen Architektur beruhenden Formen vor allem in der östlichen Reichshälfte vom 4.—6. Jh. als Kultbau. 3.2.1. Der gegliederte Zentralbau. Schon in der konstantinischen Zeit begegnet der Zentralbau als Kirchcnbau. Eusebius berichtet (vita Const. 3,50), daß Konstantin in der Residenzstadt Antiochia im Jahre 327 die Kathedrale als oktogonalen Zentralbau mit Umgang, Emporen und Exedren habe errichten lassen, ein Bau, herausragend an Größe und Schönheit. Wahrscheinlich hatte die Kirche auch einen inneren Stützenkranz. Zwei Bauten des 6. Jh., S. Vitale in Ravenna und SS. Sergius und Bacchus in Konstantinopel, können vielleicht eine allgemeine Vorstellung von der Gestalt der aufwendigen Konstruktion geben. Dem gleichen Typus zugehörig ist die Ende des 4. Jh. entstandene Kirche S. Lorenzo in Mailand, ein gegliederter Zentralbau mit Emporen und Exedren an den vier Seiten des Grundrißquadrates und, in vielfältigen Abwandlungen des Grundschemas und des Aufbaues, z. B. eine Kirche in Seleukia Pieria (Ende 5. Jh), die Kathedrale von Bosra (6. Jh.), eine Kirche in Resafa (6. Jh.), in Abu-Mena (6. Jh.), Canosa (5./6. Jh.), die Bischofskirche in Ohrid. Das oktogonale Grundrißschema mit innerem Stützenkranz, allerdings ohne Exedren, weist das Lateransbaptisterium des 5. Jh. auf und mit außen angelegten Kapellen die im Jahre 484 von Kaiser Zeno auf dem Berg Garizim errichtete, der Gottesmutter geweihte Kirche. Einem Quadrat eingeschrieben ist der oktogonale Innenraum mit entsprechendem Stützenkranz bei der Kirche am Bischofspalast (?) von Philippi (6. Jh.), ebenso wie die Georgskirche in Esra (frühes 6. Jh), die auch die Nischen in den Diagonalseiten aufweist. Eine Rotunde mit innerem Stützenkranz und Emporen ist der von Konstantin über dem Grab Christi errichtete Gedenkbau, die Anastasis in Jerusalem; der gleiche Typus findet sich bei der Kathedrale von Apameia (6. Jh.) und bei einem kaiserlichen Bau, dem Mausoleum der Constantina an S. Agnese (4. Jh.) in Rom. Er begegnet ebenfalls mit dem für den traditionellen römischen Rundbau üblichen Nischen in der Außenschale beim Baptisterium des christlichen Bezirks in Dejemila und ohne diese Nischen bei dem Baptisterium von Nocera (6. Jh.). Die Kirche S. Stefano Rotondo (2. Hälfte 5. Jh.) in Rom, ein vom Bischof errichteter Memorialbau, verbindet in einer gelungenen Synthese den gegliederten Rundbau im Aufrißschema einer fünfschiffigen Basilika
440
Kirchenbau I
mit dem kreuzförmigen Zentralbau, zwischen dessen Armen sich exedraähnliche Raumsegmente befinden.
3.2.2. Kreuzförmige Zentralbauten und verwandte Bautypen. Kreuzförmige Bauten, meist ohne Ausprägung des Grundrißschemas im Außenbau, waren auch der römischen Architektur bekannt (Palast- und Thermenbauten, Mausoleen). Als große monumentale Bauten treten sie erst seit dem 4. Jh. in der Gestalt christlicher Kultbauten auf; wegen der Symbolik der Kreuzgestalt (vgl. ambrosianische Inschrift der Apostelkirche, Mailand) wird der Typus wohl vornehmlich als Memorialbau, doch auch als Bischofskirche (Gaza, Anfang 5. Jh.) verwendet. Die Kreuzarme als ungegliederte Halle: Antiochia, Babylas-Martyrium, spätes 4. Jh. Basilikale Kreuzarme (?): Sichern, Gedenkkirche über Jakobsbrunnen, 4. Jh.; Martyrium von Kalat Seman, letztes Viertel 5. Jh. (s.o.). Mit verlängertem Hauptarm, also Zentral- und Längsbaugedanken verbindend, war wohl die konstantinische Gründung der Apostelkirche ausgelegt und in ihrer Nachfolge die Apostelkirche des Ambrosius in Mailand und die Basilica virginum in Mailand (Ende 4. Jh.) mit einschiffigen Hallen als Kreuzarmen, die ältere Kirche über dem Johannesgrab in Ephesos mit basilikalen Kreuzarmen (frühes 5. Jh.) und ihre Nachfolgerin justinianischer Zeit (6. Jh.; s. o. Kreuzbasilika, Kuppelbasilika). Den Kreuzbau mit gleichen Kreuzarmen, verbunden mit einem oktogonalen Zentrum mit Exedren, wies offenbar das von -»Gregor von Nyssa errichtete Martyrium auf (vgl. Kalat Seman, s.o.). Kreuz- und Rundbau verbindet schließlich S. Stefano Rotondo in Rom (s.o.).
3.2.3. Zentralbauten mit ungegliedertem Innenraum. Weitverbreitet sind die ungegliederten Zentralbauten mit zahlreichen Varianten in der Gestaltung des Innen- und Außenbaues. Sie wurden vor allem für Baptisterien, Mausoleen und Memorialbauten verwendet. Oktogonaler Außen- und Innenbau: Memorialbau über der Geburtsgrotte (Bethlehem), konstantinisch. Oktogonaler Außenbau, oktogonaler Innenraum mit rechteckigen und halbrunden Nischen an den Seiten des Oktogons: Baptisterium der Kathedrale von Mailand (Mitte 4. Jh.); Mausoleum an S. Lorenzo, Mailand, (4. Jh.); mit vier außen vorspringenden Nischen: Ravenna, Baptisterium der Kathedrale (4./5.Jh.). Quadratischer Außenbau mit oktogonalem Innenraum mit Nischengliederung: z.B. das Baptisterium von Riva S. Vitale (um 500) und der vielleicht dem Apostel Philipp geweihte Memorialbau in Hierapolis (Anfang 5. Jh.?).
4. Abschließende
Bemerkungen:
Liturgie, Funktion,
Gestalt,
Ausrichtung
Der frühchristliche Kirchenbau zeigt eine große Vielfalt: Basilika, Saalkirche, Kreuzbau und Zentralbau mit ihren vielfältigen Varianten und Verbindungen bilden die Haupttypen des Kultbaues; doch hatte der Richtungsbau in der Gestalt der Basilika und ihrer Varianten den Vorrang. Eine feste Bindung eines bestimmten Typus an einen bestimmten Zweck oder bestimmte Funktion ist nicht gegeben. Lediglich der kreuzförmige Bau ist vornehmlich für Memorialkirchen verwendet worden, wenn auch nicht die kreuzförmige Gemeindekirche (Bischofskirche in Gaza) fehlt. Der Zentralbau mit der Taufpiscina in der Mitte wurde für Baptisterien bevorzugt. Ansonsten ist vor allem der gegliederte Zentralbau vorzugsweise eine Aufwandsform und begegnet daher in kaiserlichen Gründungen. Aus der kaiserlichen Sphäre scheint auch die Ausbildung dieses Bautypes ihre wesentlichen Impulse empfangen zu haben. Den liturgischen Bedürfnissen haben Richtungsbau oder Zentralbau offenbar gleichermaßen Genüge getan; die unmittelbare Wahl des Zentralbaues im gegebenen Fall war wohl häufig durch den Wunsch nach einem repräsentativen, künstlerisch aufwendigen Bau bestimmt. Auch die Nutzung der Raumteile des Kirchengebäudes war flexibel. Die Einrichtung des liturgischen Mobiliars und die Einteilung des Presbyteriums und seine Abgrenzung durch Schrankenanlagen waren in den einzelnen Regionen des Reiches verschieden. So hatten auch die verschiedenen Gruppen der Gemeinde nicht immer die gleichen Standplätze in Mittelschiff und Seitenschiffen, von denen aus sie am Gottesdienst teilnehmen konnten. Entsprechend konnten auch die Emporen unterschiedlich genutzt werden, ebenso wie Apsisnebenräume und ähnliche Räumlichkeiten am Narthex unterschiedlichen Zwecken dienten.
Kirchenbau I
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Die konstantinischen Gründungen R o m s waren wie die antiken Tempel mit der Eingangstür nach Osten zur aufgehenden Sonne ausgerichtet. Der Liturge a m Altar, der Bischof auf dem T h r o n in der Apsis waren nach Osten gewendet, die Gemeinde wendete sich jeweils zum Gebet nach Osten um. Im Ostteil des Reiches herrschte offenbar schon von Anfang die Orientierung des Kultbaues mit der Apsis nach Osten vor, wenn auch die Basilika von Tyros, wie Eusebius berichtet, gewestet war. Doch setzte sich auch im Westen aus liturgischen Gründen die Ostung im Laufe des 5. J h . durch: Gemeinde und Liturge waren nunmehr in Gebetsrichtung nach Osten der Apsis zugewendet. Schon a m Anfang des 5. Jh. wird diese Orientierung bevorzugt ( u s i t a t i o r mos-, Paulinus v. N o l a , ep. 31). Weder die —»Liturgie noch symbolische Konzepte haben also, abgesehen von der Ausrichtung des basilikalen Versammlungsraumes auf das heilige Geschehen vor der Apsis, die abgestufte Gliederung der Bauten, sowie gegebenenfalls der monumentalen Ausgestaltung des Presbyteriums und der vorzugsweisen Bindung des Kreuzbaues an die Gedenkstätte {memoria), unmittelbar und allein die konkrete Gestalt des Kirchengebäudes bestimmt. Der Wunsch nach einem repräsentativen und künstlerisch anspruchsvollen Bau ist häufig gleichermaßen für die Gestaltung des christlichen Kulthauses maßgebend. In der offenen, multifunktionalen Verwendung der Bautypen und ihrer Raumteile folgt die christliche der kaiserzeitlichen römischen Architektur.
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K i r c h e n b a u II
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II. M i t t e l a l t e r 1. Bauaufgaben 2. Baumaterial 3. Ausrichtung formen 6. Bauablauf (Literatur S. 455)
4. Bautypen und Bauteile
5. Sonder-
Im Mittelalter ist der Sakralbau die führende Bauaufgabe, in der sich die wesentlichen Entwicklungen der Architektur vollziehen. Er beeinflußt andere Bereiche des Bauens stärker, als er selbst von ihnen beeinflußt wird. Für den mittelalterlichen Kirchenbau gab es zahlreiche Gepflogenheiten und Regeln, die meistens beachtet wurden, aber keine absolut bindenden Vorschriften. So gibt es kaum eine Regel, die nicht auch gelegentlich durchbrochen worden wäre. 1.
Bauaufgaben
Die mittelalterlichen S a k r a l b a u t e n bildeten, a n d e r s als die gleichzeitigen P r o f a n b a u ten, keine V i e l z w e c k r ä u m e , s o n d e r n für jede sich regelmäßig z u m Gottesdienst v e r s a m melnde P e r s o n e n g r u p p e u n d für jeden sich wiederholenden gottesdienstlichen Z w e c k w u r d e ein eigener R a u m geschaffen. Bei der im L a u f e des M i t t e l a l t e r s z u n e h m e n d e n Z u s a m m e n f a s s u n g solcher R ä u m e in einem G e b ä u d e w u r d e n jeweils
verschiedene
R a u m t e i l e für die einzelnen Gottesdienste o d e r P e r s o n e n g r u p p e n b e s t i m m t . Im frühen M i t t e l a l t e r w u r d e n s o w o h l in den seit der Antike christlichen als a u c h in den neu missionierten Gebieten z u n ä c h s t K i r c h e n bei d e n Ansiedlungen benötigt. M e i s t sind die T o t e n u m diese K i r c h e n h e r u m , m a n c h m a l a u c h in ihnen, bestattet w o r d e n . E s dürfte v o n A n f a n g a n ein Unterschied gewesen sein, o b der B a u für eine in sich nicht weiter differenzierte G e m e i n d e errichtet w u r d e o d e r o b für einen G r u n d h e r r n und Kirc h e n e i g e n t ü m e r ein besonderer R a u m zu schaffen w a r .
Kirchenbau II
443
Neben diesen dörflichen Kirchen gab es schon frühzeitig, mit der Missionierung entstehend, Klöster, die eigene Kirchen brauchten, um die Abgeschlossenheit der Klausur zu gewährleisten und den differenzierteren Gottesdienst zu ermöglichen, weil hier nicht nur die Messe zu feiern war, sondern der Konvent sich täglich mehrmals zu den Stundengebeten versammelte. Die Klosterkirchen benötigten bald mehrere Altäre, sowohl wegen der speziellen Verehrung verschiedener Heiliger als auch für die wachsende Zahl von Priestern unter den Mönchen. Geistliche Gemeinschaften, die die vita communis ohne Klausur pflegten (Kollegiatstifte, Damenstifte), hatten für ihre Kirchen kein von den Klöstern grundsätzlich verschiedenes Bauprogramm. Für die Psallierchöre der Nonnen und Stiftsdamen war anscheinend eine stärkere Absonderung erwünscht als für die der Mönche oder Chorherren. Die Kirchen der im früheren Mittelalter häufigen Doppelklöster hatten das Raumprogramm für einen männlichen und einen weiblichen Konvent in einem Bauwerk zusammenzufassen. Bischofssitze haben sich innerhalb des Imperium Romanum z. T. in ungebrochener Tradition erhalten. Der Trierer Dom ist ein Beispiel für eine im 4. Jh. errichtete Bischofskirche, die (über Zerstörungen, Erneuerungen und eingreifende Umbauten hinweg) heute noch dem gleichen Zweck dient. Neue mittelalterliche Bischofssitze wurden in Deutschland seit der Zeit des -»Bonifatius (2. Viertel 8. Jh.) errichtet. Die vor dieser Zeit nachweisbaren Bischöfe wirkten zumeist ohne feste Ortsbindung an Fürstenhöfen oder in Verbindung mit Klöstern. An den kanonischen Bischofssitzen wurden Kathedralkirchen errichtet, die stets auch Stiftskirchen der -»Domkapitel waren, außerdem manchmal gesonderte Baptisterien und oft weitere Kirchen und Kapellen für spezielle Zwecke. Diese verschiedenen, aber benachbarten und im selben Eigentum stehenden Sakralbauten bildeten zusammen eine sog. „Kirchenfamilie". Fast immer liegen in der Nähe der Bischofssitze und deutlich auf sie bezogen außerdem noch Kollegiatstifte und Klöster mit den dafür charakteristischen Bauten. Die Gräber von Märtyrern und anderen Persönlichkeiten, die als Heilige (-»Heilige/ Heiligenverehrung) verehrt wurden, sind oft Ausgangspunkt für Stifts- oder Klosteranlagen (-»KIoster/Klosteranlagen) geworden. Seit karolingischer Zeit wurden Heiligenreliquien aber auch an andere Orte übertragen, an denen dann zu ihrer Verwahrung Anlagen in den bestehenden Bauten geschaffen oder eigene Kirchen errichtet wurden (-»Reliquienverehrung) . An den Sitzen von Fürsten und Herren wurden im Baukomplex der Pfalzen stets eigene Kapellen gebaut. An den bedeutenderen Fürstensitzen organisierten sich die an einer solchen Kirche tätigen Kapellane in der Art eines Kollegiatstiftes, so daß die Bauaufgaben von Pfalzkapelle und Stiftskirche zusammentreffen konnten. Die Zeit der Ottonen und Salier ist im Kirchenbau gekennzeichnet durch die Bemühungen um die Klosterreform, die nicht nur zur Reformierung bestehender Klöster und in diesem Zusammenhang zu Baumaßnahmen führte, sondern auch zu zahlreichen Neugründungen. Dabei blieb der im 10. Jh. von dem lothringischen Kloster -»Gorze ausgehende Reformzweig weitgehend im Rahmen der herkömmlichen Ordnung. Der etwa gleichaltrige, vom burgundischen -»Cluny ausgehende Zweig der Benediktiner-Reform, der vor allem im 11. Jh. wirksam wurde, führte tiefergreifende Neuerungen ein, von denen die Gliederung der Klostergemeinschaft in zwei getrennte Mönchsstände - Priestermönche und Laienmönche - mit unterschiedlichem Tageslauf für den Kirchenbau besonders wichtig ist. In der Zeit des -»Investiturstreits kam es zu entsprechenden Reformbemühungen bei den Kanonikerstiften und zur Ausbreitung der nach der Regel des Augustinus lebenden Regular-Kanoniker (-»Augustiner-Chorherren).
Im 12. Jh. entwickelten die -»Zisterzienser einheitliche Regelungen für den ganzen Orden, die sich auch auf den Kirchenbau auswirkten. Der programmatische Verzicht auf
444
K i r c h e n b a u II
T ü r m e , a u f B a u s k u l p t u r , a u f R a u m a u s m a l u n g u n d F a r b v e r g l a s u n g ist als R e a k t i o n a u f die T e n d e n z e n der Cluniazenser zu verstehen. D i e von diesen entwickelte G l i e d e r u n g der Klostergemeinschaft ü b e r n a h m e n die Z i sterzienser, behielten aber die ganze Klosterkirche den beiden M ö n c h s g r u p p e n vor u n d b a u t e n f ü r die weltlichen Bediensteten u n d die G ä s t e eigene kleinere Kapellen a u ß e r h a l b des inneren Klosterbereichs. D i e - » P r ä m o n s t r a t e n s e r e n t w i c k e l t e n k e i n e b e s o n d e r e n , sich v o n d e n a n d e r e n C h o r herren unterscheidenden Bauvorschriften. Als eine Art des Kirchenbaus sind auch die Krankenhäuser und Spitäler zu sehen, die zunächst nur im Zusammenhang mit Stiften und Klöstern gebaut wurden. Grundanliegen war die Möglichkeit der Teilnahme am Gottesdienst auch f ü r den bettlägerigen Spital-Insassen. Bei den Zisterziensern entstanden besonders große Krankenhausbauten, die getrennt vom Klausurbereich angeordnet waren. Seit der Zeit der Kreuzzüge sind Spitäler (-»Hospital) auch als selbständige Anlagen, ohne Verbindung mit einem Kloster, angelegt worden. Sie dienten vor allem der Beherbergung und Pflege von Pilgern. S t ä d t i s c h e S i e d l u n g e n h a b e n sich bis i n s 11. J h . n u r i m A n s c h l u ß a n b e s t e h e n d e geistlic h e Z e n t r e n (Bischofssitze, Stifte, K l ö s t e r ) o d e r a n P f a l z e n e n t w i c k e l t . Sie b r a u c h t e n d e s h a l b z u n ä c h s t k e i n e e i g e n e n K i r c h e n g e b ä u d e . P f a r r k i r c h e n w u r d e n a l l e n f a l l s als N e b e n k i r c h e n bei d e n S t i f t e n u n d K l ö s t e r n g e b a u t . E r s t seit d e m 12. J h . w u r d e n S t ä d t e g e g r ü n d e t , d i e k e i n e n s o l c h c n K e r n h a b e n u n d deshalb eigene Stadtkirchen brauchten, die d e m Pfarrgottesdienst der Bürgerschaft dienten. Als Folge des raschen Anwachsens von G r ö ß e und Bedeutung der Städte entstanden seit d e m f r ü h e n 13. J h . d i e B e t t e l o r d e n ( - » A r m u t ; - » M ö n c h t u m ) . E i n e w e s e n t l i c h e F o r m ihres W i r k e n s w a r d a s P r e d i g e n , bei d e n - » D o m i n i k a n e r n ( o r d o praedicatorum) von A n f a n g a n , b a l d a u c h bei d e n - » F r a n z i s k a n e r n u n d d e n a n d e r e n B e t t e l o r d e n . In i h r e n K i r c h e n b e n ö t i g t e n sie d e s h a l b a u ß e r d e n h e r k ö m m l i c h e n E l e m e n t e n d e r K l o s t e r k i r c h e n — Altarstellen für das Messe-Lesen und C h o r u s für das Psalmgebet - R a u m f ü r die Z u h ö rer der Predigten. Hauskapellen waren in manchen Städten Bestandteil anspruchsvoller Bürgerhäuser. Sie entstanden vermutlich in der Tradition von Burgkapellen. Benötigt wurden sie an den Wohnsitzen von Geistlichen, also in Kanonikerhöfen. Auch zu den Stadthöfen ländlicher Klöster, wie sie vor allem von den Zisterziensern angelegt wurden, gehörte in der Regel eine Kapelle. In Rathäusern und sogar in Zunfthäusern wurden manchmal ebenfalls Kapellen eingerichtet. Im späteren Mittelalter sind Kapellen aufgrund privater Stiftungen, vor allem in Verbindung mit Kirchen und Friedhöfen, errichtet worden. Sie waren häufig auch dazu bestimmt, die Grabstätten ihrer Stifter aufzunehmen. Die -»Friedhöfe lagen auch in den Städten lange Zeit bei den Pfarrkirchen. Erst seit dem späten Mittelalter wurden sie wegen des Platzbedarfs und auch aus hygienischen Gründen aus den Städten hinaus verlegt. An den neuen Stellen wurden dann eigene Friedhofskirchen benötigt.
2.
Baumaterial
Nach dem Ende des Imperium R o m a n u m , mit dem auch die römische Steinbautradition weitgehend abgerissen war, sind die Kirchen des frühen Mittelalters meistens aus Holz errichtet worden. Wir kennen sie nur aus Grabungsbefunden, bei denen es oft schwierig ist, in der Anordnung der festgestellten Pfostengruben den Grundriß des Bauwerks zu erkennen. Die Deutung als Sakralbau ergibt sich hier entweder aus dem Zusammenhang mit Gräbern oder aus den steinernen Nachfolgekirchen, unter denen die Reste der hölzernen Vorgänger gefunden wurden. Schon im 8. Jh. wurden zahlreiche Kirchen aus dem jeweils anstehenden Naturstein (Bruchstein, Feldstein, Klaubsteine) gebaut. Seit karolingischer Zeit dominiert der Steinbau, der in der „Hierarchie" der Materialien über dem Holz stand, doch blieben Holzkirchen in Nord- und Osteuropa und in einigen mitteleuropäischen Waldregionen üblich. Werkstein (Quader), der schon an karolingischen Bauten verwendet wurde, gewann in romanischer Zeit an Bedeutung. Seit dem 11. Jh. wurden vereinzelt, seit dem 12. häufiger, Kirchenbauten ganz aus Quaderwerk errichtet. Backstein wurde in natursteinarmen Regionen (z.B. Poebene,
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Schwäbisch-bayerische Hochebene, Rheingraben, Norddeutsche Tiefebene) seit dem späteren 12. Jh. in wachsendem Umfang gebrannt und ebenfalls zuerst im Sakralbau verwendet. Da unter den geeigneten Baustoffen stets die am leichtesten verfügbaren verwendet wurden, haben sich von Materialien geprägte Baulandschaften gebildet, am deutlichsten die Backsteingebiete, aber auch Kalksteingebiete, Sandsteinlandschaften mit verschiedenen Steinfarben, Granitgebiete sowie die Bruchstein- und Schiefergebiete, deren Material im mittelalterlichen Sakralbau aber kaum je unverputzt geblieben ist. Die hierarchische Ordnung der Materialien, bei der sich Wertschätzung und Kosten meist entsprechen, zeigt sich am deutlichsten am steinernen Sakralbau in Gegenden, in denen im Profanbau das Fachwerk vorherrscht oder an der auf wenige, besonders anspruchsvolle Bauten eingeschränkten Verwendung von Marmor in Italien. Bei den Dachdeckungen war bis in das 13. Jh. hinein Blei das ranghöchste Material, neben dem nur vereinzelt Kupfer verwendet wurde (Bamberger Dom, Anfang 12. Jh.). Ziegeldeckungen wurden bevorzugt gegenüber den Schindeldeckungen, die aber im Kirchenbau auch Verwendung fanden im Gegensatz zur Strohdeckung, die auf den bäuerlichen Bereich beschränkt blieb.
3. Ausrichtung Kirchengebäude wurden häufig nach dem Sonnenlauf ausgerichtet. Im Osten, auf der Seite des Sonnenaufgangs, wurde die Wiederkunft Christi erwartet. Osten ist die Gebetsrichtung; mit dem Blick nach Osten, also mit dem Kopf im Westen, wurden die Toten bestattet; auch der zelebrierende Priester wandte sich, am Altar stehend, nach Osten, wo in der Kirchenachse stets ein Fenster angebracht war. Auch bei Altären auf der Westseite blieb Osten die Zelebrationsrichtung. Antike Tempel waren häufig so gegen Osten gerichtet, daß das Götterbild aus der Cella durch die Tür in diese Richtung blickte. Wo Tempel in Spätantike oder Mittelalter zu Kirchen umgebaut wurden, mußten sie „umgekehrt" werden; der Altar wurde auf der bisherigen Eingangsseite errichtet, der Zugang auf der Gegenseite angelegt. Die Ausrichtung der römischen Patriarchalbasiliken nach Westen (die bei der Vatikansbasilika eindeutig topographisch bedingt ist) hat seit karolingischer und bis in die romanische Zeit zur Anlage gewesteter Kirchen geführt, die sich ostentativ auf die römischen Vorbilder beziehen. Im deutschen Bereich wurden solche Bauten aber stets „doppelchörig" angelegt, mit je einem Hauptaltar im Osten und Westen. Bei Kirchen mit einem Querschiff bezeichnet dieses die bevorzugte Richtung (Westquerschiffe z. B. an den Domen in Mainz, Augsburg und Bamberg oder der Klosterkirche in Fulda). Der Westen hat eigene Bedeutung als Seite der widergöttlichen Kräfte. Dort sind die -»Dämonen abzuwehren, dorthin wird sich der wiedergekommene Christus zum Gericht wenden. Der Westen ist deshalb die Seite des Erzengels Michael und der Weltgerichtsdarstellungen. Die Westseite, die dem Altar gegenüberliegt, kann als Eingangsseite ausgebildet sein, aber auch abweisend geschlossen bleiben. Im Norden wurde die Richtung der Heiden gesehen. Dorthin wendete sich deshalb die Lesung des Evangeliums. Wenn kleine mittelalterliche Kirchcn oft außer dem Ostfenster nur Südöffnungen hatten und im Norden und Westen ganz geschlossen blieben, dürften für das öffnen zur Sonne klimatische Gründe und praktische der Belichtung zumindest gleichwertig neben symbolisch-kultischen stehen. Von der strikten Ostrichtung gibt es jedoch sehr oft beträchtliche Abweichungen, die sich nur manchmal als Rücksichtnahme auf die Richtung eines Vorgängerbaues, als topographisch oder städtebaulich bedingt erklären lassen. Die zahlreichen Versuche, abweichende Orientierungen mit dem Sonnenstand an bestimmten Tagen zu erklären, haben bisher keine überzeugenden Ergebnisse erbracht. Der nicht selten beobachtbare Knick der Kirchenachse zwischen Hauptraum und Altarraum wird gerne als abbildende Darstellung der inclinatio capitis Domini erklärt. Dies könnte bei Bauten mit kreuzförmigem Grundriß stichhaltig sein, doch findet sich das Phänomen hauptsächlich als Differenz zwischen den Richtungen verschiedenaltriger Bauteile. Planeinheitliche Kirchen, die solche Achsknicke ohne topographischen Zwang aufweisen, sind nicht bekannt.
4. Bautypen und Bauteile Am mittelalterlichen Sakralbau ist zu beobachten, daß die Bautypen zwar praktischen Bedürfnissen genügen und den sich verändernden funktionellen Erfordernissen durch Abwandeln angepaßt wurden, daß die Bauanlagen im Ganzen und im Zusammenfügen
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ihrer Teile aber nicht Notwendigkeiten, sondern Vorstellungen und Gewohnheiten folgen, die in ganzen Landschaften und durch ganze Epochen hindurch beibehalten wurden. 4.1. Hauptraum. Die mittelalterlichen Kirchenräume sind fast immer gegliedert. Vor allem für den Altar wurde meistens ein eigener Teilraum von dem in der Regel längsrechteckigen Hauptraum abgesetzt, dessen Grundform ein ungeteilter Saal mit flacher Decke ist. Seine Breite ist durch die Spannweite der Dachkonstruktion begrenzt, seine Länge nicht durch technische Gegebenheiten, sondern durch die Proportion. Im Steinbau blieben diese Räume ungegliedert, im Holzbau ergab sich aus der Ständerstellung eine Jochteilung. Die Grundform ist bei kleineren Bauten (Dorfkirchen, Kapellen) stets beibehalten worden, bei größeren Kirchen wurde eine Schiffsteilung durch Stützenreihen üblich. Am häufigsten sind dreischiffige Räume. Die bei den römischen Patriarchalbasiliken vorgebildete Fünfschiffigkeit wurde nur bei sehr anspruchsvollen und großen Bauten aufgegriffen (z. B. Pisa; Como, S. Abbondio; Cluny III; Toulouse, St. Sernin; Paris, Notre Dame; Bourges; Köln, Dom; Mailand, Dom). Zweischiffige Räume sind selten, bieten sich auch nur in Kirchen mit zwei gleichgewichtigen Altären an. Eine Gruppe solcher Bauten aus dem 12./13. J h . findet sich auf Gotland. Außerdem sind Dominikanerkirchen, vom Vorbild Toulouse, St. Jacques ausgehend, öfters zweischiffig gebaut worden. Durch die Stützenreihen wurden aber nur in manchen Landschaften statt einheitlicher Säle mehrschiffige Hallen geschaffen, in anderen aber, frühchristlichen Vorbildern folgend, Basiliken, deren Mittelschiff über die Dächer der niedrigeren Seitenschiffe hinausragt und durch eigene hochliegende Fenster direktes Licht erhält. Die Schiffstrennung erfolgt durch Reihen von Säulen oder Pfeilern als Träger von Bogenfolgen. Säulen wurden anscheinend trotz technischer und ökonomischer Nachteile (teurer herzustellen, weniger tragfähig, im Brandfall stärker gefährdet) bis in die Hochromanik als höherrangig empfunden. Seit ottonischer Zeit führte das Bemühen um die Gliederung der langgestreckten Räume zum regelmäßigen Wechsel verschiedener Stützenformen. Beim einfachen (jambischen) Stützenwechsel folgen alternierend Pfeiler und Säulen aufeinander, beim sogenannten niedersächsischen (daktylischen) Stützenwechsel folgen auf einen Pfeiler zwei Säulen. Mit Hilfe des Stützen wechsels wurde das Mittelschiff in Abschnitte von annähernd quadratischem Grundriß unterteilt, ohne daß dadurch schon eine Jochteilung entstehen muß. Diese Gliederung ist, ebenso wie die Gliederung der Mittelschiffswände durch Vorlagen, an ungewölbten Räumen entwickelt und bei der Überwölbung der Langräume, die seit dem 12. J h . üblich wurde, aufgegriffen worden. Strukturierung der Mauern, Wandgliederung und Wölbung führen an Stelle der einfachen Pfeiler oder Säulen zu gegliederten Stützenformen bis hin zum gotischen Bündelpfeiler, dessen Kern vollständig von vorgelegten, röhrenartig gestreckten Säulenkörpern, den sog. Diensten, umhüllt ist.
Die technischen Voraussetzungen für die Einwölbung hoher Langräume wurden schon um 1100 geschaffen, und mit der Entwicklung dünnschaliger, ohne Schalung herstellbarer Gewölbekappen vor 1300 noch verbessert. Dennoch wurde die Wölbung der Kirchenräume nicht überall selbstverständlich. In manchen Regionen, z.B. im Alpengebiet, wurden noch bis in die Spätgotik Flachdeckbasiliken bevorzugt. 1) Hildesheim, Benediktiner-Klosterkirche St. Michael, Grundriß des ottonischen Baues • 1010-1033. Dreischiffige, flachgedeckte Basilika. Langhaus mit daktylischem Stützenwechsel, zwei Querschiffe mit ausgeschiedenen Vierungen und Stirnemporen, drei Ostapsiden, im Westen Hallenkrypta mit Umgang. 2) Goslar, Neuwerk. Benediktinerinnen-Klosterkirche, Grundriß, 12./13. J h . Spätromanische, dreischiffige Gewölbebasilika mit Querschiff, Chorquadrat und gestaffelten Ostapsiden, Westturmpaar. 3) Troyes, Kathedrale, Grundriß, 13. J h . Hochgotische, fünfschiffige Basilika mit Querschiff, fünfschiffigem Chor, Chorumgang und Kapellenkranz. Im Westen Doppelturmfassade. 4) Florenz, Franziskanerklosterkirche S. Croce, Grundriß, 14. J h . Hochgotische, dreischiffige Basilika mit offenem Dachwerk. Ostschluß mit einer Reihe parallel stehender Kapellen, die an einem querschiffartigen Gang aufgereiht sind. 5) Dinkelsbühl, Stadtpfarrkirche St. Georg, Grundriß, 15. J h . Spätgotische, dreischiffige Hallenkirche mit Chorumgang
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Als vorherrschender Bautyp für die Haupträume größerer Kirchen ist die Basilika zwar in weiten Teilen Europas verbreitet, aber nicht überall. In regionaler Verbreitung finden sich andere Bautypen, so in Aquitanien die Kuppelkirchen, die aus aneinandergereihten überkuppelten Jochen bestehen, oder die Tonnenhallen, die hauptsächlich in Katalonien und in Südfrankreich vorkommen. In Deutschland wurden Hallen, d.h. mehrschiffige Räume mit gleich hohen Schiffen, in romanischer Zeit in Westfalen gebaut, aber nur ganz vereinzelt in anderen deutschen Landschaften. Seit dem 13. Jh. verbreiteten sie sich, und im 14. und 15. Jh. sind sie in Mitteleuropa die bevorzugte Raumform. Da in dieser Zeit Stadtkirchen am häufigsten Gelegenheit boten, Großbauten zu errichten, sind die bedeutendsten Hallenkirchen unter den städtischen Pfarrkirchen zu finden. Aber auch Bischofskirchen dieser Zeit benützen den Bautyp der Halle (Dome in Paderborn, Minden, Verden). Gleichzeitig wurden jedoch auch noch Basiliken errichtet. Im Ostseeraum war dafür vor allem das Vorbild der Lübecker Marienkirche ausschlaggebend, wo der begonnene Umbau einer romanischen Basilika zur gotischen Halle zugunsten einer hohen Basilika aufgegeben wurde, die letztlich, wenn auch indirekt, dem Vorbild französischer Kathedralen folgt.
Die Form der Halle kommt der spätgotischen Tendenz zum einheitlichen Raum entgegen. Außer den großen vielstützigen, dreischiffigen Hallen und den „Kurzhallen" mit vier Stützen und etwa quadratischem Grundriß wurden mittelgroße Kirchen im 15. Jh. auch als Dreistützenräume mit im Dreieck stehenden Pfeilern oder als Einstützenräume errichtet. 4.2. Altarraum. Der Altarraum (-+ Altar) schließt in der Regel an die östliche Schmalseite des Hauptraumes an. Als Grundform hat er entweder einen rechteckigen oder einen halbrunden (apsidialen) Grundriß. Die Apsis ist eine bis ins 13. Jh. hinein häufig verwendete Form des Steinbaus, zu der ein Halbkuppel-Gewölbe gehört. Ummantelte Apsiden, die nach außen als kantige Körper erscheinen, kommen vor. Seit dem 11. Jh. wird den Apsiden bei größeren Bauten meistens ein rechteckiger Raum vorgelegt, der den zum Hauptaltar gehörenden Bereich, das Presbyterium (Sanctuarium), vergrößert und der auch in sonst flachgedeckten Kirchen oft durch ein Gewölbe ausgezeichnet wurde. In der —»Gotik wurden an Stelle von Apsiden meistens polygonal schließende Altarhäuser gebaut, die mit dem Vorjoch zu einheitlichen Räumen verschmelzen. Rechteckige Altarräume mit geraden Ostmauern werden in dieser Zeit ebenfalls noch gebaut. In Stifts- und Klosterkirchen liegt vor dem Presbyterium der Chorus mit dem Chorgestühl als Ort des -»Stundengebetes, der nach dem Psalmgebet auch als Psallierchor bezeichnet wird. Er öffnet sich zum Hauptaltar hin, wurde aber auf den anderen Seiten mit Schranken umgeben, die im Frühmittelalter brüstungshoch, seit dem Hochmittelalter aber als übermannshohe Mauern ausgebildet sind und auf den Außenseiten oft reich verziert wurden. Seit dem 13. Jh. wurde die dem Langhaus zugewandte Seite der Chorschranken mit einem Lesepult (lectorium) verbunden und so zum Lettner. Der Kreuzaltar, der vor der Chorschranke seinen Platz hat, wurde bei den Kanzellettnern von der Lettnerkanzel baldachinartig überbaut. Hallenlettner, deren Bühne die volle Schiffsbreite einnimmt, können zu Seiten des Kreuzaltars weiteren Altären Platz bieten. Der zum Kreuzaltar gehörende große Kruzifix wurde meist auf oder über dem Lettner angebracht. Die Lettner dienten Lesungen und der Segensspendung bei Hochämtern, um die im Langhaus versammelte Gemeinde in die am Hauptaltar zelebrierte Messe einzubeziehen. Außerdem konnten sie für Reliquienweisungen u.a.m. verwendet werden. Für die Predigt wurden dagegen seit dem 15. Jh. eigene -»Kanzeln, meist in der Langhausmitte auf der Epistelseite, errichtet.
Die Psallierchöre wurden seit der Gotik gerne mit den Presbyterien zu Langchören zusammengefaßt. Die Bezeichnung „Chor" als pars pro toto wird seitdem (eigentlich irreführend) synonym mit Presbyterium und Sanctuarium für den Altarraum gebraucht, auch wenn er gar nicht mit einem Chorus verbunden ist.
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Die Notwendigkeit, im Ostteil von Kirchen weitere Altarstellen zu schaffen, hatte schon bei karolingischen Saalkirchen zur Anordnung mehrerer Apsiden nebeneinander geführt (z.B. Müstair/Graubünden). Den Presbyterien romanischer Kirchen sind oft Seitenräume angegliedert, die die Seitenschiffe fortsetzen und Nebenaltäre aufnehmen. Eine reichere Form bildet der sog. Chorumgang, der um das Sanctuarium herumgeführt ist und Nebenaltarräume zugänglich macht, die radial angeordnet sind und den sog. Kapellenkranz bilden. Der auf diese Weise rings von anderen Raumteilen umschlossene Hauptaltarraum mit dem Chorus wird als Binnenchor bezeichnet. Die Umgangschöre wurden an romanischen Klosterkirchen entwickelt und sind, ebenfalls mit basilikalem Querschnitt, fester Bestandteil des Typus der gotischen Kathedralen in Nordfrankreich geworden. Die Übernahme der Anordnung von Binnenchor und Umgang für spätgotische Hallenchöre zielte mehr auf die Weite des Gesamtraumes als darauf, Einzelräume für Nebenaltäre zu schaffen. Auf den Kapellenkranz ist bei diesen Bauten oft ganz verzichtet worden.
4.3. Querschiff. Der Altarraum schließt in vielen Fällen nicht direkt an den Hauptraum an, sondern ist von ihm durch ein Querschiff getrennt. Dieser Bauteil hat zwei historische Wurzeln. An den römischen Basiliken, die über einem Märtyrergrab errichtet wurden, ist das Raumprogramm um einen durchgehenden Querraum erweitert, der die Grabstelle einschließt. Vereinzelt wurde dieses Vorbild mit gleicher Funktion übernommen (Fulda, karolingische Basilika des Abtes Ratgar mit Bonifatiusgrab), doch ist der Zusammenhang mit dem Grabkult in Mitteleuropa bald gelöst worden. Die zweite Wurzel bilden die sog. Zellenquerbauten, bei denen an das Presbyterium seitlich Nebenaltarräume angefügt werden, die nicht mit den Seitenschiffen in Verbindung stehen müssen und oft eine vermittelnde Raumhöhe zwischen Mittel- und Seitenschiff haben. Das Bemühen um Verknüpfung und räumliche Durchdringung von Längsund Querschiff führt zur Ausbildung der sog. „ausgeschiedenen Vierung", die durch Pfeilervorlagen und raumübergreifende Bögen von den in jeder Richtung anschließenden Hochräumen abgegrenzt ist. Bis zur Ausbildung der gotischen Langchöre war die Vierung in den Stifts- und Klosterkirchen der bevorzugte Platz für den Psallierchor. Die ihn seitlich umschließenden Chorschranken grenzen die Querarme als isolierte Teilräume aus, die fast immer Altarstellen an der Ostseite haben. Besonders anspruchsvolle Bauten sind sogar mit zwei Querschiffen gebaut worden, und zwar bei doppelchörigen Anlagen mit je einem im Osten und Westen (Köln, karolingischer Dom; Hildesheim, St. Michael), bei besonders gestreckten Choranlagen aber mit zwei Querschiffen im Osten (Cluny III; Canterbury). Die Entwicklung zeigt jedoch, daß das Querschiff weniger als Raum benötigt, sondern mehr um des kreuzförmigen Grundrisses und Baukörpers willen gebaut wurde. An der Zisterzienserklosterkirche Maulbronn z. B. sind die parallel zum Presbyterium angeordneten Seitenkapellen in das Querschiff einbezogen, dessen Raum dadurch zu einem erdgeschossigen Gang reduziert ist. Die Obergeschosse der Querarme sind abgetrennt und anderweitig genutzt oder sogar ungenutzter Hohlraum geblieben. Eine vergleichbare Anordnung ist vor allem an italienischen Bettelordenskirchen häufiger zu finden: zu Seiten des Hauptaltarraumes gereihte Kapellen, die durch einen querschiffartigen Raum erschlossen werden, der aber deutlich unter der Höhe des Mittelschiffs bleibt. An manchen gotischen Kirchen ist die Jochfolge des Langhauses über das Querschiff hinweg weitergeführt, so daß die Durchdringung des Längsraumes durch den Querraum vermieden wird (Dome in Straßburg, Eichstätt, Lucca; Zisterzienserklöster Doberan, Pelplin).
Für die Verbreitung der Querschiffe lassen sich keine klaren Regeln aufstellen. Der Bevorzugung dieses Bauelements durch manche Orden (z. B. Cluniazenser, Zisterzienser) und für manche Bauaufgaben (z.B. Bischofs- und Stiftskirchen) steht der häufigere Verzicht darauf in der Gotik und - schon seit romanischer Zeit - in einzelnen Landschaften gegenüber. 4.4. Krypten sind im frühen Mittelalter entwickelt worden, um die Gräber von Heiligen der Verehrung (Heilige/Heiligen Verehrung) besser zugänglich zu machen. Sie wurden dazu als Ringkrypta im Halbkreis um die das Grab bergende Apsis herumgeführt und mit diesem durch eine Fenestella verbunden (Rom, Alt-St. Peter; Regensburg, St. Emmeram; Seligenstadt). Besonders in karolingischer Zeit sind in Klosterkirchen, sowohl unter den Altar- wie unter den Haupträumen, halbunterirdische Gangsysteme angelegt worden, die Gang- oder Stollenkrypten, in
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denen Altäre angeordnet waren. Sie konnten auf dem Weg, den die Gänge bildeten, nacheinander erreicht werden. An solche Krypten wurden manchmal nach außen Erweiterungsräume angeschlossen, die als Bestattungsplatz in der begehrten Nähe des Heiligengrabes dienen, aber auch mit Altären ausgestattet sein konnten. Sie werden als Außenkrypten bezeichnet. In ottonischer und romanischer Zeit wurden unter den Altarräumen Hallenkrypten angelegt, die vor allem als bevorzugte Kapellen anzusehen sind und meist nichts mit einem Heiligengrab zu tun haben. Die Krypten sind stets von der Oberkirche aus (nur selten auch noch von außen) zugänglich und oft durch zusätzliche Öffnungen mit ihr verbunden. Die Anordnung von Krypten führte zu einer oft beträchtlichen Anhebung des Presbyteriumniveaus gegenüber dem des Langhauses. Im 12./13. Jh. wurde es aber üblich, den Chorus der Stiftsund Klosterkirchen mit nur ein oder zwei Stufen Differenz auf der Höhe des Altarraumes anzuordnen. Deshalb wurden die Krypten auf den Raum des Chorus erweitert (Dome in Bamberg, Eichstätt, Augsburg, Straßburg). Ausgedehnte Krypten erstrecken sich unter dem ganzen Ostteil der Kirchen (Dome in Speyer und Gurk; Klosterkirchen S. Zeno, Verona; S. Miniato, Florenz). In den Kirchen der Reformbenediktiner und Zisterzienser gehört der Verzicht a u f Krypten zum Bauprogramm. In der G o t i k wird generell das durchgehende Bodenniveau im ganzen Kirchenraum bevorzugt. N a c h dem 13. J h . wurden nur noch selten und nur in besonderen Fällen Krypten gebaut. Von den Krypten zu unterscheiden sind die Untergeschosse von Doppelkirchen und Grufträume. 4 . 5 . Emporen. Erhöhte Raumteile, die als Emporen bezeichnet werden, k o m m e n an verschiedenen Stellen vor. Die Westemporen, die dem Hauptaltar gegenüber angeordnet sind, können verschiedenen Z w e c k e n dienen. Als Herrschaftsemporen bieten sie dem Kirchenherrn einen besonderen Platz im Gottesdienst. Häufig haben solche R ä u m e einen direkten Zugang von außen zum Obergeschoß, der eine Verbindung zur Wohnung herstellte, dagegen gibt es nicht immer eine innere Verbindung zwischen Empore und Altarraum, so daß unklar bleibt, o b und wie die auf der Empore dem Gottesdienst Beiwohnenden die Kommunion empfangen konnten. Auf Westemporen waren häufig Altäre plaziert, die vorzugsweise dem Erzengel Michael geweiht waren. Da auch an Westaltären mit Blick nach Osten zelebriert wurde, sind deren stipites häufig mit der Emporenbrüstung verbunden. Besonders bei Kirchen geistlicher Herren sind die Verwendungen als Herrschaftsempore und als Engelskapelle oft verschmolzen. In Nonnenklöstern und Kanonisscnstiften wurde der Psallierchor gerne auf einer Westempore angeordnet, die dann bei größeren Konventen oft einen erheblichen Teil des Langhauses einnahm. Auch hier steht oft in der Mitte der Brüstung ein Altar, der für den Priester über eine Treppe vom Hauptraum her erreichbar und vom Nonnenchor durch ein Klausurgitter getrennt war. Da Altäre eine massive Verbindung mit dem Erdboden haben mußten, ist bei Holzemporen manchmal ein Steinpfeiler eingefügt, um den Altar zu tragen (Landshut-Seligenthal, St. Afra). Psallierchöre von Männerklöstern wurden erst in nachmittelalterlicher Zeit auf Emporen verlegt (Kremsmünster, Reichenbach/Regen). Auch die häufige Verwendung von Westemporen für die Aufstellung großer -»Orgeln ist erst eine nachmittelalterliche Erscheinung. Seitenschiffsemporen, deren V o r k o m m e n sich auf das 1 1 . - 1 3 . J h . und auf einzelne Landschaften konzentriert (Rheinland, Normandie, Lombardei, Unteritalien), konnten verschiedenen Z w e c k e n dienen: als Kapellen, als Chorus, als Sängerchor u . a . m . Sie konnten auch für die Widerlagerung von Gewölben genutzt werden, sind aber anscheinend hauptsächlich als Bereicherung des Langhauses gebaut worden. Nur so ist das gelegentliche V o r k o m m e n von „ S c h e i n e m p o r e n " zu erklären, die sich mit Reihen von Bogenöffnungen zum Mittelschiff wenden, aber gar nicht durch eine Zwischendecke von den Seitenschiffen getrennt sind, sondern mit diesen zusammen einen R a u m bilden ( M o dena, Z a d a r , R o u e n , Vignory). Emporen an den Stirnseiten von Querschiffen (Hildesheim, St. Michael) hatten ebenfalls Altarstellen, dienten also als hochgelegene Kapellen, werden aber auch als Ort für Sängerchöre gedeutet. Auch die Altarräume wurden oft von Emporen flankiert, die im Mittelalter nicht als altarnahe Logen, sondern als Ort für zusätzliche Seitenaltäre, also ebenfalls als Kapellen, zu verstehen sind. Sie können von Türmen überbaut (Dome in Eichstätt und Bamberg) oder als Obergeschoß über Nebenaltarräumen angeordnet sein (Murbach/Elsaß). Solche Emporenkapellen sind stets über den Zugang hinaus durch Öffnungen mit Raumteilen der Kirche verbunden.
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1) Bacharach, Pfarrkirche St. Peter, Querschnitt, 12./13. Jh. Spätromanische, dreischiffige, überwölbte Emporenbasilika 2) Regensburg, Dominikaner-Klosterkirche St. Blasius, Querschnitt, 13. J h . Hochgotische, dreischiffige, überwölbte Basilika 3) Nördlingen, Stadtpfarrkirche St. Georg, Querschnitt, 15. J h . Spätgotische, dreischiffige Hallenkirche 4) Schwarzrheindorf, Burgkapelle und spätere Nonnenklosterkirche, Querschnitt, 12. J h . Zweigeschossige Kirche mit Mittelöffnung zwischen den Geschossen und Vierungsturm
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4.6. Nestbau. Die dem A l t a r r a u m gegenüberliegende Endigung des H a u p t r a u m e s ist oft als einfache M a u e r ausgebildet, die dann als „Querschnittsfassade" die R a u m o r d nung des Inneren ablesen läßt. Vor allem in Oberitalien und z. T. auch in Frankreich ist die abschließende Mauerscheibe aber häufig unabhängig v o m Querschnitt des Langhauses gestaltet worden, der sich dann an solchen „Schirmfassaden" nicht ablesen läßt. Oft ist dem Langhaus im Westen ein weiterer Baukörper angefügt worden, der ein Gegengewicht zur Ausgestaltung des Ostbaues bildet oder sogar einen einseitigen Akzent auf die Westseite setzt. Die differenzierteste Ausprägung solcher Baukörper sind die karolingischen Westwerke: Über einer von Treppen flankierten erdgeschossigen Eingangshalle erhebt sich als Obergeschoß ein Kapellenraum, der sich zum Mittelschiff des östlich anschließenden Langhauses öffnet und auf den anderen Seiten von Emporen umgeben ist, über die der Mittelraum mit einem eigenen Fenstergeschoß hinausragt. Das einzige noch leidlich erhaltene Beispiel steht in Corvey/Weser. Es ist der älteren, aber nicht erhaltenen Klosterkirche 873/85 angefügt worden. Die von der Aachener Pfalzkapelle abgeleitete These, die Westempore dieses Westwerkes sei der Platz des Kaisers gewesen, ist sowenig belegbar wie die generelle Übertragung dieser These auf Westwerke. Die Westbauten der ottonischen und romanischen Zeit lassen sich als Vereinfachung der Westwerke interpretieren. Es sind entweder Räume, die an das Mittelschiff anschließen, dessen Höhe und Breite sie meistens weiterführen, und die häufig auf mehreren Seiten von Anräumen mit Emporen umgeben sind und auch mit einer Apsis verbunden sein können. Die besonders im Rhein-MaasGebiet vorkommenden, querschiffsähnlichen Westbauten, die mit Emporen umgeben sind und einen Altarraum bilden, werden als Westchorhallen bezeichnet. Die andere Grundform ist der nach außen wie ein Querschiff wirkende, innen aber durchgehend zweigeschossige Westquerbau. Sein Erdgeschoß kann als Eingangsjoch in den Raum einbezogen sein oder als Vorhalle außerhalb des Kirchenraumes bleiben. Das Obergeschoß öffnet sich stets als Empore zum Mittelschiff, manchmal zusätzlich auch zu den Seitenschiffen. 4.7. Türme. In den zeitgenössischen Quellen werden die frühmittelalterlichen Westbauten turris genannt. Türme sind aber erst seit dem hohen Mittelalter zu einem kennzeichnenden Bauteil von Kirchen geworden. Die Aufgabe, Glocken zu tragen, ist ihnen erst zugewachsen und weder ursprünglicher noch ausschließlicher Grund gewesen, sie zu bauen. Seit dem 10. Jh. - vielleicht auch schon seit karolingischer Z e i t - sind T ü r m e nachträglich neben älteren Basiliken errichtet worden. Vor allem in Italien ist die isolierte Stellung des Glockenturms ( „ C a m p a n i l e " ) neben der Kirche üblich geblieben. Außerdem hat sich in Irland eine Anzahl besonders schlanker freistehender R u n d t ü r m e erhalten, die noch in das l . J t . datiert werden. In Mittel- und Westeuropa sind die T ü r m e meistens in die Baukörper der Kirchen einbezogen worden. Dafür gibt es eine Anzahl charakteristischer Positionen. An den Westwerken und Westbauten konnte der Mittelraum turmartig über die umgebenden Baukörper herausragen. Außerdem sind die stets paarweise neben dem Mittelraum oder an den Flanken der Westquerbauten angeordneten Treppen oft von Türmen überbaut worden, so daß sich Drei-Turm-Gruppen ergeben. Bleiben die Treppen unbetont, so entstehen seit dem 11. Jh. hohe Westtürme, die einen zum Mittel- oder Westquerschiff offenen Altarraum einschließen, aber nicht von außen zugänglich sind (Köln, St. Aposteln; Reichenau-Mittelzell; noch im 13. Jh.: Paderborn, Dom). Im 11. Jh. wird auch der für Jahrhunderte maßgebende Typus der Zweiturmfassade entwickelt, bei der die Mittelschiffsfront mit dem Hauptportal von zwei seitenschiffsbreiten Türmen flankiert wird. Es sind dies zunächst entweder Schachttürme ohne ausgebaute Innenräume, oder sie werden von massiven Treppen ausgefüllt. Seit dem 13. Jh. wird es üblich, die Turmerdgeschosse in den Kirchenraum einzubeziehen, so daß auch die Seitenschiffe Westfenster oder Seitenportale erhalten können. Wichtigste Alternative zur Zweiturmfassade ist der Einzelturm, der vor dem Westabschluß der Kirchen stehen oder in die Fassade einbezogen sein kann, und der in seinem Erdgeschoß einen Eingangsraum, darüber häufig eine Emporenkapelle enthält. Bei Kirchen mit Querschiff und ausgeschiedener Vierung bietet diese sich als Stelle für einen Turm an, der diesen Raumteil nach oben weiterführt. Die Anordnung von Vierungstürmen kann praktisch begründet werden: Da die Vierung bis zur Traufhöhe von Mittel- und Querschiff keine Außenmauern hat, kann sie nur oberhalb der anstoßenden Dächer direkt belichtet werden. Wichti-
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ger dürfte der Vierungsturm aber als Auszeichnung des architektonischen und inhaltlichen Schwerpunktes der Kirchen sein, als der der Psallierchor gelten muß. Bei größeren Kirchen des hohen Mittelalters wird das Presbyterium oft von einem Ostturmpaar flankiert, das meistens in den Querschiffswinkeln angeordnet ist und auch mit einem achteckigen Vierungsturm eine Gruppe bilden kann. Die Osttürme können Treppen enthalten, um Galerien und Dächer zugänglich zu machen (Dome in Speyer und Worms), oder sie bereichern mit Kapellen im Obergeschoß das liturgische Raumprogramm (Dome in Eichstätt und Bamberg). Bei dreischiffigen Altarräumen, wie sie vor allem an romanischen Klosterkirchen häufig sind, erheben sich die Ostturmpaare über den Nebenaltarräumen und stehen bei gestaffelten Apsiden ebenfalls in den Querschiffswinkeln. Wo das Presbyterium in einer Linie endet, werden sie unabhängig vom Querschiff als Bestandteil des Ostschlusses angeordnet. Die den Zweiturmfassaden ähnlichen Ostschlüsse, bei denen ein Turmpaar die Apsis oder den geraden Chorschluß flankiert, werden als Chorfassaden bezeichnet, obwohl ihnen mit dem Portal ein wichtiges Fassadenelement fehlt. Ein mittlerer Ostturm über dem Altarraum ist bei großen Kirchen nur selten angeordnet worden, bei kleineren Saalbauten aber ist die sog. Chorturmkirche ein in der Romanik häufiger und weit verbreiteter Bautyp, der auch in der Gotik noch gerne verwendet wurde, wo man sich mit einem relativ kleinen, quadratischen Presbyterium zufrieden gab. Sonst wurde der Turm flankierend neben dem Polygonalchor angeordnet. Als Alternative blieb der Westturm bei kleineren gotischen Kirchen immer üblich. In der Zahl und der Höhe von Türmen wurde offenbar lange ein Zeichen für den Rang einer Kirche gesehen. Das wird auch am demonstrativen Turmverzicht mancher Orden deutlich (Zisterzienser, Bettelorden). Im 11./12. J h . kommen sechstürmige Kirchen vor (Mainz, Speyer, Worms, Cluny III), im frühen 13. J h . wurden sogar Bauten mit sieben Türmen angelegt (Reims; Limburg/Lahn). Seit dem 13. J h . wurde das Bauprogramm der Hauptkirchen aber meist auf ein Turmpaar reduziert, seit dem 14. J h . oft auf einen Einzelturm, auf den sich dann häufig der Ehrgeiz der Bauherrschaft konzentriert. 4.8. Vorhalle. Vorhöfe auf der Eingangsseite von Kirchen (Atrien) sind im Mittelalter nur selten gebaut worden, am häufigsten noch in Italien (Mailand, S. Ambrogio, aber auch Maria Laach). Zum Typus gehört die den Hof umgebende, meist offene Säulenhalle. Vorhallen (Paradiese) vor der Westfassade sind besonders an Zisterzienser- und Benediktinerklöstern zu finden, bei denen Teile des Gottesdienstes mit Prozessionen über den Kirchenraum ausgriffen. Von den Cluniazensern wurden die Vorhallen zu Vorkirchen (Galiläen) gesteigert, die sich als ein kurzes zweites Langhaus vor den Westschluß der eigentlichen Kirche legen (Paray-le-Monial; Vezelay; in Resten: Cluny, Hirsau, Paulinzella). Kleinere Vorhallen vor den Haupt- oder auch Nebenzugängen von Bischofskirchen weisen oft auf die Nutzung dieser Stellen als Gerichtsorte. Die kleinen Vorhallen der „Brautportale" auf der Nordseite gotischer Stadtkirchen dienten dem Schutz des sich vor der Kirchentür abspielenden Teils der Trauung.
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Sonderformen
5.1. Zentralbauten. Neben der Vielzahl der Längsbauten fallen wegen ihrer relativen Seltenheit die Zentralbauten auf. Sie sind hauptsächlich für einige besondere Zwecke errichtet worden. Für den Vollzug der Taufe sind im Frühmittelalter in ganz Europa, später vor allem noch in Italien, bei den Bischofskirchen -*Baptisterien errichtet worden. Die mittige Anordnung des Taufbeckens legte eine zentrierte Raumform nahe, die sich als Rundbau oder als regelmäßiges Polygon, vor allem als Achteck, verwirklichen ließ. Auch Pfalzkapellen sind häufig als Zentralbauten errichtet worden. Wichtigstes Beispiel ist die ->Karls d. Gr. in Aachen, deren Form auf byzantinische Anregungen zurückgeht, die wohl über den ebenfalls kaiserlichen Bau von S. Vitale in Ravenna vermittelt wurden. Der achteckige Kernraum mit dem ringsum geführten zweigeschossigen Umgang ist aber in der Benutzung nicht zentriert, sondern durch den Thron auf der Westseite der Empore und die Altarstellen in einer östlich angefügten Nische auf eine Längsachse ausgerichtet. Seit den Kreuzzügen, und noch bis ins 16. J h . hinein, sind in Europa Kopien des
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heiligen Grabes in Jerusalem gebaut worden, von denen viele in der Z e n t r a l f o r m des Kernbaues übereinstimmen. Kapellen, die speziell zur Verwahrung besonderer -»Reliquien errichtet wurden, sind manchmal auf diesen Mittelpunkt hin als Zentralbauten angelegt worden. Auch Grabkapellen sind öfters rund oder kreuzförmig mit dem Grab in der Mitte gebaut worden. Daneben gibt es aber eine ganze Anzahl von Rundkirchen oder -kapeilen, für die sich kein spezieller Grund für diese Bauform finden läßt. 5 . 2 . Doppelkirchen. Einen weiteren Kreis von Sondertypen bilden die mehrgeschossigen Bauten, bei denen nicht nur einzelne Raumteile durch Krypten oder E m p o r e n zusätzliche Bodenebenen erhalten, sondern der ganze Bau zwei- (selten mehr-) geschossig ist. Die wichtigste Gruppe sind die Pfalz- und Burgkapellen, deren Unterkirche von außen zugänglich und für die Bediensteten bestimmt ist, während das Obergeschoß meist v o m Palas aus erreicht wird und dem Herrn der Pfalz und seinem H o f dient. Die beiden Stockwerke können völlig getrennt und allenfalls durch eine Treppe verbunden sein (Paris, Ste. Chapelle; Berze-la-Ville/Burgund; M a r i e n b u r g / W e s t p r e u ß e n ) , sie können aber auch durch eine zentrale Öffnung im Gewölbe bzw. im Fußboden in Verbindung stehen (Mainz, St. Godehard; Nürnberg, Burg; Schwarzrheindorf; Eger). Diese Öffnung kann einen so großen Teil der Fläche einnehmen, daß ein zusammenhängender Raum entsteht, der dann nur dadurch als Doppelkapelle charakterisiert ist, daß der Hauptaltar auf der Empore (d. h. in der Oberkirche) und ein zweiter darunter steht (Aachen, Pfalzkapelle; LandshutTrausnitz, St. Georg). Zweigeschossig sind auch die Karner (Beinhäuser, Ossuarien), soweit sie als selbständige Gebäude errichtet wurden. In ihrem Untergeschoß wurden die beim Ausheben neuer Gräber in Friedhöfen anfallenden Gebeine gesammelt. Das Hauptgeschoß darüber wird von einer Kapelle eingenommen, die meist dem hl. Michael geweiht und oft durch eine kleine, verschließbare Bodenöffnung mit dem unteren Raum verbunden ist. Auch bei Karnern kommen außer rechteckigen öfters auch runde Grundrisse vor. Vor allem in Bayern sind die Kapellen mit profanem Obergeschoß verbreitet. Diese, meist nur durch den Kirchenraum erreichbaren Räume zeigen in der Regel keine auf eine bestimmte Nutzung hinweisende Ausgestaltung. Die Kapellen sind anscheinend alle als Teil kleiner Burgen errichtet worden, die keinen Bergfried hatten. So läßt sich vermuten, daß die Obergeschosse, so wie sonst die Burgtürme, als letzte Zuflucht dienen sollten. Sonst wurden Burgkapellen oft als Obergeschoß von Torbauten angeordnet. Hier und auch sonst, wo Kapellen über nicht-sakralen Geschossen liegen, sind die Altarstellen gerne in die Mauerstärke gelegt worden. Sie treten nach außen als Erkerapsiden in Erscheinung. 5.3. Hospitalhallen. Einen Sondertyp, der die Grenze zwischen Profan- und Sakralbau ignoriert, bilden die Hospitalhallen. Große, meist langgestreckte Säle, die als Krankenräume mit Betten ausgestattet waren, sind a u f einer Schmalseite mit einem Altarraum verbunden ( T o n n e r r e / C h a m p a g n e ; B e a u n e / B u r g u n d ) . A u c h zwei Krankensäle (für die Trennung der Geschlechter?), die durch einen dazwischenliegenden A l t a r r a u m verbunden sind, k o m m e n vor ( R o m , S. Spirito in Sassia).
6. Bauablauf Nur kleinere Kirchen des Mittelalters sind völlig aus einem Guß und innerhalb weniger Jahre gebaut worden. Vor allem bei großen Werksteinbauten ergaben sich längere Bauzeiten. Es sind aber keine mittelalterlichen Planungen bekannt, die von vornherein mit einer Errichtungsdauer rechneten, die über eine Generation hinausging. Die oft feststellbaren längeren Bauzeiten und stockenden Bauabläufe sind außer auf technische Schwierigkeiten oft auf unregelmäßig fließende Mittel und letztlich meistens auf einen Wandel der Interessenlage zurückzuführen. Bei allen größeren Bauten ist abschnittsweise vorgegangen worden. Meistens wurden Altarraum und Chorus zuerst errichtet. Fertige Bauabschnitte sind durch provisorische Mauern von der Baustelle abgetrennt und benützt worden. Sollte ein alter Bau durch einen neuen ersetzt werden, so ist stets darauf geachtet worden, daß Teile des Altbaus benützbar blieben, bis die ersten Abschnitte des Neubaus fertig waren. Die Folge der Abschnitte zeichnet sich außer in technischen Merkmalen oder in Materialunterschieden oft in Planänderungen ab. So ist bei Turmpaaren häufig an Einzelheiten abzulesen, daß sie nicht gleichzeitig, sondern nacheinander errichtet wurden. Gelegentlich wurden
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neue Werkmeister auf vorhandene Pläne vereidigt, um Planänderungen zu verhindern und die Einheitlichkeit des Bauwerks zu gewährleisten. Für die Frühzeit und bis ins 12. Jh. ist verschiedentlich überliefert, daß Geistliche, die nur theoretisch im Bauwesen ausgebildet waren, Großbauten geplant haben. Seit dem Beginn der Gotik gibt es einen aus dem Handwerk erwachsenen Architektenstand, der auch die Planung der Bauwerke übernahm. Die Bauorganisation mit dem Rechnungswesen, der Materialbeschaffung und dem Einstellen der Arbeitskräfte blieb von der Tätigkeit der entwerfenden und bauleitenden Architekten meistens getrennt. Als Bauverwalter, die in den Quellen häufig als „Baumeister" bezeichnet werden (im Gegensatz zum „Werkmeister"), sind lange Zeit Geistliche und im städtischen Bauwesen Patrizier tätig gewesen, die nicht aus dem Bauhandwerk hervorgegangen sind. Die Finanzierung großer Bauten erfolgte bis ins Hochmittelalter meist aus festen Einnahmen der Bauherren oder aus großen Stiftungen, letztlich in beiden Fällen hauptsächlich aus den Erträgen von Liegenschaften. Sie wurden seit dem Aufkommen der Städte von den Gewinnen übertroffen, die aus Handelsumsätzen zu erzielen waren. Den Bauten kamen solche Mittel aus städtischen Steuer- und Zolleinnahmen zugute oder als Privatspenden und -Stiftungen. Die Gebefreudigkeit der Spender wurde durch das Versprechen der Ablaßgewährung angeregt. Im Spätmittelalter wurden Ablaßbriefe zum wichtigsten Hilfsmittel der Baufinanzierung. Der mittelalterliche Kirchenbau endete mit der Reformation, und zwar nicht nur im protestantischen Bereich, sondern auch in den katholisch bleibenden Ländern, in denen die Bestimmungen des Trienter Konzils eine Neuorientierung auslösten.
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Walter Haas III. Kirchenbau des 16. bis 18. Jh. (Spätgotik bis Frühklassizismus) 1. Der Kirchenbau des 16. und 17. Jahrhunderts 1.1. Spätgotik 1.2. Renaissance 1.3. Der protestantische Kirchenbau 1.4. Der katholische Kirchenbau 2. Der Kirchenbau des späten 17. und des 18. Jahrhunderts 2.1. Architekturtheorie 2.2. Der protestantische Kirchenbau 2.3. Der katholische Kirchenbau (Literatur S. 494)
1. Der Kirchenbau des 16. und 17. Jahrhunderts 1.1. Spätgotik Die Leitform der spätgotischen Architektur im 16. Jh. bildet die Hallenkirche, deren Verbreitung und vielgestaltige Ausbildung in der Architekturgeschichtsschreibung zeit-
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w e i s e d a z u geführt hatten, hier eine spezifisch d e u t s c h e L ö s u n g s o w o h l künstlerischer als a u c h liturgischer N e u e r u n g e n zu sehen, g l e i c h s a m als ebenbürtige L e i s t u n g z u m K i r c h e n b a u der italienischen R e n a i s s a n c e des 15. J h . D a b e i w u r d e n I n t e r p r e t a t i o n e n , die bereits i m 1 5 . J h . (Aeneas Silvio P i c c o l o m i n i , Pius II.) in A n s ä t z e n v o r l a g e n , tradiert. Vielfach w u r d e dagegen d a r a u f hingewiesen, d a ß T e n d e n z e n zur H a l l e n k i r c h e mit Vereinheitlic h u n g des R a u m e s s c h o n i m 1 3 . J h . (Liebfrauenkirche, Bremen) und 1 4 . J h . (Wiesenkirc h e , Soest) in deutlicher Weise z u m A u s d r u c k k a m e n , und d a ß mithin die I n t e r p r e t a t i o n d e r H a l l e n k i r c h e als B ü r g e r k i r c h e , als A u s d r u c k bürgerlicher G e m e i n s c h a f t , als Predigtkirche, ja g e r a d e z u als v o r r e f o r m a t o r i s c h e Leistung der Spätgotik eine Ü b e r i n t e r p r e t a t i o n bedeutet (Kunst). A u c h unter einer weniger zugespitzten Sicht bildet der s p ä t g o t i s c h e K i r c h e n b a u , bes o n d e r s des frühen 16. J h . , A u s d r u c k s f o r m e n , die ihn eher in den B e r e i c h einer frühneuzeitlichen als einer spätmittelalterlichen E n t w i c k l u n g stellen. S c h w e r p u n k t a r t i g sind d a für die schon früh (Gurlitt) als besondere A u s p r ä g u n g e r k a n n t e n P f a r r k i r c h e n O b e r s a c h sens zu nennen. U n t e r günstigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen (Silberb e r g b a u , M a c h t s t e l l u n g der sächsischen Kurfürsten) und einer zentralisierten fürstlichen B a u v e r w a l t u n g mit s t a r k e m Ginfluß a u f städtische B a u v o r h a b e n e n t s t a n d e n hier, besonders seit d e m E n d e des 15. J h . bis e t w a 1 5 4 0 eine R e i h e v o n Kirchen, die in v o r r e f o r m a t o r i s c h e r Z e i t L ö s u n g e n bieten, die über d a s in anderen Gebieten G e b a u t e hinausgehen. Die Tendenzen werden deutlich beim Neubau des Langhauses der Thomaskirche in Leipzig ( 1 4 8 2 - 1 4 9 6 ) . An den langen, schmalen Chor des 14. Jh. wird eine dreischiffige Halle mit fast gleich breiten Schiffen angebaut. Die Netzrippengewölbe ohne Scheidbögen zu den Seitenschiffen werden von achtseitigen Pfeilern getragen (Emporen 1570); dieser Vereinheitlichung der Raumteile stehen die unterschiedlichen Rippenmuster in Mittel- und Seitenschiff und die relativ steil ansteigenden Gewölbekappen entgegen. Die Annenkirche in Annaberg ( 1 4 9 9 - 1 5 2 5 ) entstand im Zuge der Stadtgründung als dreischiffige Halle. Die fast gleich breiten Schiffe, die jeweils in eine polygonale Apsis übergehen, wobei die mittlere nur wenig vorgezogen ist, die flacheren Gewölbe und das Ubergreifen von Rippenschleifen des Mittelschiffs in die noch eigenständigen Rippenfigurationen der Seitenschiffe, die weite Stellung der gekehlten, achtseitigen Pfeiler sowie die mit nur wenigen bunten Scheiben verglasten Fenster schaffen den vereinheitlichten, hellen Raum. Die schmalen ,Emporenbaikone' (Hoeltje) sind um die nach innen gezogenen Strebepfeiler geführt und verstärken diese Wirkung. Allerdings bleibt eine deutliche Richtungsbezogenheit auf den leicht erhöhten, aber nicht ausgeschiedenen Chor, der auch von den Emporen frei bleibt, erhalten. Die in den folgenden Jahren entstehenden Kirchen in Sachsen und Böhmen weisen zunehmend deutlicher die in Annaberg vorgegebenen Züge auf. Bei St. Marien, Pirna ( 1 5 0 2 - 1 5 4 6 ) trägt ein dichtes Netzrippengewölbe im Mittelschiff zur Verwischung von Jochgrenzen bei; der Chor ist durch den nur ganz wenig über die Seitenschiffe vortretenden dreiseitigen Schluß, durch eigene Rippenformen, durch hohe Fenster und leichte Erhöhung betont. Die Marienkirche in Brüx/Most von 1 5 1 7 - 1 5 4 8 zeigt etwas schwerere, tief gezogene Rippen und eine schmale, auch um das Chorhaupt laufende Empore. Ähnlich wie in Annaberg wirkt auch hier der Außenbau wegen der nach innen gezogenen Strebepfeiler schlicht. St. Nikolai in Laun/Louny von 1 5 2 0 - 1 5 3 8 zeigt ebenfalls den nur noch schwach ausgebildeten Chor und eine völlige Verschleifung von Haupt- und Seitenschiffen sowie der Joche durch ein einheitliches Sterngewölbe. St. Wolfgang in Schneeberg ( 1 5 1 5 - 1 5 4 0 , Empore 1536/37) ist im Grundriß fast als Rechteck durchgeführt; die Ostseite wurde über alle drei Schiffe hinweg als flaches vierseitiges Polygon gestaltet, so daß ein architektonisch ausgebildeter Chor nicht mehr erscheint. Zahlreich sind die Neubauten von Langhäusern, die unter Beibehaltung älterer Chöre als dreischiffige Hallen gebaut wurden. Zu nennen ist der Dom in Freiberg (Kollegiatsstiftskirche, 1 4 8 4 - 1 5 1 2 ) ; St. Nikolai in Gaithain (ab 1504, Gewölbe nicht ausgeführt); St. Maria in Chemnitz/Karl-Marx-Stadt ( 1 5 1 4 - 1 5 2 6 ) als Klosterkirche. Ein extremes Beispiel bietet die Liebfrauenkirche in Halle/S., die 1 5 2 9 - 1 5 4 9 (Reformation 1541) als längsrechteckige Halle zwischen zwei ältere Bauteile gesetzt wurde, so daß eine reine Rechteckanlage entstand, deren ,Chor* nur durch eine leichte Erhöhung des östlichen Bereichs architektonisch erkennbar wurde (Emporen 1 5 5 0 - 1 5 5 4 , Bestuhlung 1550). D i e a r c h i t e k t o n i s c h e Vernachlässigung des C h o r e s bzw. seine deutliche Z u r ü c k n a h m e zugunsten g r o ß e r und weiter, vielfach a u c h g e d r u n g e n e r L a n g h ä u s e r k ö n n e n als Z e i c h e n
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einer verstärkten Konzentration a u f den Predigtgottesdienst gewertet werden und allgemein, in der Durchlässigkeit des R a u m e s , in der Weite und Helligkeit als Ausdruck eines realitätsnahen Gottesdienstes und Architekturverständnisses (Meuche). Dagegen steht die Deutung dieser Kirchen als Abbild des Paradiesgartens (Kutzner 1980), die, w e n n a u c h sehr allgemein, durch M o t i v e der Bemalung gestützt wird (Magirius). Die Einrichtung gesonderter Predigthäuser, etwa im v o r r e f o r m a t o r i s c h e n Augsburg, sei e r w ä h n t (v. Knorre).
Schneeberg, St. Wolfgang (1515-1540)
Der Einfluß der genannten Bauten ist besonders in Ober- und Niederösterreich bei kleineren Pfarrkirchen zu beobachten: Weistrach, um 1520; St. Valentin, 1522; Königswiesen, Wölbung um 1520. Die Ausprägung der gotischen Hallenkirche erfuhr in anderen Gebieten im 16. J h . nicht so deutliche Akzentuierungen des vereinheitlichten R a u m s . Die in der N a c h f o l g e der Lambertikirche in Münster stehenden Kirchen St. M a r i e n , N o t t u l n ( 1 4 8 9 — 1 4 9 8 ) , St. Felizitas, Lüdinghausen ( 1 5 0 7 - 1 5 5 8 ) , St. Peter u. Paul, B o c h u m ( 1 5 1 7 - 1 5 2 4 ) bieten z . T . stärker gelängte R ä u m e , deutliche Ausscheidung des C h o r e s , eine klare Trennung der Seitenschiffe durch Scheidbögen mit eigener Rippenbildung in den Schiffen und Trennung in J o c h e ; auch fehlen die schmalen E m p o r e n . Die runden Pfeiler erreichen hier in P r o p o r tionierung und Detail beinahe die Wirkung von Säulen, geben den R ä u m e n fast den C h a r a k t e r von Renaissancearchitektur und stehen d a m i t im Gegensatz zu den gekehlten, achteckigen Pfeilern der sächsischen Bauten. Dabei ist zu e r w ä h n e n , daß etwa 1 6 3 9 in St. T h o m a s , Leipzig, an den Pfeilern unterhalb der Rippenanfänger kapitellartige K ä m p f e r angebracht wurden, die eine ähnliche Wirkung hervorrufen. Der Langhausneubau von St. Maria in Wimpfen a.B., eine dreischiffige Halle des 15. Jh., erhielt bis 1516 eine Einwölbung, die eine ähnliche Trennung der Schiffe aufweist. St. Martin in Lauingen (bis 1518) bietet mit seinen schlanken Rundpfeilern, dem hoch ansetzenden, relativ flachen Gewölbe, aber mit deutlicher Trennung der Schiffe und Betonung der drei polygonalen Apsiden ebenfalls einen deutlich gerichteten Aspekt; wobei schon jetzt darauf hingewiesen werden soll, daß gerade dieser Bau fast hundert Jahre später in Neuburg als geeignetes Vorbild für die neue protestantische Kirche angesehen wurde. Manche der angesprochenen Raumwirkungen finden sich auch bei den seltenen Basiliken, wie etwa bei St. Peter, Köln (1515-1530), einer Emporenbasilika (Pfarrkirche des Cäcilienstifts), ohne architektonisch ausgewiesenen Chor, mit flacher dreiseitiger Apsis. Hinzuweisen ist auf die Wandpfeilerkirchen im süddeutsch-österreichischen Raum, die auch im frühen 16. Jh. (Schwaigern, 1514-1519) für kleinere Pfarrorte mit ihrer saalartigen Wirkung eine Raumform boten, die für die spätere Entwicklung wichtig wurde. Die spätgotische Architektur des 16. Jh. bedürfte einer intensiveren Untersuchung der liturgischen und architektonischen Rolle der Chöre, der Altarräume und der Emporen, da hier wesentliche Elemente in der Bewertung vor allem der Pfarrkirchen liegen (H. Waldenmeier).
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1.2. Renaissance In einer chronologischen Darstellung des Kirchenbaus lassen sich die unterschiedlichen religionspolitischen und kunstgeschichtlichen Entwicklungen kaum in Einklang bringen. Der Renaissance im 15. Jh. in Italien stand im Norden die Reformation im 16. Jh. gegenüber. Verweise auf den Kirchenbau in Italien sollen nur knapp als Folie für die völlig unterschiedliche Architektur nördlich der Alpen gegeben werden. Die großen Initialbauten der Renaissance in Florenz, S. Lorenzo (etwa 1419-1470) und S. Spirito (etwa 1436-1482), sind vor allem auch geprägt durch ihren Bezug auf die frühchristliche Antike und die mittelalterliche Architektur. Die Grundform (dreischiffige Querhausbasilika) und der Zweck (Klosterkirche) weisen auf überlieferte Formen. Die erste Bauzeit geht weitgehend überein mit der Wiedererstarkung des Papsttums nach dem Schisma und der Wiederherstellung der frühchristlichen Basiliken in Rom unter Martin V. (1417-1431). Die Wertschätzung der frühen Basiliken wird auch erkennbar an den Protesten gegen Umbauplanungen an St. Peter in Rom unter Nikolaus V. S. Lorenzo (Vorgängerbauten seit dem 4. Jh.) und S. Spirito boten mit ihren Säulenstellungen und Arkaden im Mittelschiff, mit der Pilaster- bzw. Halbsäulengliederung in den Seitenschiffen und den durchlaufenden, profilierten Architraven als horizontaler Gliederung ein Architektursystem, das in den Details (mit Ausnahme der eher mittelalterlichen Kapitelle), in seiner fast graphischen Klarheit an heidnisch-antiken Vorbildern ausgebildet war. Die enge Stellung von Säulen und Rundbögen, die ungebrochen durchlaufenden Architrave und Gesimse sowie der Verzicht auf Wölbung gaben den Innenräumen eine suggestive Ausrichtung auf den Altarbereich, die das in der Malerei neu entdeckte zentralperspektivische Sehen konsequent in die Architektur umsetzte. Eine Perspektivität ist hier angelegt, die in Bramantes S. Maria presso S. Satiro, Mailand (ab 1478), dann zur Vorspiegelung eines tiefen Chores führt und damit illusionistische Elemente des barocken Kirchenbaus vorbereitet. Die Errichtung eines von Arkaden umgebenen Vorhofes vor der Kirche SS. Annunziata, Florenz (1447), vereinigt zwar den Gedanken von Kreuzgang und antikem Atrium, ist aber vor allem auch Erinnerung an das altchristliche Atrium. Die runde Chorkapelle der Kirche (etwa 1 4 4 7 - 1 4 7 7 ) bezieht sich dagegen mit ihren acht halbkreisförmigen Nischen, ebenso wie Brunelleschis S. Maria degli Angeli, Florenz ( 1 4 3 4 - 1 4 3 7 ) , auf das Vorbild des Tempels der Minerva Medica in R o m , obwohl auch hierfür christliche Vorbilder denkbar sind.
Für die Herausbildung einer Vorstellung von Renaissancearchitektur als rational durchkonstruiertem Raum mit von der Antike übernommenen Prinzipien waren andere Zentralbauten (mit Kuppel) wichtiger. Zu nennen sind in Florenz die Alte Sakristei an S. Lorenzo (1413-1428), die Pazzi-Kapelle an S. Croce (1442-1470?), Pescia, die Fassade von Madonna di Piè (um 1450?), Prato, S. Maria delle Carceri (1484-1506), Pistoia, Madonna dell'Umiltà (ab 1495), Montepulciano, S. Biagio (1518-1545). Direkt antiken Vorbildern folgt S. Sebastiano, Mantua von L. B. Alberti (ab 1460), dessen Grundriß (griechisches Kreuz) die Weite des Raumes nur unzureichend beschreibt, wobei vor allem der Rückgriff auf römische Thermen bestimmend wurde. Die Fassade weist Elemente antiker Tempel und Triumphbögen auf; die Aufsockelung unterstützt den Eindruck, während die antiken Tempelsäulen in Pilaster umgesetzt werden. S. Andrea in Mantua nach Albertis Plänen ab 1472 ausgeführt, zeigt in der Fassade ebenfalls die Verbindung antik-römischer Tempelfassaden mit Triumphbögen, allerdings auch hier mit Pilastergliederung. Die Fassade mit Halbsäulen und dreieckigem Giebel wurde erst in der zweiten Hälfte des 16. J h . bei Palladios Kirchen in Venedig und Maser konkret. Für das Innere von S. Andrea benutzte Alberti das Vorbild antiker Thermen und der Maxentiusbasilika, um das gewaltige Tonnengewölbe des Mittelschiffs durch seitliche, weit nach innen gezogene Wandpfeiler abzustützen, so daß sich hier tiefe Kapellenräume ergeben — eine Anordnung, die im späten 16. und 17. J h . den barocken Kirchenbau auch nördlich der Alpen prägte.
Die Renaissancearchitektur Italiens des 15. und 16. Jh. war nördlich der Alpen weithin bekannt. Neben den allerdings erst späten Architektenreisen, machte vor allem die kontinuierliche Pilgerbewegung nach Rom, jeweils in riesige Dimensionen gesteigert zu den Jubeljahren (Heiliges Jahr), besonders von 1450,1475,1500 und 1550, die neue Architektur bekannt. Der Neubau von St. Peter in Rom verstärkte dann im ersten Viertel des 16. J h . die Kenntnisse.
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Architekturbücher wie L.B. Albertis, De re aedificatoria, Florenz 1485 (Straßburg 1511 und 1541), F.M. Grapaldus', De partibus aedium, Parma 1494 und Vitruvius', De architectura, ed. C. Cesariano, Como 1521 (ed. Fra Giocondo, Venedig 1511; ed. D. Barbaro, Venedig 1556; ed. W. Rivius/Vitruvius Teutsch, Nürnberg 1548) lieferten die Grundlagen. Spätere Traktate boten detaillierte Anleitungen: S. Serlio, Regole generali di architettura, Venedig 1537 (und verschiedene vollständigere folgende Ausgaben, u.a. dt. Antwerpen 1542); J. Barozzi da Vignola, Regola delli cinque ordini, o. O.1562; A. Palladio, I quattro libri dell'architettura, Venedig 1570; V. Scamozzi, Dell'idea dell'architettura, Venedig 1615 (dt. Amsterdam 1664). Deutsche Verarbeitungen der neuen Architektur im Sinne der Bauzier sind erst um 1550 verbreitet: H. Blum, Von den fünffSülen, Zürich 1555 (1558,1567,1579,1596,1627); W. Dietterlin, Architectura, Nürnberg 1593; G. Krammer, Architectura von den fünf seulen, o.O. 1600 (1606, Köln 1610); (Forssman; Günther).
Die relativ breite Kenntnis der neuen Architektur führte allerdings im 15. Jh. zu keiner Aufnahme und im 16. Jh. ist eine verstärkte Anwendung nur im Profanbau zu beobachten, während der Sakralbau, wie unten dargestellt wird, nur verhalten reagiert. Anders als in der Malerei, wo das italienische humanistische Bild einer antiken Blütezeit, einer dunklen Zwischenzeit und der erneuernden Gegenwart zum Tragen kam (-»Dürer), wurde die mittelalterliche Architektur, vor allem der Sakralbau, in Deutschland bei den Humanisten (nur wenige Urteile liegen vor) als herausragende Leistung gesehen. Es gab in Fortführung der antik-mittelalterlichen Kaisertradition hier offenkundig eine Kontinuität im Denken (mit patriotischen Strömungen), die keine Defizite spürte, zumal eine direkte bauliche Aufnahme der Antike auch lokaler Bezüge entbehrt hätte. Durchaus nicht nur punktuell wurde dabei das Urteil Aenea Silvio Piccolominis (Pius II.) über die herausragende Stellung der deutschen Architektur tradiert und der ausdrückliche Bezug bei seinem Bau der Kathedrale von Pienza (1459-1462) auf deutsch-österreichische Hallenkirchen bestärkte diese Haltung. So wird in der Architekturtheorie bis zur Mitte des 17. Jh. (Rivius, Vitruvausgabe, 1548; Specklin, Vestungen, 1584; Furttenbach, Architectura, 1628; Wilhelm, Architectura, 1649) die neue, .moderne' Architektur Italiens neidlos gewürdigt, ohne in ihr etwas anderes als eine allgemeine Möglichkeit der Optimierung der eigenen zu sehen. Das galt vor allem für den Kirchenbau, wobei die gotische Hallenkirche als Ideal angesehen werden konnte. Renaissanceformen wurden offenkundig als moderne ,Zier* wahrgenommen und angewandt. Die Kontinuität der Architekturentwicklung aus dem Mittelalter in die Gegenwart stand im Vordergrund (Hipp). Ansätze einer deutschen Renaissance-Architektur findet man im Kirchenbau in den ersten Jahrzehnten des 16. Jh. selten. Zu den frühesten Beispielen der neuen Architektur- und Raumauffassung in Kombination mit italienischen Baudetails gehört die Fuggerkapelle, die 1 5 0 9 - 1 5 1 2 (Weihe 1518) gleich einem Westchor an St. Anna, Augsburg angebaut wurde. Verbindungen der Bauherren nach Venedig schlugen sich nieder; der Anspruch der Familie läßt im Raumkonzept das Vorbild mediceischer Zentralbauten erkennen. Die Verbindung von hohen Arkaden und Renaissancepfeilern mit baldachinartigem gotischen Gewölbe, das fast kuppelartige Weite erreicht, unterstreichen das oben skizzierte Nebeneinander von alter und neuer Form. Von den wenigen Beispielen ist ferner zu nennen die außergewöhnliche Gestaltung des Westturms von St. Kilian, Heilbronn (1508-1529), der in seiner engen Bindung an heimische Formen von Romanik und Gotik mit dekorativen Motiven der italienischen Renaissance Elemente der Zeit um 1600 vorwegnimmt. Die,moderne' Ausstattung der Dominikanerkirche (Dom) in Halle/S. mit einer hohen Attika und aufgesetzten Rundgiebeln (welsche Giebel, 1523) hängt mit der Erhebung des Baus zur Stiftskirche (1520) zusammen und mit dem Bemühen, Halle zum Vorreiter gegen die Reformation in Wittenberg aufzubauen. Eine erhebliche Zahl von Kirchenportalen, Altären, Fensterrahmungen und weiterer Baudetails kennzeichnet die Verwendung von Renaissanceformen nach italienischen Vorbildern — der Kirchenbau als Ganzes wird nirgends betroffen.
1.3. Der protestantische
Kirchenbau
Wegen der Bedeutung der Reformation scheint es legitim, eine kontinuierliche Darstellung des Kirchenbaus nach kunsthistorischen Epochenbegriffen hier zu unterbrechen.
Kirchenbau III
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Die intensive Suche nach dem adäquaten protestantischen Gottesdienstraum im 18. und 19. Jh. darf nicht darüber täuschen, daß diese Frage im 16. und 17. Jh. von geringem Interesse war. (Eine Ausnahme bilden die Tempel der Hugenotten und die protestantischen Kirchen der Niederlande.) Luther, die lutherische Theologie, die Kirchenordnungen und die Einweihungspredigten des 16. Jh. liefern keine einheitliche Theorie oder gar Anleitung für die Praxis der Gestaltung des Kirchengebäudes. Bei aller Zurückhaltung in bezug auf die Gestaltung der Kirche und trotz der verschiedenen Verweise auf Möglichkeiten spontan gewählter Versammlungsorte äußert sich —•Luther doch relativ dezidiert, wobei eine grundsätzliche Befürwortung des Kirchengebäudes erkennbar ist: Der Gottesdienst „sey eine öffentliche, redliche versamlung an sonderlichem ort, da nicht jderman sein mus, wie auff der gassen odder marckt, Auch etwas sonderlichs daselbs gehandelt wird, da bey auch nicht jderman sein sol, als bey uns die Kirchen sind und sonderlich der kor, welcher von alters her dazu sonderlich ist gebawet und abgesondert, das man daselbst hat das Sacrament gehandelt und Christus gedechtnis gehalten, ( . . . ) " (WA 31/1, 406). Entscheidend ist also die Befürwortung eigener Kirchen, die Ablehnung von Großbauten, die Betonung der Predigteignung, und besonders wichtig ist die Rolle des Chores, der beibehalten, aber als Ort der Gemeinde gesehen wird, also nicht mehr dem Klerus vorbehalten bleibt und seine neue, besondere Würde durch das zu feiernde -»Abendmahl erhält. Die zahlreichen Verweise auf den Tempel Salonions sind im Sinn einer Dreiteilung der Kirche in Vorhalle, Schiff und Chor zu verstehen. Auch in den -»Kirchenordnungen, zumindest des 16. Jh., spielt der Chor eine bedeutende Rolle. Die vielfach von Luther betonte Freiheit in der Wahl des Gottesdienstortes und seiner Gestaltung (Einweihungspredigt, Schloßkapelle Torgau, WA 49,588 ff) setzt jedoch letztlich in der Forderung nach dem ordentlichen Ablauf des Gottesdienstes und gemeinsamem Vollzug der Feier das Kirchengebäude voraus, das allerdings nicht mit zu großem Aufwand und Schmuck errichtet bzw. ausgestattet werden soll. Diese Auffassung geht betont von einem traditionell bestimmten Verständnis vom Aussehen einer Kirche aus, das auch von der Bau- und Nutzungspraxis bestätigt wird (Mothes; Hamberg; Hipp). Neuerdings erst wird auf die besondere soziale und liturgische Rolle des Gestühls, seiner Ausgestaltung und Anordnung (Recht auf Sitzen, Ausrichtung, Ordnung) hingewiesen (Wex). Die traditionsgebundene Vorstellung vom protestantischen Kirchengebäude findet ihren Höhepunkt, obwohl unmittelbar vor Beginn wesentlicher Neuerungen eigentlich schon überholt, in Caspar Calvörs, Rituale ecclesiasticum, Goslar 1705. Er fordert den orientierten Längsbau, die Dreiteilung (Vorhalle mit Turm, Langhaus, erhöhter Chor) und die äußere Unterscheidung vom Profanbau. -•Calvin befürwortet eindeutig den Kirchenbau, lehnt aber aufwendigen Schmuck entschieden ab: „Wie nun Gott den Gläubigen das gemeinsame Gebet in seinem Wort gebietet, so müssen auch öffentliche Kirchengebäude da sein (...). Nur muß dabei alles Gepränge wegbleiben ( . . . ) . ( . . . ) auch sollen wir [den Kirchen] nicht irgendeine verborgene Heiligkeit andichten, die unser Gebet bei Gott geheiligter machte. Denn wir sind doch selbst Gottes wahre Tempel..." (J. Calvin, Institutio, 1536; ed. O. Weber, Neukirchen s 1988, III, 20,30). In Folge vernachlässigter und unansehnlicher Kirchen verstärkte sich im Bereich der Reformierten in der zweiten Hälfte des 16. Jh. der Gedanke eines beschränkten Aufwandes: „Die Stätten, an denen die Gläubigen zusammenkommen, sollen aber würdig und der Kirche Gottes in jeder Hinsicht angemessen sein. Dafür sind geräumige Gebäude oder Kirchen zu wählen (...). (...) so wissen wir (...), daß die Gott und seiner Anbetung gewidmeten Stätten nicht gewöhnliche, sondern heilige Orte sind ( . . . ) " (Zweites Helvetisches Bekenntnis, 1566, zit. German 13). Die umfassende Abhandlung des Züricher Theologen Rudolf Hospinian, De Templis, Zürich 1587 u. 1603 befaßt sich dann ausführlicher mit dem Aufwand. In der Architekturtheorie kann bis 1650 nur Josef Furttenbach genannt werden, der in seiner Architectura civilis, Ulm 1628, dem Kirchenbau eine Anmerkung widmet und einen mehrschiffigen
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Längsbau mit Chor und Renaissancefassade empfiehlt. In der von seinem Sohn veröffentlichten Schrift Kirchen Gebäw. Der erste Theil. In was Form und Gestalt (...)»Augsburg 1649, gibt er eine Anleitung zum protestantischen Kirchenbau für die Neubauten nach dem Krieg (Hipp; Wex). Er entwarf einen längsrechteckigen, flach gedeckten Saal mit niedrigem, sehr schmalem, gewölbtem Chor für den Altar, darüber die Kanzel und über ihr die Orgel; Taufstein vor dem Altar, Westempore, Turm an der Nordostecke. Für das Äußere dachte er an hohe spitzbogige Fenster zwischen Pilastern. Die Bestuhlung sah im Westen die Sitze der Männer, im Vorderteil die der Frauen und Kinder vor (Wex 1984).
1.3.1. Schloßkapellen. Schon Buchholz und Grashoff lehnten es ab, die Schloßkapellen als Leit- und Urform protestantischen Kirchenbaus zu sehen (dagegen Ohle und Kraus). Wenn hier auch die besonderen Raumanforderungen, die geringe Größe und die Einbindung in den Schloßkomplex Sonderbedingungen schaffen, so muß doch festgehalten werden, daß die Rolle des Landesherren und der religionspolitische Anspruch der Auftraggeber diesen Bauten besondere Bedeutung zukommen ließ, selbst wenn ihr Einfluß für die Masse der Pfarrkirchen gering war. Die Schloßkapelle in Torgau (Weihe durch Luther, 5.10.1544), als Neubau des Landesherrn für den neuen Gottesdienst eingerichtet, zeigt einen hohen Saal mit Wandpfeilern, zwischen die doppelgeschossige Emporen auf Korbbögen gespannt sind. Kanzel am Mittelpfeiler der nördlichen Langseite, kein ausgeschiedener Chor, Sternrippengewölbe. Die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung der Kapelle liegt in der Systematisierung und Konzentration von Raum und Emporen, in denen Wex geradezu, in Anlehnung an Luthers Einweihungspredigt, ein Bild neuer Ordnungsvorstellungen einer protestantischen Gesellschaft abgebildet sieht. 1549-1555 wurde im Zuge des Schloßausbaus in Dresden unter Moritz von Sachsen die Schloßkapelle nach Torgauer Vorbild eingerichtet, allerdings mit stärkerer Betonung einer hallenartigen Breitenentwicklung und vor allem mit Pfeilern und Emporen in .moderner', d.h. in Renaissancearchitektur. Die Kapelle in Schwerin hat ebenfalls ein gotisches Sternrippengewölbe, hier auf Rundpfeilern (1560-1568, Choranbau 19. Jh.). Von vergleichbarem Aufbau ist die Kapelle des Heidelberger Schlosses (Friedrichsbau), mit Sternrippengewölbe im Schiff und Kreuzrippen über den Emporen (1602-1607). Formen und Zier der Renaissance wurden dann bei der Kapelle von Augustusburg (1569-1572) ausschließlich angewandt, bei fast freier Stellung der Kapelle innerhalb des östlichen Schloßflügels. Im Kern handelt es sich um eine Umsetzung der gotischen Formen von Torgau in solche einer gewichtigen Renaissanceauffassung; Emporen an vier Seiten; Altar in hoher Nische; Tonnengewölbe mit Beschlagwerk verziert, die Emporen aber nicht unter das Gewölbe gezogen wie in Torgau. Vergleichbar ist die Kapelle in Stettin (1575-1577), für die auch die Sitzordnung überliefert ist: Schloßherr und Begleitung auf der ersten Empore, Frauen des Hofes auf der zweiten, Schloßdiener und Bürger im Erdgeschoß. Renaissanceformen zeigt die Kapelle von Schloß Wilhelmsburg (1586-1590) in Schmalkalden: ein Saal mit doppelgeschossigen Emporen, Altar, Kanzel und Orgel übereinander an der östlichen Schmalseite und reicher Stuckdekoration. Generell kann man diese Schloßkapellen von den vorreformatorischen wie Halle (Moritzburg 1509) oder der Schloßkirche in Wittenberg (1503) nicht ableiten; selbst in bezug auf die dort nur schmalen Emporen gibt es nur wenige Gemeinsamkeiten. Zumindest für Torgau und die .modernen' Kapellen scheint das Bild des mit doppelten Arkaden umstellten Schloßhofs (Wex) die neue Auffassung vom Kirchenraum besser zu umschreiben; das Vorbild der spätgotischen Halle für Dresden und Stettin ist dabei unbestritten. Zu einer weniger deutlich ausgeprägten Architektur, wenn auch mit z.T. aufwendiger Ausstattung (Betstühle, Bilder, Kanzel), fand man bei den vielen saalartigen Schloßkapellen, die oft mit schmalen umlaufenden Emporen, teilweise nur mit einer Empore an einer der Schmalseiten ausgestattet wurden. Hierzu zählen die Kapelle in Neuburg/D. (1538-1543), deren rechteckiger Altarraum mit kassettierter Tonnendecke ausgestattet wurde (Baubeginn noch in vorreformatorischer Zeit). Zu nennen sind ferner die Kapelle in Gifhorn (1547) mit polygonalem Chorschluß, doppelgeschossiger Empore gegenüber dem Altar, Netzrippengewölbe, Kanzel an der Langseite, nahe dem Altar, die Kapelle in Celle (Raum vom Ende des 15. Jh.), 1560-1576 in Renaissanceformen durch Empore, Kanzel und Altar umgebaut und die Kapelle in Schloß Gottorf (Schleswig), seit 1590 als kreuzrippengewölbter Saal mit Renaissanceausstattung (Kanzel, Altar, herzogl. Betstuhl) errichtet. Die Kapelle in Ahrensburg entstand 1594/96 als separater Bau mit flacher Decke aus vierzehn Kreuzgewölben. Die Kapelle in Carolath (1618) bietet einen quadratischen Raum, doppelgeschossige Emporen, Maßwerkbrüstungen, Chor mit Apsis, Renaissanceformen mit Superposition der Emporensäulen. Als reiner Renaissancebau in römischen Formen entstand 1552/53 die Schloßkapelle in Jülich, deren Altarraum apsidial vor die Flucht des Schloßflügels gezogen wurde, Erdgeschoß in
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grober Rustikagliederung, Obergeschoß mit Pilastern auf hohen Sockeln, das Innere in der oberen Fensterzone von ionischen Halbsäulen umfaßt; im Gesamteindruck entstand eine stark an italienischen Architekturdarstellungen in Traktaten (Serlio) orientierte Formgebung. Zu den gefeierten Lösungen protestantischen Kirchenbaus gehört die Schloßkapelle in Stuttgart (1558-1562), bei der die Anlage als Querraum ebenso faszinierte, wie ihr Kontrast als gotischer Bau in dem Renaissanceensemble des Schlosses. Als querrechteckiger Saal mit dreiseitig umlaufender Empore (ursprünglich schmaler), polygonaler Chornische (Kanzel seitl. davon, sowie Altar davor) an der Langseite, die nach außen deutlich ausgebildet ist, mit Netzrippengewölbe (Stuck, Holz, 1573), nimmt sie den gesamten Südflügel des Schlosses ein (umfassende Restaurierung 1865). Die Form des querrechteckigen Saals ist hier wohl an lokale liturgische Bedingungen geknüpft und nicht als Beginn einer Tradition der Querkirche zu sehen (Poscharsky). Die wenigen direkten Nachfolgebauten, wie die Kapellen in Rotenburg/Fulda (um 1581), Heidenheim/Hellenstein (1601-1605) und Königsberg (1685-1693, Umbau 1706) sind wohl aus dynastischen Verbindungen der Auftraggeber zu erklären (Dött; Poscharsky, 1963). Nur bedingt kann hier auch die Kapelle in Liebenstein (1599-1600) genannt werden, die als separater Bau entstand. Sie ist eine kleine dreischiffige Halle mit polygonalem Chor, Kanzel am Chorbogen, Maßwerkfenstern, aufwendigem .modernen' Renaissancegiebel. Die Querkirchen des 18. Jh. haben jedoch andere (niederländische) Vorbilder. Die Schloßkapellen des 16. und 17. J h . haben bisher noch keine zusammenfassende Bearbeitung erfahren; auch der Bezug von protestantischen zu katholischen Bauten (etwa Landshut, Stadtresidenz, um 1543; Haigerloch, 1 5 9 1 - 1 6 0 9 ) ist nicht bearbeitet. In der Bewertung des E m p o r e n r a u m s der Schloßkapellen m u ß , w a s die vielfach faszinierende Geschlossenheit der Anlagen, was die Konzentration a u f Kanzel und Altar betrifft, die geringe G r ö ß e und das letztendlich bestimmende Hofzeremoniell mit seiner Scheidung der Gottesdienstteilnehmer nach ihrem R a n g berücksichtigt werden. 1.3.2. Pfarrkirchen. Ein wesentliches, nur teilweise erforschtes Element des protestantischen Kirchenbaus des 16. J h . stellt die veränderte N u t z u n g bestehender Kirchen dar. Hier spielten v o r allem die Ausrichtung des Gestühls (selten erhalten) in bezug a u f Kanzel und Altar (Poscharsky; W e x ) und die Nutzung bestehender bzw. der Einbau von neuen E m p o r e n eine g r o ß e Rolle. Die Umnutzung des Chores und die Beseitigung von Nebenaltären entbehren ebenfalls noch weitgehend einer systematischen Darstellung. In chronologischer Folge sollen einige Neubauten erwähnt werden. Wohl zu den frühesten gehörte die Kirche in Joachimstal/Jachymov (Böhmen, 1534-1540), die zunächst als längsrechteckiger Saal mit flacher Apsis und Treppenturm in deren Scheitel entstanden war; vierseitig umlaufende Holzempore, Flachdecke. Im Außenbau war der kastenartige Raum durch die hohen Strebepfeiler (Gewölbe geplant?) zwischen den Fenstern gegliedert; 1561/64 durch den Einbau von Holzstützen, die mit Steinplatten verkleidet wurden, zur dreischiffigen Halle umgebaut (aufgewertet?); 1873 zerstört. Die Marienkirche in Marienberg/Sachsen war 1558-1564 als dreischiffige Halle mit polygonalem Schluß und umlaufenden schmalen Emporen gebaut worden. Nach einem Brand (1610) folgte bis 1616 der Wiederaufbau, Kreuzrippengewölbe 1669-1674. Der schlichte Außenbau mit Strebepfeilern, doppelter Fensterreihe (Maßwerk) und sehr hohem Dach, knüpft an die Bauten in Annaberg und Pirna an, der sehr flache Schluß an Schneeberg. Altarraum nur durch zwei Stufen erhöht und durch zwei nach innen gezogene Treppenaufgänge zu den Emporen leicht gefaßt. Ohne dem herkömmlichen kirchlichen Erscheinungsbild zu folgen, wurde nach 1556 in Augsburg das sog. Predigthaus bei St. Georg (Abbruch 1629) errichtet und 1560, nachdem die Erweiterung der den Protestanten zugewiesenen Ottmarskapelle auch nach einem Anbau von Emporen unzumutbar war, folgte der erste Bau der Heilig-Kreuz-Kirche (Abbruch 1630). Beide Bauten entstanden als nach außen doppelgeschossige, langgestreckte .Häuser' mit Satteldach und Dachreiter, ohne architektonisch hervorgehobene Portale. Zu den frühen Bauten zählt auch die Stadtkirche St. Georg in Eisenach, die 1560/61 als Halle unter Übernahme eines älteren Chors errichtet wurde, ein Renaissancebau mit Rundpfeilern, Flachdecke, runden Scheidbögen, dreigeschossiger Empore und Spitzbogenfenstern. Die Nikolaikirche in Tondern (1591-1592) entstand als dreischiffige Staffelhalle in Backstein mit deutlich ausgeprägtem Chor in Breite des Mittelschiffs und mit polygonaler Apsis; Kanzel am nördlichen Mittelpfeiler des Langhauses, Altar im Chor, dieser durch Lettner abgetrennt (vgl. auch den Lettner von 1592/94 in der Brüdernkirche, Braunschweig, der von Berndt/Poscharsky im Sinne von Luthers Dreiteilung der Kirche als Abbild der Teilung des Tempels in Jerusalem gedeutet wird),
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Sternrippengewölbe, spitzbogige Fenster; Westturm mit Eingangshalle. Der Bau entspricht also in der Dreiteilung dem traditionellen Kirchenschema. Letztlich in ihrer Funktion und architektonischen Gestalt nicht hinreichend geklärt ist Heinrich Schickhardts Stadtkirche von Freudenstadt (1601-1608; Ostturm 1615), die zunächst als rechteckiger Bau entworfen worden war und auf fürstliche Intervention als Winkelhaken ausgeführt wurde. Die beiden als Saal ausgebildeten Flügel sind rechtwinkelig aneinander gefügt, zeigen ein vereinheitlichendes Netzrippengewölbe, an den Schmalseiten und ,inneren' Langseiten umlaufende Empore. Kanzel im Winkel, Altar auf den westlichen Flügel ausgerichtet, Taufstein an der Grenze zum Ostflügel, dieser dreiseitig geschlossen mit erhöhtem,Chorraum', eine bisher nicht geklärte Form. An den Schmalseiten jeweils die Türme. Die Winkelhakenform wurde wohl aus städtebaulichen Gründen gewählt, da auch die anderen Bauten um den Marktplatz (Spital, Kaufhaus, Rathaus) der neuen Stadt als Winkelhaken ausgebildet werden sollten. Eine Geschlechtertrennung in den Flügeln ist nicht ursprünglich. Sitzordnung: Im Westflügel saßen die Frauen im Erdgeschoß, die Männer auf den Emporen; der Ostflügel war fast ohne Gestühl (nur für Bürgermeister und Stadtrat an der Südwand), auf der Empore wahrscheinlich die jungen Männer versammelt (Wex). Die Nachfolgebauten wurden von Heyer (1969) zusammengestellt. Es handelt sich um Erweiterungen oder Ergänzungen älterer Anlagen zum Winkelhaken: Unterschüpf (1617); Heidenheim (1621/22; von Schickhardt); Ruhla als einziger Neubau (1661; mit ursprünglich Geschlechtertrennung in den Flügeln); Binningen (1673) und Wintersingen (1676) bei Basel; Elsfleth (1690). Außergewöhnlich in der Form sind auch die ehemalige Wallonische und Niederländische Kirche, die in Hanau für die beiden sprachlich getrennten Gemeinden auf Wunsch des Stifters als verschränkte Zentralbauten (Achteck, Zwölfeck) mit mittlerem schmalen Turm im Zuge der Stadterweiterung für reformierte Flüchtlinge in städtebaulich exponierter Lage errichtet wurden (1600-1608). Umlaufende Emporen, dorische Säulen, Rundbogenfenster mit Maßwerk. Vorbilder und Vorläufer waren offenbar zentralisierte temples in Frankreich (La Rochelle, gestrecktes Achteck, 1577-1603) oder den Niederlanden (Willemstad, 1597-1607). In dieser Form sind die Hanauer Kirchen allerdings ein Sonderfall. Protestantische Zentralbauten sind bis um 1680 in Deutschland äußerst selten (Rundbau von Untersuhl, 1615; Griebenow, Fünfzehneck, 1616; Grochwitz/Schlesien, 1622; Rhynern, Sechseck, 1665-1667); von stark zentralisierter Wirkung die Kirche in Kürbitz/Sachsen (1624-1626) als fast quadratische dreischiffige Halle mit Kreuzgratgewölben und eingezogenem polygonalen Chor. Emporen auf massiven Rundbögen; Rundbogenfenster mit Maßwerk. Zu den von niederländischen Vorbildern (Amsterdam, Noorder Kerk, 1620/33) beeinflußten Bauten ist die reformierte Neue Kirche in Emden zu rechnen (1643-1648), ein Backsteinbau mit Sandsteingliederung, rundbogigen Maßwerkfenstern, T-förmiger Grundriß, flache Holztonnenwölbung, Kanzel am Ende der Mittelachse des Längsarms. Die früheren reformierten Kirchen Ostfrieslands waren wohl überwiegend längsrechteckige Bauten, z.T. mit polygonalem Chor (Priddy). Zu den bedeutendsten protestantischen Kirchen überhaupt gehört die Marienkirche in Wolfenbüttel (1608-1625, Zwerchgiebel 1660, Turmhelm 1751). Die dreischiffige Halle mit eingestelltem mittleren Westturm, seitenschiffartigen Choranbauten, eingezogenem Chorjoch und polygonalem Schluß weist im Äußeren hohe Lanzettfenster zwischen Strebepfeilern auf. Das Dach nicht als hohes Satteldach über alle drei Schiffe gesetzt, sondern nur über das Mittelschiff; Seitenschiffe durch Querdächer mit Ziergiebeln jochweise gedeckt. Die gotische Grundform der Fenster durch Zierformen der nordalpinen Renaissance besetzt, Maßwerk z.T. aus knorpeligen Pflanzenranken gebildet. Aufwendiger Roll- und Beschlagwerkschmuck an den Giebelschrägen; Renaissanceportale. Im Innern vierteilige Kreuzrippengewölbe auf achtseitigen, konisch zulaufenden Pfeilern. Die Kirche war als Pfarrkirche und herzogliche Begräbniskirche geplant, mit Funktionen einer Schloßkirche, mit ursprünglich hohem Stellenwert in der sich konsolidierenden protestantischen Kirche des Landes. Bereits erste Vorschläge für die Gestaltung (1604) sprechen davon, „eine feine zierliche gewölbete Kirche" nach Vorbild von Riddagshausen zu errichten. Daher die Betonung mittelalterlicher Züge: Grundriß, Gewölbeform, Raumform, Dachform (Vorbild Braunschweiger Pfarrkirchen des 13./14. Jh); im Innern kastenartige Gestaltung des,Querhauses' als Sakristei und fürstliche Gruftkapelle (Süden) mit Zugang zur Gruft unter dem Chor, jeweils mit darüber liegenden Emporen, die nördliche zeitweilig für den Adel bestimmt (Lage gegenüber der Kanzel); diese Einbauten erinnern an vergleichbare Erscheinungen in mittelalterlichen Kirchen (Herford, Stiftsdamenempore; Braunschweig, Martinikirche mit Sakristei und darüber liegender Empore vor dem Chor). Auffallend ist die Verwendung von Säulen aus der alten Kapelle der Braunschweiger Burg. Für die Gesamtgestaltung und die traditionelle Verankerung der Kirche waren sicher die versöhnliche Haltung der Herzöge nach Einführung der Reformation (1568) und auch die deutliche Betonung der Theologen der Helmstedter Universität, die eigentlichen Bewahrer des alten Glaubens zu sein, verantwortlich. Verwandt ist die 1614-1618 errichtete Marienkirche in Hornburg, bei ähnlicher Grundrißgestaltung mit Kreuzrippengewölbe auf Achteckpfeilern ohne Kapitelle; Außenbau dagegen schlicht (Strebepfeiler 19. Jh.).
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Wolfenbüttel, Marienkirche (1608-1625)
Die deutliche Folge von Turmquadrat, dreischiffiger Halle (Kreuzrippengewölbe) und flacher Apsis zeigt die Kirche in Hastenbeck (ab 1620). Einflüsse sind auch bei der Salvatorkirche (1674-1683) in Clausthal-Zellerfeld zu beobachten (ursprünglich Querkirche). Von kaum geringerem Aufwand ist die Stadtkirche in Bückeburg (1611-1615): dreischiffige Halle, dreiseitig polygonal geschlossene Ostseite ohne Ausbildung eines Chors (Vorbild die Martinikirche in Stadthagen); Westturm nicht ausgeführt; vierteilige Kreuzrippengewölbe auf korinthischen Säulen, Strebepfeiler, dreibahnige Maßwerkfenster; Fassade mit reichem Schmuck nach Vorbildern deutscher ,Säulenbücher' (W. Dietterlin) mit Hermenpilastern, Rollwerk; dreieckiger Giebel mit Zierformen belegt, Inschrift: Exemplum religionis non structurae; Fürstenempore im Westen, Altar und Orgel ursprünglich an der Ostwand hinter lettnerartiger Schranke oder Gitter (?); Kanzel im Mittelschiff - in der Bückeburger Schloßkapelle (Einrichtung um 1604) dagegen eine Vorform des Kanzelaltars. Die Kirche hatte Funktionen einer Residenzkirche, die in Finanzierung, Ausstattung und städtebaulicher Lage zum Ausdruck kommen. Als Grablege ließ Fürst Ernst von Schaumburg dagegen das Mausoleum in Stadthagen (1609-1625) errichten. Als direkte Nachfolgebauten der Stadtkirche sind zu nennen die Kirchen in Petershagen (1615-1618) und Sachsenhagen (1650-1690). Eine ähnlich augenfällige Verbindung von Formen der Renaissance und gotischen Merkmalen zeigt die Kirche in Ostheim v.d. Röhn (1615-1619, Chorturm 1580), die als dreischiffige Halle mit überhöhter Längstonne im Mittelschiff und Flachdecke in den Seitenschiffen errichtet wurde, wobei bandagierte Säulen, gleichsam als Sockel, die eigentlichen Rundpfeiler/Säulen des Langhauses tragen (Chor dagegen mit Kreuzrippengewölbe, Fenster spitzbogig). Für diesen Querschnitt (Tonne, flachgedeckte Seitenschiffe), dessen Grundform in der Schloßkapelle von Schmalkalden (1590) angelegt war, können einerseits Vorstellungen von dem Aussehen vitruvianischer Basiliken und, darauf zurückgehend, in vorsichtiger Parallelsetzung andererseits die Gestaltung des Tempels von Charenton (1621-1623) bei den späteren Beispielen herangezogen werden (Weyrauch). Zu nennen sind: das Langhaus der Kirche von Mansbach/Hessen, ein rechteckiger Saal (1569), der 1682 an drei Seiten doppelgeschossige Emporen auf Säulen und eine mittlere Längstonne erhielt, wobei der Chor des 15. Jh. beibehalten wurde, Frankenhausen/Thüringen als später Nachfolger (1691-1701) und die Johanneskirche in Wolfenbüttel (1662-1664, Campanile 1691-1693), entstanden als Fachwerkbau mit eingezognem polygonalen Chor, der durch Fenster stark aufgehellt ist.
Im Gegensatz zu den bisher genannten Bauten, die mit wenigen Ausnahmen in der Tradition mittelalterlicher Kirchen standen, sollen aus der ersten Hälfte des 17. Jh. einige Renaissancebauten erwähnt werden. Von 1 6 0 1 - 1 6 0 7 entstand nach Plänen Heinrich Schickhardts, stilistisch unter dem Einfluß seiner Italienreise (1599), für das damals württembergische Montbeliard/Mömpelgard die Kirche St. Martin als einfacher längsrechteckiger Saal mit Flachdecke, dünner Pilastergliederung, Westempore, Kanzel an der Nordseite, im Osten geradem Schluß mit hoher Dreifenstergruppe; im Außenbau Gliederung durch toskanische Pilaster auf hohem Sockel (Vorbild S. Maria Maggiore, Trient), Rechteckfenster mit abwechselnd dreieckig und segmentbogig gebildeten Giebeln; Fassade mit
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dreieckigem, schmucklosem Giebel. Die Strenge in Grundriß, Aufriß und Ausstattung steht sicher unter französisch-reformiertem Einfluß. Die von Schickhardt in Göppingen erbaute ehemalige Schloßkirche ( 1 6 1 8 - 1 6 1 9 ) zeigt eine vergleichbare strenge, kastenartige Architektur. Verwandt sind auch die Trinitatiskirche von Leutkirch ( 1 6 1 3 - 1 6 1 5 , 1 8 5 7 Umbau zur gotischen Halle); ebenso das Langhaus der Trinitatiskirche in Ulm ( 1 6 1 7 - 1 6 2 1 ) mit spitzbogigen Maßwerkfenstern zwischen toskanischen Pilastern. Diese Bauten scheinen Vorbild für Furttenbachs 1649 publizierten Entwurf zu sein. Im Außenbau noch schlichter, mit kleinen, rechteckigen, an den Langseiten doppelgeschossigen Fenstern, die an Profanbauten erinnern, ist die Kirche in Nidda ( 1 6 1 5 - 1 6 1 8 ) , wohl nach dem Vorbild des Langhauses der Kirche in Hungen ( 1 5 9 6 - 1 6 0 8 ) . Wenn auch wesentlich später, kann doch auch die Neustädter Hofkirche St. Johannis, Hannover ( 1 6 6 6 - 1 6 7 0 ) , mit eingezogenem Rechteckchor und den ursprünglich drei Reihen von einfachen Rechteckfenstern zwischen flachen Strebepfeilern (im Innern ein Saal mit flacher Holztonne), hier genannt werden. Mit der Hofkirche in Neuburg/D. entstand ein Bau, der für die Positionen zur Vergangenheit (Hallenkirche) und Moderne (Wandpfeilerkirche, Renaissance-Barock) sowie innerhalb der Konfessionen zu den wichtigsten Zeugnissen gehört. Entgegen dem fürstlichen Vorschlag einer Wandpfeilerkirche mit Längstonne forderten die Kirchenräte „eine feine Hechte und ruhige Kirchen von wenig Ingepawen" nach Vorbild der nahezu hundert Jahre älteren gotischen Hallenkirche von Lauingen (1518). Wichtiger Angriffspunkt waren 1605/06 die seitlichen Kapellenräume einer Wandpfeilerkirche, die „mit Altären ausgefüllet werden", so daß der Raum „den alten päbstlichen Kirchen gleichet", in dem man die „Predigt nit wol warnemmen" kann (Zimmer; Hipp; Seitz/Lidel). Andererseits wurde die Helligkeit vom Auftraggeber der „attention zum Gebett und G e h ö r " als abträglich bezeichnet. D . h . aber, daß im zeitgenössischen Denken die spätgotische, helle Halle als der fortschrittlichere Raum gelten konnte, während die neue Form der Wandpfeilerkirche (deren mittelalterliche Beispiele wohl in der Polemik gar nicht gemeint waren) nach italienischem Vorbild und nach St. Michael, München, als dunkel und altertümlich, als katholisch, angesehen wurde.
Neuburg/D., Hofkirche (ab 1607)
Die Hofkirche in Neuburg entstand als protestantische Alternative zu St. Michael, ab 1607 als dreischiffige Halle mit eingezogenem, rund geschlossenem Chor und Westturm errichtet. Im Außenbau wurden bestimmend die hohen Rundbogenfenster zwischen toskanischen Pilastern auf hohem Sockel. Nach dem Konfessionswechsel des Landesherrn (1613/14) wurde der noch nicht vollendete Bau den Jesuiten übergeben (1618). Die quadratischen Pfeiler, die reiche Stuckdekoration des Innern, die Verschleifung der Gewölbegrate durch Stuckzier und die einheitlich weiße Farbe ließen den Eindruck einer gotischen Halle, die als Vorbild gedient haben mag, fast völlig verschwinden. Die Verlängerung des Chores um ein Langhausjoch und der östliche Abschluß der Seitenschiffe durch Nebenaltäre vollendeten die Katholisierung des Baus. Die Emporen blieben erhalten. Die katholische St. Peterskirche in Neuburg wurde 1641/46 ebenfalls als dreischiffige Halle mit dreiseitig umlaufender Empore gebaut. Gleichzeitig (1607/1609), in enger künstlerischer und territorialer Verbindung zu Neuburg entstand die Kirche in Haunsheim als Saal mit eingezogenem Chor und polygonalem Schluß sowie Kreuzgratgewölbe. Im Außenbau dorische Pilastergliederung mit hohen Rundbogenfenstern mit Adikularahmung außen und innen. Auch für die Dreieinigkeitskirche in Regensburg sollte zunächst die Neuburger Hofkirche als Vorbild dienen (Pläne in Regensburg, Stadtmuseum). O b die Übernahme dieses Vorbildes durch die Jesuiten den Plan scheitern ließ, ist unsicher. Verwirklicht wurde nach Entwürfen des Nürnberger Festungsarchitekten Johann Carl ein Saalbau mit flachem Tonnengewölbe (Holz, Sternrippen aus Stuck), in einfacher Rechteckform mit eingezogenem Rechteckchor, Chorflankentürmen und schmalen Emporen auf Konsolen an den Langseiten; querovale Fenster im Erdgeschoß, Rundbogen-
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fenster mit Maßwerk über den Emporen, Renaissanceportale; fast schmuckloser dreieckiger Giebel im Westen und über dem Chorabschluß. Eine besondere Helligkeit des Chores ergab sich durch vier hohe Fenster und Ovalfenster (Bauzeit 1 6 2 7 - 1 6 3 1 ) . Zur Bestuhlung mit ihrer augenfälligen Hierarchie vgl. Wex: Im Chor saß der obere Stadtrat, an den Langhausseiten der mittlere Rat mit Blick auf die Frauen in der Mitte, Adel und hohe Beamte auf den Emporen. Für kurze Zeit wurde Prag zu einem Zentrum protestantischen Kirchenbaus. Die kaiserliche Residenz unter Rudolf II. (bis 1612) zog eine größere Zahl Deutscher lutherischen Bekenntnisses an, die mehrere Kirchen bauten (Kotrba, 1970; Lietzmann, 1977). In der Altstadt entstand 1 6 1 1 - 1 6 1 4 die Salvatorkirche als dreischiffige Basilika weitgehend in Renaissanceformen aber mit polygonal geschlossenem Chor; Emporen über Rundbögen; Stichkappengewölbe, im Chor dagegen schmale Maßwerkfenster, Außengliederung zudem durch Strebepfeiler und Pilaster. Die Basilika im protestantischen Kirchenbau ist in dieser Zeit vereinzelt und hier durch die katholische Umgebung zu erklären, wohl auch durch den direkten Vergleich zur katholischen Salvatorkirche in der Altstadt (Chor 1 J 7 8 - 1 J 8 2 , Langhaus 1 6 0 0 - 1 6 0 2 ) , ursprünglich wohl mit deutlichen gotischen Elementen. Z u nennen ist in der Altstadt St. Simon und Juda ( 1 6 1 4 - 1 6 2 0 ) als Wandpfeilerkirche mit Netzrippengewölbe (Stuck) auf toskanischen Pilastern mit Emporen zwischen den Wandpfleilern. Ebenfalls als Wandpfeilerkirche entstand auf der Kleinseite die Dreifaltigkeitskirche ( 1 6 1 1 - 1 6 1 3 ) als weitgehend barocker Bau mit Doppelturmfassade (nicht ausgeführt) in Anlehnung an römische und damit katholische Vorbilder. Gebaut wurde die Kirche mit massiver Unterstützung deutscher protestantischer Fürsten. Nach der Rekatholisierung Böhmens ( 1620) unvollendet geblieben, wurde sie nach der Zuweisung an die Karmeliter völlig umgestaltet (Maria de Victoria). Während des -»Dreißigjährigen Krieges entstanden nur wenige Kirchen, z.T. in abgelegenen Gebieten erbaut. Von ihnen gehört die Heilig-Geist-Kirche in Clausthal-Zellerfeld zu den aufwendigsten. Sie ist mit 2200 Plätzen eine der größten deutschen Holzkirchen (Fachwerk, verbreitert, 1 6 3 7 - 1 6 4 2 ) . Der durch Anbauten, Türme und eine reiche Dachausbildung bewegten Silhouette steht ein strenger, längsrechteckiger Hallenraum mit korbbogigem Tonnengewölbe und flachgedeckten Seitenschiffen mit Emporen auf Pfeilern gegenüber, wobei an die oben erwähnte Querschnittform von Ostheim, Wolfenbüttel u.a. zu erinnern ist. Weitere Holzbauten der Zeit sind St. Antonius in Bad Grund (1640) und, von beeindruckender Größe und Pracht, die schlesischen Fachwerkkirchen, die in Folge von Zugeständnissen beim Friedensschluß von 1648 nach Vorbildern des 16. J h . errichtet wurden, aber außerhalb der Städte liegen mußten. Die Friedenskirche in Jauer entstand 1 6 5 4 - 1 6 5 6 als dreischiffige Basilika mit zwei-(später dreigeschossigen Emporen in den hohen Seitenschiffen. Aufwendigster Bau mit stark zentralisierender Tendenz war die Friedenskirche in Schweidnitz ( 1 6 5 7 - 1 6 5 8 ) , die über kreuzförmigem Grundriß errichtet wurde (3000 Sitzplätze, 4500 Stehplätze).
In der Nachkriegszeit war der Bedarf an neuen Kirchen wegen des Bevölkerungsrückgangs zunächst gering; dennoch entstand in der zweiten Hälfte des 17. Jh. eine Reihe bedeutender Bauten. Die alte St. Michaeliskirche in Hamburg ( 1 6 4 9 - 1 6 6 1 , Wölbung 1 6 7 1 - 1 6 7 3 ) war eine dreischiffige Halle mit Kreuzrippengewölben (Holz) auf toskanischen Säulen und hohen Postamenten; Fenster z . T . mit Palladiomotiv; Ostseite dreiseitiges Polygon - im Innern jedoch Rechteckchor, in den verbleibenden Zwickeln Nebenräume. Im Westfälischen Frieden bekamen die Augsburger Protestanten das Recht zugesprochen, ihre 1630 abgebrochene Kirche (Heilig Kreuz) wieder aufzubauen. Als religionspolitisch wichtiger Akt sind die unzähligen Spenden protestantischer Städte und Fürsten aus ganz Europa zu werten. Neben der katholischen Heiligkreuzkirche, auf dem Platz des alten Baus, mußte der Neubau erstellt werden. Es entstand ein im Kern längsrechteckiger Saal ( 1 6 5 0 - 1 6 5 3 ) mit eingezogenem, polygonal geschlossenem Chor mit Altar und Orgel, Flachdecke, Empore an der östlichen Eingangsseite und an der südlichen Langseite, Kanzel gegenüber; Fassade mit geschwungener Giebelkante, Voluten, Turmerker (zur Gestühlsordnung vgl. Wex). Erwähnenswert ist auch das Modell für eine Augsburger protestantische Kirche (Städtische Kunstsammlung), wahrscheinlich für St. Georg (um 1648). Es zeigt eine dreischiffige gotische Halle mit eingezogenem polygonalen Chor, rundbogigen Kreuzrippengewölben auf Achteckpfeilern mit hohen Postamenten und Kapitellen; Taufe unter dem Chorbogen, Kanzel daneben, Altar im Chorhaupt. Das Modell macht erneut deutlich, daß der weite, fast kastenartige Raum der Heiligkreuzkirche in Augsburg eher die Ausnahme einer idealen protestantischen Kirche gewesen ist. Eine beachtenswerte Sonderstellung nimmt die Unionskirche in Idstein ein, die 1 6 5 5 - 1 6 7 7 durch Umbau der Stiftskirche St. Martin (Mitte 14. Jh.) zur Hofkirche (Nassau-Idstein) umgewandelt wurde. Dabei brach man die gotischen Gewölbe und Pfeiler zugunsten einer Arkadenstellung auf toskanischen Säulen und eines weiten Chorbogens heraus; der Chor (1680) ist als Grablege eingerichtet und bis ins späte 18. J h . ausgestattet. Auffallend die lückenlose Ausstattung des gesamten Obergadens und der dreiseitig gebrochenen Decke mit Gemälden (Evangelienszenen).
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Obwohl zeitlich und in der Ausstattung bereits weit in der Barockzeit stehend, seien noch einige Bauten erwähnt, die wegen ihrer gotischen Grundkonzeption gleichsam den Abschluß eines Uberblicks über den stark nachgotisch geprägten protestantischen Kirchenbau bis um 1700 bilden können. Die Katharinenkirche in Frankfurt (1678/84) war als langgestreckter Saal mit polygonalem Ostabschluß errichtet worden; Turm wohl aus Platzmangel an der Mitte der nördlichen Langseite; hohe Maßwerkfenster, Strebepfleiler, vierteilige Kreuzrippengewölbe (Holz) auf Konsolen, reich bemalt; doppelgeschossige Emporen an West-, Süd- und Ostseite, an dieser Altar und Orgel, Kanzel an der Nordseite. Von lutherischen Flüchtlingen aus Speyer und Worms wurden die dortigen Dreifaltigkeitskirchen nach den französischen Zerstörungen fast als Kopie nach dem Frankfurter Vorbild 1 7 0 1 - 1 7 1 7 bzw. 1 7 0 9 - 1 7 2 5 neu errichtet. Dabei nahm man allerdings die gotischen Bezüge im Außenbau (nicht im Grundriß und in den Gewölben) zugunsten frühbarocker Gestaltung zurück. Aus dem Backsteingebiet sei die über einem griechischen Kreuz (Einfluß niederländischer Vorbilder) errichtete Christkirche in Rendsburg ( 1 6 9 5 - 1 7 0 0 ) erwähnt, die besonders in der Ausgestaltung der Fenster und in den sich durchkreuzenden Tonnengewölben Formen der Gotik beibehält.
Zusammenfassend läßt sich der protestantische Kirchenbau bis in die zweite Hälfte des 17. Jh. trotz aller Vielfalt in einigen Charakteristika beschreiben. Vorherrschend bleibt in Form (Hallenkirche) und Stil (Gotik) der traditionelle Bezug als bewußt gewählter bzw. beibehaltener Ausdruck der Kirche. Moderne Formen (Renaissance, z.T. Barock) zeigen die Schloßkapellen, während Pfarrkirchen diese seltener und dann vor allem in den katholischen Gebieten Bayerns und Österreichs verwenden. Auffallend selten sind vor etwa 1680 Zentralbauten; das übliche sind Längsbauten, meist als dreischiffige Hallen errichtet und in der traditionellen Dreiteilung von Vorhalle (Turm), Langhaus, Chor. Hohe, schmale Fenster (meist mit Maßwerk) herrschen als kirchliches Merkmal vor. Die .häuslichen' Reihen von quadratischen Fenstern sind selten. Bei diesen Merkmalen handelt es sich jedoch nur um Tendenzen, da auch der katholische Kirchenbau jeweils derartige Beispiele aufweist. Auffallend ist, daß bei den großen Residenzkirchen die nachgotischen Formen im Vordergrund stehen und offenkundig die neue Konfession in ein traditionelles Erscheinungsbild gefügt wird, wobei das Neue vielfach als das Bewahren des Alten angesehen wurde. Neue religiöse Strömungen, wie der -»Pietismus machen sich selbst bei von ihm beeinflußten Neubauten (Katharinenkirche, Frankfurt) nur in der Ausstattung bemerkbar. 1.4. Der katholische Kirchenbau Weder während der Reformation noch in der Reaktion darauf bildeten sich für den katholischen Kirchenbau spezifische Theorien, Handlungsanweisungen oder Bauanleitungen heraus. Die Beschlüsse des Konzils von Trient (letzte Sitzung Dezember 1563) enthalten, im Gegensatz zu Malerei und Plastik (Reliquien- und Bilderverehrung), keine Verweise auf die Gestalt des Kirchengebäudes. Von Belang waren wenige Arbeiten, zu denen die unter dem Mailänder Erzbischof Carlo Borromeo 1576/77 zusammengefaßten Instructiones fabricae et supellectilis ecclesiasticae gehören, die zunächst als Anweisung für den Mailänder Kirchenbau gedacht waren (Mayer-Himmelheber). Die wichtigsten Forderungen für die bauliche Gestalt: Kreuzförmiger Längsbau nach altchristlichem Vorbild bei vorsichtiger Distanz zu Rundbauten als heidnisch (wobei auf den Wiederaufbau von S. Lorenzo, Mailand als Zentralbau unter Carlo Borromeo hinzuweisen ist); Fassade mit bildlichen Darstellungen; Atrium oder Portikus unter Verweis auf altchristliche Vorbilder; Flachdecke oder Wölbung nach römischem bzw. Mailänder Vorbild; Fenster sind nicht mit bunten oder gemalten Scheiben zu versehen, Bedeutung des hellen Kirchenraums; der Chor ist zu wölben, soll leicht erhöht werden und ist durch ein Gitter abzutrennen; Anlage von Kapellen (Altären) an den Langseiten (nach außen sichtbar); Kanzel nahe dem Altar. Eine direkte Übernahme der Instructiones erfolgte in Jakob Müllers Ornatus ecclesiasticus, Regensburg 1594. Die Vorschriften ließen in ihrer Allgemeinheit weite Spielräume. Bedeutsam ist die Forderung nach selbstbewußtem Auftreten der Kirche durch Sakralbauten bei Betonung einer modernisierten altchristlichen Tradition. In Deutschland waren von großem verlegerischen Erfolg die Disputationes (Ingolstadt
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1 5 8 6 - 1 5 9 3 ) des T h e o l o g e n und späteren Kardinals Roberto —•Bellarmini, eine umfassend e Auseinandersetzung mit der R e f o r m a t i o n . D a s Kirchengebäude i m engeren Sinn w i r d allerdings nur kurz behandelt. H e r a u s g e h o b e n werden: E i g n u n g für Predigt u n d Sakramentsgottesdienst; Dreiteilung in Vorhalle, Schiff, C h o r n a c h Vorbild d e s S a l o m o n i s c h e n T e m p e l s ; Bedeutung des S c h m u c k s als A t t r a k t i o n für die G l ä u b i g e n ; Forderung n a c h längsrechteckigen Bauten. (Andere Q u e l l e n , w i e e t w a d i e N u n t i a t u r b e r i c h t e a u s D e u t s c h l a n d , scheinen spezifischen Fragen d e s Kirchengebäudes k e i n e n B e l a n g z u z u m e s sen.) Die Architekturtheorie beschäftigt sich mit der Raumform des Kirchengebäudes nur am Rande. Alberti (1485) bevorzugt den Zentralbau, bei Längsbauten plädiert er f ü r Wölbung, Chorapsis, Kapellen an den Langseiten (getrennt durch Wandpfeiler) und fordert einen Säulenportikus. Filarete und Francesco di Giorgio bevorzugen Rundbauten und den Längsbau in Kreuzform. Pietro Cataneo (1554) verlangt die Kreuzform sowohl als Abbild des Menschen als vor allem des Gekreuzigten, sowie äußere Schlichtheit bei hohem Aufwand f ü r das Innere als moralisierendes Abbild des Menschen. Palladio (1570) nennt die Kreisform die beste, verweist allerdings auf die Symbolik der kreuzförmigen Anlage; wichtig ist seine Forderung nach einem weißen Kirchengebäude (Reinheit). Generell bevorzugt die Traktatliteratur die Antike als Vorbild. Gotische Bauten (Dom in Mailand) werden jedoch in den Illustrationen verwendet. 1.4.1. Die Bauten. D e n beiden protestantischen G r u n d t y p e n , Schloßkapelle u n d Pfarrkirche, steht im katholischen Kirchenbau die traditionelle Vielfalt v o n Bauten unterschiedlicher Z w e c k b e s t i m m u n g und verschiedenster Institutionen g e g e n ü b e r , o h n e d a ß für d a s 16. und 17. Jh. ausgeprägte T y p e n zu b e n e n n e n w ä r e n . D e r katholische Kirchenbau in D e u t s c h l a n d läßt sich in n a c h r e f o r m a t o r i s c h e r Zeit, in seiner vor- und frühbarockcn E n t w i c k l u n g nur s c h w e r in einzelne klar trennbare Erschein u n g e n gliedern. Vor allem k a n n m a n nicht v o n einer einheitlichen g e g e n r e f o r m a t o r i s c h e n Bauphase sprechen, w o b e i die seit je kontrovers diskutierten Jesuitenkirchen n u r teilweise eine A u s n a h m e bilden. Die Architektur einzelner, im Zusammenhang gegenreformatorischer Politik besonders aktiver Bauherren wie des Fürstbischofs -»Julius Echter (Würzburg) zeigt scheinbar spezifische Züge (Gotik), die aber bei genauer Betrachtung sich als allgemeiner Zeitstil erweisen. Die größeren Pfarrkirchen Echters sind häufig Baufortsetzungen, wie St. Veit, Iphofen (1508-1529 u. 1594-1612), als dreischiffige Halle mit Netzrippengewölbe auf Rundpfeilern errichtet, oder St. Maria Magdalena, Münnerstadt (1608-1612) mit z.T. toskanischen Stützen und gotischen Gewölben. Neubauten sind die Kirchen in Amrichshausen (1612-1625), ein Saal mit kreuzrippengewölbtem Chor; das Langhaus von St. Kilian, Mellrichstadt (um 1610) als Halle; St. Georg, Bischofsheim (1607-1610), in Formen der im katholischen Kirchenbau nicht seltenen Basilika mit Kreuzrippengewölbe und M a ß werkfenstern errichtet. Von größeren Pfarrkirchen in anderen Gebieten sind beispielhaft zu nennen St. Peter, Dillingen, unter Einfluß der dortigen Jesuitenkirche, aber 1619-1628 als Hallenkirche mit eingezogenem Chor und Kreuzgratgewölbe auf toskanischen Pfeilern erbaut (ab 1643 aus statischen Gründen Umbau zur Wandpfeilerhalle); St. Heinrich, Schloß Neuhaus (Westfalen), 1665-1666 als Saal mit eingezogenem polygonalen Chor, Maßwerkfenstern, aber barockem Portal errichtet. Neben den genannten Beispielen im Würzburger Raum kommen gotische Ausbauten vielfach vor - wohl auch im Zuge einer Vorstellung von Kontinuität. Beispielhaft für gotisierende Innengestaltung sind St. Johannes, Baindt (ehemalige Zisterzienserinnenabtei bei Ravensburg), 1560 mit einem gotischen Netzrippengewölbe versehen, oder die Ausstattung des romanischen Doms in Würzburg mit einem Netzrippengewölbe im Mittelschiff (1602-1608, beim barocken Ausbau beseitigt), ähnlich auch bei der dortigen Franziskanerkirche (1614-1615); 1619-1622 gotischer Chorschluß und Netzrippengewölbe im Langhaus von St. Pantaleon, Köln. Der Bereich der katholischen Schloßkapellen ist bisher nur schwer zu überblicken. Z u den aufwendigen Bauten, bei wohl überwiegend kleineren Sälen (Stadtresidenz, Landshut), gehörte der Bau in Haigerloch (1584-1607) als weiter Saal mit Seitenkapellen, polygonalem Chor, Strebepfeilern und Spitzbogenfenstern; ab 1748 barocker Umbau. Die Schloßkapelle in Heiligenberg ist ein schmaler Saal (1586-1599) mit Kreuzrippengewölbe (Holz) und spitzbogigen Maßwerkfenstern. In erstaunlicher N ä h e zu den protestantischen Schloßkapellen in Schmalkalden und Augustusburg steht die Hofkapelle der Residenz in München (1600-1603), die in der Superposition von Säulenordnungen in der Wand-/Emporengliederung und dem Tonnengewölbe sowie in der Stuckdekoration
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(1614) schon frühbarocke Elemente aufweist. Als Beispiel für den verbreiteten Typ der in einem Turm (rund oder quadratisch) eingebauten Kapellen sei die 1595-1609 eingebaute Kapelle der Burg Schnellenberg (Westfalen) genannt, in Formen der Renaissance, mit Kreuzgratgewölbe und Spitzbogenfenstern versehen. Ähnlich wurde um 1630 die Kapelle in Schloß Velen (Borken) als quadratischer Raum mit Kreuzrippengewölbe und dreibahnigen Maßwerkfenstern eingerichtet. Zu nennen ist auch die Kapelle in Raesfeld, 1658 als freistehender Saalbau mit polygonalem, eingezogenem Chor, Maßwerkfenstern und Kreuzrippengewölbe errichtet. Wie bei den protestantischen Fürsten waren auch die katholischen Schloßkapellen als wesentliche Orte der Glaubenssicherung gedacht (für Velen ausdrücklich belegt, vgl. Püttmann-Engel). Am Rande erwähnt sei als Sonderform die Hofkirche (Grabeskirche Maximilians I.) in Innsbruck (1553-1563), die als dreischiffige Halle mit Rippengewölbe und eingezogenem polygonalem Chor errichtet wurde; die angebaute Silberne Kapelle zeigt in beiden Bauabschnitten (1578 und 1587) eine Wandgliederung in Renaissanceformen mit gotischen Gewölben. Sowohl in ihrem Kontext als auch in der Gestaltung gehört die Universitätskirche und Grabeskirche des Fürstbischofs Julius Echter in Würzburg zu den Bauten mit ausgeprägt religionspolitischer Bedeutung. Der Bau war 1583-1591 als dreischiffige Halle mit doppelten Emporen, rundem Chorschluß und Rippengewölbe errichtet worden (1628-1631 Gewölbe verändert, aus statischen Gründen Strebepfeiler an der Südseite). Auffallend ist im Außenbau die ursprünglich starke Gotisierung durch breite Maßwerkfenster bei Verwendung von schmuckstückartig eingepaßten Renaissanceportalen. Im Innern dreigeschossiger Wandaufbau in Renaissanceformen nach antiker Abfolge der Säulenordnungen, wobei auch hier an die protestantischen Schloßkapellen von Augustusburg (1569) und Schmalkalden (1585) als zeitgleiche Vorbilder gedacht werden kann (Helm, Klemp). Neben den noch zu behandelnden Bauten der Jesuiten seien einige wichtige Ordenskirchen erwähnt. Zu den größeren gehört die Franziskanerkirche St. Luzen, Hechingen (1586-1589), als Saal mit stark eingezogenem tiefen Chor errichtet, so daß Platz für zwei Altäre neben dem Chorbogen entstand. Ausstattung mit Netzrippengewölbe (Stuck), ursprünglich spitzbogige Maßwerkfenster; Wanddekoration mit dorischen Halbsäulen und Muschelkalotten in den Wandnischen. 1574-1580 wurde der Chor der Benediktinerklosterkirche St. Michael, Bamberg mit Netzrippengewölbe und spitzbogigen Maßwerkfenstern errichtet. Nach dem Brand des romanischen Langhauses erfolgte dessen Neubau (1610-1617) mit Netzrippengewölbe auf ionischen Pilastern und Maßwerkfenstern; nur in den Pfeilern und Arkaden wurden romanische Anklänge beibehalten. Auch die Gewölbeausmalung (Pflanzen, Blumen) erinnert an spätgotische Gewölbedekorationen. Die Klosterkirche der Franziskaner in Wien (1603-1611), als polygonal geschlossener Saal mit Seitenkapellen zwischen Wandpfeilern erbaut, zeigte Spitzbogenfenster in der Fassade und gotisierende Stichkappengewölbe mit netzartigen Stuckrippen belegt. Mehrere der Kölner Klosterkirchen des 17. Jh. wurden in nachgotischen Formen erbaut, so St. Heribert in Deutz (1659-1663) als Basilika mit Kreuzrippengewölbe und eingezogenem polygonalen Chor; die Kirche der unbeschuhten Karmeliter (1620-1628) als Saal mit Kreuzrippengewölbe aber mit ionischer Pilastergliederung. St. Lorenz in Kempten (Benediktiner Stiftskirche, 1652-1670) steht mit seiner einfachen Doppelturmfassade und der Innenraumgestaltung noch zwischen Renaissance und Barock; als Basilika mit Emporen und achteckigem Chor errichtet (halbrunde Kapellen erst 1713). Bei kleinen Klosterkirchen sind dagegen noch bis nach 1700 gotische Formen zu finden. Einige frühere Bauten sind das Kartäuserkloster Astheim; Kirche (1603-1606) als langer Saal mit Netzrippengewölbe im Laienraum und Bogenrippengewölbe in dem durch einen Lettner mit korinthischen Säulen und Maßwerkbrüstung abgeteilten Chor. Die Augustinerstiftskirche in Polling (dreischiffige Halle von Anfang des 15. Jh.) wurde 1621 -1628 durch Anbau von Seitenkapellen mit Emporen zwischen Wandpfeilern und durch ein Kreuzgratgewölbe erweitert; dabei wurden die gotischen Pfeiler beibehalten und mit reichem Renaissancedekor versehen. Der Turm gehört zu den bedeutenden Renaissancebauten in Deutschland, während die Fassade in der fragmentarischen Gestaltung und dem Renaissanceportal als vereinzeltem Versatzstück eine typische Form des Umgangs mit Renaissanceelementen als appliziertes Dekor darstellt. Die Benediktiner Klosterkirche von Oberalteich (1622-1630) weist mit ihrer längsrechteckigen, langgestreckten, dreischiffigen Halle mit geradem Chorschluß und den ursprünglich an jeder Seite mittig angebauten, hohen Kapellen im Drei viertelkreis eine individuelle Gestaltung auf, die wohl auf den Abt als Entwerfer zurückgeht; spätgotische Westtürme mit Renaissancedekor; im Innern Emporen (Zweck unbekannt) auf Rundbögen mit Kreuzgratgewölben; Altar vor dem letzten Joch; Chor architektonisch nicht getrennt; ab 1726 barockisiert. Auf westfälische Beispiele wird im Zusammenhang mit den Jesuitenkirchen hingewiesen. Aus Norddeutschland, wo in den weitgehend protestantischen Gebieten im 16. und 17. Jh. nur wenige größere Kirchen entstanden, sei nur die Benediktiner Klosterkirche in Lamspringe (1670-1691) erwähnt, eine dreischiffige Halle mit eingezogenem Chor und Kreuzgratgewölben auf achteckigen Pfeilern.
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München, St. Michael ( 1 5 8 2 - 1 5 9 0 / 1 5 9 1 - 1 5 9 7 )
Zu erwähnen sind auch einige Wallfahrtskirchen der Renaissance. St. Maria in Dettelbach (1610-1613) unter Julius Echter errichtet, wo sich an den schmalen Chor von 1504 ein kreuzförmiger Saalbau anschloß, mit weiten Bogen- und Sternrippengewölben, spitzbogigen Maßwerkfenstern, einer weiten Vierung mit dem Gnadenaltar (1778) und einer Mönchsempore im Nordquerhaus (1659). Im Außenbau an den Kreuzarmen Staffelgiebel mit Rollwerkvoluten, Pyramidenaufsätzen und ein aufwendiges Renaissanceportal vor glatt geputzter Fassade, gleichsam bildhaft aufgesetzt, aber mit rundem Maßwerkfenster im Giebel. Noch deutlicher ausgeprägt ist im Grundriß die Funktion der Wallfahrtskirche (Versammlung und Prozession um das Gnadenbild) bei St. Mariae Himmelfahrt in Tuntenhausen ( 1 6 2 7 - 1 6 3 0 ) , wo unter Einbeziehung des mittelalterlichen Altarraums (Ende 15. Jh.), in Fortführung der neuen Seitenschiffe als Chorumgang, der Zielpunkt der Wallfahrten eingefaßt wird. Der Bau entstand als dreischiffige Halle mit Tonnengewölbe und gotisierenden Stichkappen auf achteckigen Pfeilern. Im nahegelegenen Weihenlinden erhielt die Wallfahrtskirche (Dreifaltigkeitskirche, 1 6 5 3 - 1 6 5 7 ) die Form einer dreischiffigen Basilika mit Emporen über den Seitenschiffen, die hier allerdings nicht um den Chor geführt sind; im östlichen Teil des Mittelschiffs liegt die ältere achteckige Gnadenkapelle ( 1 6 4 3 - 1 6 4 5 ) , die gleichsam die Stelle des Gnadenaltars einnimmt; Hochaltar (1698) westlich daran angebaut; Stuckdekoration 1736.
1.4.2. Jesuitenkirchen. Der Zielsetzung des Ordens entsprechend war die Architektur der Jesuiten von Anfang an einer besonderen Aufmerksamkeit ausgesetzt. In der protestantischen Polemik galten die Jesuitcnkirchen als Inbegriff von suggestiver Prachtentfaltung; ein Vorwurf, der vor allem durch Gestalt und Ausstattung von St. Michael, München, und einiger daran anschließender Bauten im Verhältnis zu protestantischen Kirchen dieser Gebiete, provoziert worden war. Der Orden erließ keine spezifischen Bestimmungen, die über allgemeine Anweisungen wie zweckmäßig, sparsam und solide zu bauen, hinausgingen (Beschlüsse der Generalkongregation 1558, 1565). Auch die durchgehend gehandhabte Planrevision in Rom läßt kaum auf eine vereinheitlichende Vorgehensweise schließen, wenn auch seit den 1570er Jahren der Wunsch nach Musterplänen vorhanden war. Allgemein läßt sich, besonders für Italien, die Bevorzugung der längsrechteckigen Wandpfeilerkirche mit Seitenkapellen und Emporen, mit eingezogenem Chor und teilweise mit Querhaus feststellen (Bösel). Für die Bauten nördlich der Alpen sind dagegen eine ausgesprochene Programmatik in der Anpassung an lokale Traditionen (Gotik) bzw. auch an Erwartungen und Gewohnheiten örtlicher Herrscher (Renaissance in Bayern, Gotik in Rheinland und Westfalen) zu beobachten. Äußerungen in bisher bekannten zeitgenössischen Quellen, auch zu den wenigen Alternativplänen, geben keine Begründungen zur Wahl einer bestimmten Raum- oder Stilform (Braun, Vallery-Radot, Hipp). Für den Sakralbau in Bayern und Österreich gehörten die Jesuitenkirchen zu den ausgeprägten Beispielen einer Renaissancearchitektur, die besonders in der Raumauffassung Grundlagen für die Entwicklung des Barocks boten. In der zweiten Hälfte des 16. Jh. konzentrierte die Kirche ihre gegenreformatorischen
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Bemühungen auf die südostdeutschen und österreichischen Gebiete, wobei die bayerischen Herzöge Albrecht V. und Wilhelm V. aus politischen und religiösen Gründen zu den aktivsten Verfechtern einer katholischen Reform und Gebietssicherung gehörten, zu deren D u r c h f ü h r u n g schon seit 1549 (Universität -»Ingolstadt) bzw. 1559 (München) Angehörige des Jesuitenordens gerufen wurden, die bei Domkapiteln und Klöstern durchaus nicht immer willkommen waren, da diese sich gegen mehrere Reformforderungen des Konzils von Trient stemmten (Seminargründungen, Visitationen). Die Architektur der Jesuiten war nicht auf den Kirchenbau allein konzentriert, sondern umfaßte, entsprechend dem Erziehungsauftrag, immer auch den Bau von Kollegien, Gymnasien, Lyzeen, die im Erscheinungsbild vielfach fast gleichen Rang wie die Kirchen einnahmen. Zu den frühen Bauten gehört St. Salvator, Augsburg (1582-1584,1807 profaniert, 1872 abgebrochen), ein längsrechteckiger Saal mit Flachdecke (?). Die Giebelfassade zeigte eine hohe Dreifenstergruppe, die auch hier das Motiv bot, das die Kirche von vergleichsweise aufwendigen öffentlichen Bauten (Stadtbibliothek 1563) oder Bürgerhäusern unterschied. Für Jahrzehnte von keiner anderen Kirche an Größe und Aufwand erreicht, war St. Michael, München, als Teil eines Kollegs errichtet worden. 1582 hatte man zunächst eine dreischiffige gotische (?) Kirche mit eingezogenem, polygonalem Chor geplant. Die noch 1582 geänderten Pläne weisen dann, bei fast gleichen Maßen, eine weite Wandpfeilerkirche aus, die bis 1590 mit halbrunden Altarnischen zwischen den Pfeilern errichtet wurde. Nach Einsturz des Chorflankenturms wurde 1591-1597 der Bau um ein Querhaus (Kuppel über der Vierung nicht ausgeführt) und einen verlängerten Chor erweitert; der Turm stand im Chorscheitel weit abgerückt. Im Innern zeigt der Bau ein weites Tonnengewölbe auf Quertonnen über den seitlichen Emporen. Das Tonnengewölbe wirkt, wegen des fehlenden durchlaufenden Kämpfergesimses, segelartig weit. Die Jesuitenkirche II Gesù, Rom (1578-1584), ist in vielen allgemeinen Zügen (Einschiffigkeit, Seitenkapellen, Tonnengewölbe, Querhaus, Kuppel) als Vorbild zu sehen; allerdings müssen auch Kirchen des 15. Jh. wie S. Spirito, Florenz (halbrunde Seitenkapellen) und S. Andrea, Mantua (Tonnengewölbe, Wandpfeiler) herangezogen werden. Auffallend, wenn auch in anderen Dimensionen, ist die Nähe zur Schloßkapelle in Augustusburg wie auch zur ursprünglich protestantischen St. Peter und Pauls-Kirche in Klagenfurt (1582-1591,1604 Jesuitenkirche), die Hitchcock als Vorbilder diskutiert, wobei die Hofkapelle der Residenz in München (1600-1603) sowohl St. Michael als auch den sächsischen protestantischen Schloßkapellen nahekommt. Die vielfach für St. Michael in Anspruch genommene lokale Tradition spätgotischer Wandpfeilerkirchen (etwa Elsenbach) beruht auf einer formalen Grundrißähnlichkeit mit dem Bau von 1590, während Proportionierung und Raumgestalt deutlich italienischen Vorbildern folgen. Die Giebelfassade mit flach gehaltener Pilastergliederung und stark betonten Horizontalgesimsen übernimmt kaum etwas von italienischen Lösungen, sondern erinnert an Fassaden deutscher Profanbauten (Rathäuser, Zeughäuser, Bürgerhäuser) und ist grundsätzlich nicht anders aufgebaut als diejenige des Kollegiengebäudes. Die Betonung von dynastischen Bezügen im Skulpturenprogramm verbindet religiöse Ansprüche der Jesuiten und politische des Herzogshauses. Der Einfluß von St. Michael auf Nachfolgebauten ist in allgemeinen Zügen groß, in spezifischen der Raumlösung eher gering (Deppen). Die Pfarrkirche von Weilheim (1624-1654) ist sowohl mit ihrer Fassade als auch im Innern (Wandpfeiler, Stichkappentonne) zu nennen (direkter Einfluß Wilhelms V.); auch die Stiftskirche St. Peter und Paul, Beuerberg (1626-1635) gehört in diesen Zusammenhang. Unter den Jesuitenkirchen zeigt St. Mariae Himmelfahrt in Dillingen (1610-1617) als Wandpfeilerkirche mit deutlich durch Gurtbögen geteilter Stichkappentonne einen gewissen Einfluß; das kastenartig geschlossene Äußere mit toskanischer Pilastergliederung erinnert in seiner Strenge an Schickhardts protestantische Kirchen. St. Ignatius, Landshut (1631-1641), als Wandpfeilerhalle mit Tonnengewölbe und Emporen, ohne Querhaus, gehört in die direkte Nachfolge von St. Michael. Die Schutzengelkirche, Eichstätt (1617-1620), zeigt dagegen im Außenbau eine dorische Pilastergliederung und einen schlichten geschweiften Giebel; im Inneren eine Wandpfeilerhalle mit Stichkappentonne, wohl nach Vorbild der Dillinger Kirche. Die Dreifaltigkeitskirche, Aschaffenburg (1619-1621), gibt als Wandpfeilerbasilika mit Tonnengewölbe eine schlichtere Variante, bei der das ursprüngliche Aussehen nicht durch spätere Stuckierung verändert wurde. St. Joseph, Burghausen (1630-1631) entstand als Wandpfeilersaal, ursprünglich gewölbt; die Fassade ist mit toskanischen Pilastern und mehrfach geschwungenen Giebelkanten geschmückt. Im Westen der oberdeutschen Provinz entstand 1604-1607 St. Konrad in Konstanz als Wandpfeilerbasilika mit flachem Stichkappengewölbe und einer sehr einfachen Fassade mit hohem Mittelfenster und Dreiecksgiebel mit geraden Kanten. Bei einigen österreichischen Jesuitenkirchen wird die fast profane Erscheinung (Vielgeschossigkeit der Fassade, flache Pilastergliederung) durch flankierende Türme aufgewertet, so bei der Univer-
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sitätskirche in Wien ( 1 6 2 7 - 1 6 5 1 ) oder bei der Kirche in Leoben ( 1 6 6 0 - 1 6 6 5 ) , während die deutschen Kirchen vielfach recht bescheidene Türme aufweisen. Die Verwendung von Formen der Renaissance und des Frühbarocks bei den oberdeutschen Jesuitenkirchen dürfte vorrangig aus der engen Verbindung von Jesuiten und Landesherren, die moderne Architektur nach italienischem Vorbild bevorzugten, zu erklären sein, so wie im Würzburger Gebiet Julius Echter die Gotik bevorzugte. Die Jesuiten reagierten flexibel, etwa bei Übernahme der protestantischen Kirche in Neuburg/D., wo die gotisierende Hallenkirche (außen modern) beibehalten wurde. Die später in der dynastischen Verbindung zu Düsseldorf (Herzog Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg als Gründer des Jesuitenkollegs) erfolgte Übernahme des Neuburger Plans bei der dortigen Andreaskirche ( 1 6 2 2 - 1 6 2 9 ) , die als dreischiffige Halle mit Kreuzgratgewölben auf kannelierten, quadratischen Pfeilern mit Emporen entstand, zeigt die Verbindung von frühbarockem Außenbau und gotischen Elementen und einer in den süddeutschen Kirchen des Ordens kaum angewandten Raumform, in einer Zeit, in der in den rheinischen Ordensprovinzen fast ausschließlich gotisch gebaut wurde. Kurz nach Gründung des Jesuitenkollegs (1588) entstand in Münster die Petrikirche ( 1 5 9 0 - 1 5 9 7 ) als dreischiffige Emporenbasilika. Die Emporen werden von stämmigen Rundpfeilern getragen, Ausstattung mit Netzrippengewölbe und polygonalem Chor. Im Außenbau breite dreibahnige M a ß werkfenster zwischen Strebepfeilern, sechsbahniges hohes Fassadenfenster, zwei sehr schmale Chorflankentürmchen. Sowohl im Raumgefüge als auch in den Baudetails werden lokale Formen des ausgehenden 15. J h . aufgenommen und zum Teil wird die Gotik des frühen 16. J h . fortgeführt. Neu ist hingegen die großflächige Verwendung von Backsteinen, die bisher in Münster Kapellen und Profanbauten vorbehalten waren (Schmitz; Böker). Die Kirche wurde zum Vorbild für zahlreiche, schließlich weiterentwickelte Bauten, zu denen St. Johannes Baptist, Koblenz ( 1 6 1 3 - 1 6 1 7 ) , ebenfalls eine dreischiffige Emporenbasilika, gehörte, allerdings bei wesentlich größerer Breite des Mittelschiffs. Das Renaissanceportal ist gleichsam bildhaft vor bzw. in die glatt geputzte Fassade gesetzt (große Maßwerkrose darüber). Alternativpläne für eine,moderne' Wandpfeilerkirche sind erhalten, aber unkommentiert. Die 1 6 1 4 - 1 6 1 8 in Molsheim erbaute dreischiffige gotische Emporenbasilika des Jesuitenkollegs diente der noch aufwendigeren Mariae Himmelfahrtskirche in Köln ( 1 6 1 8 - 1 6 2 9 ) als Vorbild; Architekt Christoph Wamser. Der Bau entstand als dreischiffige Basilika, mit Emporen zwischen hohen Säulen, mit Netzrippengewölbe, Querhaus, polygonalem Chor, Maßwerkfenstern, romanischer Doppelturmfassade und Renaissancegiebel. Vier Alternativentwürfe, z.T. wohl auch in Renaissanceformen, sind erhalten und unter bayerischem Einfluß (Kölner Erzbischof/Kurfürst Ferdinand von Bayern) entstanden. Die weitgehend gotische Kirche ist, besonders an der Fassade, mit Renaissanceelementen durchsetzt; die romanischen Türme dürften in St. Gereon bzw. der Bergkerk, Deventer, ihr Vorbild haben. Trotz umfangreicher zeitgenössischer Quellen sind die Motive für die Stilwahl nur zu erschließen als bewußter Bezug auf die heimisch-herkömmliche Architektur im Sinne einer auch durch die Reformation nicht zu beseitigenden Tradition der alten Kirche unter auch patriotischen Verbindungen. Auf ähnliche Tendenzen im flämischen Bereich und in Frankreich wurde mehrfach hingewiesen (Jesuitenkirche; Hesse), wobei sich dort keine programmatische Jesuitenarchitektur herauskristallisiert, sondern ein jeweiliges Reagieren auf lokale Bedingungen und Traditionen. Die Emporen der Kölner Kirche wurden an der Schmalseite als Musikbühne und an den Langsciten zur Aufstellung von Beichtstühlen genutzt (Forderungen des Konzils von Trient und C. Borromeos). In der Fassade, einschließlich der Türme, fand der Kölner Bau in der Bonner Jesuitenkirche ( 1 6 8 6 - 1 6 9 7 ) geradezu eine Kopie, wenn auch die gotischen Elemente zugunsten barocker (Einfluß des Architekten Petrini und seiner Ursulinerinnenkirche, Kitzingen, 1686 möglich) zurücktreten. Das Innere scheint jedoch als dreischiffige Halle mit Kreuzrippengewölben auf Achteckpfeilern mit spitzbogigen Maßwerkfenstern (ohne Empore) am Vorbild von Neuburg und Düsseldorf, St. Andreas orientiert zu sein, zumal Bonn mit Kurfürst Maximilian Heinrich von Bayern als Regenten ebenfalls enge Beziehungen zu Bayern aufwies. Für Hildesheim war 1693 eine Jesuitenkirche als fast wörtliche Kopie des Kölner Baus geplant (Reuther; Schmitt). Zieht man noch St. Donatus, Münstereifel ( 1 6 5 9 - 1 6 7 0 ) , gotischer Saal mit Netzrippengewölbe (Holz) und Emporen, hinzu, erkennt man die Vielfalt der von den Jesuiten verwendeten Typen, die in St. Ignatius, Coesfeld ( 1 6 7 3 - 1 6 9 2 ) , dann auch noch die vorrangig süddeutsche Wandpfeilerkirche aufgreifen; an der Fassade dieses Ziegelbaus sind toskanische Pilaster und ein Renaissanceportal aber ein hohes fünfbahniges Maßwerkfenster verwandt; im Innern Kreuzrippengewölbe mit vor die Wandpfeiler gestellten hohen Halbsäulen. Überspitzt formuliert, liegt hier in der Verbindung der von den Jesuiten bevorzugt verwendeten Raum- und Stilformen das Idealbild einer Jesuitenkirche vor (Hipp). Vom selben Architekten (Anton Hülse) stammt St. Franz Xaver, Paderborn ( 1 6 8 2 - 1 6 9 2 ) , eine dreischiffige Basilika mit Emporen zwischen Rundpfeilern und mit Kreuzrippengewölben nach Kölner Vorbild. Alternativpläne des Würzburger Architekten Petrini, die einen reinen Barockbau vorsahen, wurden abgelehnt. Allerdings ist die Fassade jetzt bis auf das hohe vierbahnige gotisierende
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Fenster eine reine Barockschöpfung, die ähnlich bei der Franziskanerkirche (1671) auftaucht. Die Gotik wird bei den großen Fassadenfenstern gleichsam ikonisches Zitat, ist vielfach in den Langhausfenstern deutlicher und beherrscht die Innenraumgestaltung. Als vergleichbare Lösung findet man diese Erscheinung auch bei Hülses Observantenkirche, Münster (1687-1698), und, in großer Schlichtheit, bei der Jesuitenkirche in Siegen (1702-1725/29). Anzumerken bleibt, d a ß die Rolle der Türme, häufig Chorscheiteltürme und von bescheidenen Ausmaßen, noch nicht hinreichend geklärt ist.
Zusammenfassend läßt sich bei aller Vielfalt der Erscheinungen feststellen, daß bis in die Zeit um 1700 im Kirchenbau beide Konfessionen gotische Formen verwenden. Höhepunkte erreicht die nachgotische Architektur um 1620 und am Ausgang des 17. Jh. Renaissanceformen, vor allem Portale, werden an fast allen nachgotischen Bauten demonstrativ deutlich verwendet, aber stets unorganisch, versatzstückartig angefügt, gleichsam als ,modernes' Dekor - angebracht an Kirchenbauten, die als solche in einer spezifisch heimischen, ja patriotisch-deutsch gesehenen Tradition stehen. Wie Hipp ausführlich belegt, sind die gotischen Formen nicht als besonders beachtete Wiederaufnahme einer vergangenen Zeit aufgefaßt worden, sondern als Ausdruck einer baulichen Kontinuität und damit einer zeitgemäßen Architektur. Im protestantischen Kirchenbau übernimmt auffallend häufig der Adel für seine Schloßkapellen moderne Formen; in Süddeutschland findet man sie auch bei Pfarrkirchen, sie bleiben aber gegenüber den nachgotischen an Zahl geringer, während hier und in Österreich die katholischen Bauten bevorzugt ,modern' errichtet werden. Die Grundriß- und Raumtypen unterscheiden sich bei den Konfessionen kaum. Der längsrechteckige, dreiteilige Bau mit eingezogenem Chor herrscht vor. Hallenkirchen werden von Protestanten bevorzugt, meist in nachgotischem Stil. Die Basilika wird häufiger von Katholiken, besonders den Jesuiten, allerdings in fast hallenartiger Breite, verwendet. Wandpfeilerkirchen treten bei beiden Konfessionen (hauptsächlich in .moderner' Form) auf, besonders allerdings im katholischen Kirchenbau, verstärkt bei den Jesuiten und anderen Orden; im ausgehenden 17. Jh. auch in nachgotischen Formen; protestantische Wandpfeilerkirchen (Augustusburg, Klagenfurt) sind selten. Gotik und Renaissance bedeuten im Kirchenbau vor allem ein Nebeneinander, bei dem die Renaissance vielfach die Rolle des Dekors übernimmt. Die eigentliche Umformung zu einer neuen Erscheinungsweise des Kirchengebäudes bringt der -»Barock, der allerdings chronologisch in weit auseinanderliegenden Zeiträumen auftritt. 2. Der Kirchenbau des späten 17. und des 18. Jahrhunderts 2.1. Architekturtheorie Nikolaus Goldmann beharrt in seiner verbreiteten Vollständigen Anweisung zu der Civil Bau-Kunst, Wolfenbüttel 1696, auf der Dreiteilung des Kirchengebäudes in Vorhalle, Schiff und Chor und sieht im gewölbten Saal, besonders aber in der Basilika mit Emporen und Vierungskuppel das verbindliche Schema. Die Rundform hält er für möglich aber zu teuer in der Wölbung; die Form des griechischen Kreuzes wird beiläufig erwähnt. Paul Decker, Ausführliche Anleitung zur Civil Bau-Kunst, Nürnberg o. J. (um 1710), stellt ein Achteck mit doppelten Emporen und Kanzelaltar als Beispiel für eine protestantische Kirche vor und eine Basilika mit Querhaus und Vierungskuppel (nach Goldmann) wohl als Muster für eine katholische Kirche. In seinem Fürstlichen Baumeister oder Architectura Civilis, Augsburg 1711, liefert er das Beispiel für eine Schloßkapelle im Endpavillon eines Seitenflügels des fürstlichen Schlosses als quadratischen, mit einer Kuppel gewölbten Zentralraum. Wesentlich ausführlicher widmet sich Leonhard Christoph Sturm in zwei Schriften dem Kirchenbau: Architectonisches Bedencken von protestantischer kleinen Kirchen Figur und Einrichtung, Hamburg 1712, und Vollständige Anweisung alle Arten von Kirchen wohl anzulegen, Augsburg 1718. Im Gegensatz zu Goldmann wendet er sich bei prote-
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stantischen Kirchen gegen die Kreuzform jeder Ausbildung und gegen eine damit verbundene Symbolik. Die Emporen sieht er nüchtern als Mittel der Platzerweiterung für die Predigtkirche. Auffallend ist in Sturms Arbeiten die Betonung des Fürstengestühls, das einen hervorragenden Platz, vergleichbar dem von Kanzel und Altar, einzunehmen habe. Einen architektonisch ausgebildeten Chor lehnt er ab (schlechte Sichtverhältnisse, keine Heiligkeit); den Altarraum arbeitet er allerdings jeweils bühnenartig deutlich heraus. Sturm gewann Bedeutung durch sein entschiedenes Eintreten für eine neue Variationsbreite im Grundriß und lieferte damit konkrete Anleitungen für die in diesen Jahrzehnten beginnende Suche nach dem praktischen, funktionalen protestantischen Kirchenraum. Einfache, überschaubare Saalbauten als Dreieck, Achteck, Kreis, Quadrat, Querraum oder Winkelhaken werden vorgestellt, während Längsbauten und die Kreuzform zurückhaltend beurteilt werden. Eine Geometrisierung auf Grundlage einfacher Figuren als Ausweis von Funktionalität und damit als Ausdruck protestantischer Gottesdienstauffassung bilden ein rationales Gerüst. Meist doppelgeschossige Emporen und Kanzelaltäre bestimmen die Ausstattung. Im Außenbau plädiert er für niedrige Dächer - eine deutliche Abkehr von der Tradition - und für Türme; kolossale Pilaster- bzw. Säulenstellungen verleihen seinen Entwürfen eine Strenge der Architektur, die an der Spätrenaissance Palladios und nicht am römischen Barock orientiert ist. Sturms Schriften markieren die Abkehr vom dreigeteilten Längsbau, den Calvör in seinem Rituale von 1705 (s. o.) noch forderte. Mai, Löffler und Hipp deuten diesen Wendepunkt auch als Ausdruck der Suche nach neuen, gemeinschaftsbildenden Formen unter dem Einfluß des -»Pietismus, zumal Sturm an der pietistisch ausgerichteten Universität Halle gelehrt hatte. Allerdings entstand die Katharinenkirche, Frankfurt a.M. (1678-1680), während Ph. J. -»Speners Wirksamkeit und folgt völlig den traditionellen Formen. Sturms Lösungen hatten ihre Vorbilder vor allem im niederländischen Zentralbau des 17. Jh., etwa in der von ihm erwähnten, nach dem Vorbild eines antiken Theaters, im Halbrund (für das Gestühl) und als Kreis (Altarraum) errichteten neuen Lutherkirche in Amsterdam (1668-1677) oder der als Achtecke gebauten Marekerk, Leiden (1639-1649), und Oostkerk, Middelburg (1647-1667). (Johann Heinrich Zedier, Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Halle/Leipzig, XV 1737 und viel später Johann Georg Krünitz, Oekonomisch-technologische Encyklopädie, Berlin, XXXVIII 2 1794, verbreiten Sturms Ideen mit nur geringen Abweichungen.) Sturms Hinweise auf den katholischen Kirchenbau in seiner Schrift von 1718 bewegen sich in herkömmlichen Bahnen. Gr sieht die Pfeilerbasilika mit Querhaus, Vierungskuppel, Seitenkapellen und tiefem Chor als die geeignete Form an. Eine große Prachtentfaltung hält er für notwendig. Vorbilder sind die bekanntesten Barockkirchen in R o m (St. Peter, Il Gesù, S. Maria della Valle), Paris (Sorbonne) und London (St. Paul). Johann Friedrich Penther übernimmt Sturms Ideen in seinen verbreiteten Büchern: Collegium architectonicum, Göttingen 1749, und Ausführliche Anleitung zur Bürgerlichen Bau-Kunst, Augsburg 1744 (baulexikalischer Vorspann). Die spezielle Form der Garnisonkirche behandelt Johann Rudolph Fäsch, Anderer Versuch seiner architectonischen Wercke, Nürnberg 1722-1729, unter herkömmlichen Vorstellungen: längsgerichteter Saal, tiefer polygonal geschlossener Chor mit seitlichen Offizierslogen, Kanzelaltar. Auch Lorenz Johan Daniel Suckow, Erste Gründe der Bürgerlichen Bau-Kunst, Jena 2 1763, folgt für den protestantischen Bereich Sturm, läßt aber den Längsbau zu. Die allgemeine Formgebung, Proportionsgrundlagen, Baudetails, Säulenordnungen, Anschauungsmaterial zur Moderne vermitteln die verschiedenen Auflagen italienischer Architekturtraktate des 17. Jh. und die ihnen folgenden Schriften deutscher Autoren (Schütte). Neben den verbreiteten Lehrbüchern des 16. und 17. Jh. zur perspektivischen Architekturkonstruktion werden für das 18. Jh. bedeutsam Guarino Guarinis Architettura Civile, Turin 1737; als Standardwerk barocker Perspektivität im Zusammenhang von Architektur und Malerei ist Andrea Pozzos Perspectiva Pictorum et Architectorum, Rom 1693-1702, mit seinen vielen Neuauflagen zu nennen. Den Ubergang zum Klassizismus markieren die Schriften des Jesuiten und einflußreichen Architekturtheoretikers Marc-Antoine Laugier: Essai sur l'architecture, Paris 1753 (dt. Frankfurt 1756), und Observations sur l'architecture, Den Haag 1765 (dt. Leipzig 1768), mit ihrer Ablehnung barocken Uberschwangs und der Rückbesinnung auf eine nüchtern gesehene Antike, sowie in Proportionsfragen auf die Gotik. Kuppeln lehnt er ab und bevorzugt Türme. Neben dem empfohlenen lateinischen Kreuz als Grundriß läßt er alle anderen Grundrisse in einfachen geometrischen Formen zu. Lukas Voch, Bürgerliche Baukunst, 4. T., Augsburg 1782, wiederholt für katholische Kirchen fast wörtlich Sturms Meinung, weist allerdings auf einige neue Zentralbauten in Wien und Berlin hin. Die wesentlich ausführlichere Besprechung protestantischer Kirchen hat ebenfalls Sturms Arbeiten
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als Grundlage, lehnt allerdings den Chor als Ort des Altars nicht ab, wenn er auch von einer ,alten' Gewohnheit spricht. Francesco Milizias Grundsätze der bürgerlichen Baukunst, Leipzig 1784-1786 (ital. 1781), sind in bezug auf den katholischen Kirchenbau, vor allem wegen der sich neuerlich anbahnenden Wertschätzung der Gotik, von Gewicht. G . N . Fischer, Ueber Kirchenbaukunst {Monatsschr. der Akademie der Kuenste u. mechanischen Wiss. zu Berlin 1 [1788] H. 4, 169ff) sieht im Oval aus ästhetischen und akustischen Gründen die überlegene Lösung. Georg Heinrich Borhecks Entwurf einer Anweisung zur Landbaukunst, Göttingen 1792, und seine Anweisung über zweckmäßige Anlegung der Landkirchen, Göttingen 1808, übernehmen die Typenvielfalt Sturms für den ländlichen protestantischen Kirchenbau in klassizistischen Formen. Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste (3.T. Leipzig 2 1793) referiert für die katholische Kirche noch die Vorstellungen vom barocken Prachtbau, während für die Forderung nach dem schlichten protestantischen Predigtraum Sturm und klassizistische Grundsätze übernommen werden. Zu den ausführlichsten Arbeiten zum Kirchenbau am Ende des 18. Jh. gehört das Stichwort in Christian Ludwig Stieglitz' Encyklopädie der bürgerlichen Baukunst (3.T. Leipzig 1796), der beim Schmuck auf den französischen Klassizismus verweist, in der Form Laugiers Vielfalt lobt und für Protestanten auf Sturm (Vorbild des Theaters) zurückkommt. Die Forderung nach Prachtentfaltung bei Katholiken, Schlichtheit bei Protestanten ist mittlerweile zum Topos geworden, der von der Baupraxis längst aufgegeben worden war. Stieglitz' verhaltene Wertschätzung der Gotik ist von großer Bedeutung. Einweihungspredigten enthalten für den Kirchenbau beider Konfessionen keine direkten Verweise auf Einzelfragen der Architektur, sondern sehen das Kirchengebäude als Symbol oder Allegorie, als Abbild des Salomonischen Tempels, des Himmlischen Jerusalem oder der Heilsordnung (Hipp; Hawel). 2.2. Der protestantische
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Im späten 17. und 18. J h . erfolgte im protestantischen K i r c h e n b a u die L ö s u n g aus der Tradition des dreigeteilten L ä n g s b a u s und des gotischen Stils. M i t differenzierten G r u n d und Aufrissen, besonders durch den Einsatz der E m p o r e n und des Gestühls auch als gestaltende Raumelemente, beginnt eine Suche nach dem idealen Kultbau, dessen Leistung in der phantasievollen Intellektualität der klaren, geometrisierten E n t w ü r f e liegt, die durch Sturms Publikationen nur a m R a n d e einen gewissen Z u g zur experimentell-beliebigen R e i ß b r e t t a r c h i t e k t u r erhalten. D e r k a t h o l i s c h e n B a r o c k a r c h i t e k t u r steht d a m i t eine nicht weniger zeittypische Gestaltungsvielfalt gegenüber, deren experimenteller C h a r a k ter die eigentliche E m a n z i p a t i o n von der T r a d i t i o n darstellt, der die E n t w i c k l u n g im 19. J h . entscheidend b e s t i m m t hat und der bis heute das Bild v o m protestantischen Kirchenbau prägt. T r o t z der Ablehnung durch Sturm und gewisser o b j e k t i v e r N a c h t e i l e , gehörten die kreuzförmigen K i r c h e n zu den verbreitetsten B a u t e n ; die P r o b l e m e von H ö r - und Sichtbarkeit wurden meist dadurch gelöst, d a ß Kanzel und Altar v o r einen K r e u z a r m gestellt wurden und dahinter kein G e s t ü h l m e h r eingerichtet wurde. Bei traditionellen Lösungen bildete allerdings ein K r e u z a r m den A l t a r r a u m , oft von b e t r ä c h t l i c h e r T i e f e . Die Nikolaikirche in Schwerin (Schelfkirche, 1708-1711), ein Backsteinbau über griechischem Kreuz mit polygonal geschlossenen Kreuzarmen und hohem Turm über der Vorhalle, ist der Bau, an dem sich Sturms Vorstellungen konkretisierten, als er Pläne für die Gestühlsanordnung liefern sollte und zu dem Schluß kam, daß das griechische Kreuz zu den ungeeigneten Grundrissen gehöre (Poscharsky; Wex); wobei er den Altarraum durch eine lettnerartige Säulenstellung mit Kanzel (Colonnata) abtrennte und damit einen T-förmigen Gemeinderaum bildete. Möglicherweise lag hier sogar ein lokaler Bezug auf eine der ältesten Kirchen Mecklenburgs vor, auf den Bau in Vietlübbe (um 1210) mit ähnlichem Grundriß. Das griechische Kreuz war im 17. Jh. in Skandinavien verbreitet und zeigt schon hier die Tendenz zur Zentralisierung (Kopenhagen, Holmens Kirke, 1643; Vor Frelsers Kirke, 1696; Stockholm, Kungsholms Kyrka, 1688). Ansätze zu kreuzförmigen Anlagen finden sich auch in Schlesien, etwa bei der Friedenskirche, Schweidnitz (1658) und ausgeprägter dann bei den Gnadenkirchen in Hirschberg (1718) und Landeshut (1720). Zu den frühen Bauten ist auch die Trinitatiskirche, Zerbst (1683-1696, C. Ryckwaert), zu rechnen, die mit ihren palladianisch strengen Kolossalpilastern Züge der Spätrenaissance Italiens aufnimmt, wie sie auch an der Katharinenkirche in Stockholm (1670) oder in Hirschberg zu beobachten sind. Die wesentlich kleinere Gutskapelle in Equord (1687-1700) weist, bei kreuzförmigem Grundriß, deutlich italienisch-barocke Formen auf, während der Altarraum polygonal geschlossen ist. Im 18. Jh. gehören Bauten mit kreuzförmigen Grundrissen zu den verbreiteten Typen in Norddeutschland. In Berlin ist die Jerusalemkirche (1726-1728, Ph. Gerlach), mit hohem Turm und frei, fast in
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die Mitte des Raums gerückten Altar und Kanzel zu nennen. Neben der schon erwähnten Christkirche, Rendsburg ( 1 6 9 4 - 1 7 0 0 ) , sind einige andere wichtige Bauten von Bedeutung: St. Trinitatis, Hamburg-Altona ( 1 7 4 2 - 1 7 4 4 ) , mit Westturm, hohem Mansardwalmdach und dreiseitig geschlossenem Chorarm; die Stadtkirche in Jever, ab 1728 unter Benutzung älterer Teile; bei der Dreieinigkeitskirche in Hamburg, St. Georg ( 1 7 4 3 - 1 7 4 7 ) , sind die Kreuzarme verkürzt, der Chor ist ein fast rundes Polygon, die Außenwände haben barocke Plastizität erreicht. Das sind Züge, die bei einem der größten Bauten des Typs, der 1 7 5 1 - 1 7 6 2 entstandenen Michaeliskirche, Hamburg ( J . L . Prey, E . G . Sonnin; Turm 1 7 7 7 - 1 7 8 6 ; Neubau nach Brand 1906), zu einem Höhepunkt norddeutscher Barockarchitektur geführt wurden. Die hohen weiten Bogenstellungen, die die Gewölbe (Holz) tragen, erinnern an die Frauenkirche in Dresden; der Raum ist jedoch, wegen der geringeren Verbauung durch Emporen heller, auffallend ist der fast übergroße Turm - vielleicht eine Anlehnung an die mächtigen Türme der mittelalterlichen Hauptkirchen Hamburgs; allerdings handelt es sich um eine Erscheinung, die an anderen Orten auch zu beobachten ist, wie etwa bei der Heilig-Geist-Kirche, Potsdam (1735). In Süddeutschland scheint der kreuzförmige Grundriß im 18. J h . selten zu sein. Ein frühes Beispiel ist die Sophienkirche in Bayreuth-St. Georgen ( 1 7 0 5 - 1 7 1 1 ) , bei der die Kreuzform im Innern nicht mehr wirksam ist; es folgt der Bau in Lahm (Kr. Coburg, 1 7 2 8 - 1 7 3 2 , ursprünglich Schloßkirche), bei der der Innenraum stärker als Querraum zur Wirkung gelangt. Als letztes Beispiel sei die Ludwigskirche, Saarbrücken ( 1 7 6 2 - 1 7 7 5 , F. J.Stengel),genannt, einer der bedeutendsten protestantischen Barockbauten, der ebenfalls die Außenform des griechischen Kreuzes mit der Raumwirkung einer Querkirche vereint; Altar und Kanzel sind dabei weit ins Zentrum gerückt. Die Kirche gehört zudem zu den Anlagen, die innerhalb barocker städtebaulicher Konzepte eine große Rolle spielen.
Saarbrücken, Ludwigskirche ( 1 7 6 2 - 1 7 7 5 )
Schon vor Sturms entsprechendem Musterentwurf wurde der zentralisierende Charakter des griechischen Kreuzes durch Abschrägen der inneren Vierungsecken betont, bis 25 hin zu einem zentralen Achteck mit kreuzförmig verlängerten Hauptseiten. Zu diesem Typ gehört die Kirche in Kissenbrück (Kreis Wolfenbüttel, 1 6 6 2 - 1 6 6 4 ) mit zentraler Holzrippenkuppel und Laterne, Altar nicht in der Tiefe eines Kreuzarms, sondern davor, also ohne Chorbildung. Vergleichbar sind die Stadtkirche in Neustadt (Bezirk Potsdam, 1 6 7 3 - 1 6 9 6 ) vom selben Architekten und die Fachwerkkirche in Pawellau (Schlesien, 1709). Vorbild dürfte die Noor30 derkerk, Amsterdam (1623) gewesen sein. Ein spätes Beispiel, mit leicht gebogenen Seiten, ist die Kirche in Kirschkau (Thüringen, 1753, J . G . Riedel).
Eine Reduktion der Kreuzform und gleichzeitige Konzentration des Raums zeigen Bauten, bei denen das zentrale Achteck nur an West- und Ostseite verlängert wurde. Als Beispiele seien genannt die Immanuelkirche, Hehlen (Kreis Holzminden, 1 6 9 7 - 1 6 9 9 , H . 35 Korb), ein leicht gestrecktes Achteck bei dem die Verlängerungen an zwei schmalen Seiten je einen Turm bilden, innen mit doppelgeschossigen Emporen und weit in den Raum gerücktem Altar, Orgel
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über der Kanzel dahinter; die Kirche in Schmiedeberg (Schlesien, 1 7 4 3 - 1 7 4 5 ) , bei der die konkav und konvex schwingenden Emporen die Kantigkeit verschleifen. Bei der 1 7 7 4 - 1 7 7 7 errichteten Kirche in Warmbrunn (Schlesien) wird das Schema in spätbarocker Prächtigkeit übernommen. An der Stadtkirche in Waltershausen (Thüringen, 1 7 1 9 - 1 7 2 3 ) sind vier kurze Seiten eines Achtecks konkav geschwungen, während das Gestühl und die dreigeschossigen Emporen dem Innern den Eindruck eines Ovals verleihen, dessen Architektur in der perspektivischen Deckenmalerei eine Fortsetzung findet und den Blick frei gibt auf den in den Wolken thronenden Erlöser. Ein Beispiel am Ubergang zum Klassizismus ist die Stadtkirche in Hildburghausen (Thüringen, 1 7 8 1 - 1 7 8 4 ) . Stärker zentralisierende Tendenzen zeigt der Typ des gestreckten Achtecks. Er findet sich bei den Kirchen von Lössau (Thüringen, 1763), Zella-Mehlis (Thüringen, 1768), bei den sächsischen Bauten in Pretzschendorf ( 1 7 3 1 - 1 7 3 3 ) und Lohmen ( 1 7 8 6 - 1 7 8 9 ) , bei der Friedhofskirche in Bayreuth ( 1 7 7 9 - 1 7 8 1 ) , besonders häufig bei hessischen Bauten, etwa in Kassel, Französische Kirche ( 1 6 9 8 - 1 7 1 0 , du Ry), Wabern (1722), Dissen (1739) oder Dudenhofen (1770), aber auch in RheydtOdenkirchen (Bezirk Düsseldorf, 1 7 5 5 - 1 7 5 7 ) und Roetgen (Kreis Monschau, 1782), wobei die Bauten im Innern z. T. als Querkirchen gestaltet sind. Der Typ ist nicht eindeutig definierbar, da manche Bauten auch als Längsrechteck mit abgeschrägten Ecken bezeichnet werden können, wie die Kirche in Kittlitz (Sachsen, 1 7 4 9 - 1 7 6 9 ) mit einem tiefen Chor, der von doppelten Logen und einer Empore eingefaßt ist; auffallend die gotisierenden Emporengewölbe und der raumhohe Altarbaldachin auf sehr hohen korinthischen Säulen. In Schleswig-Holstein fand die Form bei zunächst bescheidenen Bauten wie in Barkau (1695), Siebeneichen ( 1 7 5 1 - 1 7 5 3 , J.P. Heumann), einem niedrigen Feldsteinbau mit Backsteinschmuck, und in Breitenberg (1764-1768) Anwendung. Eine Steigerung erfährt sie in Wirkung und Aufwand bei St. Bartholomäus in Wilster ( 1 7 7 5 - 1 7 8 1 , E . G . Sonnin), einem Backsteinbau mit Nachahmung barocker Quader- und Lisenengliederung in Ziegeln, der in städtebaulich hervorragender Lage mit sehr eng stehenden hohen und breiten Rundbogenfenstern über sehr kleinen Erdgeschoßfenstern von besonderer Wirkung ist; ein weites Muldengewölbe überspannt den Saal. Etwas kleiner sind die unter Sonnins Einfluß entstandenen Bauten von J . A. Richter in Schönberg (1780-1782) mit seinem außergewöhnlich hohen Walmdach und in Kappeln ( 1 7 8 9 - 1 7 9 3 ) . Die Bauten folgen in der Aufstellung des Gestühls und der Emporenführung allerdings herkömmlichen Längsbauten, so daß die zentralisierende Wirkung nur im Außenbau und in der Fassung der Kanzelaltäre durch Architektur und Gestühl wirksam wird.
Eine weitere Konzentration des Raums boten Zentralbauten mit gleichseitigen Achteckgrundrissen ohne Verlängerung einer oder mehrerer Seiten als Chor, Eingangshalle oder Sakristei. Häufig sind dabei Kapellen; Pfarrkirchen sind erst seit dem Ende des 17. J h . häufiger. Die Beispiele: St. Salvator, Stadtroda (Thüringen, um 1650 [?], Inneres 1738), steht noch am Ende der Spätrenaissance unter Benutzung eines tiefen spätgotischen Chors. Zu den kleinen Kapellen gehört auch die Kirche in Mahlberg (Kreis Lahr) von 1687. Wesentlich größer und in der Ausstattung aufwendiger ist die Stadtkirche in Klingenthal (Bezirk Karl-Marx-Stadt), gestaltet mit dreigeschossig umlaufenden Emporen und hohem, geschwungenen Kuppeldach. Neben der Dorfkirche in Weisdin (Mecklenburg, 1749) mit umlaufenden, völlig verglasten Logen/Emporen und der Kirche in Berlin-Zehlendorf (1768) ist dieser Typ vor allem in Schleswig-Holstein in einer eng verwandten Gruppe vertreten. Vorbilder dürften in Skandinavien liegen, wie der Backsteinbau der Frederiksberg Kirke, Kopenhagen ( 1 7 3 2 - 1 7 3 4 ) , die Hedwig-Eleonoren Kyrka, Stockholm ( 1 6 6 9 - 1 7 3 7 ) ; auch niederländische Beispiele wie die achteckigen Barockbauten in Leiden (Marekerk, 1649) und Middelburg (Oostkerk, 1667) können genannt werden. Zunächst entstand der noch stark dem Kopenhagener Vorbild folgen-
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de kleine Bau in Hörnerkirchen (1749-1752, C. Dose) mit hohem, achtseitigem Kuppelgewölbe (Holz) und tiefen Lichtschächten unter Gauben. Wesentlich bedeutender ist die Kirche in Rellingen (1754-1756, C. Dose), ein stark durchfensterter Backsteinbau mit kuppeligem Holzgewölbe, weiter und hoher Laternenöffnung und dramatisierender Lichtführung über Dachgauben und Schächte durch den Dachstuhl. Ein erhaltener Bericht des Architekten erläutert die Vorteile des Achtecks im Sinne Sturms, vor allem auch gegen den Längsbau, wobei er Vergleiche mit italienischen, katholischen Barockkirchen nicht scheut (Burgheim). Den Kirchen in Großenaspe (1769-1772) und Hamburg-Niendorf (1769-1770) dienten Doses Werke als Vorbild. Eine Verbindung zweier Bau- und Raumtypen bietet die kleine Dreifaltigkeitskirche in Carlsfeld (Sachsen, 1684-1688), vielfach als Vorbild für die Dresdner Frauenkirche angesehen. In ein leicht gelängtes Achteck mit flacher, elegant geschwungener Kuppelhaube und hoher Laterne ist ein fast quadratischer Betraum eingesetzt, während die beiden trapezförmigen Restflächen als Nebenräume genutzt werden. Die teils über Eck geschwungen und gerade geführten dreigeschossigen Emporen verleihen dem Raum, auch in der Höhenstaffelung, ein Moment räumlicher Konzentration, das, in anderen Dimensionen, mit der Frauenkirche Gemeinsamkeiten aufweist. Die Klarheit der Grundrißformen protestantischer Kirchen wird nur selten durch Raumzerklüftungen durchbrochen. Das bedeutendste Beispiel ist die Frauenkirche in Dresden (1726-1734, G. Bähr nach Vorentwurf von J.Ch. Knöffel), wobei Bährs Dorfkirche in Forchheim (1719-1726) und die Kirche in Schmiedeberg (Sachsen, 1713-1716) als einfache Lösungen (Kreuzform) vorausgehen. In Dresden sind einem Quadrat an den Ecken vier Treppenhäuser schräg eingestellt; der Chor/Altarraum ist im Halbrund weit nach außen gezogen, die hohe, steile Kuppel krönt den Bau. Das Innere ist von den hohen, schlanken, mit weiten Bögen verbundenen Stützen und den in geschwungener Führung und vielfacher Staffelung eingehängten, vielgeschossigen Emporen sowie der Innenkuppel, die den Blick in eine hohe Laterne freigibt, geprägt und zu einem fast labyrinthischen Gefüge komponiert. Da alle weiteren stützenden Elemente als Mauerzungen, Wandpfeilern gleich, tief nach innen gezogen sind, ergeben sich, auch in der Lichtführung, diffuse Raumhöhlen, die von Emporen ausgefüllt und durch die vielen Fenster nur teilweise erhellt sind. Diesem wirklich barocken Raumeindruck steht die klare, kreisförmige Ordnung des Gestühls, fast nach Prinzipien des Theaters angeordnet, gegenüber.
Dresden, Frauenkirche (1726-1734) Der Dresdener Nachfolgebau, die Annenkirche (1764-1769), ein einfacher Längsbau mit elliptischer Raumgestaltung durch Emporeneinbauten, fiel bescheiden aus, während die Kreuzkirche (1764-1792) eine monumentale Raumwirkung bieten sollte, die schon in der Auseinandersetzung mit klassizistischen Vorstellungen die Aushöhlung des Raumes zugunsten einer klaren Übersichtlichkeit vermeiden wollte. Die Kreisform, gegen die schon Sturm Bedenken geäußert hatte, findet sich nur selten. Sie begegnet bei der Bethlehemskirche (1735-1737) und der Dreifaltigkeitskirche (1737-1739) in Berlin, die
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nur im Innern reine Kreisformen zeigen — angeregt wohl durch die Dresdner Frauenkirche. Eigenwillig dagegen ist die Lösung in Ebersbach (Sachsen, Kreis Löbau), wo an ein mit einer weiten Holztonne gedecktes Langhaus (1682) ein sich zum Dreiviertelkreis weitender Ostteil angebaut wurde (1726-1733); die Vereinheitlichung der Teile geschah durch die dreigeschossig umlaufenden Emporen. Fast eine Kreisform, allerdings mit vier angesetzten Kreuzarmen, bildet die Dorfkirche in Kirschkau (Thüringen, 1753). Wegen der schwierigen Konstruktion mußten 1782 Pläne für einen Rundbau in Stadtoldendorf (Kreis Holzminden) aufgegeben werden (Rauterberg). Das bescheidene, aber nicht ohne entwerferisches Raffinement entstandene Gegenstück zur Klosterkirche von St. Blasien entstand 1781-1788 durch C.L. Ziegler im Rundbau der Damenstiftskirche des Klosters Medingen (Kreis Uelzen), der außen polygonal ummantelt ist. In Mecklenburg gibt es mehrere runde Kirchen des Architekten F. W. Dunkelberg (Gramelow, 1805; Dolgen, 1806; Schloßkapelle Hohenzieritz, 1806). Zu den kunstvolleren Lösungen eines Rundbaus gehört die klassizistische Lambertikirche in Oldenburg (1797, J.B. Winck), gleichsam eine Rotunde in einem quadratischen Gehäuse unter Verwendung spätgotischer Mauern errichtet; Außenbau 1873-1874 und 1885-1887 gotisiert. Ellipsenförmige/ovale Bauten sind relativ selten. Die um 1500 wiederentdeckte Form findet man seit der Mitte des 16. Jh. in Rom; Architekturtraktate (Serlio) verbreiten die möglichen Konstruktionsprinzipien schnell (Lötz; Müller; Chätelet-Lange). Frühe Beispiele sind St. Georg, Dessau (1712-1717), umgebaut zur kreuzförmigen Anlage 1818-1821. Unentschieden zwischen gestrecktem Oval und gestrecktem Polygon mit leichter Querhausbildung blieb die französisch-reformierte Kirche in Königsberg (1733-1736), wohingegen der französisch-reformierte Bau in Potsdam (Knobelsdorf^ 1751-1753) mit Säulenportikus und hoher Kuppel und innerer Einrichtung als Querkirche zu den anspruchsvollsten Bauten des Typs gehört; dabei wurde, ähnlich wie in Königsberg, wohl auch an die Grundform zentralisierter Hugenottentempel Frankreichs gedacht - und es wurde sicher die Berliner Hedwigskirche als fast gleichzeitiger katholischer Rundbau dazu als Gegensatz in einem letztendlich vereinheitlichenden Planungskonzept gesehen. Grundmann hat eine größere Gruppe von Ovalbauten in Schlesien zusammengestellt, zu denen die Breslauer Hofkirche (1747-1750, Oval nur im Innern wirksam) sowie die bedeutenden Bauten in Carlsruhe O.S. (1765-1775), Waldenburg (1785) und Reichenbach u. E. (1795-1798), beide im Außenbau Rechtecke, beide von C. G. Langhans, gehören. Es handelt sich um Bauten, die im schlesischen Klassizismus Nachfolger fanden (Jakobswalde, 1818). Die Paulskirche, Frankfurt a.M. (1789-1833), dokumentiert deutlich die Probleme derartiger Bauten mit den fast immer unorganisch angesetzten Türmen und Treppenhäusern für die Emporen. Um die konstruktiven und raumgestalterischen Schwierigkeiten zu umgehen, wurden ovale Säle vielfach in längsrechteckige Baukörper eingepaßt. Dazu gehören die Egidienkirche in Nürnberg (1711-1718), schon zeitgenössisch mit der aufwendigen Doppelturmfassade als italienisch(-katholisch) empfunden (Schelter); die Kirche in Wildbad (1746-1748) und die Annenkirche in Dresden (1764-1769). Zu den selteneren Grundformen, weil schwierig zu konstruieren, gehören zentralisierte Mehrkonchenanlagen. In Berlin entstand 1695-1703 die Parochial-Kirche (J.A. Nering, M. Grünberg) über einem Grundriß von vier fünfseitigen Konchen um ein mittleres Quadrat und mit einem Turm über der Eingangshalle (Kuppeldächer nicht ausgeführt, Mittelkuppel aus Holz, Halbkuppeln über den Konchen). Das Vorbild Nieuwekerk, Den Haag (1656), ist anzunehmen (über dynastische und religiöse Beziehungen vermittelt), zumal sie in der deutsch-reformierten Kirche in Königsberg (1698) fast eine Kopie als Teilbau gefunden hatte. Vereinfachte Vierkonchenanlagen sind die Kirchen in Briese (Schlesien, 1737) und Schweta (Bezirk Leipzig, 1751-1753). Eine ungewöhnliche Lösung bietet die Neue (Deutsche) Kirche in Berlin, Gendarmenmarkt (1701-1708, M. Grünberg; Neubau 1881-1882). Um ein inneres Fünfeck gruppieren sich fünf, im Außenbau dreiseitig, im Innern halbrund schließende Konchen. Der Innenraum war ursprünglich von im Zehneck aufgestellten doppelten Emporen umgeben. Als Pendant entstand auf demselben Platz gegenüber, dem eigentlichen Marktplatz der Friedrichstadt, 1701-1705 die Französische Kirche (L. Cayard) als Querbau mit gerundeten Ecken und leicht vorgezogenen Langseiten als vorgeblicher Nachbau des Tempels von Charenton (1624). Beide Bauten erlangten ihre eigentliche städtebauliche Wirkung als Teil eines Forums (Einfluß Friedrichs II.) erst durch die riesigen, fast selbständigen Turmvorbauten mit Säulenportiken an drei Seiten (C.v.Gontard, 1780-1785). Obwohl von Sturm ausdrücklich erwähnt und abgebildet, scheinen Winkelhakenkirchen im 18. Jh. kaum noch zu entstehen. Über die bei Heyer (1969) gesammelten Beispiele hinaus ist die Kirche in Schöppenstedt-Küblingen (Kreis Wolfenbüttel) zu nennen, die 1720 aus der Vereinigung von zwei mittelalterlichen Kirchenteilen zu einer Winkelhakenanlage mit Kanzelaltar (1734) im äußeren Winkel entstand.
Die von Sturm, wohl nach niederländischen reformierten Bauten und der Kirche in Zellerfeld (1661) ebenfalls empfohlene Querkirche fand im späten 17. und vor allem im 18. Jh. weite Verbreitung, wobei häufig verschiedene architektonische Typen verwendet
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Rom, S. Sabina, Blick nach Ost zwischen 422 und 432
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Istanbul, Imrahor Camü, ehem. Kirche des StudiosKlosters, Blick nach Nordost, errichtet um 450/454
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Istanbul, K ü f ü k Ayasofya Camii, ehem. Hagios Sergios und Bakchos, Ansicht von Südwest, zwischen 5 2 7 und 5 3 6
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Istanbul, Hagia Sophia, Blick nach Ost, 5 3 2 - 5 3 7 und 5 5 8 - 5 6 3
Ephesos,Jonien, Johannes-Kirche, Ansicht von Süd, 6.Jh.
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Theveste (Tebessa), Algerien, Basilika, Blick nach Südost, um 400
Mailand, S. Lorenzo, Blick nach Nordwest, letztes Viertel des 4.Jh.
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Rusäfa, Basilika A, Mittelschiff, Blick nach West, 2. Hälfte des 6.Jh.
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Le Corbusier, Ronchamp, Frankreich, Notre-Dame du Haut, 1957
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Kaija u. Heikki Siren, Espo, Finnland, Teekkarikylän-Kapelle, 1957
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Henri Matisse, Vence, Frankreich, Rosenkranzkapelle, 1950
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Van der Gruiten und Heijdenrijk, Swalmen, Niederlande, „Das Wort Gottes", Mehrzweckraum, 1968 (Idee der Agora)
Helmut Striffer, Dachau, Versöhnungskirche, 1967
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Manuel Pauli u. F. A. Baumann, Langendorf, Schweiz, Ökumenisches Zentrum, links reformierte Kirche, rechts katholische Kirche, 1971
Gottfried Böhm, Wallfahrtskirche .Alaria Königin des Friedens"
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wurden wie etwa Ovalformen, Kreuzformen mit sehr kurzen Erweiterungen an den Langseiten oder längliche Achtecke. Die vielen einfachen querrechteckigen Säle sind vor allem in Brandenburg, Hessen und z . T . in einzelnen protestantischen Gebieten Frankens verbreitet (Dött; Schelter), wobei die innere Ausrichtung als Querraum im Außenbau vielfach nicht erkennbar wird. Alle deutschen Querkirchen mit Ausnahme einiger reformierter haben Emporen - meist an drei, seltener an vier Seiten (Berliner Bauten). (Zu den Querkirchen in anderen Gebieten, etwa den reformierten Kirchen der Schweiz, ausführlich Germann und Hoegger, zum hessisch-niedersächsischen Bereich Reuther.) Neben den vielen Kleinbauten kam es zu ausgeprägten Formulierungen, zu denen die Schloßund Stadtkirche in Weilburg (Bezirk Wiesbaden, 1 7 0 7 - 1 7 1 3 ) zu rechnen ist, die auch in der engen Bindung an das Rathaus eine Sonderstellung einnimmt. Wex hat Raum- und Gestühlsanordnung analysiert, wobei die .Präsentation' der Frauen in vier Gestühlsblöcken mitten im Raum auffällt; dieser wird an den Wänden umgeben von den umlaufenden, ansteigenden Bänken der Männer und den bündig unter Arkaden in die Längswände eingebauten, verglasten Logen, die also nicht als Emporen Teil des Raums zu sein scheinen. Der Bau war Vorbild für die Paulskirche in Kirchheimbolanden (1744) und die Ludwigskirche in Saarbrücken sowie kleinere lokale Bauten. Bedeutende Querkirchen sind die Sophienkirche in Berlin (1712—1713, vielfach umgebaut), die ehemalige Garnisonkirche in Potsdam ( 1 7 3 1 - 1 7 3 5 , P. Gerlach) mit doppelgeschossig umlaufenden Emporen und hohem Turm an der südlichen Langseite. Die Garnisonkirche in Berlin war dagegen ursprünglich ein sehr schlichtcr Bau (1720-1722), dessen Vorgänger (1701-1703) noch einen kreuzförmigen Grundriß aufgewiesen hatte. Der Berliner Dom ( 1 7 4 7 - 1 7 5 0 , G . W . v . Knobeisdorff ?, J . Boumann d.A.) war wohl auch aus städtebaulichen Gründen ursprünglich als Querbau errichtet worden mit hohem Kuppelvorbau an einer Langseite (Neubau 1 8 9 3 - 1 9 0 5 ) . Zu den T-förmigen Varianten gehörten die alte Petrikirche in Berlin (1733) und als bedeutendes erhaltenes Beispiel die Marienkirche in Großenhain (Bezirk Dresden, 1 7 4 4 - 1 7 4 8 ) , teilweise unter Benutzung mittelalterlicher Teile errichtet, wobei der alte Chor im Außenbau beibehalten wurde. Als fast theatralische Inszenierung wirkt die rundbogige Konzentration des Gestühls und der Emporen auf die riesige Schauwand des Kanzelaltars mit hoher, in die Wölbung schneidender Orgel und flankierenden Emporenlogen.
Großenhain, Stadtkirche ( 1 7 4 4 - 1 7 4 8 ) Kultgemäß bescheidener sind die nur beispielhaft zu nennenden reformierten Kirchen in Neuenhaus (Emsland, 1 6 8 4 - 1 6 8 6 ) und Göttingen ( 1 7 5 2 - 1 7 5 3 ) , diese mit amphitheatralischem Ansteigen der radialen Gestühlsblöcke. Wesentlich aufwendiger, auch in der barocken Raumgestaltung ist die Stadtkirche in Aalen ( 1 7 6 5 - 1 7 6 6 ) . Von den spätbarocken und frühklassizistischen Bauten seien genannt die Kirchen in Namslau (Schlesien, 1787-1789) mit innerem Emporenoval, die Petrikirche in Ratzeburg ( 1 7 8 7 - 1 7 9 1 , J . F . Laves), die langgestreckte Marienkirche in Neuruppin ( 1 8 0 1 - 1 8 0 4 ) mit vorspringender, hoch überkuppelter Vorhalle (innen Ratsempore) und gegenüber, nach außen vortretend, mit der Nische für den Kanzelaltar mit Orgel und schließlich die Kirche in Fallersleben (1804) mit ionischem Säulenportikus, ein klassizistischer Bau. Der Längsbau mit eingezogenem Chor verlor gegen Ende des 17. und besonders seit dem frühen 18. J h . bei größeren Anlagen seine Verbindlichkeit. Bei kleinen Kirchen stellte er jedoch die Masse der Bauten. Einige wichtige Längsbauten seien kurz erwähnt. So erinnert der weite Saal der Georgskirche in Schwarzenberg (Sachsen, 1 6 9 0 - 1 6 9 9 ) in vielen
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Zügen (Grundriß, Pilastergliederung, Empore) an die Hallenkirche im nahen Schneeberg. Das Langhaus der Unterkirche in Frankenhausen (Bezirk Halle, 1 6 9 1 - 1 7 0 1 ) , ein weiter Saal, folgt mit seinen doppelgeschossigen Emporen auf Rundbögen und zwischen rundbogig verbundene Pfeiler gesetzt, dem Vorbild der Schloßkapelle von Schmalkalden. Andere Bauten wie die Kirchen in Mansbach (Hessen, Umbau 1682) oder Ronshausen (Hessen, 1 7 1 5 - 1 7 1 9 ) mit mittlerer Holztonne, doppelgeschossigen Emporen unter flach gedeckten Seitenschiffen, schließen sich den oben genannten Beispielen des 16. und frühen 17. J h . gleichen Typs an, vermittelt vielleicht durch dörfliche Bauten wie die Kirche in Herpf (Thüringen, 1611). Unabhängig wurde der Typ weitergeführt in Bauten wie der St. Jürgenkapelle ( 1 6 5 7 - 1 6 7 2 ) und der Laurentiuskirche (1716) in Itzehoe und der Damenstiftskirche in Uetersen (Schleswig-Holstein, 1 7 4 8 - 1 7 4 9 ) und weiteren Bauten (Burgheim), aber auch in anderen Gebieten (Schelter). Als Beispiel für die Barockisierung einer protestantischen Kirche sei die Stadtkirche in Celle genannt; 1676—1698 erfolgte hier der Umbau der dreischiffigen Halle des 14. J h . durch Einzug einer mittleren Längstonne (Holz), Stuckierung aller Bauteile, aber Beibehaltung der achteckigen Pfeiler, die allerdings durch Rundbögen verbunden wurden. Weitergehend war die Umgestaltung des Langhauses von St. Moritz, Coburg ( 1 7 3 8 - 1 7 4 2 ) , wo alle spätgotischen Elemente getilgt wurden und statt der Pfeiler Säulen auf hohen Podesten eingestellt wurden - der Charakter der Halle blieb aber erhalten. Gotisierende Bauten sind im protestantischen Kirchenbau nicht selten; beispielhaft sei genannt St. Blasien, Quedlinburg (1715) als kleiner Saal mit flachem Kreuzrippengewölbe (Stuck). Wesentlich aufwendiger sind die Petrikirche, Melle ( 1 7 2 1 - 1 7 2 4 ) , eine dreischiffige gotisierende Halle, und St. Stephani, Goslar (1729-1734), ebenfalls als dreischiffige Halle mit Strebepfeilern, polygonalem Chor, Kreuzrippengewölben auf achteckigen Pfeilern, aber mit Rundbogenfenstern errichtet. Beim Neubau des Langhauses von St. Gumbertus, Ansbach (1736-1738), wurden unter Beibehaltung des gotischen Chors (abgetrennt) und der gotischen und nachgotischen westlichen Turmfassade für den neuen Langhaussaal nur barocke Formen gebaut, während im Äußeren die mittelalterlichen Bauteile integriert wurden. Die Gotik im Kirchenbau des 18. J h . ist noch nicht hinreichend erforscht (viele Beispiele bei Kirschbaum, für Frankreich vgl. Hesse). Bestimmt durch städtebauliche Rücksichten als Platz- und Stadtabschluß sowie als Ausweis eines neuerlich erstarkenden Protestantismus kann die Trinitatiskirche in Wolfenbüttel verstanden werden ( 1 7 1 6 - 1 7 2 2 , H. Korb), wobei vieles durch die Vorgängerbauten (Stadttor, Kirche von 1693) bestimmt ist. Der längsrechteckige Bau mit seitlich flankierenden Fassadentürmen und einer Giebelfassade mit Kolossalpilastern zeigt im Innern Anklänge an gotische Hallenkirchen. Die hohen Säulen und doppelten Emporen bilden ein inneres gestrecktes Achteck mit Kreuzrippengewölben über den Emporen und einem Spiegelgewölbe (Holz) mit Stichkappen auf Stuckrippen. In der Betonung der freistehenden Säulen, in den gotischen Elementen und in der Raumbildung findet die Kirche Parallelen in der Heiliggeistkirche, Bern ( 1 7 2 6 - 1 7 2 9 ) , wobei Germann (1963) hier an eine enge Verwandtschaft beider Bauten zur gotischen Halle mit Freipfeilern denkt. Für Württemberg ist die Stadtkirche in Ludwigsburg mit ebenfalls seitlich angestellten Fassadentürmen ( 1 7 1 8 - 1 7 2 6 / 3 0 ) als Saal mit Kanzelaltar unter den Längsbauten von Belang; für die Stadt ist sie als Teil des herzoglichen Planungskonzepts im Zusammenwirken mit der einfacheren reformierten Kirche gegenüber ( 1 7 2 1 - u m 1740) bedeutsam. Zu den bemerkenswertesten Umbauten einer spätgotischen Kirche in frühklassizistischen Formen gehört die Nikolaikirche, Leipzig, bei der die Pfeiler in kannelierte Säulen und die Gewölbeanfänger, wohl nach einer von Laugier, Milizia und Stieglitz vorgeschlagenen Lösung, in Palmzweige umgewandelt wurden ( 1 7 8 4 - 1 7 9 7 , J . F . C . Dauthe). Ein für den barocken Klassizismus wichtiger Bau ist die Stadtkirche von Ludwigslust (Mecklenburg, 1 7 6 5 - 1 7 7 0 ) , die im Außenbau (breiter Säulenportikus) Teil einer städtebaulichen Komposition ist und im Innern als Saal mit je einer Reihe von hohen toskanischen Freisäulen vor den Längswänden und mit Tonnengewölbe (Holz) sowie mit dem riesigen Wandbild des Ostabschlusses gegenüber der Fürstenloge auch hier eines theatralischen Elements nicht entbehrt. Die katholische Pfarrkirche (1803—1809) wurde dagegen (?) als früher Bau einer neu gewerteten Backsteingotik errichtet.
Die protestantischen Schloßkapellen des Barock übernehmen keine ausgeprägte Vorbildfunktion mehr wie im 16. Jh. Dem Ausstattungsaufwand vieler Schloßkapellen der Renaissance (z.B. Celle) entsprach jetzt ein barocker Formenreichtum, bei dem das Raum- und Repräsentationsbedürfnis der profanen Schloßteile und das katholische Beispiel Maßstab waren. Mit der regelmäßigen Rechteckform, den umlaufenden Emporen mit Rundbögen und dem kassettierten Tonnengewölbe übernimmt die Kapelle von Schloß Neu-Augustusburg, Weißenfels (Bezirk Halle, 1 6 6 4 - 1 6 6 7 , Stuck 1677), noch das Vorbild von Augustusburg. Die Kapelle von Schloß Christianenburg, Eisenberg (Bezirk Gera, 1687-1692), bietet dann bei einfacher Außengestaltung als
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querrechteckiger Raum im eingezogenen Chor mit Kanzelaltar, Orgel und Kuppel darüber, sowie in den hier umlaufenden doppelten Emporen einen Schritt zu barocker Inszenierung im Altarbereich. Die Kapelle in Coburg, Schloß Ehrenburg ( 1 6 9 0 - 1 7 0 0 , 1 7 3 1 - 1 7 3 5 ) ist eine längsrechteckige, dreischiffige Halle mit Holzpfeilern und aufwendiger Stuckdekoration, die an katholischen Vorbildern Frankens ausgerichtet ist. Die Kapelle des Schlosses Köpenick ( 1 6 8 2 - 1 6 8 5 , J . A. Nering) mit dreiseitig geschlossenem Chor und Tonnengewölbe stellt in der klassizistischen Strenge bei durchaus anspruchsvoller äußerer und innerer Dekoration ein Gegenstück dar. Eine Parallele zum Variationsreichtum in den Grundrissen von Pfarrkirchen findet man bei zwei Bauten im Braunschweigischen. Bei der nicht erhaltenen Kapelle von Salzdahlum (1694) stand die Kanzel in einer Ecke des quadratischen Raums, ähnlich wie bei Winkelhakenkirchen. Die Schloßkirche in Salder (1713) bildet eine Kreuzform, wobei zwei Arme wesentlich länger sind, so daß sich das Innere als Querkirche darstellt mit Betonung der Vierung durch einen achteckigen Turm. Bei den Kapellen des 18. J h . findet sich dann häufig eine plastisch-architektonische Durchgestaltung (Emporen und Kanzelaltäre als schwingende Raumelemente) im Zusammenwirken mit reichen Stuckdekorationen. Beispielhaft seien genannt die Kapelle in Berlin, Schloß Charlottenburg ( 1 7 0 4 - 1 7 1 2 , J . F. Eosander), Lichtensee, Schloß Tiefenau (Bezirk Dresden, um 1716), Zerbst (Bezirk Magdeburg, 1 7 1 7 - 1 7 1 9 , C. Ryckwaert) als dreischiffige Halle mit Säulenstellung auf hohen Podesten. Die Hofkapelle des Schlosses in Ludwigsburg (um 1720) gehört auch in der Grundrißbildung als Dreikonchenanlage mit Kuppel und in der Farbigkeit der Stuckmarmordekoration zu den aufwendigsten und katholischen Beispielen am nächsten stehenden Bauten. Als Beispiel für schlichte, längsrechteckige Saalräume seien die Kapellen in Egloffstein (Franken, 1 7 5 0 - 1 7 5 2 ) und die wesentlich größere in Bayreuth ( 1 7 5 3 - 1 7 5 6 ) mit zartem Rokokodekor genannt.
2.3. Der katholische Kirchenbau 2.3.1. Klosterkirchen. Der katholische Kirchenbau seit der zweiten Hälfte des 17. Jh. brachte besonders bei Kloster-, Stifts- und Wallfahrtskirchen bedeutende Leistungen in großer Zahl hervor. Architektonischer Aufwand, Größe und Erfindungsreichtum in der Raum- und Außenwirkung lassen die Kirchen und vor allem die Klöster als Gesamtanlagen bis heute zu Monumenten eines Selbstbewußtseins werden, das in anderen Baugattungen kaum einen entsprechenden Ausdruck fand. Reformerische Selbstdisziplinierung, gegenreformatorische Aufgabenstellung, unterstützt durch die süddeutschen Fürsten, politische und territoriale Unabhängigkeit vieler Klöster schufen eine Machtstellung, die aus der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, nicht nur durch Bewirtschaftung der Güter durch untertänige Bauern, sondern auch durch die Arbeit der Laienmönche, gewonnen wurde. Die herausragende Rolle des Kirchengebäudes im Mittelalter innerhalb eines Klosters (meist an der Nordseite des Komplexes) weicht jetzt, infolge einer Angleichung an den Schloßbau, vielfach einer Mittelstellung innerhalb einer symmetrischen Gcsamtanlage, wohl auch in Nachfolge des Klosters El Escorial. Das bedeutet vielfach eine weitere Aufwertung (Zentralisierung) der Kirche und diente gleichzeitig der formalen Repräsentation des Komplexes, in dem die Kirche nur selten an Eigenwertigkeit nach außen verliert. Auffallend ist, daß ein nicht unerheblicher Anteil der süddeutschen Klosterkirchen des Barock als Halle errichtet wurden. Die Raumform steht damit in der mittelalterlichen Tradition, genauso wie die großen Hallen der Renaissance, die meist in nachgotischen Formen gebaut worden waren; zu erinnern ist an die Bauten in Polling ( 1 6 2 1 - 1 6 2 8 ) , Tuntenhausen ( 1 6 2 7 - 1 6 3 0 ) , Oberalteich ( 1 6 2 2 - 1 6 2 9 ) . Zu den barocken Beispielen gehört die Kirche des Benediktinerklosters Isny ( 1 6 6 0 - 1 6 6 6 , Stuckdekor 1 7 5 7 - 1 7 5 8 ) , eine dreischiffige Hallenkirche mit weitem Spiegelgewölbe im breiten Mittelschiff, unter Verwendung mittelalterlicher Bauteile von einem italienisch-schweizerischen Architekten (G. Barbieri) errichtet; Chor in Mittelschiffsbreite. Zu den bedeutendsten Hallenkirchen des Barock gehört die Chorherren-Stiftskirche in Groß-Komburg (1707-1715), unter Verwendung romanischer Fundamente gebaut. Die Längstonne des Mittelschiffs mit tiefen Stichkappen und Stuckrippen ruft fast den Eindruck der Weite einer gotischen Halle hervor, wenn nicht die ausladenden Kapitelle und Kämpferaufsätze drücken und außerdem nach Osten ausrichten würden. In geographischer Nähe, im Dekor über die Schlichtheit von Groß-Komburg hinausgehend, liegt die Kirche des ehemaligen Zisterzienserklosters Schöntal (Künzelsau, 1 7 0 8 - 1 7 3 6 , J . L . Dientzenhofer) an der Nordseite der Konventsgebäude, den mittelalterlichen Vorgängerbau damit aufnehmend. Es handelt sich um eine dreischiffige Pfeilerhalle mit westlicher Doppelturmfassade, Querhaus, einge-
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zogenem Chor und auch damit in Ordenstradition, mit flachem Chorhaupt; Wölbung durch leicht elliptische Flachkuppeln und Vierungskuppel. Unter den barockisierten bzw. zu einem erheblichen Teil neu aufgebauten gotischen Hallen gehört die Karmeliterkirche in Straubing aus dem 14. J h . , die seit 1700 umgestaltet wurde. Wesentlich durchgreifender geschah der Umbau bei der Benediktinerkirche Niederalteich (Niederbayern, 1 7 1 8 - 1 7 2 6 ) . Die dreischiffige Halle wurde mit Emporen versehen, die Pfeiler bekamen eine Ummantelung, der Einzug böhmischer Kappen im Mittelschiff mit breiten Gurtbögen veränderte den Raumeindruck; an den tiefen Chor schloß im Erdgeschoß, hinter dem Altar, die Sakristei an, während im Obergeschoß ein völlig abgetrennter Psallierraum für die Mönche eingerichtet wurde. Zu den aufwendig barockisierten gotischen Hallenkirchen gehört auch die Klosterkirche Ebersberg (Oberbayern, 1 7 3 3 - 1 7 3 4 ) . Unter den Neubauten sei als frühklassizistisches Beispiel schließlich die Damenstiftskirche in Buchau genannt ( 1 7 7 3 - 1 7 7 6 , M.d'Ixnard), eine dreischiffige, flachgedeckte Halle mit eingezogenem, halbrund schließendem Chor.
Nicht sehr häufig, meist noch im 17. Jh. liegend, wurde die Basilika für Klosterkirchen angewandt; fast immer in Anlehnung an Wandpfeilerkirchen mit tiefen Seitenkapellen an Stelle von Seitenschiffen. Die Theatinerkirche in München, St. Cajetan, erfüllte die Aufgaben einer Votiv-, Hof- und Ordenskirche. Sie entstand 1 6 6 3 - 1 6 9 0 (Fassade 1767/68) als kreuzförmige Basilika mit Querhaus und Vierungskuppel und tiefen Kapellen zwischen den Pfeilern, die nur bedingt als durchbrochene Wandpfeiler bezeichnet werden können. Auch die Kirche des Zisterzienserinnenklosters Waldsassen (Oberpfalz, 1 6 8 5 - 1 7 0 4 ) zeigt einen kreuzförmigen Grundriß, wobei das Querhaus fast nur im Inneren mit weit überkuppelter Vierung zum Ausdruck kommt. Die Seitenkapellen bilden flache Nischen zwischen mächtigen Wandpfeilern mit schmalen Durchgängen. Der Rechteckchor ist stark eingezogen. Wie Waldsassen zeigt auch die Kirche in Benediktbeuren (1680—1683) Emporen zwischen den Pfeilern. Der Neubau der Benediktinerkirche Tegernsee ( 1 6 8 4 - 1 6 8 9 ) behielt deutlich den Charakter der Basilika, wenn auch unter Verwendung der Mauerndes Vorgängerbaus (15. Jh.) die Strebepfeiler nach innen gezogen wurden; Ausbildung eines Querhauses mit flacher Kuppel.
Wesentlich verbreiteter waren allerdings Wandpfeilerkirchen, die in ihrer Raumbildung zu hallenartiger Weite tendierten. Riedel hat diese Bauten gleichsam bruchlos in die Reihe der süddeutschen Hallenkirchen gestellt. Mehrere Architekten aus dem Vorarlberger Gebiet waren hier führend, wobei sie als Gruppe bestimmbar sind, aber eine große Vielfalt von Formen benutzten, so daß von einem ,Schema* nicht zu sprechen ist (Lieb; Vorarlberger Barockbaumeister). Zu den frühen Klosterkirchen Vorarlberger Baumeister gehört die, von der Wallfahrtskirche Schönenberg (Ellwangen) abhängige Prämonstratenserkirche Obermarchtal ( 1 6 8 6 - 1 6 9 2 , M . Thumb, F. Beer). Die Kirche ist symmetrisch an das Geviert der Klostergebäude angesetzt. Dem vierjochigen Langhaus mit tiefen Wandpfeilern und Emporen über den Kapellen schließt sich ein Querhaus an; der tiefe Hallenchor mit Freipfeilern ist in seinem Mittelschiff stark eingezogen und durch Chorpfeiler markiert. Die Wölbung über den Emporen ist gleich hoch wie im Mittelschiff, die Wandpfeiler sind mit Durchgängen versehen, so daß der Eindruck einer Halle entsteht. Bauten wie die Augustiner Chorherrenkirche Weyarn (Oberbayern, 1 6 8 7 - 1 6 9 3 ) oder die Zisterzienserkirche Raitenhaslach (Oberbayern, 1 6 9 4 - 1 6 9 8 ) zeigen weite Wandpfeilerräume ohne Emporen. Die Benediktinerinnenkirche in Holzen (Schwaben, 1 6 9 8 - 1 7 0 4 ) wurde von ihrem Architekten F. Beer im Langhaus mit schmalen Wandpfeilern mit Emporen, eingezogenem Chor und im Westen mit Nonnenemporen und Nonnenchor versehen. Bei der Benediktinerkirche Irsee (Schwaben, 1 6 9 9 - 1 7 0 4 ) übernimmt Franz Beer Elemente von Obermarchtal, scheidet den Chor allerdings nicht so stark aus. In der Wirkung ähnlich, wenn auch im Schema konservativer, mit mittlerer Längstonne mit Stichkappen, ist die Augustiner-Chorherrenkirche in Au (Oberbayern, 1 7 0 8 - 1 7 1 7 ) . Die lichte Weite dieser Räume fand bei grundsätzlich ähnlicher Disposition in Grund- und Aufriß unter vollem .Ausspielen' barocken Dekors bei der Prämonstratenserkirche Speinshart (Oberpfalz, um 1 6 9 5 - 1 7 0 6 , W. Dientzenhofer) einen Wandel ins Diffuse. Die Benediktinerkirche in Füssen ( 1 7 0 1 - 1 7 1 7 , J . J . Herkomer) zeigt als dreischiffige Wandpfeilerhalle (unter Übernahme eines romanischen Chors) mit den durch Durchgänge geöffneten Wandpfeilern und mit den Quertonnen über den Seitenräumen sowie mit dem rund überkuppelten Mittelschiff einen deutlichen Bezug auf venezianische Vorbilder in letztlich mittelalterlicher Tradition (S. M a r c o , Venedig, vor allem die Benediktinerkirche S. Giustina, Padua, 1 5 2 1 - u m 1580). Das in Obermarchtal streng durchgeführte System wird in der Benediktinerkirche von Weingarten großzügig-weiträumig umgesetzt. Als ursprünglich geplanter achsialer Mittelteil einer riesigen Klosteranlage entstand die Kirche 1 7 1 5 - 1 7 2 4 unter Beteiligung fast aller führenden Barockarchitek-
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ten der Region (A. Schreck, C. Moosbrugger, Ch. T h u m b , J . Schmuzer) wohl hauptsächlich nach Plänen von J . J . Herkomer, F. Beer u. D . G . Frisoni; Fresken von C . D . Asam (Lieb; Vorarlberger Barockbaumeister; Spahr). Der langgestreckte Bau bot neben der Doppelturmfassade, den rund schließenden Querhausarmen weitere, früher entwickelte Elemente, die hier in neue Wirkung umgesetzt wurden. Dazu gehört vor allem der Raum, der durch die hohen Wandpfeiler charakterisiert wird, die mit stark wirksamen Gurten verbunden sind; die Pfeiler sind im Erdgeschoß und auf den stark zurückgesetzten konkaven Emporen mit weiten Durchgängen versehen; der Chor ist nicht eingezogen. Im Äußeren ist die nach außen schwingende Fassade nach Vorbild der wichtigen Kollegienkirche in Salzburg ( 1 6 9 6 - 1 7 0 7 ) von Bedeutung (Ebhardt; Stankowski; Herzner). In der Raumwirkung des Langhauses, unter Zurücknahme des Querhauses und mit tiefem, stark eingezogenem Chor, steht die Prämonstratenserkirche Weißenau ( 1 7 1 7 - 1 7 2 3 , F. Beer) Weingarten nahe. In der Zisterzienserkirche von Fürstenfeld (Fürstenfeldbruck, 1 7 0 1 - 1 7 5 2 ) werden die Wandpfeiler stärker in Halbsäulen aufgegliedert, die Emporen zu schmalen Laufgängen reduziert, die dadurch gewonnene Weite nimmt der Architekt zurück, indem er unterhalb des Gewölbes niedrige Emporen ansetzt. Eine wesentlich kleinteilig-flächenfüllende Stuckierung sowie der Umschlag einer vorwiegend weißgolden bestimmten Farbgebung in Vielfarbigkeit beeinflussen den Eindruck.
Obermarchtal, Klosterkirche ( 1 6 8 6 - 1 6 9 2 )
Die hier aufgezeigten Typen und Varianten fanden im gesamten 18. J h . bei Klosterkirchen Anwendung. Summarisch sei auf die späteren Bauten hingewiesen, bei denen die architektonische Form einen engen Verbund mit der Stuckdekoration und der Malerei eingeht, wie bei den Wandpfeilerkirchen von Aldersbach (Zisterzienser, Langhaus 1 7 1 8 - 1 7 2 0 ; Stuck Ä . Q . Asam; Fresken C . D . Asam); Diessen (Ausgustincr-Chorherren, 1 7 3 2 - 1 7 3 9 ; J . M . Fischer) mit, bei aller Strenge des Plans, in den Raum schwingenden Scheidbögen über den Abseiten und einem zentralisierten Chor und mit halbrunder Apsis; Asbach (Niederbayern, Benediktiner, 1 7 7 1 - 1 7 8 7 , F. Cuvillies d. J.?) in fast nüchterner Klarheit, saalartig weit. Wandpfeilerkirchen mit Emporen entstanden in Osterhofen (Niederbayern, Prämonstratenser, 1 7 2 6 - 1 7 3 5 ; J . M . Fischer, Stuck u. Malerei Gebr. Asam), mit ovalen Kapellen, in den Raum schwingenden Emporen und tiefem Chor; der scharfe Einzug des Chors durch diagonal gestellte Altäre elegant verschliffen; Dietramszell (Oberbayern, Augustiner-Chorherren, 1 7 2 9 - 1 7 4 1 ) in architektonisch-strenger, ja konservativer Architektur bei einer Stuckdekoration von geradezu eleganter Verspieltheit ( J . B . Zimmermann). In den südwestlichen Barockgebieten ist St. Peter (Schwarzwald, Benediktiner, 1 7 2 4 - 1 7 2 7 , P. Thumb) zu nennen, ein im Äußeren schlichter Bau mit Doppelturmfassade und weitem, lichtem Inneren, das durch die etwas altertümliche Längstonne mit Stichkappen gewinnt. Einen Höhepunkt des Typs bedeutet die Benediktinerkirche Zwiefalten ( 1 7 3 9 - 1 7 6 5 , J . M . Fischer) mit eigenständigem Eingangsjoch, vierjochigem Langhaus mit ovalen Kapellen zwischen den von Halbsäulen umstellten Wandpfeilern, mit ausschwingenden Emporen, deutlich gekennzeichneter Vierung und Querhaus mit flacher Kuppel, tiefem Chor und angeschlossenem Altarraum. Auch hier sind die Malerei, besonders an der Mitteltonne, die Stuckaturen, die Altäre und die Architektur als Einheit zu sehen und zu erleben. Auffallend ist der einfache innere Sockel, der eine deutliche Grenze zwischen Gemeinderaum und oberen Bereichen schafft. Die Fassade mit den Kolossalsäulen, der Schwingung, die eigentlich ein Knicken ist, und den Giebelbrechungen ist trotz fehlender Türme von besonderer Monumen-
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talität. Die Prämonstratenserkirche in R o t a.d. R o t (Chor 1777, Langhaus 1 7 8 3 - 1 7 8 6 ) bietet dann die monumental beruhigte, fast schon klassizistische späte Lösung. Zu den bedeutenden Barockbasiliken gehört die Benediktinerkirche Ochsenhausen ( 1 7 2 5 - 1 7 3 2 , F. Beer, J . M . Fischer) als Umbau einer gotischen Pfeilerbasilika (1495); die konvex gewölbte Fassade bildet den basilikalen Querschnitt ab. Bedeutsam ist die Kirche auch als Teil der riesigen Klosteranlage, die in ihrem schloßartigen Charakter einen Grad der Vollendung erreicht, wie er in Weingarten angestrebt war und bei den österreichischen Großklöstern vorliegt. In Steingaden wurde die romanische Pfeilerbasilika (1176) des Prämonstratenserklosters um 1 7 4 0 - 1 7 5 0 barockisiert (Holzgewölbe, Stuck F . X . Schmuzer). Die Benediktinerkirche in Amorbach ( 1 7 4 2 - 1 7 4 7 ) folgt als Neubau dem Vorbild der Basilika des 9. J h . mit z. T. historisierenden Elementen innerhalb der barocken Architektur.
Der hohen Variationsbreite innerhalb des Angebots einfacher geometrischer Figuren im protestantischen Kirchenbau seit etwa 1700 entsprach bei den Katholiken eine fortschreitende Komplizierung der Grundrisse im Sinn von Raumzusammensetzungen mit unterschiedlichen Graden der Verschleifung der Raumgrenzen durch architektonische, malerische und dekorative Mittel, die einherging mit einer sich steigernden inszenatorischen Kraft dieser Mittel bei oft sehr herkömmlichen Architekturformen. Kurz genannt werden soll die seit 1695 geplante Benediktinerkirche Banz ( 1 7 1 0 - 1 7 1 9 , J . Dientzenhofer) als Teil schloßartiger Konventsgebäude in geographisch exponierter Lage. Im Inneren findet man fließend-schwingende Raumgrenzen und rundende Raumfassungen; auch im Außenbau sind dazu Ansätze zu beobachten. Vorbild waren Lösungen in Prag, Benediktinerkirche Brevnov ( 1 7 0 8 - 1 7 1 5 , Ch. Dientzenhofer; vgl H . G . Franz) und G. Guarinis Entwürfe des späten 17. J h . Als herkömmlich zu bezeichnen sind die Grundrisse der Klosterkirchen der Gebrüder Asam. In Weltenburg (Benediktiner, 1 7 1 6 - 1 7 1 8 , C . D . Asam) wurde ein Oval mit stark eingezogener Vorhalle und Chor verwendet; Vorbilder waren etwa S. Carlo alle quattro Fontane, R o m ( 1 6 3 8 - 1 6 4 6 ) , oder die gleichzeitig begonnene Karlskirche in Wien. Von kaum zu übertreffendem Erfindungsgeist ist dagegen die Raumgestaltung, die keine glatten Wände mehr benutzt. Altarnischen, Pilasterrahmungen, Säulen, Kurvaturen verbinden und trennen die Raumteile mit inszenatorischem Geschick, das mit illusionistischen Stuckaturen und Malereien, besonders in der Kuppelausgestaltung, kaum noch unterscheidbare Übergänge schafft und in der von Licht hinterfangenen Georgsstatue des Hauptaltars einen theatralischen Höhepunkt erreicht. Der Bau läßt im schlichten Äußeren davon wenig ahnen, eine Art von Dramaturgie, die auch beim Mariae Himmelfahrtsaltar der Augustiner-Chorherrenkirche von Rohr (Wandpfeilerbasilika, 1737—1766, Ä. Q . Asam) eine bühnenhafte Steigerung erfährt, die sowohl architektonisch, wie in Weltenburg, als auch skulptural ausgearbeitet ist. Dabei kann gerade im benediktinischen Bereich Theater und Bühnenspiel eine Rolle spielen (Boberski, Theater). Die in Weingarten ansatzweise gesuchte Weite des Raums fand in der Benediktinerkirche Ottobeuren ( 1 7 3 7 - 1 7 6 6 , J . M . Fischer) eine Fortführung, indem der Längsbau zugunsten einer betonteren Zentrierung und einer stärkeren Gewichtung des Mönchsraumes gestaltet wurde, so daß dem Eingangsraum nur ein J o c h , begleitet von je zwei Seitenkapellen, folgt und als Gemeinderaum diente; dem Vierungsraum mit halbrund geschlossenen, kurzen Querhausarmen schlössen sich das Chorjoch und der schmale Altarbereich an. Der Wechsel von weiter Flachkuppel über dem Gemeinderaum und halbkugeliger über der Vierung schafft den gesteigerten ,Raumgehalt' (Lieb). Die ersten Fassadenentwürfe von Ottobeuren hat Fischer bei der Zisterzienserkirche Fürstenzell (Niederbayern, 1 7 3 9 - 1 7 4 8 ) zur Ausführung gebracht, einem architektonisch anspruchslosen Wandpfeilersaal. Die Prämonstratenserkirche Schäftlarn ( 1 7 3 3 - 1 7 4 0 / 1 7 5 1 - 1 7 6 0 , F. Cuvillies d.Ä., J . M . Fischer) zeigt einen Zentralraum, der sich querhausartig ausweitet, dem aber schmälere Räume vorgesetzt bzw. alternierende Raumteile bis zum Dreiviertelkreis des Altarraums nachgeschaltet sind. Eine raffinierte Raumlösung, wie sie bei Wallfahrtskirchen häufiger anzutreffen ist, bietet die Benediktinerkirche in Neresheim (1745—1777/92, B. Neumann), eine längsrechteckige Wandpfeilerhalle mit Querhaus und leicht eingezogenem Chor, wobei die nüchterne Beschreibung die durch scheinbar einfache Schrägstellung der Pilaster, durch Gurtbögen und Kuppelschalen gewonnenen Raumteile und die durch Freistellung von vier Säulenpaaren in der Vierung entstehende Wirkung nicht erfassen kann. Auffallend ist die geringe Farbigkeit des scheinbar wandlosen Raumes. Einen vergleichbaren Grundriß weist die Benediktinerkirche R o t t a. Inn ( 1 7 5 9 - 1 7 6 7 , J . M . Fischer) auf, der jedoch die zarte Feinheit der Raumkomposition Neumanns fehlt. Die Grundstruktur wurde noch einmal in Wiblingen (Benediktiner, Ulm, 1 7 7 2 - 1 7 8 1 , J . G . Specht) aufgenommen, wobei die Möglichkeiten spätbarocker Kombinatorik von Raumteilen unterschiedlicher Form zur Anwendung kamen (Quadrat, Oval, Rechteck, Halbkreis), einschließlich kurviger Wandfluchten. Die helle Farbig-
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keit, die starke Durchfensterung, das zurückhaltende Dekor im Innern, das schlichte Äußere mit der Applikation eines Barockportals weisen schon stark klassizistische Züge auf.
Neresheim, Klosterkirche (1745-1777/92)
Summarisch erwähnt werden sollen die wenigen Saalbauten aus der zweiten Hälfte des 18. Jh., wie die Prämonstratenserkirche Roggenburg ( 1 7 5 2 - 1 7 5 8 ) mit Rokokodekor, Wiesensteig (Chorherrenstift, Langhaus 1 7 7 5 - 1 7 8 5 ) und Hechingen, wo die Kollegiatstiftskirche ( 1 7 8 0 - 1 7 8 3 , M . d ' I x nard) bereits klassizistische Anklänge zeigt. Zentralbauten sind bei süddeutschen Klosterkirchen selten. Z u den bedeutenden Zeugnissen gehört die Benediktinerkirche Ettal ( 1 7 1 0 - 1 7 1 8 , E. Zucalli; 1 7 4 5 - 1 7 4 8 , J . Schmuzer), ein im Kern zwölfeckiger Bau des 14. Jh., mit einer konkav-konvexen Doppelturmfassade, hoher Kuppel und ellipsenförmigem Choranbau. Von nicht minderem Rang ist die Kirche des Benediktinerklosters St. Blasien ( 1 7 7 0 - 1 7 8 3 , M.d'Ixnard), ein frühklassizistischer Rundbau mit querrechteckiger Vorhalle und flankierenden niedrigen Türmen. Der Gemeinderaum wird von einer Säulenstellung im Rund umgeben, die die riesige Kuppel trägt. Hinter dem Altar liegt der tiefe Längschor, der nach Äußerungen des Abts und Bauherrn in dieser Lage die Andacht befördere und die nicht mehr geliebten Mönche abschirme. Auffallend ist auch hier, daß die Wände stark durchfenstert sind und weitgehend in Weiß gehalten wurden. Die seltene Form des Rundbaus, vor allem in dieser Größe, ist vielleicht in dem Bestreben des Abtes begründet, auf vorderösterreichischem Gebiet ein besonders deutliches Zeichen zu setzen, unter Umständen auch in Parallele zum Zentralbau der Karlskirche in Wien. Die wenigen Klosterkirchen außerhalb des engeren Barockgebiets erreichen nur in seltenen Fällen die architektonische Qualität der süddeutschen, schweizerischen, böhmischen oder österreichischen Bauten. Auffallend ist auch hier die Verwendung der Gotik. Der Neubau der Benediktinerkirche Corvey ( 1 6 6 7 - 1 6 7 1 ) entstand als gotisch gewölbter Saal, ebenso die Franziskanerkirche in Paderborn ( 1 6 6 8 - 1 6 7 1 , A. Petrini) mit Kreuzgewölben auf Pilastern und eingezogenem Chor, die Fassade dagegen nach Vorbild des römischen Barock. Schlichter, aber vergleichbar, ist auch die dortige Kapuzinerkirche, zusätzlich mit altertümlichen Strebepfeilern .gotisiert'. (Eine Zusammenstellung der vielfach kleinen nachgotischen Klosterkirchen Westfalens findet sich: Monastisches Westfalen.) In Goslar-Grauhof entstand 1711 - 1 7 1 7 die Kirche des Augustiner-Chorherrenstifts als dreijochige Wandpfeilerkirche mit Kreuzrippengewölbe und eingezogenem Chor. Wie bei den Paderborner Kirchen wirken die barocken Altäre unorganisch eingestellt. Auch bei der Zisterzienserinnenkirche von Egeln (Bezirk Magdeburg, 1 7 3 2 - 1 7 3 4 ) , einem Saal mit Kreuzrippengewölben, polygonalem Chor und westlicher Nonnenempore, wirken die Altäre nur wie eingesetzte Möbel. Die Benediktinerkirche Prüm ( 1 7 2 1 - 1 7 3 0 ) entstand als dreischiffige Pfeilerbasilika mit Kreuzrippengewölbe und Maßwerkfenstern aber mit barocker, wenn auch altertümlicher Doppelturmfassade. Ebenfalls nachgotische Elemente weist die Franziskanerkirche St. Maximilian in Düsseldorf ( 1 7 3 5 - 1 7 3 7 ) auf, die als dreischiffige Backsteinhalle mit gotisierenden Kreuzgratgewölben auf Säulen ohne Emporen entstand. Im Innern wirkt der Bau deutlich altertümlicher als St. Andreas von 1629. Die Benediktinerkirche in Burtscheid (Aachen, 1 7 3 0 - 1 7 5 4 , J . J . Couven) zeigt dagegen einen quadratischen Kuppelraum, dem im Westen ein schmales, kurzes Langhaus und im Osten ein kurzer Chor mit Apsis angeschlossen sind. Dort, wo süddeutsche oder böhmische Meister tätig waren, erreichen die Bauten auch im Norden andere Qualität, wie etwa bei der Barockisierung der dreischiffigen gotischen Hallenkirche von Neuzelle (Bezirk Frankfurt/O., Umbau 1 6 5 4 - 1 6 5 8 / 1 7 3 0 - 1 7 4 0 ) . Als überragendes Beispiel ist die Benediktinerkirche (Dom seit 1752) in Fulda ( 1 7 0 4 - 1 7 1 2 , Dekor 1720, J . Dientzenhofer) zu nennen, eine nach römischem Vorbild entstandene kreuzförmige Anlage mit Doppelturmfassade (Vorbild St.
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Michael, Bamberg) und mit Vierungskuppel. Für den Raumeindruck maßgebend ist der Wechsel von schmalen und breiten Jochen; der lange Rechteckchor liegt hinter dem Altar. Die Franziskanerkirche Sparbrücken (Bad Kreuznach, 1 7 3 1 - 1 7 3 6 ) bietet einen Saal mit Stichkappentonne und reichen Sternrippengewölben, die baldachinartig tief gezogen sind. Die Stiftskirche St. Peter in Mainz ( 1 7 4 8 - 1 7 5 6 ) , eine lichte, fast filigrane Halle mit Kreuzgewölben auf dünnen Pfeilern, zeigt ebenfalls gotische Züge, ähnlich die Augustinerkirche in Mainz ( 1 7 6 8 - 1 7 7 6 ) , ein weiter Saal mit eingezogenem Chor. Zu den bedeutenden Barockbauten ist auch die Stiftskirche St. Paulin ( 1 7 3 4 - 1 7 5 4 , B. Neumann) in Trier zu zählen, deren Innengliederung durch Pilaster an Stelle von Wandpfeilern besondere Weite erhält, sowie die Zisterzienserkirche im nahen Himmerod (1734—1751). Aus dem schlesischen Bereich seien nur die böhmisch beeinflußten Großbauten in Grüssau (Zisterzienser, 1 7 2 8 - 1 7 3 5 ) mit mächtiger Doppelturmfassade und die Benediktinerkirche in Wahlstatt ( 1 7 2 3 - 1 7 3 1 , K.I. Dientzenhofer) genannt, die eine schwingende Raumkomposition nach süddeutsch-böhmischem Vorbild aufweist (Grundmann; H . G . Franz).
2.3.2. Jesuitenkirchen. Nur kurz kann auf die barocken Jesuitenkirchen (Aufhebung des Ordens 1773) eingegangen werden, die selten den Rang der Klosterkirchen erreichten. Die Bauten der rheinischen und niederrheinischen Provinz waren bis um 1700 durch die Verwendung gotischer Formen gekennzeichnet. Eine Ausnahme bildete die Paulskirche (Kleine Kirche) in Osnabrück an der Nordseite des Doms ( 1 6 8 5 - 1 6 8 8 , A. Hülse ?), die als dreischiffige Halle mit Emporen, Flachdecke in einem strengen, fast renaissancistischen Stil entstand. Die Kirche in Meppen ( 1 7 4 3 - 1 7 4 6 ) , mit Rundgiebelfassade, und der Bau in Hadamar ( 1 7 5 3 - 1 7 5 5 ) sind flach gedeckte Saalbauten. Zu den bedeutendsten Barockbauten Westfalens gehört die Jesuitenkirche in Büren (1754—1771), die als Basilika über dem Grundriß eines griechischen Kreuzes mit Vierungskuppel und Turm im Chorscheitel errichtet wurde, nachdem durch Erbfall die adelige Herrschaft an den Orden gelangt war. Auch die oberdeutsche Provinz brachte es nur zu bescheidenen Neubauten, wobei die großen älteren Kirchen und Kollegien den Bedarf gedeckt hatten. Es handelt sich fast immer um Wandpfeilerkirchen, die als saal- oder hallenartige Räume gestaltet sind. Wandpfeilersäle sind die Kirchen in Straubing ( 1 6 8 3 - 1 6 8 8 ) , Altötting ( 1 6 9 7 - 1 6 9 8 ) mit Querhaus und Emporen, Ellwangen ( 1 7 2 4 - 1 7 2 6 ) , Landsberg ( 1 7 5 2 - 1 7 5 4 ) , mit Doppelturmfassade. Wandpfeilerhallen stehen in Freiburg i.Br. ( 1 6 8 3 - 1 6 8 9 ) , mit Emporen und Stichkappentonne, und in Mindelheim ( 1 7 2 1 - 1 7 2 2 ) . Die Jesuitenkirche (Kapellenkirche) in Rottweil (1727) ist dagegen eine dreischiffige Hallenkirche mit Freipfeilern und Stichkappentonne. In der oberrheinischen Provinz entstanden die anspruchsvollsten Bauten, die im Gegensatz zu den Kirchen der anderen Provinzen z.T. auch von Architekten, die nicht dem Orden angehörten, gebaut wurden. St. Martin in Bamberg ( 1 6 8 6 - 1 6 9 3 , G . Dientzenhofer) zeigt eine mächtige Fassade zum Markt hin mit tiefen Nischen und gewaltigen Bogenöffnungen von fast renaissancistischer Strenge. Es handelt sich um eine Wandpfeilerhalle mit Emporen und Stichkappentonne sowie Flachkuppel über der Vierung. Das Vorbild von St. Michael, München, wird deutlich. St. Ignatius, Heidelberg ( 1 7 1 2 - 1 7 5 9 ) ist dagegen eine dreischiffige Hallenkirche mit Freipfeilern zum Mittelschiff und Wandpfeilern in gleicher Gestaltung, so daß die Außenmauern glatt wie um ein Pfeilergerüst gelegt wirken. Die mittlere Längstonne mit Stichkappen läßt den Eindruck eines romanischen Kreuzgratgewölbes entstehen. Der Barockfassade mit strenger Pilasterordnung stehen gotische Maßwerkfenster gegenüber. Der Turm wurde wie bei fast allen Jesuitenkirchen im Chorscheitel angesetzt. Der Bau muß im Zusammenhang mit den nahen großen Hallen des Barock in Groß-Komburg ( 1 7 0 7 - 1 7 1 5 ) , Schöntal ( 1 7 0 8 - 1 7 3 6 ) und der Unteren Pfarrkirche, Mannheim ( 1 7 0 6 - 1 7 2 3 ) , gesehen werden, als bewußte Fortsetzung der Tradition der deutschen Hallenkirchen. In völligem Gegensatz dazu, als fast rein italienischer Bau mit Ausnahme der Doppelturmfassade ist St. Ignatius und Franz Xaver in Mannheim (1733—1760, A. Galli da Bibiena) zu sehen, eine der aufwendigsten barocken Jesuitenkirchen, die als Wandpfeilerbasilika mit Emporen, Querhaus und Vierungskuppel im Anschluß an II Gesù und S. Ignazio, R o m , entworfen wurde. Die .italienische' Architektur wurde gewählt, um die Kirche als Teil des Ausbaus der fürstlichen Residenz zur Wirkung zu bringen, wobei ihr Rang in der ,modernen* Bebauung auch durch die städtebauliche Flankenstellung zum Schloß zum Ausdruck kommt. Von geringerem Rang ist St. Michael, Würzburg ( 1 7 6 5 - 1 7 9 8 ) , eine Wandpfeilerbasilika mit Querhaus, Vierungskuppel, Emporen, Tonnengewölbe mit Stichkappen und Chorscheitelturm, die erst nach Aufhebung des Ordens vollendet wurde. Von den schlesischen Jesuitenkirchen seien die Bauten in Neiße ( 1 6 8 8 - 1 6 9 2 ) , mit Doppelturmfassade, Breslau ( 1 6 8 9 - 1 6 9 8 ) und Glogau ( 1 6 9 6 - 1 7 0 2 ) erwähnt, alle ohne Querhaus und Kuppel.
Unter jesuitischem Einfluß entstand in der oberdeutschen Provinz eine interessante Form kirchlicher Raumgestaltung, die sog. Kongregationssäle, bei denen es sich um Saal-
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bauten für vielfach berufsständisch organisierte Laienvereinigungen (Marienverehrung) handelte. Bedeutend sind die Säle (in der Funktion von Aula und Kirche) in Amberg (1678), Dillingen (1689/1763), Augsburg (1715/1765) und die selbständigen Bauten in Altötting (1696), München (,Bürgersaal', 1710), Ingolstadt (1736) und Neuburg (1732) (Braun II).
2.3.3. Wallfahrtskirchen. Der barocke Kirchenbau fand in den Wallfahrtskirchen Ausdrucksformen, die sich auch aus der Sonderstellung der Gattung begründen. Zu den vor allem in Süddeutschland ausgeprägten lokalen —»Wallfahrten als Teil einer sich nach außen demonstrativ bekennenden Form des gemeinschaftlichen Glaubensvollzugs gehörten in der Architektur spektakuläre Formen, die Teil des Wallfahrtserlebnisses waren, wie ja auch die exponierte landschaftliche Lage der Wallfahrtskirchen als Teil einer sich steigernden Begeisterung, ja Verzückung in der Annäherung zu sehen ist. Die Wallfahrt als Mittel der Glaubensfestigung und der Außenwirkung stand sicher im Vordergrund, doch darf sie als Wirtschaftsfaktor nicht unterschätzt werden, der vor allem für die ,Betreiber' der Kirchen (vielfach Klöster wie Salem in Birnau; Waldsassen in Kappel; Langheim in Vierzehnheiligen) Quelle erhöhter Einnahmen war, die wiederum in besonders aufwendige Kirchenbauten flössen, um u. a. die Attraktivität des Ziels zu erhöhen. Bei Wallfahrtskirchen sind häufig zentralisierende Grundrisse zu beobachten, die auch zum Zweck einer Konzentration der Gläubigen um das Kultbild und aus Gründen der Gemeinschaftsbildung, vielfach aber auch der Symbolik gewählt wurden, wobei allerdings das Außergewöhnliche der Form als Anziehungspunkt nicht unterschätzt werden darf. Zu nennen sind zunächst die Zentralanlagen. Zu den frühen süddeutschen Beispielen gehört Maria Birnbaum (Oberbayern, 1 6 6 1 - 1 6 6 8 , K. Bader, Stuck M . Schmuzer), ein im Äußeren durch vielkuppelige Silhouette und Baukörpermassierung die komplizierte Raumfolge andeutender Bau, bei dem diese mit einer westlichen halbkreisförmigen Vorhalle beginnt, an die sich ein querovales Vorjoch anschließt, dem die Rotunde des Gemeinderaums folgt; Chor und Altarraum nehmen die westlichen Grundformen z.T. auf und ein ovaler Turmunterbau schließt den Bau ab.
Maria Birnbaum, Wallfahrtskirche ( 1 6 6 1 - 1 6 6 8 ) Die Dreifaltigkeitskirche in Kappel (Oberpfalz, 1 6 8 4 - 1 6 8 9 , G. Dientzenhofer) besteht im Grundriß aus einem von drei Halbkreisen (mit je einem Altar) gebildeten Zentralbau mit Türmen (darin Treppen zu den Emporen) zwischen den Anschlüssen; die Dreipaßanlage (Trinitätssymbolik, kein Gnadenbild vorhanden) ist von einem niedrigen Umgang für Wallfahrer umgeben. Vergleichbare Grundrisse findet man bei der Wallfahrtskirche Frauenbrünnl (Straubing, 1 7 0 5 - 1 7 0 7 ) und der Pfarrkirche in Dommelstadl (Niederbayern, Dreifaltigkeitskirche, 1 7 4 7 - 1 7 5 1 ) . Eine Steigerung er-
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fuhr diese Konfiguration in der Dreifaltigkeitskirche von Stadl-Paura (Oberösterreich, 1 7 1 4 - 1 7 2 4 ) ; wie ja generell festzustellen ist, daß die österreichischen und böhmischen Barockarchitekten wesentlich kunstvollere Entwürfe zur Ausführung bringen konnten. Die Marienkirche in Vilgertshofen (Oberbayern, 1686-1692, J . Schmuzer, Turm 1732) zeigt einen fast quadratischen Mittelraum mit eingezogenen, halbrund geschlossenen Kreuzarmen an vier Seiten; ein Chorumgang und die Emporen zwischen den Wandpfeilern machen das Gnadenbild im oberen Teil des doppelgeschossigen Altars erlebbar. Das griechische Kreuz als Grundfigur ist nicht selten, etwa bei der Mariahilfkirche in Vilshofen (1691-1694) oder ausgeprägt als fast quadratische Anlage mit vier Kreuzarmen in Freystadt (Oberpfalz, Mariahilfkirche, 1 7 0 0 - u m l 7 1 0 , A. Viscardi). Auch hier sind Emporen vorhanden; das Gnadenbild ist hoch über dem Altar zurückgesetzt zur Schau gestellt. Die Marienwallfahrtskirche Käppele, Würzburg ist ebenfalls eine Anlage über griechischem Kreuz (1748-1752, B. Neumann), die als Anbau an eine bestehende Kapelle (1653/1683) entstand; mit der Doppelturmfassade wird die I langlage des Baus über der Stadt zeichenhaft betont. Am Rande sei hingewiesen auf die zahlreichen Zentralbauten in Böhmen und Mähren, die zu einem Teil, wie die komplizierte Sternanlage am Grünen Berg (Zelenä Hora, 1719-1722) bei Saar (Zd'är nad Säzavou) von J . Santini (Queysanne, Chautant...), in gotischen Formen, zum anderen Teil als Barockbauten, wie die Kirche von Schloß Frain (Vranov nad Dyji, 1698-1700, J . B. Fischer v. Erlach), errichtet wurden. Für Schlesien sei an die Wallfahrtskirche in Albendorf (1716-1721) mit ovalem Innenraum, erinnert. An Zentralbauten in den nördlicheren Gebieten sind die kleinen Wallfahrtskirchen in Telgte (Kreis Münster, 1 6 5 4 - 1 6 5 7 , Chor 1763), eine schlichte sechseckige Marienkirche, und die Gnadenkapelle in Kevelaer (Niederrhein, 1654), ein ebenfalls sechseckiger Kuppelbau, zu nennen — beide zwischen Renaissance und Barock stehend. Zum Bereich der nachgotischen Kirchen des frühen 17. Jh. gehört die Kreuzbergkirche (1627-1628, Ch. Wamser) in Bonn-Poppelsdorf, die 1 7 4 2 - 1 7 5 1 durch den Anbau der,Heiligen Stiege' als selbständiger Bau in ihrer Funktion gesteigert wurde - eine Anlage in der Nachfolge der ,Scala Santa' in Rom (1590); die einarmig-dreiläufige Stiege mündet in einer dreischiffigen Kapelle (Schulten). Hallenartige R ä u m e mit zentralisierender Wirkung treten bei den bedeutendsten g r o ßen Wallfahrtskirchen auf, wobei sowohl die G r ö ß e der R ä u m e als auch wohl die Tradition der deutschen Hallenkirche als bedeutsame Gestalt eine Rolle spielen (Riedl; H i p p ) . Die Marienwallfahrtskirche Steinhausen (zum Reichsstift Schussenried, 1728-1733, D. Zimmermann) bietet einen ovalen Hallenraum mit Freipfeilern, wobei die .Seitenschiffe' auf Umgänge reduziert sind, deren Quertonnen sich auf das Mitteloval konzentrieren. Im östlichen querovalen Altarraum waren urspr. Emporen (Nähe zum Kultbild im oberen Teil des Altars) eingebaut. Der Hallenraum mit Freipfeilern ist in der Wirkung wesentlich leichter und trotz barocker Innovationen in der Erscheinung traditionsgebundener als die reinen Ovalräume etwa der Dreifaltigkeitskirche in Salzburg (1702) oder in Weltenburg (1718). Der Nachfolgebau, die Kirche in der Wies (1745-1754, D. Zimmermann) bedeutet eine Steigerung zu einer leichteren Architektur, indem die Freipfeiler des Ovals (eigentl. zwei Halbkreise) zu Stützenpaaren aufgelöst werden und den Umgängen noch mehr an Wirkung genommen wird. Auffallend ist das tiefe, von Emporen (mit seitlicher Säulenstellung) flankierte, chorartige Altarhaus mit doppelgeschossigem Altar. Eine Übernahme der mittelalterlichen, dreischiffigen Hallenkirche durch Barockisierung stellt die Kloster- und Wallfahrtskirche Andechs (1751-1755) dar. Einen Höhepunkt unter den barocken Wallfahrtskirchen bildet der Bau in Vierzehnheiligen (1743-1772, G. H. Krohne, B. Neumann, Stuck Brüder Feichtmayr, Ausmalung G. Appiani). Im Kerngedanken stellt er eine dreischiffige kreuzförmige Basilika mit Emporen und Querhaus dar. Der östliche Teil ist eine Dreikonchenanlage wie in Gößweinstein. Das Innere wird aus elliptischen Raumteilen im Langhaus und aus kreisrunden im Querhaus gebildet, die aus der unterschiedlichen Kurvatur der Pfeilerstellung entstehen. Mit der hohen Doppelturmfassade, bei landschaftlich exponierter Lage gegenüber von Banz, verkörpert die Kirche auch im Äußeren die erlebnisorientierte Frömmigkeit des Wallfahrtswesens. Häufiger ist jedoch auch unter diesen Bauten die hallenartige Wandpfeilerkirche. Ein frühes Beispiel ist die Maria-von-Loreto-Kirche auf dem Schönenberg bei Ellwangen (1682-1695, M . u. Ch. Thumb, Renovierung 1709-1729). Sie enthält Emporen, eine mittlere Längstonne und ein kaum ausladendes Querhaus. Hinter dem Hauptaltar im tiefen Chor die alte Loretokapelle (1639). Die Emporenräume mit Quertonnen zwischen den tiefen Wandpfeilern sind hoch geführt, so daß eine hallenartige Weite entsteht, und mit den Freipfeilern im Chor findet sich hier das Vorbild für die Klosterkirche Obermarchtal. Anregungen hatte der Bau aus St. Michael, München und von der Jesuitenkirche in Dillingen genommen. Weitere Wandpfeilerkirchen sind die Wallfahrtskirche in
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Amberg (Oberpfalz, 1697-1703, W. Dientzenhofer?) mit Emporen, die Dreifaltigkeitskirche in Gößweinstein (Oberfranken, 1730-1739, B. Neumann) mit Doppelturmfassade; im Grundriß ein lateinisches Kreuz, Querhaus und Chor mit Gnadenaltar sind dreiseitig geschlossen, so d a ß im Osten ein stark zentralisierter Raum entsteht (Trinitätssymbolik?). Kurz zu erwähnen ist Maria Steinbach (Memmingen, 1746-1753) mit Emporen. Von den saalartigen Wandpfeilerkirchen seien genannt die Heilig-Blut-Kirche in Erding (Oberbayern, 1675-1677, Stuck 1704) und Maria Limbach (Franken, 1751-1755), ein Spätwerk B. Neumanns in landschaftlich herausragender Lage; es handelt sich um eine trocken-kantige Wandpfeilerkirche mit Emporen, herkömmlich eingezogenem Chor und strenger, altertümlicher Fassade. Eine reine Saalkirche bietet Birnau (Bodensee, 1746-1750, P. Thumb) mit kapellenartigen Ausweitungen an Stelle eines Querhauses, mit eingezogenem, fast quadratischem Chor und nochmals eingezogenem, halbkreisförmigem Altarraum. Der Raum ist von einer schmalen Empore umzogen. Im Gesamteindruck bietet er bereits Weite und Helligkeit der frühklassizistischen Kirche in Wiblingen. Ein schon klassizistisches Beispiel für eine Wallfahrtskirche ist die Maria Himmelfahrtskirche in Oggersheim (Ludwigshafen, 1774-1777, P.A. Verschaffelt), ein Saalbau mit weitem, gedrücktem Tonnengewölbe, der eine Loretokapelle umschließt (1729-1733).
Vierzehnheiligen, Wallfahrtskirche (1743-1772)
2.3.4. Schloßkapellen. Die katholischen Schloßkapellen und -kirchen können nur kurz und exemplarisch erwähnt werden, da es sie in großer Zahl in den vielen barocken Neubauten von Schlössern gab, ihr Bestand aber nur sehr schlecht dokumentiert ist. In Süddeutschland sei auf die Kapellen der Schönbornschlösser in Pommersfelden (Schloß Weißenstein, 1714-1718) und Wiesentheid (1755) hingewiesen, zu denen als herausragende Bauleistung die Kapelle der Würzburger Residenz zu rechnen ist - unter den in Schloßflügeln integrierten Kapellen sicher die bedeutendste (1732-1734, Ausstattung 1735-1743, B. Neumann, J.L.v. Hildebrandt); es handelt sich um einen aus der Kombination von Längs- und Querovalen gebildeten Raum. Die Kapelle in Werneck (Kr. Schweinfurt, 1745, B. Neumann) bildet einen fast quadratischen Raum mit innerem Oval, dessen Wände durch Nischen zwischen Mauerzungen aufgelöst sind. Im westlichen Süddeutschland ist auf die Kapelle in Ettlingen (1723-1733), einen längsovalen Saal, und auf die neben dem Schloß stehende Kapelle in Wolfegg (1733-1742, J . G . Fischer), einen Wandpfeilersaal, zu verweisen. In Westfalen finden sich größere Räume in Nordkirchen (1705-1714) und Münster (1767-1773, J. C. Schlaun), als Endpavillon eines Schloßflügels, und vor allem der Bau in Clemenswerth (1737-1739, J . C . Schlaun), der als Teil des Pavillonsystems der Schloßanlage als fast quadratischer Saalbau errichtet wurde. Die kleine frühklassizistische Kapelle im Bonner Schloß (1779) ist Beispiel f ü r viele sehr kleine Saalräume. In Norddeutschland ist die Kapelle von Liebenburg (Kreis Goslar, 1758-1760) als Teil der fürstbischöflichen (Clemens August) Sommerresidenz im Hildesheimer Bistum zu nennen, ein Saalbau mit dreiseitig umlaufenden Emporen und reicher perspektivischer Malerei auf der Flachdecke. Den Rahmen einer Kapelle sprengt bei weitem die Hofkirche in Dresden (1739-1755, G. Chiaveri, J . C h . Knöffel), die eine ungewöhnlich komplizierte Grundrißlösung aufweist, der eine fünfschiffige Basilika zugrunde liegt, mit einer nicht minder komplizierten Raumnutzung durch Umgän-
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ge, Eckkapellen, Emporenbrücken zwischen den Pfeilern, bei fast völlig abgetrennten Seitenschiffen. Im Hauptraum finden sich in der Säulengliederung und den Rundungen der Schmalseiten Parallelen zur Schloßkapelle in Versailles. Der Gedanke einer Beziehung zu Rekonstruktionen des Salomonischen Tempels (Villalpando), vermittelt durch Jesuiten, wäre auch für die Außengestaltung zu bedenken und könnte durch die Rolle des Katholizismus am sächsischen Hof von Belang sein. Zu verweisen ist auch auf die oft prunkvollen Schloßkirchen der Deutschordensniederlassungen, etwa in Mainau (1732-1739, J . C . Bagnato), Bad Mergentheim (1730-1736) oder Ellingen (Mittelfranken, 1746-1752, vgl. Gubler). Nur am Rande soll das breite Feld bürgerlicher Haus- und Privatkapellen erwähnt werden, bei dem sich nur schwer ein Überblick gewinnen läßt (vgl. die Reihe Das deutsche Bürgerhaus, hg. v. G. Binding, bes. etwa den Band Regensburg). Beispielhaft seien je eine überdurchschnittliche Leistung genannt: Um 1645 entstand in Straubing (Ludwigsplatz) im sog. Höllerhaus eine zweijochige, frühbarocke Kapelle mit achtseitiger Kuppelöffnung. Zu den herausragendsten Kirchenbauten überhaupt gehört in München St. Johann Nepomuk (Asamkirche, 1733-1746, Ä.Q. und C.D. Asam), neben dem Wohnhaus der Brüder gelegen und ursprünglich als Privatkapelle gedacht. Die Fassade ist aus der Häuserflucht leicht vorgezogen aber eingebaut; mit ihren hohen Bogenstellungen und mit dem Giebel ist sie deutlich von der Wohnbebauung abgesetzt. Im Innern bietet sie einen längsrechteckigen Saal mit ovaler Vorhalle, einen zweigeschossigen Altar in ovalem Altarraum, schmale, umlaufende Emporen und inszenatorische Beleuchtung. 2.3.5. Sonderformen. Im Unterschied zum protestantischen macht sich im katholischen Kirchenbau die Variationsbreite der Gattungen bemerkbar. Propsteikirchen entstanden häufig als Zentralbauten, von denen beispielhaft auf B. Neumanns Bau in Holzkirchen/Unterfranken (1728-1730) verwiesen sei, bei dem ein äußeres Achteck einen inneren Kreisraum umschließt. Ebenfalls ein Zentralbau ist die Clemenskirche in Hannover (1711-1718, T. Giusti), entstanden über griechischem Kreuz mit Vierungskuppel und niedrigen Chorflankentürmen. Die Barockisierung mittelalterlicher Dome ist zu erwähnen; als Beispiele seien Passau (Fassade, Langhaus, 1668-1686), unter Beibehaltung des gotischen Chors im Außenbau, Freising (1723-1724, Gebr. Asam) und Hildesheim (1724-1734) genannt. St. Michael, München-Berg am Laim (1738-1751, J . M . Fischer) wurde für eine Michaelsbruderschaft und als Hofkirche errichtet. Der Bau zeigt eine Doppelturmfassade mit schmaler, niedriger Vorhalle, ein sich anschließendes weites Oktogon mit querhausartigen Erweiterungen als Gemeinderaum, dem ein tiefer, polygonaler Chor folgt; den Endpunkt bildet der Altarraum. Ein Schmuckstück barocker Architektur im Norden ist die ehemalige Hospitalkirche St. Clemens in Münster (1745-1753, J . C . Schlaun), die über einem komplizierten Grundriß aus ineinander geschobenen Dreiecken entstand. Im Innern zeigt sie einen überkuppelten Rundraum mit Altarkapellen und Nischen für Beichtstühle. Die Schönbornsche Grabeskirche, St. Cäcilia und St. Barbara, in Heusenstamm (Hessen, 1739-1744, B. Neumann) sei als Beispiel für diese Gattung genannt.
2.3.6. Pfarrkirchen. Die spektakulären Wallfahrtskirchen des Barock dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß Pfarrkirchen auch im 17. und 18. Jh. die Masse der Sakralbauten ausmachten, wobei der örtliche Adel und Klöster vielfach als Finanziers auftraten und somit hervorragende Leistungen durch bedeutende Architekten möglich wurden; wenn auch die Bauten kleiner ausfielen und massive Wandpfeiler nicht nötig waren, wurde doch oft das Schema (etwa die tiefen Chöre) der Klosterkirchen übernommen. Auch bei den Pfarrkirchen bleibt die Halle als traditionelle Raumform erhalten (Riedl). Vielfach wurden mittelalterliche Bauten modernisiert, wobei die Halle jeweils erhalten blieb, ja betont wurde, wie bei der Heilig-Kreuz-Kirche, Augsburg (1716-1719) oder der Heilig-Geist-Kirche, München, bei der 1724-1730 die spätgotische Staffelhalle zu einer barocken Hallenkirche (Dekor Gebr. Asam) umgewandelt wurde. Neubauten sind die Hallenkirchen St. Sebastian (Untere Pfarrkirche, 1706-1723) in Mannheim, ein dreischiffiger Bau mit Stichkappentonne, und das Langhaus von St. Peter, Würzburg (1717-1720), eine dreischiffige Halle ohne Querhaus, mit Emporen, bei Übernahme des gotischen Chors. Zu den späten Bauten gehört St. Verena, Wurzach (1775-1777) mit eingezogenem Chor, Flachdecke, Emporen - nach dem Vorbild der Damenstiftskirche in Buchau (1773), mit bereits klassizistischen Zügen. In Brandenburg ist auf die Heilig-Kreuz-Kirche, Neuzelle (1728-1734) zu verweisen, eine dreischiffige Halle mit Querhaus, Vierungskuppel, die im Zusammenhang mit der örtlichen Stiftskirche gesehen werden muß und unter böhmischem Einfluß entstanden ist (im Kern wohl noch der Bau des 14. Jh.). Für das Rheinland sei St. Salvator, Nievenheim (Grevenbroich, 1741-1743), als seltenes Beispiel einer dreischiffigen Backsteinhalle mit Kreuzgratgewölben genannt.
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Basiliken treten fast nur als barockisierte, mittelalterliche Bauten auf. Zu nennen sind die Stadtpfarrkirchen in Kisslegg ( 1 7 3 4 - 1 7 3 8 ) , Biberach (Simultankirche, 1 7 4 6 - 1 7 4 9 ) und Pfullendorf (1751). Komplizierte Grundrißlösungen mit großzügigen Raumausweitungen findet man vor allem bei Pfarrkirchen, die weitgehend vom Adel gefördert wurden, wie etwa B. Neumanns Bauten durch die Schönborns. Dazu gehört die Heilig-Kreuz-Kirche, Etwashausen (Kitzingen, 1741 - 1 7 4 5 , B. Neumann), eine kreuzförmige Anlage, die durch die freistehenden Doppelsäulen in den Ecken der Vierung eine Transparenz gewinnt, die unterstrichen wird von der bewußt gewählten Schmucklosigkeit; hierin weist sie Parallelen auf, zu der ebenfalls saalartig weiten Dreifaltigkeitskirche, Gaibach (Kreis Kitzingen, 1 7 4 2 - 1 7 4 5 , B. Neumann), einer kreuzförmigen Anlage, bei der Querhausarme und Altarraum eine Dreikonchenanlage aus Ovalräumen, bei ovaler Vierung, bilden. St. Peter, Bruchsal ( 1 7 4 0 - 1 7 4 6 , B.Neumann), geht ebenfalls auf eine Schönbornsche Initiative zurück (Grablege); es handelt sich um einen Zentralbau über griechischem Kreuz mit zwei Chorflankentürmen, hoher Vierungskuppel und Tonnenwölbung.
Gaibach, Dreifaltigkeitskirche ( 1 7 4 2 - 1 7 4 5 ) Bei Pfarrkirchen war die vorherrschende Raumform der Saal, mit der die Bedürfnisse nicht zu großer Gemeinden am günstigsten bedient werden konnten, wobei, besonders in Süddeutschland, eine Fülle von geistvollen Varianten in der Gestaltung von Grundriß, Wänden, Wölbung, Malerei und Stuck auftraten. Beispielhaft sei verwiesen auf St. Mauritius, Wiesentheid ( 1 7 2 7 - 1 7 3 2 ) , wo der längliche Saal mit schwerer perspektivischer Architekturmalerei zentriert werden sollte; auf St. Martin, Marktobcrdorf (Schwaben, 1 7 3 2 - 1 7 3 8 , J . G . Fischer), auf die Frauenkirche, Günzburg (1736—1741, D. Zimmermann). Die Mariae Himmelfahrtskirche, Schongau ( 1 7 5 0 - 1 7 5 3 , D. Zimmermann) gehört dagegen zu den großen Pfarrkirchen, die als Wandpfeilerbau mit eingezogenem Chor errichtet wurden. Als Beispiele für besonders erfindungsreiche Grundrisse seien die kleinen Bauten in Landsberg/Lech, Johanniskirche ( 1 7 5 0 - 1 7 5 2 , D. Zimmermann) und die Heilig-KreuzKirche in Berbling (Oberbayern, 1 7 5 1 - 1 7 5 6 , K.I. Dientzenhofer) genannt; letztere ist ein saalartiger Raum mit der Abfolge von Ovalraum, konkav eingeschwungenem, länglichem Oktogon und ovalem Altarraum, wobei wahrscheinlich die Nepomukkirche, Prag (Neustadt), von 1739 als Vorbild gedient hat. Zu den späten Saalbauten mit bereits klassizistischen Zügen gehört St. Johannes Baptist, Dischingen ( 1 7 6 9 - 1 7 7 1 , J . Dossenberger).
Berbling, Heilig-Kreuz-Kirche ( 1 7 5 1 - 1 7 6 6 )
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In den nördlichen Gebieten sind ebenfalls Saalbauten der verbreitete Typ. Zu verweisen ist auf die thüringischen, ehemals fuldaischen, Bauten in Dermbach (1732-1735) und in Schleid (1743-1746). Ein bedeutender Saalbau mit Einturmfassade ist St. Johann in Saarbrücken-St. Johann (1754-1758, F. J . Stengel). Zu den qualitätsvollsten Barockbauten Norddeutschlands ist St. Joseph, Hamburg-Altona (1718-1723), zu zählen, ein Saalbau mit vielfach geschweifter, phantasiereich gestalteter Fassade. Ambitioniert in der Gestaltung und im nachgeahmten Vorbild, politisch als Zugeständnis an den katholischen Adel des Königreichs und als Teil einer städtebaulichen Umgestaltung zu sehen ist die Hedwigskirche, Berlin (1747-1778, G. W. v. Knobeisdorff), die als ursprünglich einzige katholische Kirche der Stadt, auf Befehl Friedrichs II. ausdrücklich nach dem Vorbild des Pantheons in Rom gestaltet werden sollte. Dem Rundbau mit übergiebeltem Säulenportikus, hoher Kuppel und einem rückseitigen kreisrunden Sakristeianbau liegt ein ähnlicher Gedanke zugrunde wie dem Ovalbau der Französischen Kirche (1753) in Potsdam (Giersberg; Nörten). Die Elisabethkirche, Nürnberg (1784-1805), ist als Kirche der Deutschordensniederlassung vergleichbar, sowie eine große Zahl von Kirchen über rundem Grundriß des 19. Jh.
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IV. 19. und frühes 20. Jahrhundert 1. Vorbemerkung 2. Die Entwicklung bis 1840 3. Historismus (1840-1870) 4. Die großen Pfarrkirchen bis zur Jahrhundertwende 5. Strömungen nach der Jahrhundertwende 6. Kirchenvollendungen im 19. Jahrhundert 7. Denkmalkirchen, Votivkirchen, Gedächtniskirchen 8. Garnisonkirchen 9. Wallfahrtskirchen (Literatur S. 513)
1. Vorbemerkung Der Kirchenbau des 19. Jh. läßt sich in der Form eines lexikalischen Beitrags noch viel weniger umfassend darstellen als das für die früheren Epochen der Fall war. Eine geographische Aufteilung würde genauso oberflächlich bleiben müssen wie eine Einteilung nach Formen (Längsbau, Querbau, Zentralbau), Typen (Basilika, Halle), nach Gattungen (Bischofs-, Pfarrkirche) oder gar nach Baustilen. Die Einflußnahme auf den Kirchenbau durch patronatsherrliche Regelungen landes- oder grundherrlicher Träger, durch Konsistorien oder Generalvikariate, durch Baubehörden und Architekten entzogen ihn in diesem Jahrhundert immer deutlicher einer allgemeinen Verbindlichkeit. Die Unterscheidung nach Konfessionen gibt bei den großen Annäherungen keine sinnvolle Gliederung. Allerdings wird, wegen der intensiveren Suche in Theorie und Praxis nach neuen Formen, der
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protestantische Kirchenbau im Vordergrund stehen. Eine chronologische Vorgehensweise, auch in Entsprechung zum zeitgenössischen Fortschrittsgedanken, bietet sich an. Wichtige Erscheinungen können nur an Einzelbauten vorgestellt werden, die zwar beispielhaft sind, aber nicht die Fülle des Möglichen abdecken. Das Schwergewicht der Darstellung liegt auf den Pfarrkirchen. Einzelthemen, die für das Jahrhundert besonders Auffälliges benennen, bilden gesonderte Abschnitte. Um eine notwendige Beschränkung und eine ausreichende Deutlichkeit zu erhalten, steht die deutsche Architektur im Vordergrund.
2. Die Entwicklung bis 1840 Nach den Befreiungskriegen formulierte der Berliner Architekt Ludwig Catel 1815 die Anforderungen an eine moderne protestantische Kirche: „ . . . bezweckt die Königl. Preuß. Regierung, dem nach einer geläuterten Religiosität strebenden Zeitgeist eine sichere und feste Richtung . . . zu geben. Ohne der Freiheit der Vernunft und den Ahnungen des Gemüths Gewalt anzuthun, soll das Ritual nichts anderes bezwecken, als ein äußeres Band der Religiosität der christlich-protestantischen Gemeinde zu sein . . . " . Die patriotisch geprägte Verehrung des deutschen Mittelalters legte den gotischen Stil für Kirchenneubauten nahe. Die wirtschaftliche Lage und die Mentalität einer Nachkriegsgesellschaft forderten dagegen sparsamste Bauten. Als Beispiel für die unter Schinkels Leitung in der preußischen Bauverwaltung auf geringen Aufwand zielenden Pfarrkirchen seien die Bauten für die nördlichen Vororte Berlins genannt. Seit 1828 hatte Schinkel vier protestantische Kirchen entworfen, die bis 1835 gebaut wurden und z.T. auch seinem Entwurf einer ,Normalkirche' von 1825 entsprachen. Die Nazarethkirche (Wedding) ist ein einfacher Saalbau ohne Turm in Sichtziegelmauerwerk. Einfache Rundbogenfenster gliedern das Äußere; im Innern sorgen sie für eine auch symbolisch zu deutende Lichtführung, indem die sehr kleinen Erdgeschoßfenster unter den Emporen kaum Licht einlassen, während die großen Obergeschoßfenster für eine Lichtilut von oben sorgen. Treppenhäuser und Nebenräume sind in den Baukörper integriert, nur der Altar wird in seiner Stellung durch eine nach außen gezogene Apsis betont.
Nazarethkirche, Berlin (Schinkel)
Schlichte Bauten wie diese prägten bis in die vierziger Jahre die Pfarrkirchen vor allem in der preußischen Provinz, etwa die Kirchen in Warendorf (1829) oder Peckelsheim (1828) in Westfalen. Wenn auch die längsrechteckigen Lösungen überwiegen, so gab es doch eine Reihe von Zentralbauten, zu denen die achteckige Kirche in Bischmisheim (Saarland), die 1824 nach Schinkels Plänen entstand, oder der Bau in Urbach (bei Neuwied), der 1826 gebaut wurde, gehören. Als wesentlich größerer Zentralbau ist das Zwölfeck der protestantischen Elftausend-Jungfrauenkirche in Breslau zu nennen (C. E Langhans, 1821-1823). Auch bei großen Bauten behält Schinkel den kompakt-geschlossenen, alle Raumteile integrierenden Grundriß bei. Betraum, Türme, Sakristeien, Apsis sind ins Rechteck eingeschlossen. Die Vermeidung basilikaler Aufrisse bei protestantischen Kirchen zur besseren Nutzung des Gesamtraumes für die Einstellung von Emporen erlaubt auch im Außenbau die geschlossene Form, die nur durch die Türme bewußt verlassen wird. Beispiele sind die Kirche in Straupitz (Brandenburg, 1826—1832) und die Nikolaikirche in Potsdam (Entwürfe ab 1826) als Kuppelbau über einem Quadrat. Vergleichbar
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in der Konzentration des Grundrisses und in der Geschlossenheit des Außenbaus sind auch die Bauten anderer Architekten dieser Jahrzehnte: C. L. Wimmeis St. Pauli-Kirche in Hamburg (1816-1820), C.F. Hansens Kirche in Husum (1829-1833) oder F. Weinbrenners Dorfkirchen in Baden (Scherzheim, 1810-1812, Kleinsteinbach, 1806-1817, Langensteinbach, 1826-1828) sind zu nennen. Die Variationsbreite der Möglichkeiten, besonders bei großen Bauten, zeigt die protestantische Stadtkirche in Karlsruhe, die entgegen den Anforderungen als langer Saal mit dicht gestellten Emporen errichtet wurde (F. Weinbrenner, 1802-1816). Die Eingliederung des Baues mit Säulenportikus und hohem Turm in ein städtebauliches Konzept des Hauptplatzes, das die Kirche als Pendant zum Rathaus verlangte, führte zu einer solchen Lösung. Der Zentralbaugedanke dagegen war nicht auf den protestantischen Kirchenbau beschränkt, denn gerade in Karlsruhe entstand die katholische Stephanuskirche (F. Weinbrenner, 1808-1814) über einem griechischen Kreuz mit riesiger Kuppel. Sicher nicht ohne Einfluß war diese Lösung auf die katholische Kirche in Darmstadt (G. Moller, 1822-1826), die als Rundbau entstand. Bei der Planung spielte der Gedanke einer Entsprechung zum Pantheon in Rom die entscheidende Rolle, wenn auch der Portikus nicht ausgeführt wurde. Nicht die durch den Gottesdienst erforderliche Raumform steht im Vordergrund der Planung, sondern die in der Tradition und in ihrem Charakter als architektonisches Meisterwerk bewunderte antike Kirche (ehemalige Tempel) bestimmt das Interesse. In diesem Sinn ist auch der katholische Kirchenbau in München mit seiner Vielfalt an Formen und Stilen während der Regierung Ludwig I. zu verstehen. Die Bauten sind auch Abbild der „geschichtlichen Wende- und Glanzpunkte der Kirchenbaukunst" und architektonischer Ausdruck eines katholisch-politischen Machtanspruchs Bayerns gegenüber den protestantischen Staaten (Allerheiligen-Hofkirche, romanisch, 1827-1837, L. v. Klenze; Ludwigskirche, im „gereinigten byzantinischem Style", 1828-1844, F. v. Gaertner; St. Bonifazius, frühchristlich, 1828-1850, F. Ziebland; MariaHilf-Kirche, gotisch, 1831-1839, J . D . Ohlmüller). Die Anfänge historistischen Denkens werden hier bereits deutlich. Die normale Pfarrkirche dieser Jahrzehnte war jedoch noch von strengen, normierenden Vorstellungen bestimmt, die die Architekten einengten. So verlangten die .Grundsätze' für den Bau von Kirchen in Baden 1830 für katholische Kirchen dreischiffige Langhäuser und lange Chöre. Bei protestantischen Bauten fallen diese Bestimmungen weg, eine zentralisierende Tendenz wird gefordert. Latent waren bestimmte Vorstellungen auch in Betreff der äußeren Gestaltung und Differenzierung der Konfessionen vorhanden, wenn sie in der Alltagspraxis auch nicht immer zum Tragen kamen. Bezeichnend war Schinkels Eingriff in die Planungen zur katholischen Kirche von Neheim, 1817. Die vorgelegten Pläne von klassizistischen Hallen- und Saalbauten, z.T. mit Emporen, lehnte er ab und entwarf eine langgestreckte gotische Basilika mit Westturm und deutlich ausgeprägter Altarapsis. D . h . die sehr geschlossenen Anlagen werden bei katholischen Bauten zugunsten der Basilika und der Betonung von Chor und Altarraum verlassen. Generell kann allerdings auf Grund dieser Kriterien keine Unterscheidung vorgenommen werden, da in der Baupraxis eine stark nivellierende Tendenz zu beobachten ist. Die Geschlossenheit von Grundriß und Baukörper ist etwa bei der katholischen Maria Himmelfahrt-Kirche in Rees (1820-1828) oder bei St. Laurentius in WuppertalElberfeld (1829-1835, A. v. Vagedes) vollkommen gewahrt. Die im 18. Jh. häufigen Querkirchen tauchen nur noch vereinzelt auf, etwa in Fallersleben (1804), Nordheim (Hessen, 1817), Liebenstein (1820) oder Schömberg (Württemberg, 1833). Dabei wird nicht nur im Inneren dieser protestantischen Kirchen das Gestühl z. T. halbkreisförmig aufgestellt, sondern bei der Kirche in Adelshofen (Baden, 1832) trat auch das Halbrund im Äußeren in Erscheinung — eine Neuerung des zeitgenössischen Theaterbaus. Eine Sonderform dieses Typs ist auch die erste protestantische Kirche in München, St. M a t t h ä u s (J.N. Pertsch, 1827-1833), die als Querbau mit abgerundeten Schmalseiten und hohem Mittelturm errichtet wurde und in Form und exponierter Lage die Ausnahmesituation der Protestanten in München dokumentierte.
Die Geschlossenheit in Grund- und Aufriß weicht jedoch schon in den späten dreißiger Jahren dem Wunsch nach größerer Repräsentation und differenzierender religiöser Architekturdarstellung. Die nie verlorene Sehnsucht der Protestanten nach der eigenen
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Kirchenform führte zu bedeutsamen Veränderungen. Entscheidend war in den folgenden Jahrzehnten auch der enorme Bevölkerungsanstieg, besonders in den Städten, so daß der Bedarf an immer größeren Kirchen nicht nur die Neubauzahlen hochtrieb, sondern auch die Suche nach Lösungen auf alte, bewährte Muster lenkte. 3. Historismus
(1840-1870)
3.1. Die Entwicklung in Preußen. Die vereinzelt auftretende ,Stil wähl' bei Schinkel, die eine Kirchenbaugeschichte abbildende Streuung der Münchner Bauten unter Ludwig I., die Vermeidung der Antike zugunsten romanischer und der Renaissance entnommener Formen bei den Kirchen von Heinrich Hübsch (Unterbarmen, 1825-1829) waren deutliche Hinweise auf neue Möglichkeiten der Planung. Der Prediger Adolph Preuss „entscheidet" sich in seinem Buch über den evangelischen Kirchenbau (1837) für den gotischen Stil. Diese Entscheidung ist, wenn auch nicht ausschließlich, funktional begründet. Preuss fordert den freien Gottesdienstraum, der nicht durch Sakristeien, Treppenhäuser, Turmeinbauten eingeengt wird. Diese Bauteile will er nach außen legen und kommt damit zwangsläufig zu einem differenzierten Baukörper, für dessen Organisation das Mittelalter Lösungen gefunden hatte. Wesentlich konkreter stellte der Jurist Christian Carl -»Bunsen in seiner einflußreichen Arbeit über die christlichen Basiliken Roms (1842) die Geschichte als Korrektiv in den Mittelpunkt und erhebt die Tradition zum verbindlichen Maßstab für den neuen protestantischen Kirchenbau. Für Predigten und feierliches Kirchengebet einerseits sowie Abendmahl andererseits fordert er getrennte Raumteile und gelangt auf Grund dieser Forderung zu ,alten' Leitbildern, die er in der Basilika sieht. Der Stil spielt für Bunsen keine zentrale Rolle. Er versucht letztendlich den protestantischen Kirchenbau von den als Makel empfundenen Form- und Raumexperimenten, besonders des 18. Jh., durch die Berufung auf die ältesten kirchlichen Formen zu befreien und in der Tradition zu verankern. Sein Einfluß war erheblich.
Entwicklungslinien der Baupraxis nach 1840 seien kurz am Beispiel Preußens angedeutet. Dort nahm, in Folge seiner patronatsherrlichen Stellung, Friedrich Wilhelm IV. starken Einfluß auf den Kirchenbau. Die Rolle Schinkels ging auf eine Reihe einflußreicher Architekten über, die das Baugeschehen, mit der Tendenz zu einem einheitlichen Kirchenstil, bestimmten. Entwürfe zu Kirchen, Pfarr- und Schul-Häusern zum amtlichen Gebrauche, bearbeitet... von der Königl. Preußischen Ober-Bau-Deputation (Potsdam 1 8 4 4 - 1 8 5 5 ) unterstrichen den Anspruch. Die „Erfindungskraft des Architekten" solle nicht unterdrückt werden, doch es schien „angemessen, dem Typus der vorhandenen älteren Kirchen sich anzuschließen, indem es offenbar gewagt sein würde, von Formen und Anordnungen, welche durch Jahrhunderte bei Kirchen-Bauten geheiligt . . . ganz abzugehen . . . " . Bei den Dorfkirchen behielt man Schinkels Entwürfe noch weitgehend bei, während bei den größeren Pfarrkirchen Bunsens Theorie, gefiltert durch die Vorliebe des Königs für frühchristliche Basiliken, zu spüren war. Bei aller Festlegung war jedoch eine große Variationsbreite möglich - entscheidendes Kennzeichen des neuen historischen Denkens. Beispiele: Die protestantische Jacobi-Kirche war 1844—1845 von A. Stüler in Berlin im Stil einer frühchristlichen Basilika als Ziegelrohbau errichtet worden. Schmale queroblonge Vorhalle, dreischiffiges Langhaus, erhöhter Altar im Chor vor halbkreisförmiger Apsis, dreiseitig umlaufende Emporen kennzeichnen den Entwurf. Obwohl Seitenapsiden für den protestantischen Gottesdienst nicht benötigt werden, sind sie ausgeführt und wurden als Nebenräume genutzt. Der an die Seite gerückte romanische Turm komplettiert das Bild der frühchristlichen römischen bzw. ravennatischen Kirche. Die Längenausdehnung wurde durch den Wechsel der Aufstellungsrichtung des Gestühls im östlichen Drittel, um die weit nach Westen gesetzte Kanzel herum, zu einer Andeutung von protestantischer Zentralität gemildert. Wesentlich näher älteren protestantischen Versuchen kam die Markuskirche in Berlin (A. Stüler, 1 8 4 8 - 1 8 5 5 ) , die als achteckiger Zentralbau mit hoher Kuppel und in byzantinisierendem Stil errichtet worden war. Die Vermutung liegt nahe, hier das städtische Patronat für die Raumform verantwortlich zu machen. Andere Bauten, wie etwa St. Petri ( J . H . Strack, 1847-1853), versuchten, mit einem griechischen Kreuz als Grundriß Zentralität zu gewinnen, und trugen, trotz einer noch abstrakten Gotikauffassung im Außenbau, mit ihrer turmreichen Silhouette und mit dem polygonalen Chorabschluß zu
Kirchenbau IV einem Verzicht auf eine eigenständige protestantische Architektur bei. Eine Erscheinung, die bewußt zugunsten einer Annäherung an mittelalterliche Vorbilder gesucht wird. Ein Vergleich mit der Nikolai-Kirche in Breslau (A. Soller, 1846—1883) zeigt die Angleichung im Stil und in Details der Grundrißbildung. Diese katholische Kirche hat Emporen im Querhaus; das Chorhaupt wird hinter dem Altar als Sakristei genutzt. Einzig in der besonders ausgeprägten Längenausdehnung, etwa bei St. Michaelis in Berlin (A. Soller, 1849-1856), und der Bevorzugung von Basiliken bot sich ein Unterschied zum protestantischen Kirchenbau. Die venezianische Renaissance mit romanischen Anklängen und die hohe Vierungskuppel, „behufs kirchlicher Auszeichnung", setzten bei diesem Bau nur bedingt (Rombezug) einen konfessionellen Akzent.
» m,. Jacobi-Kirche, Berlin
Die Berliner Kirchen wurden, entsprechend den baupolitischen Absichten, in der Provinz nachgebaut. Die frühchristliche Basilika mit verhalten romanischen Anklängen fand bei der protestantischen Trinitatiskirche (A. Stüler, 1857-1861) in Köln als Vorbild Eingang. Damit wurde im katholischen Umfeld der Rheinprovinz ein Signal zur Erkennbarkeit gesetzt, aber nicht durch typisch protestantische Formen, sondern durch preußische Baugewohnheiten. Das katholische Gegenbild lieferte V. Statz in Köln mit St. Mauritius (1861-1864) als dreischiffiger gotischer Basilika mit hohem Westturm und einer fast zum Zentralbau sich ausweitenden apsidenreichen Ostlösung, bei der die geringe Zahl von Glasmalereien und damit die große Helligkeit auffiel. Protestantische Bauten, wie die Christuskirche in Oberhausen (M. Nohl, 1862-1864), die Kirche in Eupen (1851-1854) oder die Friedenskirche in Rheydt (1864-1866) erschienen dagegen in der stark von Schinkel beeinflußten Gotik, folgten als kompakte Saalbauten eher protestantischen Vorbildern, die ohne Chor und Apsiden auskommen. Der Bau in Oberhausen ist zudem bedeutsam für die Verwendung von Eisenkonstruktionen,
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wie sie etwa bei den großen Pariser katholischen Kirchen, Saint Eugène (1854-1855) und Saint Augustin (1860—1871) wesentlich aufwendiger angewandt worden waren und in England schon seit Jahrzehnten in Gebrauch waren (etwa St. George's, Everton, Liverpool, 1813-1814, Th. Rickman).
i il II I t I Trinitatis-Kirche, Köln
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3.2. Stufen der Gotikrezeption. Einen konkreten Schritt zur Aneignung nicht nur einer abstrahierten Gotik, sondern einer durch genaues Studium und Kopieren gewonnenen Formenkenntnis ging besonders auch im protestantischen Kirchenbau der Architekt Carl Heideloff. Sein Bau in Sonneberg (Thüringen, 1845) in Form einer dreischiffigen Halle mit Nebenräumen, die als Querhaus erscheinen, mit ausgeprägtem Chor als Abendmahlsraum, mit polygonalem Chorschluß und mit Zweiturmfassade ist nicht so sehr die Nachahmung, sondern das Idealbild einer hochgotischen Stadtpfarrkirche. Er bezeichnete seine protestantischen Kirchen folgerichtig als „rein im catholischen Sinne" ausgeführt. Kleinteiligkeit, Mittelaltertreue, Befolgung eingeübter Sehgewohnheiten, begleitet von einer Perfektionierung alter Vorbilder kennzeichnen eine Entwicklung, die einerseits von denkmalpflegerisch-bauhistorisch ausgerichteten Architekten unterstützt, andererseits durch pietistische Erscheinungen in einzelnen Gemeinden gefördert wurde. Die Erneuerung des alten Glaubens sollte ganz wörtlich abbildhaft ihre Parallele in der mustergültigen Architektur nach alten Vorbildern finden. Ihre emotionale Wirkung sollte, „ . . . da die Steine schreien, wenn etwa die Menschenzungen die großen Thaten Gottes verschweigen" (Heideloff, 1850), die Religiosität steigern. Diese allgemeinen Gedanken betrafen alle Stile. Die Aufnahme der Gotik hingegen war nicht nur Ausdruck einer nationalen Verbundenheit mit einem Stil, dessen Vollendung man im deutschen Mittelalter sah, sondern entsprang auch der Vorstellung von einer vertieften, emotionalisierten -»Frömmigkeit. Die der gotischen Architektur traditionell unterstellte Abbildhaftigkeit des zu Gott strebenden Menschen traf sich konkret mit Tendenzen einer intensivierten protestantischen Religionsauffassung der —»Erweckungsbewegung dieser Zeit und einem katholischen Traditionalismus, der mit der Gotik auch deutschnationale Legitimität, sowohl in religiöser als auch politischer Zielrichtung suchte. Erster Höhepunkt dieser Erscheinungen, letztendlich der Schritt zur protestantischen .Kathedrale' war der Bau der Nikolaikirche in Hamburg (1846-1862, Turm 1874). Hier mündete die Suche nach der gültigen protestantischen Kirche, unter starkem Einfluß rheinisch-katholischer Gutachter, in der Wahl eines Entwurfs des englischen Architekten Gilbert Scott, der die strenge Gotikrezeption der heimischen Kirchenbaubewegung (Ecclesiologists) mit nationalen deutschen Erwartungen an den gotischen Stil als allgemeinen Kirchenstil verband. Das Eintreten Gottfried Sempers in Hamburg für einen Zentralbau im Rundbogenstil als zeitgemäßem Ausdruck des Protestantismus scheiterte gleichsam an einer Gotiksehnsucht der Auftraggeber. Die Christuskirche in Hannover (C.W. Hase, 1859-1864), in heimischem Backstein als gotische Halle mit Kapellenkranz entstanden, kann als Versuch einer architektonischen Konkurrenz des Landesherrn zum Hamburger Großbau verstanden werden. Das katholische Gegenstück, in noch aufwendigeren Dimensionen und unter anderen historischen Bedingungen entstanden, war der Bau eines Doms in Linz/D. (V. Statz, ab 1862). Er kann als Beispiel einer bauarchäologisch geschulten (am Kölner Dom) Architekturauffassung gelten, deren Ziele in einer formalen Optimierung der mittelalterlichen Vorbilder lagen. St. Epvre in Nancy (P. Morey, ab 1864) kann als französisches Beispiel genannt werden. Unter ähnlichen Voraussetzungen wie in Hamburg entstand 1852-1863 in Wiesbaden der „evangelische Landesdom". Doch anders als dort ist hier eine rationalistischere Spielart protestantischen Kirchenbaus zu beobachten. Der Architekt K. Boos befürwortete den gotischen Stil, da er das „ G e m ü t h " anrege, die christliche Architektur schlechthin verkörpere. Doch dieser Stil bedürfe der Modernisierung: „gespenstige" Strebebögen müßten Konstruktionen nach „klassischer" Formgebung weichen. Im Gegensatz zum Hamburger Bau bildet seine Kirche folgerichtig eine geschlossene Form, die nur durch leicht vortretende Strebepfeiler unterbrochen wird. Die gotische Architektur ist in den Details flächig, stilisiert, nicht vorbildgetreu verarbeitet; in ihr ist die gefühlsbetonte Deutlichkeit exakter Nachahmung und perfekter Optimierung vermieden.
Die Entwicklung ging jedoch in die konkret-historisierende Richtung. Friedrich Eisenlohr, der für Offenburg und Baden-Baden gotische Kirchen entworfen hatte, formulierte die Ziele: „Das Christentum hat in inniger Verbindung mit dem germanischen Volksgeist in der germanischen (gothischen) Baukunst geschichtlich bereits einen Ausdruck . . . gefunden" (1852). 3.3. Das Eisenacher Regulativ (1861). Ein regulierendes Eingreifen in die divergierenden Kirchenbaubestrebungen der einzelnen protestantischen Landeskirchen war auf ver-
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schiedenen -»Kirchentagen versucht und vorformuliert worden (Elberfeld 1851; Dresden 1856; Barmen 1860). Die auf dem Eisenacher Kirchentag von 1861 (vgl. T R E 10,659,45 ff) unter der Beratung der Architekten Hase, v. Leins und Stüler gefundenen Regeln fanden wahrscheinlich auch deshalb breite Zustimmung, weil sie längst Praktiziertes festlegten. Die wichtigsten architektonisch wirksamen Empfehlungen für den protestantischen Kirchenbau waren: gedrungener Längsbau, Chor, Apsis, Querhaus (Kreuzform), Achteck geduldet, Rundbauten aus akustischen Gründen abgelehnt, „vorzugsweise" gotischer Stil, Westturm, Westeingang als Betonung einer Begehungsachse zum Altar, Chor mit Gestühl für Geistliche und Vorstand, Altar vor oder im Chor, Taufstein in der Vorhalle oder in einer Taufkapelle, Kanzel am Chorpfeiler seitlich, Orgel auf der Westempore, Emporen werden zurückhaltend empfohlen, Sakristei als Anbau. Eine Mittelstellung der Kanzel wird für die lutherische Kirche abgelehnt, Kanzelaltäre gab es seit der ersten Jahrhunderthälfte sowieso kaum noch, die Orgel über dem Altar im Osten wird ebenfalls verworfen (s. T R E 17,602,50ff). Damit war in der Grundstruktur als Leitbild die spätmittelalterliche, vorreformatorische Pfarrkirche bestätigt. Pragmatisch orientierte Regeln, etwa der preußischen Bauverwaltung, die sich in den folgenden Jahrzehnten, im Gegensatz zu vielen Kirchen und Architekten, nur sehr vage an die Bestimmungen hielt, versuchten noch im selben Jahr die Allgemeinheit der Punkte für die unterschiedlichsten Formen von Kirchen und Gemeinden praktikabel zu machen. Trotz der einengenden Regeln des Eisenacher Regulativs gab es, besonders in Preußen, eine Reihe von außergewöhnlichen Lösungen, von denen nur eine erwähnt sei. Konrad Wilhelm Hase hatte die Pläne für die neue Kirche in Langenhagen ( 1 8 6 7 - 1 8 6 9 ) entworfen. Das basilikale Langhaus mit kurzem Querhaus ist mit auf Gangbreite reduzierten niedrigen Seitenschiffen ausgestattet, die um den polygonalen, sich fast zu einer R u n d u n g ausweitenden Altarraum geführt sind. Hase benutzte bei diesem Ostabschluß ein Motiv, das Schinkel seit 1810 für verschiedene Projekte (Dom, Gertraudenkirche) geplant hatte. Die Lösung soll einerseits die deutliche Zweiteilung von Predigt- und Altarraum kennzeichnen und andererseits den Gemeinschaftscharakter der feiernden Gemeinde betonen. H a s e verwendet eine Lösung, die sich wieder bei M . Elsaessers Südkirche in Esslingen (1926) findet. Die Lichtführung durch ganz enge Schlitzfenster im Erdgeschoß (unter den Emporen) und große - die W ä n d e sind bis auf die Pfeiler reduziert - Fenster im Obergaden läßt ebenfalls an Lösungen Schinkels denken. Die Verwendung des heimischen Backsteins bis hin zu komplizierten Formsteinen, sichtbare Dachstühle, malerische Silhouettenbildung, handwerklich und stilistisch sorgfältig gearbeitete Ausstattungen ließen H a s e zu einem der bedeutendsten Kirchenarchitekten des 19. J h . werden. G r o ß ist sein Einfluß a u f Otzen und Hehl.
Kirche Langenhagen
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Die Anerkennung der Neugotik im protestantischen Kirchenbau ist auch eine Folge der vehementen Propagierung dieses Stils durch katholische Theoretiker. Als wichtigster ist August Reichensperger zu nennen, der seit den vierziger Jahren als Redakteur des Kölner Domblattes, als Abgeordneter im preußischen Landtag und des Reichstags bis in die achtziger Jahre unermüdlich für die Durchsetzung der Gotik kämpfte. Katholischrheinischer Separatismus, national-deutsche Vorstellungen, lebensreformerische Bestrebungen durch Rückwendung auf das Hochmittelalter prägten seine Gedanken, die schließlich auch für den modernen Kirchenbau fruchtbar werden, weil er die starre Monumentalität der Großkirchen zugunsten gruppierter Anlagen schon früh ablehnte. Kämpfe um den katholischen Kirchenbau gab es in der Intensität und Breite wie im protestantischen Bereich nicht. Allerdings füllten breite Debatten um die künstlerische Ausstattung und die Stilwahl besonders die beiden großen katholischen Zeitschriften Organ für christliche Kunst (seit 1851) und Zeitschrift für christliche Kunst (seit 1888). 4. Die großen Pfarrkirchen bis zur
Jahrhundertwende
Die Kirchen erhielten nach der Reichsgründung verstärkt die Aufgabe, als einigender Faktor aufzutreten. Kirchenbauten dienten dazu als sichtbares Zeichen; selbst der -»Kulturkampf hatte hierauf nur geringen Einfluß. Besonders in den Großstädten erhielten sie als breitgestreute Stützpunkte dieser Vorstellungen, auch als sozialpolitische Klammern, herausragende Bedeutung. Der enorme Bevölkerungsanstieg, durch -»Industrialisierung und Landflucht verstärkt, verlangte von allen Städten riesige Erweiterungsgebiete, die bald ein Mehrfaches der Fläche alter Stadtkerne ausmachten. In bisher nicht gekannten Dimensionen an Zahl und Größe mußten hier neue Pfarrkirchen errichtet werden. Diese Entwicklung betraf alle Konfessionen. Die Kirchenbautheorie wurde jedoch vor allem von protestantischer Seite betrieben, während der katholische Kirchenbau, auch auf Seiten der Architekten, von einer deutlichen Selbstgewißheit geprägt ist. Diese gestattet die Anwendung unterschiedlichster Grundriß- und Raumformen, für die jeweils im Lauf der Jahrhunderte Vorbilder benannt werden können, so daß gerade die Tradition in ihrer Vielfalt den bisher in der Forschung nur wenig beachteten katholischen Kirchenbau des 19. Jh. vor einer Erstarrung bewahrte. 4.1. Protestantische Kirchenbautheorien. Die Vielzahl der theoretischen Arbeiten zum protestantischen Kirchenbau im letzten Drittel des Jahrhunderts bringt nur in Ausnahmefällen neue Ansätze, sie ist vielmehr Zeichen für eine nie zur Ruhe kommende Suche nach der schlüssigen Bauform. Die verbreiteten Theorien des Kirchenbaus von AUmers (1870), Tschackert (1881), Jaehn (1882), Lechler (1883), Schultze (1886) konzentrieren sich in hohem Maß auf die Stilfrage und auf sehr allgemeine Forderungen nach dem spezifisch protestantischen Kirchenraum. Tschackert fordert den Längsbau mit ausgeprägtem Chor als Abbild von Predigt- und Abendmahlsgemeinde. Jaehn und Schultze vertreten einen spektakulären, aus dem Alltag herausragenden Kirchenbau und sehen in der Gotik den fast ausschließlich geeigneten Kirchenstil. Lechler argumentiert genau entgegen und fordert eine einfache, schlichte Architektur; in der Gotik sieht er ein Kennzeichen der alten Kirche, ohne reformatorischen Anstoß — er ist Anhänger der deutschen Renaissance. Die Suche nach einer allgemein kirchlichen Architektur oder nach der spezifisch protestantischen versuchte auf Architektenseite K. E. O. Fritsch, mit seiner historischen Ubersicht von 1893, die überwiegend das 19. Jh. behandelt, eher im Sinne eines Plädoyers für die architektonisch-künstlerische Qualität zu lenken. Wesentlich umfassender, analysierender ist Oscar Mothes Buch von 1898, das enzyklopädischen Fleiß und scharfe Polemik verbindet. Beide Bücher sind der Versuch, aus dem umfassenden Geschichtsüberblick die gegenwärtige Praxis kritisch-reflexiv zu bestimmen. Schließlich muß, zwischen Theorie und Praxis stehend, auf die Entwurfslehrbücher für Architekten und vor allem auf die Architektur- und die kirchlichen Kunstzeitschriften verwiesen werden, in denen sich die Debatte um den Kirchenbau (beider Konfessionen) abspielte.
4.2. Baupraxis. Herausragender Kirchenarchitekt war über fast drei Jahrzehnte Johannes Otzen, dessen protestantische Kirchen einen bis dahin nicht erreichten Grad von ,Kirchlichkeit' boten.
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Zur Besonderheit seiner Bauten gehört der Einsatz von Dächern als Gestaltungsmittel, so daß fast von Dachlandschaften gesprochen werden kann. Otzen strebte nicht die Kathedralgotik an, wie etwa v. Leins bei der Johanneskirche in Stuttgart (1876). Er versucht vielmehr, die Tradition von Pfarrkirchen, besonders des 13. und 14. J h . , in gestalterischer Überhöhung einzelner Elemente aufzunehmen. Dazu gehören auch asymmetrische Grundrisse, bei denen der Turm aus der Mittelachse genommen oder seitlich des Chores gestellt wird, wobei die städtebauliche Situation (Straßen als Sichtachsen) ausschlaggebend ist. Mit zweischiffigen, asymmetrischen Anlagen (Apolda, 1893) versucht er, bei vorgeschriebener seitlicher Stellung der Kanzel, Hör- und Sichtbarkeit zu steigern. Wie bei allen seinen Bauten nutzt er auch bei Zentralanlagen, z. B. Heilig-Kreuz-Kirche (Berlin, 1888), das gesamte Raum- und Formenrepertoire mittelalterlicher Kirchen. Ein voll ausgebildeter Kapellenkranz (Sakristei) umgibt den Chor, ein östlicher Anbau vom Typ englischer Marienkapellen enthält Konfirmandenräume.
Otzen stand mit seiner Auffassung vom Vorrang der,Kirchlichkeit', mit seinen bewegten Silhouetten und Asymmetrien, nicht allein. 1878 setzte Möckel bei der Johanneskirche in Dresden den hohen Turm an das südliche Querhaus. Ähnliches findet man bei der Petrikirche in Leipzig (1885), wobei dieser Bau eine fast verwirrende Vielfalt von Anbauten zeigt. Hier waren gleichsam die in Jahrzehnten oder Jahrhunderten an alten Kirchen entstandenen Anbauten (Kapellen, Sakristeien, Kapitelhäuser) in einem Augenblick gebannt und verschafften den neuen Kirchen ein Abbild von Gewachsenheit und Tradition. Die an den Großkirchen des letzten Jahrhundertdrittels zu beobachtende Vieltürmigkeit ist allerdings auch bedingt durch die verschärften baupolizeilichen Auflagen, die für die Emporen eine erhöhte Zahl von Treppen verlangten. 4.3. Das Wiesbadener Programm (1891). Der Pfarrer E. Veesenmeyer hatte in Zusammenarbeit mit Johannes Otzen ein stark von reformierten Vorstellungen geprägtes, in wenigen kurzen Sätzen formuliertes Programm zum Kirchenbau entworfen. Die vier Punkte verlangen: Versammlungshaus der feiernden Gemeinde ohne katholische Anklänge; Einheit des Raumes, also keine Trennung in Schiffe oder Chor und Schiff; Abendmahlsfeier nicht in einem gesonderten Raum, der Altar muß mit einem Umgang versehen sein; „mindestens" Gleichrangigkeit der Kanzel mit dem Altar, Stellung hinter dem Altar in Verbindung mit Orgel und Sängerbühne angesichts der Gemeinde. Das Programm war deutlich gegen die .katholischen' Raum- und Grundrißlösungen gerichtet, wie sie seit dem Eisenacher Regulativ verbreitet waren. Die ,Ringkirche' in Wiesbaden, 1894 eingeweiht, nach Otzens Plänen errichtet, verwirklichte die Forderungen. In dem auf einem Quadrat mit an drei Seiten angesetzten halben Achtecken beruhenden Innenraum wurde das Gestühl amphitheatralisch vor Altar, Kanzel und Orgel angeordnet; Emporen umgeben den Raum allseitig. Das Programm sagte über den Stil nichts aus, jedoch dürfte die gewählte Spätromanik/Frühgotik auch Reaktion auf die vom Eisenacher Programm beförderte Gotik sein. Zu den Nachfolgebauten ist die Kirche in Mönchengladbach-Rheydt (J. Otzen, Weihe 1902), mit vergleichbarer Disposition und in romanischem Stil, zu rechnen.
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4.4. Katholische Bauten. Unter den gotischen Pfarrkirchen fallen im letzten Drittel des 19. Jh. einige katholische Kirchen in neuromanischem Stil auf. Größere Ursprünglichkeit des mittelalterlichen Vorbildes, größere architektonisch-künstlerische Gestaltungsfreiheit, Monumentalität in der Erscheinung waren die zeitgenössisch angeführten Gründe für die Verwendung. Zu den imposanten Bauten gehören in München St. Anna (G. v. Seidl, 1887—1892), St. Benno (L. Romeis, 1 8 8 8 - 1 8 9 5 ) , St. Maximilian (H. v. Schmidt, 1 8 9 5 - 1 9 0 1 ) ; Bauten, denen eine der filigransten Kirchen später Neugotik gegenübersteht: St. Paul (G. v. Hauberrisser, 1 8 9 2 - 1 9 0 6 ) . Zu nennen sind ferner St. Josef in Krefeld ( C . C . Pickel, 1 8 8 7 - 1 8 9 0 ) , St. Heribert in Köln-Deutz ( C . C . Pickel, 1 8 9 1 - 1 8 9 6 ) , Herz-Jesu-Kirche in Koblenz (L. Becker, 1 9 0 0 - 1 9 0 4 ) . Alle Bauten sind im spätromanischen Stil errichtet und dokumentieren auch die assoziative Kraft staufischer Architektur, für die es in diesen Jahrzehnten, gefördert durch das Kaiserhaus, gewisse Vorlieben gab.
Renaissance und -»Barock wurden nur selten gewählt. Auf katholischer Seite fanden sie in den Publikationen von Johannes Graus, auf protestantischer in Emil Sülze und Cornelius Gurlitt Vertreter, die sich vor allem gegen den Einheitsstil Gotik wandten und einen nachmittelalterlichen Stil auch als Ausweis moderner Entwicklung in den konstruktiven Möglichkeiten sahen. Die protestantische Garnisonkirche in Ludwigsburg und die Martin-Luther-Kirche in Köln (Vollmer und Jassoy, 1 9 0 4 - 1 9 0 6 ) sowie die katholischen Kirchen St. Ursula (A. Thiersch, 1 8 9 4 - 1 8 9 7 ) und St. Margaret (M. Dosch, 1 9 0 1 - 1 9 0 3 ) in München seien als Beispiele genannt.
Doch unabhängig von solchen stilistischen Erscheinungen werden um die Jahrhundertwende im katholischen Kirchenbau verstärkt Formen verwendet, die bisher protestantischen Anforderungen besonders entgegengekommen waren. Weite lichte Räume wie die Hallenkirche St. Marien in Stuttgart (J. v. Egle, 1 8 7 1 - 1 8 7 9 ) finden sich oder immer häufiger große Zentralbauten wie die Fünfhaus-Kirche in Wien (F. v. Schmidt, 1 8 6 7 - 1 8 7 5 ) . Am deutlichsten tritt die Zentralbautendenz bei den katholischen Kirchen Christoph Hehls in Berlin in Erscheinung: Rosenkranzkirche ( 1 8 9 9 - 1 9 0 0 ) , St. Marien ( 1 9 0 7 - 1 9 1 4 ) , Herz-JesuKirche ( 1 8 9 7 - 1 8 9 8 ) und St. Marien in Spandau ( 1 9 0 9 - 1 9 1 0 ) . In München ist der Zentralbau von St. Rupert (G. v. Seidel, 1 9 0 1 - 1 9 0 8 ) zu erwähnen, bei dem ein quadratischer Kern von vier weiten Konchen umgeben wird, wobei eine Eisenkonstruktion einen ungewöhnlich weiten, stützenfreien Raum ermöglicht.
Einen in der Architektur nur indirekt faßbaren Weg suchte die Beuroner Reformbewegung (Beuron, Mauruskapelle, D. Lenz, 1868-1870). Ihre flächigen, stark farbigen Wandbilder, mit Anklängen an die italienische Malerei des frühen 14. Jh., wurden als in die Architektur integrierte Form erst nach der Jahrhundertwende breiter wirksam. 5. Strömungen nach der
Jahrhundertwende
Der Berliner „Kongress für den Kirchenbau des Protestantismus", von Architekten veranstaltet, brachte 1894 wichtige neue Ansätze. Als entscheidender Entwicklungsschritt muß die Forderung des Architekten Otto March, als Folge von Emil Sulzes Gemeindebewegung, gesehen werden, kleinere Kirchen in Verbindung mit unterschiedlichen Gemeinderäumen zu bauen, so daß sich eine Gruppe von Gebäuden ergeben würde, in der die Kirche nur Teil eines Gemeindezentrums sein sollte. Die Verfechter einer monumentalen, isolierten Stellung des Kirchengebäudes und des Eisenacher Regulativs setzten sich jedoch durch. Konservativ blieben auch die Beschlüsse der Kirchenkonferenz von 1898 in Eisenach. Die Zulassung von anderen Stilen als dem gotischen und von Zentralräumen waren durch die Praxis überholte Maßnahmen. Erst der zweite Tag für Kirchenbau, Dresden 1906, betonte die Wichtigkeit kleiner gruppierter Gemeindezentren und befürwortete die reformierte Stellung der Kanzel in der Mittelachse. Ein behutsamer Verfechter dieser Richtung war mit seinen einflußreichen Publikationen der Architekt Hossfeld. Die architektonische Moderne vor dem Ersten Weltkrieg wurde auch von großen
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Ausstellungen vorangetrieben, wie etwa der Ausstellung für christliche Kunst, Düsseldorf 1909, oder der Werkbund-Ausstellung, Köln 1914. Als Leitbild der Moderne ist Otto Wagners Leopoldskirche (Am Steinhof) in Wien zu nennen, die als Zentralbau, in auffallender Helligkeit, mit modernen Eisenkonstruktionen und dezidiert im neuen Jugendstil ausgeführt wurde ( 1 9 0 4 - 1 9 0 7 ) . Otto March, Martin Elsässer, Theodor Fischer, Otto Bartning, Robert Curjel und Karl Moser trugen mit ihren Bauten zu einer neuen Kirchenarchitektur bei, die geprägt ist von zentralisierten Grundrissen (Kreis, Oval, Quadrat, griechisches Kreuz), Abstraktion oder Aufgabe von historischen Stilen, von sparsamer Ornamentik, von ikonenhaft vereinzelter Bildlichkeit (etwa Fischers Erlöserkirche in Stuttgart, 1907) und gruppierten Anlagen von Gemeindezentren.
Allen Entwicklungen weit voraus sind Bauten wie die katholische St. Leopold-Kirche in Wien (J. Plecnik, 1911 -1913), die im Äußeren als abstrakt historisierender Eisenbetonbau gehalten ist und im Innern für die Arbeitergemeinde einen weiten Saal mit eingehängten Emporen zeigt. Zur Nüchternheit des Raumes steht das Pathos der Farbigkeit des Altars und der Krypta im Kontrast, wobei die Betonkonstruktionen in ihrer Eigenwertigkeit sichtbar gelassen werden. Frank Lloyd Wright's Unity Church in Oak Park, Chicago (1904-1907) kann, als noch radikalere Lösung, damit verglichen werden. W. R. Lethaby's All Saints-Church in Brockhampton (1900-1902) läßt in ihrer expressiven Gotik und nüchternen Steinsichtigkeit die Architektur der zwanziger Jahre, etwa Dominikus Böhms, vorausahnen. Gruppierte Bauten, kleinere Gemeindezentren, zentralisierte Grundrisse, Abkehr vom Historismus, in der Funktion sichtbare Baumaterialien wie Eisen, Beton, helles Glas sind Merkmale der Moderne, die nach dem Ersten Weltkrieg breit aufgenommen werden. Allerdings erstreckte sich auch ein breiter Strom historistischer Formen aus dem 19. Jh. bis weit in die dreißiger Jahre des 20. Jh. 6. Kirchenvollendungen
im 19.
Jahrhundert
Aus finanziellen, politischen, konservatorischen oder konfessionellen Gründen kam es in der ersten Hälfte des 19. Jh. zu einer Reihe von Abbrächen bedeutender Kirchen, von denen der gotische Dom in Hamburg (1805-1806), die gotische Marienkirche in Husum (1807-1808), die romanische Stiftskirche in Goslar (1818-1821), die spätromanischfrühgotische Klosterkirche in Heisterbach (1809-1820) oder in Frankreich die Klosterkirche von Cluny (1811) die bedeutendsten waren.
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In der gegenläufigen Bewegung trafen sich für das Jahrhundert typische Beweggründe: historische, religiöse, politische, patriotische, denkmalpflegerische, stadtgestalterische Absichten bis hin zu touristischen Motiven sind zu finden. Entscheidender Impuls für eine große Zahl von Restaurierungen (Dome in Bamberg, 1826—1837, Magdeburg, 1826-1834) war die Suche nach nationalen Identifikationsmöglichkeiten nach den Befreiungskriegen. Purifizierende Maßnahmen (Beseitigung von Grabmälern, Altären, Lettnern) sollten teils ein vereinheitlichtes Mittelalterbild bestätigen, teils praktisch nutzbare Gottesdiensträume schaffen. Signalwirkung für alle weiteren Maßnahmen besaß der Entschluß, den Dom in Köln zu vollenden. Denkmalpflegerische Absichten bei Schinkel, patriotische Vorstellungen im Sinne eines Nationaldenkmals bei Corres (1814), antiquarisch-bauhistorische Interessen bei S. Boisseree und G. Moller, letztendlich politische Absichten der preußisch-protestantischen Regierung in der katholischen Rheinprovinz führten seit 1842 zu Baumaßnahmen, die 1880 abgeschlossen wurden. Die Wiederherstellung und Vollendung der Grablege der deutschen Kaiser, des Doms in Speyer (H. Hübsch, 1857-1880), beruhte in weiten Aspekten auf den Vorstellungen von der katholischen Einheit des Reichs und wurde deshalb besonders von Bayern und Österreich gefördert. Im Bereich eines lokalen Patriotismus setzte sich die Wiederherstellung von mittelalterlichen Kirchen in kleinen Territorien und Städten fort. Etwa bei St. Jakob, Rothenburg (1838-1842, a b 1852, C. Heideloff), Elisabethkirche in M a r b u r g (seit 1854), St. Michael u. Gertrud in Neustadt a. M . (ab 1857, H . Hübsch). Z u m augenfälligsten Merkmal wurden jedoch die Turmvollendungen vor allem gotischer Kirchen, sah man doch gerade im gotischen Turm ein Zeichen mittelalterlicher Frömmigkeit. Goethes Aufsatz über das Straßburger Münster (1772) bildete auch den Auftakt einer neuen Sichtweise architektonischer und konstruktiver Meisterschaft, die sich in Turmbauten manifestierte. Die Doppelturmfassade am Dom in Regensburg (1859-1869), der Ausbau des Turms am Dom (Stiftskirche) in Frankfurt a. M . (1869-1877) als Denkmal ehemaliger städtischer Unabhängigkeit, der Turmbau in Ulm (1844-1890) als Ausweis städtischen Stolzes und protestantischer Wahrung mittelalterlich-ursprünglicher Frömmigkeit, die Doppelrurmfassadc an der Wiesenkirche in Soest (1863-1876), als Parallelmaßnahme des Protestantismus zum Kölner D o m b a u , der Turmneubau an St. Lamberti in Münster (1888-1889) nach Vorbild des Freiburger Münsterturms, entgegen den Forderungen der Behörden durchgesetzt, wohl auch als Protest des Münsteraner Katholizismus gegen den -»Kulturkampf, sind herausragende Beispiele. Auch in kleineren Städten kam es zu aufwendigen Turmbauten, wie etwa in Göppingen, Oberhofenkirche (1884,1889) durch den Architekten (A. v. Beyer) der T ü r m e in Ulm und Bern. Einem der letzten Projekte vor dem Krieg dürften die Entwürfe von zum Teil expressionistischer Monumentalität für den Dom in Freiberg/S. (1910-1912) angehören.
7. Denkmalkirchen,
Votivkirchen,
Gedächtniskirchen
Votiv- und Gedächtniskirchen als eine traditionelle Erscheinung erreichten im 19. Jh., im Zuge einer Entwicklung, die historische Vergewisserung und Bestätigung gerade im Denkmal suchte, einen neuen Stellenwert innerhalb der städtischen Bebauung. Religiöse Bindung und weltlich-politische Ziele gingen dabei meist eine feste Verbindung ein. Schinkels und Friedrich Wilhelms III. Vorstellungen von einem preußisch-dynastisch und gleichzeitig deutsch-national geprägten Dom unter Einbeziehung einer Ruhmeshalle gipfelten in gotischen Kathedralentwürfen als Denkmal der Befreiungskriege (1814/15). Die Gedanken wurden in den vierziger Jahren mit den Entwürfen von W. Stier, A. Stüler und L. Persius unter dem Einfluß von Friedrich Wilhelm IV. als Kombination von Abendmahlskirche, Predigtraum und preußischer Ruhmeshalle erneut aufgenommen, jedoch erst, mit ähnlichem Programm, als riesiger Kuppelbau 1893-1905 im Berliner Dom (J. Raschdorff) verwirklicht. Z u den großen Denkmalkirchen gehört die Votivkirche in Wien. 1856-1879 wurde sie als Erinnerung an die Rettung Kaiser Franz Josefs von einem Attentat nach dem Schema französischer hochgotischer Kathedralen als dreischiffige Basilika mit Doppelturmfassade, Querhaus, Chorumgang und Kappellenkranz errichtet (H. v. Ferstel). Entscheidend für die Wirkung wurde die städtebauliche Präsentation von der Ringstraße aus. Über einen fächerförmig sich weitenden und um 16 Stufen
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allmählich ansteigenden Platz wird der Bau, gleichsam auf einem Sockel stehend, wahrgenommen. Pragmatisch, technisch-nüchtern wurde sowohl die Bautechnik bewältigt (eiserner Dachstuhl) als auch die Funktion: Die Gedenkkirche wurde katholische Garnisonkirche, neue Universitätskirche, und sie diente dem Stadterweiterungsgebiet als Pfarrkirche. 5 Als Denkmal der .Protestation' von 1529 war 1893-1904 (J. Flügge, C. Nordmann) eine große dreischiffige Hallenkirche in Speyer errichtet worden. Der hohe, filigrane Turm, der die ganze Breite des Langhauses einnimmt, erhielt eine mit Standbildern geschmückte Gedächtnishalle (Luther und die Kurfürsten). Diese Halle erhöhte einerseits den Dcnkmalcharakter und nahm andererseits Teil an der Vorstellung von mittelalterlichen Ausstattungsprogrammen mit Heiligenfiguren.
Protestationskirche, Speyer
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Die drei großen Berliner Gedächtniskirchen für Kaiser Friedrich (M. Spitta, 1 8 9 3 - 1 8 9 5 ) , Kaiserin Augusta (Gnadenkirche, M . Spitta, 1891-1895) und Kaiser Wilhelm (F. Schwechten, 1 8 9 1 - 9 5 ) waren von Wilhelm II. auch als preußische Denkmäler im neuen deutschen Reich gedacht. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche als größter Bau sollte in Stil und Form der staufischen Romanik die Wiedergeburt des Reiches feiern und die Hohenzollern in eine dynastische Tradition mit den staufischen Kaisern stellen. In der 1906 als Gedächtnisraum gestalteten Vorhalle sollte das Bildprogramm diese Gedanken verdeutlichen, während die Architektur als direkter Verweis auf das Bonner Münster und die Marienkirche in Gelnhausen den historischen Bezug herstellte. Patriotische Feiern in der Kirche, ihre zentrale Rolle in den Vorstellungen Wilhelms II. von einem Nationaldenkmal, drängten die Pfarrfunktion immer weiter zurück. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wurden die Ruine und der Neubau erneut zu einem politischen Denkmal, jetzt Berlins.
8.
Garnisonkirchen
Die bedeutende Rolle des Militärs, besonders nach der Reichsgründung, führte in Deutschland zu einer Anzahl großer Garnisonkirchen, die Ausdruck des militärischen Selbstbewußtseins und der Verflechtung von zivilem, militärischem und religiösem Leben waren. Die meist exponierte L a g e der Garnisonkirchen im Stadtbild bestätigte die Rolle der -»Militärseelsorge. N u r wenige Gemeinsamkeiten verbinden die Bauten; eine gewisse abweisende, schwere M o n u m e n t a l i t ä t ist bei vielen zu beobachten. N a c h der J a h r h u n d e r t w e n d e gibt es gerade hier bedeutende Beispiele m o d e r n e r R a u m - und Materialauffassung, die für die Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg vorbildhaft blieb. Die protestantische Garnisonkirche in Stuttgart (C. Dollinger, 1875-1879) war im Stil rheinischer Spätromanik mit Doppelturmfassade, Vierungstum und umlaufenden Emporen im Innern gestaltet. Verglichen mit der Hochgotik der Johanneskirche (1876), der Frühgotik der katholischen Marienkirche (1879) oder selbst mit der Romanik der Kirche in Stuttgart-Haslach (1881) zeigte sie deutlich die lastende Schwere, die man offensichtlich als Ausdruck militärischer Wehrhaftigkeit interpretierte. Die katholische Garnisonkirche in Berlin (A. Menken, 1893-1896) war ganz im Stil der großen Gedächtniskirchen dieser Jahre gehalten, während die nahe gelegene protestantische schlichte gotische Formen zeigte (A. Roßteuscher, 1893-1896). Eine der städtebaulich exponiertesten Garnisonkirchen ist die protestantische St. Paulskirche in Straßburg (L. Müller, 1897). Der hochgotischen Querhausbasilika mit Doppelturmfassade, nach dem Vorbild der Elisabethkirche in Marburg, fehlten alle Anklänge an militärisch strenge Formen. Im neu gewonnenen Straßburg bedeutete diese Kirche auch den Versuch, das alte katholisch-elsässische Münster zu übertreffen. Von der Gedrungenheit spätromanischer Monumentalität war die Dresdner Garnisonkirche bestimmt (Lossow und Viehweger, 1896-1900). Hier waren die kleinere katholische und die große protestantische Kirche aneinandergebaut als Zeichen der konfessionellen Einheit in der militärischen Pflichterfüllung; überragt wurde der Komplex von einem massigen, asymmetrisch gestellten Turm. Sehr strenge, an der Romanik um die Mitte des 12. Jh. ausgerichtete Formen zeigte die protestantische Garnisonkirche in Hannover, die mit ihrem Bruchsteinmauerwerk auch im Material von den Backsteinkirchen der Stadt unterschieden war und eine fast abweisende Monumentalität ausstrahlte (Ch. Hehl, 1891-1896). Die bewußt an heimische Traditionen anknüpfende Architektur war auch Teil einer preußischen Architekturpolitik, die in annektierten Gebieten mitunter eigenständige Formen förderte. Die protestantische Garnisonkirche in Ludwigsburg (F. v. Thiersch, 1899—1903) war eine der seltenen neubarocken Kirchen und als Anpassung an das Stadtbild gedacht. Die Garnisonkirche in Kiel-Wik (R. Curiel, K. Moser, 1905-1909) folgte in der Anbindung an ein Gemeindezentrum einerseits den modernen Forderungen, andererseits bildete der, bis auf die Schallöffnungen, fensterlose Westriegel des Turmes einen monumentalen Akzent in der durch Militärbauten geprägten Umgebung. Das Innere, ein weiter Saal, läßt die mächtigen Holzbinder auf Backsteinpfeilern und die expressionistisch gestaltete Dachkonstruktion sichtbar. Ein architektonisch ausgebildetes Admiralitätsgestühl fehlt; historistische Formen werden vermieden. Von vergleichbarer Modernität und doch militärischer Monumentalität ist die protestantische Garnisonkirche in Ulm geprägt, deren mächtige, kegelförmig zulaufende Türme mit Granaten verglichen werden können (Th. Fischer, 1908-1911). Ähnlich wie in Kiel wird ein weiter Saal ohne seitliche Emporen gebildet. Hier allerdings wird die Spannweite (37 m) durch Eisenbetonbinder und Deckenbalken aus Beton auf nach außen gezogenen Strebepfeilern erreicht. Die Raumwirkung wird von der sichtbaren Stofflichkeit des Materials, unter spärlicher ornamentaler und bildlicher Ausschmückung, bestimmt. Die Materialästhetik als Konzentration auf das Wesentliche der gottesdienstlichen Handlung ist
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gleichzeitig Ausdruck militärischer Klarheit. Es handelt sich jedoch um Gestaltungsprinzipien, die entscheidenden Einfluß auf den Kirchenbau nach 1918 ausübten. In völligem Gegensatz dazu, als Meisterwerk historistischer Hochgotik, steht in Ulm, ganz nahe zu Fischers Bau, die katholische Garnisonkirche (M. Meckel, 1901-1904), in der mit den schmalen, nur als Gänge genutzten Seitenschiffen ein einheitlicher Gemeinderaum nach fast protestantischem Vorbild geschaffen werden sollte. 9.
Wallfahrtskirchen
Der für Wallfahrtskirchen des 17. und 18. Jh. typische landschaftliche Bezug fand im 19. Jh. bei der selten gewordenen Bauaufgabe eine Fortsetzung, wobei die denkmalhafte Isolierung und Präsentation geradezu mit inszenatorischem Geschick gesteigert wird. Zu den wichtigsten Beispielen gehören St. Apollinaris bei Remagen (E.F. Zwirner, 1839-1843), St. Maria in Kevelaer (V. Statz, 1858-1864, Turm 1884), St. Rochus bei Bingen (M. u. C. Meckel, 1893-1895) und die als Manifestation westfälisch-katholischen Widerstands im -»Kulturkampf als Wallfahrtskirche geplante Ludgeruskirche in Billerbeck (W. Rincklake, 1892-1898), alle gotisch. Die Kirchen von La Salette bei Grenoble (1852-1879) in romanischem Stil, Notre-Dame-de-laGarde in Marseille (1853-1864) in byzantinisch-romanischen Formen in exponierter Stellung, gleich einem Seezeichen gelegen, und die Kirche von Lourdes (1864-1876), in gotischem Stil, sind bis heute auch im architektonischen Ausdruck gefühlsbeladene, suggestive Großbauten in Frankreich. Literatur Bibliographien: Bibliogr. zur Architektur im 19. Jh. Die Aufsätze in den deutschsprachigen Architekturzeitschriften 1789-1918, hg. v. Stephan Waetzold, 8 Bde., Nendeln 1977, bes. Bd 3. - Hilda Lietzmann, Bibliogr. zur Kunstgesch. des 19. Jh. Publikationen der Jahre 1940-1966, München 1968. - Marianne Prause, Bibliogr. zur Kunstgesch. des 19. Jh. Publikationen der Jahre 1967-1979, München 1984. Zeitgenössische Darstellungen: Hermann Allmers, Die altchristl. Basilika als Vorbild des prot. Kirchenbaus, Oldenburg 1870. - Richard Bürkner, Grundriß des dt.-ev. Kirchenbaus, Göttingen 1899. - Christian Carl Josias Bunsen, Die Basiliken des christlichen Roms, München 1842. - Ludwig Catel, Grundzüge einer Theorie der Bauart prot. Kirchen. Zur Aufstellung v. Normalformen der prot. Kirchen, Berlin 1815. - Entwürfe zu Kirchen, Pfarr- u. Schul-Häuscrn zum amtlichen Gebrauche, bearb. u. hg. v. der Königlich Preußischen Ober-Bau-Deputation, Potsdam 1844-1855 3 1862. K.E.O. Fritsch, Dritte ev. Kirche für Wiesbaden: Dt. Bauzeitung 25 (1891) 257-258. - Ders., Der Kongreß für den Kirchenbau des Protestantismus: Dt. Bauzeitung 28 (1894) 289-291. 293-296. 306-308. 313-316.-Johannes Gerhardy, Prakt. Ratschläge über kirchl. Gebäude, Kirchengeräte u. Paramente, Paderborn 1895. - Georg Heckner, Prakt. Hb. der kirchl. Baukunst. Zum Gebrauch des Klerus u. der Bautechniker, Freising 1887. - Carl Heideloff, Uber den Kirchenbau der Protestanten, namentlich der Evangelischen: ders., Architectonische Entwürfe u. ausgeführte Bauten, H. 1, Nürnberg 1850, 2 5 - 5 4 . - Karl Aemilius Jaehn, Das ev. Kirchengebäude, Leipzig 1882. - Leo von Klenze, Anweisungen zur Architektur des christl. Cultus, München 1822 2 1833. — Karl Lechler, Das Gotteshaus im Lichte der dt. Reformation, Heilbronn 1883. - Adolph Aemil. Preuss, Ueber ev. Kirchenbau, Breslau 1837. - Protokolle der dt.-ev. Kirchen-Conferenz in Eisenach. Sechste Sitzung: AKED 10 (1861) 428-431.523-554.561-564.-Ratschläge f. den Bauev. Kirchen: Zentralblatt der Bauverwaltung 18 (1898) 304-305. - August Reichensperger, Die christl. germanische Baukunst u. ihr Verhältnis zur Gegenwart, Trier 1845 3 1860. - Ders., Fingerzeige auf dem Gebiete der kirchl. Kunst, Leipzig 1854. - Otto Schönhagen, Stätten der Weihe. Neuzeitliche prot. Kirchen, Berlin 1919. — Victor Schultze, Das ev. Kirchengebäude. Ein Ratgeber, Leipzig 1886. - Gottfried Semper, Uber den Bau ev. Kirchen, Leipzig 1845. - August Sträter, Prakt. Winke für den Bau u. die Einrichtung v. einfachen Kirchen u. Pfarrhäusern, Essen 1909. - Emil Sülze, Die ev. Gemeinde, Gotha 1891. - Valentin Thalhofer, Hb. der kath. Liturgik, Freiburg 1883/1887. - Paul Tschackert, Ueber ev. Kirchenbaustil, Berlin 1881. - Alfred Wanckel, Der dt.-ev. Kirchenbau zu Beginn des 20. Jh., Wittenberg 1914. Zweiter Tag für den Kirchenbau des Protestantismus in Dresden 1906: Deutsche Bauzeitung 40 (1906) 492-494.501-502.516-517.589-590.601-602. Zeitgenössische Zeitschriften für kirchliche Kunst (ohne Architekturzeitschriften): Annales archéologiques, Paris 1(1844)-25(1865). - ACK. - Archiv für kirchl. Baukunst u. Kirchenschmuck, Berlin 1(1877)-11(1887). - CKBK. - ChK. - The Ecclesiologist, Cambridge 1(1841)-29(1868). KDB. - Die Kirche. Zentralorgan für Bau, Einrichtung und Ausstattung der Kirchen, Groß-Lichterfelde, 1(1903) —16(1919). - MGKK. - Organ für christl. Kunst, Köln 1(1851)-23(1873). - ZChK. Kirchenarchitekten (in alphabetischer Ordnung der Architekten): Friedrich Eisenlohr, Ausgeführte oder zur Ausführung bestimmte Entwürfe v. Gebäuden verschiedener Gattung, Karlsruhe
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V. Moderner Kirchenbau (ab 1919) 1. Faktoren des modernen Kirchenbaus 2. Beginn und Grundlegung (von 1919 bis zum Zweiten Weltkrieg) 3. Wiederaufbau und neue Konzeptionen (1947-1965) 4. Das Gemeindezentrum als neues Paradigma 5. Bewertung der Entwicklung (Literatur S. 526)
1. Faktoren des modernen
Kirchenbaus
„Die Liturgie ist die Bauherrin" lautet die lapidare Bestimmung des Kirchenbaus von Cornelius Gurlitt aus dem Jahr 1906 (2. Kirchenbaukongreß Dresden, zit. Kirchen, Hb. für den Kirchenbau 234), die in der Folgezeit von unterschiedlichen Baumeistern und
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Theologen übernommen wurde. Doch es stellt sich die Frage, ob sich der Kirchenbau dieses Jahrhunderts tatsächlich primär von der -»Liturgie her verstehen läßt. Bevor man sich für eine solche Prioritätensetzung entscheidet, sollte man vorab die Faktoren benennen, die das kirchliche Bauen unserer Zeit bestimmt haben und bestimmen. 1.1. Die Liturgie ist dem kirchlich-theologischen Faktor zuzuordnen, der hierauf allerdings keineswegs beschränkt werden darf. Neue Entwicklungen im Gemeindeverständnis, eine neue Bestimmung des Verhältnisses von -»Kirche und Welt sind für das Bauen ebenso prägend. Ein Ja oder Nein zum Begriff des Sakralen, die negative oder positive Einschätzung der -»Säkularisierung waren für den Kirchenbau des 20. Jh. folgenreich. Gleichzeitig sei unbestritten, daß die Neuorientierung der römisch-katholischen Kirche in den sechziger und siebziger Jahren Ergebnis der Liturgischen Konstitution des 2. Vatikanischen Konzils war, die das aggiornamento von Johannes XXIII. aufzunehmen versuchte. 1.2. Die Architekturentwicklung ist ein weiterer bedeutsamer Faktor für den Kirchenbau. Man darf sich die Architektur dabei allerdings nicht allein als Medium der Realisierung von theologischen Ideen, also bloß als „Gehilfin", vorstellen, wie sich immer wieder in der Kirchenbaugeschichte gezeigt hat. Der Umbruch von einer historisierenden Architektur zur Architektur der Moderne mit neuen Materialien in neuen Formen hat auch den Kirchenbau geprägt. Der Historismus, der die zweite Hälfte des 19. Jh. und den Beginn des 20. Jh. noch bestimmte, war das „Feindbild", von dem man sich seitens der Architektur abzusetzen wünschte. Die großen Stahl-Glas-Konstruktionen, die im 19. Jh. einzig profanen Zwecken dienten (beispielsweise für Bahnhofshallen), drangen in den Kirchenbau ein, ebenfalls das Material Beton, das die Möglichkeit zu neuen plastischen Raumformen bot. Neue architektonische Leitbilder - die Kirche von Ronchamp u.a. — bestimmten in der Folge - teils unabhängig von theologischen Erwägungen - den Kirchenbau. In ihren theoretischen Ausführungen erwiesen sich einige Architekten als eigenständige Innovatoren, die mit ihrem Beitrag nicht allein ein Gehäuse schaffen, sondern selbst ein Idealbild von Kirche verwirklichen wollten. 1.3. Der Zeitgeist als dritter Faktor ist von der kirchlich-theologischen und der architektonischen Entwicklung ebenfalls nicht abzutrennen. Ist in der kirchlich-theologischen und der architektonischen Entwicklung aber nicht bereits der Zeitgeist-Faktor berücksichtigt? Sie beide ohne gesellschaftlich-kulturellen Kontext begreifen zu wollen, wäre eine Verkürzung. Trotzdem sei der Faktor Zeitgeist/allgemein-gesellschaftliche Entwicklung eigens genannt. Kontexte für den Kirchenbau dieses Jahrhunderts sind die zwei Weltkriege, Phasen des Wiederaufbaus und der Konsolidierung, Aufbrüche zur gesellschaftlichen Erneuerung, die Dritte-Welt-Problematik u. a. m. Ohne die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und die Flüchtlinge aus den Ostgebieten wäre rein quantitativ eine solche Fülle von Kirchenbauten in der Bundesrepublik nicht möglich gewesen. Die Weltkriege führten auch zu Veränderungen im Gesamtbewußtsein der Kultur, die in Deutschland tiefe Einbrüche zur Folge hatte. Daß sich die Hauptentwicklung des Kirchenbaus in Mitteleuropa, speziell in der Bundesrepublik Deutschland, abgespielt hat, hängt damit zusammen. Aus dem Blickpunkt von Ländern und Zonen, deren Leitbilder sich nicht veränderten (die Ostkirchen), die in anderer Weise im Historismus verblieben oder die die Entwicklung zur Moderne erst mit Verzögerung übernahmen, kann man keine Darstellung des modernen Kirchenbaus geben. Man muß dorthin gehen, wo sich die neuen Ideen herausbildeten und wo sie erstmals sichtbare Formen annahmen. Sowie man bei der Entstehung der modernen Kunst vor allem auf Paris blickt, läßt sich beim modernen Kirchenbau eine Schwerpunktbildung im Blick auf Mitteleuropa wahrnehmen. 2. Beginn und Grundlegung (von 1919 bis zum Zweiten
Weltkrieg)
Von welchem Zeitpunkt an sollte man sich des Begriffs „moderner Kirchenbau" bedienen? Würde man sich einzig an der Entwicklung neuer konstruktiver Formen orientieren, könnte man den modernen Kirchenbau bereits am Ende des 19. Jh. beginnen lassen
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(Astruc, Notre Dame de Travail, Paris 1888; Anatole de Baudot, Saint-Jean de M o n t m a r t r e , 1894-1901). Im Liturgieverständnis indessen verbleiben die genannten Eisenbetonkirchen völlig im 19. J h . Läßt m a n umgekehrt den katholischen Mouvement Liturgique mit d e m Katholikentag in Mechelen (Belgien, 1909) und den Ansprachen von Gottfried Korth und dem Benediktiner D o m Lambert Beauduin beginnen, so ist damit noch keine Verbind u n g zum kirchlichen Bauen erfolgt. Von Ildefons Herwegen, seit 1913 Abt von M a r i a Laach, wird das Interesse an liturgischer Erneuerung in die katholischen Akademikerkreise und die -»Jugendbewegung hineingebracht, w o d u r c h auch R o m a n o - » G u a r d i n i und die Architekten D o m i n i k u s Böhm und M a r t i n Weber (er selbst war O b l a t e in M a r i a Laach) beeinflußt w u r d e n . Abt Ildefons Herwegen ist ein wichtiges Zwischenglied, aber die räumlichen und baulichen Konsequenzen des liturgischen Gedankens tauchen bei ihm noch nicht auf. In der katholischen und der evangelischen Kirche kann man trotz m a n cher Vorahnungen im Stilempfinden (Peter Behrens in Hagen-Wehringshausen, 1906) oder unausgeführter Kirchenentwürfe und Altarstudien von Dominikus Böhm nicht vor 1919 von modernem Kirchenbau sprechen. 2.1. Otto Bartning: Wechselbeziehung von Liturgie und Architektur. Der m o d e r n e Kirchenbau beginnt mit der Schrift von O t t o Bartning Vom neuen Kirchbau (1919). Es ist ein leidenschaftlicher Appell an ein neues, von der Gemeinschaft her bestimmtes Bauen mit gleichzeitiger Ablehnung des Historismus und aller falschen Repräsentanz. Bartning fordert den „ S a k r a l b a u " , in welchem die „örtliche Gebundenheit der Religionsübung" ihren Ausdruck findet (29). Indem er sich am Gottesdienst als geistigem Prozeß orientiert, steht er in gleicher Weise dem reinen Z w e c k b a u wie der Pseudosakralität gegenüber. In seinen Gebäuden ist Bartning d a r u m bemüht, „die Wechselbeziehung der liturgischen und der architektonischen S p a n n u n g " (Vom R a u m der Kirche 88) zum Ausdruck zu bringen. Dies f ü h r t als erstes zum Entwurf der „Sternkirche" (1922), einer auf einem Kreisgrundriß angelegten expressiven R a u m f o r m , in deren Z e n t r u m Altar und Kanzel angeordnet sind. Bis auf das als Feierkirche ausgesparte Kreissegment umschließt die Gemeinde in offenen, konzentrischen Kreisen die Prinzipalstücke als Z e n t r u m . Diese Grundrißlösung w u r d e von Bartning in der Auferstehungskirche in Essen (1930) - diesmal in nicht-expressiver Formensprache — verwirklicht. Bei der Pressa-Ausstellung in Köln (1928) bediente sich Bartning der Materialien Stahl und Glas auf einem parabolischen Grundriß. Bartnings Forderung, die liturgische und die architektonische Spannung sollten zusammenfallen, findet in der Gustav-Adolf-Kirche in Berlin-Charlottenburg (1934) ihren reinsten Ausdruck. Der G r u n d r i ß ist fächerartig, wobei an der Spitze des Fächers, zu der sich das G e b ä u d e steil in die H ö h e zieht, die Kanzel-Altar-Zone mit einem aufgerichteten Kreuz zu sehen ist. Martin Elsaesser (Südkirche in Eßlingen-Plimsau, 1925) und Theodor Fischer (Evangelisch-lutherische Waldkirche in Planegg, 1926) griffen den Kreis bzw. das Oktogon auf, um die sich um den Altar sammelnde Communio Sanctorum zur Darstellung zu bringen. Dadurch kam es endgültig zur Ablösung des Eisenacher Regulativs mit seiner Ausrichtung auf den vor der Gemeinde inszenierten bühnenartigen Altar. Gleichzeitig erreichte man eine Anknüpfung an die vielgestaltigen Grundrißformen des protestantischen Barockbaumeisters Leonhard Christian Sturm (1712). 2.2. Meßopferkirche und Circumstantes-Vorstellung. Bereits vor Bartnings PressaKirche entwarfen 1923 die G e b r ü d e r Perret mit N o t r e D a m e de Raincy bei Paris die erste auf Stützen getragene Eisenbetonkriche. Ihr folgten St. Therese von M o n t m a g n y (A. Perret) und die Antoniuskirche in Basel von Karl M o s e r (1927). Beton als Baustoff f ü r eine Kirche w u r d e heftig diskutiert. D a die Last auf die Betonstützen gelegt wurde, w u r d e n die W ä n d e frei f ü r Glasflächen. Es handelte sich aber noch immer u m längsgerichtete Einheitsräume ohne Nischen und Seitenkapellen, die auf den erhöhten Altarbezirk ausgerichtet sind. Die architektonische Innovation - das Bekenntnis zu neuen Baustoffen und Formen - w a r bedeutender als die liturgische. Die mit Bartnings Vom neuen Kirchenbau vergleichbare programmatische Schrift im katholischen R a u m ist Johannes van Ackens Christozentrische Kirchenkunst. Ein Entwurf zum liturgischen Gesamtkunstwerk (1922).
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Bei van Acken wird die Verbindung von Liturgischer Bewegung und Kirchenbau endgültig vollzogen. Unter „christozentrischer Kirchenkunst" versteht er, daß der „Altar als der,mystische Christus' . . . der Ausgangspunkt und gestaltende Mittelpunkt des Kirchenbaus und der Kirchenausstattung" (zit. nach Schnell, Kirchenbau 35) sein soll. „Die gesamte gottesdienstliche bildende Kunst soll bei durchgeistigter Kenntnis der Überlieferung wesentlich aus dem liturgischen Zweckgedanken heraus wahre und edelste Gegenwartsformen schaffen, dabei im Hauptraum ein einheitliches Gesamtkunstwerk erreichen . . . " (ebd.). Historismus, fehlgeleitete Privatfrömmigkeit, Heiligen- und Marienkult müssen sich dem christozentrischen Einheitsraum unterordnen. Van Acken fordert die Zentralisierung des Kirchenraums auf den Altar hin. Dies ist das Konzept der von van Acken vertretenen „Meßopferkirche" (ebd.). Der katholische Baumeister der ersten Stunde war Dominikus Böhm (der zu Beginn mit Martin Weber zusammenarbeitete). Die Kirche St. Josef in Offenbach (1919/29) und St. Peter und Paul in Dettingen (1922) bezeichnet H u g o Schnell „als erste moderne Kirchengebäude Deutschlands" (ebd.). In der Folge entwarf Böhm mystische mit Rund- und Spitzbogen überwölbte Räume, deren Seiten ebenfalls durch Wölbungen eingeschnitten sind (Christ-König-Kirche, Mainz-Bischofsheim, 1926; St. Apollinaris, Frielingsdorf, 1926/27). Strenge Verwirklichungen der Meßopferkirche sind der ganz in Weiß gehaltene hohe R a u m der Fronleichnamskirche in Aachen von Rudolf Schwarz (1932) und die FrauenFriedens-Kirche in Frankfurt von Goßlett und Herkommer (1927), ebenfalls ein Quader mit Höhenerstreckung. In der Fronleichnamskirche versteht Schwarz das Gottesvolk als Welt vor der Schwelle. In zwei Bankreihen hintereinander gestaffelt blickt die Gemeinde auf die Leere der weißen Wand hinter dem als ara erhobenen dunklen Altar. Alle anderen von der zentralen Opferhandlung hinwegführenden Aktivitäten wurden in ein Seitenschiff entlang der Südseite untergebracht. Die Leere hinter dem Altar wird vom Architekten als Ewigkeitssymbol verstanden. Obgleich die longitudinale Ausrichtung des Kirchengebäudes als Langhaus vorherrschend bleibt, gibt es doch beachtenswerte Zentralformen. Selbst wenn der Zentralraum in seiner Reingestalt selten Verwirklichung fand, so bedeutete die Beschäftigung damit eine Durchbrechung des Langhausquaders mit seiner auf den Altar bezogenen Richtung: Fächerform, kreis- und halbkreisförmige oder anderweitige den Altar rahmende Bestuhlung sind die Folge. In Martin Webers Heilig-Geist-Kirche in Frankfurt wurde zum ersten M a l in einer katholischen Kirche der Altar so plaziert, daß er von allen Seiten von Bankreihen umgeben wurde und auch die Kanzel in seine Nähe rückte (1930). Damit griff Weber einen Impuls von O d o Casel (Maria Laach) auf. Es geht um mystische Verinnerlichung des Meßopfers. Der christozentrische Gedanke wird in gleicher Weise auf den Altar, den handelnden Priester und auf die Gemeinde als Corpus Christi bezogen. Es entsteht das Ideal der Circumstantes, der den Altar „Umstehenden", wobei Priester und Gemeinde einen Kreis bilden. Der Ursprung der Circumstantes-Vorstellung in der klösterlichen Gemeinschaft wirkte, obgleich sie jetzt auf das Gottesvolk als Ganzes bezogen wurde, insofern nach, zumal sie an Orten intensiven geistlichen Lebens praktiziert wurde, etwa im Rittersaal auf Burg Rothenfels (Architekt Rudolf Schwarz, 1928/29). Die besten Beispiele der Circumstantes-Vorstellungen finden sich in den Kapellen amerikanischer Benediktinerklöster: beispielsweise in Wellfleet, Massachusetts (1956, Architekt O. Hammerstrom), Grève Coeur, Missouri (1962, Architekten Hellmuth, Obata und Kassabaum), Porthmouth (1961, Architekten Belluschi, Andersen, Beckwith) und in der John's Abbey, Minnesota (1961, Architekt Marcel Breuer). Vor allem in der schwedischen Kirche fand dieser Gedanke Anklang: beispielsweise Visborgskirche in Visby (1969) von Per-Erik Nilsson und die Allhelgonakirche in Ljunsbro (1962) von Rolf Bergh. Andere bedeutende Kirchen in anderen Ländern hängen weniger mit einer bestimmten gottesdienstlichen Konzeption zusammen als mit dem Namen der Architekten (Frank Lloyd Wright, Kapelle Southern College Lakeland [1940], E. u. R. Saarinen, First Christian Church, Columbien, USA [1942]. - In der Grundtvig-Kirche in Kopenhagen (Architekt Klint, 1913-1926) bediente man sich expressiver Formen in Beton, ohne freilich die neugotische Bildvorstellung und die Anordnung nach
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dem Eisenacher Regulativ preiszugeben. Mit seinen Plänen der Hallgrimskirkja in Reykjavik (Island) trat der Staatsbaumeister Gudjon Samuelsson in Konkurrenz zur Kopenhagener GrundtvigKirche. Dieser zweite „nordische Dom", 1937 entworfen, wurde 1986 fertiggestellt, ohne daß seine Innenausstattung schon abgeschlossen wäre.
Solche Bauten - sie wären durch Beispiele aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten zu ergänzen - verdeutlichen, daß sich nicht überall die gleichen Prinzipien der Moderne durchgesetzt haben, und sind unter dem Gesichtspunkt einer „Revision der Moderne" von Interesse. Während die Bautätigkeit in Deutschland bereits seit 1933 merklich nachließ und ab 1939 vollends zum Erliegen kam, vermochten die Nachbarländer, vor allem die Schweiz, die zuvor entwickelten Gedanken fortzuführen. Mosers Kirche in Alt-Zürich-Altstetten (1939-1941) ist ein in seinem Purismus klassisch moderner Bau. Die Schweizer Architekten Fritz Metzger und Hermann Baur verwirklichten im katholischen Raum schlichte Kirchen von hohem architektonischen Anspruch (z.B. Fritz Metzger, St. Gallus, St. Gallen, 1934/35; Hermann Baur, Sakramentskirche, Dornach, 1937). 3. 'Wiederaufbau und neue Konzeptionen
(1947-1965)
3.1. Notkirchen und Purismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg ergab sich für die Bundesrepublik Deutschland das Problem des Wiederaufbaus bzw. des Neubaus zerstörter Kirchen. Die Flüchtlinge aus dem Osten veränderten die konfessionelle Struktur einzelner Regionen, so daß nicht allein wegen der Zahl, sondern auch wegen neuer konfessioneller Gegebenheiten weitere Neubauten erforderlich wurden. Von 1947—1951 baute Otto Bartning 48 Notkirchen. Mit Geldern aus den USA und der Schweiz entwickelte er vier einfache Typen, für die Holzbinder, Bretter, Türen, Dachtafeln und Fenster serienmäßig bereitgestellt wurden. Die Mauern wurden von den Gemeinden vor Ort angelegt, zumal es Trümmersteine genug gab. In der Christuskirche Bad Godesberg (1955) griff Bartning auf den Fächer als Grundriß zurück. Bei diesem Bau beschäftigte er sich bereits mit der Möglichkeit von Raumerweiterungen in Form von Anschlußräumen. Auch Rudolf Schwarz betonte in seinen Bauten einfache, aber starke Formen, beispielsweise St. Anna in Düren (1951-1956) und St. Michael in Frankfurt (1953/54). Der Purismus des Wiederaufbaus der Paulskirche (1947/48) als „politisches Sprachhaus" wurde in den achtziger Jahren bereits nicht mehr verstanden, weshalb man wieder Veränderungen vornahm. 3.2. Vaticanum II und Rummelsberger Programm. Emil Steffanns einfache Steinbauten (z.B. Scheunenkirche in Boust, Lothringen 1942; St. Laurentius, München 1955) atmen den Geist der mittelalterlichen Reformorden. In der liturgischen Ordnung rückte der Altar ins Zentrum der Gemeinde, so daß der Priester fortan hinter dem Altar versus populum zelebriert. Bei der Restaurierung der Liebfrauen-Kirche in Trier, dem Beginn der Gotik auf deutschem Boden, stellte Rudolf Schwarz den Altar zur Zelebration ins Zentrum, während das Tabernakel in der Konche einen eigenen Standort bekam (1952). Mit solchen Zeichensetzungen in neuen und historischen Kirchen verwirklichten die deutschen katholischen Baumeister Vorstellungen, wie sie schließlich von der Liturgiekonstitution des 2. Vatikanischen Konzils 1963 (-»Vatikanum II) bestätigt wurden. In der Folge des 2. Vatikanums wurde durch das Vorrücken des Altars und der Zelebration versus populum der Gemeinschaftsgedanke stärker betont. Das Zur-Seite-Rükken des Tabernakels, das in der Folge zu einem eigenen plastischen, meist stelenartigen Gebilde mit Aufbewahrungskammer wurde, war nicht unumstritten. Hugo Schnell spricht angesichts der Betonung des Gemeinschaftsgedankens unter der Verwendung des Begriffs „allgemeines Priestertum" (I Petr 2, 9f) von einer „weiteren Annäherung des katholischen und evangelischen Kirchenbaus" (Kirchenbau 181). Während die katholische Kirche verstärkt den Zentralraum aufgriff, hielt man im evangelischen Raum zu Beginn der 5Oer Jahre am Langhaus fest. Das Rummelsberger Programm (1951) — von den Teilnehmern des Evangelischen Kirchbautags verfaßt sprach sich für den gerichteten Raum mit erhöhtem Altarbereich mit dem Altar im Zen-
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trum und der Kanzel zur Seite aus. Für den Altar und die übrigen Prinzipalstücke wurden nicht-natürliche Materialien (Beton, Eternit, Sperrholz usw.) ausdrücklich abgelehnt. Der Taufe wurde ein fester Standort zugewiesen (Taufstein). Dies hatte in der Folge eine Aufwertung des Taufsakraments und eine Einbeziehung der -»Taufe im Gemeindegottesdienst zur Folge. Gemessen an früheren Aufbrüchen im evangelischen Kirchenbau, in denen es beispielsweise um den Zentralbau und um neue Grundrißformen ging, ist das Rummelsberger Programm eher nach rückwärts gewandt. Als Äußerung des Evangelischen Kirchbautags, einer interdisziplinären Versammlung von Theologen, Baumeistern und kunstsachverständigen Laien, hatte dieses Programm, das die nächsten Jahrzehnte beibehalten wurde, allerdings keinerlei rechtliche Verbindlichkeit. In den kommenden Kirchbautagen, die in Abständen von drei Jahren stattfanden, war man bestrebt, den jeweils neuen gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen. Die Frage nach dem Sakralraum, nach dem Verhältnis von „Kirche und Stadt" (1973), „Bauen mit Geschichte" (1979) und andere Fragestellungen wurden auf diesen vom Niveau her anspruchsvollen Kongressen diskutiert (Vorsitzende: Oskar Söhngen 1953-1972, seit 1972 Rainer Volp). 3.3. Wirkungen der Michaelsbruderschaft. Großen Einfluß für den Kirchenbau hatte im evangelischen Bereich vor allem die Michaelsbruderschaft. Aus der Berneuchener Bewegung (1926) mit ihrem vertieften Verständnis des Symbols hervorgegangen, hatte die evangelisch-liturgische Bewegung die Messe als Grundform gottesdienstlichen Lebens wiederentdeckt, und damit verbunden -»Kirchenjahr, -»Stundengebete und -»Symbole. Für Karl Bernhard Ritter und Wilhelm -»Stählin, die beiden Häupter der Bewegung, bot sich das kirchliche Bauen als bevorzugtes Handlungsfdd an, um die eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Bereits anläßlich der Renovierung der Universitätskirche in M a r b u r g (1927) konkretisierte Karl Bernhard Ritter seine Vorstellungen auf die Inncnraumgestaltung der ehemaligen Ordenskirche der Dominikaner. Im Neubau der St. Michaels-Kirche in Nienburg (1957) von Hübotter, Ledeboer und Romero fand die liturgische Idee der Michaelsbruderschaft ihren klarsten Ausdruck. Es handelt sich bei St. Michael um einen gerichteten Raum mit einem auf den Altar zuführenden Mittelgang. Die Kanzel ist an der linken Seite des leicht erhöhten Altarraums der Gemeinde zugekehrt. Auf der Südseite ist Platz für den Sängerchor. Die Taufe wird in einer eigenen Taufkapelle am Eingang der Kirche vollzogen. Die kleinen quadratischen Fenster des Schiffes sind sehr hoch angeordnet, so daß der Gottesdienstbesucher nicht nach draußen abgelenkt wird. Stattdessen ist der Blick konzentriert auf Altar, Altarkreuz und eine Darstellung des wiederkommenden Christus. Daß hinter dem Altar das Kommen des Herrn bzw. Szenen aus der Apokalypse dargestellt sind, verbindet die Michaelsbruderschaft mit dem Kirchenbau der Alten Kirche. Während das Klinkergebäude von außen fast unscheinbar wirkt, soll es seine freilich schlichte Schönheit nur im Innenraum entfalten. Auch dies ist ein Verbindungsglied zum Kirchenbau der Alten Kirche. Der Bautyp der Michaelsbruderschaft gewann für viele Architekten Leitbildfunktion, wobei die puristische Schlichtheit des Gründungsbaus zum Teil beibehalten und zum Teil von farbigeren, poetischeren Lösungen unter Beibehaltung des Grundprinzips abgelöst wurde (z. B. Werner W. Neumann, Weißfrauenkirche [1952] und Wartburgkirche [1956], beide Frankfurt).
3.4. Eigenständige Wege. Einen eigenständigen, die evangelischen Formansätze der zwanziger Jahre aufgreifenden Ansatz wählte Olaf Andreas Gulbransson (z. B. Taufkirchen [1952], Schliersee [1953], Kirche in Hamburg-Rahlstedt [1955]). Gulbransson wählte vielfältige Grundrißformen, wobei er darauf bedacht war, daß liturgische und architektonische Spannung zusammenfallen. In Taufkirchen schart sich die Gemeinde um die Altar-Kanzel-Zone, der Taufstein gewinnt im Angesicht der Gemeinde neues Gewicht. Im Außenbau war Gulbrannson darum bemüht, entgegen den Tendenzen des neuen Bauens die Kirche der Umgebung anzupassen, wobei er vorgefundene Elemente kreativ aufnahm. Prinzipien, die für Bartning und Elsaesser wichtig waren, wurden bei Gulbransson, der in seinen Bauten das kleine oder mittlere Format niemals überschritt, auf neue Weise umgesetzt. Eigenständigkeit im Ausdruck können auch die Kirchenbauten von Gerhard Langmaack für sich beanspruchen. Bemüht, einen eigenen Sakralstil zu entwerfen, überraschte
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der Hamburger Architekt in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahren mit immer neuen Raumerfindungen (z.B. Christuskirche, Wolfsburg 1950/51). Aufgrund seiner Ausdrucksvielfalt schwer einzuordnen ist der katholische Architekt und Würzburger Dombaumeister Hans Schädel. Abgesehen von seinen vielfältigen Bauideen besteht ein großes Verdienst Schädels darin, bedeutende Gegenwartskünstler in seine Bauten einzubeziehen. Unter Schädel erfolgten die ersten abstrakten Glasfenster von Georg Meistermann (St. Kilian, Schweinfurt, 1950). In der Plötzenseer Gedächtniskirche Maria Regina Martyrum (1965) vereinigte Schädel mit Meistermann (ApokalypseBild hinter dem Altar), Herbert Hajek (Kreuzweg) und Fritz Koenig (Pietà) bedeutende Gegenwartskünstler. 3.5. Erneuerung der kirchlichen Kunst. Während die architektonische Formensprache des 20. Jh. im Kirchenbau nahezu selbstverständlich Aufnahme fand, war das Verhältnis zwischen Kirche und Gegenwartskunst eher distanziert. Alexander Cingria hielt bereits 1917 provokative Vorträge über das Thema La Décadence de L'Art Sacré. Speziell im französischen Sprachraum, von dem die moderne Kunst ihren Ausgangspunkt nahm, wurde die Diskrepanz zwischen der Kunst innerhalb und außerhalb der Kirche als besonders schmerzlich empfunden. 1938 richtete in der Zeitschrift L'Art Sacré Dominikanerpater Couturier einen „appel aux grands", in welchem er die sogenannten „großen Künstler" seiner Zeit einlud, in der Kirche mitzuwirken. Der Krieg verhinderte dies. Aber gleich nach dem Zweiten Weltkrieg erneuerte Couturier seine Aufforderung an die damals bekanntesten Künstler im französischen Sprachraum. Couturier fragte nicht nach der christlichen Gesinnung, sondern einzig nach der künstlerischen Qualität. Das Kunstwerk ist „selbst und für sich selbst ein absolutes, eine stellvertretende Form des Religiösen" (Das Religiöse 144). In der Kirche von Assy (1949), der ersten Station dieses Experiments, wirkten von künstlerischer Seite mit: Bonnard, Bazaine, Braque, Chagall, Léger, Lurçat, Matisse, Richier, Rouault. Zum ersten Mal seit dem Barock war die große Kunst wieder in der Kirche präsent. In Audincourt (1952) wurde von Léger und Bazaine auf spektakuläre Weise in einer Kirche Betonglas eingesetzt. Seitdem ist Betonglas ein bevorzugtes Material im Kirchenbau. In der gleichzeitig entstandenen Kirche in Les Bréseux im französischen Jura schuf Manessier seine ersten gegenstandsfreien Glasfenster. Es war ebenfalls Couturier, der Le Courbusier dazu veranlaßte, auf dem Hügel von Ronchamp eine Kirche zu bauen (1955). Die Einbeziehung moderner Kunst in den Kirchenbau war nicht unumstritten. Um das Kruzifix von Germaine Richier in Assy entstand eine Kontroverse, die zwei Jahre lang in der internationalen Presse diskutiert wurde. Solche Auseinandersetzungen begleiten das Verhältnis von Kirche und moderner Kunst bis zur Gegenwart und stellen mitunter eine Belastung dar (z. B. der „Heidelberger Fensterstreit" um die Glasfenster von Schreiter in der Heilig-Geist-Kirche; vgl. Mertin: Mertin/Schwebel 99-112). In England war der Wiederaufbau der St. Michaels-Kathedrale in Coventry (1951-1962) der Anlaß, Gegenwartskunst in den Kirchenbau aufzunehmen. Graham Sutherland schuf einen großen Wand-Teppich mit dem Thema „Pantokrator" und John Piper Glasfenster, die eine Tradition moderner Glasfenster in England zur Folge hatten. In der Bundesrepublik Deutschland ist der Durchbruch von abstrakter Kunst in der Kirche Georg Meistermann zu verdanken (St. Kilian, Schweinfurt 1950), dem sich freilich bald andere bedeutende Künstler anschlössen. Der Entwurf und die Ausgestaltung der Rosenkranzkapelle in Vence von Henri Matisse bedeutete einen weiteren Meilenstein für die Verbindung von Kunst und Kirche (ebenfalls 1950). In den fünfziger Jahren entstand aufs neue eine Glaskunst, die sich wieder mit den Techniken des Mittelalters messen kann. Das oft verwandte Betonglas ermöglichte, daß große diaphane Glaswände errichtet wurden, die sich der Architektur einfügen bzw. zu ihr in eine spannungsvolle Beziehung treten, z.B. die Glaswände in Formbetonsteinen von Gabriel Loire (Kaiser-WilhelmGedächtniskirche Berlin, Architekt Egon Eiermann, 1959) und die Betonglaswände von
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H e r m a n n G ö p f e r t in St. Andreas in F r a n k f u r t und von J o c h e m Poensgen in St. E l i s a b e t h , B e n s b e r g - R e f r a t h (beide 1 9 6 2 ) . D a s Eindringen von a b s t r a k t e r M a l e r e i in kirchliche R ä u me bedeutete ebenfalls, d a ß zum ersten M a l ein Stil o h n e c h r i s t l i c h e s T h e m a ' in der Kirche heimisch wurde. D a m i t h a t t e Kunst aufgehört, ancilla theologiae zu sein. A u t o n o m e Kunst im kirchlichen R a u m ist ein N o v u m . Anstatt Anschauungsmaterial christlicher Inhalte zu sein, wird sie als Kunst bedeutungsvoll. F ü r die reformierten Kirchen der Niederlande bedeutete dies, d a ß m a n in einigen Fällen a b s t r a k t e Bildwerke in die Kirche aufnahm, wobei das Interesse an der gegenstandsfrei interpretierten F a r b k o m p o s i t i o n , dem O r n a m e n t oder der R a u m g l i e d e r u n g gegenüber der inhaltlichen D e u t u n g ü b e r w o g . Blickt m a n beim T h e m a - » G l a s m a l e r e i u n m i t t e l b a r nach dem Z w e i t e n Weltkrieg zunächst nach F r a n k r e i c h , so änderte sich dies recht bald. G l a s m a l e r aus D e u t s c h l a n d ( M e i s t e r m a n n , L a n d e r , S c h a f f r a t h , Schreiter, Buschulte, Poensgen u. a.) entwickelten eine bei aller Unterschiedenheit in den Prinzipien g e m e i n s a m e F o r m e n s p r a c h e . Die German School basiert auf der Abstraktion und bezieht die Bleiruten graphisch in ihren stark auf die Architektur bezogenen Glaskunstwerken ein. Sie steht damit im Gegensatz zum französischen Kolorismus oder einem eher narrativen Verständnis von Glasmalerei, das sich des Glases bedient, um inhaltsbezogene Bilder in Glas umzusetzen (Marc Chagall, Kathedrale in Metz [1960], Fraumünster Zürich [1972], St. Stephan Mainz [1978-1985]). 3.6. Ronchamp und die Folgen. D i e K i r c h e auf dem Hügel von R o n c h a m p von L e Corbusier w a r in m e h r f a c h e r Hinsicht bedeutungsvoll. Als L e C o r b u s i e r , einer der G r ü n derfiguren des m o d e r n e n Bauens, den Auftrag erhielt, w a r er durch seine W o h n m a s c h i nen, den „ G e i s t der G e o m e t r i e " , charakterisiert. In R o n c h a m p verwirklichte er jedoch mit dem M a t e r i a l B e t o n eine freie poetische F o r m , deren Verwirklichung auf weite Strekken gegen die Prinzipien der M o d e r n e gerichtet ist ( M i ß a c h t u n g der Werkgerechtigkeit in der Südwand, antifunktionelle E l e m e n t e , r ä u m l i c h e Unübersichtlichkeit, Irrationalität). Le C o r b u s i e r ermunterte gleichsam dazu, Poetisches in die A r c h i t e k t u r einzubringen und zeigte auf, welche M ö g l i c h k e i t e n das M a t e r i a l B e t o n und die - » K ü n s t e (Plastik, M a l e r e i ) hierzu anbieten. D a s T h e m a K i r c h e bzw. Kapelle w a r für ihn Auslöser für eine solche die M o d e r n e herausfordernde Innovationsleistung. Daß mit Ronchamp Le Corbusier, einer der Wegbereiter der Moderne, auf solche Weise sein Ideal von Kirche verwirklichte, regte auch andere Architekten dazu an, nicht nur eine, sondern ihre Kirche zu bauen. Das Material Beton bot überdies die Chance, nahezu jedwede plastische Form umzusetzen. Große Meisterwerke eines plastisch verstandenen Bauens sind die Kirchen Helmut Strifflers (vor allem die Gedächtniskapelle in Dachau, 1967), ebenfalls die der Schweizer Gisel (evangelische Kirche in Effretikon, 1962) und Dahinden (Maria Königin, Zürich 1962). Der Feldbergkirche im Schwarzwald (1965) von Rainer Disse liegt ebenfalls ein plastisches Verständnis zugrunde. Der Schweizer Walter Förderer schuf Kirchen, bei denen man von „begehbaren Großplastiken" (Pfarrkirche Heremence, Schweiz 1963) sprach. Die Vielfalt der Erscheinungsformen ließ zwischenzeitlich das Wort vom „Karneval der Architekten" aufkommen. Viele Kirchen wurden mit einem Spitznamen belegt. Nachfolger von Ronchamp findet man seither in allen westlichen Ländern. Selbst die 3000 Personen fassende Wallfahrtskirche „Mutter Gottes - Königin Polens" von Nowa Huta in Polen ist trotz der Vervielfältigung in den Ausmaßen ohne Ronchamp nicht vorstellbar (1977, Architekt Wojciech Pietrzyk). Mit Gottfried Böhm, dem Sohn von Dominikus Böhm, trat im Kirchenbau seit 1955 ein Mann mit einer ungewöhnlichen Phantasie auf. Zum Formenarsenal von Böhms vielgestaltigen Betongebilden gehören auch Exotismen, z. B. Minarette, Pyramiden, Kristalle, ebenso wie das Himmelsgebirge (Neviges, Wallfahrtskirche 1962-64). Seine Innenräume sind gefaltet und gewinkelt, so daß Mystik und eine archaische Religiosität wieder einen Platz finden. Prinzipien der Postmoderne - beispielsweise das Zitat, verwirrende Größenverhältnisse und eine das Erleben stimulierende Desorientierung - bestimmen die Ausdrucksweise von Gottfried Böhm. Als „postmodern" im Erscheinungsbild und in der Theorie läßt sich auch die Autobahnkirche an der Autostrada del Sole bei Florenz von Giovanni Michelucci (1963) einstufen. In der Theorie betont der einst funktionalistisch schaffende Michelucci den Bruch mit funktional-logischen Prinzipien. Der Bau, der von außen Gebirgsformen des Apennin aufgreift und im Inneren einen Raum mit einem Betongabelwerk, Nischen und Winkel erscheinen läßt, läßt Verbindungen zu Antoni Gaudi im Park Guell in Barcelona aufkommen. Damit war der Typ der Autobahnkirche, die den Fahrer durch ein
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visuell attraktives Angebot verlocken soll, seine Fahrt zu unterbrechen, als neue Bauaufgabe ins Leben gerufen. (In Deutschland ist die bekannteste Autobahnkirche die von Baden-Baden des Architekten Friedrich Zwingmann und des Plastikers und Glasmalers Emil Wächter, 1973.)
Die Verwendung von Beton als einem Baumaterial, das vielgestaltige Formen und eine Korrespondenz zum Plastiker ermöglicht, und die Einbeziehung neuer Glaskunst sind Errungenschaften, die seitdem im Kirchenbau weltweit - beispielsweise in den USA, in Kanada, in Japan und Korea - anzutreffen sind. Daß die durch die neuen Materialien und Verfahren und die durch liturgische Öffnung bewirkte Freiheit zu einer gesteigerten künstlerischen Qualität geführt hätte, läßt sich jedoch nicht sagen. Der Vorwurf, man habe in den sechziger Jahren statt Kirchen große „Betonbunker" errichtet, begleitete die plastische Architektur von Anfang an und über Landesgrenzen hinweg. Die Zeit zwischen 1955 und 1965 ist ein Höhepunkt des Kirchenbaus. Die berühmtesten Baumeister der Zeit waren daran beteiligt. Außer Le Corbusier (s.o.) sind dies: Egon Eiermann, Oscar Niemeyer, Saarinen, Aalto, Belluschi, Frank Lloyd Wright, sogar Mies van der Rohe, Kenzo Tange, Marcel Breuer, Pier Luigi Nervi. 3.7. Die offene Glaswand. In Skandinavien, das vor allem wegen seiner kleinen, in der Innenausstattung und der verwendeten Materialien höchst kostbaren Kirchen Beachtung verdient, entwickelte sich der Typ der Kirche mit offener Glaswand. Die Altarwand wird durch durchsichtiges Glas ersetzt, wodurch die Natur optisch mit in den Kirchenraum einbezogen wird. Der Gottesdienstbesucher blickt auf einen Wald oder einen See. Die zur Natur hin offene Altarwand wurde von Lehrecke in der Kirche „ Z u r H e i m a t " (Berlin, 1962) und von Baumgartner in der Kirche am Lietzensee (Berlin, 1963) beispielhaft verwirklicht. Z u r Natur hin geöffnete Kirchen errichtete man außerhalb von Skandinavien und der Bundesrepublik in den Niederlanden, in Frankreich, den USA, Kanada usw. Wegweisend für diesen Typ wurde Wayfarer's Chapel der Unitarier in Palos Verdes in Kalifornien (Frank Lloyd Wright, 1960), unmittelbar am Pazifischen Ozean. Die Pfingstbergkirche in Mannheim (Architekt Carlfried Mutschier, 1964) ist ein Glaskubus mit Betonstrebewerk inmitten einer Waldumgebung. Ein weiteres Beispiel für diesen Bautyp ist die Kirche auf dem Tempelplatz in Helsinki/Finnland (1969, Architekten T i m o und Tuomo Suomaleinen), die völlig von Bruchsteinen umgeben ist.
Impliziert die Einbeziehung der Natur in den Kirchenraum bei den Finnen und den Unitariern eine Theologie der Schöpfung, so sind offene Glaswände in städtischer Umgebung Folge eines bewußt antisakralen Affekts. Wenn Lehrecke im Gemeindezentrum Baunatal (1975) die Neubauumgebung optisch in den Gottesdienst einbezieht, so richtet er sich damit gegen eine im Sakralraum sonst vollzogene Trennung zwischen Kirche und Welt. Der Blick nach draußen gehört bei diesem von protestantischem Ethos getragenen Architekten ebenso zu seinen Bauten wie die Einfachheit in der Gestaltung und die Gediegenheit in der Materialbehandlung (Gebetssaal der Herrenhuter, Berlin 1959). 4. Das Gemeindezentrum
als neues
Paradigma
4.1. Diskussion um den Sakralbau. Während Oskar Söhngen in Anknüpfung an O t t o Bartning mit der Mehrheit der Architekten den Begriff des „Sakralen" verteidigte, lehnten andere, eher liberalen oder reformierten Gedanken zugeneigte Theologen und Architekten die Sakralität ab. Einer dieser Wortführer war Otto H . Senn, ein bedeutender evangelischer Baumeister und Kirchbautheoretiker. Für Senn beginnt der „moderne Kirchenbau" bereits im 19. Jh. mit der von der Romantik vertretenen Idee, im Raum das spezifisch „Christliche" als das Sakrale aufzuzeigen. Nachdem man über den Historismus und Bestimmungen wie das Eisenacher Regulativ meinte, das „Christliche" in Formen historischer Architektur zur Darstellung bringen zu können, habe man im 20. Jh. in einem zweiten Schritt das gleiche versucht, wenn auch auf anderem Wege: diesmal durch „Emanzipation vom Historismus" (Senn 19). Dieser zweite (emanzipatorische Teil des „modernen Kirchenbaus") sei aber - so Senn - noch immer an die falsche Vorstellung gekoppelt, d a ß man das „Christliche" in einer Baugestalt je fassen könne. Die von Senn
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(Thomaskirche, Basel 1955) und in seinem Umkreis in der Nachfolge entstandenen Kirchen (Gemeindezentrum Steinhausen 1976/77 von Ernst Gisel u.a.) zeichnen sich durch vielfältige Grundrißlösungen und variable Sitzordnung aus, während sie im übrigen schmucklos und nüchtern sind und im Material und in der Durcharbeitung einen hohen Standard haben. Auch im katholischen Raum wurde der Begriff des Sakralen in Frage gestellt. Für den katholischen Theologen Günter Rombold kommt „die Errichtung .sakraler' Bauten . . . dem Versuch gleich, dem modernen Menschen eine archaische Religiosität aufzuzwingen" (93). Der Wiener Architekt Otto K. Uhl schreibt: „Im Christentum ist die Unterscheidung zwischen ,sakral' und ,profan' grundsätzlich aufgehoben" (zit. n. Rombold 133). Das bedeutet für die Reformkatholiken keineswegs eine Preisgabe des Anspruchs an ein Kirchengebäude, denn der Verzicht auf die Vorstellung des Sakralen bedeutet keinen Verzicht auf die Vorstellung vom kirchlichen Handeln an der Welt. Für Herbert Muck, einem Vertreter der These von „Bauen als Prozeß", ergibt sich die Baugestalt aus dem Zusammenwirken vielfacher kommunikativer Prozesse. Von diesem Ansatz her entwikkelt Muck eine semiotische Kirchbautheorie (Der Raum). 4.2. Agora-Gedanke und Mehrzweckraum. In den sechziger bis Anfang der siebziger Jahre verlagerte sich der Schwerpunkt auf das kirchliche Gemeindezentrum. Stand bisher das Kirchengebäude im Mittelpunkt des Interesses, so wird beim Begriff „Gemeindezentrum" deutlich, daß kirchliches Handeln vielgestaltig und die sonntäglich - gottesdienstliche Funktion lediglich eine unter mehreren Formen kirchlicher Präsenz darstellt. Einen Gemeindesaal und Nebenräume für sonstige gemeindliche Veranstaltungen gab es auch schon vorher. Mit der Betonung auf „Gemeindezentrum" wurde auf die Dominanz des Kirchengebäudes zugunsten der Gesamtanlage mit ihren vielfältigen Funktionen bewußt verzichtet. Ein Grundgedanke war der, daß sich Kirche nicht allein im sonntäglichen Gottesdienst manifestiert, sondern daß hierzu eine Vielfalt an Dienstleistungen und sonstigen Angeboten gehören. Die Zeit der Errichtung von Gemeindezentren war die Zeit der neuen Rand- bzw. Satellitenstädte und die Zeit eines neuen gesellschaftlichen Aufbruchs, der mit Studentenbewegung und ihren Reformansätzen in allen Lebensbereichen verbunden war. Als „Kirche für andere" rückten soziale Verantwortung und Gesellschaftsdiakonie ins Zentrum des kirchlichen Handelns. Von den Niederlanden kam der Agora-Gedanke in die Bundesrepublik (H. R. Blankesteijn, Kunst und Kirche, 1969, 3-17). Die in den neuen Stadtgründungen des FlevolandPolders geschaffenen überdachten „Marktplätze" (die „Agoren" in Dronten und Lelystadt) gewannen symbolische Funktion. „Kirche als Agora" bedeutet, daß die Kirche in den neu gebauten Stadtvierteln ein Raumangebot für zwischenmenschliche Kommunikation anbietet, ein Stück „Freiraum" in einer technokratisch verwalteten Welt. Mit diesem Programm weiterhin verbunden war der Abbau von „Schwellenangst", die Betonung des Foyers als Einladung an alle, die Bereitstellung vielfach zu nutzender Räume für mannigfache Kommunikation und damit der Verzicht auf eine betont kirchliche Präsentationsweise. Dem letztgenannten Grund sind als erstes - auch im katholischen Bereich - die Türme zum Opfer gefallen. Umstritten blieb, inwieweit der dem Gottesdienst vorbehaltene Raum - früher der eigentliche Kirchenraum - sich dem Stil des Gemeindezentrums anpassen oder ob er ein eigenes, im traditionellen Sinn „kirchliches Gepräge" beibehalten solle. Da der Begriff des Sakralen auch im Reformkatholizismus in Frage gestellt war, blieb die Auseinandersetzung nicht allein auf den evangelischen Bereich begrenzt. Beispiel für eine solche konsequente Lösung ist das Gemeindezentrum der Evangelisch-lutherischen St. Paulus-Gemeinde in Burgdorf von Paul Posenenske (1973). Es handelt sich um ein Gemeindezentrum unter einem Dach, in dessen Mittelpunkt ein zentraler, den übrigen Räumen gegenüber überhöhter Raum ist. Für einen großen Gottesdienst lassen sich alle
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Räume zusammenschließen, während aufgrund eines Schiebewandsystems das Ensemble in sechs bzw. sieben Räume aufgegliedert werden kann, die freilich auch zueinander in Beziehung zu setzen sind. Jeder Raum ist mit dem angrenzenden kombinierbar. Das trifft auch auf den zentralen, für Gottesdienst vorgesehenen Raum zu, dessen Prinzipalstücke (Altar, Kanzel, Taufe) verschieden plaziert oder einfach weggenommen werden können. Eine solche multifunktionale N u t z u n g des Gemeindezentrums hat freilich auch Probleme. So ist es beispielsweise f ü r eine Gemeindegruppe nicht mehr möglich, in ihrem R a u m „ S p u r e n " zu hinterlassen, weil der R a u m anschließend von anderen gemeindlichen oder nicht-gemeindlichen G r u p p e n auf andere Weise genutzt und mit anderen R ä u m e n zusammengeschlossen wird. D a s Institut f ü r Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenw a r t , ein EKD-Institut an der M a r b u r g e r Universität, k o n n t e in einer mehrjährigen Untersuchung von 17 Gemeindezentren mit M e h r z w e c k r ä u m e n feststellen, daß es bei allen Gemeinden die Tendenz gab, den zentralen M e h r z w e c k r a u m auf eine Funktion — nämlich den sonntäglichen Gottesdienst — zu reduzieren und den R a u m formal zu „resakralisier e n " (durch ein Kruzifix oder sonstige Kunstobjekte, durch die Fixierung von Altar, Kanzel und Taufe, durch das Einbeziehen kostbarer Materialien und durch eine strenge Benutzungsordnung). Der Verzicht auf Selbstdarstellung w u r d e theologisch mit dem „Kirche-Sein f ü r ander e " begründet, wobei für den Abbau der Schwellenangst, die wertneutrale Erscheinungsf o r m von Kirche und die Mobilität von Gestühl und Prinzipalstücken ethisch argumentiert wurde. Der Vorwurf, m a n habe sich seitens der Kirche einseitig dem Funktionsdenken verschrieben, verkennt die theologische Dimension der Argumentation. Auf der Kirchbautagung von Bad Boll (1965), die anläßlich des Kapellenbaus der Akademie durchgeführt wurde, ging es in einer ersten Argumentationsreihe um die Erweiterung des Gottesdienstbegriffs im Anschluß an R o m 12,1.2 (ff) und I Petr 2 , 8 - 3 , 9 , wobei der Begriff „Gottesdienst" mit d e m Begriff „Alltag" eng verbunden wurde. „Nichts ist im Neuen Testament heilig im Gegensatz zu einem profanen Bezirk bzw. besser gesagt, alles ist heilig, nichts ist mehr p r o f a n , weil Gott die Welt gehört und weil die Welt der O r t ist, an d e m man Gott preisen und G o t t Dank erweisen soll" (Eduard Schweizer, zit. nach Görbing/Graß/Schwebel 132). Die zweite Argumentationsreihe verläuft vom Auftrag als „Teilnahme an der Mission G o t t e s " als „dienende Präsenz (serving presence)". Das bedeutet, d a ß die Kirche von der Welt, vom „idiotes", dem Randsiedler, her zu denken sei (vgl. I Kor 14,16—25). „Hier liegt die theologische Begründung der Forderung nach Flexibilität des gottesdienstlichen Lebens, und damit nach dem ,Provisorium' des kirchlichen Bauens als der architektonischen Ermöglichung der versammlungsmäßigen Stilverwandl u n g " (Werner Simpfendörfer ebd.). Dieser G e d a n k e w u r d e auf dem Evangelischen Kirchbautag in Hannover (1966) von Lothar Kallmeyer in einem vielbeachteten Vortrag in die Diskussion gebracht. Auf dem Kirchbautag in D a r m s t a d t (1969), einem J a h r nach den Studentenunruhen, forderten Theologiestudenten das „Ende des Kirchenbaus" zugunsten der Verwendung der finanziellen Mittel f ü r Sozialleistungen und f ü r die Dritte Welt. Im Kontext sozialer N ö t e im eigenen Land und des H u n g e r s und der Lage der 3. Welt erschienen der Kirchenbau und vollends die kirchliche Kunst als Ausdruck ethischer und theologischer Defizienz. Die H e r a u s f o r d e r u n g solcher Gedanken, deren ethischer Ernst nach wie vor unbestritten ist, wirkte sich auf das Schaffen von R ä u m e n und das künstlerische Gestalten ausgesprochen negativ aus. Kreativität und künstlerische Gestaltung standen eo ipso unter dem Verdacht des Verrats an sozialer Verantwortung f ü r das Ganze. Wenn überhaupt, ließ sich nur noch der nicht definierbare, neutrale, kunstlose, f ü r vielfältige Z w e c k e nutzbare R a u m als Gottesdienstraum verantworten: der „ R a u m als Instrument", nicht jedoch als „Symbol", „Gleichnis" oder gar als „ S a k r a l r a u m " . Der M e h r z w e c k r a u m - G e d a n k e scheiterte nicht an mangelnder theologischer Reflexion, sondern an einer falschen Einschätzung anthropologischer Gegebenheiten. Bei dem Gebäude, das als Kirche angesprochen werden soll, und bei dem R a u m , in dem man
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Gottesdienst erlebt, besteht offensichtlich ein Bedürfnis nach Identifikation, das seitens des Mehrzweckraums nicht befriedigt werden kann. Während das Mehr an Freiheit als positiver Wert anzusprechen ist, ist gleichzeitig ein Verlust im Bereich der Sinn- und Wertsetzung und der emotionalen Identifikation zu verzeichnen. 4.3. ökumenische Gemeindezentren. Seit Mitte der sechziger Jahre gibt es in der Bundesrepublik Deutschland, in den Niederlanden und der Schweiz ökumenische Gemeindezentren. In den meisten Fällen erhalten die beiden Konfessionen ihren eigenen Gottesdienstraum bei. Sofern Evangelische und Katholiken den gleichen Raum für ihren Gottesdienst verwenden (beispielsweise im „Trefkoel", Groningen, 1972, Architekten Grit und Gunnink Bylefeld), ist eine neue Weise ökumenischer Zusammenarbeit gegeben. Die Beobachtung, daß seit Mitte der siebziger Jahre die ökumenische Zusammenarbeit rückläufig ist, trifft wohl zu. Bedenkt man allerdings, daß es weltweit bereits etwa sechzig ökumenische Gemeindezentren gibt, so ist diese Zahl angesichts der Glaubenskriege zwischen den Konfessionen in früheren Jahrhunderten dennoch beachtlich. Der Grund zur räumlichen Nähe und Zusammenarbeit hat es nicht allein mit einer Annäherung der Konfessionen, sondern ebenfalls mit der strukturell gleichen Herausforderung durch die säkularisierte Welt zu tun. 5. Bewertung der
Entwicklung
Kann man in bezug auf die Kirchenarchitektur sagen, daß führende Vertreter der Gegenwartsarchitektur den Kirchenbau mitbestimmt haben und trotz vieler Mittelmäßigkeit im Kirchenbau beachtliche architektonische Spitzenleistungen anzutreffen sind, läßt sich dieses Urteil in bezug auf die bildende Kunst nicht bestätigen. In der Glasmalerei freilich wurde durch die Franzosen, vor allem aber durch die deutschen Glasmaler (German School) eine Erweiterung von Techniken und Ausdrucksformen und eine neue Form der Integration von Kunstwerk und Bauwerk erreicht. Im Bereich der Plastik haben immerhin Werke von Ernst Barlach, Gerhard Mareks, Germaine Richier, Otto Herbert Hajek, Fritz König, Hubertus von Pilgrim, Franz Bernhard u. a. im Kirchenraum Aufnahme gefunden. Diese Einzelfälle können aber nicht über das generell niedrige Niveau von Kruzifixen, Madonnen, Kreuzwegstationen und sonstiger Gebrauchskunst hinwegtäuschen. Bedauerlich ist, daß die religiöse Komponente der autonomen Kunst dieses Jahrhunderts weitgehend nicht erkannt wurde und Künstler wie Nolde (abgesehen von einer dänischen Dorfkirche), Kandinsky, Klee, Franz Marc, Jawlensky, Schmidt-Rottluff, Beckmann — um nur einige der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zu nennen - in der Kirche generell keine Aufnahme finden konnten. Der Wunsch nach einer vom Kirchenvolk leicht verständlichen Kunst ließ den Qualitätsanspruch meist ins Hintertreffen geraten. Kehren wir zu den eingangs genannten, den Kirchenbau bestimmenden Faktoren zurück, so spiegelt der Kirchenbau des 20. Jh. weder die Theologie noch die Architektur des Jahrhunderts noch den Zeitgeist in direkter Weise wider. Was die Theologie angeht, so hatte die Kirchenbauentwicklung zumindest im katholischen Bereich eine Zeitlang Vorreiterfunktion, bevor dann das 2. Vatikanische Konzil diese Gedanken aufgriff. In der evangelischen Kirche hatte sich in Theologenkreisen die Entmythologisierung längst durchgesetzt, bevor solche Gedanken im Kirchenbau in Form von Entsakralisierung und Mehrzweckraum Gestalt gewannen. In bezug auf die Architektur gab es im Kirchenbau freilich ein eindeutiges Bekenntnis zur Architektur der Moderne, wenngleich im Unterschied zum sozialen Wohnungsbau und Städtebau eine relative Vielfalt von Formen verwirklicht wurde. Der Funktionsgedanke, der im Wohnblock oder im Bürohaus an erster Stelle stand, kam im Kirchenbau relativ selten zum Tragen, und dort, w o dies geschah, wurde er theologisch begründet (s.o.). O f t erwies sich der Kirchenbau für den Architekten als Möglichkeit, ein Bauideal zu verwirklichen, das man andernorts nicht hätte realisieren können (Le Corbusier, Ronchamp, 1955; Egon Eiermann, Kaiser-Wilhelm-Ge-
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dächtniskirche, Berlin 1959). Selbst Vorstellungen der Postmoderne lassen sich im Kirchenbau des 20. J h . wiederlinden (so Bartnings Entwurf zur Sternkirche, 1922, Gulbranssons „Regionalismen" und Gottfried Böhms „ E x o t i s m e n " ) . Das Verhältnis des Kirchenbaus zum „Zeitgeist" läßt sich ebenfalls nicht geradlinig beschreiben. Während der Aufbruch Ende der sechziger/Anfang der siebziger J a h r e im Kirchenbau voll ablesbar ist, hat die Zeit des Nationalsozialismus - trotz des Einflusses der Deutschen Christen - im Kirchenbau keine aufzeigbaren Spuren hinterlassen. Es zeigt sich also, daß man den Kirchenbau des 20. J h . als Zusammenwirken mehrerer Faktoren begreifen muß. Dabei erweist sich die einfache Regel, nämlich sich am Phänomen zu orientieren, als nicht ausreichend. Sofern in einem Phänomen die Sache selbst angemessen wiedergegeben ist, ist die phänomenologische Betrachtungsweise sachgemäß. Im Umgang mit dem Kirchenbau des 20. J h . wird man jedoch oftmals belehrt - vom Katholiken Rudolf Schwarz ebenso wie vom Protestanten O t t o Senn —, daß die sichtbare Form mit dem letztlich Angestrebten nicht identisch ist. Das Unangemessene des Sichtbaren gegenüber dem geistlich Gemeinten verbindet eine jegliche Erscheinungsform des Kirchenbaus des 20. J h . Es mag sein, daß ein Werk mit großem Formenreichtum und einer Fülle exponierter künstlerischer Beiträge geistlich leer ist, während manch einfaches, unscheinbares Gebilde Ergebnis wichtiger geistig-geistlicher Auseinandersetzung ist. Sich nur vom Sichtbaren leiten zu lassen, wäre angesichts einer Religion, die dem Sichtbaren, zumindest in den ersten Jahrhunderten und auch später des öfteren mißtraute, unangemessen. Die Anbetung „im Geist und in der Wahrheit", wie sie in J o h 4,23 f als eschatologischer Ausblick und als Forderung gegeben ist, stellt alle sichtbaren Verwirklichungen — und damit auch den Kirchenbau - unter einen letzten Vorbehalt. Gerade deshalb wird man den M u t zu bewundern haben, innerhalb einer konkreten geschichtlichen Herausforderung den Raum zu schaffen, der gemäß des jeweiligen Glaubens- und Wissensstandes, einschließlich des Standes der technischen und kreativen Realisationsmöglichkeiten, als gültig anzusehen wäre. Literatur Johannes van Acken, Christozentrische Kirchenkunst, Gladbeck 1922. - Adolf Adam, Wo sich Gottes Volle versammelt. Gestalt u. Symbolik des Kirchenbaus, Freiburg/Basel/Wien 1984. - G. Agnel d' Arnauld, L'art religieux moderne, 2 Bde., Grenoble 1936. - Arsenio Fernandez Arenas, Iglesias nuevas en Espàna, Barcelona 1963. - Hans-Eckehard Bahr (Hg.), Kirchen in nachsakraler Zeit, Hamburg 1968. - Otto Bartning, Vom neuen Kirchbau, Berlin 1919. - Ders., Vom Raum der Kirche, Bramsche b. Osnabrück 1958. — Hermann Baur, Moderne kirchliche Kunst, Zürich 1962. Ders./Fritz Metzger, Kirchenbauten, Zürich/Würzburg 1956. - Rainer Beck/Rainer Volp/Gisela Schmirber, Die Kunst u. die Kirchen. Der Streit um die Bilder heute, München 1984. - Karin Becker, Rudolf Schwarz, 1 8 9 7 - 1 9 6 1 , München 1979. - Das Berneuchener Buch. Vom Anspruch des Evangeliums auf die Kirche der Reformation, Schwerin 1926. - Bibliogr. des Kirchenbaus u. der kirchl. Kunst, bearbeitet von Veronika Poscharsky, Marburg, 11963, II/III/IV 1964. - Richard Biedrzynski, Kirchen unserer Zeit, München 1958. - André Biéler, Kirchenbau u. Gottesdienst, NeukirchenVluyn 1965. - Walter Birnbaum, Die dt.-ev. liturgische Bewegung, Tübingen 1970. - Dominikus Böhm, Beitr. v. August Hoff, Herbert Muck, Raimund Thoma, München/Zürich 1962. - Gottfried Böhm, Sonderh. der Dt. Gesellschaft f. christl. Kunst, München 1987. - Paul Brathe, Der ev. Gottesdienst u. sein Raum, Halle 1929. - Jürgen Bredow/Helmut Lerch, Materialien zum Werk des Architekten Otto Bartning, Darmstadt 1983. - Donald J . Bruggink, Christ and Architecture: Building Presbyterian Reformed Churches, Grand Rapids/Michigan 1965. - Ders., When Faith Takes Form. Contemporary Churches of Architectural Integrity in America, Grand Rapids/Michigan 1971. Rainer Bürgel (Hg.), Kirche u. Stadt. Eine Herausforderung. Dokumentation über den 15. Ev. Kirchbautag, Dortmund 1973, Gütersloh 1974. - Jean Capellades, Guide des églises nouvelles en France, Belgique 1969. - Albert Christ-Janer/Mary M i x Foley, Modern Church Architecture, New York 1962. - Alexandre Cingria, La décandence de l'Art Sacré, Lausanne 1917. - Marie-Alain Couturier, Art et liberté spirituelle, Paris 1958. - Ders., Das Religiöse u. die moderne Kunst, Zürich 1981. - Justus Dahinden, Bauen für die Kirche in der Welt, Würzburg 1966. - Gordon Davies, The Secular Use of Church Buildings, Birmingham 1968. — Frederic Debuyst, Architecture moderne et célébration chrétienne, Brüssel 1966. - Rainer Disse, Kirchl. Zentren, München 1974. — Martin Elsaesser, Bauten u. Entwürfe in den Jahren 1924-1932, Berlin 1933. - Theodor Filthaut, Kirchen-
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Horst Schwebel
Kirchenbücher 1. Definition (Literatur S. 530)
2. Geschichte
3. Staatsinteresse
4. Führung und Sicherung
5. Bedeutung
1. Definition Zunächst den Bücherschatz der Kirche bezeichnend, wurden darunter auch Gottesdienstordnungen (-»Agenden), Zusammenstellungen über Güter und Einkünfte der Kirchen (Salbücher, Urbare) verstanden. In der Regel bezeichnen Kirchenbücher (Pfarrmatrikel, -bücher, -register) jetzt Verzeichnisse von Beurkundungen über die an Personen vollzogenen kirchlichen Amtshandlungen (-»Kasualien); hauptsächlich -»Taufen, -•Trauungen, -»Bestattungen, daneben Katechumenen (—•Katechumenat/Katechumenen), -»Konfirmation (-»Firmung), Konfitenten, Kommunikanten, Proklamationen, Seelenregister, in neuerer Zeit auch das Familienbuch. 2. Geschichte Aus der alten Kirche haben sich keine derartigen Verzeichnisse erhalten, falls sie überhaupt bestanden haben (vgl. kirchliche Diptychen, Bischofslisten). Im Mittelalter erwuchsen aus verschiedenen Motiven Listen. Klerus, Klöster und Bruderschaften stellten ihre Mitglieder zusammen. Memorial- und Totenbücher (Nekrologien, Anniversarien) verzeichneten Verstorbene (vgl. auch Nürnberger Totengeläutbücher). Die Kirchenbuchführung setzte mit Taufmatrikeln im 14. Jh. in Italien und Frankreich ein. Im deutschen Sprachraum begann Pfarrer U. Surgant von Basel-St. Theodor um 1490 mit der Aufzeichnung von Taufen. Bereits vorher und nachher versuchten mehrere Teilsynoden eine erfolglose kirchenrechtliche Regelung eines geordneten Kirchenbuchwesens (z.B. Konstanz 1435). Erst mit der -*Reformation beginnt in Deutschland die wirkliche Praxis. Der Kampf gegen die -»Täufer erforderte den Nachweis der vollzogenen Kindertaufe, gegen Konkubinat und zur Aufrechterhaltung der -»Kirchenzucht den einer rechtmäßigen Ehe. Schon von 1522 besteht ein Traubuch von Zwickau, 1523 Zürich, 1524 Nürnberg-St. Lorenz und St. Sebald, 1525 Straßburg. Um 1525 beginnt in Hinwyl bei Zürich das Taufbuch, 1531 Konstanz, 1533 Nürnberg und Lindau. Obrigkeitliche Regelungen zur Anlage von Kirchenbüchern folgten in der Konstanzer Zuchtordnung 1531, der Brandenburg-Nürnbergischen -»Kirchenordnung 1533 oder in der der Kurpfalz 1563. Was in Oberdeutschland begonnen, seinen Siegeszug über die Niederlande, Nord- und Ostdeutschland nach Skandinavien fortgesetzt hatte, endete 1686 in Schweden und Finnland. In England begann die Kirchenbuchführung ab der Trennung von Rom.
Kirchenbücher
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Die katholische Kirche beschloß mit einer Reform der Ehegesetzgebung 1563 auf dem Tridentiner Konzil (Sess. XXIV; -»Tridentinum) die allgemeine Einführung von Taufund Traumatrikeln, vorher schon in Hildesheim 1539 und Augsburg 1548 belegt. Mit dem Rituale Romanum 1614 (-»Agende) wurden Begräbnis- und Firmbücher sowie der Uber status animarum empfohlen, auch sie gelegentlich schon früher angelegt (Wien 1553, 1562, Köln 1565, Salzburg 1569) wie bereits Beicht-, Kommunikantenverzeichnisse und Familienbücher. Insgesamt ging in katholischen Territorien die Einführung von Kirchenbüchern langsamer vor sich, Teile der Habsburger Monarchie erhielten sie erst 1784. 3. Staatsinteresse Nach dem -»Dreißigjährigen Krieg mit der Zerstörung vieler Kirchenbücher zeigte der absolutistische Staat vermehrtes Interesse an den Verzeichnissen für sein Steuer-, Gerichts- und Militärwesen, dem Verbreitung und Ordnung der Kirchenbuchführung galten. Die aus diesen Büchern erstellten Zeugnisse erhielten Beweiskraft öffentlicher Urkunden (vgl. Baden-Durlachische Visitationsordnung 1739, Verordnungen Friedrichs II. von Preußen 1758,1766, Patent Kaiser Josephs II. 1784, Preuß. Allg. Landrecht 11,11 S§ 481 ff von 1794). Den Behörden mußten Zweitschriften ausgehändigt werden (Volkszählungen, Zeugniserteilung). In Frankreich wurden Kirchenbücher als Personenstandsregister schon 1539 der Aufsicht bürgerlicher Gerichte unterstellt. Ludwig XIV. forderte die Ablieferung an die Amtsschreiber. Bei Einführung der Zivilehe wurde 1792 bzw. 1802 Zivilstandsregisterführung durch Bürgermeister angeordnet, die im Code civil 1804 ihren entsprechenden Niederschlag fand. 1798 enden daher in den linksrheinischen deutschen Gebieten die meisten alten Kirchenbücher, die nach der preußischen Inbesitznahme dieser Gebiete 1815 den Staatsarchiven überstellt wurden. Die Entkonfessionalisierung im 19. Jh. drängte auf Trennung von Kirchenbuch- und Personenstandswesen. In Baden wurden Pfarrer hinsichtlich der Kirchenbuchführung zu „Beamten des bürgerlichen Standes". Die Frankfurter Verfassung 1849 (S 151) forderte die Trennung von -»Kirche und Staat, somit die Führung der Kirchenbücher durch weltliche Behörden (verwirklicht in Baden 1870, in Preußen 1874). Mit der Einführung des Personenstandsgesetzes vom 6.2.1875 im Deutschen Reich am 1.1.1876 liegt die Führung der Personenstandslisten mit öffentlich-rechtlicher Geltung bei den Standesämtern, von der Religionsdiener grundsätzlich ausgeschlossen sind. Nur für die Zeit vor 1876 haben die Geistlichen Beurkundungen auszustellen (§73). Österreich hat diese Regelung seit 1939 übernommen. In der Zeit des -»Nationalsozialismus wurden die Kirchenbücher zu „arischen Nachweisen" mißbraucht. Der Staat versuchte durch seine „Sippenämter" Kirchenbücher, teilweise mit Gewalt, einzuziehen (z.B. im Rheinland). Die in den Pfarrämtern liegenden Judenmatrikel wurden beschlagnahmt und vom „Reichssippenamt" gegen Ende des Zweiten Weltkrieges verfilmt. Die Originale gelten seit 1945 als verschollen, wie der Zweite Weltkrieg insgesamt teilweise erhebliche Verluste an Kirchenbüchern im Gefolge hatte. 4. Führung und Sicherung Die Verpflichtung zur Führung der Kirchenbücher obliegt den Geistlichen, hierzu beauftragten Personen oder kirchlichen Dienststellen, verankert in den meisten Verfassungen und Kirchenbuchordnungen der Landeskirchen. Für die katholischen Geistlichen waren die Anordnungen im CIC/1917 cc. 777, 798, 1103, 1238 enthalten (vgl. jetzt CIC/1983 c. 535 SS 1 - 5 ) . Falschbeurkundung ist strafbar (§271 StGB). Es besteht Auskunftspflicht für Beurkundungen vor 1876, in Ausnahmefällen auch nach 1876 (Verlust der standesamtlichen Personenregister). Die Einträge geschehen manuell oder mit technischen Hilfsmitteln (EDV). Die Aufbewahrung erfolgt meist bei den Pfarrämtern, ohne daß immer die notwendi-
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Kirchenentfremdung/Kirchenaustritte
ge Sorgfaltspflicht beachtet wird. Die Zentralisierung größerer Bestände (z. B. in Kirchengemeindeämtern oder a m besten in Archiven) hat sich als sehr sinnvoll erwiesen (Ostkirchenbücher im Evangelischen Zentralarchiv Berlin oder im Bischöflichen Zentralarchiv Regensburg). Weitere Sicherung erfolgt durch Abschriften (Verkartungen) und systematische Verfilmung unter Fachaufsicht des kirchlichen -»Archivwesens. N a c h 1933 unter Schriftdenkmalschutz gestellt, fallen die Kirchenbücher jetzt unter den Kulturgüterschutz der Vereinten Nationen, der die Träger zu den erforderlichen Sicherungs- und Erhaltungsm a ß n a h m e n verpflichtet. Gedruckte Verzeichnisse f ü r Landeskirchen, Diözesen oder Teilbereiche bestehen, nicht jedoch eine Gesamtübersicht. Ebenso fehlt ein Verzeichnis der sog. Judenmatrikel wie auch der an verschiedenen Stellen a u f b e w a h r t e n Militärkirchenbücher. 5.
Bedeutung
Die Kirchenbücher sind unerschöpfliche Quellen der Geschichtsforschung (Personen-, Familien-, Orts-, Landes- und Kirchengeschichte; genealogische Forschung, Soziologie, Bevölkerungs- und Wirtschaftskunde, Gesundheitsfragen), zur Klärung rechtlicher Fragen (Erbschaften) und unentbehrlich f ü r die kirchliche Praxis (Nachweis f ü r kirchliche Amtshandlungen, Patenschaften, Wahlberechtigung). Literatur Hermann Franz, Die Kirchenbücher in Baden, Heidelberg 1912 2 1938. - O t t o Friedrich, Art. Kirchenbücher: EKL 2 (1958) 658f. - Eduard Jacobs, Art. Kirchenbücher: RE 3 10 (1901) 354-366. Hubert Jedin, Das Konzil v. Trient u. die Anfänge der Kirchenmatrikel: ZSRG.K 63 (1943) 419-494. - Waither Lampe, Art. Kirchenbücher: RGG 3 3 (1959) 1413-1415. - Wolfgang Ribbe/Eckhart Henning (ab 8 1975:)/Friedrich Wecken, Taschenbuch für Familienforschung, Neustadt/A. 8 1975 (Lit.). - Matthias Simon, Zur Entstehung der Kirchenbücher: ZBKG 28 (1959) 129-142.
Helmut Baier Kirchenbund -»Kirchenverfassung Kirchenentfremdung/Kirchenaustritte 1. .Kirchenentfremdung' und ,Kirchenaustritt' 2. Der Kirchenaustritt: historisch-juristisch 3. Der Austritt: historisch-sozio-kulturell 4. Austritt heute: Strukturen, Motive, Perspektiven (Literatur S. 534)
1. ,Kirchenentfremdung'
und
,Kirchenaustritt'
Der Begriff Kirchenentfremdung (schärfer noch: Unkirchlichkeit, häufig auch: Entkirchlichung) will eine psycho-soziale Distanz des Menschen zur -»Kirche kennzeichnen, läßt aber die Zweiseitigkeit dieses Verhältnisses unberücksichtigt. Er impliziert vielmehr - beginnend Ende des 18. Jh. - eine bestimmte ekklesiologische Geschichtsschau mit empirisch meist unbestimmt bleibenden Ursache-Wirkung-Annahmen, o h n e den Erfordernissen einer methodisch objektivierenden bivalenten Distanzmessung zu genügen. Als ideologisch-wertender Begriff erschwert er eine interdisziplinär angemessene Bestimm u n g des O r t s der Kirche in der (modernen) Gesellschaft. O f t suggeriert der Hinweis auf die rund 120jährige Geschichte rechtlich geregelten Austritts in die sog. Religionslosigkeit die Evidenz des Begriffs Kirchenentfremdung, ohne d a ß z. B. der zum Teil schon seit Mitte der 18. J h . zurückgehende Abendmahls- und Gottesdienstbesuch gleichermaßen stringent als E n t f r e m d u n g interpretiert w ü r d e (s. T R E 14, 63,12ff; 68,20ff). Eine solche vereinseitigende Phänomen-Akzentuierung negiert die Mehrwertigkeit allgemeinen Wandels des gesellschaftlichen Bewußtseins in Beziehung zu dessen Sozialformen und hindert d a r a n , auch andere Möglichkeiten zu denken, wie (christliche) Religion als .System' organisiert bzw. auch theologisch w a h r g e n o m m e n werden könnte. D a m i t wird der erst relativ kurze geschichtliche Zustand der heutigen So/ialgestalt der Kirche (mit der An-
Kirchencntfremdung/Kirchenaustrittc
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nähme, Kirchlichkeit sei der sozialstrukturelle Normalfall) als historischer Regeltyp hypostasiert. Selbst der eindeutig scheinende Schritt des förmlichen Austritts war und ist aber weder ein eindeutiger Beleg für das Ende organisierten Christentums noch für eine Entchristlichung der Ausgetretenen. Auf Kirchenentfremdung bezogen sehen das auch bereits so im 19.Jh. u.a. -»Schleiermacher, -»Bretschneider, -»Rothe, -»Rade und -»Troeltsch. 2. Der Kirchenaustritt:
historisch-juristisch
Bis weit ins 18. Jh. hinein war eine Lösung von der Kirche als einer territorial geschlossenen Gebietskörperschaft allenfalls als betteficium emigrationis (-»Augsburger Religionsfriede) denkbar. Seit Ende des 18. Jh. wurde -»Preußen wegen seiner zunehmenden Konfessionen-Mischung auf diesem Gebiet gesetzgeberisch tätig: 1788 wurde Konfessionswechsel gestattet (Wöllnersches Religionsedikt); das Allgemeine Preußische Landrecht erkannte 1794 die völlige Gewissensfreiheit an und damit im Prinzip auch das Recht auf Austritt. Aber vor allem durch die der Kirche weiter verbleibende Personenstandsregisterführung (-»Kirchenbücher) konnte der Austritt zur Religionslosigkeit faktisch nicht realisiert werden. Der politische Vormärz (1830) und die dort wurzelnde bürgerliche Freidenkerbewegung (-»Freidenker), aber auch das sich entwickelnde rechtspositivistische Verfassungs- und Verwaltungsdenken förderten eine rechtlich umfassende Regelung: so besonders über die Einrichtung eines Zs'ci/standsregisters in Preußen (1847) bis zur Verabschiedung des preußischen Gesetzes v. 14.5.1873 betr. den Austritt aus der Kirche, flankiert vom reictagesetzlichen Zivilstandsgesetz 1874. Es schuf die öffentlichrechtliche Eigenschaft des Dissidenten, regelte bürgerlich-rechtliche, vor allem steuerliche Folgen und Verfahrensprozeduren, ließ aber die kirchen-rechtliche Behandlung unberührt. Die anderen Bundesstaaten folgten mit z.T. abweichenden Durchführungsbestimmungen. Eine reichsgesetzliche Regelung unterblieb. Die Formvorschriften wirkten restriktiv: Antragsfristen, Verzögerung der steuerlichen Entlastungswirkung (maximal fast zwei Jahre) sowie Gebühren (1895: 3,50 Mark) hinderten viele am tatsächlichen Austrittsvollzug, schufen jedoch nachweislich eine gegenüber der Kirche (als Machtinstitution, aber auch als Idee) distanzierte bis feindliche Einstellung (-»Religionskritik). Das preußische Kirchenaustrittsgesetz vom November 1918 suspendierte fast alle diese Restriktionen und war damit Mit-Auslöser der ab 1919 explodierenden Austritts-Zahlen. Das preußische Gesetz vom November 1920 korrigierte diese Regelungen dem Ausmaß nach. Die nunmehr vierwöchige Uberlegungsfrist und die auf das Ende des Kalenderjahres verlängerte Leistungsfrist wurden erst 1977 vom BVG als mit Art. 4 GG unvereinbar erklärt. 3. Der Austritt:
historisch-sozio-kulturell
3.1. Überblick. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Entwicklung in der evangelischen Kirche. Es gibt Parallelentwicklungen in der katholischen Kirche, allerdings auf niedrigerem Zahlenniveau (ca. 1/4 der Zahlen im evangelischen Bereich). Statistiken für das Deutsche Reich über Austritte (wohin auch immer: meist in die sog. Religionslosigkeit) bzw. der (Über- u. Wieder-)Eintritte auf evangelischer Seite gehen bis 1884 zurück (vgl. T R E 8, 589, 6ff). Die Zögerlichkeit in der Akzeptanz durch den Staat wird daran deutlich, daß erstmals 1910 in die amtliche Statistik die Rubrik .bekenntnislos' Einzug hielt. Andererseits waren Kirchenentfremdung und Austritt schon seit längerem Gegenstand aufmerksamer Beobachtung, publizistischer Äußerungen und heftiger kontroverser Diskussionen in Theologie, Kirche und politischer Öffentlichkeit. Es gab sogar Ansätze qualitativer Motivforschung auf massenstatistischer Basis seitens interessierter Kritiker des Staatskirchentums. Bis heute können nach quantitativ-statistischen Kriterien fünf Abschnitte identifiziert werden, denen im Ansatz auch typische Diskussionsthemen in den jeweiligen theologischen Ekklesiologie-Debatten zugeordnet werden könnten: (1) bis 1914/18; (2) 1918-1932; (3) 1933-1941; (4) 1942-1968; (5) Gegen-
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Kirchenentfremdung/Kirchenaustritte
w a r t . In bezug auf die Vergangenheit k ö n n e n (unter Repräsentativitätsgesichtspunkten) n u r tendenziell zuverlässige Ursachen- u n d Motivaussagen gemacht werden. Insbesondere die ausschließliche Kennzeichnung als .Bewegung' kann nach heutigen sozialwissenschaftlichen Standards nicht zweifelsfrei vorgenommen werden. Für die Gegenwart verbieten die Analyseergebnisse jedoch eindeutig, von einer kollektiv getragenen Bewegung zu sprechen. 3.2. Kaiserreich (1871—1918). Im Gegensatz zur Intensität der Diskussion, deren T h e m a m a n ,Religionslosigkeit als neuzeitliche Diskontinuität' nennen könnte, sind bis 1914/18 die Zahlen sehr niedrig: Zwischen ca. 0,001% und 0,07% der Kirchen-Mitglieder (z.B. Dt. Reich: 1900 = 3793; 1913 = 29255). Dabei dominierte Preußen und darin -»Berlin mit Vororten: Von den 205900 Konfessionslosen der Volkszählung 1910 entfielen auf Preußen 147000, davon 72000 auf Berlin. Langfristig überwog (und überwiegt bis heute) der Austritt bei weitem den Uber- und Wiedereintritt. Vorhandene Detailstatistiken zeigen, daß weit überwiegend Arbeiter austraten. Dabei konnte das (heute ins Feld geführte) Steuerargument kaum gelten. (Für Berlin/1913 gilt: 63 % wurden gar nicht besteuert und 77% der ausgetretenen Kirchensteuerpfiichtigen gehörten den drei unteren Steuerkategorien an.) Einzelne Ereignisse (z.B. die preußische Schulaufsichtskontroverse 1906ff; preußische Wahlrechtsdebatte 1913) vermögen Kurvenausschläge plausibel zu machen, nicht aber die Höhe des Kurvensockels. Sicherlich müssen das publizistisch-agitatorische Wirken der Freidenker-Verbände (bürgerlicher und proletarischer Freidenker; diese aber nicht gleichsinnig), das zunächst die politischen Flügel übergreifende Komitee Konfessionslos sowie sozialdemokratische Kreise als Faktoren erkannt werden, die den Austrittsvollzug aktiv förderten. Aber es gab auch eine differenzierte Haltung der SPD und der Gewerkschaften, für die das Bekenntnis zu Religion/Kirche Privatentscheidung zu sein hatte (Gothaer und Erfurter Programm). Dafür erfuhren sie heftige öffentliche Kritik von ihren linken Flügeln (Karl Liebknecht). Eine angemessene Würdigung m u ß den gesamten geistesgeschichtlichen Kontext, beispielsweise den wissenschaftlich(-materialistisch)en Fortschrittsglauben, die m o n a r chisch-konsistoriale Struktur der kirchlichen Formal-Verfassung und die soziale Verankerung vor allem der Kirchenrepräsentanten Preußens in den besitzenden (meist agrarischen) Schichten, nicht zuletzt die auch innerkirchlich kritisierte Abständigkeit kirchlichtheologischen Redens von der (als unchristlich empfundenen) sozialen Realität hier dringend in die Ursachenzuweisung einbeziehen. So hat die Austritts-Bewegwwg zwar eine starke gesellschaftspolitische Note, aber die Motivlage wird d a m i t nicht vollständig erfaßt. Angesichts der dominierenden Leitbilder der Wilhelminischen Ära w a r der Austritt sicherlich ein .mutiger' Schritt, dessen soziale Konsequenzen psychisch am ehesten durch eine kollektiv vollzogene Identifikation mit gesellschaftlicher Dynamik bzw. Entlarvungsattitüden .abgefedert' werden zu können versprach. Aber der Austritt ist in seiner Motiv- und Kontextbegründung so vielschichtig, d a ß er weder mit Glaubenslosigkeit der Austretenden noch (gar) mit Kirchlichkeit der Verbleibenden angemessen zu fassen wäre (s. T R E 13, 33, 44ff). Sicherlich werden die hohen untergründigen Spannungen sozioökonomisch-kultureller Veränderungsprozesse vor 1914, welche die gesellschaftlichen G r ö ß e n in neue Beziehungen zueinander brachten, am Beispiel der Kirchenaustritte besonders einsichtig. Wie dringlich in (minderheitlichen) Teilen der Kirche die Situation w a h r g e n o m m e n wurde, läßt sich z.B. an den Aktivitäten des -»Evangelisch-sozialen Kongresses verdeutlichen. 3.3. Weimarer Republik. Die 1919/20 sich vervielfachenden Austrittszahlen (Dt. Reich: 1918 = 8724; 1920 = 313995) sind möglicherweise auch als mittelbare Reaktion auf die H a l t u n g der Kirche zu -»Krieg u n d Waffen zu begreifen. Sicherlich aber sind sie begünstigt durch die zunächst in Preußen (später auch in den anderen Ländern) vom vormaligen Austritts-Agitator und derzeitigen Kultusminister Adolph H o f f m a n n („10G e b o t e - H o f f m a n n " ) durchgesetzten Verfahrenserleichterungen. Bis 1932 traten jährlich durchschnittlich 182000 Personen aus. Der Bevölkerungsanteil der Dissidenten stieg bis 1927 auf 2,5% (1910: 0,3%). Dabei griff das Austrittsphänomen nun von Preußen/Berlin auch nennenswert auf das übrige Reich (besonders: Sachsen, Thüringen, Braun-
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schweig; Großstädte) über, fand aber an der Mainlinie eine in der Statistik sich abzeichnende Grenze. Auch wenn man eine Kontinuität in der (weltanschaulich-freireligiös und/oder politisch-klassenkämpferisch intendierten) Agitation der Freidenkerorganisationen (bis zu 500000 Mitglieder) sowie der USPD bzw. der Kommunisten feststellen kann, deren Ergebnis sich nach entsprechenden Austritts-Kampagnen (Diskussion um die Fürstenabfindung; Hindenburg-Wahl) auch zahlenmäßig auswirkte, scheint unter den Bedingungen der Pluralität in der Weimarer Republik mit dem Fehlen einer absoluten Leitbild-Kontroversität der Austritt doch stärker in individualisierter Beziehungsperspektive zur Kirche entschieden und vollzogen worden zu sein. Die mit der Novemberrevolution notwendig gewordene Verfassungsneuordnung der Kirche vollzog sich zunächst überwiegend mit Hilfe nationaler und konservativer Kreise und stellte keine Öffnung in die Arbeiterschaft der industriellen Ballungsräume dar, für die die Kirche offensichtlich auch theologisch keine Heimat zu bieten wußte.
3.4. Nationalsozialismus. Im Rahmen der Geschichte des Kirchenaustritts erhält dieser Zeitabschnitt insofern das Signum der Singularität, als seitens des -»Nationalsozialismus Ein- und Austrittsvollzüge in massiver Weise zentral initiiert und gesteuert wurden. Der Beginn ist durch die Werbewirksamkeit des Schlagworts vom sog. .positiven Christentum' markiert: 1933 stehen den rd. 57000 Austritten rd. 324000 (Wieder-)Eintritte gegenüber. Kontrapunktisch dazu findet sich - ebenso Folge der NS-Agitation —1939 der andere Höhepunkt mit rd. 378000 Austritten (gegenüber 21000 Eintritten). Nach 1941 sinken — ähnlich der Zeit während des Ersten Weltkrieges — die Zahlen rapide ab und erreichen 1945 (9493) ihren Tiefpunkt. 3.5. Bundesrepublik Deutschland 1949-1968/69. Kcnnzcichen dieser Zeit ist - nach einem kurzzeitigen Anstieg (1949:84000 Aus- u. 42000 Eintritte; hier einschl. SBZ/DDR) — für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland eine über 18 Jahre währende Abnahme der Austrittszahlen bzw. ein Verharren auf dem niedrigen Niveau von ca. 0 , 0 5 % / J a h r (1939: 0,9%) zwischen 1950 und 1967 (ohne Eintritte) - korrespondierend der Zeit wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Konsolidierung bzw. restaurativer Tendenzen in gesellschaftlichen Teilbereichen der jungen Bonner Republik. Auch wenn eine zeitgeschichtlich begleitende sozialwissenschaftlich-repräsentative Kausalforschung fehlt, ist die Koinzidenz zwischen den ab 1968 wieder hochschießenden Austrittszahlen und dem geistig-politischen Klimawechsel dieser Jahre (Ende der ,Adenauer-Ära': Große Koalition [1966-1969], '68er Studentenrevolte und die SPD/FDP-Koalition [1969-1982] sehr wahrscheinlich und durch Motivanalysen plausibel zu machen. 4. Austritt
heute: Strukturen,
Motive,
Perspektiven
Die innerhalb von nur drei Jahren .explodierenden' Zahlen (1967: rd. 60000; 1970: rd. 202000) überraschten die kirchliche und allgemeine Öffentlichkeit, mit der Folge, daß der Austritt - meist ohne jede historische Relativierung - z.T. als agitatorisch von den Medien suggerierte ,Endzeit' der Kirchen, z. T. auch als Gesundschrumpfung apostrophiert und mit politisch nützlich erscheinenden Begründungen publizistisch unterfüttert wurde (z.B. in Berlin 1974 beim Gefängnisbesuch Bischof Scharfs bei der Terroristin Meinhof). Die innerkirchliche Diskussion, deren Stil und Niveau (besonders in Berlin mit seiner besonders hohen Austrittszahl) in vielem den Auseinandersetzungen Ende des 19. Jh. ähnelte, negierte dabei weitgehend (bzw. nahm erst mit erheblicher Verzögerung zur Kenntnis) die Ergebnisse kirchensoziologischer Motiv- und Strukturanalysen zu Fragen kirchlicher Mitgliedschaftsbedingungen bzw. des Austritts. So ist dieser kein Produkt einer gesellschaftlichen oder gar politischen Bewegung (wie — überwiegend - vor und nach 1918), sondern Ergebnis individueller, ohne Nachahmungsaufforderung und Sanktionsfurcht angestellter Kosten-Nutzen-Überlegungen, die im Kirchensteuer-Argument zwar ihre (allein so nur für wirkungsvoll gehaltene) Protestsprache erhält, aber darüber hinaus auch ein (z. T. sehr vages) Autonomie-Bedürfnis zur Grundlage hat. Darauf bezogen wird Mitgliedschaft als Einschränkung derselben empfunden und deshalb als .ideologische Kosten' nicht akzeptiert. Seit nun über 17 Jahren finden 5 0 % der jährlichen Autritte zwischen dem 16. und 32. Lebensjahr statt (insgesamt zwischen 0,4 % und 0,8 % des Mitgliedschaftsbestandes). Männer bilden die Mehr-
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Kirchenentfremdung/Kirchenaustritte
heit. Ebenso bedeutsam aber ist die Eingebundenheit in die (Er-)Lebensperspektive industriell-bürokratisch definierter Arbeitswelt; herkömmliche Berufskategorien (Arbeiter [vgl. T R E 1 3 , 3 4 , 26ff], Angestellte) versagen wegen des Strukturwandels in ihrer Beschreibungskraft. Der Austritt ist in der Regel nicht als Bestreitung der gesellschaftlichen Existenzberechtigung der Kirche als Organisation wie auch als .institutionalisierte Religion' gemeint (wie z. T. um die Jahrhundertwende und in der Weimarer Republik). Auch hinsichtlich heute gesellschaftlich und je individuell wirksamer bzw. für notwendig gehaltener Kategorien der „Welt-Aufforderung" (Ciaessens) und Werthaltung liegen Differenzen nicht zwischen Ausgetretenen und Mitgliedern. Vielmehr erbringt die Dimension der Nähe bzw. der Ferne zum (so wahrgenommenen/empfundenen) kirchlich-religiösen Milieu (die also auch Mitglieder einzubeziehen vermag) eine tiefenscharfe Analyse-Perspektive. Kirchendistanzierte beider Konfessionen (wenn auch bei Katholiken schwächer ausgeprägt) tendieren eher zu den Werten und Wertungen, die ein hohes Autonomiebedürfnis akzentuieren bzw. voraussetzen (Selbstbestimmtheit, Selbstvertrauen, Selbstverwirklichung in allen individuellen und sozialen Lebenssituationen), während die dem kirchlich-religiösen Milieu Näherstehenden eher traditionelle, übergreifende (also privat und gesellschaftlich gleichermaßen Geltung beanspruchende) Ordnungsprinzipien bevorzugen.
Wiewohl der Austritt ein Signal persönlicher Nicht-Betroffenheit, ein Nicht-Angesprochen-Sein durch die - vor allem im Rahmen der kirchlichen Sozialisation erfahrene Situationsdeutung ist, die in den wenigsten Fällen ein Zuwenig an ,reinem Evangelium' reklamiert, darf daraus nicht etwa eine soziale Unsensibilität oder eine ausschließliche Diesseits-Orientierung gefolgert werden (vgl. T R E 13,362,46ff). Wie sehr gegenwärtige gesellschaftliche Orientierungen bzw. deren soziale Systembildungen einer Dynamik des Suchens und der Neuorientierung unterliegen, zeigen Prozesse der Strukturbildung im Bereich der sog. Alternativen (unterschiedlicher politischer Nuancierungen und Gegenstandsbereiche). Welchen strukturellen Ort und welche prozessuale Funktion hier -•Volkskirche haben kann, vermögen - beispielsweise - die -»Kirchentage beider Konfessionen zu zeigen, deren gegenwärtige Bedeutung und soziale Struktur 1968/70 keiner zu prophezeien gewagt hätte. In dieser Entwicklung wird auch die gesamte Kirche ihren Ort dann jeweils neu bestimmen können, wenn in ihr die theologisch stilbildenden und Orientierungen vermittelnden Kräfte auf gesellschaftliche Veränderungen praxisnah und positiv hin orientiert sind und soziale Prozesse nicht a-priori als ,Kirchenentfremdung' negativ sanktioniert werden. Literatur Ernst Adam, Die Stellung der dt. Sozialdemokratie zu Religion u. Kirche (bis 1914), Diss. phil. Frankfurt/Main 1930. - Konrad Algermissen, Die Gottlosenbewegung der Gegenwart u. ihre Überwindung, Hannover 1933. — O t t o Baumgarten, Art. Kirchenregimentschristentum: R G G 3 (1912) 1 3 7 2 - 1 3 7 4 . - Ders., Art. Kirchlichkeit: R G G 3 (1912) 1 4 9 2 - 1 4 9 4 . - Ernst Bittlinger, Vom Kirchenaustritt in Berlin: Evangelisch-Sozial, 22. Folge, X , Nr. 10 (Oktober 1913); Nr. 11 (November 1913) 3 2 5 - 3 3 3 . - Wilhelm Brepohl, Industrievolk im Wandel v. der agraren zur industriellen Daseinsform darg. am Ruhrgebiet, Tübingen 1957. — Karl-Gottlieb Bretschneider, Uber die Unkirchlichkeitdieser Zeit im prot. Deutschland, Gotha 1820. - Theodor Brieger, Die fortschreitende Entfremdung v. der Kirche im Lichte der Gesch., Leipzig 1894. - Axel v. Campenhausen, Mitgliedschaft in der Volkskirche. Zum Problem des kirchl. Mitgliedschaftsrechts: PTh 55 (1966) 8 - 2 6 . - Christsein gestalten. Eine Stud. zum Weg der Kirche, hg. v. Kirchenamt im Auftr. des Rates der E K D , Gütersloh 1986. Günther Dehn, Die Kirche im Arbeiterquartier: Die Furche 15 (1929) 2 5 7 - 2 7 8 . - Volker Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Prakt. Theol. Aspekte der theol. Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christl. Religion, 2Bde., Gütersloh 1988. - Paul Drews, Der Rückgang der Kommunikanten in Sachsen. Eine zeitgesch. Stud. über kirchl. Sitte: Z T h K 10 (1900) 1 4 8 - 1 6 6 . - Hans Engelhardt, Der Austritt aus der Kirche, Frankfurt/M. 1972. - Horst D. Ermel, Die Kirchenaustrittsbewegung im Dt. Reich 1 9 0 6 - 1 9 1 4 . Stud. zum Widerstand gegen die soziale u. politische Kontrolle unter dem Staatskirchentum, Diss. phil. Köln 1971 (Lit.). - Ders., Zum Rückgang der Kommunikanten in der Rheinprovinz. Probleme einer hist. Analyse v. Säkularisierungsprozessen: M E K G R 15 (1966) 101 - 1 0 6 . - Andreas Feige, Kirchenaustritte. Eine soziologische Unters, v. Ursachen u. Bedingungen, Gelnhausen/Berlin 2 1977. — Ders., Erfahrungen mit Kirche. Daten u. Analysen einer empirischen Unters, über Beziehungen u. Einstellungen junger Erwachsener zur Kirche. Ein Beitr. zur Soziologie u. Theol. der Volkskirchenmitgliedschaft in der B R Deutschland, Hannover 2 1982. Ders./Ingrid u. Wolfgang Lukatis, Kirchentag zw. Kirche u. Welt, Berlin 1987. - Freidenkertum u.
Kirchengeschichtsschreibung
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Andreas Feige
Kirchengeschichtsschreibung (s. a. losophie V - V I I / 2 )
-»Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphi-
1.1. Alte Kirche 1.2. Mittelalter 1.3. Frühe Neuzeit: Re1. Chronologischer Überblick naissance, Reformation und Gegenreformation 1.4. Neuzeit und Zeitgeschichte (ab 1789) 2. Tendenzen in der neueren Kirchengeschichtsschreibung 3. Zum theologischen Selbstverständnis der Kirchengeschichte (Literatur S. 548.558)
Vorbemerkung In jeder Gemeinschaft konstituiert sich zeitliche Kontinuität und somit in einem elementaren Sinne Geschichte. Als erzählte Vergangenheit ist sie Teil der Gegenwart. Struk-
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Kirchengeschichtsschreibung
turierend begleitet sie Erleben und Handeln. Zukünftiges wird aus ihr heraus erwartet. Nennen wir diese Geschichte im elementaren Sinn zunächst „interne" Geschichte. Bei religiösen Gemeinschaften, denen es um Heil oder Verderben der Menschen geht, kommt eine weitere zeitliche Dimension hinzu, die kosmisch-universal angelegt ist. Nennen wir sie zunächst „externe" Geschichte. Da es in dieser „externen" Geschichte um Heil und Verderben des Menschen bzw. der ganzen Menschheit geht, wird sie auch meist Heilsgeschichte genannt. Die Trennung von interner und externer Geschichte ist hypothetischen Charakters, sie dient der Entschlüsselung komplexer Sachverhalte; denn interne und externe Geschichte werden nicht als getrennte geschichtliche Dimensionen erlebt. Beide Dimensionen durchdringen sich, stehen in Kontinuität oder Kontrast zueinander, meist zugleich in Kontinuität und Kontrast. Diese allgemeine Beschreibung ist auch auf die nachösterliche Gemeindebildung anzuwenden, die wir, der -»Tradition folgend, als -»Kirche bezeichnen. Kirchengeschichtsschreibung wäre dann die Beschreibung des Schicksals dieser nachösterlichen Gemeindebildung, und Geschichte der Kirchengeschichtsschreibung die Beschreibung der verschiedenen Beschreibungen der Kirche im Laufe ihrer Geschichte. Wann hat diese Geschichte der Beschreibung der Geschichte ihren Anfang genommen? Hier beginnt die Verlegenheit. Gemeinhin wird -»Eusebius von Caesarea als Vater der Kirchengeschichtsschreibung bezeichnet, aber schriftliche Äußerungen zur Geschichte der Kirche hat es längst vorher gegeben. So lassen andere die Geschichte der Kirchengeschichtsschreibung mit der -»Apostelgeschichte beginnen, erwähnen dann die —» Bischofslisten des 1. Jh., die apologetische Literatur -»Justins oder -»Tertullians, die Chroniken von Julius -»Africanus oder -»Hippolyt etc. Wiederum andere verweisen auf die Dominanz des eschatologischen Denkens in der Frühzeit der Kirche, das geschichtliche Reflexion oder gar die Gattung einer Geschichtsschreibung zunächst gar nicht habe aufkommen lassen. Als Lösung schlage ich vor, von zwei verschiedenen, voneinander weitgehend unabhängigen Gattungen von Kirchengeschichtsschreibung auszugehen. Die erste Gattung ist an der „internen" Geschichte orientiert; voll entwickelt liegt sie nach verschiedenen noch zu erläuternden Vorstufen in Eusebs Kirchengeschichte vor. Die zweite Gattung dagegen ist auf die „externe" Geschichte bezogen, mithin universalistisch orientiert, ausgeführt in Chroniken oder chronologischen Tabellen. Beide Gattungen stehen zunächst nebeneinander - noch Euseb hat neben seiner Kirchengeschichte eine Weltchronik verfaßt. Mit der Verchristlichung der Gesellschaft verliert die auf die „interne" Geschichte zielende Geschichtsschreibung allmählich an Bedeutung, um der universalistischen Orientierung, der Chronik, das Feld zu überlassen. Erst im Verlauf des neuzeitlichen Säkularisierungs- und Differenzierungsprozesses hat sich die an der „internen" Geschichte orientierte Kirchengeschichtsschreibung wieder durchgesetzt. Seit Mitte des 18. Jh. ist dann üblich geworden, Kirchengeschichte als Geschichte der Kirche im engeren Sinne, als an der „internen" Geschichte orientierte Geschichtsschreibung zu verstehen. Im folgenden (1) sollen in chronologischer Folge die wichtigsten Werke der kirchlichen Historiographie vorgestellt werden. Die einzelnen Abschnitte folgen der üblichen Periodisierung (KG I-V). Im Vordergrund stehen dabei Gesamtdarstellungen oder zumindest Darstellungen übergreifenden Charakters. Die weiteren Gattungen wie Sondergeschichten, Akten, Viten, Memoiren, literarische Einzeldarstellungen etc. können nur begrenzt Berücksichtigung finden. In einem weiteren Kapitel (2) wird versucht, Entwicklungstendenzen in der Praxis der Kirchengeschichtsschreibung der Neuzeit zu typisieren, und in einem abschließenden Kapitel (3) soll auf Wesensbestimmungen der Kirchengeschichte eingegangen werden. Beides, die Veränderungen in der Praxis der Kirchengeschichtsschreibung und die Versuche, das Wesen der Kirchengeschichte zu bestimmen, sind Reaktionen der Kirchengeschichtsschreibung auf Veränderungen in der geistesgeschichtlichen Umwelt, insbesondere auf die Differenzierung von Profan- und Kirchengeschichte.
Kirchengeschichtsschreibung 1. Chronologischer
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Überblick
1.1. Alte Kirche 1.1.1. Die Anfänge: Die „interne" Geschichte. Wir waren eingangs von der Unterscheidung von interner und externer Geschichte ausgegangen. Es wäre allerdings ein Mißverständnis anzunehmen, die an der internen Geschichte orientierte Geschichtsschreibung stände in unmittelbarer, gleichsam natürlicher Kontinuität zum internen Geschichtsbewußtsein. Gleiches gilt für die an der externen Geschichte orientierte Universal- oder Heilsgeschichte. Damit es zu einer schriftlichen Fixierung von erfahrener, erlebter Geschichte kommt, bedarf es besonderer Voraussetzungen innerhalb der sich ausbreitenden Kirche und besonderer Herausforderungen innerhalb und außerhalb der Kirche. Die gesellschaftliche Randlage der frühen Gemeinden und die geschichtlicher Kontinuität konträre eschatologische Grundstimmung war der Ausbildung einer Geschichtsschreibung eher ungünstig. Die schnelle Ausbreitung jedoch im hellenistischen Kulturkreis hat eine schriftliche Kommunikation, in der dann auch historische Argumentationen Aufnahme finden konnten, sehr schnell entstehen lassen. Konkurrenzsituationen innerhalb der Gemeinden oder der Gemeinden untereinander verlangten verstärkt nach einem Authentizitätserweis. Dabei setzte sich die geschichtliche Legitimation gegenüber der prophetischen zunehmend durch (Paulus, Apostelgeschichte, Clemens von Rom, Bischofslisten mit Sukzessionsaufweis etc.). Der mit der Ausbreitung einhergehenden Vertextlichung der Kommunikation verdanken wir auch die frühen kirchlichen „Geschichten", wobei sich wohl missionarische, apologetische und legitimatorische Motive miteinander verbanden. Die Überproduktion in den Gattungen der Evangelien, Apostelgeschichten und vor allem der Gemeindebriefe (-+Apokryphen; -»Pseudepigraphen) gefährdete jedoch deren Legitimationskraft. Mit Hilfe der deflatorischen Wirkung der Kanonbildung konnte die geschichtliche Authentizität bestimmter Schriften gewahrt werden (-»Bibel III). Insofern ist die Kanonbildung eine Leistung geschichtlichen Legitimationsbewußtseins. Die zunehmend rasche gesellschaftliche Integration des Christentums im 3. Jh. erschloß der historiographischen Produktion innerhalb der Kirche neue Möglichkeiten (Märtyrerakten, Viten, Geschichte der Verfolgungen etc.). Im Augenblick der staatlichen Anerkennung des Christentums konnte dann Eusebius von Caesarea auf ein reiches historiographisches Material zurückgreifen, das er ordnete und zur ersten Gesamtdarstellung verarbeitete. Dieser ersten Gesamtdarstellung des „Vaters der Kirchengeschichtsschreibung" verdanken wir unser Wissen über viele uns nicht überlieferte historiographische Einzelleistungen. Eusebs Kirchengeschichte ist auch der Grundstock für weitere kirchengeschichtliche Gesamtdarstellungen. Die „externe" Geschichte. Eine Gesamtdarstellung der internen Geschichte vorzulegen war nur möglich, weil wesentliche Momente der externen Geschichte - der Heilsgeschichte - in sie Aufnahme gefunden haben. Die Geschichte der Kirche ist selber ein Stück Heilsgeschichte geworden, quasi eine innerweltliche Heilsgeschichte. Dies wäre in frühen Jahrhunderten, als die Kirche noch zu gesellschaftlichen Randgruppen gehörte, undenkbar gewesen; denn viel stärker als an ihrer internen Geschichte ist die frühe Kirche zunächst an ihrer externen Geschichte interessiert. Die starke eschatologische Grundstimmung hat die interne Geschichte nahezu völlig in der externen, in der Heilsgeschichte, aufgehen lassen. Der heilsgeschichtliche Rahmen für die „externe" Geschichte war durch die jüdische Tradition vorgegeben. Aus ihr empfing man das eigene Selbstverständnis, indem man sie den eigenen Erfahrungen und Überzeugungen gemäß auslegte (-»Paulus, -•Hebräerbrief). Die verstärkte Ausbreitung in die hellenistische Welt, verbunden mit Anerkennungsproblemen in der jüdischen Umwelt, verstärkt die Tendenz zur Ausbildung einer eigenen christlichen Heilsgeschichte. So bildet sich ein heilsgeschichtlicher Typus aus, der die jüdische Tradition als sinnliche, heidnische Interpretation der Verheißungen verwirft,
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zugleich aber Eckdaten biblischer Tradition für das Christentum in Anspruch nimmt (-•Ignatius von Antiochien, -»Barnabasbrief, Justins Dialog). Eine wahre christliche Tradition wird von einer falschen jüdischen geschieden. Auf diese Weise rücken die Christen als Proto-Christen an den Anfang der Heilsgeschichte, und die gesamte Geschichte wird zur christlichen Heilsgeschichte. Mit dem Vordringen des Christentums in die gebildeten Schichten und die damit verbundene Übernahme antiker Wert- und Bildungsnormen entstehen Anschlußprobleme an deren geschichtliche Überlieferung. Die Integration läuft über die bereits vorhandene Vorstellung vom Proto- bzw. Krypto-Christen: Die großen Philosophen und Ethiker dieser Tradition waren, wenn auch in einem verborgenen Sinne, Christen, wobei freilich die antike heidnische der christlichen Tradition gegenüber sowohl in ihrem Rang wie auch in ihrem Alter nachgeordnet bleiben sollte. Mit der Integration der Vorzeit in die Geschichte der Kirche war die Voraussetzung gegeben, die externe Geschichte, d. h. die universale Heilsgeschichte als Kirchengeschichte und die Kirchengeschichte als universale Heilsgeschichte zu begreifen. Programmatisch formuliert finden wir diese Idee bereits in den Apologien von -»Justin, —»Melito von Sardes und -»Tertullian, explizit durchgeführt dann in den Weltchroniken des Julius Sextus -»Africanus und -»Hippolyts von Rom. Als Ordnungsschemata der weltgeschichtlichen Materialfülle finden wir nebeneinander das Sechstage-Schema (im jüdisch-messianischen Schrifttum entstanden, bereits von -•Irenaus und Justin heilsgeschichtlich gedeutet, von Hippolyt, -»Lactantius und —•Hieronymus chronographisch verwendet) und die Danielsche Vierreiche-Vorstellung (aus augusteischer Zeit stammend, von Hieronymus mit Daniel in Verbindung gebracht, bleibt sie als heilsgeschichtliches Schema bis ins 18. Jh. hinein erhalten). Eusebs Chronik (303) bürgerte sich dank der Übersetzung von Hieronymus (380/81, unter Hinzufügung römischer Teile bis 348 ergänzt) im Westen ein. Mehrfach ergänzt, wurde sie zum Fundament mittelalterlicher Chroniken: -»Sulpicius Severus, Weltchronik (bis 400); -»Prosper von Aquitanien, Epitoma Chronicorum (Weltchronik bis 455); -»Isidor von Sevilla, Weltchronik (bis 615,2. Fassung bis 625); eine heilsgeschichtlich deutende, durch die Zeitgeschichte bedingte apologetische Weltgeschichte bei Aurelius -»Augustinus, De civitate Dei (413—426) und -»Orosius, Historia adversus paganos (417/18). 1.1.2. Kirchengeschichte. Die besondere historiographische Leistung des Eusebius von Caesarea lag jedoch in seiner ¿KKÄrjoiaoTiKt] iaropia. In ihrer Urform bereits vor 303 veröffentlicht, dann mehrfach fortgesetzt, umfaßt sie in ihrer endgültigen Redaktion von 323 zehn Bücher. Als chronologische Gliederungshilfe wurden die Kaisertabellen zu Grunde gelegt; in der literarischen Form folgt sie der Profanhistoriographie. Ohne das in ihr mitgeteilte reiche Quellenmaterial wären die ersten drei Jahrhunderte der Kirche nahezu im Dunkeln verblieben. Euseb hat drei Fortsetzer gefunden: Sokrates Scholastikos von Konstantinopel (ca.380-ca.450), sieben Bücher für die Jahre 305-439, verfaßt 439-450 (Gliederungsprinzip nach der Regierungszeit der Kaiser beibehalten, sorgfältig gearbeitet, unparteiisch im theologischen Streit, wichtige Quelle über Arianismus, origenistische Streitigkeiten und Anfänge des Mönchtums); Sozomenos, neun Bücher für die Jahre 324-422, verfaßt zwischen 443 und 450 (abhängig von Sokrates, selten neues Material, nach 422 nur einzelne Nachrichten, anekdotisch schlichter Stil, literarisch ungeschickt, weniger zuverlässig und kritisch als Sokrates); -»Theodoret von Kyros für die Jahre 323-428 unter Beifügung von Synodalschreiben, Briefen, Urkunden (apologetische Tendenz bei zuweilen mangelndem kritischen Sinn). Die Fortsetzungen haben ihre Weiterführung im Scholastikos Euagrios (536-600) gefunden (für die Jahre 431-594, orthodoxer Standpunkt, christologische Streitigkeiten stehen im Mittelpunkt). Durch -»Rufin von Aquileia wurde Eusebs Kirchengeschichte lateinisch bearbeitet und vielleicht nach einer verlorengegangenen Vorlage von Gelasius von Caesarea um zwei Bücher für die Jahre 325 - 3 9 5 ergänzt. -»Cassiodor hat in seiner Historia tripartita,
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wahrscheinlich einem von Epiphanius übersetzten griechischen Vorbild (Theodorus Lector) folgend, die drei genannten Fortsetzungen Eusebs in einer lateinischen Ausgabe vorgelegt. Rufins und Cassiodors Ausgaben sind im Westen die kirchengeschichtliche Grundlage des Mittelalters geworden. 1.1.3. Weitere historiographisch relevante Werke. Z u nennen sind a) Viten: Pontius von Karthago, Vita et passio Cypriani (panegyrisch gehalten und von geringem Quellenwert), Eusebs Vita des Pamphilus und die vier Bücher seiner Constantin-Vita, die Vita Antonii des -»Athanasius, die Vita S. Macrinae von -»Gregor von Nyssa, die Vita S. Martini des -»Sulpicius Severus (vor 397), die Vita Ambrosii (nach dem Vorbild der Antonius-Vita) des Paulinus von Mailand (gest. nach 422), das Leben Augustins von Possidius (gest. nach 437), die Chrysostomos-Vita (408), die Historia Lausiaca (419/29) und die Mönchsbiographien von Palladios von Helenopolis (gest. vor 431), die Geschichte der Mönche Syriens (444-449) des -»Theodoret von Kyros; b) Märtyrergeschichte-. Eusebs Akten der älteren Märtyrer (verloren) und seine Schriften Über die Märtyrer von Palästina; c) Häresiologie: der Katalog von 80 Häresien im Arzneikasten (Panarion), 3 7 4 - 3 7 7 des Epiphanius von Salamis (315 - 4 0 3 ; -»Zypern) sowie das Haereticarum fabularum compendium (um 453) des oben genannten Theodoret von Kyros; d) Schriftstellerkataloge: Grundlage ist De viris illustribus (392) des Hieronymus mit 135 Namen, Fortsetzungen durch -»Gennadius von Marseille (um 480), Isidor von Sevilla, Ildefons von Toledo (gest. 667); e) Bischofskataloge: f ü r die Folgezeit am bedeutendsten der Liber Pontificalis (bis Felix IV., 526-530; -»Papsttum), der schichtenweise entstanden und Anfang des 7. Jh. in der überlieferten Form vorlag: Papstgeschichte in der Form aneinandergereihter Biographien nach stereotypem Muster, bis ins späte Mittelalter fortgesetzt (wie die Bischofsliste von Jerusalem des Epiphanius wurde diese Papstgeschichte nach rückwärts ergänzt); f ) Sammlung von Synodalbeschlüssen (-»Synode): die älteste direkt überlieferte Sammlung (um 550) in griechischer Sprache ist die systematisch geordnete Kanonessammlung des Scholastikos Johannes III (gest. 577), in lateinischer Sprache die ca. 500 in Rom entstandene Sammlung des -»Dionysius Exiguus; g) Akten zu dogmatischen Streitigkeiten: Die Sammlung zum donatistischen Streit (330-347) des -»Optatus von Mileve, Akten über den Ursprung des pelagianischen Streites (417; -»Pelagius) des Aurelius Augustinus.
1.2. Mittelalter 1.2.1. Geschichten der christianisierten Germanenvölker. Die Volksgeschichten des frühen Mittelalters sind als Sieg des rechten Glaubens in ihrem Volk konzipiert: Die Historiarum libri X des -»Gregor von Tours mit einem Anhang zur Geschichte der Bischöfe von Tours; die Geschichte der Westgoten von —»Isidor von Sevilla; die Historia Ecclesiastica gentis Anglorum von -»Beda Venerabiiis. 1.2.2. Chroniken, Annalen, Viten. a) Chroniken: Für das Zeitschema Weltchronik konstitutiv wurde die Anleitung zur Berechnung des Ostertermins des Angelsachsen Beda Venerabiiis, fußend auf der Ostertafel (532) des Dionysius Exiguus (Christi Geburt wird auf das Jahr 754 ab urbe condita festgesetzt [-»Zeitrechnung]). Genannt seien: Über die sechs Weltalter von Beda Venerabiiis; das Chronicon (906) des Benediktiners Regino von Prüm (gest. 915), mit Christi Geburt beginnend; außerdem die Chroniken von Hermann dem Lahmen von Reichenau (1013-1054), Frutolf von Michelsberg (gest. 1103), Sigebert von Gembloux (gest. 1112), Ekkehard von Aura (gest. 1125), der die Chronik Sigeberts benutzt. Das Chronicon sive Historia de duabus civitatibus, acht Bücher, 1143-1146, -»Ottos von Freising (gest. 1158) nimmt wegen der Anknüpfung an Augustin eine Sonderstellung ein. b) Annalen: Diese klassisch-antike Form der Geschichtsdarstellung tritt bistums- bzw. abteizentriert in der sächsischen und salischen Kaiserzeit auf. Je nach gesellschaftlicher Stellung des Geschichtsschreibers wird wertvolles Quellenmaterial verarbeitet: Auf Widukind von Korvey und die Quedlinburger Annalen fußt Thietmar von Merseburgs (975-1018) Chronik (1012-1018). Berühmt sind außerdem die Annalen der Kirche von Reims des Flodoard von Reims (893/94—966) und die Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum des Adam von Bremen (gest. nach 1081). c) Viten: Nach antiken (Sueton, Sallust) und christlichen Vorbildern (Sulpicius Severus) konzipiert sind Virtutes und Miracula zentrale Themen: Vita Brunonis (ca. 965-969) des Ruotger von Köln, Vita Bennonis, Bischof von Osnabrück (zwischen 1090 und 1108), des Norbert von Iburg, das Leben Anselms von Canterbury (nach 1109) des Benediktiners Eadmer (1055—1124) so-
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wie das stark hagiographisch orientierte Leben Engelberts von Köln des Zisterziensers -»Caesarius von Heisterbach (1180-1240). 1.2.3. Die Kirchengeschichte. Seit der kirchlichen Reformbewegung des 11. und 12. Jh. taucht auch die Bezeichnung Kirchengeschichte wieder auf. Der Titel „Kirchengeschichte" deckt hier jedoch nur die traditionelle Kombination der Welt- und Heilsgeschichte: die Historia ecclesiastica (2. Fassung 1110) des Benediktiners Hugo von Fleury (gest. 1120), die dreizehnbändige Historia ecclesiastica (1141) des Benediktiners Ordericus Vitalis (1075-1142), und die die Kirchengeschichte mit der Papstgeschichte identifizierende Historia Pontificalis des Johannes von Salisbury (1115-1180). 1.2.4. Die Geschichtsschreibung der Bettelorden. Neben der chronikartigen Verzeichnung der eigenen Ordensgeschichte wenden sich vor allem die -»Dominikaner wieder der Weltchronik zu: das Speculum historiale (ca. 1256), neben dem Speculum naturale und Speculum doctrinale Teil des umfangreichen Werkes von Vinzenz von Beauvais (gest. 1264), die Flores chronicorum (ca. 1320) des Bernhard Guidonis (1260-1331), schließlich die Chronik des Antonius von Florenz (1389—1459). Verbreiteter noch waren die tabellarischen Zusammenstellungen: Die Summa Martiniana oder Chronica Martiniana, d. h. die Chronik der Päpste und Kaiser Martins von Troppau (gest. 1278), ist das im Spätmittelalter wohl verbreitetste und immer wieder ergänzte chronologische Hilfsmittel (vgl. den Catalogus brevis pontificum romanomm et imperatorum des eben genannten Bernhard Guidonis). Kirchengeschichte als Papstgeschichte schrieb Bartholomäus von Lucca (1236-1326) mit seiner Historia ecclesiastica nova\ der Uber de vita Christi et pontificum (1479) des Bartholomäus Piatina (1421-1481) ist für die ältere Zeit nur eine stilistische Überarbeitung des Uber pontificalis. 1.2.5. Literaturgeschichte. Seit Sigebert von Gembloux ist auch die kirchliche Literaturgeschichte in der Weiterführung altkirchlicher Standardwerke gepflegt worden. Der Katalog Heinrichs von Brüssel (gest. nach 1270) umfaßt nur die Jahre 1050-1270. Auf der Schwelle zur Reformationszeit ist das berühmte Werk De scriptoribus ecclesiasticis (1494) des Johannes Trithemius (1462-1516) entstanden. 1.2.6. Darstellungen zur Zeitgeschichte. Bevorzugte Themen spätmittelalterlicher Historiographie sind das Schisma und die Reformkonzilien: Dietrich von Niem (1340-1418), De schismate; Ludolf von Sagan (gest. 1422), De longevo schismate; Martin von Alpartil (gest. 1440), Chronica actitatorum temporibus D. Benedicti Xlll-, Johannes von Segovia (gest. 1456), Historia gestorum generalis synodi Baseliensis. 1.3. Frühe Neuzeit:
Renaissance,
Reformation
und
Gegenreformation
1.3.1. Die Bedeutung des Humanismus für die Kirchengeschichtsschreibung. Bei der Geschichtsschreibung der -»Renaissance treffen wir auf ein Miteinander von Orientierung an literarischen Mustern der Antike und dem Bedürfnis nach verherrlichender Selbstdarstellung der Renaissance-Fürsten. Reformgesinnung, Erfindung des Buchdrucks, humanistische Gelehrsamkeit und die sie pflegenden Gebildetenkreise schufen für die Beschäftigung mit der Vergangenheit eine qualitativ neue Stufe. Dem Zusammenwirken von philologischer Kritik und hoher Reputation antiker Autoren verdankt auch die Kirchengeschichtsschreibung sehr viel. Zunächst wurden lateinische Quellen ediert: Lactanz, Cyprian, Augustin, Hieronymus, Orosius, Leo u . a . (vgl. Beatus Rhenanus [1485-1547], Auetores historiae ecclesiasticae, Basel 1523, Neuausgabe Basel 1544, enthält die lateinische Fassung der Kirchengeschichte Eusebs nach Rufin und die Historia tripartita sowie Urkunden aus Theodoret); griechische Quellen, zunächst in lateinischer Übersetzung, später im Original, schlössen sich an: Euseb, Athanasius, Origenes, Chrysostomos etc. Die konfessionelle Konkurrenz war dem historischen Interesse zunächst nur förderlich. Beide Konfessionen nahmen für sich in Anspruch, Träger der wahren Tradition zu sein. Ein Streit, wer in der Kontinuität der Kirchenväter stehe, war entbrannt. Damit ist das humanistische Bildungsinteresse aufs engste mit dem theologischen Wahrheitsinteresse verknüpft. Zu der Ausbildung einer autonomen historischen oder kirchen-
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geschichtlichen Wissenschaft ist es damals allerdings noch nicht gekommen. Dazu fehlten sowohl die theoretischen wie die institutionellen Voraussetzungen. 1.3.2. Protestantische Kirchengeschichtsschreibung. Gleichwohl sind im 16. Jh. historiographische Leistungen entstanden, die in den folgenden zweihundert Jahren zwar ergänzt, kaum aber überboten werden konnten. Das erste prominente Beispiel sind die Magdeburger Zenturien (Basel 1559-74). Dieses Werk, der Titel Centuriae Magdeburgenses kommt bei Bearbeitungen im 18. Jh. auf, überragt wie ein erratischer Block alle kirchenhistorischen Werke zwischen Reformation und Aufklärung. Nicht nur der katholischen Seite fiel es schwer, ein entsprechendes Gegenstück hervorzubringen (Konrad Braun, Admonitio Catholica, Dillingen 1565; Wilhelm Eisengrein, Descriptiones, Ingolstadt 1566; Marguerin de La Bigne, Bibliotheca, Paris 1575—1579; zu den Annalen des Baronius dagegen s. u.), auch den Protestanten fiel eine Fortsetzung (die Magdeburger Zenturien hören mit dem 13. Jh. auf) ebenfalls nicht leicht. Kritik an der historischen Zuverlässigkeit wird in protestantischen Kreisen erst in den Literaturgeschichten des 18. Jh. laut, allerdings nicht ohne zu versäumen, auf die Vorzüge des umfangreichen Werkes hinzuweisen. Die Magdeburger Zenturien sind in mehr als einer Hinsicht eine exzeptionelle Leistung ihres Cheforganisators und ersten Autors, Matthias —»Flacius Illyricus: der Umfang zunächst, sodann die Organisation als Teamwork, schließlich der Vertrieb in einem entwickelten Subskriptionsverfahren. Was katholischerseits in den Orden an institutionellen Gegebenheiten quasi natürlicherweise zur Verfügung stand, mußte hier durch energische Initiativen erst geschaffen und ökonomisch abgesichert werden. Zwar sind das rubrizierende und inventarisierende Verfahren, die völlig auf polemische Verwendung abgestellte Sammlung historisch erreichbaren Wissens, die kritische Einäugigkeit, die nur in Ansätzen zu findenden intramundanen Erklärungsversuche, eine kraß einseitige Zuteilung religiöser und moralischer Motive sicherlich nicht modern; solange aber die konfessionelle Polemik der Nerv theologischen Denkens und Argumentierens war, stellten die Magdeburger Zenturien ein unverzichtbares Nachschlagewerk dar. Auf diesen Verwendungszweck bezogen, waren sie ein modernes Werk. Bis ins 18. Jh. hinein wurden die Magdeburger Zenturien, ebenso wie der von Osiander Lucas I. (die Epitomes erschienen zum ersten Mal Tübingen 1592-1603) besorgte Auszug, nachgedruckt (ein Auszug des Auszugs in deutscher Sprache wurde von Johann Valentin -»Andreae und Johann Bernhard Wagner, Straßburg 1630 veröffentlicht). Die letzte vollständige (verbesserte und erweiterte) Auflage ist in Basel 1724 herausgekommen. Bei einer späteren Neuauflage mit einem Vorwort von J . S . Semler erschienen nur die beiden ersten Bücher (Nürnberg 1757/58). Erst als man im Zuge der Aufklärung auch in kirchengeschichtlichen Untersuchungen innerweltliche Zusammenhänge - was Kritikfähigkeit auch gegenüber apologetisch nutzbaren Positionen voraussetzt — aufzufinden sich bemühte, war die Darstellung der Zenturiatoren überholt.
Fast anderthalb Jahrhunderte nach den Magdeburger Zenturien ist eine weitere protestantische Kirchengeschichte entstanden, die bis heute ihrer besonderen Intention wegen bekannt geblieben ist: Gottfried -»•Arnold, Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie, 4 T., Frankfurt/M. 1699/1700, in einem Band 1729, in 3 Bänden Schaffhausen 1740-1742. Obwohl Arnold den letztlich a-historischen, das Urchristentum idealisierenden Standpunkt der kirchenkritischen Frömmigkeitsbewegung voll teilt, umfaßte sein Werk dennoch die ganze Kirchengeschichte. Dies war nur möglich durch den ebenso genialen wie unerschrockenen Gedanken, eine Anti-Kirchengeschichte zu verfassen: Die Geschichte der Kirche wird zum apagogischen Beweis ihrer Geschichtslosigkeit qua wahrer Kirche. Eine lange Wirkungsgeschichte schließt sich trotz aller Widerlegungen bestallter Theologen an: In ihrem kirchenkritischen Affekt hatten die aufgeklärten Intellektuellen für die historischen Belege ihres Vorurteils ein ebenso offenes Ohr für Gottfried Arnold wie fromme kirchenkritische Außenseiter. 1.3.3. Die katholische Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung. Die Altgläubigen sahen sich nicht nur einer zur anerkannten Konfession arrivierten Ketzerei gegenüber, sondern auch einer historisch sich legitimierenden Bekenntnisalternative. Der protestantische Eifer, altkirchliche Belege für die eigenen theologischen Überzeugungen zu sammeln, provozierte entsprechende Gegenaktivitäten. Aus Kreisen der Oratorianer, der Benediktiner und auch der Jesuiten (es wäre verfehlt, vom Duktus der Ratio studiorum
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her auf eine historiographische Vakanz bei den Jesuiten zu schließen) gingen dann entscheidende und folgenreiche historische Arbeiten hervor. Konkurrierende Richtungen innerhalb des Katholizismus verstärkten noch den gelehrten Eifer. Vor allem aber sollte die von den protestantischen Gelehrten bestrittene Rechtmäßigkeit der römischen Tradition durch umfangreiche Quellensammlungen unangreifbar gemacht werden. Die Wende vom 16. zum 17. Jh. markiert einen deutlichen Führungswechsel. Von nun an sind es Arbeiten katholischer Gelehrter, die bis weit ins 18. Jh. hinein den Leistungen kirchengeschichtlicher Forschung und Darstellung ihr Gepräge geben. Zunächst war Rom das Zentrum der Pflege historischer Studien. Die Vatikanische Bibliothek wurde reorganisiert. Kongregationen widmeten sich intensiv historischen Arbeiten oder beauftragten einzelne Mitglieder mit speziellen Aufgaben. Caesar Baronius (1538 -1607) ist das renommierteste Beispiel (1577 Anschluß an das Oratorium Philipp -»Neris, 1593 dessen Nachfolger, 1596 Kardinal, 1597 Präfekt der Vatikanischen Bibliothek). Er hat mit seinen Annales ecclesiastici (bis 1198; 12 Bände, Rom 1588-1607) ein den Magdeburger Zenturien mindestens ebenbürtiges Werk vorgelegt. Als Darstellungsprinzip knüpft er an die klassisch-humanistische Form der Annalen an, ohne in größeren Perioden zusammenzufassen. Bei aller apologetischen Tendenz ist seine Darstellung ohne polemische Schärfe abgefaßt. Fortgesetzt wurde sein Werk durch den Polen Abraham Bzovius (1567-1637) bis auf Pius V.; diese Fortsetzung wurde jedoch später durch die bessere Darstellung des Oratorianers Oldoricus Raynaldus ersetzt, der in den Bänden 1 3 - 2 1 (Rom 1646-1677) eine Fortsetzung bis 1564 vorgelegt hat. Drei weitere Bände (bis 1571) wurden von Giacomo Laderchi (Rom 1728-1737) geschrieben. Schließlich hat Augustinus Theiner im 19. Jh. die Jahre 1572-1585 (Rom 1856) bearbeitet. Ebenso erfolgreich wie die Annalen des Baronius sind umfangreiche Quellensammlungen, ihre Inventarisierung und Publikation: Väterausgaben an erster Stelle, sodann Konzilsakten, Quellen zur Geschichte des Papsttums, zur christlichen Archäologie, zur Ordensgeschichte, zu einzelnen umstrittenen Lehrpunkten wie Heilige Messe, päpstlicher Primat usw. sowie Sammlungen kritisch gesichteter Heiligenlegenden. Hinzu treten zeitgeschichtliche Dokumentationen: Missionsberichte und Biographien. Bald kamen weitere Zentren historischer Forschung hinzu, unter denen Paris eine herausragende Stellung einnahm. Das in der Benediktiner-Kongregation des Heiligen Maurus in St. Germain-desPrcs (-»Mauriner) angehäufte Material war so gewaltig, daß seine Auswertung noch das 19. Jh. beschäftigte. Zwei Schwerpunkte bildeten sich bei der Kompilation der Quellen heraus: Schriften der Kirchenväter und mittelalterlicher Theologen sowie Sammlungen zur Ordensgeschichtsschreibung. Dabei werden die Schriften nicht nur kompiliert; es gilt auch, sie in eine chronologisch und geographisch saubere Ordnung zu bringen. Jean Mabillon (1632-1707) hat die dabei entwickelten Verfahrenstechniken systematisch zusammengestellt und vor der Publizierung der Ordens-Annalen separat ediert (De re diplomatica libri VI, Paris 1681). Die in dieser Zeit expandierenden höfischen Interessen an rechtsgeschichtlichen Fragen haben dem Werk zu einer schnellen und weiten Verbreitung verholfen. Ungeachtet der konfessionellen Prägung der Juristen wurde es gerne allenthalben als Standardwerk benutzt. Übersicht: 1. Schriftstellerkataloge und Quellenauszüge: Suffridus Petri, Druck älterer Schriftstellerkataloge (1580); Angelo Rocca OESA, Epitome (1594); Antonio -»Possevino SJ, Apparatus sacer, 3 Bde. (1603 - 0 6 ) ; Roberto Bellarmini, De scriptoribus ecclesiasticis (1613); Albert Le Mire (1573-1640) setzte den Katalog von Trithemius fort; Louis-Ellias Du Pin, Nouvelle bibliothèque des auteurs ecclésiastiques (1684-1691); Remi Ceillier OSB, Histoire générale des Auteurs sacrés et ecclésiastiques, 23 Bde. (1729-1763), bis ins 13. Jh. reichend. 2. Kanones-Sammlungen und Konzilsausgaben: Jean Hardouin SJ, Conciliorum collectio regia maxima, 12 Bde., Paris 1714-1715; Giovanni Domenico Mansi (1692-1769), Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio (bis 1440), 31 Bde., Florenz/Venedig 1759-98; nationale Sammlungen: Jacques Sirmond SJ, Concilia antiqua Galliae, 3 Bde., Paris 1629, Supplement von P. Delalande, Paris 1666; Josef Sânez de Aguirre, Collectio maxima conciliorum omnium Hispaniae et novi orbis, 4
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Bde., Rom 1693, 2. Ausgabe von J. Catelanus, 6 Bde., R o m 1753-55; Christian de Wulf (Lupus) OESA, Synodorum Generalium et Provinc. decreta et canones, 5 Bde., Löwen 1665, Brüssel 1673; Josef Hartzheim/Johann-Friedrich Schannat, Concilia Germaniae, 11 Bde., Köln 1759-1790. 3. Hagiographie: Laurentius Surius O C a r t h , De probatis Sanctorum historiis, 6 Bde., Köln 1570-75, auf Luigi Lippomani (1500-59) aufbauend; Jean Bolland SJ, Acta sanctorum, quotquot tot orbe coluntur, 1643 ff; Mitarbeiter Bollands: Gottfried Henskens (1601-1681), Daniel Papebroch SJ (gest. 1714) seit 1659; bis 1788 erschienen 52 Bände. 4. Väterausgaben: Die Mauriner besorgten u . a . doppelsprachige, meist in Paris gedruckte, griechische Väterausgaben (vgl. Bernhard Montfaucon, Paleographia graeca, Paris 1708); genannt seien: Chrysostomus-Ausgabe, 13 Bde., Paris 1718-1758, die Augustinus-Ausgabe von T h o m a s Blampin und Pierre Coustant, 1679-1700; Jean Mabillon brachte eine Ausgabe der Schriften von Bernhard von Clairvaux 1667 heraus; vgl. auch die Väteredition des Jesuiten Dionysius Petavius und die Ausgabe des Brevarium historicum des Nikephoros I., Paris 1616, sowie für Italien die Publikation italienischer Geschichtsquellen des Mittelalters durch Ludovico Antonio Muratori (1676-1750). 5. Ordensgeschichte: f ü r die Franziskaner: Lukas Wadding, Annales, 8 Bde., Lyon 1625-1654; Scriptores, Rom 1650; für die Benediktiner: Jean Mabillon, Acta, 9 Bde., Paris 1668-1701; Annales, Paris 1703 ff; für die Dominikaner: Jacques Quetif und Jacques Echard, Scriptores, 2 Bde., Paris 1719-1721. 6. Kirchliche Hierarchie: Alfonso Ciaconius, Vitae et res gestae Pontificum Romanorum et S.R.E. Cardinalium, 1601/02, mit späteren Neuauflagen und Erweiterungen; Ferdinando Ughelli, Italia sacra, 9 Bde., Rom 1644-1662, Fortsetzungen und Korrekturen im 18. und 19. Jh.; Edmon Martene-Durand, Gallia Christiana nova, 13 Bde., Paris 1715-1785; Enrique Flörez, Espana Sagrada, Madrid 1754ff (bis 1879 51 Bde.); Farlatti/Coleti, Illyricum sacrum, Venedig 1751-1819.
1.3.4. Der Geschichtsunterricht an den deutschen Universitäten. Der Beginn historischer Vorlesungen an den -»Universitäten ist unmittelbar mit den humanistisch inspirierten Reformen verbunden. In der Pflege antiker Literatur nahmen neben moralphilosophischen historiographische Schriften eine zentrale Stelle ein. In der Mitte des 16. Jh. kommt ein neuer Vorlesungstyp hinzu: die von -»Melanchthon und seinen Schülern konzipierte Universalgeschichte (Bearbeitung des Chronicon Carionis). Erfolgreicher als Unterrichtsbuch für Universalgeschichte war die erheblich knapper gefaßte Darstellung von Johannes -»Sleidanus: De quattuor summis imperiis libri tres, in gratiam iuventus confecti, Straßburg 1556. Die Ausbildung eines selbständigen kirchengeschichtlichen Unterrichts fällt erst in die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Allerdings bleibt gegenüber der enormen Akkumulation historischen Wissens aus juristischen und höfischen Interessen die Erweiterung kirchengeschichtlicher Kenntnisse eher bescheiden. An der für späthumanistische Tradition offenen Universität -»Helmstedt beginnt man zwar sehr rasch, einen eigenen Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der theologischen Fakultät einzurichten, andere Beispiele bleiben jedoch ohne dauernden Erfolg. Innovierend wirkt das Interesse an kirchenrechtlichen Themen (Bekenntnisschriftcn, vorab die Confessio Augustana, Reformationsgeschichte, deutsche Geschichte qua ius ecclesiasticum publicum Germaniae, Antiquitates und Konzilsgeschichte). Die universalgeschichtliche Orientierung, wiewohl beibehalten, tritt in den Hintergrund; die Proportionen verschieben sich zugunsten der Kirchengeschichte im engeren, heutigen Sinne. Neue Kompendien wie das Gothanum (von Veit Ludwig von Seckendorf und Boeder in fürstlichem Auftrag verfaßt, Gotha 1666, neu hg. v. E.S. Cyprian, Gotha 1723, umfaßt noch die ganze Heilsgeschichte als „Kirchengeschichte" - das Alte Testament nimmt ein Drittel des Umfangs ein - , trotz Anfängen einer Periodisierung bleibt es zenturial konzipiert) und das Kompendium von Adam Rechenberg (Summarium historiae ecclesiasticae, Leipzig 1697, neu hg. v. Joachim Samuel Weichmann, 1748, beschränkt auf Kirchengeschichte im engeren Sinne, Einteilung in fünf Perioden) lösen mehr und mehr die Standardwerke des 16. Jh. ab. In dem Kompendium von Cellarius begegnet zum ersten Mal die Epocheneinteilung Altertum, Mittelalter, Neuzeit (Jena 1704). Vorlesungen über einzelne Epochenabschnitte (neutestamentliche Zeitgeschichte, Alte Kirche, Reformationsgeschichte), Spezialvorlesungen (Häresiologie, Martyrologie) und zeitgeschichtliche The-
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men (17. Jh., Pietismus u.a.) werden häufiger. Die gegnerischen Positionen (Baronius, Maimbourg, Arnold) werden zum Leitfaden von Gegendarstellungen benutzt. Eine Differenzierung von Darstellung und Quelle beginnt sich durchzusetzen, Quellenzitate werden ausgewiesen, auch wenn für die Dignität der Quelle die Kongruenz mit der Rechtgläubigkeit letztlich allein ausschlaggebend bleibt. Zunehmend wird aus eigenen „Heften" vorgetragen und damit eine Produktion von Lehrbüchern und Kompendien eingeleitet, die bis heute fortdauert. 1.3.5. Neue Gesamtdarstellungen in der katholischen Geschichtsschreibung. Umfangreiche kirchengeschichtliche Darstellungen des späten 17. und frühen 18. Jh. verdanken sich dem Gegensatz zwischen —•Gallikanismus und römischem Zentralismus bzw. zwischen -»Jansenismus und römischer Orthodoxie und den entsprechend sich in Frankreich bildenden Konstellationen. Der Dominikaner Alexander Natalis (Noël) konzipiert seine Kirchengeschichte noch traditionell als Heilsgeschichte: Selecta historiae ecclesiae capita, 23 Bde., Paris 1676-1686,2. Aufl. 26 Bde., 1688/89; Historia ecclesiastica veteris novique Testamenti, 8 Bde., Paris 1699, erreicht in der Folge 13 Auflagen. Wegen ihrer quellenkritischen Leistung geschätzt ist die Geschichte der Alten Kirche (bis 513) des Jansenisten Louis Sebastian Le Nain de Tillemont: Mémoires pour servir à l'histoire ecclésiastique des six premiers siècles, justifiés par les citations des auteurs originaux, avec une chronologie, où l'on fait un abrégé de l'histoire ecclésiastique et profane et des notes pour éclaircir des difficultés des faits et de la chronologie, 16 Bde., Paris 1693-1712. Eine gesamteuropäische Wirkung hatte die Kirchengeschichte von Claude Fleury (1640-1723). Sie ist von Mabillon und Tillemont beeinflußt, also durch Quellennähe ausgezeichnet, in einem gefälligen Stil abgefaßt, allerdings wegen ihrer gallikanischen Tendenz angegriffen worden: Histoire ecclésiastique (bis 1414), 20 Bde., Paris 1691-1720, fortgesetzt bis 1595 von J.-C. Fahre, 16 Bde., Paris 1726-1737, bis 1765 fortgesetzt von La Croix, Paris 1776-1778, lat. Augsburg 1768-1798, dt. Leipzig 1752-1776. Eine Gegendarstellung versuchte Giuseppe Agostino Orsi OP mit seiner ¡storia ecclesiastica (die ersten sechs Jahrhunderte), 20 Bde., Rom 1747-1762, mehrfach fortgesetzt erreichte sie, Rom 1838, 50 Bde. 1.3.6. Innovationen im 18. Jh. in Deutschland. Der Fortschritt der Kirchengeschichtsschreibung im protestantischen Deutschland des 18. Jh. ist gekennzeichnet durch: 1. Übernahme der pragmatischen Methode, die nach innerweltlichem Ursache-Wirkungszusammenhang fragt, aus der politischen Geschichtsschreibung; 2. Übernahme des naturwissenschaftlichen Weltbildes, Verabschiedung der Heilsgeschichte und damit endgültige Ausscheidung der Weltgeschichte aus der Kirchengeschichte; 3. Übernahme kirchenrechtlicher Vorstellungen: Kirche als societas-, 4. Übernahme des Gliederungsprinzips der Profangeschichte; 5. quellenbezogene Forschungen (vgl. bereits -»Seckendorfs Gegendarstellung zu Maimbourgs Kritik an der zersetzenden Wirkung des Protestantismus: Commentarius historicus, 1688-1692). Der erste Vertreter der Kirchengeschichtsschreibung im modernen Sinne war Johann Lorenz von -»Mosheim, Professor in -»Helmstedt und -»Göttingen, führend beteiligt beim Aufbau dieser „modernen" Universität (Institutionum historiae ecclesiasticae antiquae et recentionis libri quattuor, Jena 1727, Helmstedt 3 1755, in deutscher Übersetzung nach seinem Tod mehrfach fortgeführt, Übersetzungen ins Englische, Französische und Holländische). Gleichwohl verblieb Mosheim noch beim zenturialen Gliederungsprinzip. Sein Schüler Johann Matthias Schröckh läßt in seiner materialreichen, 35 Bände umfassenden Christlichen Kirchengeschichte (Leipzig 1768-1803, Bände 1 - 1 2 , 2 1772-1795) die zenturiale Einteilung zugunsten der Epochengliederung fallen (vgl. auch seine Kirchengeschichte seit der Reformation, 10 Bde., Leipzig 1804-1812, Bd. 9 - 1 0 von Tzschirner; außerdem seine Kurzfassung für den Unterricht: Breviarium Historiae Religionis & Ecclesiae Christianae, 1772; Bearbeitung seines Studienbuches für Katholiken: Historia religionis et ecclesiae christianae. In usu praelectionum catholicorum reformata et aucta, Augsburg 1788). Methodische Anregungen von Mosheim und Semler nimmt Gottlieb Jacob Planck, Professor in Göttingen, auf (Geschichte der Entstehung und Ausbildung der christlich-kirchlichen Gesellschaftsverfassung, 6 Bde., Hannover 1805ff).
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Konservative lutherische Theologen leisten, sofern sie historisch interessiert sind, durch ihre Sammeltätigkeit für die neuere Kirchengeschichte große Dienste: Johann Georg Walch mit seinen je fünfbändigen Sammlungen der Religionsstreitigkeiten innerhalb der lutherischen (1730-39) und außerhalb der lutherischen Kirche (1733-36), mit seiner Lutherausgabe, 24 Bde., Halle 1740-1753, und seiner bibliographischen Sammlung: Bibliotheca theologica selecta, 4 Bde., Jena 1757-1765. 1.4. Neuzeit und Zeitgeschichte (ab 1789) Die moderne Kirchengeschichtsschreibung ist charakterisiert durch drei Momente: 1. durch die Durchsetzung der historisch-kritischen Methode und die Übernahme der pragmatischen Methode aus der politischen Geschichtsschreibung sowie die Unterstellung des naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsbegriffs (s.o.); 2. durch die Vertretung einer autonomen Disziplin Kirchengeschichte an den theologischen Fakultäten; 3. durch den jeweiligen Forschungsstand. Der jeweilige Forschungsstand wiederum ist abhängig: a) vom zugänglichen Quellenmaterial, insbesondere vom Stand der Quelleneditionen (große Editionsreihen, kritische Werkausgaben, Korrespondenzen etc., die meist von Akademien oder Forschungsinstituten herausgegeben werden); b) von den zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln (bibliographische, quellenkundlich-bibliographische, historisch-statistische, enzyklopädische und andere hilfswissenschaftliche Nachschlagewerke); c) von Aufsätzen in wissenschaftlichen Zeitschriften und Monographien in wissenschaftlichen Reihen, in denen auch Auswertungen von Archivmaterial vorgelegt werden. Im Ausgang des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jh. waren die methodischen und institutionellen Voraussetzungen für eine moderne kirchliche Geschichtsschreibung zwar gegeben, konnten aber wegen fehlender Quelleneditionen und Hilfsmittel nicht genutzt werden. So kommt es zunächst zu einer Hochkonjunktur umfangreicher Darstellungen (evangelisch: Ernst Ludwig Theodor Henke, 9 Bde., Braunschweig 1788-1823; Johann Karl Ludwig Gieseler, 5 Bde., 1824-1857; Ferdinand Christian -»Baur, 5 Bde., 1853-1863; Karl Rudolf Hagenbach, 7 Bde., 1869-1872; Wilhelm Möller/Gustav Kawerau, 3 Bde., 1889-1907; katholisch: Carl Josef -»Hefele, Conciliengeschichte, 7 Bde., 1855-1874) und kompendienartiger, Kurzfassungen für das Studium (Johann Karl Ludwig Gieseler, 1824; Karl August Hase, Leipzig 1833 71855; Johann Heinrich Kurtz, Mitau 1849 14 1906, sein Abriß 1852 I6 1906). Mit Ausnahme des von -»Bretschneider initiierten Corpus reformatorum (1834) blieben andere Editionen im Anfangsstadium stecken. Wegen der fehlenden Möglichkeit einer Überprüfung an den Quellen war die Anfälligkeit für theologisch-konfessionelle (Bruno Lindner, 3 Bde., Leipzig 1847—1854; Heinrich Ernst Ferdinand Guericke, 2 Bde., Halle 1833, 8. Aufl. in 3 Bänden, Halle 1855) oder philosophisch-weltanschauliche Einfärbung groß (vgl. die Häupter der beiden Tübinger Schulen: Ferdinand Christian -»Baur und Johann Adam -»Möhler, noch stärker ausgeprägt bei Philipp Konrad —»Marheineke, Universalkirchenhistorie, 1806). Die romantische Reaktion (Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Geschichte der Religion Jesu Christi, 15 Bde., Hamburg 1806-1818), die Erweckungsbewegung (Johann August Wilhelm -»Neander, Allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche, 6 Bde., Hamburg 1825-1862) und der -»Ultramontanismus waren der Selbsteinschätzung des Historikers als eines an historisch-kritische Verfahrensweisen gebundenen Wissenschaftlers eher ungünstig. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. mit dem Erscheinen der großen Editions-Reihen: Monumenta Germaniae Histórica (gegründet 1819), Collection des Documents inédits sur l'histoire de France (seit 1835), Colección de documentos inédidos (seit 1842), Calender of State Papers (seit 1856), der wissenschaftlichen Zeitschriften: Historische Zeitschrift (seit 1859), der Monographiereihen und besserer Hilfsmittel: Wattenbachs Quellenkunde zum Mittelalter (seit 1858) ändert sich das Bild; für die Kirchengeschichte im engeren Sinne werden durch J. R Migne die großen Editionsleistungen des 16. und 17. Jh. besser zugänglich: Patrologiae cursus completus (seit 1857); vgl. auch A. Tomasettis
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Neudruck des Bullarium Romanum von Concqueline (1739-1744), Turin 1857-1872. Für die kirchengeschichtlichen Forschungen im Bereich der Alten Kirche, deren Editionsreihen, Hilfsmittel, Zeitschriften und Publikationsreihen sei auf das Stichwort ->Patristik verwiesen (vgl. auch -»Harnack). Erwähnt sei hier nur die vierbändige Darstellung der Alten Kirche von Hans -»Lietzmann, 1932-1944, '1975, und vor allen Dingen sei erinnert an Louis M . O . Duchesne (seit 1895 Direktor der Ecole Française de Rome) mit seiner dreibändigen Histoire ancienne de l'Eglise, Paris 1906-1910 (1912 indiziert, IV hg. v. Quentin, Paris 1925). Das Mittelalter ist auch bei ausgesprochen kirchengeschichtlichen Themen fast ausschließlich Gegenstand profangeschichtlicher Forschung, die an allen Universitäten mit eigenen Lehrstühlen vertreten ist. Kirchengeschichte wird, wenn überhaupt, aus nationalem Blickwinkel betrieben (vgl. das umfangreiche, materialgesättigte Standardwerk von Albert —»Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, 5 Bde., Leipzig 1887—1920). Wichtig für die historische Arbeit werden Forschungsinstitute wie die Monumenta Germaniae Histórica mit auch für die Kirchengeschichtsschreibung wichtigen Reihen oder das Deutsche Historische Institut in Rom, gegründet 1888 nach Öffnung des Vatikanischen Archivs 1884. Das damit zugänglich gewordene Quellenmaterial kommt auch der Kirchengeschichte der frühen Neuzeit zugute (vgl. die vom Deutschen Historischen Institut, vom österreichischen Institut und von der Görres-Gesellschaft herausgegebenen Reihen der Nuntiaturberichte aus Deutschland [seit 1892] sowie das gleichfalls von der GörresGesellschaft seit 1901 herausgegebene Conciliutn Tridentinum). Allerdings ist auch hier die Profangeschichte führend. In der Reformationsgeschichte im engeren Sinn haben sowohl die protestantische wie auch die katholische Geschichtsschreibung wichtige Institutionen, Forschungsstellen, Kommissionen und Vereine gebildet, die neue Editionen, Zeitschriften und Publikationsreihen betreuen: evangelisch: Weimarer Ausgabe 1883 ff, Weimarer Ausgabe Briefwechsel 1930ff (—»Lutherausgaben), Corpus Schwenckfeldianorum 1907ff, Quellen zur Geschichte der Täufer 1930ff, die Werke Bucers 1954ff, die Werke Andreas Osianders 1975ff und die Ergänzung des Corpus Reformatorum; katholisch: Concilium Tridentinum 1901 ff, Corpus catholicorum 1919ff, Acta reformationis catholicae ecclesiam Germaniae concernentia saeculi XVI 1959 ff; Reihen: evangelische: Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 1911 ff, Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 1883 ff; katholische: Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 1905 ff, Katholisches Leben und Kämpfen 1927 ff; Zeitschriften: Archiv für Reformationsgeschichte 1903 ff, LutherJahrbuch 1919ff. Als besonders profilierte Vertreter der Kirchengeschichte der Reformationszeit im deutschsprachigen Raum seien genannt: Heinrich Bornkamm (1905-77) und Hubert -»Jedin (1900-1980). Protestantische Gesamtdarstellungen der Reformationszeit liegen nicht vor. Katholischerseits ist zu verweisen auf die romzentrierte Darstellung Ludwig Pastors, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, 16 Bde., 1886-1933 (bis zu 12 Auflagen, in mehrere Sprachen übersetzt) und konzilszentriert auf Hubert Jedins Geschichte des Konzils von Trient, 4 Bde., 1949-1975. In der Neuzeit haben sich in der protestantischen Geschichtsschreibung in den letzten Jahrzehnten zwei Schwerpunkte gebildet: Pietismus (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 1977ff, Jahrbücher zur Geschichte des Pietismus 1974ff) und kirchliche Zeitgeschichte, insbesondere Geschichte des Kirchenkampfes (Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes, 30 Bde., 1958-1984, Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes-Ergänzungsreihe 1964ff; Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte 1975ff; Kirchliche Zeitgeschichte 1988ff; umfassendere Darstellungen: Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, 3 Bde., Göttingen 2 1984, und Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reiche, 2 Bde., Berlin 1977/1986). Z u der epochengebundenen Spezialisierung tritt eine thematische und eine regionale Differenzierung. Für die thematischen Sondergeschichten sei auf die entsprechenden Stichworte verwiesen: auf —»Byzanz für die Byzantinistik, auf die -»Konfessionskunde
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(-»Konfession/Konfessionalität), auf die Rechtsgeschichte (-» Kirchenrecht, -»Kirchenverfassung, -»Kirchenregiment), auf die Missionsgeschichte (-»Mission, Missionswissenschaft), auf die -»Sozialgeschichte des Christentums, auf die Liturgiegeschichte (-»Liturgie), auf die —»Hagiographie und auf -»Ökumene für Geschichtsschreibung aus ökumenischer Sicht. Auch die christliche Archäologie hat sich zu einer eigenen historischen Disziplin ausgebildet. Während im 16. und 17. Jh. nur vereinzelt von nicht-schriftlichen Überresten her argumentiert wurde, ist die christliche Archäologie vor allem durch Gianbattista Rossi (gest. 1894) zu einer Wissenschaft mit eigenen Methoden und Publikationsorganen (Bolletino, seit 1924 Rivista di archeologia cristiana 1863 ff) geworden. Die einseitige römische Orientierung an Katakombenmalerei (-»Kunst und Religion), Sarkophagen, Inschriften (-»Ikonographie) und Mosaiken (vgl. Joseph Wilpert [Hg.], Die Malereien der Katakomben Roms, 2 Bde., 1903; ders., Die röm. Mosaiken und Malereien der kirchl. Bauten vom IV. bis XIII. Jh., 4 Bde., 1916 21924; ders., I sareofagi cristiani antichi, 5 Bde., 1929-1936), verstärkt noch durch die Gründung des Päpstlichen Instituts für christliche Archäologie (J.P. Kirsch, gest. 1941), wird erweitert durch Ausgrabungen und Forschungen im christlichen Orient (Josef Stryzgowski, 1862-1941, Carl Maria Kaufmann, 1872-1951), vor allem aber durch eine stärkere Berücksichtigung des antiken Kontextes (vgl. Franz Joseph Dölger, Antike und Christentum, 1924ff, und Theodor -»Klauser als Herausgeber des Reallexikon für Antike und Christentum 1950ff). Der Trend zur Differenzierung und Spezialisierung läßt sich auch bei den theologischen Zeitschriften beobachten. Für kirchengeschichtliche Forschungsbeiträge stehen eigene Organe zur Verfügung: Zeitschrift für Kirchengeschichte 1876ff, Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 1887 ff, Historisches Jahrbuch 1880ff, Revue d'histoire ecclésiastique 1900ff, Journal of Ecclesiastical History 1950 ff; in den einzelnen Ländern: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 1907ff, Zwingliana 1897ff, Revue de l'histoire de l'église de France 1910ff, Catholic historical review 1915ff, Nederlands archief voor kerkgeschiedenis 1900ff u.a. Hinzu kommen Beiträge in regionalen Zeitschriften und Reihen, die sich protestantischerseits an die einzelnen Landeskirchen, katholischerseits an die Diözesen anschließen: evangelisch: Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte und Altertumskunde 1854ff und Beiträge zur thüringischen Kirchengeschichte 1929 ff, Beiträge zur sächsischen Kirchengeschichte 1882ff, Jahrbuch des Vereins für schlesische Kirchengeschichte 1882ff, Beiträge zur bayerischen Kirchengeschichte 1895 ff und Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 1926 ff, Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 1896 ff, Jahrbuch des Vereins für die evangelische Kirchengeschichte Westfalens 1899 ff, Monatshefte für rheinische Kirchengeschichte 1907 ff. Auch die großen Orden schufen Zeitschriften für die Pflege ihrer Geschichte: Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner- und Cistercienser-Orden 1880ff, Revue Mabillon 1905ff, Archivum Franciscanum historicum 1908ff, Archivo ibero-americano 1914ff. Synthetisierend lassen sich vom einzelnen Kirchenhistoriker diese Forschungsergebnisse nicht mehr für die gesamte Kirchengeschichte zusammenfassen. Die umfangreichen Gesamtdarstellungen des 19. Jh. lassen sich im 20. Jh. nicht wiederholen. Um eine Zusammenfassung des jeweiligen Forschungsstandes bemühen sich umfangreiche Enzyklopädien (Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 1854-1868, 2 1877-1888, 3 1896—1913; Theologische Realenzyklopädie 1976 ff; Dictionnaire de théologie catholique 1902-1950; Dictionnaire d'archéologie chrétienne et de liturgie 1903 ff; Dictionnaire d'histoire et de géographie ecclésiastiques 1912ff, Dictionnaire de spiritualité, ascétique et mystique 1932ff) und Handlexika (Wetzer und Weite's Kirchenlexikon 2 1882—1901; Kirchliches Handlexikon 1907-1912; Lexikon für Theologie und Kirche 1930-1938, 2 1957-1965; Die Religion in Geschichte und Gegenwart 1909-1913, 2 1927-1932, 3 1957-1962, Registerband 1965). Gesamtdarstellungen werden nur noch als Handbücher mit verschiedenen Autoren oder als Kompendien realisiert.
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(Die bibliographischen Angaben zu den einzelnen Abschnitten des Artikels: -»Geschichte/ Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie in Bd. 12 [1984], 607 f.626-630.641 - 6 4 3 . 6 5 6 - 6 5 8 werden im allgemeinen hier nicht wiederholt.) Kirchengeschichtsschreibung allgemein: Ferdinand Christian Baur, Die Epochen der christl. Kirchengeschichtsschreibung, Tübingen 1852, Neudr. Stuttgart - Bad Cannstatt 1963. - Karel Bloclot, Bibliographical introduction to Church history, Löwen 1982. - Nathanael Bonwetsch, Art. KG: R E 3 10 (1901) 376-383. - Paolo Brezzi, La storiografia ecclesiastica, Neapel 1959. - Torben Christensen/Jacob H . Grenbaek u.a., Kirkehistorisk Bibliografi, Kopenhagen 1979. - August Franzen, Art. KG: Sacramentum Mundi II (1968) 1170-1204. - Karl Rudolf Hagenbach, Art. KG: R E 7 (1857) 6 2 2 - 6 3 4 . - Albert Hauck, KG: RE 2 7 (1880) 7 3 2 - 7 4 0 . - Karl Heussi, Altertum, M A u. Neuzeit in der KG, Tübingen 1921, Nachdr. 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550
Kirchengeschichtsschreibung
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2. Tendenzen in der neueren
Kirchengeschichtsschreibung
2.1. Innovationsschübe. Auf die Frage, welche Motive zu historiographischen Aktivitäten in der Geschichte der Kirche geführt haben, ist kaum eine Antwort zu finden, die hinreichend allgemein wäre und zugleich alle besonderen historischen Konstellationen erfaßte. Voraussetzung ist in jedem Falle eine weitreichende ekklesiologische „Akulturation", d.h. die Artikulationen kirchlicher Inhalte in den Formen der sie umgebenden Kultur, kurz, eine Vergeschichtlichung der Kirche. So kann die mundane, geschichtliche Welt interessant und relevant werden für kirchliche Legitimationsfiguren, also apologetische Argumentationen, die sich auf eine „ehrwürdige", „wahre" Tradition berufen. Im äußersten Falle wird dabei die Geschichte sakralisiert und Offenbarungsträger göttlichen Handelns. Eine solche Sakralisierung der Geschichte hat sich mit der Hellenisierung der Kirche vollzogen, im Mittelalter ihren Höhepunkt erfahren und ist erst im 18. Jh. mit der „Vergeschichtlichung der Geschichte" in eine bis heute fortdauernde Krise geraten. Stark dualistisch strukturierte Strömungen dagegen, die sich aus einer Negation der Welt und ihrer kulturellen Standards speisen, seien sie im einzelnen mehr gnostisch, spiritualistisch, eschatologisch, mystisch oder individualistisch angelegt, entwickeln allenfalls ein starkes Geschichtsbewußtsein, bewirken aber kaum besondere historiographische Aktivitäten (Ausnahme: Gottfried -»Arnold). Jüngstes Beispiel für den starken ahistorischen Effekt kirchlich-theologischer Kulturkritik war das Programm der -»Dialektischen Theologie: Der Kirchengeschichte wurde der Status einer theologischen Hilfswissenschaft zugewiesen. Da aber die Kirchengeschichte längst eine etablierte universitäre Disziplin geworden war, blieb diese Tendenz ohne jeden nachhaltigen Effekt. Überall aber, wo Kirche und Kultur eine Symbiose eingegangen sind, konnte traditionsgeschichtlich argumentiert werden (Sukzessionsgedanke, apologetische Argumentation gegen jüdische und antike Traditionen etc.). Auch innerhalb der Kirche konnten sich verschiedene Richtungen um das wahre geschichtliche Erbe streiten. Virulent wird dieser Streit insbesondere in Zeiten breiter kirchenreformatorischer Strömungen, historiographisch fruchtbar allerdings nur dann, wenn die kulturellen Rahmenbedingungen günstig sind, wie etwa beim Zusammentreffen von humanistischer Bildung und protestantischer Kirchenkritik im 16. Jh. oder bei der Konjunktur aus naturwissenschaftlichem Denken, philosophischer Kritik, Begegnung mit fremden Kulturen, juristisch-politischer Theoriebildung, quellenkundlicher Methodik und Rationalismus im 18. Jh. 2.2. Die Entstehung der Dogmengeschichtsschreibung. Das 18. Jh. wird in der modernen sozialgeschichtlichen Forschung als eine Art „Achsenzeit" gesehen. Pate hat dabei Kosellecks Begriff von der „Historisierung der Geschichte" gestanden. Die Auffassung der Geschichte als eines Kontinuums rekurrenter Erfahrungen, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem temporal geschlossenen Erfahrungsraum verbindet, wird abgelöst durch die Vorstellung eines geschichtlichen Entwicklungsprozesses. Die Vergangenheit, ihre Erfahrungen und Normen, ist für die Gegenwart nur kommensurabel, wenn sie als eine qualitativ andere, frühere Stufe des Denkens, etwa als mythisch geprägtes Kindheitsalter der Menschheit interpretiert wird (vgl. z. B. Lessings geschichtsphilosophische Programmschrift Die Erziehung des Menschengeschlechts, 1780). Einer unmittelbaren Lektüre ist der Wahrheitsgehalt der Tradition nun nicht mehr zugänglich. Nur eine
Kirchengeschichtsschreibung
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entmythologisierend verfahrende historische Kritik, die zeitbedingte Ausgestaltung von wahrer Intention zu scheiden weiß, kann die Tradition für die Gegenwart als akzeptabel erhalten. Die historische Kritik des 18. Jh. traf die kirchliche Tradition um so härter, weil sich in den Jahrhunderten zuvor eine geschichtliche Entwicklung neutralisierender -»Fundamentalismus durchgesetzt hatte. In den protestantischen Kirchen war es der durch die Inspirationslehre abgesicherte biblische Fundamentalismus der Orthodoxie, in der römischen Kirche der durch kanonistische Argumentation abgesicherte Traditionsfundamentalismus der Gegenreformation. Als sich die protestantische Theologie der historischen Kritik öffnete, historisierte sie die ehemals übergeschichtlichen Glaubenswahrheiten der Tradition. Die Entstehung der biblischen Schriften, des Kanons, der Dogmen, der protestantischen Bekenntnisschriften wurde Gegenstand historischer Untersuchung und Darstellung. Eine neue theologische Disziplin, die -»Dogmengeschichtsschreibung bildete sich aus und wurde legitimer Bestandteil der Kirchengeschichte. Allerdings ist es der Theologie bis heute nicht gelungen, die Einsicht in die historische Genese von dogmatischen Formulierungen und den überzeitlichen Geltungsanspruch von Glaubensnormen in ein befriedigendes Verhältnis zu setzen. So muß auch noch weiterhin mit enthistorisierend wirkenden, fundamentalistisch orientierten Rearchisierungen gerechnet werden, die besonders in Krisenzeiten oder Zeiten, die als solche empfunden werden, ihre Chancen haben. 2.3. Kirchengeschichte als Wissenschaft. Es ist üblich geworden, Johann Lorenz -•Mosheim als Vater der modernen Kirchengeschichtsschreibung anzusehen. Er übernahm die sogenannte pragmatische Methode der politischen Geschichtsschreibung in die Kirchengeschichte und legte das Societas-Modell des zeitgenössischen Kirchenrechts (Kollegialsystem) seiner Darstellung zugrunde. Trotz seines konservativen zenturialen Einteilungsschemas war mit Mosheim der Anschluß an die historiographischen Standards seiner Zeit vollzogen. Die Aufnahme und Verarbeitung der aufklärerischen Kritik durch die Neologen machte den Geist der zeitgenössischen Wissenschaft auch in der Theologie heimisch. Kirchengeschichte war im Verlauf des 18. Jh. als eigene theologische Disziplin mehr und mehr üblich geworden; auch wo kein eigener Lehrstuhl eingerichtet wurde, bearbeiteten renommierte Theologen kirchengeschichtliche Themen. Seit bei der Neukonzeption der Universitäten im Zuge der preußischen Reformen dank der Reputation -»Schleiermachers die -»Theologie in den Kanon der Wissenschaften Eingang fand, kann auch die Kirchengeschichte und mit ihr die Kirchengeschichtsschreibung, zumindest was die institutionellen Rahmenbedingungen angeht, den Status der Zweckfreiheit genießen. Die kirchengeschichtliche Forschung sucht nun mehr und mehr ihren Gesprächspartner primär in der eigenen oder in benachbarten Disziplinen des Wissenschaftssystems. Es wird geforscht und geschrieben für andere Wissenschaftler des gleichen oder eines benachbarten Fachs, als Einführung für den Studenten, selten noch für den allgemein gebildeten, religiös interessierten Menschen. Autonomie und Solipsismus gehören wie zwei Seiten einer Medaille zusammen. Mit dem Wandel von Funktion und Stellenwert der Kirchengeschichte geht auch ein Wandel des Wahrheitskriteriums, dem das geschichtliche Material unterworfen wird, einher. In der Reformationszeit und der folgenden Epoche konfessioneller Polemik dominierte der Schematismus rechtgläubig/häretisch. Humanistische Bildung und philologische Fertigkeiten haben ihren binären Schematismus echt/gefälscht, wenn sie im kirchlichen Raum auftraten, in Übereinstimmung mit den theologischen Kriterien bringen können. Im Zuge der -»Aufklärung wurde das philologische Echtheitskriterium ergänzt durch das Postulat der Übereinstimmung mit den Bedingungen der rationalen Welterfahrung und natürlich-moralischer Evidenz. Dieses Kriterium wird allmählich auch von der Theologie, die sich als eine der neueren Forschung gegenüber konkurrenzfähige Wissenschaft begreift, akzeptiert. Das traditionell konfessionelle Schema rechtgläubig/häretisch
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Kirchengeschichtsschrcibung
verblaßt demgegenüber immer mehr. Die Verwissenschaftlichung der Kirchengeschichte und der Kirchengeschichtsschreibung setzt sie nun aber dem Vorwurf aus, „praxisfern" und theologiefremd zu sein. Dieser Vorwurf wiederum fordert den Kirchenhistoriker auf, seinen Gegenstand und seine Praxis als theologisch legitim und notwendig auszuweisen. 2.4. Forschung und Spezialisierung. Die alteuropäische Universität war eine reine Lehranstalt. Die Verbindlichkeit des Wissens wurde durch Autorität, nicht durch Forschung legitimiert. Die Lehre hatte den Stoff in geordneter Weise zu vermitteln. Zu diesem Zweck konnte sie sich eigens angefertigter Kompendien und tabellarischer Zusammenstellungen bedienen. Mit der Auflösung eines einheitlichen Autoritätsgefüges in der Neuzeit bekam die Forschung die Chance, ihr Wahrheitskriterium durchzusetzen. Die dazu erforderlichen methodischen Verfahrensweisen wurden in der Kirchengeschichte im 17. Jh. zunächst außerhalb der Universitäten entwickelt, in der zweiten Hälfte des 18. Jh. dann von ihnen allmählich übernommen, um im 19. Jh. allgemein akzeptiert und verpflichtend zu werden. Die enorme Erweiterung zugänglichen Quellenmaterials durch neue kritische Editionen, Öffnung und Verzeichnung von Archivbeständen zwingen auch den Kirchenhistoriker zu einer immer weiter getriebenen Spezialisierung. Für die Praxis der Kirchengeschichtsschreibung hat das zur Folge, daß Gesamtdarstellungen immer mehr zurücktreten zugunsten der Darstellung epochal eingegrenzter Abschnitte. Später treten auch diese hinter monographischen Darstellungsweisen zurück, um endlich einer Forschung und Darstellung Platz zu machen, die sich fast ausschließlich mit Spezialproblemen befassen, die dann in Aufsatzform in Fachzeitschriften oder in Sammelbänden erscheinen. Wenn Synthesen versucht werden, so sind sie nur noch als Handbücher, die im Teamwork erstellt werden, möglich, oder sind als Kompendien und Vorlesungspublikationen nur Einführungs- oder Uberblickshilfen. 2.5. Kirchengeschichte und Geschichtstheologie. Die historische Forschung und ihre Wahrheitskriterien haben in der zweiten Hälfte des 18. Jh. einen raschen Eingang in die Theologie gefunden. Daß dieser Prozeß verhältnismäßig problemlos ablief, war einem allerdings folgenschweren Mißverständnis zu danken: der Gleichsetzung von Glaubenswahrheit mit historischer Wahrheit. Die Kritik —»Lessings, der in dieser Gleichsetzung die entscheidende Fehlleistung der modernen Theologie seiner Zeit sah, stieß zunächst auf taube Ohren. Die vorschnelle Identifizierung von Glaubenswahrheit mit historischer Wahrheit, in die die normative Orientierung an den Naturwissenschaften Eingang gefunden hatte, brachte zwar dann eine umfangreiche, detaillierte Forschungsarbeit in Gang, die sich in beachtlichen historiographischen Leistungen niederschlug. Die historischkritische Arbeit an der biblischen Uberlieferung und die -»Patristik haben in besonderer Weise davon profitiert. Am Ende jedoch steht die Absage der Theologie an die empirische Geschichte: Bei der Detaillierung und Konkretisierung von Glaubensfragen hält man eine Wissenschaft, die letzte Gewißheit nie verbürgen kann, für inkompetent. Der Begriff .Geschichte' wird zweideutig: Heilsgeschichte und empirische Geschichte treten unvermittelbar auseinander. Ein entsprechender Trend ist in der theologischen Reflexion des 20. Jh. mit Martin -»Kähler beginnend über die -»Dialektische Theologie bis zu geschichtstheologischen Konzeptionen unserer Tage festzustellen. Bei all der reichen Verwendung der Begriffe .Geschichte' oder .geschichtlich' sind empirisch-konkrete Implikationen dieser Begriffe ausgespart oder als letztlich irrelevant immunisiert. Dieser Trend läßt sich auch terminologisch feststellen: Es wird allgemein üblich, zwischen .historisch' und geschichtlich' zu unterscheiden - eine Differenzierung, die allerdings nur im deutschen Sprachraum möglich ist. Zwei unterschiedliche Plausibilitäten bilden sich aus: Die empirischen Verfahrensweisen verpflichtete Kirchengeschichte sucht ihren Erkenntnisgewinn in innerweltlichen Verknüpfungen von Ereignissen, Bedingungen, Ursachen etc.; die der Glaubenswahrheit verpflichtete systematische Theologie sieht dagegen ihren Erkenntnisgewinn in der Verknüpfung und Verortung geschichtlicher Phänomene in einer
Kirchengeschichtsschreibung
553
übergreifenden Heilsgeschichte. Welt qua intramundane, empirische Zuständlichkeiten und eine auf Transzendenz und Erlösung hin angelegte Existenz rücken auseinander. Die geschichtstheologische Begrifflichkeit und die sie pflegenden Theologien begeben sich so nicht nur der Chance, Erkenntnisgewinne aus der empirischen Geschichte zu beziehen, sie verzichten auch auf jede Möglichkeit, ihre Terminologie entschlüsselnd, normierend, wegweisend in die empirische Wirklichkeit einzubringen. Damit hat sich im Verhältnis von Theologie und Kirchengeschichte eine Entwicklung vollzogen, die im Auseinandertreten von Geschichtephilosophie und Geschichtsforschung im 19. Jh. bereits vorgebildet war. 3. Zum theologischen
Selbstverständnis
der
Kirchengeschichte
3.1. Kirchengeschichte als Geschichte des Wortes Gottes und seiner Auslegung. Geschichtsschreiber pflegen ihren Darstellungen einleitend Überlegungen zu Aufgabe und Ziel ihrer Arbeit voranzustellen. Sie geben Rechenschaft über das ,Wesen' ihres Gegenstandes oder stellen in programmatischer Weise die Eigenart ihres Objekts heraus. Andere Gelegenheiten programmatischer Äußerungen zu Grundsatzfragen sind akademische Antrittsvorlesungen, seit dem 19. Jh. auch Lexika-Artikel und in unserer Zeit Symposien und Kongresse. Ein paar programmatische Äußerungen prominenter deutschsprachiger Kirchenhistoriker der letzten Jahrzehnte seien herausgegriffen: „Kirchengeschichte ist die Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift" (Ebeling 22), „Kirchengeschichte ist die Geschichte des Evangeliums und seiner Wirkung in der Welt" (CH. Bornkamm, Grundriß zum Studium der KG, Gütersloh 1949, 17), „Kirchengeschichte [ist] als Geschichte der Verkündigung und der Gestaltwerdung der Verkündigung zu begreifen" (M. Schmidt: R G G 3 3,1422), oder - um einen prominenten katholischen Kirchenhistoriker zu zitieren: „Der Gegenstand der Kirchengeschichtc ist das Wachstum der von Christus gestifteten Kirche in Zeit und R a u m " (Jedin: HKG[J] 1,2). Diese Definitionen entstammen sämtlich zwar der Feder von Historikern, doch handelt es sich dabei selbst wiederum nicht um historische Erkenntnisse, sondern um systematische, apriorische Wesensaussagen. Weder sind solche Bestimmungen die Quintessenz von Quellenanalysen, noch lassen sie sich aus einer Reflexion der historischen Genese des Fachs herleiten. Freilich ist von anderen Kirchenhistorikern gegen eine solche apriorische Engführung Einspruch erhoben worden: „Aber wenn Ebeling in der Auslegung der Heiligen Schrift das eigentliche Bewegungsgesetz der Kirchengeschichte sieht, verlieren die(se) außertheologischen, geschichtlichen Faktoren ihre tatsächliche Bedeutung. Damit verfehlt man aber m. E. das Spezifische und Besondere der Kirchengeschichte und zugleich ihren theologisch notwendigen Beitrag für die gegenwärtige kirchliche Situation. Es geht gerade um die Erkenntnis der notwendigen und bestimmenden Strukturen des geschichtlichen Seins der Gemeinde Christi und ihr Verhältnis zu den gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kräften der Zeit" (Friedrich de Boor 412). De Boor unterstützt seine Kritik mit einem Verweis auf die auslegungsgeschichtliche Untersuchung Werner Affeidts. Dessen „Gesamturteil über die mittelalterlichen Kommentare zu R o m 13,1—7" lautet, „ d a ß die Kommentare einen entscheidenden Beitrag zur mittelalterlichen Staatsauffassung nicht geleistet haben, wenn man von der Patristik a b s i e h t . . . , daß die mittelalterlichen Exegeten sich nicht dazu entschließen konnten, durch stärkere Auseinandersetzung mit den Ereignissen und Problemen ihrer Zeit ihre Exegese lebendiger zu machen" (Die weltliche Gewalt in der Paulus-Exegese. Rom 1 3 , 1 - 7 in den Römerbriefkommentaren der lat. Kirche bis zum Ende des 13. Jh., 1969 [FKDG 22] 252). Ebeling hat im Verlauf der Diskussion seiner Definition versucht, ähnliche Kritik durch Erweiterung des Begriffs,Auslegung' zu unterlaufen, indem er auch den Negativbefund von Auslegung noch als solche begreifen will: Er betont: „Gerade die sogenannten nicht-theologischen Faktoren der Kirchengeschichte sind dabei wichtig, um sowohl die entsprechenden nichttheologischen Faktoren in der eigenen kirchlichen und theologischen Situation als auch die notwendige gegenseitige Durchdringung des Geistlichen und Weltlichen und die darin in besonderem M a ß e akut werdende Problematik der Auslegung zu erkennen" (Diskussionsthesen f ü r eine Vorlesung zur Einf. in das Studium der Theol.: Wort und Glaube, Tübingen, I 1960 = 3 1967, 454).
554
Kirchengeschichtsschreibung
Trotz der historiographischen Unfruchtbarkeit einer apriorischen Definition des Wesens der Kirchengeschichte erfreuen sich die genannten oder ähnliche Aussagen einer verbreiteten Beliebtheit (vgl. Loewenich, K. D. Schmidt). Da die genannten Wesensbestimmungen nicht immanent, von den Bedürfnissen der historischen Forschung her, zu begreifen sind, kann man sie nur „historisch" erklären, d. h. aus Bedingungen und Veränderungen der Umwelt, in der kirchengeschichtliche Forschung betrieben wird: Die programmatischen, theologischen Qualifizierungen der Kirchengeschichte sind eine Reaktion auf die als Bedrohung empfundene historische Auflösung fundamentaler Wahrheiten des christlichen Glaubens. 3.2. Zum Begriff,Historische Theologie'. Dieser Reaktion auf eine Historisierung und Relativierung der Kirchengeschichte verdankt auch der Begriff,Historische Theologie' seine Verbreitung. Bei Albert -»-Ehrhard, der sich um die Einbürgerung dieses Begriffs im katholischen Raum verdient gemacht hat, heißt es: „Dieser Ausdruck hat den Vorzug, daß er die(se) geschichtlichen Fächer als innere Bestandteile der Theologie prägnant in Anspruch nimmt und der Auffassung, als ob Kirchengeschichte nur im uneigentlichen Sinne zur theologischen Wissenschaft gehöre, in wirksamer Weise entgegentritt" (Die hist. Theol. 119). Zum Schluß seines Aufsatzes heißt es dann: „Die(se) fördernde Funktion der gläubigen Einstellung des Erforschers der kirchlichen Vergangenheit muß mit Nachdruck betont werden; denn sie wird selbst in unseren Kreisen manchmal verkannt. Und doch dürfte eine kritische Prüfung der kirchenhistorischen Literatur vom 18. J h . an bis zur Gegenwart, soweit sie sich nicht auf Einzelfragen beschränkt, sondern entweder auf die gesamte kirchliche Vergangenheit oder auf größere Zeitabschnitte derselben sich erstreckt, zur Genüge ersehen lassen, welch seltsame Früchte die kirchenhistorische Forschungsarbeit zeitigt, wenn sie von der rationalistischen, positivistischen oder materialistischen Geschichtsauffassung beherrscht wird" (135).
Die Re-theologisierung der - vermeintlich oder tatsächlich - profanisierten Kirchengeschichte geht im allgemeinen nicht so weit, die Verpflichtung auf historisch-kritische Verfahrensweisen aufzukündigen. „Als Teilgebiet der theologischen Wissenschaft hat sie (sc. die kirchengeschichtliche Disziplin) sich über ihren Ort im Ganzen der Theologie Rechenschaft zu geben, d. h. über Grund und Folgen ihres Charakters als einer theologischen Disziplin. Als Spezialfach der Historiographie angesehen, nimmt sie Teil an der Grundlagenproblematik der Geschichtswissenschaften überhaupt und der Historik und der Geschichtsphilosophie im besonderen" (Ebeling, a . a . O . 9). Der Kritik, die theologische Eigenart binde den von der grundsätzlichen Revidierbarkeit seiner Prämissen ausgehenden Historiker auf unzumutbare Weise, wird entgegengehalten, daß jeder sein Vorverständnis habe, von dem her er eine Sache untersuche, und somit wäre - auch bei einem expliziten theologischen Vorverständnis — die Kontinuität zur profanen Geschichtsforschung nicht ernsthaft gefährdet. Gleichwohl läßt sich die Frage anschließen, ob das gegenwärtig eingespielte Arrangement von theologischer Programmatik und empirischer Pragmatik die einzig sinnvolle Antwort auf den doppelten Kompatibilitätsanspruch an die Kirchengeschichte ist. 3.3. Zur Genese des doppelten Kompatibilitätsanspruchs. Die Unterscheidung von historia sacra und historia civilis ist im 16. Jh. geläufig, ohne daß es zu irgendwelchen Kompatibilitätsschwierigkeiten gekommen wäre. Für den universitären Unterricht war die Unterscheidung allemal ohne Belang. Geschichte wurde in der Philosophischen Fakultät gelesen, wobei meist die von -»Melanchthon bearbeitete und von Peucer ergänzte Chronik Carions oder die Chronik Sleidans zugrunde gelegt wurde. Die heilsgeschichtliche Rahmenvorgabe der biblischen Chronologie war unbestritten. Als dann unter dem Verarbeitungsdruck der neuen Entdeckungen die biblische Chronologie im Laufe des 17. Jh. ins Wanken geriet und zu Beginn des 18. Jh. schließlich ganz aufgegeben wurde, hatte Kirchengeschichte sich bereits als eigenes Fach aus den heilsgeschichtlichen Rahmenbedingungen gelöst. Zunächst als Kirchengeschichte des alten und neuen Bundes konzipiert, hatte sich auch in den Kompendien zu Beginn des 18. Jh. der uns heute noch geläufige, engere Begriff der Kirchengeschichte durchgesetzt. Mit dieser Spezialisierung
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des Fachs einher ging der Verzicht, Kirchengeschichte als universale Heilsgeschichte zu thematisieren. Die Kirchengeschichte konnte wie jede andere Geschichte mit der „pragmatischen M e t h o d e " untersucht und dargestellt werden. Durch den Anschluß, den die Kirchengeschichte im 18. Jh. an die modernen methodischen Verfahrensweisen gefunden hatte, war sie dann aber auch der Krise der „Historisierung der Geschichte" ausgesetzt. Die Geschichtsvorstellung der alteuropäischen Geisteswelt hatte sich in einem temporal geschlossenen Erfahrungsraum bewegt: Zwischen den Begebenheiten früherer Jahrhunderte und gegenwärtigen Erfahrungen besteht kein qualitativer Sprung. Auf dieser Kontinuität der Zeiterfahrung beruht auch die von Melanchthon unter christlichem Vorzeichen erneuerte und seitdem ständig wiederholte antike Weisheit, d a ß die Geschichte eine Lehrmeisterin für die Gestaltung gegenwärtigen Lebens sei. Von dieser Kontinuität der Zeiterfahrung zeugt z. B. auch die Selbstverständlichkeit, mit der der lebensweltlichen Zeiterfahrung entliehene Einteilungen auf den Geschichtsverlauf übertragen werden: das Schema der Tageszeiten, der Wochentage, der Jahreszeiten, der Lebensalter etc. Die Auflösung des temporal geschlossenen Geschichtsbildes, basierend auf der Kontinuität der einen Wahrheit, verlangte die Konzeption einer anderen, dynamisch, prozessual verstandenen Wahrheit, die Identität über zeitliche Erfahrensbrüche hinweg garantiert. Solche Kontinuität bildete für die Theologen des 18. Jh. der „moralisch-vernünftige Inhalt der christlichen Lehrwahrheiten". Historische Kritik ist dann nicht Medium einer relativierenden Auflösung der christlichen Offenbarungswahrheit, sondern dient vielmehr ihrer Beförderung. Historische Kritik befreit die Uberlieferung von zeitbedingten Verdunkelungen und Irrtümern und bringt so den vernünftig-moralischen Kern der christlichen Wahrheit zur Geltung. Dogmengeschichtsschreibung ist Dogmenkritik, nämlich den fortgeschrittenen gegenwärtigen Standpunkt zu entschränken, sich von Vorurteilen vergangener Epochen zu emanzipieren. Die Historisierung der Tradition kann den Effekt der Relativicrung auf die Dauer nicht vermeiden. Solange die Überzeugung von dem teleologischen Charakter einer Kontinuität stiftenden MetaInstanz vital war und entsprechend der point de vue der Gegenwart als der fortgeschrittene galt, blieb der relativierende Effekt gebunden. Entsprechend fruchtbar und legitim war das Geschäft der historischen Kritik, da ihr per se ein wahrheitsförderndes Moment inhärierte. Freilich wurde der Fortschrittsoptimismus durch die Reaktion der -»Romantik gebremst. Erhalten blieb aber das Wahrheitspathos auch ohne emanzipatorische Sicherheit; erhalten blieb auch die Uberzeugung von einer metahistorischen, alle epochalen Brüche umgreifende Kontinuität, die nun meist in dem Kollektivsingular .Geschichte' oder .Weltgeschichte' als dem umfassenden Ganzen gesehen wurde. Diese eine Geschichte zeigt sich als „Idee", als „innere Notwendigkeit", als „allgemeine Bewegung" (Ranke), als „Schicksal" (Gervinus), als „Ensemble sittlicher M ä c h t e " (Droysen), als „Weltregierung" (W. v. Humboldt) etc.
Die kirchengeschichtliche Forschung, soweit sie sich nicht ohnehin aus dem aufklärerischen Emanzipationspathos speiste, hat jene Maximen historischer Forschungspraxis übernommen. Für das weitere Schicksal der Kirchengeschichte entscheidend war die Übernahme der Theologie in den Wissenschaftskanon des Humboldtschen Universitätsmodells. Dadurch daß die Forschung eng an den Universitätsbereich gekoppelt war, war der Hochschullehrer zu eigener Forschung verpflichtet. Ohne diese, bezogen auf die Entwicklung der Historiographie, kontingente Konstellation (sc. Kirchengeschichte wird als theologische Disziplin Teil des Humboldtschen Wissenschaftskanons) gäbe es den doppelten Kompatibilitätsanspruch, auf den sich das oben wiedergegebene Ebeling-Zitat bezog, nicht. 3.4. Historismus und Theologie. Neben der Überzeugung von der einen Geschichte als der eigentlichen Wirklichkeit in der Vielzahl von Geschichten ist für das Wahrheitspathos des „klassischen" Historismus folgende Grundüberzeugung entscheidend: 1. Die Quellen sind objektiv gegeben und jedem unparteiischen, kritischen Forscher offen; 2. Es gibt einen objektiven Sinngehalt im historischen Prozeß; 3. Der objektive Sinngehalt ist
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aus einer kritischen Prüfung der Quellen herleitbar. Aufgrund dieser Grundüberzeugung war es möglich, zentrale Maximen der Geschichtsschreibung aus früheren Epochen zu retten, z.B. die Ideale der „Unparteilichkeit" und der „nackten Wahrheit". Die den Historismus prägende Überzeugung, es gäbe einen objektiven Sinngehalt, der von der Analyse der Quellen her rekonstruierbar sei, hat sich auf die Dauer nicht halten können. Die Zuversicht, durch kritische Forschung und Darstellung fortschreitend historisches Wissen akkumulieren zu können, wurde brüchig. Die die diskontinuierlichen Epochen bindende Meta-Instanz verblaßt dann bei -»Dilthey zur Metapher des Lebensstroms, ohne d a ß von dieser Metapher noch irgendeine, die Forschung strukturierende Wirkung ausgehen könnte. Historismus wird zunehmend zum Ausdruck der Erfahrung historischer Relativität. Hinzu k o m m t , d a ß die klassischen Handlungsträger historischer Geschichtsdarstellung wie: Handlungen und Ideen der interessegeleiteten großen Individuen, Staaten als kollektive Elementareinheiten, kollektive Aktionen von Klassen usw. im Zuge der Detailforschung immer mehr an Plausibilität eingebüßt haben. Schließlich hat der Erste Weltkrieg f ü r den Kulturpessimismus und dem ihm verwandten historischen Relativismus eine ähnlich katalysierende Wirkung ausgeübt wie die Französische Revolution für die Erfahrung temporaler Diskontinuität.
Theologen waren unter den Ersten, die den Historismus als historischen Relativismus kritisiert haben (Kattenbusch). Ihre Anstrengungen mußten darauf abzielen, die zentralen Inhalte der christlichen Tradition gegen eine Historisierung im Sinne einer historischen Relativierung zu schützen. Eben dieser Bemühung haben sich die Theologen unter den Historikern in einer Art Selbstzensur unterzogen. Der Begriff „Historische Theologie" ist Ausdruck dieser Bemühung. Andere Kirchenhistoriker greifen anachronistisch auf die organizistische Metaphorologie der Romantik zurück. Im deutschsprachigen protestantischen Raum haben sich, wie eingangs zitiert, kerygmatisch orientierte apriorische Wesensbestimmungen der Kirchengeschichte durchgesetzt, die jeder historischen Forschung, losgelöst von ihr, vorangestellt sind. Der Nachteil dieser theologisch motivierten Immunisierung gegen einen alles ergreifenden historischen Relativismus ist ihre historiographische Unverbindlichkeit. Gerade wegen der Unverbindlichkeit von theologischem Uberbau für die weiterhin historiographisch verfahrende wissenschaftliche Praxis stellt sich die Frage, ob eine theologisch interessierte Historiographie mit diesem Arrangement zufrieden sein kann. 3.5. Versuch einer Neubestimmung. Das Unbehagen an einer apriorischen Wesensbestimmung der Kirchengeschichte läßt sich in vier Punkten zusammenfassen: 1. Es besteht eine Diskontinuität zwischen theologischer Programmatik und dem praktischen Tun des Kirchenhistorikers; 2. Es wird global, im Singular, von der Theologie und der profanen Geschichtswissenschaft gesprochen, obwohl wir es gegenwärtig mit einer Pluralität von Theologien und geschichtstheoretischen Ansätzen zu tun haben; 3. Entsprechend ist der Kollektivsingular .Geschichte' bzw. ,Kirchengeschichte' einer Pluralität von ,Geschichte«' gewichen, für die die Geschichte (im Singular) nurmehr einen letzten Orientierungshorizont, aber keine sinnstiftende Ebene bereithält; 4. Eine Selbstreflexion auf den historischen Ort der gegebenen Wesensbestimmung findet nicht statt: An die Stelle einer methodologischen Klärung des geschichtlichen Tuns des Kirchenhistorikers tritt eine zeitneutrale ontologische Bestimmung des Gegenstandsbereichs. Im Gegensatz zur Auffassung des klassischen Historismus entspringen für uns heute die den geschichtlichen Prozeß strukturierenden Handlungsträger und die das vergangene Geschehen gliedernden Zusammenhänge mit ihrer jeweiligen Erklärungstypik nicht mehr der unmittelbaren Quellenanalyse. Das das historische Geschehen strukturierende Modell ist als eine von der Forschung zu erbringende Konstitutionsleistung erkannt. Geschichte konstituiert sich erst durch bestimmte Fragestellungen, die die Quellen allererst „zum Sprechen bringen" (Koselleck). Die ehemals natürliche Kontinuität von Quelle und Deutung ist durch die mit der Fragestellung eingebrachte Kontinuität substituiert.
Ebensowenig wie die Quellen in der Profangeschichte ihre Deutung dem unvoreingenommenen Blick nicht einfach aus sich heraussetzen, sondern erst durch die kreative
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Leistung des Historikers in der Form einer angemessenen Fragestellung „zum Sprechen gebracht werden", so kann auch der Kirchengeschichtler nicht erwarten, daß eine theologische Dimension dem Gegenstand an sich inhäriert. Demnach kann auch die theologische Dimension nur der Fragestellung, der Kreativität des Kirchenhistorikers, entspringen. Das Ganze der Historie, Geschichte als Kollektivsingular verstanden, ist kaum mehr ein Thema für Historiker. Historiker haben es mit Geschichte« zu tun. Analog hätten es Kirchengeschichtler nicht mit der Kirchengeschichte, sondern mit Geschichten, die von der Kirche handeln bzw. in ihrem Umkreis angesiedelt sind, zu tun. Das heißt u. a. auch, daß die Auswahl der Geschichten, die man für forschungsrelevant und erzählwürdig hält, abhängig ist von dem point de vue des jeweiligen Kirchenverständnisses. (Ein Blick auf die Korrespondenz von Forschungsschwerpunkt und Kirchenverständnis bestätigt ohnehin diese Abhängigkeit.) ,Kirche' im Sinne einer so verstandenen Kirchengeschichte hat nur noch den Rang eines Referenzsubjektes. Kirche als Aktionssubjekt, heilsgeschichtliche Themen größerer Reichweite oder gar „Weltgeschichte als Heilsgeschichte" mögen Themen systematischtheologischer Fragestellungen sein — wobei es natürlich dem Historiker unbenommen bleibt, nach dem historischen Ort, dem solche Theologien ihre Entstehung und Verbindlichkeit verdanken, zu fragen. Der Verzicht auf eine apriorische Wesensbestimmung der Kirchengeschichte, der Verzicht darauf, ein Aktionssubjekt Kirche als zentrierende Handlungseinheit einer sie betreffenden Geschichte anzunehmen, mag prima vista als Zumutung erscheinen; bedenken wir aber die Torsohaftigkeit unseres Wissens diesseits des Akkumulationsoptimismus vergangener Forschungsmentalität, bedenken wir — theologisch gewendet - die Erfahrung des Deus absconditus auch in der Geschichte der Kirche, so erscheint die Zumutung durchaus angemessen.
Die Frage kann also nicht lauten, ob das Wesen einer global verstandenen Kirchengeschichte theologischer Natur sei, ob sie heilsgeschichtliche Qualitäten besitzt, wenn dem Subjekt der erzählten Geschichten nur der Status eines Referenzsubjektes zukommt. Entscheidend ist, ob es uns gelingt, Fragestellungen und Modelle zu mobilisieren, die für religiöse Erfahrungen offen sind. Solche Fragestellungen sind sicher vorläufig, überholbar, gebunden an aktuelle Heils- und Unheilserfahrungen - ebenso wie die hypothetischen Interpretationsraster der Profangeschichte. Heils- und Unheilserfahrungen in unmittelbarer Weise angesichts der eigenen Geschichte sind heute, im existentiellen Sinne, nur im Rahmen einer individuellen Biographie vorstellbar. Zwar wird auch hier „Geschichte" konstituiert, keine „Heilsgeschichte", aber eine Geschichte, in der Heil und Unheil erfahren werden. Die Ebene, die die Objektivität dieser Geschichte verbürgt, ist der Dialog, nicht die Ebene wissenschaftlicher Interaktion. Die zuständige theologische Disziplin, die diese Gattung der Geschichtskonstitution reflektiert, ist nicht die Kirchengeschichte, sondern die Seelsorge.
Sind Einzelerfahrungen generalisierbar, betreffen sie rekurrente geschichtliche Erfahrungen, so fallen sie dagegen durchaus in den Bereich kirchengeschichtlicher Reflexion. Ich denke z. B. an einen Tatbestand, den Hermann Lübbe folgendermaßen beschreibt: „Wir können wissen, was wir wollen oder wollen sollten; aber wir können, jenseits ungewisser Grenzen unserer Fähigkeit des Assessements niemals wissen, was wir, indem wir tun, was wir wollen, außerdem noch bewirken" (Wieso es keine Theorie der Gesch. gibt, 1979 [Theorie der Gesch. III] 84). Es fällt der theologischen Reflexion in ihrer psychologisch-anthropologischen Engführung der Sünde schwer, die evidente lebensweltliche Erfahrung, frei zwischen Alternativen wählen, moralisch gut oder verwerflich handeln zu können, mit der Überzeugung von der Unfreiheit des Willens und der notwendigen Sündhaftigkeit unseres Tuns zusammenzudenken. Auf der Ebene unmittelbarer personaler Zurechnung des Handelns ist dieses Zugleich auch schwer plausibel zu machen. Bedenkt man aber, daß die Folgen einer Handlung durch Konstellationen bedingt sind, die derjenige, der die Entscheidung trifft, gar nicht in der Hand hat, so gewinnt der
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Widerspruch zwischen evidenter Alltagserfahrung und religiöser Überzeugung einen ganz anderen Charakter: Auch die moralisch gute Entscheidung kann zur „bösen T a t " werden, ohne daß der persönlich Handelnde dies verhindern könnte. Die Folgen machen den „freien Willen" zum „unfreien Willen". Die einzelne Entscheidung ist nur der Stein eines Mosaiks, dessen Struktur der Verfügungsgewalt des einzelnen entzogen ist. Die Anwendung dieses anthropologisch-theologischen Befundes auf historische Konstellationen könnte uns nicht nur vor überzogenen personalen Zurechnungen der Ereignisfolgen warnen, sondern vor allem gegen vorschnelle Aburteilungen historischer Akteure. Kurzschlüssige Zuordnungen von bestimmten Wirkungen und bestimmter Absicht müßten differenzierteren Analysen weichen, wobei der Widerspruch zwischen einer bestimmten Absicht und den ihr konträren Wirkungen seinen legitimen Platz hätte, ohne dabei in die zynische Floskel auszuweichen: Alles verstehen, heißt alles verzeihen. Die Zurechenbarkeit von Verantwortung bliebe auch da erhalten, w o sie angesichts der Komplexität der Konstellationen den Rahmen des Menschen Möglichen sprengt. Ein durchaus theologisches Thema wäre auch formuliert, wenn man die Kirchengeschichte einem grundsätzlichen Problemtitel unterstellen würde (der außerdem in seiner kontradiktorischen Struktur hermeneutisch fruchtbar sein dürfte): Als Beispiel sei der unauflösbare Grundwiderspruch des Christentums, „in dieser Welt nicht von dieser Welt zu sein", genannt. Dieser Grundwiderspruch drückt sich aus in dem Zugleich von Negation der Welt und Gestaltung der Welt, von radikaler Ethik und Affirmation des Bestehenden, von Charisma und Amt, von existentieller Betroffenheit und sozialethischer Verpflichtung etc., ohne daß das eine dem anderen gegenüber als peripher verdrängt werden könnte. Die Vitalität des Christentums besteht gerade in der Unvermittelbarkeit bzw. der immer nur partiellen, historisch besonderen Vermittlung des Widerspruchs, die immer wieder durch den Protest des verdrängten Teils in Frage gestellt wird. Die Historisierung der Geschichte bzw. der Kirchengeschichte bedeutet keineswegs notwendigerweise eine Auflösung fundamentaler Glaubenswahrheiten, sondern vermag den Blick für neue Glaubenserfahrungen zu öffnen, falls der Historiker bereit ist, auch seine eigene Geschichte der distanzierten Analyse historischer Verfahrensweisen zu unterwerfen. Kirchengeschichte kann durchaus unter strenger Wahrung ihrer Verpflichtung auf Empirie den Anspruch, theologische Disziplin sein zu sollen, einlösen, ohne diesen Anspruch entlastend an einen theologischen oder gar heilsgeschichtlichen Überbau zu delegieren, bzw. sich mit dem Titel „Historische Theologie" abzusichern - vorausgesetzt, daß sie die überlieferten historischen Quellen unter einer auch theologisch interessanten Fragestellung „zum Sprechen" zu bringen vermag. Literatur Wesen und Aufgabe der Kirchengeschichte und der Kirchengeschichtsschreibung: Giuseppe Alberigo, Neue Grenzen der KG: Conc(D) 6 (1970) 486-495. - Roger Aubert, Zur Einf.: LudovicusJacobus Rogier/Roger Aubert/M. David Knowles (Hg.), Gesch. der Kirche, Einsiedeln, I 1963, 1 1 - 2 6 . - D e r s . , L'histoire et l'historien, Paris 1964.-Ernst Benz, Weltgesch., KG u. Missionsgesch.: HZ 173 (1952) 1 - 3 2 . - Samuel Berger, Des études d'histoire ecclésiastique: Université de Paris. Séance de rentrée des cours de la Faculté de Théologie protestante 1899, Paris 1899, 1 7 - 3 3 . Friedrich de Boor, KG oder Auslegungsgesch.: ThLZ 97 (1972) 4 0 1 - 4 1 4 . - Karin Bornkamm, Kirchenbegriff u. Kirchengeschichtsverständnis: ZThK 75 (1978) 4 3 6 - 4 6 6 . - Norbert Brox, Fragen zur „Denkform" der Kirchengeschichtswiss.: ZKG 90 (1979) 1 - 2 1 . - Earle E. Cairns, God and Man in Time. A Christian approach to historiography, Grand Rapids, Mich. 1979. - Joseph Chambon, Was ist KG? Maßstäbe u. Einsichten, Göttingen 1957. - Pietro Chiocchetta, Teologia della Chiesa e storiografìa della Chiesa: StPat 12 (1965) 251-291. - John Cobb, Auf dem Weg zur Ablösung des Historismus u. Positivismus: Conc(D) 6 (1970) 468-472. - Eric Cochrane, What is catholic historiography?: CHR 61 (1975) 169-190. - Victor Conzemius, KG als „nichttheol." Disziplin. Thesen zu einer wissenschaftstheoretischen Standortbestimmung: T h Q 155 (1975) 187-197. - Ders., KG u. Religionssoziologie. Zur „Sociologie religieuse" v. André Heiderscheid: AMRhKG 17 (1965) 192-206. - Ders., Die Notwendigkeit einer wiss. Zeitgesch.: Con(D) 2 (1966) 4 7 9 - 4 8 6 . - Emst Dassmann, Thesen zur Notwendigkeit u. zum Nutzen des Kirchengeschichtsstudiums: Communio 8 (1979) 508-511. - Friedrich Wilhelm Deichmann, Einf. in die christl. Archäologie, Darmstadt 1983. - Walter Delius, KG der Kirche Jesu Christi, 1948 (Der Anfang. Zehlendorfer Stud. der Kirchl.
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Eckehart Stove Kirchengut 1. Altkirchlicher Zeitraum 2. Mittelalter 3. Das Kirchengut im Reformationszeitalter 4. Das Kirchengut nach dem Reichsdeputationshauptschluß und die Rechtsstellung des Kirchenguts in Deutschland im 19. und 20. Jh. 5. Heutiges katholisches Kirchenrecht 6. Ergebnis (Literatur S.573)
Unter dem Begriff Kirchengut oder Kirchenvermögen sind alle Eigentums- und Nutzungsrechte der Kirchen sowie ihre Rechte auf Leistungen aufgrund von -»Abgaben und Forderungsrechten aller Art zu verstehen. Zum Kirchengut gehören auch solche Gegenstände, die wegen ihrer Zweckbestimmung trotz eines Eigentumsrechts nichtkirchlicher Personen der Verfügungsgewalt der Kirche unterstehen. Dagegen machen Weihe oder Konsekration den Gegenstand nicht zu einem Teil des Kirchenguts, sondern vielmehr zu einer res sacra, die nach römischem Recht jedem rechtsgeschäftlichen Verkehr entzogen war. Der Begriff der geweihten Sache (res sacra) ist von dem der Sache als Teil des Kirchenguts (res ecclesiastica) zu trennen. 1. Altkirchlicher
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1.1. Urkirche. Historisch reicht der Erwerb von Vermögen für die christlichen Gemeinden bis in die Zeit des ersten Jahrhunderts zurück. Die ersten Christen gingen zwar davon aus, daß geistliche Handlungen in der Gemeinde grundsätzlich unentgeltlich gewährt werden müßten. Der Aspekt des Geldes darf nicht mit dem der Gaben Gottes verbunden werden, was vor allem in der Geschichte von -»Simon Magus (Act 8,9-24) deutlich wird. Ferner mußte die Lobpreisung der Armen in der Botschaft Jesu (-»Armut) dem Gedanken entgegenstehen, größere Vermögenswerte für die Gemeinden anzusammeln. Andererseits wird nach dem Bericht der Apostelgeschichte schon in der Urgemeinde von Jerusalem mit umfangreichen Gaben der Gläubigen, die Häuser und Äcker verkaufen, zur Unterstützung bedürftiger Gemeindemitglieder zu rechnen sein. Diese Gaben unterstanden zunächst der Verfügungsgewalt der Apostel. Über die Verteilung dieser Mittel entstanden Streitigkeiten, die nach Act 6 , 1 - 6 durch Delegation solcher sozialer Verteilungsaufgaben von den Aposteln auf das neugebildete Kollegium der .Sieben' gelöst wurden. Man wird jedenfalls vermuten können, daß es schon im ersten Jahrhundert Kollektiveigentum in den christlichen Gemeinden gab, ohne daß dies eine korporative Organisation der Gemeinden voraussetzte. Abgaben der Gläubigen erwiesen sich auch zur Unterstützung der Träger geistlicher Ämter in den Gemeinden als notwendig, die nicht sämtlich von eigenem Vermögen oder
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eigener Erwerbstätigkeit leben konnten. Die Honorierung der geistlichen Amtsinhaber wird bereits im Lukasevangelium (Lk 10,7) mit dem Begriff (IKTSOQ (Lohnanspruch) umschrieben. -»Paulus vergleicht die Unterstützung für die Apostel mit dem Sold der Soldaten (I Kor 9,7). Wenn aber die Träger solcher geistlichen Ämter Anspruch auf finanzielle Unterstützung hatten, so mußten die Gemeinden für solche Zwecke Vermögen ansammeln. 1.2. Vorkonstantinische Frühkirche. Das kirchliche Vermögen hat schon vor der staatlichen Anerkennung der Kirche durch das Toleranzedikt des Galerius beträchtlichen Umfang gehabt. Aufgrund der Wohltätigkeit von Gemeindemitgliedern zugunsten der Kirche haben die Stadtkirchen im 3. Jh. nicht nur Geldvermögen, sondern offenbar auch beträchtliches Grundvermögen besessen. Nach einer Vielzahl von Quellen kann bezüglich des Vermögenserwerbs der Kirchen kein Zweifel bestehen. Es bleibt aber unklar und in der Forschung diskutiert, ob die Kirchen korporatives Eigentum schon vor der Anerkennung durch den Staat gehabt haben können. Diese Frage ist stets im Zusammenhang mit dem grundsätzlichen Problem des rechtlichen Verhältnisses von -»Kirche und Staat vor-»Konstantin I. erörtert worden. Da das römische Recht keine freie Vereinsbildung kannte, sondern von einem Konzessionsprinzip ausging, kann man sich in Anbetracht der -»Christenverfolgungen kaum vorstellen, daß die Kirchen die Rechtsstellung anerkannter Vereine (collegia licita) gehabt haben können. Auf der anderen Seite fehlt auch jede eindeutige Quellenaussage, daß die christlichen Gemeinden als verbotene Vereinigungen (collegia illicita) eingestuft worden seien. Man hat das Problem des Rechtsstatus der vorkonstantinischen Kirchen in der Forschung vielfach damit lösen wollen (zuerst de Rossi), daß die christlichen Kirchen eine staatliche Konzession als Begräbnisvereine (collegia tenuiorum) erlangt hätten und als solche z. B. Eigentümer von Friedhöfen hätten werden können. Diese Hypothese findet keine Unterstützung in positiven Quellenaussagen. Vielmehr gibt es aus dem 3. Jh. mehrfach Belege, die zumindest den Schluß erlauben, daß der römische Staat ein korporatives Eigentum von Bischofskirchen als existent registrierte, wie immer er diesen Tatbestand in das staatliche Vereinsrecht einordnete. So stand nach Pseudo-Hippolyt am Anfang des 3. Jh. der Friedhof an der Via Appia im Eigentum der römischen Kirche und wurde von dem Diakon Callistos verwaltet (-»Calixtus I.; Ps.-Hippolytus, ref. 9,7.11). Die Historia Augusta berichtet aus der Zeit des Kaisers Alexander Severus ( 2 2 2 - 2 3 5 ) über einen Prozeß der römischen Christen gegen die popinarii (Speisewirte) um Besitzrechte an einem öffentlichen Grundstück; in diesem Verfahren scheint die römische Kirche als Prozeßpartei aufgetreten zu sein. Um die Mitte des 3. Jh. war die Vermögensmasse der römischen Kirche bereits so weit angewachsen, daß unter Bischof Fabianus (236 - 2 5 0 ) besondere Fonds zum Unterhalt einzelner christlicher Friedhöfe gebildet werden konnten. Ganz selbstverständlich geht schließlich -»Eusebius von Caesarea in seiner Kirchengeschichte davon aus, daß es im 3. J h . Grundvermögen der Ortskirchen gegeben habe, das unter der Verwaltung der Bischöfe stand und vom Staat respektiert wurde. Nach Eusebius hat Kaiser Aurelian das Haus der Kirche von Antiochien, welches sich widerrechtlich noch im Besitz des abgesetzten Bischofs -»Paulus von Samosata befand, dem rechtgläubigen Nachfolger Bischof Domnus zuerkannt und diese staatliche Anordnung dann auch zwangsmäßig durchgesetzt. In dieser Zeit (273 n. Chr.) stellte der Staat also bereits seinen Rechtszwang zur Durchsetzung kirchlicher Besitzansprüche zur Verfügung und erkannte an, daß der Besitz von Kirchengebäuden dem jeweiligen legitimen Bischof zustünde.
Berücksichtigt man diese Quellenzeugnisse, so kann kaum bezweifelt werden, daß unabhängig von einer formellen vereinsrechtlichen Anerkennung der christlichen Gemeinden diese jedenfalls Grundeigentum erwerben konnten, über das dann der -»Bischof verfügungsbefugt war. Die Gemeinden wurden insofern ohne vereinsrechtliche Konzession toleriert. Die bischöflichen Ortskirchen in den Weltstädten des Imperiums hatten schon beträchtliche Vermögenswerte angesammelt, so daß deren Rückgabe nach Enteignungsaktionen während der diokletianischen Verfolgung ein spektakulärer Vorgang war und besonderer Regelung bedurfte. 1.3. Das Vermögensrecht der Reichskirche der Spätantike. Die Rückgabe des kirchlichen Vermögens wurde von -»Konstantin und Licinius in ihren 313 erlassenen Edikten
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angeordnet. Der Text dieser Verordnungen ist durch Lactantius (mort. pers. 48,2-12) und Eusebius (h. e. 10,5) überliefert. Die Edikte ordnen die Rückgabe der Kirchen und anderer Besitztümer der Christen an ihre Körperschaft an (ad ius corporis eorum); sie seien auch früher Eigentum der Kirchen und nicht von Einzelpersonen gewesen. Die Auslegung dieser Klauseln ist in der Forschung bis heute umstritten. Den Quellen läßt sich kaum entnehmen, daß die Ortskirche als juristische Person aufgefaßt wurde. Wohl aber gab es offenbar ein Vermögen der Ortskirche unter Verwaltung und Verfügungsgewalt des Bischofs. Während nun in den Quellen aus konstantinischer Zeit das Subjekt des Kirchenvermögens mit den Begriffen corpus und cortcilium umschrieben wird, und damit auf die Kirche Begriffe des römischen Vereinsrechts angewendet werden, erscheint in den justinianischen Rechtsquellen um 530 die -»Kirche selbst ohne nähere begriffliche Qualifikation als Vermögensträger (Cod. Just. 1,2,25). Dies hat zu der These Anlaß gegeben, daß die Kirche nach römischem Recht zunächst als Personenverband, später als Anstalt aufgefaßt worden sei. Richtiger dürfte es jedoch sein, die Entwicklung der Terminologie in den Quellen so zu deuten, daß die Kirche als Vermögensträger in der Spätantike eine singuläre Stellung einnahm, die sich nicht mehr durch Einordnung in die Kategorien des Rechts sonstiger juristischer Personen erfassen ließ. Sicher ist, daß das kirchliche Vermögen stets auf eine bestimmte Ortskirche bezogen bleibt und sich keine Vorstellung von einem Vermögen der ecclesia universalis entwickelt. Eigentümerin des Kirchenvermögens ist somit zunächst allgemein die jeweilige örtliche Bischofskirche. Diese Bischofskirchen erwerben teilweise im 4. und 5. Jh. umfangreiches Eigentum, das weit verstreut sein kann. Am Ende des 5. Jh. besitzt die römische Kirche Grundeigentum in Dalmatien, Ägypten, Syrien und Kleinasien. Die Bischofskirchen der Großstädte des Reiches werden außerordentlich vermögend, während in den Provinzstädten wohl vielfach nur ein bescheidenes Kirchenvermögen vorhanden war. Der Reichtum des römischen Bischofs wird schon in der zweiten Hälfte des 4. Jh. kritisch von Ammianus Marcellinus hervorgehoben (Rerum gestarum 27,3,14). Wichtig für die Folgezeit ist es, daß neben dem Vermögen der Bischofskirche auch ein Vermögen anderer Rechtsträger innerhalb der christlichen Kirche entsteht. In großen Bischofsstädten werden außer der Bischofskirche aufgrund örtlich gebundener Stiftungen bereits andere Lokalkirchen Inhaber von Eigentumsrechten, so in Rom bereits im 4. Jh., allgemein seit dem 5. Jh.; Stiftungen von Fremden- und Krankenspitälern (-»Hospital) führen zur Ausstattung dieser Gründungen mit Vermögenswerten. In einer Konstitution Kaiser Zenons von 472 wird festgehalten, daß Spitälern und Waisenhäusern Privilegien zustehen können (Cod. Just. 1,3,32,7); damals sind solche Institute im frühbyzantinischen Reich offenbar auch bereits Träger von Vermögensrechten. Im 5. Jh. besitzen auch die Klöster eigenes Vermögen und können über dieses verfügen; Einzelregelungen darüber traf später die justinianische Gesetzgebung. Woher stammte das im 4. und 5. Jh. rasch vermehrte kirchliche Vermögen? Die Kirche wurde vor allem durch Schenkungen und letztwillige Verfügungen begünstigt. Schenkungen erfolgten zunächst seit Konstantin durch die Kaiser, denen die Kirche einen erheblichen Teil ihres Grundeigentums verdankte. Durch die Großzügigkeit Konstantins und seiner Nachfolger gelangte ein Teil der terra fiscalis in das Eigentum der Kirche, vor allem auch in den Städten. Im Zusammenhang mit der heidnischen Reaktion unter Julian Apostata wurde von diesem Kaiser angeordnet, daß die Kirche städtische Grundstücke zurückgeben solle, was offenbar voraussetzt, daß hier ein umfangreicher Transfer stattgefunden hatte (Cod. Theod. 10,3,1). Aber auch Privatpersonen haben vor allem nach der Anerkennung des Christentums die Kirche durch generöse Schenkungen begünstigt. Wurden von ihnen Kirchen gestiftet, was bereits im 4. Jh. häufig war, so erwarteten die Bischöfe eine ausreichende Dotation. Schenkungen von Privatpersonen konnten zweckgebunden zugunsten einzelner Oratorien und Hospize erfolgen; solche zweckgebundenen Schenkungen von Mobilien und Immobilien setzt ein Gesetz Kaiser Zenons voraus (Cod. Just. 1,2,15).
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Wesentlich wurde aber schließlich der Vermögenserwerb der Kirche durch Testamente. Die Berücksichtigung der Kirche in letztwilligen Verfügungen wurde schon von Konstantin dem Großen besonders begünstigt, da er die Erbfähigkeit der Kirche anerkannte, obwohl das römische Recht grundsätzlich Personenverbände als erbunfähig ansah. Während des 4. Jh. scheinen Vermächtnisse zugunsten der Kirche immer häufiger geworden zu sein. Hier handelte es sich bald nicht nur um die Zuwendung von Vermögensbestandteilen, sondern um die Frage, ob die Kirche auch in die Universalerbenstellung einrücken könne. Das Problem stellte sich moralisch unterschiedlich für die der Kirche eng verbundenen Kleriker und für die Laien, die auch als Christen Pflichten gegenüber ihrer Familie wahrnehmen mußten. Die Kirche geht schon im 4. Jh. davon aus, daß ein Priester sein Privatvermögen möglichst ihr vererben solle. Dem Konzil von Karthago 401 gilt es bereits als Vergehen eines Bischofs, wenn er ohne Testament verstirbt; zu seinen Berufspflichten gehört es, einen Teil seines Vermögens der Kirche zu hinterlassen, und die Erbeinsetzung von häretischen Angehörigen, von Heiden oder auch allgemein von Fremden durch einen Bischof wird mit Verfluchung seines Namens nach dem Tode geahndet. Die kaiserliche Gesetzgebung sorgte bald aber auch dafür, daß die Kirche am Erbe von Klerikern, Mönchen und Nonnen partizipieren konnte, die ohne Hinterlassung eines Testaments verstarben. Ein Gesetz aus dem Jahre 434 ordnete an, daß immer dann die Kirche als gesetzlicher Erbe eintrat, wenn die genannten Personen ohne Hinterlassung von Angehörigen starben und kein Testament gemacht hatten (Cod. Just. 1,3,20). Mit diesem Erwerbsrecht tritt die Kirche an die Stelle des römischen Staats. Soweit Laien letztwillige Zuwendungen an Kirchen machten, mußte sich die Kirche mit dem moralischen Problem der Benachteiligung der Angehörigen auseinandersetzen. In der patristischen Literatur wird diese Frage sehr kontrovers diskutiert und gelöst. Drei grundsätzliche Positionen wurden vertreten. -•Salvianus von Marseille vertrat die radikale Idee, man solle als Erben die Kirche sogar den eigenen Kindern vorziehen (MGH, Auetores ant. 1,120). -»Basilius von Caesarea entwickelte die Lösung, daß man die Hälfte seines Vermögens der Kirche vermachen solle (Or. in temp. fam. et sicc. cap. 8). Am erfolgreichsten vor allem im Abendland wurde schließlich die maßvolle Lösung von Augustin, der die Ansicht vertrat, daß man der Kirche einen Kindesanteil zuwenden solle (Serm. 86, 10-12). Augustins Prinzip berücksichtigte die Zahl der Nachkommenschaft des Erblassers und gewann große Bedeutung für die Entwicklung eines sozialen Erbrechts. Die völlige Enterbung der Nachkommen zugunsten der Kirche wird von Augustin als unmoralisch verurteilt. Neben den freiwilligen unentgeltlichen Zuwendungen haben in der spätantiken Reichskirche -»Abgaben als Quelle des Kirchenvermögens nur untergeordnete Bedeutung. Nach alttestamentarischem Vorbild werden regional Zehntabgaben entrichtet, so etwa in Gallien seit dem 3. Jh., ohne daß man vor dem frühen Mittelalter eine Rechtspflicht zur Zehntleistung feststellen kann. Die Verwendung des Kirchenvermögens unterliegt weitgehend dem Ermessen des jeweils verfügungsbefugten Verwalters, so bei den Bischofskirchen in erster Linie der Entscheidung des -»Bischofs. Betont wird jedoch bereits der Gedanke, daß der kirchliche Besitz besonders den Armen zugute kommen solle (-»Armenfürsorge). Die Problematik der Anhäufung kirchlicher Vermögensmassen im Widerspruch zum urchristlichen Armutsideal wird von Augustinus damit gerechtfertigt, daß die Kirche ihre Besitztümer ohnehin nur treuhänderisch für die Armen verwalte. Wollte man das Anrecht der Armen gegenüber den Versorgungsansprüchen des Klerus und den Unterhaltskosten für die res sacrae festlegen, konnte dies durch die Festlegung von Prinzipien der Quotenbildung beim Kirchenvermögen geschehen. Bei den Päpsten Simplicius (468-483) und -»Gelasius I. findet man im 5. Jh. das außerordentlich folgenreiche Prinzip einer Vierteilung des Kirchenvermögens in einen Anteil für den Bischof, den Klerus, die Armen und die Baulasten der Kirche. Diese Aufteilung wurde zuerst von Gelasius im Sinne eines allgemeinen Prinzips proklamiert. Für die spanisch-westgotische Kirche ist aus dem Jahre 666 ein Konzilskanon überliefert, wonach die Gaben der Gläubigen in drei gleiche Anteile aufge-
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spalten werden sollten, von denen einer dem Bischof zur Verfügung stand, der zweite für Presbyter und Diakone und der dritte für den niederen Klerus bestimmt war. Wichtig war hier, daß die Klerikeranteile von ihnen selbst und nicht mehr durch den Bischof verwaltet werden sollten (Konzil von Merida c. 14). Dieses Prinzip konkurrierte außerhalb Spaniens mit der Vierteilung, wobei die Päpste stets für die gelasianische Teilung des Kirchenvermögens eintraten. Der vielfach durch Kanonessammlungen im frühen Mittelalter überlieferte Text des Gelasius wurde wohl erst im 12. Jh. im Sinne strenger Zweckbindung gleichmäßig großer Vermögensanteile gedeutet. 2. Mittelalter 2.1. Kirchengut im frühen Mittelalter. In der Zeit des frühen Mittelalters vom 6. bis zum 11. Jh. ergaben sich vielfach Veränderungen in der Zuordnung des Kirchenguts zur Kirche und in der Erschließung neuer Quellen zur Vermehrung des Kirchenvermögens. Drei Neuerungen gewannen für die gesamte Entwicklung des Kirchenrechts zentrale Bedeutung: das Eigenkirchenwesen, die Aufspaltung der Vermögenseinheit des Bistums bis zur Entwicklung des Benefizial- oder Pfründensystems, schließlich die Einführung der Zehnten als kirchlicher Steuer. Das -»Eigenkirchenwesen entwickelte sich aus dem Privateigentum an Landkirchen, die unter Vorbehalt des Eigentums für den Stifter von Grundbesitzern auf ihrem Boden errichtet wurden. Private Kirchen werden bereits in einer Kaiserkonstitution von 388 erwähnt; in Ägypten ist bereits für das 4. Jh. vererbbares Privateigentum an Kirchen und Klöstern bezeugt. Im Gebiet Südgalliens gibt es Landoratorien von Grundeigentümern bereits im 5. Jh. vor der fränkischen Eroberung. Für die frühmittelalterliche Eigenkirche wurde es entscheidend, daß der Grundeigentümer den an der Kirche angestellten Priester bestimmen konnte und ein umfassendes Nutzungsrecht erhielt. Es muß als Teil der Entwicklung von Herrschaftsbereichen der Grundherren nach dem Zerfall des spätantiken Staates begriffen werden und konnte sich daher vor allem dort durchsetzen, wo die römischen Ordnungsstrukturen nicht überlebten, so in Gallien und im langobardischen Italien. Germanische Überlieferungen scheinen bei dieser Entwicklung entgegen der berühmten Theorie von U. Stutz kaum eine Rolle gespielt zu haben. Zutreffend bleibt allerdings die Feststellung von Stutz, daß die Eigenkirche wegen ihres wirtschaftlichen Nutzens für den Eigenkirchenherren eine vorteilhafte Kapitalanlage darstellte. Das Eigenkirchenwesen konnte sich im Frankenreich und dessen Nachfolgestaaten durchsetzen; ferner im Nordosten Spaniens und in England. Auch im slawischen Osteuropa lassen sich ähnliche Erscheinungen nachweisen. Das frühmittelalterliche Eigenkirchenrecht wurde im klassischen kanonischen Recht des 12. Jh. zum Patronatsrecht (-•Patronat) umgewandelt, wobei die Nutzungsrechte des Patrons hinsichtlich des Kirchenvermögens sich auf ein Recht auf Unterstützung in Notlagen reduzieren sollten. Jedoch ließen sich diese normativen Einschränkungen, die der Zweckentfremdung kirchlichen Vermögens durch das Eigenkirchenrecht ein Ende bereiten sollten, in der Praxis nur selten durchsetzen, so daß aufgrund des Patronatsrechts bis weit in die Neuzeit auch in protestantischen Territorien „das Kirchenvermögen zahlreichen partikularen Herrschaftsträgern überantwortet bleibt" (Sieglerschmidt). Zu den wichtigsten Veränderungen im kirchlichen Vermögensrecht des frühen Mittelalters gehört die Aufsplitterung des Bistumsvermögens in Vermögensanteile des Bischofs (mensa episcopi) und des Kapitels (mensa capituli; -»Domkapitel), die sich vom 9. bis 11. Jh. vollzog. Man hat diesen Vorgang, der die beherrschende Position des Bischofs im kirchlichen Vermögensrecht beseitigte, oft mit dem Begriff einer ,Güterteilung' zu erfassen versucht. Dieser Begriff ist jedoch insofern mißverständlich, als der Prozeß der Aufgliederung des Bistumsvermögens sich weniger durch Teilung eines einheitlichen Komplexes, sondern mehr durch Zweckbindungen bei Vermögenszugewinn zugunsten der Kanoniker an der Bischofskirche, des Domkapitels, vollzogen hat. Die Kanoniker an den
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Kathedralen bilden eine Gemeinschaft, für die zeitweise das Reformprogramm der institutio canotticorum Ludwigs des Frommen maßgeblich ist. Das gemeinschaftliche Sondervermögen der Kanoniker gibt die materielle Basis für ihre vita communis. Solche Sondervermögen der Kanoniker bilden sich beim Domstift und bei sonstigen Stiftskirchen seit dem 9. Jh. Der einzelne Kanoniker wird nicht mehr unmittelbar vom Bischof, sondern aus dem Stiftsgut unterhalten. Jedoch untersteht auch dieses Sondervermögen der Kanoniker zunächst noch der Verwaltung des Bischofs, der auch über die Erträge des Kanonikervermögens verfügen kann. Insofern kennt die Karolingerzeit noch keine vollkommene Absonderung der mensa capituli. Die eigene Verwaltung des Kapitelvermögens durch die Domkanoniker selbst, die sie dem zu ihrem Verband gehörenden Propst übertragen, ist zuerst für das Bistum Bamberg 1007 bezeugt. Das Kapitel hat jetzt auch die Möglichkeit, sich für Aufgaben der Vermögensverwaltung einen Laien als Vogt zu bestellen. Vom Prozeß der Entstehung der mensa capituli als eines Kollektivvermögens der Kapitel ist die Frage zu trennen, wann individualisierte Vermögensrechte für einzelne Kanoniker und auch für die von Bischöfen oder Eigenkirchenherren abhängigen Landgeistlichen entstanden. Die letztere Frage ist die nach der Entstehung des geistlichen -»Benefiziums. Sie ist hinsichtlich ihrer Ursachen und auch der Entstehungszeit des Benefiziumsbegriffs von der Forschung bisher nicht befriedigend gelöst worden. Der Kanoniker eines Kapitels konnte schon im 9. Jh. einen festen Anteil an den Erträgen des Kapitelguts beanspruchen. Dieses Bezugsrecht aus dem Kapitelsvermögen wurde mit dem Begriff praebenda bezeichnet. Die naturalwirtschaftliche Struktur brachte es mit sich, daß die Kanoniker oft eine Versorgung durch Landgüter erhielten, die ihnen aufgrund einer Leihe aus dem Kapitelsvermögen als beneficia überlassen wurden. Leihe von Landgütern zur Versorgung ist auch üblich bei Eigenkirchengeistlichen, ohne daß lange Zeit ein spezifisches Gut und das kirchliche Amt als eine Einheit im Sinne des späteren kirchlichen Benefiziums aufgefaßt werden. Das kirchliche Benefizium bedeutet die untrennbare Verbindung eines geistlichen Amts mit bestimmten Nutzungsrechten; die hier zugrunde liegende Vorstellung läßt sich wohl vor dem 11. Jh. nicht nachweisen. Im frühen Mittelalter erfuhr das Kirchenvermögen schließlich eine erhebliche Vermehrung durch die Entwicklung des Zehntrechts (-•Abgaben). Der Zehnt ist als freiwillige Abgabe der Christen nach alttestamentlichem Vorbild zugunsten ihrer Gemeinden regional schon frühzeitig bezeugt. Die spätantike Kirche kennt aber noch keine rechtliche Verpflichtung zur Zehntleistung. Ein Zwang zur Leistung von Zehnten wird erst in der Karolingerzeit ausgeübt, indem entsprechende Gebote von den Königen ausgehen, zuerst von -»Pippin 765, später von -»Karl dem Großen im Kapitular von Heristal 779. Diese königlichen Anweisungen sollen im Sinne der karolingischen Kirchenreform zur Stärkung der Kirche beitragen. Seitdem bleiben Zehntabgaben charakteristisch für die Struktur der abendländischen Kirche, während die byzantinische Kirche des Mittelalters Zehnten überhaupt nicht kennt. Von den genuin kirchlichen Zehnten muß man diejenigen Abgaben trennen, die im 8. Jh. von den Karolingern den fränkischen Vasallen zugunsten der Kirche auferlegt wurden, nachdem die Kirche auf Geheiß des Königs kirchlichen Grundbesitz an die Vasallen hatte verleihen müssen. Für diese Zwangsleihen, die precariae verbo regis, wurden die kirchlichen Eigentümer mit einem Anspruch auf einen Teil des Ertrags, der als ttorta et deeima bestimmt wurde, entschädigt. Diese spezifische Abgabe im Rahmen der sogenanten karolingischen Säkularisationen von Kirchengut war ein weltlicher Zins, der mit den Zehnten nicht verwechselt werden darf. Die durch die Säkularisationen zweckentfremdeten Kirchengüter wurden offenbar häufig im 9. und 10. Jh. der Kirche zurückerstattet, womit dann auch die Verpflichtung zur Leistung von nona et deeima erlosch. Es handelt sich bei dieser Abgabe um eine auch nur regional im westfränkischen Raum verbreitete Einrichtung.
Die kirchlichen Zehnten sind eng mit der geistlichen Aufgabe der Kirche verbunden. Durch sie leistet der einzelne Gläubige einen Beitrag, um der Kirche überall die Spendung der Sakramente zu ermöglichen. Wegen dieser Verbindung des Zehntrechts mit den -»Sakramenten erscheint es als konsequent, daß die Taufkirchen, an denen die Sakramente ausgeteilt werden, das Recht zum Empfang der Zehnten haben. Bischöfe und Klöster
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sollen ursprünglich keineswegs über Zehnteinnahmen verfügen. Jedoch verbleibt der Anspruch auf Empfang der Zehnten schon in der Karolingerzeit nicht generell bei den Taufkirchen; vielmehr wird diese Einnahmequelle von den Herren der Eigenkirchen in Anspruch genommen, und schon im 8. J h . besitzen auch einzelne Klöster Zehntrechte. Der Verwendungszweck der Zehnten innerhalb der Kirche war ursprünglich auch nicht festgelegt. Jedoch wurde schon bald gefordert, daß sie vor allem zum Unterhalt der Kirchengebäude und zur Unterstützung der Armen zu verwenden seien. Wollte man dies erreichen, so mußte es eine den Pfarreien übergeordnete Verwendungskontrolle geben; es ist daher konsequent, daß in den pseudoisidorischen Fälschungen des 9. Jh. (-• Kirchenrechtsquellen) als Norm behauptet wurde, daß der Bischof die Kontrolle über die Zehnten behalten müsse. Wie in manchen anderen Bereichen haben sich auch hier die pseudoisidorischen Sätze nicht durchsetzen können. Zehnteinnahmen kamen Bischöfen, Klöstern und Laien zugute, wobei die Zehntabgabe meist als Ertragszehnt aus der landwirtschaftlichen Produktion geleistet wurde. 2.2. Das Kirchengut im hohen Mittelalter (11. bis 13. Jh.). Im hohen Mittelalter erfuhr auch das Vermögensrecht der Kirche durch die europäische Geltung der Rechtsquellen des kanonischen Rechts (-»Kirchenrechtsquellen) eine Vereinheitlichung vor allem mit der begrifflich-juristischen Fixierung von Prinzipien, die zum Teil bis ins 20. Jh. das kanonische Recht bestimmt haben. Der für das kirchliche Vermögensrecht wichtigste Begriff wurde derjenige des —•Benefiziums, das eine festgelegte Vermögensmasse zum Unterhalt eines Geistlichen wurde; es war auf Dauer mit einem geistlichen Amt verbunden und in seinem Bestand unabhängig von der Person des Amtsinhabers. Die Entfremdung von Kirchengut durch die Verfügungsgewalt der Laien im Eigenkirchenwesen konnte das kanonische Recht partiell eingrenzen, indem es für diesen Bereich das Rechtsinstitut des -»Patronats entwickelte. Schließlich konnte durch das ebenfalls neuartige Institut der Inkorporation einer ausschließlich lokalen Bindung von Erträgen des kirchlichen Vermögens entgegengewirkt werden. Die hochmittelalterliche Entwicklung führt daher trotz der an sich starren Zuordnung von Vermögenswerten an lokale Träger durch das Benefizialsystem doch insgesamt zu einer Konzentration von Kirchenvermögen im Vergleich zur früheren Zeit. Zu den wichtigsten Ergebnissen dieser Jahrhunderte gehört die Herausbildung eines umfangreichen Kirchenvermögens in der Hand des -»Papsttums, das nur aufgrund seiner erheblichen Finanzquellen zur zentralen Ordnungsmacht im mittelalterlichen Europa werden konnte. Die päpstlichen Finanzquellen bestehen vor dem 13. Jh. vor allem in Zinsabgaben von römischen Eigenkirchen sowie von exemten Kirchen und Klöstern, außerdem in einer von einzelnen Ländern als Anerkennung päpstlicher Oberhoheit geleisteten außerordentlichen Abgabe, dem Peterspfennig, der in England, Irland, den skandinavischen Ländern, Polen und Ungarn erhoben wurde, schließlich in Lehensabgaben einzelner Länder wie Sizilien, Aragon und England. Im 13. Jh. werden die Papstzehnten zur wichtigsten päpstlichen Einnahmequelle. Papstzehnten waren vom Klerus zu entrichten; sie bestanden in einem bestimmten Prozentsatz des Jahreseinkommens einer Pfründe. Das Papsttum des 13. Jh. hat solche Zehnten nicht als regelmäßige ordentliche Steuern erheben können, wohl aber als außerordentliche Steuern zur Finanzierung von Kreuzzügen, zum Kampf gegen die staufischen Kaiser, und schließlich seit -»Bonifatius VIII. allgemein pro necessitate ecclesiae. Man hat geschätzt, daß durch die Papstzehnten das Einkommen der Päpste im 13. Jh. dreimal so hoch wie dasjenige der französischen Könige gewesen ist. Weitere Abgaben zugunsten der Päpste kommen hinzu und haben vor allem im 14. Jh. ihre endgültige Ausgestaltung erfahren. Es handelt sich um die Steuerkategorien der Servitien und der Annaten. Servitien waren Taxen, die von Bistümern oder Prälaturen, also höheren Benefizien, erhoben wurden, die vom Papst selbst im Konsistorium verliehen wurden oder bei denen die Bestätigung (confirmatio) des Amtsträgers durch den Papst erfolgte. Im allgemeinen wurde als Servitientaxe ein Drittel des Jahreseinkommens des betreffenden Benefiziums erhoben. Annaten sind die halben Jahreseinkünfte eines niederen Benefiziums, das vom Papst in der Kurie vergeben wurde. Die Bedeutung dieser Abgaben mußte steigen, als seit dem 13. Jh. bestimmte Kategorien von Benefizien für die päpstliche Besetzung reserviert wurden, z. B. beim Tode des Benefiziaten in Rom oder im Fall der
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Absetzung des Amtsinhabers. Diese so erhobenen päpstlichen Einnahmen wurden infolge der starken Stellung des Kardinalskollegiums zwischen Papst und Kardinälen aufgeteilt.
Im ganzen bedeutete die gewaltige Erweiterung der päpstlichen Einnahmen im 13. und 14. Jh. eine Mobilisierung des Kirchenvermögens und eine bis dahin in Europa unbekannte Möglichkeit der Kapitalbildung, die durch die Verflechtung des Papsttums mit italienischen Bankhäusern eine der Voraussetzungen für die Kapitalakkumulation im Frühkapitalismus gewesen ist. Für die Einziehung der vielfältigen Abgaben schufen die Päpste seit —»Innocenz IV. eine eigene Kategorie regionaler Finanzbeamter, die päpstlichen Kollektoren. Als zentrale päpstliche Finanzbehörde wurde die apostolische Kammer geschaffen, die während des Reformpapsttums unter dem Pontifikat -»Urbans II. entstand. Daneben entwickelt sich am Ende des 13. Jh. auch eine eigene Finanzbehörde des Kardinalskollegs. Indem ein großer Teil der Erträge des Kirchenguts im 13. und 14. Jh., mit einem Höhepunkt in den Jahrzehnten des Avignonesischen Papsttums, dem Papsttum zugute kommen konnte, konnte die Theorie der päpstlichen plenitudo potestatis in die Praxis umgesetzt und eine Zentralisierung der kirchlichen Organisation erreicht werden. Auf der Ebene des Bistums war im hohen Mittelalter die Trennung des Bistumsguts in das bischöfliche Tafelgut (mertsa episcopi) und das Kapitelgut (mensa capituli) durchgeführt. Der Bischof konnte das ihm zugeordnete Tafelgut frei nutzen, aber nicht ohne die Mitwirkung seines Kapitels vermindern. Das Tafelgut bestand im frühen Mittelalter vorwiegend aus Grundbesitz; regelmäßige Abgaben an die Bischöfe von den Geistlichen der Diözese bestanden in Anteilen an den Zehnten. Als weitere jährliche Abgabe für jeden Benefiziaten an den Bischof fand seit dem Anfang des 12. Jh. das cathedraticum, eine fixierte Steuer, allgemeine Verbreitung, das im Decretum Gratiani ausführlich behandelt wurde. Außerordentliche Einnahmen hatten die Bischöfe durch die Abgaben beim Sendgericht, durch Anteile am Nachlaß von Klerikern und an Vermächtnissen zugunsten von Kirchen sowie durch die Annaten-Früchte des ersten Jahres nach Neubesetzung einer Pfründe. Für die -*Pfarreien gab es im hohen Mittelalter regelmäßig eine Ausstattung durch Land (Widern oder dos). Hinzu kamen die Einnahmen durch ein Drittel oder ein Viertel der Zehntabgabe und ferner Einkünfte durch die Oblationen der Gläubigen und die für geistliche Amtshandlungen erhobenen Stolgebühren. Der Gesamtkomplex dieser mit einem Amt fest verbundenen Einnahmen war das Benefizium, das allerdings bei den seit dem 13. Jh. zahlreichen inkorporierten Pfarreien nicht dem Geistlichen an der Kirche, sondern derjenigen Institution zustand, in die eine Pfarrkirche inkorporiert worden war. In den mittelalterlichen Rechtsquellen ist die Frage des Eigentumsrechts am Kirchenvermögen selten eindeutig beantwortet worden. Nicht nur als metaphysische Vorstellung, sondern durchaus als Rechtsgedanke mit der Rechtsfolge einer Einschränkung der Verfügungsgewalt für die kirchlichen Rechtsträger erhielt sich das Prinzip, daß das Kirchengut Gott und den Heiligen zustünde. Papst und Bischöfe seien nur die irdischen Vertreter der Heiligen und unterlägen daher Grenzen in bezug auf Möglichkeiten der Nutzung und Verminderung des Kirchenguts. Im hohen Mittelalter werden die Eigentumsrechte durch die juristische Terminologie der Kanonisten erfaßt; dabei wandelt sich das Eigentum des Heiligen zu demjenigen einer juristischen Person innerhalb der Kirche. Die Erhaltung des umfangreichen Kirchenvermögens war in der Zeit der Rezeption eines auf umfassende Nutzung abstellenden Eigentumsbegriffs nur dadurch möglich, daß man als Träger dieses Rechts nicht physische, sondern juristische Personen betrachtete. Dabei stand das Eigentum am Kirchengut nicht etwa der durch den Papst repräsentierten Gesamtkirche zu, sondern war auf viele juristische Personen als Träger verteilt. Die im Papst vergegenwärtigte universale Kirche besaß kein Obereigentum am gesamten Kirchengut, sondern nur ein Aufsichtsrecht über die Verwendung des Kirchenvermögens. Für das praktische Rechtsleben blieb es ohne Konsequenz, wenn einzelne Theoretiker wie Johannes von Paris am Anfang des 14. Jh. der Gesamtkirche ein dominium generale am Kirchenvermögen der einzelnen kirchlichen Korporationen zuschrieben. Das Kirchengut
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bleibt auch in der Zeit äußerster Zentralisierung von Verwaltung und Rechtsprechung letztlich dezentralisiert. Träger der Vermögensrechte sind juristische Personen, die entweder kollegial organisiert sind (Kapitel, Klöster) oder von einem einzelnen wie eine Stiftung oder Anstalt genutzt werden (Bischof oder Benefiziat als Inhaber eines Nießbrauchs am Bistumsgut oder Benefizium). Das verwickelte Verhältnis von Eigentumsrecht der juristischen und Nutznießungsrecht der natürlichen Person wird von der klassischen Kanonistik des 13. Jh. scharfsinnig analysiert; so betont Papst Innocenz IV., daß ein Kleriker als Benefiziat im eigenen Namen Besitz am Benefizium als Recht habe - aber über die einzelnen Gegenstände des Benefiziums nur im Namen der Kirche verfügen könne (Innocenz IV., Apparat ad X 2.13.5). Soweit das Kirchengut kirchlichen juristischen Personen zugeordnet war, wurden letztere primär als Anstalten verstanden, auch wenn sie etwa aus einer Anzahl von Kanonikern bestanden; es galt der Satz: Quid si civitas per ministros suos possidet, sie et ecclesia possidet per canonicos [Wie eine Stadt durch ihre Amtsträger Eigentumsrechte innehat, so auch eine Kirche durch die Kanoniker] (Duranti, Speculum iudiciale II.l, De petitorio etc. § 1 nr. 37). Das Kollegium als Rechtsträger entscheidet durch Mehrheitsbeschluß. Kirchliches Vermögen darf im Mittelalter grundsätzlich der Kirche nicht entfremdet werden. Dieser Grundsatz wird bereits von Papst —>Leo I. ausgesprochen und gehört zu den fundamentalen Normen des klassischen kanonischen Rechts (JK 415 = Gratian C.12, q.2, c. 52): Episcopus rebus ecclesiae tamquam commendatis, non tamquam propriis utatur [Der Bischof soll die Kirchengüter als anvertraute, nicht als eigene benutzen]. Das päpstliche Dekretalenrecht erfaßt unter dem Begriff der Veräußerung auch jede Art von Belastung des Kirchenguts. Veräußerung von Kirchengütern ist nur aus Gründen der Notwendigkeit, der Nützlichkeit und der christlichen Liebestätigkeit erlaubt; bei letzterer sind besonders hervorgehobene Tatbestände die Unterstützung der Armen und der Loskauf von Gefangenen (Gratian C. 12, q. 2, c. 70 = Ambrosius). Soweit ein Bischof Immobilien veräußern möchte, bedarf er auch dann der Zustimmung des Kapitels, wenn es sich um bischöfliches Tafelgut handelt. Seit 1274 (can. 22 2. Konzil von -»Lyon) muß auch die Erlaubnis des Papstes bei der Veräußerung von kirchlichem Grundbesitz an Laien eingeholt werden; die entsprechende Bestimmung gelangte in Bonifaz' VIII. Liber Sextus (VI 3.9.2). Mit diesem sog. Beneplacitum Apostolicum wurde eine oberste Aufsicht des Papstes zur Erhaltung des Kirchenguts eingeführt. Die Päpste versuchten, das Kirchengut gegenüber weltlicher Nutzung auch dadurch zu bewahren, daß sie die Besteuerung des Klerus und seiner Güter durch weltliche Gewalten verboten, mit einem Höhepunkt in den Bestimmungen der Bulle Clericis laicos Bonifaz' VIII. von 1296 (VI 3.23.3). 2.3. Kirchengut im Spätmittelalter (14. und IS. Jh.). In den Jahrhunderten des späten Mittelalters konnte die Kirche die bisher erlangte Vermögenshoheit nicht behaupten. Auf der einen Seite nahm das Kirchenvermögen vor allem durch die zahlreichen Seelgerätschaften zu, die in den Städten von den Bürgerfamilien, den Zünften oder auch von wohlhabenden Geistlichen vorgenommen wurden und an den städtischen Kirchen zur Einrichtung von besonderen Altären und Kapellen führten, die von einem Priester als Altaristen versorgt wurden und mit einer stiftungsmäßig festgelegten Dotierung versehen waren. Große städtische Pfarrkirchen wie das Ulmer Münster hatten schließlich über 60 solcher Altarstiftungen mit Verpflichtung zu regelmäßiger Abhaltung von Seelenmessen. Andererseits behielten sich die Stifter meist die Aufsicht und Verfügungsgewalt über ihre Stiftung vor und benutzten für ihre Rechte die kanonistische Rechtsfigur des Patronats. Von der Stifterfamilie gelangten die Aufsichtsrechte und auch das Recht auf Einsetzung des Altarpriesters (Altaristen) vielfach in die Zuständigkeit des Stadtrats, so daß die Stadtgemeinde großen Einfluß auf das kirchliche Vermögensrecht gewann. Am Ausgang des Mittelalters untersteht das in der Stadt vorhandene Kirchengut nur noch teilweise der Aufsicht des Bischofs. Das in viele Stiftungen zersplitterte Kirchenvermögen ist vielmehr
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zu einem erheblichen Teil in das städtische Stiftungswesen eingebunden, das v o m Stadtrat als oberstem Treuhänder kontrolliert wird. Der R a t verwaltet die M e ß - und Altarpfründen wie eine Bank die Bankeinlagen, so d a ß von A. Schultze für die Rolle des Stadtrats im kirchlichen Vermögens wesen der Ausdruck .Treuhandsbank großen Stils' geprägt wurde. Pfründen werden v o m R a t als Lehen vergeben, der häufig auch über Klostergut verfügt. A u c h auf dem L a n d e verliert die Kirche im späten Mittelalter gegenüber den a u f k o m m e n den Territorialherren teilweise die im hohen Mittelalter erkämpfte vermögensrechtliche Unabhängigkeit - entscheidende Wurzeln des landesherrlichen -•Kirchenregiments reichen in diese Jahrhunderte. Für die kirchliche Vermögensverwaltung bedurften die Städte eines eigenen Beamtenstabs. Es entstand das Amt des Kirchenpflegers, das sich in den Städten Flanderns und auch einigen Städten Deutschlands seit der ersten Hälfte des 13. Jh. nachweisen läßt. Die mitteleuropäische Entwicklung hatte italienische Vorbilder; denn in großen Städten Italiens wie Venedig, Pisa und Florenz gab es schon im 12. Jh. operarii zur Verwaltung des für die Kirchenbauten bestimmten Fabrikvermögens. Zuerst scheint es eine solche städtische Verwaltung kirchlichen Vermögens in Venedig bei den städtischen Prokuratoren von S. Marco gegeben zu haben. Was befand sich in der Obhut dieser Kirchenpfleger? Sie verwalteten die Seelgeräte und stiftungsmäßig festgelegte Oblationen (Opfergaben) für einzelne Kirchen; sie konnten aber auch ihre Zuständigkeit für das nunmehr aus dem Gesamtkomplex des Benefiziums herausgelöste Fabrikgut der städtischen Kirchen durchsetzen. Waren die Baulasten der Kirche im 12. Jh. wohl noch regelmäßig aus dem Benefizium aufzubringen, so wurde im 13. Jh. von diesem die fabrica ecclesiae (Fabrikgut) als Sondervermögen getrennt. Das kanonische Recht hat diese Entwicklung nicht gesteuert, sondern nachträglich anerkannt, indem seit Honorius III. festgelegt wurde, daß Abgaben an die Bischofskirche nur von den Benefizien ohne Einbeziehung des Fabrikguts erfolgen sollten (Potthast no. 7860 = X 5.40.31). Die Verwaltung durch den Pfleger verselbständigte das Fabrikgut gegenüber dem Benefizium, ohne daß es der juristischen Konstruktion einer selbständigen Stiftung bedurfte. Die im Rahmen der städtischen Selbstverwaltung entstandene Kirchenpflegschaft wurde nicht zu einem einheitlichen Rechtsinstitut ausgebildet. Als Kirchenpfleger amtierten meist Laien, gelegentlich aber auch Geistliche. Die Kirchenpfleger konnten auch zur Verwaltung der seit dem 13. Jh. zahlreichen städtischen Spitäler eingesetzt werden. Die Spitäler mit meist umfangreichem Grundbesitz waren der Wohltätigkeit und damit einer genuin kirchlichen Aufgabe gewidmet; sie gehörten aber im Spätmittelalter nicht ohne weiteres zum Kirchengut, sondern waren kommunalisiert, jedoch nicht säkularisiert (Reicke). Ahnlich wie im Fall der Kirchenfabrik wurde auch bei den Wohltätigkeitsanstalten die faktische Entwicklung der Kommunalisicrung von der Kirche hingenommen; das Konzil von —»Vienne 1311 forderte nur, daß die Leitung von Spitälern, Armen- und Pilgerhäusern qualifizierten Männern anvertraut sein müsse (can. 17 Konzil von Vienne). Im Spätmittelalter verlor die Kirche nicht nur teilweise die Verwaltungshoheit über das Kirchengut, sondern büßte auch die alleinige Kompetenz der geistlichen Gerichtsbarkeit in Vermögenssachen der Kirche ein. Die weltliche Jurisdiktion in Fragen des Kirchenguts konnte sich im 14. und 15. J h . außer in Angelegenheiten der Z e h n t e n weitgehend durchsetzen. Dies betraf vor allem den kirchlichen Grundbesitz, der gegenüber den aufsteigenden Territorialgewalten trotz der strengen Prinzipien des kanonischen R e c h t s nicht i m m e r erfolgreich verteidigt werden konnte. Ein N e u e r w e r b von Grundbesitz durch die Kirche wurde in den Städten durch die Amortisationsgesetzgebung von Städten und Landesherren eingeschränkt, die den Liegenschaftserwerb von Kirchen und Klöstern einer Pflicht zur Einholung der Z u s t i m m u n g weltlicher Behörden unterwarfen o d e r ihn sogar gänzlich verboten. Der H ö h e p u n k t der Amortisationsgesetze lag im 14. J h . Auf vielfache Weise haben spätmittelalterliche Rechtsentwicklungen dazu beigetragen, d a ß an der Schwelle des Reformationszeitalters das kirchlich gewidmete Vermögen häufig nicht Kirchengut w a r , das der ausschließlichen Verfügungsgewalt der Kirche unterstand. 3 . Das Kirchengut
im
Reformationszeitalter
Die Umwälzung der Kirchenverfassung durch die - * R e f o r m a t i o n des 16. J h . mußte auch zu einschneidenden Folgen für das Kirchengut führen. Entscheidend w a r , d a ß die lutherische ebenso wie die calvinistische Reformation nicht e t w a eine generelle Säkularisierung des Kirchenvermögens zur Folge hatte. Dies ist insofern bemerkenswert, als der
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Kirchengut
Gedanke einer umfassenden Säkularisation von Kirchengut keineswegs außerhalb des Horizonts der Zeitgenossen lag. Der katholische Herzog Bogislaw X. von Pommern säkularisierte 1523 ein pommersches Kloster - auf dem Augsburger Reichtstag 1525/26 legte Johann v. Schwarzenberg einen Plan vor, nach dem alle geistlichen Güter säkularisiert und der Verwaltung der Reichskreise unterstellt werden sollten. Das Reichsregiment sollte dann Zugriff auf den gesamten Fonds haben und aus ihm Bischöfe und Pfarrer besolden sowie Armenfürsorge betreiben. Zu einer solchen reichsrechtlichen Lösung für das Schicksal des Kirchenguts hätte es nur dann kommen können, wenn die Kirchenverfassung der protestantischen Territorien die alten Strukturen einer Bischofskirche bewahrt hätte. Fraglich konnte natürlich sein, ob nicht trotz des Übergangs von Territorialherren zum lutherischen oder reformierten Bekenntnis die katholische Kirche ihre kirchlichen Güter behalten und gegebenenfalls zurückfordern konnte. Nach langen Streitigkeiten garantierte § 19 des - • Augsburger Religionsfriedens von 1555, daß die Einziehung von Stiften, Klöstern und anderen geistlichen Gütern durch protestantische Reichsstände reichsrechtlich anerkannt wurde. Diese Garantie wurde im Westfälischen Frieden 1648 (-»Dreißigjähriger Krieg) wiederholt, wobei nunmehr als Stichjahr für die Aufteilung der Kirchengüter zwischen Katholiken und Protestanten der Zustand im Jahre 1624 genommen wurde. Obwohl die protestantischen Landesherren das in ihren Territorien gelegene Kirchengut nicht generell säkularisierten, kam es doch zu erheblichen Veränderungen bei der Zuordnung zu Rechtssubjekten, die man mit dem juristischen Begriff des Besitzwechsels zu erfassen suchte (Art. IV, §24 Instrumentum Pacis Osnabrugense). Auch die protestantischen Obrigkeiten erkannten im Prinzip an, daß das Kirchengut ein unentziehbares Stiftungsvermögen sei. Sie hielten es aber für möglich, Zuordnung und Zweckbestimmung innerhalb der Grenzen kirchlicher Aufgaben zu ändern. Für diese Veränderung kann man die Begriffe Innovation und Kumulation verwenden. Innovation war erforderlich, wenn ein kirchliches Rechtssubjekt unterging, z. B. ein Kloster nicht mehr besetzt und formell aufgehoben war. Die Klostergüter konnten dann etwa für die Dotierung von Schulen herangezogen werden, man konnte Universitäten damit austatten oder Klöster in Hospitäler umwandeln. Wenn für Kirchen und Schulen ausreichend gesorgt war, konnte man Kirchenvermögen auch 'zu gemeinen Landes Notdurft' (Luther, WA.B4, Nr. 1052) verwenden, wie schon von -»Luther ausdrücklich betont wurde. Insofern konnte dann doch eine echte Vermögenssäkularisation im Sonderfall als Einziehung zum landesherrlichen Kammergut stattfinden, wenn für die kirchlichen Aufgaben, zu denen Schulwesen und Armenwesen gerechnet wurden, ausreichend gesorgt war. Kumulation bedeutete die Zusammenfassung der vielfach sehr zersplitterten Vermögensmasse, z. B. der Seelgerätstiftungen an einzelnen Kirchen, zu größeren Vermögenseinheiten, entweder als echte Fusionierung oder nur durch Verwaltungsvereinheitlichung. Die Kumulation erfaßte die zahlreichen Benefizien, die nunmehr in einen gemeinen Kasten gelangten, aus dem der protestantische Pfarrer besoldet wurde. Das kanonistische Benefizialrecht mit der Vorstellung vom dinglichen Recht an einem Amt war damit im Kern getroffen; die Pfründe wurde zum öffentlich-rechtlichen Versorgungsanspruch des Pfarrgeistlichen. Man kann sagen, daß die Idee der Zentralisierung des Kirchenvermögens in einem gemeinen Kasten zu den originären Rechtsgedanken des evangelischen Kirchenrechts gehört, auch wenn man auf dem Begriff der Kirchenfabrik aufbauen konnte. Eine Zusammenfassung der Benefizien in einem solchen Kasten wurde zuerst in Wittenberg von -»Karlstadt durchgeführt; später wirkte als Vorbild die Leisniger Kastenordnung von 1523. Leisnig war eine kursächsische Stadt, in der der Rat ohne landesherrliche Bewilligung eine Ordnung zur Bildung eines gemeinen Kastens erließ, in den das gesamte örtliche kirchliche Stiftungsvermögen eingebracht wurde. Den Kasten verwalteten 10 Vorsteher oder Vormünder, die jährlich von der kirchlichen Gemeinde gewählt, also nicht von der
Kirchengut
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politischen Instanz des Rats eingesetzt wurden. Unter diesen Vorstehern sollten sich Edelleute, Bürger und Bauern befinden. Aus diesem Kasten sollten alle Aufgaben im Bereich von Kirche, Schule und Armenpflege in der Parochie Leisnig bezahlt werden. Die Kastenvorsteher kümmerten sich um die Armenfürsorge und führten eine Aufsicht über Pfarrer und Schulmeister. Im ganzen enthielt die Leisniger Kastenordnung wesentliche Elemente einer auf der Gemeinde beruhenden Kirchenverfassung. Die kursächsische Obrigkeit hat diese Strukturen auf Dauer nicht akzeptiert. Bei der Visitation durch Kursachsen 1529 wurde zwar die Institution eines gemeinen Kastens bestätigt, aber die Verwaltung des Kastens Angehörigen des Rats übertragen und damit das Prinzip der Gemeindewahl beseitigt. Nicht die demokratischen Elemente der Leisniger Kastenordnung, sondern die zentralisierende Zusammenfassung des Kirchenvermögens hat im späteren evangelischen Kirchenrecht typenbildend gewirkt. Das Kirchenvermögen wurde in den lutherischen Territorien nicht zum Eigentum der Kirchengemeinden; anders verhielt es sich zum Teil bei den Reformierten. Die Zusammenfassung des Kirchenvermögens konnte auch auf diejenige Weise erfolgen, daß man zwei Kasten bildete - Armenkasten und Schatzkasten. Der Armenkasten wurde für Zwecke der Wohltätigkeit verwandt, der Schatzkasten diente der Besoldung der Pfarrer und stand für die Baulasten zur Verfügung. Diese Zweiteilung wurde in Bugenhagens Braunschweiger Kirchenordnung 1528 vorgenommen, die für die protestantischen Teile Westfalens und die Hansestädte als Vorbild wirkte. Generell hat die Reformation im kirchlichen Vermögensrecht zentralisierend gewirkt. Das Benefizialvermögen blieb im wesentlichen für kirchliche und schulische Zwecke erhalten, während das Bischofsgut den Landesherren zufiel. Das Vermögen der Dom- und Stiftskapitel blieb zunächst bestehen, behielt aber nicht seine kirchliche Zweckbestimmung, da es zur Versorgung adliger Laien verwandt wurde. Als Träger von Kirchenvermögen hat das Bistum die Reformation nicht überdauern können. Dagegen wurde das Vermögen von Klöstern in einzelnen Territorien als Sondervermögen erhalten, so in Württemberg und besonders in Braunschweig-Calenberg (Hannover), wo eine besondere Verwaltung des Klosterfonds sich in der hannoverschen Klosterkammer bis zur Gegenwart erhalten hat. Ein besonderes Schicksal hatte das Kirchengut in Württemberg. In diesem Territorium war die Verfügungsgewalt des Landsherrn in bezug auf das Kirchengut schon in vorreformatorischer Zeit erheblich, da mehr als 40% der Pfründen unter das Patronat des Herzogs fielen. Als nun nach der Zeit österreichischer Herrschaft 1534 Herzog Ulrich zurückkehrte und das lutherische Bekenntnis durchgesetzt wurde, setzte sofort im Rahmen einer Visitation 1535-1536 eine umfassende Einziehung der Kirchengüter ein. Die Pfründner verloren ihre Benefizien und der Herzog setzte weltliche Beamte als geistliche Verwalter des Kirchenguts ein. Uberschüsse aus dem Kirchengut konnten ohne besondere Rechtfertigung für weltliche Zwecke verwandt werden, da das Kirchengut als Teil des fürstlichen Kammerguts betrachtet wurde. Die württembergische Praxis erkannte folglich nicht die grundsätzliche Bindung des Kirchenguts an fromme und mildtätige Zwecke an, die etwa in Kursachsen und Hessen festgehalten wurde; gegen Württemberg richteten sich deshalb schon 1537 Angriffe auf dem Bundestag des -»Schmalkaldischen Bundes. Uber die Verwendung des Kirchenguts wurde zunächst in der fürstlichen Rentkammer entschieden. Erst unter Herzog Christoph (1550-1568) kam es zu einer Wendung der württembergischen Kirchengutspolitik, die zu einer Angleichung an die übrigen protestantischen Territorien führte. Es wurde nunmehr die Verwaltung des Kirchenguts der Rentkammer entzogen und für das gesamte Herzogtum ein gemeiner Kirchenkasten gebildet, der von einem Kirchenrat als landesherrlicher Kirchenbehörde geleitet wurde. Damit wurde zum ersten Mal in einem protestantischen Territorium der größte Teil des Kirchenguts in einem einzigen Fonds zusammengefaßt - Kirchenkasten gab es in den anderen Territorien nur für den Bereich einer Stadt. Nur die Einkünfte der Klöster, die in evangelische Klosterschulen umgewandelt wurden (Maulbronn), blieben außerhalb des Kirchenkastens; allerdings wurde auch hier aus den Uberschüssen ein Mannsklosterdepositum gebildet, das der Herzog für weltliche Zwecke verwenden konnte. Die Mittel des gemeinen Kirchenkastens sollten hingegen nach der Großen Kirchenordnung Württembergs von 1559 für kirchliche Zwecke reserviert werden; mit ihnen wurden Wohltätigkeitsaufgaben wahrgenommen und vor allem die Pfarrbesoldung finanziert, die jetzt nicht mehr von einem Pfründenertrag abhängig war. Die kirchliche Zweckwidmung des Kirchenkastens wurde
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Kirchengut
allerdings im 17. und 18. Jh. von den württembergischen Herzögen nicht mehr beachtet, so daß etwa unter Herzog Eberhard Ludwig (1677-1733) der aufwendige Hofstaat zum Teil mit dem Kirchengut finanziert wurde. Jedoch blieb die organisatorische Trennung des Kirchenguts vom staatlichen Vermögen bis in die napoleonische Zeit erhalten; erst König Friedrich I. hat 1806 das geistliche Gut mit den übrigen Staatsfinanzen vereinigt. 4. Das Kirchengut nach dem Reichsdeputationshauptschluß des Kirchenguts in Deutschland im 19. und 20. Jh.
und die
Rechtsstellung
Die konfessionelle Spaltung Deutschlands seit dem 16. J h . führte dazu, daß das Kirchengut der mittelalterlichen Kirche auf die beiden Religionsparteien aufgeteilt wurde und nach den Garantien des -»Augsburger Religionsfriedens sowie des -»Westfälischen Friedens der Zuordnung zur berechtigten Konfession nicht entzogen werden durfte. Das Reichsrecht des Heiligen Römischen Reiches wies das Kirchengut einer Religionspartei zu, schützte es aber nicht vor Entfremdung durch eine konfessionell übereinstimmende Staatsgewalt, sondern nur vor Umwidmungsakten durch konfessionsfremde Herrscher. Die Rechte der Religionsparteien wurden durch die Territorien wahrgenommen, so im Reichstag durch das Corpus evangelicorutn und das Corpus catholicorum (vgl. T R E 8,584,1 ff.). Innerhalb des Territoriums g a b es aber keine Garantie des Kirchenguts gegenüber Eingriffen von Herrschern. Im Bereich des protestantischen Deutschland hat im 18. J h . der territorialistische Kirchenbegriff (-»Kirchenregiment, Landesherrliches) dazu beigetragen, das Kirchengut nur mehr als Sondervermögen des Staats zu verstehen. Dagegen bot das Reichsrecht keinen Schutz. Jedoch kam es kurz vor dem Ende des Reiches noch zu einer reichsgesetzlichen Regelung der Stellung des Kirchenguts, die zwar nur als Wiederholung der Normen des Westfälischen Friedens gedacht war, jedoch in der Folgezeit nach Auflösung des Reiches als eine Art grundrechtlicher Garantie der Erhaltung wesentlicher Teile des Kirchenguts für die öffentlichen Religionsgesellschaften gedeutet wurde. Es handelt sich um S63 des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803: „Die bisherige Religionsübung eines jeden Landes soll gegen Aufhebung und Kränkung aller Art geschützt sein; insbesondere jeder Religion der Besitz und ungestörte Genuß ihres eigentümlichen Kirchenguts auch Schulfonds nach der Vorschrift des Westphälischen Friedens ungestört verbleiben." Neben dieser Garantiebestimmung des $ 63 stand allerdings im Reichsdeputationshauptschluß auch $ 35, wonach alle Güter der fundierten Stifte, Abteien und Klöster in die Disposition der Landesherren gelangten. Dadurch war klargestellt, daß im Bereich der katholischen Reichskirche das umfangreiche Vermögen der Stifte, Abteien und Klöster säkularisiert werden konnte und nur das örtliche Pfarrkirchenvermögen für die Kirche garantiert war. Im $63 war durch die Bezugnahme auf den Westfälischen Frieden ausgesprochen, daß man reichsrechtlich das Vermögen der Religionsparteien garantieren wollte; nach 1806 wurde die Norm zur Grundlage einer Vermögensgarantie für die öffentlichen Religionsgesellschaften in den Einzelstaaten. Damit wurde $63 zur zeitlich ersten Bestimmung des modernen deutschen Staatskirchenrechts. Der Begriff des Kirchenguts war in dieser Bestimmung nicht definiert worden; jedoch erfolgte dies in den Verfassungen der deutschen konstitutionellen Monarchien des 19. Jh. Maßgebend wurde eine Regelung der bayerischen Verfassung von 1818, wonach das wegen seiner Zweckbestimmung der kirchlichen Verfügungsmacht unterstehende Gut durch die Garantie erfaßt sei (-»Bayern 3). Als entsprechende Zwecke erkannte die bayerische Verfassung den Kultus, den Unterricht und die Wohltätigkeit an. Durch das Erfordernis kirchlicher Zweckbestimmung betraf die Garantie nicht jedes Objekt im Eigentum eines Kirchenverbands, während andererseits zum Kirchengut auch diejenigen kirchlichen Zwecken gewidmeten Gegenstände gehörten, bei denen der formale Eigentumstitel nicht der Kirche zustand. Die Formulierungen der bayerischen Verfassung zur Erfassung des Kirchengutes wurden in anderen Verfassungstexten übernommen; z.B. von der preußischen Verfassung von 1850 (-»Preußen). Die seit dem frühen 19. Jh. tradierte Garantie des Kirchenguts wurde zu gemeindeutschem Staatskirchenrecht und fand eine neue Formulierung in Art. 138 Abs. 2 Weimarer Reichsverfassung-. „Das Eigentum und andere Rechte der Religionsgesellschaften und religiösen Vereine an ihren für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögen werden gewährleistet." Auch die 1919 gefundene Formulierung stellte nicht auf das Eigentumssubjekt, sondern auf die Zweckbestimmung beim Kirchengut ab. Über Art. 140 GG ist Art. 138 Weimarer Reichsverfassung auch heute geltendes Recht der Bundesrepublik Deutschland. Das in ihm zum Ausdruck kommende korporative Freiheitsrecht der Kirchen steht nicht mehr wie im
Kirchengut
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19. Jh. nur den als Korporationen öffentlichen Rechts organisierten Kirchen zu, sondern allen, auch den vereinsrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften.
5. Heutiges katholisches
Kirchenrecht
Für die katholische Weltkirche gilt das Kirchengut, die bona ecclesiae temporalia, auch heute als ein Bereich, der in die Regelungskompetenz des kanonischen Rechts fällt. Der Codex Iuris Canonici von 1983 widmet dieser Materie eines von insgesamt sieben Büchern mit insgesamt 56 Canones (can. 1254-1310). Die im protestantischen Bereich seit dem 16. Jh. vorherrschende Einschränkung des Begriffs des Kirchenguts durch die Zweckbestimmung wurde im katholischen Kirchenrecht niemals übernommen, das für alle bona temporalia der Kirche gilt; so etwa auch für Objekte in einem kirchlichen Museum. Auch das heutige katholische Kirchenrecht verteilt das Kirchengut auf verschiedene juristische Personen (can. 1256), gewährt jedoch dem Papst ein oberstes Verwaltungs- und Verfügungsrecht auch bezüglich des nicht im Eigentum des Apostolischen Stuhls stehenden Vermögens (can. 1273). Die Fähigkeit der Kirche zum Vermögenserwerb steht ihr nach dem Codex als genuines Recht (iure nativo, can. 1254) zu und ist folglich nicht von einer Gewährung durch eine staatliche Rechtsordnung abhängig. Aufgrund ihrer eigenen angeborenen Rechte kann die Kirche von den Gläubigen Beiträge für das Kirchenvermögen fordern (can. 1260). Die Veräußerung von Kirchenvermögen ist auch im heutigen kanonischen Recht meist nicht allein dem Leiter der juristischen Person möglich, der das zu veräußernde Eigentum zusteht, sondern bedarf zusätzlich besonders geregelter Zustimmungsakte; künstlerisch und historisch wertvolle Gegenstände des Kirchenvermögens können nur mit Zustimmung des Papstes veräußert werden (can. 1292, §2).
6. Ergebnis Die zweitausendjährige Geschichte des Kirchenguts zeigt, daß in der Geschichte des Christentums die res ecclesiasticae stets von großer Bedeutung gewesen sind und sogar zur Charakterisierung von Epochen der Kirchengeschichte dienen können. Der Begriff der Kirche läßt sich historisch ohne eine Bezugnahme auf das Kirchengut nicht erfassen. Dabei war die Vermögensfähigkeit der Kirche im Grunde stets anerkannt, wenn es auch in verschiedensten historischen Konstellationen immer wieder Unklarheiten über die rechtliche Konstruktion des Eigentums und des Eigentumssubjekts gab. Die Bindung des Kirchenguts an geistliche Zwecke wurde meist betont und führte dazu, daß man die Veräußerungsmöglichkeiten einschränkte und als Rechtsträger juristische Personen betrachtete. Dieser zentrale Aspekt der Geschichte des Kirchenguts bedeutet, daß sie zur Entwicklung des Begriffs der juristischen Person ganz wesentlich beigetragen hat. Wenn moderne Verfassungen das Recht der Kirche auf ihr Vermögen als korporatives Grundrecht garantieren, respektieren sie damit die Kirche als eine von staatlicher Bevormundung unabhängige Organisation, die neben dem Staat zur Erfüllung von Aufgaben praktischen Christentums in der Gesellschaft berufen ist. Nicht nur das Ideal christlicher Armut, sondern auch die Notwendigkeit der Bildung von Kirchengut gehört zur christlichen Tradition. Literatur Allgemein: Hans Erich Feine, Kirchl. Rechtsgesch. Die kath. Kirche, Köln/Wien 5 1972, § 14 IV, S 20, $ 30 III, $ 33 II (Lit.). - Hans Liermann, Hb. des Stiftungsrechts, Tübingen, 1 1963. - Willibald M. Plöchl, Gesch. des Kirchenrechts, Wien, I 2 1960, II 2 1962, V 1969 (Lit.). - W.J. Sheils/Diana Wood (Hg.), The Church and Wealth, 1987 (SCH[L]19). Zu 1.1. u. 1.2.: Giuseppe Bovini, La Proprietà ecclesiastica e la condizione giuridica della Chiesa in età preconstantiniana, Mailand 1948 (Pubi. dell'Istituto di diritto romano, Università di Roma 2 8 ) . - JeanDauvillier, LesTempsapostoliques, lersiècle, 1970 (HDIEOII) 609-636 (Lit.).-Patrick W. Duff, Personality in Roman Private Law, Cambridge 1938. — Othmar Heggelbacher, Gesch. des friihchristl. Kirchenrechts, Freiburg (Schweiz) 1974. - Gerda Krüger, Die Rechtsstellung der vorkon-
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Kirchengut
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Peter Landau Kirchenhoheit -»Kirchenregiment, Landesherrliches, -»Kirchenverfassungen Kirchenjahr 1. Einleitung 2. Kirchenjahr und Zeiterfahrung 3. Theologie und Ausformung des Kirchenjahres 4. Praktisch-theologische Perspektiven (Literatur S. 595)
1. Einleitung Wie alle geschichtlich gewachsenen Gestalten christlicher Frömmigkeit ist auch das Kirchenjahr (Name erstmals belegt bei dem lutherischen Pfarrer Johannes Pomarius 1589; andere Bezeichnungen: Année chrétienne [17. Jh.]; Christian Year\ Année spirituelle [Ende 18. Jh.]; Année liturgique [19. Jh., Dom Guéranger]; Jahr des Heils [P. Parsch]; Herrenjahr [J. Pinks, Ae. Lohr]) ständigem Wandel unterworfen, der jedoch in der Gegenwart den Charakter einer Krise gewinnt: Zum einen verliert es in seiner überlieferten Gestalt deutlich an gesamtgesellschaftlicher Plausibilität (s. u. 2.8; 4.1), zum anderen wird sein Stellenwert im Gefüge christlicher Frömmigkeit selbst problematisch (s. u. 2.3; 2.7; 4.1). Im folgenden wird zuerst nach den Rahmenbedingungen und strukturierenden Elementen der christlichen Jahresfeier, in der Weltzeit und liturgische Zeit mit der Lebenszeit zusammengehalten werden, gefragt (2), bevor Theologie und Ausformungen des Kirchenjahres behandelt (3) und praktisch-theologische Perspektiven angesprochen werden (4). 2. Kirchenjahr
und
Zeiterfahrung
2.1. Kosmisch-vegetative Zyklen. Menschliche Existenz ist nicht ohne Zeiterfahrung denkbar, und diese ist zutiefst von kosmischen und vegetativen Zyklen bestimmt, die aller kulturellen Gestaltung vorausliegen. Dabei scheint der Wechsel von Tag (Wachsein) und Nacht (Schlaf) die ursprüngliche und grundlegende Erfahrung zu sein, in der sich -»Zeit
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sowohl dem Bewußtsein des einzelnen wie der Kultur vermittelt (Aschoff). Menschlicher Zeiterfahrung eignet darum von vornherein ein zyklisches M o m e n t , das sich bestätigt, wo M o n d - und Sonnenzyklus wahrgenommen und in Beziehung sowohl zueinander wie zur Einheit des Tages gesetzt werden: Zeit wird erfahrbar in der verläßlichen, gleichsam ,von außen' determinierten und somit vorausschauende Planung ermöglichenden Wiederkehr gleicher bzw. ähnlicher kosmischer und naturhafter Erscheinungen (hell und dunkel, Mondphasen, Jahreszeiten). Die Tatsache, daß M o n d - und Sonnenzyklus nicht kompatibel sind, eröffnet die Möglichkeit unterschiedlicher kalendarischer Festlegungen und Zuweisungen (Entwurf lunarer, solarer und lunisolarer -»Kalender). O b die Woche, die sich in differierender Ausprägung in verschiedenen Kulturen nachweisen läßt, durch die Mondphasen motiviert ist, scheint zweifelhaft; sie weist wohl eher auf sozioökonomische Bedürfnisse zurück (Auf der M a u r 20). O b w o h l in sich ebenfalls zyklisch organisiert (mit einem hervorgehobenen T a g als Anfangs- bzw. Endpunkt), fügt sie sich nur schwer in die lunaren bzw. solaren Zyklen ein. 2.2. Überlagerung von Zeitkreisen. Auch wenn der Ursprung der Feste und Festzeiten des Kirchenjahres nicht in jedem Fall historisch bis ins letzte erhellt werden kann, sind die Bezüge zu den genannten Gliederungen menschlicher Zeiterfahrung und den sie bedingenden kosmisch-vegetativen Zyklen doch unübersehbar. Dabei erscheint das Kirchenjahr als ein komplexes Gefüge von Begehungen, die miteinander einen Zeitraum konstituieren und strukturieren, in dem sich unterschiedlich motivierte, zum Teil miteinander konkurrierende Zeitkreise schneiden und überlagern: (a) Die Kette der Sonntage — die im Rhythmus der Siebentagewoche wiederkehrende Gedächtnisfeier der Schöpfung und des Leidens, des Todes und der Auferstehung Jesu - entzieht sich sowohl der Einordnung in den solaren wie den lunaren Zyklus; sie liefert dem christlichen Jahr die Grundbausteine und bestimmt seine Grundgestalt. (b) Osterfeier und Osterfestkreis fügen sich infolge der Fixierung des Osterdatums auf den Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond (endgültig Nizäa 325, vgl. Huber 61 ff) in diese Kette ein; die für das Passa Israels geltende Orientierung am lunaren Zyklus wird damit sowohl aufgenommen als auch durchbrochen. (c) Weihnachten und Epiphanie mit ihren Vorbereitungs- und Folgezeiten (auch Folgefesten) orientieren sich dagegen am solaren Kalender. Durch ihre Bindung an feste Daten sprengen sie den Wochenrhythmus und kollidieren in gewisser Weise mit dem Osterfestkreis. Inhaltlich werden sie durch das dem hellenistischen Kulturkreis entnommene Natalemotiv (Auf der Maur 157.168; vgl. 3.2) mit geprägt. (d) Einem vierten Kreis vergleichbar, überlagert das Jahr der Heiligen die drei anderen Kreise, dabei gleichfalls dem solaren Kalender folgend. Inhaltlich verbindet sich hier das Natalemotiv mit dem Passamotiv, was sich besonders am Märtyrergedenken aufzeigen läßt: Gefeiert wird der Todestag des Märtyrers, der durch seine Bluttaufe Anteil am Tode Christi gewinnt, und zwar als sein dies natalis zum ewigen Leben. (Dem Begriff ist diese geistliche Deutung wohl erst sekundär zugewachsen; vgl. dazu Alfred Stuiber, Geburtstag: RAC 9 [1976] 217-246, aber auch schon Hippolyte Delehaye, Les origines du culte des martyrs, 2 1933 [SHG 20] 35 f) (e) In einer deutlichen Beziehung zu den kosmisch-vegetativen Zyklen stehen schließlich jene Tage und Zeiten, die sich (wie z.B. die Quatember; vgl. 3.6.2.2) auf vorchristliche Begehungen im Zusammenhang von Aussaat und Ernte zurückführen lassen bzw. die heute noch (oder wieder) in diesem Sinne begangen werden (Erntebitt- und -danktage). Wie solche Bindung an den vegetativen Zyklus auch heilsgeschichtlich motivierten Festen von ihrem Ursprung her bleibend anhaftet (und darum je und je aktualisiert werden kann), wird am Beispiel des Passa- bzw. Osterfestes gezeigt werden (3.2). 2.3. Strukturierung der Zeitebenen. Das Kirchenjahr in seiner überlieferten Gestalt ist auch dadurch auf die kosmischen Zyklen bezogen, daß es den Tageszyklus (Tagzeitengebet), den Wochenzyklus (Woche als «kleines Kirchenjahr') und den Jahreszyklus strukturiert und damit auf drei Zeitebenen zugleich Gestalt gewinnt (auch der M o n a t als weitere Zeitebene spielt eine gewisse, freilich untergeordnete Rolle). Dabei kehren auf allen drei Zeitebenen analoge Strukturen und Bedeutungszuweisungen (z. B. das Lichtmotiv) wieder und verbinden sich mit Motiven, die allgemein-menschlichem Zeiterleben entstammen (z.B. die Nacht als Zeit der Bedrohung, der Sünde, der Gottferne, aber auch der
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Erwartung, des Kampfes, des transitus; vgl. Matutin, Vigilgottesdienste, Osternacht). Wandlungen, gar Verluste auf einer dieser Zeitebenen betreffen notwendig auch die anderen, führen zu einer Modifizierung des Festcodes im ganzen. In diesem Zusammenhang sind sozialpsychologische Modelle von Bedeutung, die den Versuch 5 unternehmen, die verschiedenen Zeitebenen in ein Verhältnis zu unterschiedlichen Sozialebenen bzw. sozialen Aktivitäten zu setzen (Kolaja, Doob; vgl. Rau 92): So soll der Tageszyklus der Individualebene und dem Arbeitsrhythmus, der Wochen- bzw. Monatszyklus der Gruppenebene (Familie, Vereine, Kirchengemeinde) und der Jahreszyklus der Kulturebene (als der Ebene öffentlich relevanter Ereignisse) entsprechen. Dabei kann es zur Verlagerung von Verhaltensformen von einer Zeitebene 10 auf die andere kommen; tageszyklisches Verhalten kann in wochenzyklisches, wochenzyklisches in monatszyklisches usw. verändert werden, was zugleich die Intervalle modifiziert, in denen sich bestimmte Handlungen wiederholen. Vermutungen, in der Gegenwart sei auch religiös-rituelles Verhalten generell von solchen Intervallverschiebungen (in Richtung auf eine jahreszyklische Beteiligung; vgl. Rau) betroffen, orientieren sich ausschließlich an traditionellen volkskirchlichen Beteilii j gungsstrukturen und dem für diese typischen Defizit an sozialen Kontakten; sie übersehen, was sich im Rahmen anderer religiöser Sozialformen (Freikirchen, Basisgemeinschaften u. a.) vollziehen kann und tatsächlich vollzieht.
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2.4. Soziokulturelle Determinanten. Obwohl durch kosmisch-vegetative Zyklen vorstrukturiert, werden die 'Wahrnehmungsmuster und gesellschaftlich wirksamen Gliederangen menschlicher Zeiterfahrung doch auch in beträchtlichem Umfang durch kulturelle Festlegungen bestimmt und sind als solche dem Wandel ausgesetzt. Das gilt zum einen für diese Gliederungen selbst: Beginn und Dauer des Jahres, seine Untergliederungen (Jahreszeiten, Monate, Wochen) sowie Abgrenzung und Einteilung des Tages können durchaus unterschiedlich geregelt sein. Das gilt erst recht für die Bedeutungen, die eine Kultur diesen Gliederungen bzw. den Festpunkten und -Zeiten, in denen sie sich ausdrücken, zuweist: Kulturelle Übergänge (z. B. von einer nomadischen zu einer agrarischen Gesellschaft, vgl. 3.2) sind in der Regel auch da, wo man an den überkommenen Festpunkten und -zeiten festhält, mit einem Bedeutungswandel verbunden. So treten zu den .äußeren', aus den kosmisch-vegetativen Zyklen rührenden Bestimmungen sozialer Zeiterfahrung und -gestaltung solche, die im Vorgang „gesellschaftlicher Konstruktion der Wirklichkeit" (Berger/Luckmann) wurzeln und damit die prinzipielle Bedingung darstellen für einen die zyklischen Erfahrungen ergänzenden, Gerichtetheit und Irreversibilität, auch Wandel und Entwicklung einschließenden Zugang zum Zeitphänomen. Geburtsund Todestage, Ereignisse der politisch-nationalen Geschichte, Daten und Etappen menschlicher Freiheitsgeschichte(n) können jetzt in die zyklisch strukturierten Kalender eingetragen und in ihrer jährlichen Wiederkehr erinnert und begangen werden. Die darin gegebene Spannung zwischen der Determiniertheit durch kosmisch-vegetative Zyklen und der Indeterminiertheit soziokultureller Entwicklungen schlägt sich auch in Geschichte und Gestalt des christlichen Festjahres nieder. 2.5. Kult und Kalender. Das Kirchenjahr als ein zyklisch strukturiertes Gefüge von Begehungen, die unterschiedlichen Zeitkreisen (s. o. 2.2) und Zeitebenen (s. o. 2.3) zugeordnet sind, erweist sich so als ein Festcode, der die Wiederkehr bestimmter Festpunkte und -Zeiten regelt. Solche Kalender besitzen ursprünglich eine unmittelbar kultische Bedeutung. In zahlreichen frühen Kulturen und ihren religiösen Deutungssystemen kommt dem kultischen Gedächtnis der göttlichen Gründungstat, die in der Vorzeit Welt, Zeit und Leben aus sich entließ, eine konstitutive Rolle zu. Um den Bestand von Welt und Leben, den Fortgang der Zeit auch weiterhin zu sichern, muß diese Gründungshandlung je und je erneuert werden. Solche Erneuerung leistet der Kult: Er ist Abbildhandlung, in der die göttliche Urhandlung immer neu zur Gegenwart und zur Wirkung kommt. Dabei werden Weltlauf und kultisches Handeln als Einheit erlebt; sie verhalten sich zueinander wie zwei Hälften eines Bildes (Schaeffler). Grundlegend für das hier wirksame, vom neuzeitlichen Zeitverständnis nicht unerheblich abweichende Verhältnis zur Zeit ist der Begriff der Arche (Hübner): „Eine Arche ist eine Ursprungsgeschichte. Irgendeinmal hat ein numinoses Wesen zum ersten Mal (rd npdha) eine bestimmte Handlung vollzogen, und seitdem
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wiederholt sich dieses Ereignis identisch immer wieder" (135). In solcher Weise werden z. B . der Beginn eines Zyklus und die Übergänge von einer Phase des Zyklus in eine andere begangen; häufig wird dabei das Schicksal einer Gottheit, in dem die erfahrbaren Vorgänge in der Natur gleichsam eingeschlossen und vorgebildet sind, nachvollzogen und die Festgemeinschaft diesem Geschick eingefügt. Kollektive Ubergangsriten verbürgen so die Wiederkehr der lebenspendenden Rhythmen von hell und dunkel, Sommer und Winter, Ernte und Aussaat usw. Aber nicht nur Naturerscheinungen, auch die Psyche des Menschen, sein gesellschaftliches Leben und seine Geschichte werden solchermaßen durch Archat vorgeprägt und geregelt; selbst wichtige politische Ereignisse werden häufig „mit ausdrücklicher Berufung auf eine Ursprungsgeschichte, eine Arche, eingeleitet" (137). Das bedeutet: Nur dort, w o die jeweilige Ursprungshandlung in gemessenen Abständen begangen wird, bleibt sie auf Dauer in Kraft. Selbst noch in säkularisierter Gestalt enthalten solche Begehungen Momente der Wiederholung und Vergegenwärtigung und tragen damit rituellen Charakter. Wo nun der Versuch unternommen wird, eine Arche historisierend zu entfalten oder mehrere solcher Archai in einer Geschichte miteinander zu verbinden, entstehen heilsgeschichtliche Entwürfe, die wiederum auf den Festcode bzw. Festkalender zurückwirken. Das läßt sich wieder an der Entwicklung der Osterfeier bzw. des Osterfestkreises exemplarisch zeigen: Umfaßt die Feier ursprünglich „die Einheit der Heilsgeheimnisse, d.h. näherhin die Einheit von Leiden, Tod und Auferstehung" (Auf der Maur 69), so führt - wohl zuerst in Jerusalem — das Bestreben, „das Leiden, Sterben und die Verherrlichung des Herrn chronologisch und lokal möglichst genau nachzuerleben und nachzuvollziehen", spätestens im 4. Jh. zu einer Auseinanderfaltung der „alte(n) Gesamtschau des Christusmysteriums" (a. a. 0 . 7 9 ) : Aus der Ostervigil als dem Kern und Zentrum der christlichen Osterfeier wachsen das Triduum Sacrum und die Heilige Woche; zugleich kommt es zur historischen Thematisierung der Pentekoste (der Osterzeit) und zur Ausbildung der vorösterlichen Büß- und Fastenzeit, der Quadragesima (a.a.O. 70.77f.79ff). 2.6. Kalender und Gedächtnis. Das Kirchenjahr als Festcode partizipiert demnach wenn auch in der ihm eigenen, heilsgeschichtlich akzentuierten Weise - an der Mehrschichtigkeit kultischer Kalender, in denen sich häufig folgende Ebenen miteinander verbinden: (a) der natürliche, kosmisch-vegetativ bedingte Wechsel, der in der zyklischen Wiederkehr bestimmter Festpunkte und -Zeiten seinen Ausdruck findet und in einem Kalender kodifiziert werden kann; (b) die kultisch-religiöse Qualifizierung dieses Wechsels, die den genannten Phänomenen Bedeutungen zuweist, ihnen Namen gibt, sie personifiziert (Natur-, Himmels-, Erd- und Jahreszeitengötter u. ä.) bzw. sie als von einem Schöpfergott geschaffene, von ihm abhängige Erscheinungen erfährt und deutet; (c) die Verbindung der so qualifizierten Festpunkte und -Zeiten mit geschichtlichen (bzw. als geschichtlich aufgefaßten) Ereignissen, so im jüdisch-christlichen Bereich mit der Heilsgeschichte Israels, der Geschichte Jesu Christi und der Geschichte der Kirche. Alle drei Ebenen werden dabei durch den Begriff des Gedächtnisses zusammengehalten, der einerseits auf zyklischen Erfahrungen (der determinierten Wiederkehr des Gleichen bzw. Ähnlichen) gründet, andererseits überhaupt erst freie Entscheidungen in nichtdeterminierten Situationen ermöglicht: „Gedächtnis ist jene Instanz, die aufgrund früherer Erfahrungen bei Entscheidungen in späteren Situationen notwendige Informationen bereitstellt"; es kann deshalb nur „in einer Welt, die zwischen völliger Determiniertheit und völliger Indeterminiertheit liegt", vorgefunden werden (Pöppel 375.378). In einer völlig determinierten Welt wäre Gedächtnis überflüssig; in einer völlig indeterminierten Welt, in der sich keinerlei semantische, logische, operationale, normative u. a. Bezüge mehr zu vergangenen Situationen herstellen ließen, verlöre es jeden Sinn. Es beruht auf Lernvorgängen und impliziert damit das Moment der Wiederholung. Indem zyklische Kalender die oben (a-c) genannten Phänomene und die ihnen zugewiesenen Bedeutungen codifizieren und im kollektiven Gedächtnis der Kultur festhalten, ermöglichen sie es, solche Bezüge herzustellen. Welt, Zeit und Leben werden so begehbar in einem doppelten Sinn: Indem der Festcode dazu anleitet, bestimmte, bedeutungsvolle Festpunkte und -Zeiten zu begehen, hält er lebenswichtige, rettende Erfahrungen lebendig
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und erlaubt so auf Z u k u n f t gerichtetes Handeln. Auch das Kirchenjahr kann in diesem Sinne sowohl als Ergebnis von Lernprozessen wie als Lernvorschrift begriffen werden, die dazu anleitet, semantische und andere Bezüge zwischen dem überlieferten Glaubenswissen und der jeweils aktuellen Situation herzustellen (vgl. u. 4.3.1).
2.7. Lineares contra zyklisches Denken? Nun hat man freilich versucht, die Phänomene zyklischer Zeiterfahrung, die sich religionsgeschichtlich zuerst in den Festkalendern früher Kulturen manifestieren, auf ein besonderes zyklisches Denken zurückzuführen; und dem hat man dann pauschal „das biblische Denken" entgegengesetzt, das mit einer nichtzyklischen, linearen, zielgerichtet-eschatologischen und im eigentlichen (d. h. dem modernen Verständnis von Historie verpflichteten) Sinne geschichtlichen Erfahrung und Vorstellung von Zeit verbunden sei. Entsprechend wurde alles Zyklische mit -» Mythos bzw. -»Naturreligion und alles Lineare mit (Heils- und Freiheits-) Geschichte verbunden, wobei man das eine im Griechischen bzw. in der griechisch-römischen Antike, das andere im Semitischen bzw. in der jüdisch-christlichen Bibel lokalisieren zu können glaubte - so vor allem Thorleif Boman, aber auch Gershom Scholem und andere. Hubert Canzik hat indes nachweisen können, daß Bomans Verständnis des griechischen Denkens - d u r c h Oswald Spenglers Untergangdes Abendlandes vermittelt-auf Nietzsches Heraklit-Interpretation (Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen) zurückgeht, die die „reiche und subtile Tradition über Zeit, Fortschritt und Geschichte" von Anaximander und Xenophanes bis Plotin und Boethius vernachlässigt hat (282). Bei der Polarisierung von vorgeblich griechisch-zyklischem und hebräisch-linearem Denken bleiben zudem alle Elemente zyklischer Zeiterfahrung und Festgestaltung im Alten Testament unbeachtet: hebr. hag („Fest") z.B. hängt mit „sich drehen", „kreisförmig sein" zusammen und kann „ursprünglich den feierlichen Endpunkt des Jahreszyklus bzw. den Neubeginn bezeichnet" haben (ThWAT 2, 73 l f ) .
Erweist sich so die kulturmorphologische Polarisierung eines zyklisch-mythischen Denkens „der" Griechen und eines linear-geschichtlichen Denkens „der" Juden und Christen auch als unhaltbar, so hat sie doch - kräftig verstärkt durch das Programm der „Entmythologisierung" - zum theologischen Desinteresse an heortologischen Fragen und mittelbar zur Krise einer am Kirchenjahr orientierten Frömmigkeitspraxis (vgl. o. Abschn. 1) beigetragen. Angesichts der Folgen, die die Mißachtung und Beeinträchtigung zyklischer Prozesse in der Natur gegenwärtig zeitigt (UmWeltkrisen), scheint es nicht nur heortologisch, sondern auch lebenssachlich geboten, auf das Ineinanderverwobensein von Elementen zyklischer und linearer Zeiterfahrung innerhalb aller Traditionen, die unseren Festkalender beeinflußt haben, zu achten: Es gibt keine Festkalender ohne zyklische Elemente, mögen die einzelnen Feste nun kosmisch, vegetativ oder heilsgeschichtlich begründet sein. 2.8. Nivellierung der Zeiterfahrung. Die Krise des Kirchenjahres (vgl. o. 1; 2.3; 2.7; u. 4.1) wird verschärft durch tiefgreifende Entwicklungen, die die Weise der Zeiterfahrung selbst betreffen: Als Folge der -»Industrialisierung zeichnet sich eine weitreichende Nivellierung strukturierter, bestimmten biologischen, kosmischen und sozialen Rhythmen korrespondierender Zeiterfahrung zugunsten eines quantifizierbaren, gleichförmigen Zeitflusses ab. Dabei werden kosmische Zyklen, biologische Rhythmen, aber auch kulturell überlieferte Gliederungen und Abläufe überspielt: So wie die Nacht zum Tage gemacht werden kann (und unter den Bedingungen der industriellen Produktion gemacht werden muß), wie gleichermaßen der Wechsel der Jahreszeiten an Bedeutung verliert, wird auch der Rhythmus von -»Arbeit und -»Muße technisch-ökonomischem Kalkül unterworfen. Zeit wird zur Ware, zum Tauschobjekt innerhalb des ökonomischen Systems: Bestimmte Leistungen können in ein Verhältnis zu bestimmten Zeitquanten gesetzt und so innerhalb eines Zeit-Leistungs-Koordinatensystems bewertet werden. Durch immer exaktere Zeitmessungsmaschinen werden alle in die gleiche Einheitszeit eingebunden. Hinzu kommt, daß Erfahrungen und Erlebnismöglichkeiten, die ursprünglich an bestimmte, zyklisch wiederkehrende Punkte und Zeiten im Jahreslauf gebunden waren, nun prinzipiell jederzeit verfügbar sind und auf Abruf bereitstehen. Mit der schwinden-
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den Einsicht in Notwendigkeit und Fähigkeit zeitweiligen Verzichts auf solche Erfahrungen (»Fasten' als freiwilliges, bedeutungsvolles .Loslassen' von Nahrung, Schlaf, Arbeit u.a.) schwindet auch das Bedürfnis, die Wiederkehr bzw. den Wiedergewinn solcher Möglichkeiten ausdrücklich zu feiern. Von solcher Nivellierung wird schließlich auch die -•Freizeit betroffen, die ohne qualifizierende, sinngebende Festpunkte leicht zur ,Leerzeit' wird und gleichfalls Warencharakter gewinnt. Solche Entwicklung erscheint zum einen äußerst problematisch im Blick auf das, was die biologische Rhythmusforschung (Aschoff u. a.) an Ergebnissen und Vermutungen vorzulegen hat: Wenn die Art und Weise, wie biologische Systeme mit ihrer Umwelt kommunizieren, von spezifischen, systemeigenen Schwingungen und den darin auftretenden Intervallen bestimmt wird, kommt der Korrespondenz von biologisch fixierter Systemrhythmik und Umweltzyklen eine entscheidende Bedeutung zu. Die beschriebene Nivellierung der Zeiterfahrung könnte sich hier als ein Störfaktor von erheblichen Konsequenzen erweisen.
Zum anderen ist schon unserem Alltagswissen gegenwärtig, daß Zeit der Strukturierung bedarf, um erlebt werden zu können. Solche Strukturierung ist kein Akt formaler Gliederung bzw. Quantifizierung, sondern hat etwas mit der Zuweisung von Sinn zu tun: Zeitwahrnehmung wird von den Bedeutungen geleitet, die Individuen oder Gruppen mit bestimmten Ereignissen und Empfindungen in der Zeit zu verbinden vermögen. Es sind die Höhepunkte intensiven, bedeutungsvollen Erlebens, die Lebens-Zeit als einen sinnvollen, strukturierten Erfahrungszusammenhang allererst hervorbringen (vgl. u. 4.2). In dieser Hinsicht sind (zunächst subkulturell wirksame) Tendenzen von Bedeutung, die der beschriebenen Nivellierung entgegenzusteuern versuchen (Angelus A. Häußling weist in diesem Zusammenhang auf die „Feierfreude der Jugend" hin, „deren Lebensstil auf die Gelöstheit des Festes . . . hinzielt", das das „Dasein transzendiert"[Fest 210]). Zum dritten wird das sog. neuzeitliche, an der Vorstellung eines gleichförmigen, kontinuierlichen, quantifizierbaren Zeitflusses orientierte Zeitverständnis samt seinen technisch-ökonomischen Derivaten auch durch bestimmte Entwicklungen in der Physik selber in Frage gestellt: Zeit gilt hier nicht länger als das „ideale Kontinuum"; sie kann nicht mehr ohne Anfang und Ende gedacht werden (Wheeler) und gehört mit in das hinein, was vom Programm einer „Einheit der Physik" her beschrieben werden soll (C. F. v. Weizsäcker 219ff.232ff). Auch deshalb wird (Praktische) Theologie, die sich der heortologischen Problematik stellt, ihr Interesse einer Dimension der Zeiterfahrung widmen müssen, die Hans Blumenberg als die Differenz von „Lebenszeit und Weltzeit" beschrieben hat: Obwohl das Quantum an frei gestaltbarer Zeit für die Menschen in den Industriegesellschaften gewachsen ist, haben doch auch die „Erlebnisrückstände" an Leben und damit das Bewußtsein zugenommen, daß die Lebenszeit des einzelnen nicht ausreicht, Leben und Welt, wie sie sich als erlebbar anbieten, tatsächlich zu (er)leben. Was es unter diesen Umständen „für die Erfahrung der Zeit . . . bedeutet, daß es das Wort Ewigkeit gibt" (Westermann 118) und das Phänomen einer eigenen liturgischen Zeit, wird neu zu fragen sein.
3. Theologie und Ausformung des
Kirchenjahres
3.1. Zusammenhänge. Das Werden des Kirchenjahres ist ein (bis heute nicht abgeschlossener, s.u. 4.3) Prozeß, der verbunden ist mit dem Werden des -*Kanons, der christlichen Hermeneutik biblischer Heilsgeschichte(n) und der diese ex- und applizierenden Theologie sowie mit dem Werden von Gemeindeordnungen und Kirchentümern (vgl. Kretschmar). Dieser Zusammenhang wird konstituiert durch den Lebensbezug des Gottesdienstes, der sich in der ursprünglichen Einheit von Gottesdienst-, Lebens- und Kirchenordnung ausdrückt, wie vor allem die Schriften der Apostolischen Väter zeigen. Dabei spielt die sich bald schon diversifizierende (s. u. 3.2) Geschichte des anfangs einzigen Jahresfestes, der frühchristlichen Passa- bzw. Osterfeier (-•Ostern/Osterfest; —>Pesach), die zentrale Rolle. In ihr werden Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi als Einheit und Mitte des göttlichen Erlösungswerkes gefeiert. „Ostern" ist dabei Äquivalent
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des jüdischen Pesach und nicht zu verwechseln mit dem späteren, insbesondere in protestantischer Frömmigkeit deutlich von Karfreitag unterschiedenen Einzelfest. Im Dienst an dieser sich liturgisch festigenden Passatradition, die ihre grundlegende Bedeutung für die traditio symboli in der Katechese der Taufbewerber und Neugetauften (s. u. 3.3 u. 3.4) erweist, entwickelt sich Theologie als Vermittlerin zwischen Schrift(lesungs)auslegung einerseits und Liturgie als kultisch begangener Auslegung des Glaubensgrundes (d.h. seiner Arche) andererseits. Mit Hilfe der werdenden Liturgie bildet sich das Gedächtnis (s. o. 2.6) aus, in dem Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart der sich versammelnden Gemeinde, also Zeit, in einem Sinne erinnert und erfahren werden kann — was Voraussetzung dafür ist, daß in den Turbulenzen der Zeitläufe und des individuellen Lebens gemeinsam gebetet und gehandelt, aber auch - wie G. Kretschmar u. a. am Beispiel des MartPol gezeigt hat - mit Christus gestorben werden kann (292: „das Martyrium analog der Gemeindeliturgie"). „Die Gemeinde als Ort der Passaüberlieferung" (298) wird so selbst Teil der Passatradition - vor allem durch die Märtyrer, deren Todestage sie (auf dem Weg über die Gesamtkirche) in den Festkalender als in ihr kollektives Gedächtnis als Wegweisung aufnimmt (s.o. 2.3.d); ein Phänomen, das nicht nur in der verfolgten Alten Kirche, sondern z. B. auch in den leidenden reformierten „Gemeinden unter dem Kreuz" im Rheinland und gegenwärtig in lateinamerikanischen Basisgemeinden zu beobachten ist. Mit in die hier wichtigen Zusammenhänge hinein gehören aber auch jene Einflüsse und Auseinandersetzungen, die durch die jeweilige religiöse Vergangenheit und Umgebung der Kirche vorgegeben sind. 3.2. Die frühchristliche Osterfeier: die „Achse" des Kirchenjahres. Die zentrale Rolle des christlichen Passa hängt mit der Geschichte des jüdischen Pesach-Mazzot-Festes (vgl. Keel; Halbe; Otto) zusammen. Als erstes der drei Wallfahrtsfeste verbindet es zwei aus vorisraelitischer Zeit stammende Elemente: den apotropäischen Blut-(Opfer-)Ritus und das Essen von ungesäuertem „Brot der Wanderung" (Halbe, Erwägungen 339; -»Ostern/ Osterfeier, -•Pesach; vgl. T R E 11, 9 7 - 9 9 . 1 8 8 f). Möglicherweise gehören beide schon seit nomadischer Zeit zusammen (Halbe, Erwägungen; Kellermann): Der Blutritus wehrte den plötzlich hereinbrechenden, lebensbedrohenden „Verderber" bzw. Dämon (Rost: ein glutheißer Ostwind) ab, der den Aufbruch der Kleinviehnomaden zu den Sommerweideplätzen zur Zeit des Frühlingsäquinoktiums gefährden konnte; darauf folgender eiliger Aufbruch und Wanderung ließen dann keine Möglichkeit, den Brotteig zu säuern. Nachdem der Blutritus mit dem großen Exodus aus Ägypten verknüpft worden war, gehen Pesach- und Mazzot-Element jedenfalls fest miteinander verbunden (vgl. Dtn 16,1-8) in das vorexilische Wallfahrtsfest (das terminlich durch Pesach fixiert ist) am Zentralheiligtum ein. Mit dem Übergang in die agrarische Kultur gehen aber einige später auch für das Kirchenjahr wichtige Veränderungen einher, die nachexilisch teils vertieft, teils wieder aufgehoben werden. So wird die PesachFeier zunächst aus den Familien (Clans) in die beim Fest nun gerade auszudrückende Gemeinschaft des Volkes verlegt, kehrt aber nachexilisch in die Familien als Ort der Feier (neben der Opferhandlung im Tempel) zurück; der apotropäische Charakter der Schlachtung wird durch den Opfergedanken (zbh) verdrängt. Die Pesach-Feier insgesamt wird Gedächnis (Ex 12,14) vergangener Heilstat Jahwes, und diese wird als Arche im Gedenken aktualisiert; das Fest erhält eine komplementäre Handlungsstruktur-. Jahwes „Wachenacht" zu Israels Rettung und Israels „Wachenacht für Jahwe" verbinden sich; die messianisch-eschatologische Dimension des Exodus bzw. Transitus (einschließlich der Sammlung der Zerstreuten) wird verstärkt (Auf der Maur 60-62). Ganz ähnlich wird Pesach auch zur Zeit Jesu in Tempel (Schlachtung der Lämmer durch die Familien um 3 Uhr nachmittags am 14. Nisan, Hallel-Psalmen 113-118) und (Haus-)Gemeinschaften (Mahlfeier mit Erzählung der Exodus-Geschichte [Haggada], verschiedene Berakot, Hallel-Psalmen 113-118.136) gefeiert: Dem Pesach geht in der Nacht vom 13./14. Nisan die Säuberung der Häuser von Gesäuertem voraus und folgt vom 15. (-22.) Nisan das Mazzot-Fest, das am letzten Tag ( = seiner Oktav) mit dem Gedächtnis des Durchzuges durchs Rote Meer abgeschlossen wird. Das Thema der Herausführung bzw. des Übergangs dominiert und verbindet sich später mit der Hoffnung auf das für die Pesach-Nacht erwartete Kommen des Messias (gerade nach 70 n. Chr., vor allem von R. Akiba). Doch selbst der messianische Befreiungsgedanke hat auch in der tempellosen Zeit nie ganz vergessen lassen, daß das Pesach-Fest im Grunde nur vom alten Blutritus her zu verstehen ist (vgl. im Brauchtum heute noch den gerösteten Knochen beim Mahl: Wach 108,48 f): Die Lebensbedrohung ist nur durch Blut abzuwehren (-»Blut II).
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Dieses in der Pesach-Tradition aufbewahrte Grundwissen hat nicht nur eine kuhgeschichtliche, sondern eine unüberholbare anthropologische Qualität, und zwar gerade in theologisch-soteriologischer Perspektive. Denn nur weil das so ist, konnten sich das alte apotropäische Element, das Sühnopfer- und Sündenbock-Motiv des Versöhnungsfestes (vor allem nach der Tempelzerstörung!) und der religionsgeschichtlich ubiquitäre Opfergedanke (-»Gottesdienst I) im Verständnis des unschuldigen Leidens und Sterbens Jesu Christi mit der Pesach-(Mazzot-)Tradition zum christlichen Passa verbinden, in dem es um die Befreiung von den Sünden der Welt (Joh 1,29 u. ö.) durch „unser Passalamm" (I Kor 5,7) geht. Die Realität des Kreuzes und der Ursprung der christlichen Osterfeier weisen also alles ab, was das pro nobis oder das ephapax des Blutopfers Jesu untergräbt. 3.3. Entwicklung, Diversifikation und liturgische Entfaltung der christlichen Passatradition. W i e das österliche Passa das K i r c h e n j a h r durch die Ausbildung des Osterfestkreises prägt, das gehört mit zu den die K i r c h e n unterscheidenden (und oft auch trennenden) F a k t o r e n und hängt mit T h e o l o g i e und Liturgie des Passa z u s a m m e n , deren Diversifikation schon im Neuen T e s t a m e n t beginnt (unterschiedliches Verständnis des letzten M a h l e s J e s u , von den Synoptikern a b w e i c h e n d e C h r o n o l o g i e der Passion J e s u bei J o h u . a . ) und sich in den auf vielfältige Weise teils trennenden, teils wieder beeinflussenden T r a d i t i o n e n der griechischen, syrischen und lateinischen K i r c h e fortsetzt (mit C a n t a l a messa X X I I I s s ) . In dieser E n t w i c k l u n g und Diversifikation der christlichen Passaüberlieferung, die in Kontinuität und D i s k o n t i n u i t ä t auf die jüdische bezogen bleibt, geht es hauptsächlich u m die folgenden E l e m e n t e : a) Die Doppel-Arche des jüdischen Pesach-Mazzot legte von Anfang an divergierende Interpretationen nahe, denn sie hatte bereits zwei Pole: das (ursprünglich apotropäische) Blutopfer-Mahl des Lammes und - hinzugewachsen - den Auszug aus Ägypten, den Übergang aus der Knechtschaft in die Freiheit des verheißenen Landes, der in die jüdische traditio symboli eingeht. Im hellenistischen Judentum (vor allem bei Philo von Alexandrien), und nach der Zerstörung des Tempels im Judentum allgemein, gewinnt der zweite Teil (auch vom Vorübergehen des Würgeengels an Israels Hütten her) immer größeres Gewicht und wird unter platonischem Einfluß als moralisch-geistiger Transitus interpretiert, zumal der Sühn- (und während des Tempels auch der Opfer-) Gedanke am Versöhnungstag ( ] o m Kippur) seinen festen Platz hat. b) Zur jüdischen Doppel -Arche tritt im christlichen Passa die christliche Arche, die genaugenommen mit Kreuz und Auferstehung Jesu Christi ebenfalls eine Doppel-Arche ist und ihrerseits der Interpretation dazu Anlaß gibt, unterschiedlich anzusetzen. Wo die christliche Doppel-Arche ausgelegt wird, geschieht es aber in typologischer Beziehung zur jüdischen; und das bedeutet, daß beide Pole der einen beide Pole der anderen im Verständnis und in der liturgischen Tradition beeinflussen konnten. Wirkte dabei die Opfer-Mahl-Linie in Richtung auf eine (vor allem kleinasiatische) Passapassio-Tradition hin, die im Zentrum das Gedächtnis der Kre«zerhöhung des Passalammes Jesus Christus feiert und ganz auf Gottes Heilshandeln sieht, so wirkt der andere Pol, die (spiritualisierte) Exodus-Transitus-Linie, auf eine Passa-transitus- (bzw. -SiäßaaiQ)Tradition hin, in deren Zentrum der Übergang der Gläubigen „von den Dingen des (irdischen) Lebens zu G o t t . . . und zu der Stadt Gottes", also der Mensch, steht (Origenes, c. Celsum 8,22). Dabei geht es im Sakrament der Taufe und der Eucharistie, deren Feier - neben dem Licht-Element - die Osternacht prägt, nicht mehr um das Gedächtnis des Blutes des Gekreuzigten, sondern um die Teilhabe am Logos (weswegen nach Origenes, ebd., derjenige immer Herrentag feiert, der sich ganz vom Worte Gottes nährt). Man hat deshalb geradezu einen „Passahtyp" von einem „Mysterientyp" (der Elemente hellenistischer Mysterienkulte enthält: Wiefel 355 ff. 364 ff) der Osterfeier unterscheiden wollen; doch die Charakterisierung der Pole mit passio und transitus (Cantalamessa) ist angemessener. Denn es ist zu beachten, daß passio und transitus prinzipiell (wenn auch nicht in alexandrinischer Interpretation) I Kor 5,7 f schon von Paulus verbunden worden sind. Und außerdem haben weder die Quartodecimaner die Auferstehung noch die Alexandriner das Kreuz eliminieren, sondern beide haben auf ihre Weise das ganze Passamysterium (Casel, Osterfeier) feiern wollen. Sie sind dabei freilich unterschiedlichen hermeneutischen Ansätzen gefolgt, die liturgische Konsequenzen haben - vor allem im Blick darauf, wie Sabbat und christlicher Sonntag, wie der erste Schöpfungstag und die Auferstehung Jesu Christi als Anfang der Neuschöpfung (vgl. Barn 15,8f u. Staats 514ff), wie Sonntag und jährliche Osterfeier, aber auch, wie das Gedächtnis von Kreuz und Auferstehung und kultisch vollzogenes Sakrament zueinander gehören. c) Im Osterstreit der Alten Kirche geht es also nicht (nur) um eine Terminfrage (wann das Fasten vor der Ostervigil zu beenden ist), sondern auch darum, ob die Spannung innerhalb der beiden Doppel-Archai einerseits und andererseits zwischen den Passatraditionen des Alten und des Neuen
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Bundes ausgehalten und wie sie in die Liturgie der Osterfeier bzw. in einen Osterfestkreis aufgenommen werden konnten und sollten. d) Je nachdem, ob passio oder transitus den Akzent setzten, ist die Eschatologie eher auf die Parusie des Auferstandenen bezogen oder in eine individuell gefaßte und (oft ausschließlich) sakramental begründete Hoffnung auf ein himmlisches Leben transformiert worden. Der passio-Gedanke hat sich eher mit der jährlichen Gedächtnisfeier verbunden, der transitus-Gedanke eher mit der wöchentlichen oder gar täglichen Osterfeier in der Eucharistie. Beide haben auf ihre Weise für eine lückenlose Ausgestaltung des Kirchenjahres, der Woche und der Tagzeiten gesorgt, weil beide nicht ohne das zyklische Element des festen (kirchlichen!) Ritus auskommen konnten. e) Die Entscheidung, das christliche Passa mit dem Herrentag zusammenzulegen, drückt einerseits Diskontinuität zum jüdischen Passa aus; andererseits konnte nur so die Passa-p«ss;o-Linie mit der Passa-inznsifMs-Linie zusammengehalten werden. Darüber hinaus zeigt die im 4. Jh. beginnende Ausweitung der Osternachtfeier zur Feier des Triduum sacrum (Karfreitag mit Gründonnerstagabend/Karsamstag/Ostervigil) und weiter zur Heiligen Woche bzw. Karwoche (wie das Festhalten am Wort Passa) auch ein Element der Kontinuität: Der jüdische Passatermin und der (judenchristlich noch lange festgehaltene) Sabbat werden in die christliche Osterfeier einbezogen, wenn auch neu gestaltet: Schon im 2./3. Jh. waren gebietsweise unterschiedlich lang gestaltete Fastenzeiten (bis zu 6 Tagen) vor der Ostervigil entstanden, wobei Mittwoch (Tag des Verrats) und Freitag (Kreuzigung) besondere Bedeutung gewannen. Liturgisch aber wird das Triduum 386 von Ambrosius und um 400 von Augustin (sacratissimum triduum crucifixi, sepulti, suscitati, Ep. 55,14,24) erwähnt. Im Osten bleibt es unbekannt, und auch im Westen ist es im Mittelalter wieder verloren gegangen, als die Osterzeit von der Karwoche liturgisch getrennt wurde (neben ein Passa-Triduum Gründonnerstag/ Karfreitag/Karsamstag trat ein Oster-Triduum Ostersonntag/-montag/-dienstag: Fischer, PaschaTriduum 146-156), weil passio und transitus nicht mehr zusammengehalten worden sind. Ungefähr gleichzeitig (4. Jh.) beginnt sich im Osten und Westen die „Heilige Woche" auszubilden; sie heißt in Antiochien äyia rot) näaxa. ißöofiäg (ConstAp 5,13,4) wie in Gallien (septima paschale: Egeria 30); Johannes Chrysostomus nennt sie fiEyäÄr/ eßöo/xäg (In Gen. hom. 30,1), wie sie nach Egeria (30) auch in Jerusalem heißt (septima maior), und Cyrill von Alexandrien eßöo/idg xoB näSouQ (Hom. pass. 1); sie wird sehr vielfältig liturgisch gestaltet. Dabei zeigt sich, von Jerusalem ausgehend, die Tendenz, Passion und Auferstehung des Herrn chronologisch (und lokal) möglichst genau nachzuvollziehen. Zwischen Freitag und Sonntag (wobei die Tage nach Sonnenuntergang am Vorabend beginnen: Vigil, -»Stundengebet, vgl. Gen 1,5) aber liegt der Karsamstag, der später mit dem descensus ad inferos in Verbindung gebracht wird und so das „Reich des Todes" in das Heils- und Festgeschehen mit einbezieht, auch wenn er meist liturgielos geblieben ist. f) Wie das jüdische Pesach-Mazzot am achten Tag des Mazzotfestes eine Oktav kennt und an diesem Tag des Durchzuges durchs Rote Meer gedenkt, so erhält auch die Osternachtfeier im 4. Jh. eine („kleine") Oktav, den „Weißen Sonntag": Die altrömischen Sakramentare verwenden den Begriff In alhas und beziehen ihn auf die Taufe (vgl. I Kor 10,1 ff, wo Paulus aus österlicher Sicht die Taufe als Gegenbild zum Durchzug durchs Rote Meer versteht); die ganze Oktavwoche dient mit täglichen Eucharistiefeiern und „mystagogischen Katechesen" der Einweisung der in der Osternacht Getauften (bzw. der sich ihrer Taufe Erinnernden) in die Geheimnisse des Glaubens. g) Und wie sieben Wochen nach dem jüdischen Pesach das Wochenfest gefeiert wird, so am siebten Sonntag nach Ostern das christliche Pfingstfest (-»Pfingsten/Pfingstfest), die „große Oktav" (Adam 76f). Ähnlich wie bei Triduum, Karwoche und Quadragesima handelt es sich auch bei der „kleinen" und „großen Oktav" um Entfaltungen der ursprünglich einen Feier von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi; sie erfolgten, weil die Bedeutung des Heilswerkes Christi für die Gläubigen bzw. die Kirche Zug um Zug intensiver erfahren und ausgelegt wurde. Die Gabe des Geistes (Joh 20,22f noch ganz innerhalb des Ostergeschehens), die bereits Act 2 eine von Ostern unabhängige Arche hat, erhielt auch eine eigene liturgische Begehung. Derselbe Prozeß läßt sich für Christi Himmelfahrt (-»Himmelfahrtsfest) als Feier der «¿Klösterlichen Quadragesima beobachten. h) Schon nach Did 14,1 (vgl. Barn 1 5 , 6 - 8 ) und Plinius d. J. (Ep. X,96) gehören der -»Sonntag und die Mahlfeier für die Christen zusammen. Der Sonntag wird, weil er dem siebten Tag der jüdischen Woche folgt, als erster Tag der christlichen Woche gezählt (obwohl auch durch diese Zählung Passion und Ostern getrennt werden!). Ihre überragende Bedeutung konnte die Sonntagsfeier aber erst gewinnen, nachdem das Vorbild der Karwoche auf die liturgische Ordnung der Woche allgemein ausgedehnt worden war, so daß jeder Sonntag als Feier des ganzen Christusmysteriums („Wochenpassa") verstanden werden konnte — und deshalb auch seitdem selbst in den Fastenzeiten österlich-fastenfrei bleibt (im Osten auch die Samstage). Die eher dem trarcsiiws-Paradigma folgende (alexandrinische) Passatradition hat (darin mit gnostischen Autoren übereinstimmend: Ptolemäus, bei Cantalamessa Nr. 17) diese wöchentliche (bzw. tägliche) Osterfeier so sehr betont, „daß sie sogar den Sinn der sollemnitas Paschae in Frage stellte" und den Kleinasiaten vorwerfen konnte, nur
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einmal im Jahr Ostern zu feiern. Erst Augustin ist dann die Synthese aus dem (etymologisch ohnehin falschen) Pascha ex passione und dem Pascha-transitus durch seine aus Joh 13,1 gewonnene Formel vom transitus per passtonem gelungen: „Passion und Auferstehung des Herrn, das ist das wahre Passa" und der den Gläubigen eröffnete Weg, „ v o m Tod zum Leben übergehen zu können" (Cantalamessa XXXI). Schon vorher hatte der Ambrosiaster (gegen Hieronymus gerichtet) klargestellt: „ D a s Blut brachte die Rettung und nicht das Vorübergehen" (bei Cantalamessa Nr. 111).
Es bleibt festzuhalten: Wird die sonntägliche wie jährliche Passa- bzw. Osterfeier begrifflich allein vom Anfang oder Ende des Triduum sacrum her definiert, gerät die Osterfeier (als liturgische Einheit von Kreuz und Auferstehung) als „Achse" des Kirchenjahres schnell aus dem Blick (s. u. 4.3). Wo sie aber im Blick behalten wird, klärt sich auch, daß Anfang und Ende des liturgischen Jahres außerhalb des Kirchenjahres liegen, das ja auf die Ursprungsgeschichte(n) der Feste zurück- und auf das vollendete Reich Gottes roratttblickt. 3.4. -»Weihnachten - Fest der Inkarnation: der Zeitpfeil. Weihnachten (und Epiphanias) betont als Fest der Inkarnation die geschichtliche Dimension der Ankunft Jesu Christi in der „Mitte der Zeit", deren weiterer Verlauf mit ihm verbunden ist. Dafür ist der Zeitpfeil angemessenes Symbol, genauso wie der Kreis für das sich um seine Achse bewegende Kirchenjahr. Kreis und Pfeil verbinden sich also zur komplementär-symbolischen Gestalt des Kirchenjahres. Die Untersuchung von R. Berger zum „Grundgefüge" des Kirchenjahres aus Ostern und Weihnachten hat (im Anschluß an Arbeiten von A. Baumstark und K. Onasch) gezeigt, daß „das Nacheinander von Weihnachten und O s t e r n . . . primär nicht das Nacheinander der historischen Begebenheiten von Bethlehem und Jerusalem" meint. Es ist vielmehr „aus dem sich wandelnden und entfaltenden Christusverständnis der Kirche" (R. Berger 19) entstanden, die im Kampf gegen den Arianismus (Baumstark, Liturgie 179: „das Fest des nizänischen Dogmas") und für das trinitarische Dogma (Jungmann, Abwehr 52), aber auch gegen doketische Tendenzen die Geburt im Fleisch betonte und im 6. Jh..sogar den Beginn der Zeitrechnung auf Christi Geburt legte.
Das Datum des 25.12. ist wohl primär von der konkurrenten spätantiken Sol-invictusFeier bestimmt (sekundär vom 25. März, dem Frühlingsäquinoktium, das als symbolischer erster Schöpfungstag auch als der Tag der Empfängnis Jesu durch Maria galt). Die (wahrscheinlich) von -»Gregor d. Gr. verfaßte Kollekte der römischen Mitternachtsmesse und der Weihnachtshymnus des Ambrosius von Mailand zeigen nicht nur die in die Weihnachtstheologie integrierte Sonnensymbolik, sondern sprechen „in einem meisterhaften gedanklichen Brückenschlag" aus, d a ß „das in der Christnacht aufgegangene Licht mit dem Licht der Osternacht" (Heinz, Weihnachtsfrömmigkeit 218-220) zusammengehört. Doch auch die Verbindung zum Leiden Jesu Christi ist in der westlichen wie in der östlichen (Onasch, Weihnachtsfest 7 0 - 1 4 0 ) Weihnachtsliturgie schon ausgesprochen: Von der Krippe geht der Blick zum Kreuz. Dazu stimmt, d a ß M . Luther trotz der bei ihm betonten Kreuzestheologie kein Passionslied hinterlassen hat: Der „fröhliche Wechsel" von Herr und Knecht findet für ihn schon in der Krippe statt. Weihnachten (mit Epiphanias und Advent) auf der einen und Karfreitag/Ostern auf der anderen Seite feiern den einen Grund unserer Erlösung; doch sie tun es von zwei Seiten her und in einem alles andere als belanglosen Intervall (s. u. 4.2). Es zeugt von tiefer Weisheit der Alten Kirche, daß sie das Weihnachtsfest im solaren Kalender gelassen hat: Damit ist die geschichtliche Dimension des Christusgeschehens bzw. die geglaubte Zusammengehörigkeit von Heilsgeschichte und Weltgeschichte auch für Nichtchristen erkennbar proklamiert worden.
3.5. Weitere theologische Formkräfte in der Strukturierung der liturgischen Zeit. Die Strukturierung der liturgischen Gestalt des Kirchenjahres wird nach dem 3. Jh. (Einzelheiten der Feste -»Feste und Feiertage und in den jeweiligen Artikeln) hauptsächlich von sechs prägenden Kräften bestimmt: a) (weiterhin) von jüdischer Festordnung, denn aus ihr stammen nicht nur die Zeitmetren von Sonne, Mond und Woche und das Grundmuster des Osterfestkreises; sie kennt auch eine die jeweilige Arche betreffende Haggada und ein darauf abgestimmtes Lektionar und schließlich die Anschauung, daß zur Gerechtig-
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lceit des Frommen die Teilnahme am Fest gehört; b) von der Zusammenschau von Geschichte und Heilsgeschichte mit dem Wissen um Anfang und Ende von Zeit (auch wenn sich Anfang und Ende entsprechen wie Schöpfung/Neuschöpfung oder als „goldene Zeitalter") und vom Bewußtsein, daß die Geschichte Jesu Christi der Anfang einer neuen Ära ist, die die Zeit „n. Chr. Geburt" als neue Zeit und zugleich als Endzeit qualifiziert, die durch jede liturgische Feier in die Weltzeit und andere Zeit(alter)Berechnungen konkurrent eingeblendet wird; c) von der für das Werden der Kirche bedeutsamen Verehrung der Apostel und Märtyrer als Zeugen Jesu Christi (Apostel-, Heiligen-, Marien-, Kreuzfeste an Gräbern oder Reliquien); d) durch das Interesse, alle kirchliche Verehrung auf Christus zu konzentrieren: die höfische Praxis der Natalis-Feste, die göttlich initiierten Äonenwenden (6. Januar), herrscherlichen Geburtstagen, Regierungsantritten, Ankünften (von epiphaneia bzw. theophaneia und adventus her zu interpretieren: Auf der M a u r 157.168) in Provinzen etc. galten, wird seit dem 4. Jh. auf das Kommen Jesu Christi in diese Welt übertragen; e) durch unterschiedliche theologische und katechetische Interessen, die zu Ideen- und Devotionsfesten führen; f ) durch monastisches Interesse, die liturgische Zeit und Feier zu Gottes Ehre abwechslungsreich zu gestalten (versus: durch wirtschaftliches und moralpädagogisches Interesse, möglichst wenige arbeitsfreie Festtage zu gewähren). 3.6. Ausformungen und Kaiendarien. I Kor 5,7f; Kol 2,16f; Gal 4 , 8 - 1 1 spiegeln tiefgreifende Auseinandersetzungen in der Frage, wie sich eine christliche Festordnung in Kontinuität und Diskontinuität zu jüdischem Festkalender und hellenistischen Festpraxen bilden sollte. Lang andauernden Streit hat es um die Termine für Ostern (Strobel, Texte; Talley 26) und die Geburt Jesu (Talley 31 ff) gegeben. Mit Ausnahme der armenischen Kirche, die die Menschwerdung Christi weiterhin am 6.1. feiert, hat sich im Osten und Westen eine gemeinsame Grundstruktur des Kirchenjahres herausgebildet (s. o. 2.2). In ihr verbindet sich der lunar-bewegliche Osterfestkreis mit dem solar-unbeweglichen Weihnachtsfestkreis auf der Zeitachse des weder lunar noch solar beeinflußten Wochenzyklus. Da mit dem Osterfest auch die in sich gleichbleibende Reihe der ihm vorangehenden (Fasten- bzw. Passionszeit) und nachfolgenden (Osterzeit, Pfingsten und Sonntage danach) Wochen innerhalb einer Grenze von 35 Tagen wandert, ändert sich entsprechend jährlich die Anzahl derjenigen Sonntage, die vor und nach dem Osterfestkreis innerhalb des Jahres liegen. Und da der Wochenzyklus unbeeinflußt von lunaren und solaren Terminen weiterläuft, fallen die im Sonnenkalender fixierten Feste auf jährlich wechselnde Wochentage (so daß z.B. der 4. Advent mit dem 24.12. zusammenkommen kann). In der Ausformung der Grundstruktur im Osten und Westen haben sich die genannten Formkräfte (s. o. 3.3 u. 3.5) mit unterschiedlicher Gewichtung ausgewirkt. Nach der Kirchenjahresreform des Vaticanum II bestehen nunmehr drei divergente Ausformungen des Kirchenjahres nebeneinander.
3.6.1. Der Osten. Strukturmodell ist die Woche, deren erster Tag (im Russischen Voskresenie,,Auferstehung') als zyklische Wiederholung von Ostern, aber auch zugleich nach Joh 20,26 und einer Reihe von Kirchenvätern als (eschatologischer) achter Tag verstanden wird, der mit den vorangehenden Wochentagen zusammen eine Achtheit {ogdoas bzw. octav) bildet. Das „Prinzip der ,Achtheit' blieb im byzantinischen Kirchenjahr erhalten im Zyklus der ,Oktoechos'" („Achttonbuch", Onasch, Liturgie [s. Lit. zu 1] 285), die als gleichnamiges liturgisches Buch die Sonntage und Wochen vom ersten Sonntag nach Pfingsten bis zum Sonntag des Zöllners Zachäus umfaßt. „Die Achtzahl symbolisierte in griechischer Antike und Altem Orient kosmische Harmonie und Vollendung"; gegenüber der Sieben als Ordnungszahl „eröffnet die Acht die Vorstellung vom Abschluß mit endzeitlichem . . . Charakter . . . hinsichtlich der Zeit und der F o r m . " Nach griechischem Verständnis wurde der Sabbat „in eine ,Oktav der Freude' . . . umgewandelt, weil in ihr eine neue Welt, ein neuer Kosmos beginnt. Die Acht als Formprinzip der Vollendung kommt vor allem im Achteck (Oktogon) des Kirchbaus" (Onasch 286), aber natürlich auch in der Kirchenmusik (acht Echot = Kirchentöne für das Singen der liturgischen Texte) maßgebend vor: „Alle acht Wochen wiederholen sich die besonderen Gesangstexte für den Sonntag und die Wochentage. Dieser Zyklus bildet die österliche Freudenzeit [sc. Osteroktav und Pentekoste] nach und gibt so dem ganzen Jahr auch außerhalb des eigentlichen Osterfestkreises ein österliches Gepräge. Dabei werden die acht Kirchentöne den acht Wochen eines Zyklus zugeordnet" (Bieritz, Kirchenjahr 72).
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Entsprechend ihren Lesungen ist die (sog. „festlose") Oktoechos in 12-17 Mt-Sonntage (Pfingsten bis Kreuzerhöhung [14.9.] mit Sonntag davor und danach) und 12-13 Lk-Sonntage (bis Christi Geburt [25.12.] mit Sonntag davor und evtl. danach sowie evtl. Sonntag vor Epiphanias) eingeteilt. Die Oktoechos wird im Kalender mitbewegt vom Pentekostarion (Osterzeit, zugleich Name des dafür geltenden liturgischen Buches), das vom Ostersonntag bis zum Sonntag nach Pfingsten, dem Sonntag aller Heiligen, reicht. Die im Osten und Westen aus der Karwoche entstandene „Große Fastenzeit" (Quadragesima) wird zusammen mit den Vorfastensonntagen vom Triodion geregelt (vom „Sonntag des Zöllners" bis Karsamstag). Die unbeweglichen (solar bestimmten) Festtage werden im Menaion aufgeführt, das Christi Geburt (25.12.), Epiphanie (6.1.), aber auch die Heiligen- und Engelfeste ordnet. Ein gesondertes Sanctorale gibt es in der Ostkirche nicht. Überschneidungen (Okkurenzen) zwischen lunarem und solarem Kirchenjahr werden vom gottesdienstlichen Typikon geregelt. An besonderen Festen sind zu nennen der Sonntag der O r t h o d o x i e (1. Fastensonntag; erinnert an den Sieg der Bilderverehrer über die Bilderfeinde im 9. Jh.), der der Kreuzverehrung (3. Fastensonntag), der Lazarussamstag vor Psalmsonntag und die Feiertage aller Heiligen (Sonntag nach Pfingsten) und aller Erzengel (8.11.). Eine Adventszeit (im Westen seit dem 8./9. J h . geläufig) ist im Osten u n b e k a n n t . Jedoch wird d o r t seit dem 6. Jh. dem Weihnachtsfest (nach dem Vorbild des „ G r o ß e n Fastens") eine vierzigtägige Fastenzeit vorgeschaltet, die (heute) a m 15.11. („Philippsfasten") beginnt. Innerhalb der Oktoechos k o m m e n zwei weitere Sonntage hinzu: die Sonntage der Vorväter (Erzväter) und der Väter und Propheten seit A d a m . Das Kirchenjahr beginnt am 1.9. (Indiktion). Es dient der Gemeinde „als Orientierungshilfe für die Heilsgeschichte, die in seinem Verlauf dargestellt" und unterstützt wird „durch das Läutesystem der Glocken, die liturgischen Farben und ... durch den Festtagsrang der Bilderwand u. das Bildprogramm der Kirchen" (Onasch, Liturgie 205). Die orthodoxe Kirche hält (nicht in Finnland) am julianischen Kalender (= alter Stil) fest und ist jetzt gegenüber dem gregorianischen Kalender (= neuer Stil) 13 Tage im Rückstand. Diese Differenz muß zu den Kalenderdaten der Festtage hinzugezählt werden, um sie im gregorianischen Kalender einordnen zu können (25.12.87 [jul.] = 7.1.88 Igreg.]). 3.6.2. Der Westen. Die Entwicklung des Kirchenjahres der altrömischen Liturgie ( 5 . - 7 . Jh.) wächst aus der mit dem Osten gemeinsamen G r u n d s t r u k t u r . Sie wird gekennzeichnet durch ein zunehmendes „Auseinanderfallen der Pentekoste: O k t a v t a g von Ostern als Clausum Paschae - Dominicae post Paschae - eigene Vigilfeier f ü r Himmelfahrt — Oktavfeier f ü r Pfingsten - Integration von Bußelementen (Bittage) in die Pentekoste", durch das Entstehen eines eigenen Weihnachtszyklus und des Advents (zuerst als 40tägige Fastenzeit vor Epiphanias: Quadragesima S. Martini, vom 11. Nov. an; Jungm a n n , Advent) und durch das H i n z u k o m m e n historisierender Herrenfeste: Kreuzfeste, Beschneidung, Taufe etc. Diese historisierende Entwicklung setzt sich mit Beginn des 10. J h . fort (Oktav von H i m m e l f a h r t , Verklärung Christi, N a m e n Jesu, Heilige Familie etc.) und wird ergänzt durch die Ideen- und Devotionsfeste (Trinitatis, Fronleichnam, Herz Jesu, Christkönig), w o d u r c h mehr und mehr „die Bedeutung des Sonntags als H e r r e n t a g " und das Kirchenjahr als H e r r e n j a h r aus d e m Bewußtsein verschwindet. Das wuchernde Proprium de sanetis tat ein Übriges hinzu (Auf der M a u r 217, vgl. Häußling: SM[D] 2 [1968] 1221). Durch diese weitgehend rückwärtsgewandten oder nur gegenwartsbezogenen Feste gerieten die eschatologische Ausrichtung des Kirchenjahres und das Triduum als seine Achse aus dem Blick. 3.6.2.1. Römisch-katholische Kirche. Durch die „Liturgische Bewegung" (seit dem 19. Jh.) und die R e f o r m e n von 1951 und 1956 rückte die Osterfeier wieder ins Z e n t r u m des Kirchenjahres. Doch o b w o h l das Vatikanum II dessen theologische G r u n d s t r u k t u r wieder aufdeckte, hat die neue „ G r u n d o r d n u n g des Kirchenjahres und des neuen römischen Generalkalenders" (GOKJ, 1969) viele Wünsche der Reformliturgiker offengelassen. Z w a r wurden die Vorfastenzeit, die Vigilien und O k t a v e n , die der Osteroktav in der Pentekoste folgten, und die Bußelemente in dieser Zeit gestrichen. Aber die „isoliert-
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historisierenden Feste, ebenso die Ideen- und Devotionsfeste hat man, abgesehen von Kostbares Blut und N a m e n Jesu, alle ü b e r n o m m e n " (Auf der M a u r 218). Die Struktur des Kirchenjahres ist seit 1969 gestrafft und sieht zwischen dem Osterfestkreis (mit österlicher Bußzeit vor Ostern und österlicher Festzeit danach) und dem Weihnachtsfestkreis (vier Adventssonntage und zwei Sonntage nach Weihnachten) die fortlaufend gezählten Sonntage der „ Z e i t im Jahreskreis" vor (33 oder 34 Wochen), die a m Sonntag nach Epiphanias beginnt und bis zum Dienstag vor Aschermittwoch und d a n n wieder vom M o n t a g nach Pfingsten bis z u m Samstag vor dem 1. Advent dauert, also von Epiphanias u n d Pfingsten losgelöst worden ist. Das damit umrissene Herrenjahr wird ergänzt durch den solaren Kalender der „Feste des H e r r n und der Heiligen". Das Gedächtnis der Taufe Jesu (Sonntag nach Epiphanias, nicht im Sanctorale) haben die evangelischen Kirchen ü b e r n o m m e n . Es ist unverkennbar, d a ß die römische Reform des Kirchenjahres (die „ Z e i t im Jahreskreis" ähnelt der Oktoechos, die Verbindung der „Feste des H e r r n und der Heiligen" derjenigen im Menaion) eine strukturelle Annäherung an das o r t h o d o x e Kirchenjahr gebracht hat. Das zeigt sich aber auch darin, d a ß die Sonntage in der Pentekoste (deren erster der Ostersonntag und deren letzter der Pfingstsonntag ist) nicht m e h r Sonntage nach Ostern, sondern Sonntage der Osterzeit heißen. O b w o h l immer wieder betont w o r den ist, d a ß das vorösterliche Fasten den deutlichsten „Einschnitt im J a h r e s l a u f " (Fischer, Pascha-Triduum) darstelle, ist es beim 1. Advent als Anfang des Kirchenjahres geblieben. Das Proprium de tempore wird gesamtkirchlich geregelt, mit A u s n a h m e der Bittage und Q u a t e m b e r , f ü r die es regionalkirchliche O r d n u n g e n gibt. 3.6.2.2. Reformatorische Kirchen. „Liturgische Zeiterfahrung erwächst bei den Kirchen der R e f o r m a t i o n " , nachdem die Wochengottesdienste a b h a n d e n gekommen waren, „ a u s den vom ,Kirchenjahr* geprägten sonntäglichen Gottesdiensten" (Schulz, O r d n u n g 3). Diese z. T. ungewollten, z. T. (vor allem im Sanctorale) theologisch gewollten Kürzungen haben das Kirchenjahr durchsichtiger gemacht, aber nicht neu strukturiert. Die Reformatoren betonen zum Kirchenjahr übereinstimmend (Schulz, a.a.O. 4-6): Eigentlich bedürfe es keiner Feste, um selig zu werden, zumal Feiertage Müßiggang und Laster fördern; aber um des Sabbatgebotes willen, das auf den Sonntag bezogen wird, seien Sonntagsgottesdienst und Arbeitsruhe geboten. Nach Zwingli konnte, wenn es die Feldarbeit verlangte, auch ein anderer Tag dafür genommen werden. Wichtig ist allen, dal? es eine Versammlung der Gemeinde gibt, in der Gott durch Wort und Sakrament handelt, die aber auch pädagogischen Aufgaben (Förderung der Bibelkenntnis etc., vgl. Luthers Vorrede zur „Deutschen Messe", 1526) dienen sollte. Die Eingriffe in die überkommene Ordnung bedeuteten: Tilgung aller Heiligen-, Apostel- und Marienfeste, für die es keine biblische Grundlage gab, und umgekehrt: Beibehaltung aller Feste, die sich in ein christologisch geprägtes Kirchenjahr einfügen ließen. In die meisten KO des 16. Jh. geht ein auf Mclanchthon zurückgehender Festkanon ein, der „außer den Sonntagen die Christusfeste Christtag, Circumcisionis, Epiphanias, Ostern (.Osterfeier'), Himmelfahrt, Pfingsten; ferner die drei Marientage Purificationis, Annuntiationis und Visitationis; dazu Johannis, Michaelis, Aposteltage und Maria Magdalena" (Schulz 7) umfaßte. Regional unterschiedlich fielen einige davon weg oder kamen andere (wie Stephanus, Taufe Jesu) hinzu. Die Hauptfeste wurden gern (wie schon im Mittelalter) um zwei weitere Feiertage verlängert. In der Karwoche wurden Gründonnerstag und Karfreitag besonders betont und nach Pfingsten Trinitatis, auf das sich die evangelische Zählung der Sonntage nach Pfingsten bis heute bezieht - wie es im Mittelalter Brauch geworden war. M i t diesem Kanon stimmen im wesentlichen auch die süddeutschen lutherischen K O (jeweils nur zwei Feiertage, zusätzlich Neujahr) und das -*Book of Common Prayer (1549) überein. Die -*Confessio Helvetica posterior (1566) nennt bei den Herrenfesten ausdrücklich nebeneinander Leiden und Auferstehung, kennt auch ein Neujahrsfest und empfiehlt die nachahmenswerten exempla der Heiligen. In Oberdeutschland findet sich f ü r besondere Gottesdienste ein Vierzeiten-Rhythmus, der v o m N a t u r j a h r vorgeprägt worden ist und sich an die alten Quatember-Termine (Auf der M a u r 54 f) anlehnt: Die Quatember (ieiuttia quattuor temporum) sind besondere Fastentage (Mittwoch [Tag des Verrats], Freitag [Tod Jesu], Samstag [Grabesruhe]), die als Jahreszeitenfasten jeweils eine Woche im
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Frühling, Sommer, Herbst und Winter prägten - z.T. so stark, daß der folgende Sonntag ohne eigenes Formular („vakant") blieb. Die Anfänge des Quatemberfastens gehen bis ins 4. Jh. zurück, sind aber erst bei Leo I. deutlich. Sie blieben auf den Westen beschränkt (in unserem Sprachgebiet: 1. Adventswoche, 1. Fastenwoche, Woche vor Pfingsten, 1. Woche im Oktober). Der evangelische Büß- und Bettag (an einem Mittwoch gelegen) steht in dieser Tradition. Als Termine für die Ordination sind die Quatember als Ember Days in der Anglikanischen Kirche fortgeführt worden.
Zwingli legte die Abendmahlsfeiern auf Ostern, Pfingsten, Herbst und Weihnachten; der Herbsttermin blieb oft durch das Allerheiligenfest bestimmt. Wo die Quatemberzeiten beibehalten wurden, dienten sie z.T. neuen Zwecken (Katechismusübungen). Zu den „gereinigten" Heiligenkalendern kamen ab Mitte des 16. Jh. vielerorts Gedenktage für die Blutzeugen der Reformation (-»Heilige/Heiligenverehrung VII) hinzu.
Die Preußische Agende setzt 1822 einen Neuanfang und schreibt Neujahr, Karfreitag, eine Totenfeier (RE 3 6,58,38 ff) und den Jahresbußtag neben den Herrenfesten vor. Doch weder hierin noch in den lutherischen Agenden der zweiten Hälfte des 19. Jh. gab es ein ausgeführtes Proprium für die einzelnen Sonntage. Dazu kommt es erst in den Agenden nach dem Zweiten Weltkrieg, und zwar im Zusammenhang mit den (mehrfach revidierten) Perikopenordnungen (—•Perikopen/Perikopenbücher), die die evangelische Tendenz, aus liturgischer Zeit „Bibel-Zeit" (Schulz 12) zu machen, weiter verstärken. Für die innerevangelische Situation ist es kennzeichnend, daß die Reformierten, gerade um die gottesdienstliche Zeit und Versammlung ganz vom Wort Gottes strukturiert sein zu lassen, nicht nur dem Kirchenjahr, sondern gerade auch den Perikopenordnungen (und der Perikopenpredigt) gegenüber auf Distanz geblieben sind. 3.7. Die Lesungen im Kirchenjahr. Das Kirchenjahr ist in seinem Werden wie in seinen Reformen eng mit den Regelungen für die gottesdienstliche Schriftlesung und -auslegung verbunden. Im Blick auf die verwendeten Lektionare sind Perikopenreihen aus wechselnden biblischen Büchern zu unterscheiden von der fortlaufenden (continua) oder selektiven (semicontinua bzw. „Bahnlesung") Lesung ganzer Bücher in bestimmten Kirchenjahreszeiten. Von den Formkräften her, die auf die Entfaltung des Kirchenjahres eingewirkt haben, ist klar, daß der gottesdienstliche Bedarf an normativer und identitätssichernder Schriftlesungs-Autorität den Uberlieferungsprozeß vieler (auch kultisch Relevantes) erzählender, lehr- oder bekenntnishafter und erst recht vom Ursprung her liturgischer Texte mitgeprägt haben wird. Die „Frage, welche dogmatischen Einflüsse auf die Wahl wie die Ausschaltung von Perikopen" und Continua-Lesungen „maßgebend waren", und zwar auch hinsichtlich der Beziehungen zwischen Osten und Westen (Kunze, Schriftlesung 179.176), stellt sich nicht nur im Blick auf Verständnis und Feier einzelner Feste, sondern auch im Blick auf Wesen und Struktur des Kirchenjahres. 3.7.1. Das Erbe der Synagoge. Wie Feste generell als zyklische Begehungen einer Arche mit dieser (in Gestalt von Mythos, Ätiologie, Festlegende) zusammengehören, so auch die Feste des Kirchenjahres, sofern sie eine zitierbare Geschichte haben. Am Anfang der gottesdienstlichen Schriftlesungspraxis steht schon in Israel die Ursprungsgeschichte, deren vollständige Wiederholung als das am Fest von seinem Wesen „zu Erzählende" (Haggada) rituell (z. B. in der Pesach-Feier durch vorgeschriebene Fragen, Ben-Chorin, Narrative Theologie 52 ff) provoziert werden kann. Doch kann sie auch aus „Sätzen heiligen Rechts" (Alt, vgl. Dtn 27,11 ff) bestehen, deren regelmäßige Proklamation und Aneignung der Bundeserneuerung dient und in die Lebensordnung (Halacha) mündet. Die (Semi-)Continua-Lesung ist ein späteres Produkt und hat in Liturgie und Kirchenjahr andere Aufgaben (-»•Schriftlesung). In der Synagoge geht es bei der Continua-Lesung der Tora und der (ihr am Sabbat wie an den Fest- und Feiertagen als Auslegung der Tora folgenden) Propheten-Lesung um das Gedächtnis des ganzen Gottesrechts und der ganzen Heilsgeschichte. Wieder andere liturgische Aufgaben haben der Psalter als Gebetbuch und Gebetsschule und die „Festrollen" (Cant, Ruth, Thr, Koh, Est), die den einzelnen Festen jeweils als ganze zugeordnet sind (-»Gottesdienst II.2.1). Doch immer gilt: Die Schrift soll gehörte Schrift bleiben.
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Die oft wiederholte These, daß in den urchristlichen Gottesdiensten der Brauch der Synagoge, das Alte Testament in lectio continua vorzutragen und auszulegen, fortgesetzt worden sei (-»Gottesdienst 1II.5.2), leuchtet nur für judenchristliche Gemeinden ein. I Tim 4,13 und Mk 13,14 belegen nur, daß das Alte Testament auch „die Bibel des Urchristentums" (von Campenhausen) war, aber keine (bestimmte) liturgische Funktion. Was die Erzählung und/oder Verlesung der sich bildenden eigenen christlichen Überlieferung angeht (vgl. I Thess 5,27; Kol 4,16; Apk 1,3; 22,10.18), so belegen aber I Kor 16,20-23 und Apk 22 einen Zusammenhang von Brief- bzw. Buchverlesung und Abendmahlsfeier. Darüber, wie es weitergegangen ist, belehrt die Tatsache, daß in der Entstehung der Evangelien die Passions- und Osterberichte am frühesten literarische Gestalt angenommen haben, zusammen mit der Erkenntnis, daß auch das Kirchenjahr als sich entfaltende christliche Passafeier entstanden ist. Und wie in den Evangelien die Vorgeburts- und Geburtsgeschichten die späteren Partien darstellen, so ist auch das Weihnachtsfest erst spät greifbar. Genaue Untersuchungen dieses Zusammenhanges stehen noch aus (vgl. aber Kunze: Leit. 11,123-126). 3.7.2. Lectio continua und Perikopenordnung (—• Perikopen/Perikopenbücher). Allgemein kann die Regel gelten: „Die unzweifelhaft echten /¿-Reihen sind nicht alt", „sondern irgendwann neu gesetzt" worden, auch wenn die neutestamentlichen Briefe natürlich anfangs ganz verlesen worden sind (Kunze: Leit. II, 131 f). Dabei haben sich schon früh (z.T. bis heute wirksame) Praxen gebildet, bestimmten Kirchenjahreszeiten bestimmte Bücher zuzuordnen: Gen (auch Ex) gehört als Anfang des Pentateuch (wie Hi) in die Fastenzeit vor Ostern, Dtn in die Zeit nach Pfingsten, Jes in die Vorweihnachts-, aber auch in die Passionszeit. Von den neutestamentlichen Schriften gehören Act in die Osterzeit, die Briefe, insbesondere R o m , in die Zeit von Pfingsten bis vor die Passionszeit. Von den Evangelien sind im Westen und Osten Joh der Osterzeit und im Osten M t und Lk der Oktocchos zugeordnet worden. Als gemeinchristliche Perikopen im Kirchenjahr können gelten: Berichte von Passion und Tod (Karwoche, spez. Karfreitag), Einsetzungsbericht (Gründonnerstag), Osterberichte (Osterfcier), Act 2 mit Joel 2 , 2 8 - 3 , 8 (Pfingsten), M t 2 (im Westen mit Jes 60 an Epiphanias), Lk 2 (Christi Geburt), Act 1 (Himmelfahrt), M t 4 (Invocavit; mit ursächlich f ü r das Quadragesimalfasten), Lk 2,11 (Beschneidung), Lk 24 (2. Ostertag), Joh 20 (Osteroctav), Phil 4 (Sonntag vor Weihnachten). Doppelplazienmgen von Texten wie z.B. M t 21,1 — 11 an Palmsonntag und 1. Advent geben noch etwas vom Werden des Kirchenjahres zu erkennen (in diesem Fall: d a ß die Adventszeit nach dem Vorbild der Karwoche im Blick auf die Osterfeier dem Weihnachtsfest vorgelagert worden ist).
Im Osten hat sich die Praxis ergeben, daß das Alte Testament nur in Auswahl, das Neue Testament - mit Ausnahme der Apk, die nie öffentlich verlesen wird - ganz im jährlichen Lektionar erscheint. Im Tagzeitengebet wird der Psalter wöchentlich einmal, während der Fastenzeit sogar zweimal gelesen. Die römisch-katholische Kirche hat 1969 die Leseordnung für die Meßfeier an Sonntagen (Lesejahre A-B-C) und an Wochentagen (Lesereihen I u. II) im Ordo lectionum missae (OLM) neu gestaltet und dabei eine Mischform aus Perikopenordnung und Bahnlesung geschaffen: Für die Zusammenstellung der jeweils drei Lesungen (Altes Testament, Neues Testament, Evangelien) waren das Prinzip der „thematischen Abstimmung" und das Prinzip der „ausgewählten Bahnlesung" maßgebend. Die Erweiterung des OLM auf drei Jahreszyklen, die von den amerikanischen (und anderen) evangelischen Kirchen übernommen worden ist, hat durch die verstärkte thematische Ausrichtung der Sonntage dem Kirchenjahr über weite Strecken hin eine (im Dreijahres-Rhythmus wechselnde) eigene Prägung gegeben. Aufs ganze gesehen läßt sich sagen: Je weiter die Perikopen der einzelnen Sonn- und Festtage ex themate - mit dem Evangelium als rector — aufeinander abgestimmt wurden, um so mehr wandte sich das Verhältnis der Lesungen zum Kirchenjahr von der Linie ab, die in der (vermuteten: 3.7.1.) gemeinsamen Entwicklung von Kanon und Kirchenjahr sichtbar wird. Die lutherische Reformation, die die Continua-Lesungen den Wochengottesdiensten zugewiesen hatte und für die Sonntagspredigt eine -»Perikopenordnung aus
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„altkirchlichen" Episteln und Evangelien (WA. DB 7, 529-544) bevorzugte, behält am Ende, als die Wochengottesdienste (mit Ausnahme der Passions- und Adventsandachten) wegfielen, nur die Perikopen übrig; Bemühungen darum, bestimmten Kirchenjahreszeiten wieder bestimmte biblische Bücher zuzuordnen, sind gescheitert: Die 1977 revidierte Lese- und Predigttextordnung (LPO) sieht neben den sechs Perikopenreihen, von denen Epistel und Evangelium jährlich als Lesungen wiederkehren, als Continua-Lesungen nur noch die Mk-Passion und Texte aus Hi für die Passionszeit sowie Jon für den 1.—3. Sonntag nach Trinitatis vor. Damit ist die alte Praxis, biblische Texte regelmäßig in ihrem eigenen Zusammenhang und zu passenden Kirchenjahreszeiten zu hören und auszulegen, weitestgehend aufgegeben - und homiletisch die Tendenz gefördert worden, in jeder Predigt, fixiert auf „Skopos" und „Kerygma" des jeweiligen Predigttextes und weithin unabhängig vom Kirchenjahr, alles sagen zu wollen, statt den Glauben schrittweise nach der „Dogmatik im Kirchenjahr" (Steiger) zu entfalten. So erscheint das Kirchenjahr in vielem nach wie vor als reine „Bibel-Zeit" oder „LernZeit" (F. Schulz, Ordnung 19), ja als Belehrungs-Zeit darüber, was zu tun ist. Dabei ist zu bedenken, „daß die Konzentration auf das Grundmotiv der Evangelien der Thematisierung und Pädagogisierung des Gottesdienstes Vorschub leistet" und daß die Verteilung der Bibel auf sechs (mit den Marginaltexten sieben) Perikopenreihen einer „Liturgisierung" der Bibel gleichkommt, die „die befreiende und verändernde Kraft ihrer Botschaft domestiziert" (F. Schulz, Ordnung 14). Die vielbeklagte Fremdbestimmung des Kirchenjahres als „Kasus-Jahr" für allerlei Tagesanliegen stellt, mit solcher „zerstückelten" Bibel (Zwingli) verbunden, eine Indienstnahme nicht nur der Liturgie, sondern auch der Schrift dar, die das Kirchenjahr um die Achse der Weltzeit herum anordnet, statt seiner Eigenbewegung um seine wahre Achse, die Osterfeier, zu folgen. Hinter den neuen Lektionaren der westlichen Kirchen steht die Hoffnung, nun besser als vorher auf die veränderten Kirchgangsgewohnheiten eingehen und zugleich der Gemeinde den Schatz der biblischen Überlieferung noch besser erschließen zu können. Es spricht vieles dagegen, daß diese Hoffnungen zum Ziel kommen werden. Sinnvoll sind erweiterte Perikopensysteme im Grunde ja nur bei im wesentlichen von Sonntag zu Sonntag gleichbleibenden Gottesdienstgemeinden. Damit ist aber auf lange Sicht hin nicht zu rechnen. Etwas anderes kommt für den evangelischen Bereich hinzu: Die Ausgliederung des Abendmahls aus dem allsonntäglichen Gottesdienst und dessen (ja nicht nur vom Evangelium her geschehende) kasuelle Thematisierung haben die liturgische Gestalt der einzelnen Gottesdienste und ihre Abfolge im Kirchenjahr ihrer eigenen Art, den Glauben zu bezeugen und Gott zu preisen, weithin beraubt. Auch diese verlorenen Dimensionen liturgischen Geschehens hat die Predigt teils übernehmen wollen, teils müssen - und doch von ihrem Wesen her nicht übernehmen können. Darum zeigt alles in eine andere Richtung: Verbesserungen sind zu erwarten, wenn die Gestalt der einzelnen Gottesdienste und diejenige ihrer Abfolge im Kirchenjahr stärker als bisher von ihrer eigentlichen Achse her bzw. als Entfaltung der Osterfeier in der Weltzeit strukturiert würden. Beides zugleich aber ist nur zu erreichen, wenn die liturgischen Elemente Zeit, Raum und Bewegung (Ritual, evtl. auch Tanz: T. Berger, Tanz [s. Lit. zu 4]) ihre eigene Sprache sprechen dürfen und so auch der Wortverkündigung dazu helfen, sich auf ihre Aufgabe konzentrieren zu können. Die Bemühungen darum, die Feier der Ostervigil, die „Mutter aller Vigilien" (Augustinus), wiederzubeleben, führt die evangelische Kirche nicht nur in eine von ihr verlorene ökumenische Tradition zurück, sondern auch von der Theologie des Kirchenjahres her auf den richtigen Weg. 4. Praktisch-theologische
Perspektiven
4.1. Kirchenjahr und gesellschaftliches Bewußtsein. Unabhängig von dem Stadium, das der Prozeß der Entkirchlichung in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten erreicht hat, behaupten einige christliche Feste und Festzeiten (hervorragendes Beispiel: Weihnachten) ihren Platz im Kalender wie im gesellschaftlichen Bewußtsein, gewinnen
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womöglich noch an kulturellem Gewicht (vgl. z. B. die .Überdehnung' der Weihnachtszeit in eine nach vorne verlängerte Adventszeit und eine f ü r das Freizeitverhalten immer wichtiger werdende .Nachfeier' hinein). In einem tiefgreifenden Bedeutungswandel werden dabei jedoch überlieferte christliche Inhalte transformiert, ihrer biblischen und heilsgeschichtlichen Bezüge zumindest partiell entkleidet bzw. u m neue Gehalte erweitert: Es sind d a n n oft die kosmisch-vegetativen Gehalte, die erneut an die Oberfläche drängen (vgl. die Unterscheidung mehrerer Sinnebenen o. 2 . 6 a - c ) und sich mit neuen, gesellschaftlich bedeutsamen Sinnzuweisungen verbinden (Weihnachten als ,Fest der Familie', ,des Friedens' usw.). Unübersehbar vollzieht sich freilich auch ein Wandel im Gestaltbereich, auf der Ebene kalendarischer Konventionen: N e u e Festpunkte und Festzeiten bilden sich heraus, überlagern die bisherigen Gliederungen, lösen sie ab. Das gilt für das sog. bürgerliche Jahr, das sich mehr und mehr aus dem Z u s a m m e n h a n g mit dem Kirchenjahr löst und eigene Gliederungen und Gliederungspunkte entwickelt (vgl. z.B. die strukturierende Rolle des Jahresurlaubs und des ,freien Wochenendes'); das gilt aber auch f ü r die Art und Weise, wie christliche Praxis auf diese Entwicklungen reagiert und nun ihrerseits versucht, die neuen Gliederungsmomente zu integrieren, sie nicht n u r mit den überkommenen Strukturen, sondern womöglich auch mit den überlieferten Bedeutungen zu verbinden. Das Kirchenjahr in seiner tradierten Gestalt gerät so in die Rolle einer subkulturellen Lebensordnung, die nur noch innerhalb eines gesellschaftlichen Teilsystems Gültigkeit besitzt und von den G r u p p e n beherrscht und benutzt wird, die dieses System tragen. Der praktizierende Christ lebt damit im Schnittpunkt mehrerer sich überlagernder Festcodes, die sich zwar noch punktuell berühren (was zur Verschleierung des prinzipiellen Dissenses beitragen kann), jedoch häufig miteinander konkurrieren. D a moderne Industriegesellschaften nur noch den partiellen Rückzug in ein subkulturelles Getto zulassen, in dem d a n n auch ein entsprechender Festcode uneingeschränkt plausibel bleiben könnte, wird den Christen ein Leben in unterschiedlichen kulturellen Zeit-Räumen abverlangt. Schon jetzt läßt sich absehen, d a ß sich das Kirchenjahr als subkultureller Festcode volkskirchlich nur in dem U m f a n g wird behaupten können, wie es sich mit den anderen kulturell wirksamen Codes vermitteln läßt. Daß die damit gestellte praktisch-theologische Aufgabe einen gewissen Anhalt an den Vorgängen findet, die in der Alten Kirche zur Ausbildung eines christlichen Festjahres führten, hat schon G. Kunze gezeigt: Der antike Kalender mit seinen Festen und Festzeiten wurde nicht einfach negiert und abgewiesen, sondern an wesentlichen Punkten aufgenommen, freilich auf der Bedeutungsebene — durchaus unter Aufnahme vorgegebener semantischer u. a. Bezüge - radikal umcodiert (Lebensordnung 28). Die Aufgabe wird freilich dadurch erschwert, daß solche Umcodierungsvorgänge heute vorwiegend in umgekehrter Richtung verlaufen und damit bei Kirchen und Christen ein defensives Bewußtsein erzeugen, das einem neuerlichen .Zugriff' auf den Kalender im Wege steht. Nun wurden in der Alten Kirche antike Festinhalte von Christus her prädiziert (vgl. die vermutete Entstehung des Weihnachtsfestes aus einem Geburtsfest des sol invictus: Die Sonne ist Christus!). Auch heute sind entsprechende Prädizierungen gesamtkultureller Vorstellungen, Bedürfnisse und Werte (die Freiheit, der Frieden, die Gerechtigkeit, die Sicherheit, die Muße ist Christus) sowie der symbolischen Vollzüge und kalendarischen Konventionen, in denen sie sich darstellen und ausdrücken, denkbar und nötig. Die solchermaßen von Christus her prädizierten Größen werden damit nicht abgewiesen, sondern ernstgenommen: Die Archai, auf die sie sich beziehen und die sich in ihnen zu Wort melden (vgl. o. 2.5), finden in der Geschichte Jesu Christi ihre erfüllende Bestätigung. Es gehört zur theologischen Aufgabe, am konkreten, beobachtbaren, womöglich schon im Kalender verorteten Ritus (z.B. .Reinigungsriten' am Wochenende; .Waschmittel-Liturgien' in der Werbung; öffentlichkeitswirksame politische Verhaltensweisen) solche Bedürfnisse und Werte zu erheben, von Parallelriten her ihre Arche zu ermitteln und diese zu den in der Bibel überlieferten Archai in Beziehung zu setzen. Vordergründige Adaptionsversuche - als Beispiel sei auf den vom römischen Kalender am 1. Mai gefeierten Josef den Arbeiter' verwiesen — erreichen allerdings meist die so erinnerte und begangene Arche nicht: Sie kann nur dort von Christus her prädiziert werden (Herr der Arbeit ist Christus), wo auch die sehr elementare Sehnsucht nach einem von Fremdbestimmung und Ausbeutung befreiten, lebenswürdigen Dasein, wie sie sich in ihr ausspricht, uneingeschränkt aufgenommen wird. Theologische Weiterarbeit a m Kirchenjahr wird darauf achten, d a ß seine Feste nicht
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nur in diachroner Verbindung mit dem Heilshandeln Gottes in der vom Alten und Neuen Testament bezeugten Geschichte stehen, sondern auch in synchroner Verbindung mit der ganzen Schöpfung (Rom 8,19ff; Apk 21 f), d.h. aber auch mit der weder jüdischen noch christlichen Menschheits- und Religionsgeschichte. Denn vor allem im Blick auf den ersten Artikel des trinitarischen Glaubens ist das Kirchenjahr noch als unterentwickelt zu bezeichnen (vgl. u. 4.3.1.). 4.2. Das Kirchenjahr: die 'Wahrnehmungsgestalt der „großen Taten Gottes" (Act 2,11 ). Keinesfalls nur von reformierter Theologie her, aber immer unter Berufung auf Kol 2,16, ist das Kirchenjahr in Frage gestellt (Karnetzki) bzw. als System relativiert worden (z. B. von Angelus A. Häußling, Fest 217): Die Relevanz kalendarischer Termine sei „lediglich die kirchlicher Konvention, nicht die einer irgendwie objektiven, dem meßtechnischen Zeitpunkt innewohnenden Erheblichkeit". Nun sind die gewachsenen Ordnungen liturgischer Zeit Größen, die für sich selbst gewiß keine Heiligkeit beanspruchen können, und ihre Überprüfung und Gestaltung ist Aufgabe der Kirche(n). Gleichwohl zeigen die Formkräfte (s.o. 3.3, 3.5), daß die allermeisten Termine des Kirchenjahres weder beliebig zustandegekommen sind noch beliebig geändert werden können (so auch Häußling): Ihre Geschichte hat mit der Geschichte des Kanons, der Theologie und der Kirchen zu tun. Im Blick auf einen anderen Einwand gegen das Kirchenjahr gilt: Es ist zwar theologisch richtig, daß in Christus jeder Tag ein Festtag ist (Kirchenväterbelege dazu bei Häußling, ebd. 216 Anm. 14). Aber solche Totalaussagen verhindern andererseits in der sozialen Wirklichkeit gerade, daß das damit Gemeinte wahrgenommen, Gedächtnis werden und eine begehbare Gestalt annehmen kann. Feste können als Feste nur gefeiert werden, wenn sie sich durch ihren besonderen Grund von der nicht-festlichen Alltäglichkeit abheben, selbst Fest-Zeit setzen. Ohne besondere Fest-Zeit kommen Menschen nicht zu gemeinsamer Feier an einem Ort zusammen (convenire). So gesehen spricht gerade der (relativierende) Begriff Konvention die soziale - und daran hängend - die Zeit-Gestalt des Festes an. Mit der Meßbarkeit von Zeitpunkten hat dies in der Tat nichts zu tun; wohl aber mit der Zusammengehörigkeit von Gottesdienst- und Lebensordnung der Kirche, in der sich der Lebensbezug des Gottesdienstes ausdrückt (Jungmann, Liturgie [s. Lit. zu 3] 21 ff; Wengst; Jörns, Lebensbezug). Denn es gehören nicht nur lex orandi und lex credendi zusammen; wegen des „Gesetzes Christi" ist das Paradigma um die lex (con-)vivendi zu ergänzen (Jörns, lex orandi; was eine lex agendi einschließt: T. Berger, Lex). Die Wahrheit dieses Paradigmas hat Gestalt angenommen in Jesus Christus. Er selbst ist eine WegWahrheit, die für die Glaubenden in der Nachfolge wahr wird. Daß Jesus Christus und der Weg, die Wahrheit, das Leben und die Auferstehung ineins gesetzt werden (Joh 14,6; 11,25), heißt: diese haben seine Gestalt, er ist ihre Gestalt. Weil in dieser Weg-Wahrheit der Faktor Zeit mitgesetzt ist, sind nicht nur die jeweils letzten vier Kapitel der Evangelien, sondern diese ganz (aber auch andere Teile der Schrift) als die Arché unserer Erlösung und Befreiung zu hören (Rom 10,17) und zu feiern. Und dies nicht alles in einer Festzeit, sondern in mehreren Festen und Festkreisen entfaltet inmitten der gemessenen Weltzeit als Festkalender im Jahreslauf. Die Notwendigkeit dieser intervallartigen Entfaltung (wie Kreis und Pfeil) hängt aber auch mit der Art menschlicher Wahrnehmung und Gedächtnisbildung zusammen, die nicht nur der einprägenden Kraft der Wiederholung bedarf; nach den Einsichten V. v. Weizsäckers, wonach „das Leben nicht in der Zeit ist, sondern die Zeit im Leben ist oder genauer durch dessen Selbstsetzung wird" (19), muß der Faktor Zeit auch im Wahrnehmungsakt berücksichtigt sein, wenn die Lebenswahrheit Jesus Christus wahrgenommen werden soll. Und weil sich die Gestalt des Wahrzunehmenden als eine die Weltzeit transzendierende Festfolge (vgl. die transitus-Linie, s. o. 3.3) entfaltet hat, also selbst Bewegung enthält, muß auch die Gestaltwahrnehmung in einer (zyklisch wiederkehrenden) Folge von Wahrnehmungsakten geschehen. In ihnen verbindet sich das objektive Erscheinungsbild und unsere subjektive Betrachtung zu der für uns wirklichen „Wahrnehmungsgestalt" (v.
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Weizsäcker 4). Damit unsere Wahrnehmungsgestalt (das ist im Blick auf Jesus Christus unser Glaube) immer tiefer von der Gestalt Jesu Christi geprägt wird (Heiligung), reicht ein Gottesdienst im Jahr nicht aus. Die Einheit aus Wahrnehmen und (Sich-)Bewegen verlangt vielmehr das Sich-Bewegen im Sinne der Mitfeier des Sonntags und der Festzeiten im Jahr, und zwar leibhaftig in der Gemeinde, die der Leib Christi ist. Eine sogenannte electronic church, aber auch andere Versuche, Kirche ohne soziale Kontakte haben zu wollen, führen deshalb zwangsläufig zu einer verzerrten Wahrnehmungsgestalt und verhindern, was uns Rom 8,29 zusagt: unser Gleichgestaltetwerden mit Christus.
Umgekehrt fordert dieser Zusammenhang von der Kirche eine Art von Sonntagsfeier und Festfolge, in der die „Vielgestalt Christi" (Häußling) bzw. des dreieinigen Gottes nach dem Zeugnis der Schrift Gestalt werden kann. Das geht nur, wenn die einzelnen Gottesdienste zu erkennen geben, daß sie Teil eines Ganzen sind, und wenn sie zugleich selbst das Ganze proleptisch enthalten (vgl. Casel, Festmysterium [s. Lit. zu 3] 143 ff). Im Blick darauf, daß Wort und Sakrament den Gottesdienst konstituieren, fällt dem Abendmahl (einschließlich seiner Arche, den verba testamenti) eher die proleptische und der Wortverkündigung eher die erste Aufgabe zu. Die Lektionare müßten, um dieser doppelten Aufgabe gerecht werden zu können, sowohl vom Proprium geprägte (nicht zu kurze) Perikopen als auch eine über den Tag hinausweisende Continua-Lesung enthalten (die dazu einlädt, ihr am nächsten Festtag oder durchs Weiterlesen zu folgen). In einer Zeit, in der einerseits die Bereiche des Indeterminierten im Leben immer größer werden (s.o. 2.8) und in der andererseits die Möglichkeiten des einzelnen angesichts der oft als Numinosa erlebten „Zwänge" gering eingeschätzt werden, kann das Kirchenjahr gerade in seiner eigenen Festordnung ein kollektives Gedächtnis des Anfangs und Zieles der Heilsgeschichte bewahren. Dieses Gedächtnis wachzuhalten bzw. von Kindesbeinen an zu prägen, fördert den „Widerstand gegen die Vertreibung ins bloß Gegenwärtige" (Lorenzer [s. Lit. zu 1] 16). Das -»Vatikanum II hat es in einem Anhang zur Liturgiekonstitution für akzeptabel erklärt, daß der Ostertermin kalendarisch festgelegt würde, wenn die Sieben-Tage-Woche erhalten bliebe. Doch damit würde nicht nur eine kalendarische Festlegung vollzogen. Wochen-, Mond- und Sonnenzyklus sind nicht einfach Hüllen, die abgestreift werden könnten. An ihnen im Festkalender festzuhalten, drückt vielmehr aus, daß sie als sichtbare Zeichen mit uns zusammen zu einer Schöpfung gehören, die nicht in sich selbst glatt aufgeht, sondern nach Erlösung seufzt (Rom 8,19ff).
4.3. Horizonte 4.3.1. Ein Kirchenjahr für das Volk Gottes aus den Völkern. Das christliche Passa aus Kreuz und Auferstehung Jesu Christi besagt, daß es um Blut geht, wo es um Leben und Tod, um Erlösung und Befreiung geht; Jesus Christus hat als das Lamm Gottes der Welt Sünden getragen. Dieser Glaube hat schnell alle Volksgrenzen überschritten und das neue Volk Gottes aus den Völkern (einschließlich des Volkes Israel) zu sammeln begonnen. Wie der jüdische Festkalender zeigt das werdende Kirchenjahr eine große integrative Kraft im Blick auf Feste, Frömmigkeit und religiöse Ideen der Umwelt (vgl. die synchrone Dimension 4.1). Doch diese Entwicklung ist in entscheidenden Punkten steckengeblieben. Verantwortlich dafür ist auf der einen Seite die schon im Alten Testament erkennbare Tendenz zur Historisierung, verbunden mit der sich steigernden Polemik gegen alles Zyklische (= „Heidnische"), und auf der anderen Seite die Spiritualisierung der Passatradition und anderer Festinhalte (Auf der Maur [s. Lit. zu 3] 227), die den Lebensbezug des Gottesdienstes vernachlässigt; ferner eine (vor allem protestantische) Neigung zur Uberverbalisierung der Gottesdienste, die das Abendmahl (wie auch die Kinder!) und viel Gestisches aus dem Gottesdienst verdrängt hat, wodurch seine Intellektualisierung und Desymbolisierung ungehindert voranschreiten konnte. Bedeutsam ist, daß auch der Opfergedanke (der grundsätzlich vom kontroverstheologischen Problem zu unterscheiden ist, ob das Opfer Christi im Gottesdienst wiederholt werden kann) zurückgedrängt wird,
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u.a. weil man sich, orientiert an einem zeitgenössischen Humanitätsideal, einen Gott nicht vorzustellen vermag, der durch Menschenblut versöhnt wird. Gleichwohl ist noch nie so viel Menschen- und Tierblut vergossen worden wie in der Gegenwart (militärisch- und industriell-maschinell und im Straßenverkehr). Macht es schon diese Tatsache problematisch, daß Opfer und (unser) Blutvergießen gottesdienstlich ausgeklammert werden, so mehr noch die andere, daß diese Tötungspraxis gesellschaftlich weitgehend (im Namen von Sicherheit, Wirtschaft, Freiheit, Humanität und Konsum) sanktioniert ist. Doch nennt die Umgangssprache, die mit dieser säkularen Tötungspraxis nach wie vor den Begriff „Opfer" (nationales Opfer, Verkehrsopfer, Blutzoll der Freiheit etc.) verbindet, das Faktum: Es wird geopfert, gerade auch Blut (wobei die religiöse Qualität der in den Rang absoluter Werte geratenen Interessen durch die Götternamen der Atomraketen [Nike, Poseidon etc.] aufgedeckt wird). Mit der säkularen Blutopferpraxis aufs engste verbunden ist dabei seit je der Wert Volk bzw. Nation. Im Zweifelsfall, und das ist geschichtlich der Kriegsfall, hat das nationale Interesse (gerade auch in der Verbindung mit Blut und Boden) über den Glauben an die Einheit des Gottesvolkes aus den Völkern die Vorherrschaft behalten, auch noch in diesem Jahrhundert und trotz der ökumenischen Bewegung.
Hier kann die Passaformel Augustins (transitus ex passione) den Weg dazu weisen, wie eine neue Besinnung auf das (für die Sünden der Welt hinreichende) Blutopfer Jesu Christi in Sonntagsfeier und Kirchenjahr der Übergang zu einer entschiedenen Fortsetzung der Volkwerdung der -»Kirche aus den Völkern werden kann. Bemühungen darum, den Festkalender der jeweils anderen Kirchen und mit ihm die je besondere „Wahrnehmungsgestalt" Jesu Christi verstehen zu lernen, müßten folgen; doch auch solche, die den trinitarischen Glauben im Festkalender insgesamt eine bessere, und d. h. über die Herrenfeste hinaus liturgisch begehbare Gestalt gewinnen lassen (zu denken ist an die Schöpfungs- und die Exodus-Arche) und dabei in einer neuen Wahrnehmung der synchronen Dimension auch außerjüdische und außerchristliche Festtraditionen nicht prinzipiell ausschließen. In gewisser Parallele zu der im jüdischen Glauben stets beibehaltenen doppelten Verbindung von Glaubens- und Volksgemeinschaft einerseits und von dieser mit dem Land Israel andererseits könnte das Kirchenjahr für eine „transnationale Volkszugehörigkeit" (Gestrich 226) des Volkes Gottes einschließlich der Erde als seiner nicht-teilbaren zeitlichen Heimat werben - freilich gegen unsere noch immer so teuer gepflegten Egoismen und anderen blutigen Begrenztheiten. Durch diese neue kosmopolitische Ausrichtung könnte dann auch die „nationale und politische Geschichte miteinbezogen" (Auf der Maur 227) werden und das Wort -»„Volkskirche" noch einmal eine ganz neue, weitreichende Bedeutung gewinnen. Aber auch die Bußtage (-»Buße) sowie Tage, an denen die nationale Geschichte seit je eine Rolle spielt (Volkstrauertage), bekämen eine klare Ausrichtung. 4.3.2. Weitere Perspektiven
können nur noch stichwortartig genannt werden:
a) Die Diskussion um eine kalendarische Festlegung des Ostertermins hat gezeigt, „daß alle Kirchen nur gemeinschaftlich einer Neuerung zustimmen" (Auf der Maur 141) wollen. Unabhängig von der Kalenderfrage ist der Vorschlag (ebd.) wichtig, das Gespräch über das Osterdatum auch mit der jüdischen Religionsgemeinschaft zu führen. b) Bei diesem Gespräch könnte es auch um für bestimmte Festzeiten gedachte gemeinsame Lektionare gehen. Der Verlust des für Katholiken und Evangelische in vielen Lesungen gemeinsamen Lektionars (in Europa) erscheint in diesem Zusammenhang als eine besonders schmerzliche Wunde, die der Heilung bedarf. c) Ein neues Nachdenken über die Feier des Triduum sacrurn und der Osternacht (vgl. Stock/Wichelhaus 117-120; Auf der Maur 141 f; Liturgie der ev.-ref. Schweiz 119-143.374-378) führt vor die Frage, wie kirchliche Festfeier und Urlaubszeit miteinander verbunden werden können. Denkbar wären Modelle, die eine Feier der „Heiligen Woche" (als Kirchenjahr in einer Grundform) mit einer Zeit gemeinsamen Lebens am Wohn- oder Urlaubsort verbinden, evtl. mit dem Kennenlernen fremder liturgischer und geistlicher Traditionen. d) Angesichts der Tatsache, daß die Zählung des Sonntags als 1. Tag der Woche die Einheit des Triduum sacrum nicht fördert, könnte an die alte Zählung als 8. Tag wieder angeknüpft und so auch eine Brücke zur allgemeinen Zeiterfahrung geschlagen werden. Damit ließe sich verbinden, worauf W. Rordorf mit der Frage zielt, „ob nicht in der heutigen Fünf-Tage-Woche die Bedeutung des
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Sabbats als eines Gedenktages der ersten Schöpfung in der christlichen Kirche wieder mehr in den Blickpunkt kommen könnte, wobei dann am Sonntag der Fortschritt der Heilsgeschichte mit dem Beginn der zweiten Schöpfung erst ins rechte Licht träte" (Ursprung [s. Lit. zu 3] 150). e) Das Kirchenjahr ist noch anders als das einzelne Fest geeignet, Gedächtnis im Blick auf Lebenssinn zu prägen, indem es in der jeweiligen Gegenwart des Gottesdienstes die bezeugte Vergangenheit und die verheißene Zukunft mit Gott erinnert. Entgegen der partikularistischen Betrachtung der Welt im einzelnen erlaubt das Kirchenjahr den Blick auf die Welt im ganzen. Je mehr sich die Indeterminiertheiten durch technische und andere Erleichterungen des Alltagslebens ausweiten und je mehr kommerzielle Sinnanbieter dieses Vakuum füllen wollen, desto wichtiger werden überschaubare, vom Glauben geprägte Sinngefüge. f) Da die Feste (wie die Heilsgeschichte) mit biblischer Geschichte unlösbar verbunden sind, ist das rechtzeitige Vertrautmachen mit biblischen Geschichten, die für das Kirchenjahr von Bedeutung sind, eine katechetische Aufgabe erster Ordnung. So würde sich auch der erzählende Teil in einem Gemeindekatechismus ergeben können, der zugleich in die Gottesdienste des Kirchenjahres einführt. g) Dabei ist zu bedenken, daß der Festkalender einschließlich der Feier des Sonntags eine wichtige kulturprägende Bedeutung hat, und daß der kulturelle Wandel in die - christlich gesehen Gestaltlosigkeit führt, wenn nicht von den weitererzählten Geschichten her ein bleibendes Fundament gelegt wird. Andere Erzählungen und neue Mythen warten nur darauf, das Vakuum zu füllen, das die Kirche läßt. h) Jede Generation muß an der Gestalt und Gestaltung des Kirchenjahres weiterarbeiten: theologisch und liturgisch. Dazu bedarf es aber sprachlicher Brücken, und das setzt voraus, daß zwischen einer gesamtkirchlich-ökumenischen Grundstruktur und regionalen Ausformungen einzelner Feste unterschieden werden kann - gerade wegen des Zusammenhangs von Gottesdienst- und Lebensordnung der Gemeinde. Die heute noch weltweit und landesweit anzutreffenden Unterschiede zwischen (mehr) agrarischen und (mehr) industriellen Strukturen, Denk- und Frömmigkeitsformen machen einheitliche Regelungen über eine Grundstruktur hinaus problematisch. i) Kirchlichen Prozessionen kann in Zukunft (neben den politischen Demonstrationen) durchaus wieder neuer Sinn zuwachsen — wenn sie als Teil-Stück des Weges zu einem im Glauben konsensfähigen Ziel erkannt werden können. j) Von klösterlichen Gemeinschaften und ihrem vollen Festkalender werden mehr Impulse als bisher für die nicht-klösterlich lebenden Gemeinden gesucht und erwartet werden dürfen. Den Gemeinden Verlorengegangenes ist oft nur dort noch aufbewahrt. k) ökumenische Heiligenkalender (Bieritz, Kirchenjahr [s. Lit. zu 3] 242 ff) können wichtige Wegweisung und Anstifsting zum Glaubenszeugnis vermitteln. Merkwürdig ist die (z. B. in der nachreformatorischen „Kirche unter dem Kreuz" unbekannte) Scheu, Gestalten aus der neueren Geschichte hinzuzunehmen. Auch hier müßte es im übrigen Freiheit dazu geben, daß neben den „ökumenischen Heiligen" auch (nur) regional als bedeutend erkannte Frauen und Männer als exempta des Glaubens erinnert werden können. Doch vielleicht wird auch in diesem Punkt unser Blick irgendwann einmal über die Religionsgrenzen hinausgehen können. Literatur Zu 1. Allgemeines: Adolf Adam, Grundriß Liturgie, Freiburg/Br. 1985. - Ders./Rupert Berger, Pastoralliturg. Handlexikon, Freiburg/Br. 1980. - Schalom Ben-Chorin, Betendes Judentum, Tübingen 1980. — Rupert Berger u.a., Gestalt des Gottesdienstes. Sprachliche u. nichtsprachliche Ausdrucksformen, Regensburg 1987 (Gottesdienst der Kirche. Hb. der Liturgiewiss. 3). - Karl-Heinrich Bieritz, Daß das Wort im Schwang gehe. Reformatorischer Gottesdienst als Überlieferungs- u. Zeichenprozeß: JLH 29 (1985) 90-103. - Odo Casel, Das christl. Kultmysterium, Regensburg 1932 4 1960. - Constitutio de Sacra Liturgia u. dt. Übers. Konstitution über die Hl. Liturgie: LJ 14 (1964) 1 - 1 0 0 (mit Zusatzdokumenten ebd. 107-135.152-156.259-287). - Peter Cornehl, Aufgaben u. Eigenart einer Theorie des Gottesdienstes. Zum Stand der Debatte: Der Gottesdienst. Aufgaben der Theorie. Probleme der Praxis, Frankfurt/M. 1981,12-37. - Ismar Elbogen, Der jüd. Gottesdienst in seiner gesch. Entwicklung, Frankfurt/M. 3 1931 = Hildesheim 4 1962. - Mircea Eliade, Le Mythe de l'Éternel Retour. Archétypes et Répétition, Paris 1949; dt.: Kosmos u. Gesch. Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Düsseldorf 1953 = Reinbek 1966. - Ders., Die Religionen u. das Heilige. Elemente der Religionsgesch., Salzburg 1954,438-462. - Leonhard Fendt, Einf. in die Liturgiewiss., 1958 (STö.H 5). - Balthasar Fischer, Die Psalmen als Stimme der Kirche, hg. v. Andreas Heinz, Trier 1982. - Klaus Gamber, Liturgie u. Kirchenbau. 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1. Definition Der Begriff,Kunde' (kundig sein = erfahren, kenntnisreich, sachverständig) muß sich beim Vergleich mit einem modernen analytischen Wissenschaftsbegriff das Attribut,vorwissenschaftlich' gefallen lassen. Statt einer streng theoriegeleiteten Zusammenordnung von Einzelphänomenen zu einem konsistenten System, statt einer logischen Erklärung kirchlicher Erscheinungen durch deren Herleitung von vermuteten Ursachen oder deren Deutung auf bestimmte Zwecke hin dominiert bei einer Kunde das Moment des Beschreiben, wobei solche Deskription noch zusätzlich belastet ist mit dem Anspruch einer intuitiven Wahrnehmung von Ganzheiten, ohne daß zuvor alle Einzelelemente des ,Bildes' bestimmt wären. Dieser spezifischen Wahrnehmungsart bei einer Kunde eignet folgerichtig etwas Offenes, Nicht-Abschließendes bei der Charakterisierung des .Wesens einer Sache*. Mit dieser Eigenart legt die Kirchenkunde zugleich ihre eigene Vergangenheit bloß: Sie ist ein Kind
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des Historismus (-» Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VII/2.5). Jedenfalls ist sie eine theologische .Disziplin', die nur in einer .Theologie der Erfahrung' einen höheren Stellenwert beanspruchen kann. Statt die Kirche vornehmlich durch eine lehrhaft-dogmatische oder durch eine abstrakt-spekulative Brille zu betrachten, sucht der Kirchenkundler nach der konkreten Eigenart gegenwärtiger kirchlicher Erscheinungen; er will deren unverwechselbar individuelle Züge entdecken, gerade auch das historisch Zufällige erahnen und schildernd aufzeigen. Kirchenkundliches Ideal müßte es daher sein, das Wesen einer geschichtlichen kirchlichen Gestalt so aufzuspüren, daß die exklusive Authentizität derselben ins Licht gestellt würde. Eine solche Kirchenkunde dürfte ihr Medium wohl eher in pastoralen Tagebüchern, in literarisch aufbereiteten Erfahrungen einzelner Christen mit ihrer Kirche oder auch in gruppenspezifisch eingefärbten lokalen Visitationsberichten finden, nicht jedoch in nackten statistischen Angaben (-»Statistik, Kirchliche). Ihre fachliche und historische Nähe zur sog. Volkskunde oder gar Heimatkunde wie auch ihre institutionelle Verankerung in der sog. zweiten, also der praktischen Ausbildungsphase von Gemeindetheologen (Predigerseminar!) bestätigen zudem den induktiv-historiographischen Charakter der Kirchenkunde und machen deren Schwierigkeit einsichtig, mangels klarer wissenschaftlicher Beurteilungskriterien, sprich mangels einer eigenen Methodik, analytischen Wissenschaftsansprüchen zu genügen. - Gleichwohl dürfte gerade diese Sperrigkeit gegenüber einem objektivierenden Wissenschaftspositivismus ihre aktuelle Chance sein, als alternative praktische Ekklesiologie einen notwendigen Beitrag zur Theologie zu leisten! 2. Zur Geschichte der ,Disziplin' Bereits von den Erwägungen zur Definition her ist das Schicksal dieses knapp 100 Jahre alten Fachs zu erahnen: Im Fächerkanon der heutigen Theologie/Praktischen Theologie wurde das Fach abgelöst durch -•Kirchensoziologie/ -»Religionssoziologie/ -»Religionspsychologie/ ->Kirchliche Demographie/ Organisationsgeschichte und -Statistik. In diesen jungen Disziplinen werden kirchliche Phänomene in eine Korrelation gesetzt zu Theorien, die in den jeweiligen empirischen Wissenschaften entwickelt worden sind. Damit werden quasi-naturgesetzliche Zusammenhänge und Entwicklungen auch bei religiösen Erscheinungen behauptet. Die Korrespondenz von ,Kirche und Gesellschaft' ist Leitkriterium solcher Analysen und Prognosen, nicht jedoch binnenkirchliche/binnentheologische Entfaltungsgesetze eines religiösen Propriums. Zurückführen läßt sich die Evangelische Kirchenkunde jedweder Couleur auf die Forderung Schleiermachers in § 95 seiner Kurzen Darstellung des theologischen Studiums (1811), es müsse im Rahmen der historischen Theologie die „Darstellung des gesellschaftlichen Zustandes der Kirche in einem gegebenen Moment [als] die Aufgabe der kirchlichen Statistik" geben. In diesem Sinne forderte P. -»Drews seit Anfang unseres Jahrhunderts die Kirchenkunde als einen Zweig der praktischen Theologie und begründete so die Reihe Evangelische Kirchenkunde. Das kirchliche Leben der deutschen evangelischen Landeskirchen (7 Bde., 1902-1919; der Name ,Kirchenkunde' stammt von Claus -»Harms!). Aufgabe der Kirchenkunde in ihrer Kombination von Statistik und religiöser Volkskunde war es, das kirchliche Leben der Gegenwart in seiner Gesamtheit zu erfassen, also kirchliche Organisation, Sitte und Vorstellungen einschließend. Dabei sollten die Kirchentümer auf den verschiedenen Organisationsebenen in ihrer Eigenart so dargestellt werden, daß sie wie geschichtliche Individuen, aus der Vergangenheit kommend, in der Gegenwart lebend, in Erscheinung treten würden. Hochleistungen zu dieser religiös-volkskundlichen Kirchenkunde finden sich sodann bei Martin Schian (1869-1944), vor allem aber in den Praktisch-theologischen Lehrbüchern von E.Chr. -»Achelis und F. -»Niebergall, wo insbesondere die seelsorgerlichen Partien von einer religiös-volkskundlichen Differenzierung der Bevölkerung profitieren.
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Solche Differenzierung verdankt sich freilich einem Gesellschaftsideal, das gesellschaftliche Schichtung noch nicht negativ apostrophiert. Die Kenntnis der soziologischen und psychologischen Bedingungen des religiösen Lebens konnte strategisch genutzt werden, wenn es um die theoretische und praktische Behebung großer kirchlicher Notstände ging, wie z. B. bei der Arbeiterfrage. Das wesentliche theoretische Problem solcher Kirchenkunde lag in der Bestimmung ihrer Beurteilungskriterien: Bei Drews wie bei Niebergall werden .implizite Werturteile' von der Vorstellung einer ,gestuften Frömmigkeit* bereitgestellt. Die Auffassung von einem wahren Wesen evangelischer Frömmigkeit sowie die Sicht der Kirche als einer gewaltigen Erziehungs-, Bildungs- und Veredelungsanstalt zeigen, wie sehr die klassische Kirchenkunde von zwei Voraussetzungen zehrt: 1. von einer vorstrukturierten Gesellschaft und einer ebenso strukturierten Kirche, d. h. nicht das Individuum als solches ist letztlich Bezugsgröße von Kirchlichkeit, sondern dessen Orts- und Standeszugehörigkeit; 2. von einer bürgerlichen Kulturfortschrittshoffnung. So war es geradezu folgerichtig, daß mit der -»Dialektischen Theologie diese Art von Kirchenkunde (als Kirchliche Statistik und Religiöse Volkskunde) ein Ende fand. 3. Kirchenkunde
in Gestalt moderner
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Die aktuelle Variante der Kirchenkunde - in der evangelischen wie in der katholischen Kirche - ist die empirische -* Kirchensoziologie und - mit wachsender Bedeutung - eine auf Kirchlichkeit bezogene Form klassischer -»Religionssoziologie, bedingt auch eine wiedererweckte Religionspsychologie. Empirisch meint dabei eine im wesentlichen induktiv vorgehende Datensammlung mit anschließender Typisierung. Gegenläufig zu diesem Weg vom Einzelelement hin zum Kollcktivphänomen vollzieht sich eine Theorieentwicklung, wie sie vor allem im Zusammenhang mit den großen Repräsentativerhebungen in den 70er Jahren sichtbar wird. Leitend werden dort die Systemtheorie (das religiöse System als funktionales Teilsystem der Gesellschaft; so bei der EKD-Umfrage über - • Kirchenmitgliedschaft); Elemente der Sozialpsychologie (die kognitiv-affektive Konsonanz- bzw. Dissonanztheorie bildet eine kräfte-ökonomische Balance ab zwischen innerem Wertehaushalt und äußerem Verhalten; so bei den Interpretationen Schmidtchens: VELKD); Entwürfe der Wissenssoziologie (symbolische Vorstrukturierungen steuern die Weltwahrnehmung, die Religion gehört zu den Symbolstrukturen; so bei Berger/Luckmann u.a.). Typisch für alle diese Zweige moderner Kirchen-/Religionssoziologie ist, daß der einzelne als religiöses Subjekt sowie das allgemeine anthropologische Faktum von Religiosität die Determinanten der Theoriebildung sind, allenfalls kommen dazu noch recht abstrakte gesellschaftliche Strukturen. Die Kirche selbst, gerade in ihrer geschichtlich erlangten Varianz, hat kaum noch eine Subjektstellung in diesen Theorien. Damit verlieren auch partikulare, regionale und lokale kirchliche Individualitäten ihre Dignität, die sie einst in der Kirchenkunde hatten. Gleichzeitig entwickelte sich aber in der Bundesrepublik Deutschland eine gewaltige formelle Kirchenorganisation mit der negativen Konsequenz, daß Kirchenkunde nur noch diese formalorganisierte Kirche im Blick hatte. Die hohe Wertschätzung hingegen, die neuerdings der Religiosität und ganz allgemein der -»Erfahrung zukommt, droht von der kirchenoffiziellen Kirchenkunde nicht genügend beachtet zu werden. Ganz anders reagiert darauf die kirchenfernere Kirchen- bzw. Religionssoziologie: Sie interessiert sich weniger für kirchliche Organisations- und Partizipationsprobleme als vielmehr für die faktoranalytisch zu erhellenden Zusammenhänge von Erwartungen, Einstellungen, Verhaltensstilen und Handlungen einerseits und der Präsenz von Kirche in der Gesellschaft andererseits (-»Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum). Auch die volkskirchliche Religionspraxis bei den -»Kasualien (vgl. T h . Müller) wie an den Feiertagen wurde für die Forschung attraktiv. Unterstützt wird diese Verlagerung des Interesses der Kirchen-/Religionssoziologie - weg von innerkirchlichen Bestandsfragen und hin auf die sog. implizite Religion im Leben - durch eine theologische Ekklesiologie,
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die Anschluß sucht am Erbe der -»Liberalen Theologie, was schließlich zu einer Neubelebung der,alten Kirchenkunde' führen könnte mit einem vitalen Interesse an den .Lebensgestalten des Glaubens*. Literatur Für die Literatur von 1945—1986 s. den Forschungsbericht von Gerhard Rau, Volkskirche heute— im Spiegel ihrer theol. Problematisierung: VF 32 (1987) H . 2 . Ernst Christian Achelis, Prakt. Theol., 2Bde., Freiburg 1 8 9 0 / 9 1 , 3 Bde., Leipzig 1911. - Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt 1969. Paul Drews, ,Rel. Volkskunde', eine Aufgabe der Prakt. Theol., 1901 (MKP 1). - Ders., Der Ev. Geistliche in der dt. Vergangenheit, Jena 1905. - Ders., Das Problem der Prakt. Theol., Tübingen 1910. - Michael N. Ebertz/Franz Schultheis (Hg.), Volksfrömmigkeit in Europa, München 1986. Andreas Feige, Kirchenaustritte, Gelnhausen 1976. — Justus Freytag, Die Kirchengemeinde in soziologischer Sicht, Hamburg 1959. - Martin Greiffenhagen (Hg.), Das ev. Pfarrhaus, Stuttgart 1984. Helmut Hild (Hg.), Wie stabil ist die Kirchc? Bestand u. Erneuerung. Ergebnisse einer Umfrage, Gelnhausen/Berlin 1974. - Wolfgang Huber, Kirche, Stuttgart 1979. - Günter Kehrer, Organisierte Religion, Stuttgart 1982. - Ev. Kirchenkunde, Tübingen 1 9 0 2 - 1 9 1 9 (EKKd). - Reinhard Köster, Die Kirchentreuen, Stuttgart 1959. - Jens M . Lohse, Kirche ohne Kontakte, Stuttgart 1967. - Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt 1977. - Wolf-Dieter Marsch, Institution im Ubergang, Göttingen 1970. - Joachim Matthes, Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, Hamburg 1964. - Ders. (Hg.), Einf. in die Religionssoziologie, 2 Bde., Hamburg 1967/1969. - Theophil Müller, Konfirmation - Hochzeit - Taufe - Bestattung. Sinn u. Aufgabe der Kasualgottesdienste, Stuttgart 1988. — Friedrich Niebergall, Prakt. Theol. Lehre v. der kirchl. Gemeindeerziehung auf religionswiss. Grundlage, Tübingen 1918/19. - Trutz Rendtorff (Hg.), Charisma u. Institution, Gütersloh 1985. Martin Schian, Grundriß der Prakt. Theol., Gießen 1928/29. - Gerhard Schmidtchen, Gottesdienst in einer rationalen Welt, Stuttgart/Freiburg 1973. - Ders., Protestanten u. Katholiken, Bern/München 1973. - Paul Michael Zulehner, Religion im Leben der Österreicher, Wien 1981. Ders., „Leutereligion", Freiburg 1988.
Gerhard Rau Kirchenleitung -»Kirchenregiment, Landesherrliches, hörde, -»Konsistorium, -»Synode
Kirchenverwaltung/Kirchenbe-
Kirchenlied I. Historisch (bis 1900) II. 20. Jahrhundert III. Praktisch-theologisch
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I. Historisch (bis 1900) 1. Begriff 2. Bedeutung 3. Geschichte des Kirchenliedes als Geschichte seiner Gattungen und Formen 4. Geschichtlicher Uberblick bis 1900 (Anmerkungen/Quellen/Literatur S. 624)
1. Begriff Als poetisch-musikalische Gattungsbezeichnung ist „Kirchenlied", empirisch-phänomenologisch betrachtet, sehr weit zu fassen: Es handelt sich bei einem Kirchenlied um ein geistliches Gedicht christlicher Prägung von metrisch-strophischer Struktur mit einer liedhaften Melodie, die für den Gruppengesang geeignet ist (vgl. die Definition in RISMDKL1/2,11* und die dort dazu angestellten begründenden Erwägungen sowie u.S. 605). Dennoch bleiben die Ränder unscharf: Gerne werden auch einige nichtstrophische Gesänge (z. B. Luthers Jesaja, dem Propheten, das geschah oder Die Gnade unsres Herrn Jesu Christi aus der Tradition der -»Brüdergemeine), Sololieder (z.B. Luthers Nun freut euch, lieben Christen gmein oder die Hallenser Melodie zu Es glänzet der Christen inwendiges Leben) oder profane Lieder (z. B. Der Mond ist aufgegangen oder Should old acquaintance be forgot) unter die Kirchenlieder gezählt.
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Die öfter versuchte Definition von Kirchenlied als Gemeindelied (oder eine andere auf die gottesdienstliche Verwendung abhebende nähere Bestimmung) ist zu schmal. Sie hat ihr Recht darin, daß sie das funktionale Element in den Vordergrund stellt. So sagt schon Luther (1543): „Sankt Ambrosius hat viel schöner Hymnos Ecclesiae gemacht, heißen Kirchengesang, darum daß sie die Kirche angenommen hat und braucht, als hätte sie dieselbigen gemacht und wären ihre Lieder" (WA 54,34). Strenggenommen wären demnach nur jene geistlichen Lieder Kirchenlieder, die in den Kirchengesangbüchern stehen (und, so müßte man sofort hinzufügen, daraus dann auch wirklich regelmäßig gesungen wurden). Entsprechend diesem Kirchenliedverständnis hat man denn auch noch bis in die Mitte unseres Jahrhunderts Lieder, denen man den Rang eines Kirchenliedes absprechen wollte, wie z. B. Stille Nacht oder Harre, meine Seele, nicht in die Gesangbücher aufgenommen oder in einen Anhang von „für die Liturgie ungeeigneten Liedern" verwiesen. Nach Luthers Definition entscheidet allerdings nicht eine Gesangbuchkommission, sondern die lebendige Praxis der Kirche darüber, was ein Kirchenlied ist und was nicht. Danach mußten die beiden genannten Lieder dann wohl oder übel eben doch aufgenommen werden. So zeigen sich hier die Grenzen und Gefahren einer in normativem Sinne verstandenen Kirchenlied-Definition. Auch eine Grenzziehung zwischen dem sog. geistlichen Volkslied und dem Kirchenlied hat sich aus den gleichen Gründen als undurchführbar erwiesen. Die Volksliedforschung wie die —•Hymnologie lehnen diesen Begriff als untauglich ab. Denn jedes geistliche Lied ist ein potentielles geistliches Volkslied. Und ob ein geistliches Volkslied auch ein Kirchenlied ist oder nicht, hängt ausschließlich von der Definition ab, die man dem Begriff Kirchenlied gibt. Man denke nur an die Geschichte der Genfer Psalmlieder, die zur Zeit ihrer Entstehung in den Kreisen des Pariser Hofes wie dann später unter ganz anderem Vorzeichen in den Hugenottenkriegen (-»Hugenotten), aber nach J.E Reichardts Feststellung auch auf manchen Dörfern der Schweiz im späten 18. Jh. alle Merkmale dessen aufwiesen, was man gemeinhin unter einem geistlichen Volkslied versteht, und man denke umgekehrt an die Geschichte von Stille Nacht, das als Lied für den Gottesdienst entstanden ist, dann auf dem Weg über ganz außerkirchliche Volksmusikkonzerte berühmt wurde und von „draußen" wieder in die Kirche zurückkehrte. Johannes Janota wollte für das deutsche Kirchenlied des Mittelalters nur die Bezeichnung geistliches Lied gelten lassen, weil er den Begriff Kirchenlied ausschließlich für in den agendarischen Gottesdienst voll und kirchenamtlich integrierte Elemente reserviert wissen wollte. Die seitherige Diskussion (so z.B. die Rezension von W.-I. Sauer-Geppert [s. Janota] oder Lipphardt) hat jedoch gezeigt, d a ß diese Abgrenzung von einer falschen Voraussetzung ausgeht — diese Trennung von liturgischem und außerliturgischem Gesang setzt Liturgie-Vorstellungen des 19. Jh. voraus, die auf das Mittelalter nicht anwendbar sind — und angesichts der durch die Quellen gegebenen Tatbestände nicht sinnvoll und nicht durchführbar ist (-«Liturgie; -»Liturgik).
Schließlich ist ein Wort zu sagen zum Begriff -»Choral, der bisweilen als Wechselbegriff zu Kirchenlied auftritt. Schon im 16. Jh. zeichnet sich die Tendenz ab, diesen auf den Gregorianischen Gesang (-»Gregorianik) sich beziehenden Terminus evangelischerseits für das Kirchenlied in Anspruch zu nehmen, das ja tatsächlich in der Reformation die liturgische Funktion des Gregorianischen Chorals zu übernehmen begann (ohne diesen allerdings überall ganz zu verdrängen). Erstmals erscheint das Wort in diesem Sinne im Titel eines Gesangbuches im Jahre 1611 (RISM-DKL1/1,1611 17 ), und seit 1721 (RISMDKL1721 05 ) bedeutet „Choralbuch" soviel wie „mit den Noten der Begleitsätze versehenes Kirchengesangbuch" (oft nur mit dem Text der 1. Strophe, oft auch ohne die Texte; frühestes derartiges Buch: DKL 1665 02 ). Auch wenn - liturgiegeschichtlich gesehen - ein gewisses Recht auf die Inanspruchnahme dieses Begriffs durch die Reformationskirchen besteht, sollte man, wo immer möglich, diesen Begriff so nicht verwenden, weil er eine bestimmte musikalische Gattung meint, die weitgehend auf einer völlig anderen Ebene liegt als das Lied. Zwar ist er nicht mehr restlos vermeidbar (man müßte ja statt „Choralbuch" sagen: ,,[Orgel-]Begleitbuch
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zum Kirchengesangbuch", statt „Choralvorspiel": „Kirchenliedbearbeitung für Orgel" und statt „Schlußchoral" in einer Kantate oder einem Oratorium: „Schlußstrophe" oder „Schlußlied"). Aber man wird ihn auch deswegen gerne vermeiden, weil er ja seit dem frühen 19. Jh. zusätzlich dadurch belastet ist, daß aufgrund der inzwischen längst überholten damaligen kirchlichen Singpraxis „Choral" zur Bezeichnung für eine sehr langsam und in weitgehend gleichen Notenwerten sich fortbewegende Melodie (bzw. Satz Note gegen Note) im weitesten Sinne wurde und teilweise bis heute geblieben ist. Man hat, will man der Erscheinung Kirchenlied gerecht werden, auch zu bedenken, daß der umfangmäßig weitaus bedeutendere Teil des Kirchenliedgebrauchs der private in Familien- und Hausandacht, im Singen verschiedener Gruppen und Kommunitäten, in der persönlichen Erbauung des einzelnen - war und vielleicht immer noch ist. Auf dem Weg über diese Verwendung hat manches Kirchenlied überhaupt erst in das liturgische Repertoire Eingang gefunden. Und manches „offizielle" Kirchenlied verdankt seine Verwurzelung in der singenden Gemeinde in erster Linie dem Gebrauch, der davon zunächst im privaten Bereich gemacht wurde und wird. Schon im Hinblick darauf ist es auch nicht geraten, das Kirchenlied etwa grundsätzlich von der geistlichen Lyrik abgrenzen zu wollen, wenn auch durchaus vieles, was zumal im 19. und in unserem Jahrhundert - an geistlicher Lyrik hervorgebracht wurde, schon aus formalen Gründen weit außerhalb dessen liegt, was man als Kirchenlied bezeichnen könnte. Hingegen muß betont werden, daß das Vorhandensein einer brauchbaren Melodie einen kirchenliedmöglichen Text erst wirklich zum Kirchenlied macht. Ja, die Melodie kann u. U. sogar ein wesentlicher Teil der Identität eines Kirchenliedes sein. Nur so sind die zahllosen Kirchenliedbearbeitungen für -»Orgel (sog. Orgelchoräle oder Choralvorspiele), aber überhaupt das Zitieren eines Kirchenliedes mittels seiner Melodie (z.B. Ein feste Burg ist unser Gott in E Mendelssohns Reformations-Symphonie oder Es sttngen drei Engel ein' süßen Gesang in P. Hindemiths Mathis der Maler) möglich und sinnvoll. Siegfried Hermelink hat sich (RGG 3 3,1475-1478) alle erdenkliche Mühe gegeben, die Kirchenlied-Melodien grundsätzlich-definitorisch dem Cantus planus (bzw. der Musica plana) und nicht dem Cantus fractus oder figuralis (bzw. der Musica figuralts) zuzuordnen. Das Kirchenlied würde demnach wie die gesamte Gregorianik zu jenem Teil der Musik gehören, dessen Rhythmik keinerlei musikalische Eigenständigkeit hat, sondern diese ausschließlich vom Texte her empfängt. Auf diese Weise wird jedoch Wesentliches verkannt. Selbst die mittelalterlichen Hymnenweisen unterscheiden sich von der übrigen Gregorianik, weil sie stärker dem Liedhaften und damit einer gewissen rhythmischen Selbständigkeit zuneigen. Erst recht gilt das von den volkstümlichen Weisen des Mittelalters und vollends von denen des 16. Jh. Schon die Notation in den Quellen weist sie als mensurale Gebilde aus. Wäre etwas anderes gemeint gewesen, so hätten entsprechende Notationsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden. (In Straßburg hat man die neuen Kirchenliedweisen anfänglich in Choralnoten aufgezeichnet, um ihren liturgischen Charakter und ihre Gültigkeit an Stelle der gregorianischen Gesänge deutlich zu machen. Dabei war man aber gezwungen, für punktierte Rhythmen zu Elementen der Mensuralnotation Zuflucht zu nehmen und eine Art Mischnotation zu schaffen.) Viele der frühreformatorischen Weisen sind als Tenores vierstimmiger Liedsätze erfunden oder doch sofort als solche verwendet worden, ohne dadurch die geringste Veränderung zu erfahren, wie z. B. Claude Goudimel auf der Titel-Rückseite seiner vierstimmigen Ausgabe des Genfer Psalters von 1565 geflissentlich betont. Wenn Hermelink schreibt: „Kirchenliedweise ist zunächst einzig die Interpretation, die Verwirklichung des Versmaßes in Tönen", dann braucht man zu seiner Widerlegung lediglich drei oder vier verschiedene Melodien zum selben Versmaß nebeneinanderzustellen (etwa Ein neues Lied wir heben an und Christ, unser Herr, zum Jordan kam, beide von Luther, und Kommt her, des Königs Aufgebot von Schütz): total verschiedene Welten, obwohl das Versmaß überall dasselbe ist! Es ist im Gegenteil so, daß erst durch die konkrete Melodiegestalt, und zwar durch den Melodieverlauf wie durch den Melodierhythmus, das einzelne Lied sein Gesicht bekommt. Wie wesentlich das rhythmisch-melodische Erscheinungsbild einer Melodie ist, kann man an den Melodien des späten 18. und des 19. Jh. und an den Bearbeitungen älterer Melodien aus dieser Zeit ablesen: Sie sind langweilig, charakterlos und nur schwer einprägsam. Der Ertrag der Kirchenliedreform des 19. Jh. und die Ernte aus der Singbewegung wären dahin, wenn Hermelink recht hätte. Ein anderer Sachverhalt hingegen, der vielleicht in der Nähe dessen liegt, was Hermelink meint, verdient noch Beachtung: Das Lied hat etwas gemein mit der urtümlichsten Form des Cantus planus,
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dem Modellgesang (Psalmodie): Die Melodie bleibt stets dieselbe, wieviele und inhaltlich sich voneinander abhebende Strophen auch darauf gesungen werden. Es gibt Melodien, die sehr polyvalent sind und trotz hoher Qualität die verschiedensten Texte zu tragen vermögen (z. B. Es sind doch selig alle, die = O Mensch, bewein dein Sünde groß = Jauchz, Erd, und Himmel, juble hell = Erhebet er sich, unser Gott) und es gibt andere, die kaum weitere Strophen als die erste zu tragen vermögen (z. B. Jerusalem, du hochgebaute Stadt).
2. Bedeutung Die Bedeutung des Kirchenliedes als poetisch-musikalische Kunstgattung, als liturgisches Element u n d als spiritueller Kulturfaktor läßt sich nur erfassen, wenn m a n die Definition in der umschriebenen Weite sucht. Sie d ü r f t e in folgendem liegen: Durch seine Geschlossenheit wirkt das Lied sehr nachhaltig, fast wie von selbst. Die meist durch den Reim unterstützte Zeilenstruktur und die durch den Versbau festgelegte G r u n d r h y t h m i k (das M e t r u m ) machen es einprägsam; die meist feste Bindung an eine Melodie (evtl. auch Harmonie) lassen es zum starken Emotionsträger werden. Beides macht verständlich, d a ß das Kirchenlied eine tiefere W i r k u n g ausüben kann als der bloß gelesene und gelernte Prosatext der Bibel oder des Katechismus. Es ist gewiß kein Zufall, d a ß das Kirchenlied in Zeiten und Situationen heftiger Auseinandersetzungen u m den Glauben (Kampf gegen die Arianer zur Zeit des Ambrosius, R e f o r m a t i o n , T ä u f e r , Hugenotten, Erweckung, Mission, Kirchenkampf, Martyrium) stets eine besonders große Rolle spielte. Und aus alledem ergibt sich auch die Forderung an die ->Liturgik wie an die —•Katechetik, diesem Mittel der Glaubensvertiefung in historischer wie in praktischer Hinsicht die entsprechende Beachtung zu schenken (-»Kirchenlied III). Wie groß die Breiten- und Tiefenwirkung des Kirchenliedes ist, sei an zwei Beispielen schlaglichtartig erhellt: An Dutzenden von Fällen läßt sich zeigen, wie bestimmte Kirchenlieder mit ihrem Metrum (evtl. sogar mit ihrer Melodie) bis tief in die profane Lyrik hineingewirkt haben (das Material ist leicht greifbar bei Frank [s.Lit.], eine Untersuchung des Sachverhalts fehlt m. W.), und bei der Inventarisierung und Untersuchung der Haussprüche einer besonders ergiebigen Region der südöstlichen Schweiz (Prättigau) zeigte es sich, daß das Kirchenlied eine der Hauptquellen für dieses Stück öffentlichen christlichen Bekennens ist (Rüegg). Die ungezählten, teils wahren, teils mehr oder weniger erfundenen bzw. toposhaften Anekdoten aus der Wirkungsgeschichte einzelner Lieder, die sich in (vor allem erbaulichen) Liedkommentaren finden, sagen meist wenig aus über die Gültigkeit, Qualität und Eigenart des betreffenden Liedes, sind aber zusammengenommen ein sehr beredter Beleg für die unabsehbare und im einzelnen kaum zu begründende Wirkkraft des Kirchenliedes als solchem. All das Gesagte gilt vom Kirchenlied allgemein und grundsätzlich. Es darf jedoch nicht übersehen werden, d a ß es sich hier, geschichtlich gesehen, u m eine spezifisch den aus der Reformation des 16. Jh. entsprungenen Bekenntnissen eigene und in erster Linie das deutsche Sprachgebiet kennzeichnende Erscheinung handelt. (Der vorliegende Artikel beschränkt sich deshalb nicht ganz ohne Grund - auch nicht ohne Vorbilder - im wesentlichen auf das deutsche Kirchenlied.) Z w a r hat keine Kirche je ihre Auswahl aus dem überlieferten und aktuellen Kirchenliedgut ausdrücklich zu ihren -»Bekenntnisschriften gezählt, doch ist durch die N e n n u n g (in manchen Fällen sogar den Abdruck) bestimmter Lieder in den Gottesdienstordnungen einzelner Kirchen, in seltenen Fällen sogar durch den Abdruck des Gesangbuches in der Kirchenordnung, vor allem aber durch den geltenden liturgischen Brauch d e m Kirchenlied ein hoher Bekenntniswert zugewachsen. Daß nicht n u r dogmatisch und juristisch ausgeklügelte Lehrsätze, sondern auch poetisch-musikalische Kunstwerke vom Qualitätsgrad mancher Kirchenlieder zu den fixierten und „ k a n o n i s i e r t e n " Glaubensfundamenten der Christengemeinde gehören, müßte für die Feststellung des Glaubensstandes und der Frömmigkeitsstruktur einer bestimmten Zeit wohl u m einiges ernster genommen werden, als dies normalerweise der Fall ist. Das gilt sowohl f ü r die Untersuchung und Beurteilung der historischen Konfessionen einst und jetzt als auch f ü r das ökumenische Bekennen heute. Es ist ein nicht genug ernstzunehmendes Zeichen unserer Zeit, d a ß es
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heute in der ganzen christlichen Welt in rasch zunehmender Zahl „ökumenische Kirchenlieder" gibt. 3. Geschichte des Kirchenliedes
als Geschichte seiner Gattungen und Formen
Es lohnt sich und dürfte dem Gegenstande angemessener sein, einen Überblick über die 1500jährige Geschichte des Kirchenliedes zu gewinnen, indem man seinen verschiedenen Gattungen und Formen nachgeht, als mittels eines auf der ganzen Breite fortschreitenden historischen Abrisses. Die hier zur Darstellung kommenden, teils inhaltlichen, teils funktionalen, teils formalen Gattungen liegen allerdings nicht alle auf einer Ebene, und diese Ebenen greifen erst noch teilweise ineinander über. In der Aufreihung der namhaft gemachten Gattungen folgen wir in chronologischer Ordnung der Zeit ihres ersten Auftretens. 3.1. Der Hymnus. Will man den geschichtlichen Werdegang des Kirchenliedes in den Blick bekommen, darf man nicht, wie das in Darstellungen immer wieder geschehen ist, bei Luther einsetzen (-»Hymnologie). Unbeschadet der überragenden Rolle, die er in der Kirchenliedgeschichte spielt (s. dazu vor allem 3.14 und 15), muß viel früher angesetzt werden, will man die verschiedenen Entwicklungselemente richtig verstehen. Der Beginn liegt wohl bei -»Ambrosius von Mailand, den man durchaus als Vater des Kirchenliedes bezeichnen kann. Denn bei ihm tritt das, was wir später Kirchenlied nennen (noch ohne Reim) erstmals ins Licht der Geschichte. Ob man aus dem Bericht seines nachmaligen Freundes Augustin (Conf. IX 7,11 ff) entnehmen darf, daß Ambrosius der „Erfinder" des abendländischen lateinischen Hymnus (-•Hymnen) ist, muß eine offene Frage bleiben, solange man nicht genauer weiß, was dort more orientalium [nach Art der östlichen (Kirchen)] eigentlich meint. Über das Stundengebet, in welchem der Hymnus spätestens seit Benedikt (Regula ed. Holzherr 9,4; 12,4; 13,11; 17,8) fest verankert ist, hat diese Form liturgischen Gesanges eine kaum zu überblickende Wirkung ausgeübt, was allein schon an der Zahl der überlieferten lateinischen Hymnen abzulesen ist (AHMA mit 55 Bänden und 28296 Nummern, allerdings nicht lauter Hymnen im engeren Sinne des Begriffs, s.Lütolf [s. Quellen 624,54]). Schon seit dem Spätmittelalter sind einzelne Hymnen und ganze Hymnen-Repertoires ins Deutsche übersetzt worden. Auch wenn diese Übersetzungen nur zum kleineren Teil gesungen wurden (Janota 89 f), so zeugt ihr Vorhandensein doch von der hohen Bedeutung, die diese z. T. uralten Kirchenlieder hatten. Anlaß für Luthers Hymnen-Übersetzungen (z. B. Nun komm, der Heiden Heiland1 nach Veni redemptor gentium von Ambrosius oder Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist nach Veni creator Spiritus von -»Hrabanus Maurus, 809) von Ende 1523/Anfang 1524 könnten die 1523 im Druck erschienenen verdeutschten Hymnen Thomas -»Müntzers gewesen sein (von ihnen heute noch lebendig der Adventshymnus Gott, heiiger Schöpfer aller Stern nach Conditor alme siderum). Von den alten Hymnenmclodien haben einige wenige, z.T. in Bearbeitung, auch außerhalb des lateinischen Kirchengesangs überlebt, so diejenige zu Veni creator Spiritus (vielleicht die Originalweise zu Veni redemptor gentium) oder zu Conditor alme siderum (nicht nur zusammen mit der Müntzer-Übersetzung, sondern auch, nur leicht unkenntlich gemacht, in der Genfer Melodie zu Ps 141). Inhaltlich ist der Hymnus in erster Linie Preislied, weshalb er regelmäßig mit einer trinitarischen Doxologie-Strophe schließt. Da er im Stundengebet seinen festen liturgischen Platz hat, kommen darin neben Bezügen zum -»Kirchenjahr auch besonders deutlich solche zur Tageszeit zum Ausdruck. So finden sich in der volkssprachlichen Kirchenliedtradition beider Konfessionsfamilien nach der Reformation in den Morgen- und Abendliedern immer wieder Bezüge zum Hymnus (z.B. Christe, du bist der helle Tag nach Christe qui lux es et dies oder Luthers Der du bist drei in Einigkeit nach O lux beata Trinitas), aber dieser Einfluß ist bis heute erstaunlich schwach. Auffallend ist, wie stark sich Luthers Morgen- und Abendsegen aus dem KIKat auf die Morgen- und Abendlieder
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bis hin zu Geliert ausgewirkt hat. Daneben finden sich ganz eigengeprägte Schöpfungen wie die beiden Morgenlieder Johannes Zwicks All Morgen ist ganz frisch und neu und Du höchstes Licht und ewger Schein oder das originelle trinitarische Ich sag dir Dank, Gott Vater gut von 1540. Formal hat die ambrosianische Hymnenstrophe mit ihren vier Zeilen zu je vier Jamben am stärksten durchgeschlagen. (Auch die beiden genannten Lieder Zwicks z. B. verwenden sie.) Diese leicht überschaubare Strophe ist nicht nur im Mittelalter eines der beliebtesten Hymnenmetren geblieben, sondern wurde auch eine der verbreitetsten Kirchenliedstrophen bis heute. Zahn teilt allein für den evangelischen Bereich nicht weniger als 420 Melodien zu diesem Metrum mit (296-701, 2043, 4110-4122, 8672), hat seine Quellen aber öfter nicht voll ausgeschöpft und kannte viele gar nicht. Und die Zahl der auf diese Melodien singbaren Texte ist natürlich noch um ein Vielfaches höher. Auch andere Hymnen-Metren, wie etwa die Sapphische Strophe, haben weite
Verbreitung gefunden (z. B. Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen; Das sollt ihr, Jesu Jünger, nie vergessen; Lobet den Herren, alle, die ihn ehren).
3.2. Wie der Hymnus im Stundengebet, so ist die Sequenz in der Festtagsmesse (seit dem 9. Jh.) das einzige nicht der Bibel entnommene poetische Element. Auch sie hat liedmäßige Form (und wird daher häufig auch als Hymnus bezeichnet, so etwa im Titel des Notker'schen Sequenzen-Opus: Liber Ymnorum [-»Notker]), allerdings in sehr stark verfeinerter Weise, indem jeweils nur ein Paar von Strophen die gleiche Melodie aufweist. (Zu Anfang ist auch der Strophenbau von Paar zu Paar verschieden; etwa seit Adam von St. Viktor [12. Jh.] bleibt das Metrum durch alle Strophenpaare hindurch dasselbe; dafür kommt der Reim hinzu, der dann häufig ein Strophenpaar zusammenbindet und die Sequenz noch stärker der Liedform annähert.) Im späten Mittelalter wucherte die Sequenzdichtung (vor allem auch zu den Heiligenfesten) gewaltig. Das —»Tridentinum hat deshalb die Sequenzen bis auf vier verboten. Geblieben ist die Ostersequenz des Wipo von Burgund (Victimae paschali laudes, klingt teilweise nach in Luthers Christ lag in Todes Banden), die Pfingstsequenz Veni Sancte Spiritus des Stephan Langton um 1200, die Fronleichnamssequenz Lauda Sion Salvatorem des -»Thomas von Aquino und die Sequenz der Totenmesse Dies irae dies illa (ein schwacher Abglanz davon in dem Liede Es ist gewißlich an der Zeit). 1727 wurde für das Fest der Sieben Schmerzen Marias noch die Sequenz Stabat mater dolorosa erlaubt; dafür ist durch die Liturgiereform nach dem 2. Vatikanischen Konzil das Dies irae in der Totenliturgie gestrichen worden. Wie zu den Hymnen, so gibt es auch zu den Sequenzen schon im Mittelalter volkssprachliche Übersetzungen, und in der Reformationszeit hat man verschiedentlich Sequenzen in deutscher Fassung in die Gesangbücher aufgenommen. (So steht z.B. im Konstanzer Gesangbuch von 1540 eine Übertragung von Notkers berühmter Pfingstsequenz Sancti Spiritus assit nobis gratia.) 3.3. Die Leise. Noch auf andere Weise wächst das deutsche Kirchenlied aus dem lateinischen heraus: Im deutschen Südosten (den Diözesen Salzburg und Seckau) scheint man in dieser Hinsicht am fortschrittlichsten gewesen zu sein. Denn hier findet man zuerst die früheste genuin deutsche Kirchenliedgattung, die Leise (oder: den Leis, Laiß). Sie wächst aus der Sequenz heraus. (Alle anderen Entstehungstheorien haben in den Quellen kaum einen Rückhalt.) Zwischen zwei Strophenpaare der Sequenz wurde eine vom Volk gesungene Strophe eingeschoben, zunächst jedes Mal dieselbe. Bei der Osterleise Christ ist erstanden wird der Zusammenhang mit der Sequenz (Victimae paschali laudes) auch musikalisch überaus deutlich hörbar. In der Regel bestehen die Leisen aus einer einzigen Strophe von vier Zeilen mit Paarreim und einem angehängten Kyrieleis; daher der Name. Leisen wurden dann auch bei anderen Gelegenheiten angestimmt, so am Ende von liturgischen Spielen, auf Pilgerfahrten und bei -»Wallfahrten. Dadurch gewannen sie an Bekanntheit und Beliebtheit.
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In ihrer ursprünglichen liturgischen Zuordnung findet man die Leisen auf evangelischer Seite nach der Reformation nur noch selten. Hingegen sind mit von den wichtigsten und besten Liedern Luthers solche, die er durch das Hinzufügen weiterer Strophen zu einer Leise geschaffen hat (Gelobet seist du, Jesu Christ; Nun bitten wir den Heiligen Geist; Mitten wir im Leben sind). Andere Erweiterungen von Leisen wurden auf katholischer Seite versucht. 3.4. Die Leise ihrerseits wurde zum fruchtbaren Nährboden für das Festlied überhaupt. Freie, unabhängig von einer Vorlage gedichtete Festlieder findet man zuerst bei den Konstanzer Kirchenliederdichtern. Den Anfang macht eine knappe Schilderung der an dem betreffenden Fest zu begehenden Heilstatsache; daran schließt sich eine breite, predigthafte Meditation darüber an (schönstes Beispiel A. -»Blarers Pfingstlied Jauchz, Erd, und Himmel, juble hell). In eine etwas andere Richtung gehen jene kirchenjahreszeitlich gebundenen Lieder, die ihre Wurzel in der liturgischen Verlesung der betreffenden biblischen Berichte haben, wie die Liedpassion Sebald Heydens (1499-1561) O Mensch, bewein dein Sünde groß in 24 Strophen oder Michael Weißes Osterlied Gelobt sei Gott im höchsten Thron (in den heutigen Gesangbüchern entweder nur die Rahmenstrophen wie bei Heyden oder sehr eingreifende Kürzungen wie bei Weiße). Noch bei Paul -»Gerhardt finden sich Beispiele zu dieser Gattung. 3.5. Weiter sind hier die Cantionen zu nennen, Lieder von volkstümlichem Gepräge, häufig im Dreitakt und mit dem Halleluja-Ruf verbunden (z. B. Puer natus in Bethlehem / Ein Kind geborn zu Bethlehem; Resurrexit Dominus / Wir wollen alle fröhlich sein). Sie treten seit dem 14. Jh. manchmal zuerst in lateinischer, manchmal zuerst in deutscher oder tschechischer Fassung, manchmal gemischtsprachig auf (In dulci jubilo nun singet und seid froh). Manche von ihnen haben ihre Durchschlagskraft durch alle Jahrhunderte hindurch auf evangelischer wie auf katholischer Seite erwiesen und auch später noch zu entsprechenden Neuschöpfungen geführt, so etwa bei Friedrich Spee in seinem Adventslied O Heiland, reiß die Himmel auf und in dem Osterlied Die ganze Welt, Herr Jesu Christ. 3.6. Unter einem Ruf versteht man ein zwei-, höchstens dreizeiliges Gebilde mit einer liedhaften Melodie und einem gereimten Text (z. B. Maria Mutter, reine Maid, / all unsre Not sei dir gekleit [ = geklagt]). Die Gesangbücher von Nicolaus Beuttner (1606) und Gregor Corner (1625) sowie das handschriftliche Christliche Catholische Rufbüchl des Johann Koler von 1601 und Ein new Rueff-Büchlein (Straubing 1607) halten kurz vor ihrem Verklingen diese Zeugnisse deutschen geistlichen Volksgesanges fest. 3.7. Eine Gattung für sich sind die Pilger-, Wallfahrts- und Prozessionslieder (-»Prozession), die sich ebenfalls starker Verbreitung erfreuten. Die Jerusalem-Pilger und ihre Sympathisanten sangen seit dem 12. Jh. (bezeugt im Herzog Ernst) die Leise In Gottes Namen fahren wir und die nach Santiago de Compostela Pilgernden Wer hier das Elend bauen will. Zur Osterprozession z. B. erklang u. a. das Lied (Nun) freut euch, alle Christenheit. Mit der Reformation verschwanden auf evangelischer Seite diese Anlässe; die Lieder jedoch waren so bekannt und beliebt, daß man sie in der Form von Contrafacta (s. u. 3.11) weiterverwendete, während auf katholischer Seite mit neuen Wallfahrten auch stets wieder neue Wallfahrtslieder entstanden - bis zum heutigen Tag. Erwähnung verdienen die Mariazeller Lieder, die von 1640 bis 1760 fast alljährlich mit stets neuen Texten und Melodien erschienen. 3.8. Der Begriff Predigtlied (Janota [s. Lit. zu 1] 64—84) meint zunächst weniger eine eigene Liedgattung; er ist eher eine Funktionsbezeichnung. Seit dem 12. Jh. haben wir Zeugnisse dafür, daß nach der Predigt, aber auch zu Beginn des Predigtauftritts (meist außerhalb der Messe) oder zwischen dem Exordium und der eigentlichen Predigt ein deutsches Lied gesungen wurde. Hier treffen wir Mitten wir im Leben sind, Der Tag, der ist so freudenreich, Nun bitten wir den Heiligen Geist und andere Leisen an. Der Pre-
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digtgottesdienst, der sich im Laufe des Hoch- und Spätmittelalters zu einer selbständigen Liturgieform entwickelt hatte, wurde in deutschen Landen zum hauptsächlichen Pflegeort des volkssprachlichen Kirchenliedes. Das erste nachreformatorische katholische Gesangbuch, das Michael Vehe 1537, kurz vor Einführung der Reformation, in Leipzig druckte, ordnet in einer Inhaltsübersicht am Schluß seine sämtlichen 52 Lieder nach dem Kirchenjahr „Vor der Predig" und „Nach der Predig". Lieder, die ausdrücklich auf diese Funktion bezugnehmen und also eigens für diese Verwendung geschaffen sind, tauchen erst im 17. Jh. in evangelischen Quellen auf (z. B. Fröhlich wir nun all fangen an 1601, Herr Jesu Christ, dich zu uns wend 1648, Liebster Jesu, wir sind hier 1663). 3.9. Meistersang und Hoflied (Gesellschaftslied). Die meisten Schöpfungen des Meistersangs liegen aus formalen Gründen außerhalb des Kirchenliedbereichs (sehr lange und komplizierte Strophen, solistische Melodien). Einige haben dennoch in den Kirchengesang (oder jedenfalls in die -»Gesangbücher) Eingang gefunden (z.B. das großartige Osterlied des Konrad von Queinfurt [gest. 1382] Du Lenze gut, des Jahres teurste Quarte, das noch 1625 im Gesangbuch Gregor Corners steht, oder die beiden Marienlieder Maria zart von edler Art und Dich, Frau vom Himmel, ruf ich an, die beide später auch evangelisch kontrafaziert wurden). Einzelne Meistersinger des 16. Jh., wie z.B. Hans -»Sachs (1494-1576), hingen dem evangelischen Bekenntnis an. Luther selbst wurde von ihnen als Zunftgenosse betrachtet; sein spätes Lied von der Kirche, das wie die Kontrafaktur eines Marienliedes aussieht (Sie ist mir lieb, die werte Magd), gab ihnen Anlaß und gibt ihnen recht. Bedeutender aber war der Einfluß einer in ihrer Eigenständigkeit erst in jüngster Zeit erkannten, früher oft dem Meistersang zugerechneten Liedgattung, dem sog. Hoflied, der gesungenen Gesellschaftslyrik der Frührenaissance, die auf dem Weg der Kontrafaktur und darüber hinaus während des ganzen 16. Jh. Einfluß auf die Kirchenliedgestaltung hatte. Bei Luther und Zwingli und hin bis zu Philipp Nicolai kann man ihren Einfluß feststellen. Artistischer Umgang mit der Strophenform und dem Reim (dies ähnlich dem Verfahren der Meistersinger), Zusammenfallen von Vers- und Wortakzent (dies im Gegensatz zur freien Zeilenfüllung der Meistersinger), häufig rhythmisch komplizierte Melodiegestalt mit längeren Tonfolgen über eine Silbe oder dann sehr einfache, homorhythmische Weisen mit kurzen Zeilenauftakten (Vorbild zu Vom Himmel hoch, da komm ich her und verwandten Weisen), Dreistrophigkeit des Textes und renaissancehaft-ethischer Impetus sind die wichtigsten Merkmale. 3.10. Eine formale Gattung verdient gerade in diesem Zusammenhang besondere Erwähnung: die Barform, die bei den Meistersingern zur Normalform des Liedes hochstilisiert wurde. Es ist die Form AAB (bei der Reprisenbar: AABA oder AABA'), d. h. auf zwei metrisch und melodisch gleichgebaute Teile, Stollen genannt, folgt ein dritter mit anderer Melodie (häufig auch anderem Versbau), Abgesang genannt. (Nach der Regel der Meistersinger soll der Abgesang länger sein als der Stollen, aber kürzer als beide Stollen zusammen.) Diese Liedform kommt schon bei Walther von der Vogelweide (Palästinalied) und Neidhart von Reuenthal vor. Es ist nicht auszuschließen, daß sie genetisch mit der Sequenz (3.2) zusammenhängt, die oft nach dem letzten Doppelversikel mit einer für beide Chöre gemeinsamen Schlußstrophe endet. Durch Luther hat diese Strophenform ein so starkes Gewicht bekommen, daß sie bis heute geradezu ein Merkmal evangelischer Kirchenlieddichtung ist. Das Gesangbuch der deutschsprachigen reformierten Schweiz z. B. weist bei gleicher Melodienzahl fast doppelt soviele Lieder mit Barform auf wie das römisch-katholische Gotteslob. Luther hat in den 15 Liedern, bei denen er in der Strophenwahl frei war, in 11 Fällen die Barform, die er aus der Tradition übernahm. Von seinen 7 Psalmliedern haben 6 die Barform. Die sog. Lutherstrophe (jambisch, 7 Zeilen mit 8.7.8.7.8.8.7 Silben) ist nicht von Luther erfunden, sondern schon im Mittelalter tradiert (z.B. Nun freut euch, alle Christenheit, Ende 14. Jh.), von Luther aber stark bevorzugt (Nun freut euch, lieben Christen gmein als Kontrafaktur zu dem eben genannten OsterProzessionslied; Aus tiefer Not schrei ich zu dir und drei weitere Psalmlieder).
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3.11. Noch bleibt eine letzte mittelalterliche Gattung zu nennen: die Kontrafaktur. Der Begriff ist schon in der 2. Hälfte des 15. Jh. bezeugt (Pfullinger Liederhandschrift), aber erst seit etwa 100 Jahren von der Wissenschaft rezipiert worden. Dabei sind sich die Musikwissenschaft, die Literaturwissenschaft und die Hymnologie über die Definition noch immer nicht restlos einig. Doch ist eigentlich nur eine sehr enge Gattungsumschreibung sinnvoll, die nicht allgemein eine „geistliche Umdichtung eines weltlichen Liedes sowie die umgekehrte Versetzungsweise" (Finscher 816, Gennrich 5) meint. Lipphardt (105) verlangt mit Recht, daß vier „Richtungen" möglich sind: weltlich > geistlich, geistlich > geistlich, geistlich > weltlich, weltlich > weltlich. Nur geht er zu weit, wenn er auch Übersetzungen zu den Kontrafakta rechnet. Es bedarf, damit der Tatbestand des Kontrafaktums zustandekommt, einer wenn auch noch so marginalen inhaltlichen Beziehung (z. B. Wächterlied > geistliches Morgenlied, Abendlied > Sterbelied, Marienlob > Christuslob). Die beiden klassischen Beispiele sind: Innsbruck, ich muß dich lassen (möglicherweise von Heinrich Isaac [um 1450-1517], Abschied von der Geliebten) > O Welt, ich muß dich lassen (Abschied vom Leben, Sterbelied) und Luthers Weihnachts-Spiellied für die Jugend Vom Himmel hoch, da komm ich her nach dem Kranzsingelied Aus fremden Landen komm ich her, das gerade mit dem Kontrafaktur-Vorgang die entscheidende Aussage macht: Das Evangelium ist die gute Nachricht Gottes. Die eigentliche Pointe dieses Liedes vermag nur der zu erfassen, der das zugrunde liegende Lied kennt (vgl. die Liedpredigt von Hahn). Sobald die von der Vorlage übernommene Melodie ersetzt wird, fällt diese Pointe schon dahin, im vorliegenden Fall also, seit Luther dem Liede die heute allgemein verbreitete Weise gab. Es ist zwar beinahe ein Gemeinplatz in Gesangbuch-Vorreden, die vorliegende Sammlung sei mit zu dem Zwecke herausgegeben worden, daß die Jugend anstatt ihrer zweifelhaften (meist fallen derbere Qualifikationen!) weltlichen Lieder etwas Gutes und Aufbauendes zu singen bekomme. Doch täuscht man sich, wenn man diese Motivation hinter dem Kontrafaktur-Verfahren vermutet. Denn die Melodie ist ja dieselbe, und mit der Kenntnis des Ausgangstextes wird gerechnet. Der Sänger oder Hörer des neuen Liedes soll bei dieser Anknüpfung etwas merken! „Es steckt echter Humor in der Verwendung weltlichen Gutes zu geistlichen Liedern" (Lipphardt 107).
Wenn auch die Kontrafaktur in der Reformation eine hervorragende Rolle spielte (vgl. die vielen Beispiele bei Hennig), so ist sie doch auch auf katholischer Seite gepflegt worden und bis heute lebendig geblieben. Und auch spätere Jahrhunderte haben sie weitergepflegt, wenn auch nicht so intensiv. Als geistliche Parallelkontrafakturen - ein Begriff Lipphardts - zum genannten Sterbelied O Welt, ich muß dich lassen sind das Karfreitagslied O Welt, sieh hier dein Leben und das Abendlied Nun ruhen alle Wälder, beide von Paul Gerhardt, zu verstehen. Und eine Kontrafaktur geistlich > weltlich zu diesem Abendlied ist dann Matthias Claudius' Der Mond ist aufgegangen (vom Autor nicht als Kirchenlied gedacht), wo Gerhardt (in Str. 1 u. 2) ohne Zweifel bewußt wörtlich zitiert wird. Die bloße Übernahme eines bestimmten Kirchenliedmetrums für einen neuen Liedtext ohne jede inhaltliche Beziehung, wie sie schon bald nach der Reformation Brauch und seit dem 17. Jh. in allen Epochen bis zum Exzeß betrieben wurde, kann man freilich dann ebensowenig mehr unter den Begriff Kontrafaktur subsumieren wie die Ubersetzung von Kirchenliedern (gegen Lipphardt und Finscher). 3.12. Das Ordinariumslied. Daß die sog. Ordinariumsgesänge der Messe (vor allem Gloria, Sanctus und Agnus Dei) eigentlich in den Mund der Gemeinde gehören, ist nicht erst eine Erkenntnis der römisch-katholischen Liturgiereform im Gefolge des 2. Vatikanischen Konzils, sondern schon der Reformation. Wenn die noch vorhandenen Quellen und die daraus sich ergebende Chronologie ernstgenommen werden, ist auch hier Luther nicht der erste gewesen, sondern Nikolaus Decius (um 1485 - nach 1546), ein Franke, der auf Ostern 1523 für seine damalige Gemeinde Braunschweig je ein deutsches Gloria-, Sanctus- und Agnus Dei-Lied geschaffen hat, von denen das erste und das letzte heute noch gesungen werden: Allein Gott in der Höh sei Ehr (nur Str. 1 - 3 , mit „Amen" statt „aller") und O Lamm Gottes, unschuldig. Luthers gereimte Paraphrase von Jes 6,
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1 - 4 aus der Deutschen Messe von 1526 - übrigens als liturgisches Sanctus im Anschluß a n die Präfation nicht brauchbar und von Luther auch nicht so, sondern als Chorvortrag w ä h r e n d der Kommunion gedacht - und sein in der Braunschweiger Kirchenordnung von 1528 erstmals überliefertes Agnus Dei (Christe, du Lamm Gottes) - ebensowenig wie d a s Sanctus die Liedform aufweisend - sind die nächsten deutschen und evangelischen Ordinariumsgesänge. Auf katholischer Seite versuchte es J o h a n n Leisentrit als bischöflicher Administrator der beiden Lausitzen in seinem großen Gesangbuch von 1567 mit deutschen Ordinariumsliedern; doch verhinderten sein Klerus und R o m die Einführung solcher Neuerungen. Erst in der 2. H ä l f t e des 18. Jh. tauchen solchc Versuche wieder a u f , doch immer noch meist so, d a ß es sich um Lieder zu den betreffenden Ordinariumsstücken handelt. Am bekanntesten wurden die deutschen (Lied-)Messen von J o h a n n Michael H a y d n (RISM-DKL 1795 12 ) auf Texte von Franz Seraph von Kohlbrenner (1728-1783) aus dem Landshuter Gesangbuch von 1777 {Hier liegt vor deiner Majestät im Staub die Christenschar beginnend, wovon die Melodie später f ü r das evangelische Lied Die Sach ist dein, Herr Jesu Christ, die Sach an der wir stehn ü b e r n o m m e n wurde) und von Franz Schubert (1826) auf Texte von J o h a n n Philipp N e u m a n n (1774-1849), beginnend mit Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken. Erst seit der jüngsten Liturgiereform ist es jedoch möglich, die vielen neu entstandenen O r d i nariums-Lieder an der entsprechenden Stelle gültig in die Liturgie einzubeziehen (neue Texte von Georg T h u r m a i r [1909-1984] zu den beiden genannten Liedmessen von H a y d n und Schubert und viele andere mit alten und neuen Melodien). O b es sinnvoll ist, auch das O r d i n a r i u m in die Liedform zu bringen, womit neben all den andern Liedern, die zur Verfügung stehen, eine w a h r e Liedinflation heraufbeschworen wird, kann m a n sich füglich fragen. 3.13. Als zweite G a t t u n g hat die Reformation das kirchenpolitische Agitationslied hervorgebracht. Sie k n ü p f t damit - manchmal auf dem Weg der K o n t r a f a k t u r , manchmal nur in der Verwendung einer wohlbekannten Melodie ( „ . . . im T o n . . . " ) , manchmal auch mit neuer, eigener Melodie - bei einem längst verbreiteten Brauch an, d e m „Zeitlied", wie die Germanistik es heute nennt (früher sehr unzutreffend „historisches Volkslied" genannt), das über verlorene oder gewonnene Schlachten, kleine und große Helden u n d Heilige, über N a t u r k a t a s t r o p h e n und wundersame Ereignisse berichtet. So ist Luthers wohl frühestes Lied, die Märtyrer-Ballade Ein neues Lied wir heben an, Anfang August 1523 entstanden. Es verwendet den Bericht über den Tod der beiden ersten evangelischen Blutzeugen zum Hochgesang auf den gerade damit beförderten Sieg der Reformation. O b w o h l ganz und gar zeitgebunden wie alle Lieder dieser Gattung, ist es als Glaubenslied in ungezählte Gesangbücher ü b e r n o m m e n worden, während so gut wie alle anderen nach einiger Zeit verklungen sind. An ihre Stelle traten — bis zum heutigen Tag - andere religiöse Agitations- und Protestlieder. 3.14. Eine vollkommen eigenständige und dann auch die d u r c h die Jahrhunderte, Konfessionen und Sprachräume hindurch wirksamste Liedgattung ist das Psalmlied (-•Psalmen/Psalmenbuch). Ihr Erfinder ist Martin Luther. Psalmen in die Liedform u m zugießen und damit diesen in Messe und Stundengebet a n erster Stelle stehenden Gedichten eine „ m o d e r n e " poetische Form zu geben und sie dabei u. U. gleichzeitig auszulegen u n d / o d e r zu aktualisieren, dieses Unterfangen w u r d e erst jetzt, durch die Verbindung humanistischer Bestrebungen (Singbarmachen der klassischen lateinischen Poesie durch Petrus Tritonius 1503, neues Verhältnis zu überlieferten poetischen Werken der alten Welt im Sinne des Rufes: ad fontes) mit reformatorischen Erkenntnissen (neues Ernstnehmen auch der Psalmen als f ü r die Kirche und ihren Gottesdienst maßgebendes Gotteswort, Wunsch, das „Gesangbuch der Bibel" zum Gesangbuch der mündigen Gemeinde zu machen) möglich. In der zweiten Hälfte des Jahres 1523 muß Luther auf den fruchtbaren Gedanken gekommen sein, Psalmen in Kirchenlieder umzuwandeln. Den Gemeindegesang hatte er sich schon in der litur-
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giereformerischen Frühschrift Formula missae et communionis vom Ende dieses Jahres gewünscht: „Cantica velim etiam nobis esse vemacula quam plurima, quae populus sub missa cantaret... Sed poetae nobis desunt aut nondum cogniti sunt, qui pias et spirituales cantilenas (ut Paulus vocat) nobis concinnent, quae dignae sint in Ecclesia Dei frequentari [Ich möchte, daß wir volkssprachliche Lieder in möglichst großer Zahl hätten, die das Volk während der Messe sänge... Aber es fehlen uns die Dichter oder sind noch nicht bekannt, die uns fromme und geistliche Lieder (wie Paulus sagt) schüfen, die würdig wären in der Kirche Gottes regelmäßig gebraucht zu werden]" (WA 12, 218). Von Psalmen ist hier noch nicht die Rede. Aber nach dem Märtyrerlied und dem ganz persönlichen Bekenntnis von Nun freut euch, lieben Christen g mein hat Luther auf jeden Fall im Metrum dieser Kontrafaktur die Ps67 und 130 bereimt. Denn der eine erscheint schon Anfang 1524 im Anhang zu Justus Jonas' deutscher Ubersetzung von Formula missae (zusammen mit Johann Agricolas Bereimung des Ps 117), der andere lag (doch wohl gedruckt) dem Rundbrief (WA.B 3,220 [Nr. 698]) bei, mit dem der Reformator eine Reihe von Freunden aufforderte, sich an einer Bereimung der sieben Bußpsalmen zu beteiligen. Das an Johannes Spalatin gerichtete Exemplar hat sich erhalten. Von den Angeschriebenen hat nur Erhard Hcgenwald (um 1480-nach 1526), dem Ps51 zugeteilt war, die Bitte erfüllt: Vom 8. Januar 1524 datiert der Augsburger Nachdruck eines Wittenberger Einblattdrucks mit Hegenwalds Psalmlied Erbarm dich mein, o Herre Gott. Mit Luthers Bereimung von Ps 130 zusammen dürften auch die von Ps 12 und 14 entstanden sein, die das gleiche Metrum aufweisen. Eine Absicht, den ganzen Psalter zu bereimen oder bereimen zu lassen, wird bei Luther zu keiner Zeit sichtbar, wohl aber in Straßburg, wo Ludwig Oeler (um 1 4 9 0 - n a c h 1530) schon 1525 die ersten acht Psalmen als geschlossene Reihe überträgt, und in Nürnberg, wo Hans -»Sachs eine Ergänzung dieser Reihe und anderer schon vorhandener Übertragungen wohl nur deswegen nicht weiterführt, weil der Rat der Stadt ihn mit einem Publikationsverbot belegt. Den ersten vollständigen Liedpsalter legen 1537 die Augsburger Kryptotäufer Sigmund Salminger und Joachim Aberlin und 1538 dann J a c o b Dachser ( 1 4 8 6 - 1 5 6 7 ) vor. (1538 und 1539 wird der Salminger'sche Psalter in Straßburg nachgedruckt.) Die Reimpsalter von Joh. Clausen (oder Claus?) 1542 und Hans Gamersfelder, ebenfalls 1542 (2. Auflage 1563), sind ohne Bedeutung geblieben. Die erste poetisch und musikalisch bedeutende Gesamtbereimung des Psalters verdanken wir Burkard Waldis (um 1 4 9 0 / 9 5 - 1 5 5 6 ) ; der Titel des Druckes (Frankfurt/M. 1553) bezeichnet ihn als Autor von Text und Melodie. Ob man in Paris um 1536 von Luthers „Erfindung" Kenntnis hatte? Jedenfalls beginnt dort um diese Zeit der Hofdichter Clément Marot ( 1 4 9 6 - 1 5 4 4 ) , auf Chanson-Melodien französische Psalmbereimungen zu schreiben, die auf überaus gründlichen exegetischen Studien beruhen, also zunächst im Rahmen humanistischer Bemühung zu sehen sind. -•Calvin hat dann 1539 in Straßburg 13 dieser Lieder erstmals liturgisch genutzt, sie zu diesem Zweck allerdings mit anderen Melodien versehen lassen und ihnen sechs weitere Bereimungen und drei Canticums- bzw. Katechismuslieder auf Straßburger liturgische Melodien selbst beigefügt. Dieses erste Kirchengesangbuch in französischer Sprache, 1539 in Straßburg im Druck erschienen, wurde zum Ausgangspunkt des später so genannten Hugenottenpsalters, heute meist treffender als Genfer Psalter bezeichnet. Die erste Genfer Ausgabe von 1542 enthält noch fünf der Calvinschen Bereimungen neben 30 von Marot; in der nächsten von 1543 sind sie verschwunden. Marot hatte den Auftrag, den ganzen Psalter zu übertragen, hinterließ aber bei seinem Tode nur ein Drittel des Werkes. Vollendet hat es Theodor -»Beza in zwei Etappen (1551,1562). Diese französischen Psalmlieder wurden im Laufe der folgenden 200 Jahre in nahezu alle europäischen Idiome übertragen. Am erfolgreichsten war die deutsche Ubersetzung des Ambrosius Lobwasser (1515-1585) von 1565. Im Gegensatz zu anderen Übertragungen ist sie nicht einfach eine Übersetzung des französischen Textes, sondern in selbständiger Konsultation des Urtextes und der exegetischen Literatur neu erarbeitet. In allen deutschsprachigen Gebieten reformierter Konfession hat Lobwassers Bereimung bis tief ins 18. Jh., z.T. sogar bis ins 19. Jh. hinein, den normalen und offiziellen Kirchenliederbestand ausgemacht und, wohl vor allem der Melodien und Tonsätze wegen, weit über diesen Bereich hinaus gewirkt. Die 125 Melodien des Genfer Psalters stammen nicht - wie man noch bis in jüngste Zeit immer wieder lesen kann (z.B. Schuhmacher 70) - von Claude Goudimel, sondern von den drei Genfer Kantoren Guillaume Franc (um 1 5 1 5 - 1 5 7 0 ) , Loys Bourgeois (um
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1510-nach 1561) und einem „Maitre Pierre", wahrscheinlich Pierre Davantès (gest. 1561). Claude Goudimel (um 1514-1572) ist der Schöpfer der am weitesten verbreiteten vierstimmigen Vertonung von 1564, die auch in die ersten Leipziger Drucke des Lobwasser-Psalters übernommen wurde. Die erste integrale katholische Psalterbereimung, diejenige des Konvertiten Caspar Ulenberg (1549-1617) von 1582, beruft sich ausdrücklich auf das Vorbild des Genfer Psalters, rühmt dessen Bibeltext-Treue (unter Mißbilligung der lutherischen Psalmbereimungen, die David Worte in den Mund legten, die er gar nicht geschrieben habe), und ahmt die Genfer Melodien sehr deutlich und geschickt nach. Ein katholischer Liedpsalter des Hochbarock ist dann derjenige des Jesuiten Albert Curtz: Harpffert Davids mit teutscben Saiten bespannet, Augsburg 1659 (21669), mit ansprechenden Generalbaß-Melodien, von denen eine heute zu einem Gloria-Lied {Gott in der Höh sei Preis und Ehr) gerne gesungen wird. Ungefähr gleichzeitig erschien auch der Reimpsalter des Bischofs von Würzburg, Johann Philipp von Schönborn (1605-1673), gedruckt 1658. Auch das Luthertum suchte sich gegen den weit über die Konfessionsgrenzen hinaus reichenden Einfluß des Genfer Psalters zur Wehr zu setzen. Das geschah zunächst so, daß man die Lobwasserschen Texte ersetzte, die französischen Melodien aber beibehielt. So entstand die Bereimung von Philipp d.J., Freiherrn zu Winnenberg und Beylstein von 1588. Noch deutlicher ist der Titel des Psalters von Johann Wüstholz: Der Lutherisch Lobwasser. Das ist der gantz Psalter Davids, auff Christum den rechten Scopum oder Zweck der Heiligen Göttlichen Schrifft, sonderlich auff das New Testament vnnd diese letzte Zeit gerichtet..., Rotenburg o.d. Tauber 1617. Konsequenter ging der Leipziger Professor und Superintendent Cornelius Becker (1561 — 1604) vor, der in seinem Psalter lediglich die schon bisher in den lutherischen Gesangbüchern stehenden Bereimungen von Luther, Justus Jonas, Johannes Agricola, Johann Gramann usw. um die noch fehlenden ergänzte und für diese neuen Psalmlieder ausschließlich bekannte Melodien verwendete (z. B. für den Kommunion-Psalm 111 die Melodie von Gott sei gelobet und gebenedeiet). Dieser Psalter erschien in Leipzig 1602 und wurde öfter aufgelegt und vertont. Große Bedeutung erlangte er dadurch, daß kein Geringerer als Heinrich -»Schütz zu all jenen Psalmliedern des Becker-Psalters, die keine eigene Weise hatten, neue Weisen schuf und die ganze Sammlung vierstimmig vertonte (1628, vervollständigt 1661). Leider sind Beckers Texte qualitativ nicht sehr hoch einzustufen; nur wenige Strophen daraus haben sich, z. T. in starker Überarbeitung, bis heute gehalten. Und die wenigen Schütz-Melodien, die heute wieder in den Gesangbüchern stehen, dienen zum guten Teil anderen Texten. Einzig Wohl denen, die da wandeln, eine kleine Auswahl aus den 88 Strophen, in denen Becker den 119. Psalm wiedergibt, ist mit einer der 8 Melodien, die Schütz dazu geschrieben hat, zu ökumenischer Verbreitung gelangt. Lobwassers Bereimung erlangte wohl eine fast kanonische Geltung (sein Name kommt bis 1800 auf dem Titelblatt von 797 verschiedenen Gesangbuch-Ausgaben und -Auflagen vor!, vgl. TRE 12, 554,31 ff), und vielerorts hielt man mit orthodoxer Hartnäckigkeit am Lobwasser-Text fest, obwohl man seine Mängel kannte (es gibt Gesangbücher, denen man ein Glossar beigeben mußte!). Doch haben schon früh berufenere Dichter sich der Herausforderung gestellt, die eine Kritik an Lobwasser bedeutete. So hat sogar ein Dichter vom Range eines Martin Opitz (1597—1639) sich dieser Mühe unterzogen (seit 1633, Gesamtausgabe 1636). Diese Psalmgedichte waren jedoch zu betont barock, als daß sie sich hätten durchsetzen können, obwohl es ihnen nicht an poetischer Kraft und Originalität fehlte. Vor allem im 18. Jh. werden die Lobwasser-Verbesserer dann zahlreich. Es seien nur die drei genannt, deren Arbeit einigermaßen Bestand hatte, die heute noch in den Gesangbüchern vorkommen: Johann Jakob Spreng (1699-1788) in Basel, dessen Neuübertragung von 1741 auch außerhalb der Schweiz Beachtung fand, dann der Berner Theologe Johannes Stapfer (1719-1801), der dem offiziellen Berner Psalmenbuch von 1775 die Gestalt gab, die bis 1853, als man den Gesamtpsalter aufgab, Gültigkeit hatte und noch heute in einigen Strophen verwendet wird, vor allem aber Matthias Jorissen (1739-1823), ein jüngerer
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Vetter—•Tersteegens, der den Deutschsprachigen in H o l l a n d und den Reformierten in Nordwestdeutschland ihre bis zum heutigen T a g e gültige Psalmversion geschenkt hat (entstanden seit 1 7 9 3 , erschienen 1 7 9 8 , teilweise umgearbeitet 1 8 0 9 ) , eine würdige, wenn auch sehr w o r t r e i c h e Bereimung. Die Zahl allein der deutschsprachigen Psalterbereimungen ist groß 2 . Noch größer ist die Zahl der poetischen Bearbeitungen einzelner Psalmen aus allen Jahrhunderten seit Luther. Sie zeigen, zusammengenommen, wie stark sich die hebräische Poesie - meist nur durch Vermittlung der Bibelübersetz u n g - auf die Kirchenlieddichtung ausgewirkt hat. Die ideale Form und Art der Psalmdichtung hat man dabei nicht gefunden und wird man nie finden. Luther hat in dem angeführten Brief an Spalatin eine Regel aufgestellt, an die er selbst sich weder vorher noch nachher immer gehalten hat: „Velim autem novas et aulicas voculas omitti, quo pro captu i'ulgt quam simplicissima vulgatissimaque tarnen munda simul et apta verba canerentur, deittde sententia perspicua et psalmis quam proxima redderetur. Libere itaque hic agendum et accepto sensu, verbis relictis, per alia verba comoda vertendum" [Ich möchte aber neue und am Hof übliche Ausdrücke vermieden wissen; nach seinem Aufnahmevermögen soll das Volk möglichst einfache und gebräuchliche, freilich reine und passende Worte singen; außerdem soll der Sinn durchsichtig sein und den Psalmen so weit wie möglich nahekommen. Deshalb muß man hier frei verfahren, wenn nur der Sinn gewahrt ist, den Wortlaut vernachlässigen und durch andere geeignete Worte wiedergeben]. 3 Schon diese in sich nicht ganz widerspruchsfreien Äußerungen zeigen, welch schwieriges Problem hier vorliegt. Man kann versuchen, zu unterscheiden zwischen Liedpsalm (strenge Anlehnung an Wort- und Bilderwahl wie Gedankengang und Struktur der Vorlage im Sinne der Paraphrase) und Psalmlied (freiere Nachdichtung, u. U. in Auswahl bis hin zum Psalmen-Cento oder zur freien Meditation über einen Psalm-Ausschnitt oder ein einzelnes Psalmwort oder gar eine förmliche neutestamentliche Weiterführung oder Neuinterpretation des Psalms). Doch werden die Grenzen stets fließend sein. Schon an den sieben Psalmliedern Luthers kann man die verschiedenen Möglichkeiten von strenger Bindung an den Bibeltext (z. B. die ursprüngliche, vierstrophige Fassung von Aus tiefer Not schrei ich zu dir) bis hin zu einer Dichtung, die den Psalmhintergrund erst bei genauem Hinsehen erkennen läßt (Ein feste Burg ist unser Gott nach Ps46), beobachten. Die Paraphrase kann breiter oder knapper ausfallen, die freie Nachdichtung kann sich näher beim Psalm halten oder diesen nur als Sprungbrett verwenden: Es stellen sich zum Teil ähnliche Probleme wie bei der -»Predigt. Ein Sonderproblem stellt die Frage dar, ob und wie weit eine christliche Interpretation in die Psalmbereimung einfließen darf. Calvin und der reformierte Protestantismus haben die christologische Deutung der Psalmen zwar nicht abgelehnt, wollten den Liedtext aber davon freihalten, während die lutherische und die römisch-katholische Psalmdichtung (Ulenberg ausgenommen) sich hier freier bewegten; der Psalm in seinem biblischen Wortlaut ist dort außerhalb des Liedgesangs liturgisch noch wirksam. So findet man die abschließende trinitarische Doxologiestrophe nur in lutherischen oder katholischen, niemals in reformierten Psalmbereimungen. Luther selbst kennt sie allerdings noch nicht, wohl aber Straßburg, wo man seit 1541 (-»Bucer) im Gesangbuch vorneweg eine Zusammenstellung von Gloria Patri-Strophen für alle in Frage kommenden Metren findet, die der Gesangbuchbenutzer von Fall zu Fall an das betreffende Lied anhängen kann. 3 . 1 5 . Ebenfalls Luther hat m a n eine weitere Liedgattung zu verdanken, die allerdings keine so weitreichende W i r k u n g ausübte: das Katechismuslied. Unter seinen 2 4 Liedern der J a h r e 1 5 2 3 und 1 5 2 4 befinden sich zwei zu den Z e h n Geboten, eine P a r a p h r a s e des Glaubensbekenntnisses und ein Lehrlied über das Abendmahl (Jesus Christus, unser Heiland, / der von uns) sowie ein Danklied nach der K o m m u n i o n (Gott sei gelobet und gebenedeiet). Und in seinem Gesangbuch von 1 5 2 9 finden wir eine Abteilung, die seit spätestens 1 5 4 3 (wahrscheinlich schon früher) überschrieben ist: „ N u n folgen geistliche Gesänge, darin der Katechismus kurz gefasset ist, denn wir ja gern wollten, d a ß die christliche L e h r e a u f allerlei Weise, mit predigen, lesen, singen etc. fleißig getrieben und immer dem jungen und einfältigen Volk eingebildet und also für und für rein erhalten und auf unsere N a c h k o m m e n gebracht würde. D a z u verleihe G o t t sein G n a d e und Segen durch J e s u m Christum. A m e n . " 4 Luther hat v o r 1 5 3 9 noch ein Vater-unser-Lied und um 1 5 4 0 / 4 1 ein Lied von der Taufe beigesteuert, offenbar in der Absicht, diesen Zyklus zu vervollständigen. G a b es im Mittelalter schon Lieder zu einzelnen Katechismus-Stücken (vor allem Z e h n Gebote-Lieder), s o doch nicht Lieder-Zyklen zum ganzen Katechismus. O b w o h l Katechismuslieder im sonntäglichen Hauptgottesdienst kaum zu verwenden waren (lediglich bei Calvin und in gewissen reformierten Liturgien wird im Abendmahls-
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gottesdienst regelmäßig ein Zehn Gebote-Lied gesungen), hat diese Gattung auch späterhin geblüht. Es sind ganze Katechismusparaphrasen in Liedform entstanden und z.T. auch in den dem Katechismus gewidmeten Sonntag-Nachmittag-Gottesdiensten verwendet worden. Auf katholischer Seite darf man die in den zahlreichen Missionsbüchlein der Jesuiten seit 1717 verbreiteten nüchternen und einfachen Lieder hierher rechnen, die der Volksmission und den damit verbundenen katechetischen Bemühungen dienen sollten. Hierher gehört auch ein Gesangbuch wie Die christliche Lehre in Liedern (1773) des Fürstabtes Martin Gerbert (1720-1793) in St. Blasien im Schwarzwald. 3.16. Auch das geistliche Kinderlied ist eine Frucht der intensivierten katechetischen Bemühungen, die mit der Reformation einsetzen. Luther bezeichnet zwei seiner späten Lieder (Vom Himmel hoch, da komm ich her und Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort) ausdrücklich als Kinderlieder. Mit besonderer Hingabe und viel Geschick hat Johannes Zwick (um 1496-1542) in Konstanz sich dieser Gattung angenommen, und aus der späteren Reformationszeit ist dann vor allem Nikolaus Herman in St. Joachimstal zu nennen. Daß die Aufnahmefähigkeit der Kinder in diesen frühen Kinderliedern oft überfordert wird, sollte weniger betont werden, als daß sie (auch in musikalischer Hinsicht) vom entsprechenden Angebot des 19. Jh. (z. B. Weil ich Jesu Schäflein bin oder Der Pilger aus der Ferne) viel ärger überfordert wurden. 3.17. Das Epistel- und Evangeliumslied ist eine Gattung, die man erstmals bei Nikolaus -»Herman (1500-1561) in St. Joachimstal (Die Sontags Euangelia vber das gantze ]ar/]n Gesenge verfasset/ Für die Kinder vnd Christlichen Haußväter..., Wittenberg 1560) antrifft. Dem Vorwort zu einem weiteren Werk mit vor allem alttestamentlichen Bibelliedern (Die Historien von der Sindtflut..., Wittenberg 1562) entnimmt man, d a ß nach der Überzeugung Hermans an die Stelle der Heiligenlieder Heilslieder treten sollen; nicht die Taten und Worte der Heiligen sind in erster Linie zu erzählen, sondern die Taten und Worte des Heilandes. Dem Vorbild Hermans folgt der zwischen altem und neuem Glauben stehende Grazer Stadtpfarrer Andreas Gigler (gest. 1570) mit seiner Gesang Postilla: Das ist, Euangelia auf die fürnemste Feste vnd Feyrtag, Graz 1569 ( 2 1574). Im zweiten Teil folgen Epistel-Lieder. Die Lieder sind zur Verwendung im Zusammenhang mit der Predigt bestimmt, haben alle das Metrum der Lutherstrophe (10 passende Melodien sind samt vierstimmigen Sätzen beigegeben) und immer die Länge von 10 Strophen. Poetisch sind sie denen Hermans weit unterlegen. In der Zeit des Frühbarocks folgt dann Johann Heermann (1585-1647) mit seinen Sontags- vnd Fest Evangelia, durchs gantze Jahr, Auff bekandte Weisen gesetzt, Leipzig 1636. Rudolf Alexander Schröder rühmt diese Gedichte als frisch, volkstümlich, ja balladesk, und hat sie in eigenen ähnlichen Schöpfungen nachzuahmen versucht. Auf katholischer Seite ist der Erzbischof von Mainz, Johann Philipp von Schönborn, zu nennen, der 1653 einen großen Zyklus von Sololiedern über die Evangelien und 1656 einen solchen von Epistelliedern, vertont von Philipp Friedrich Buchner, erscheinen ließ. 3.18. Das Sakramentslied ist eine nicht leicht faßbare Gattung, denn sie überschneidet sich stark mit derjenigen des Ordinariumsliedes auf der einen und mit derjenigen des Katechismusliedes auf der andern Seite. Abendmahlslieder auf evangelischer und Lieder zur (meist mit einem Wortgottesdienst verbundenen) Kommunion auf katholischer Seite sind jedoch seit der Reformation immer wieder geschrieben worden. Liturgische (und nicht katechetische) Tauflieder sind schon seltener, weil die Taufe in beiden Konfessionen meist im kleinen Kreis und nicht vor versammelter Gemeinde vollzogen wurde. Deshalb muß man Tauflieder, die ernsthafte Beachtung beanspruchen dürfen, unter den Liedern unseres Jahrhunderts suchen. 3.19. Von den Liedern zu den sog. -*Kasualien sind schon in der Reformationszeit solche zur -»Bestattung (IV. V) angeboten worden. Es war wiederum Luther, der in seinen späteren Jahren eine Auswahl aus seinen Liedern in einer besonderen Sammlung von
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Begräbnisgesängen zusammengestellt hat (vgl. TRE 5, 748, 31-38). Ihnen hat er dann auch eine Reihe von durch ihn textlich bearbeiteten gregorianischen lateinischen Gesängen beigefügt (1542). Unter den Liedern dieser Sammlung ist allerdings nur ein einziges spezifisches Begräbnislied: Nun laßt uns den Leib begraben, die Bearbeitung eines Liedes von Michael Weiße durch Luther. Eigentliche Begräbnislieder sind auch später selten; allgemeine Trostlieder, Lieder der Sterbevorbereitung, solche von Tod und Auferstehung und eschatologische Lieder treten mit Recht in die Lücke. Zur -»Trauung wurde seit dem 17. Jh. häufig Philipp Nicolais Geistlich Braut-Lied der gläubigen Seelen, von Jesu Christo /rem himlischen Bräutgam: Gestellt vber den 45. Psalm des Propheten Dauids (der ja tatsächlich ein Hochzeitslied ist) gesungen (Wie schön leuchtet der Morgenstern). Deshalb schreiben Paul Gerhardt (Kontrafaktur Wie schön ist's doch, Herr Jesu Christ) und K.J. Philipp Spitta (Ich und mein Haus, wir sind bereit) ihre Hochzeitslieder auf diese Melodie. In der Schweiz war jahrhundertelang Jakob Fünklins (1523-1565) Gnad, Fried und reichen Segen auf die andere Epiphanias-Melodie (Hochzeit zu Kana!) Herr Christ, der einig Gotts Sohn in Gebrauch, und dieses Metrum wird daher in dieser Liedgattung auch sonst noch angetroffen. Die -»Konfirmation hat - ihrer späten Entstehung und der schwankenden Sinngebung wegen kaum zu einer eigenen Liedgattung geführt. 3.20. Das, war wir gemeinhin Trost- und Vertrauenslied nennen, ist in dieser Form eine Schöpfung des 17. Jh. Zwar kann schon Luthers Ein feste Burg ist unser Gott niemals als das Trutz- und Kampflied verstanden werden, als das es schon bald verwendet und bis zum Exzeß mißbraucht wurde; es hat vielmehr in der ältesten uns erhalten gebliebenen Quelle, einem Augsburger Gesangbuch von 1529, den richtigen Titel: „Ain trost Psalm". Auch Nun freut euch, lieben Christen gmein (übrigens von der 2. Strophe an ein Ich-Lied, wie fast alle klassischen Trost- und Vertrauenslieder) ist primär ein Lied des Trostes in der Anfechtung. Aber als Gattung von ganz auf den einzelnen ausgerichteten, den Trost fast nur im besseren Jenseits erblickenden Kreuz-Liedern (klassisches Beispiel: Gerhardts Ich bin ein Gast auf Erden) gehören sie eben doch vor den Hintergrund der seit dem ausgehenden 16. Jh. von vielen durchlittenen Leiden. Die direkten und indirekten Folgen des 30jährigen Krieges sind nur eine Ursache unter anderen. Sein unmittelbarer Einfluß auf die Kirchenlieddichtung der Zeit wird meist stark überbewertet. (So ist z. B. Freu dich sehr, o meine Seele entgegen der Angabe in den Gesangbüchern schon 1613 und nicht erst 1620 erstmals im Druck erschienen.) Das 19. Jh. hat sich mit seinem „empfindsamen" Hang zur Sentimentalität diesem Ton dann gerne angeschlossen (klassisches Beispiel in Text und Melodie: So nimm denn meine Hände). Erst das 20. Jh. hat wieder zu tapferen Tönen im Trostlied zurückgefunden (besonders eindrücklich Rudolf Alexander Schröders Es mag sein, daß alles fällt, das nicht so sehr auf barocke Vorbilder zurückgreift, wie allzuviele Lieder dieses Autors, sondern eher auf die Reformationszeit mit Ambrosius -»Blarers originellem Wie's Gott gefällt, so gfällt's mir auch oder des Herzogs -» Albrecht von Preußen Kontrafaktur auf ein Pariser Chanson Was mein Gott will, das gscheh allzeit). 3.21. Man eröffnet die Gruppe der Bußlieder in den Gesangbüchern gerne mit Luthers Mitten wir im Leben sind. Das ist eine analoge Verkennung der Absicht des Dichters, wie wir sie eben für Ein feste Burg ist unser Gott namhaft gemacht haben. Auch die Bußpsalmen (also etwa Luthers Aus tiefer Not schrei ich zu dir) sind nicht von der Art der in Orthodoxie und Pietismus aufkommenden Selbstanklage- und Selbstzerfleischungsliedern (z.B. Ach Gott und Herr, wie groß und schwer sind meine vielen Sünden), die zu Recht den Spott von Friedrich Engels' Freund Friedrich Wilhelm Wolff (1809-1864) mit seiner (auch noch von Thomas Mann kolportierten) Rabenaas-Strophe hervorgerufen haben. Die Aufklärung mit ihrer positiven Lebenshaltung hat mit diesem Kirchenliedtyp endgültig aufgeräumt. Unsere Zeit hat bescheidenere und treffendere Töne gefunden (z.B. O Herr, nimm unsre Schuld). 3.22. Die barocke Aria bringt seit der Mitte des 17. Jh. einen bemerkenswert neuen Ton in das evangelische wie in das katholische Kirchenliedschaffen ein. Es handelt sich
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hier zunächst um einen musikalischen Begriff. Gemeint sind generalbaßbegleitete Melodien mit einem geschmeidigen, durch Punktierungen und Durchgangsnoten bereicherten Duktus von stark subjektiv bewegter Art. (Die Aria in diesem Sinn darf nicht verwechselt werden mit der Arie, die, auch wenn sie eine Kirchenliedstrophe verwendet, dem Kunstgesang zugehört. Einfaches Unterscheidungsmerkmal ist die Wiederholung einzelner Wörter und Textteile. In der Aria ist, auch wenn die Melodie stark solistisch ausgestaltet ist, der Text der Strophe stets so durchkomponiert, daß auch weitere Strophen untergelegt werden können.) Beispiele aus der Anfangszeit, die jedoch das Besondere dieses Typs schon gut erkennen lassen, sind die Lieder Joachim Neanders, von ihm selbst vertont (z.B. Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren), aber auch schon Georg Neumarks Wer nur den lieben Gott läßt walten, vollends klassische Ausprägungen dann die neuen Lieder des Hallenser Pietismus im Geist-reichen GesangBuch des Johann Anastasius Freylinghausen (1670-1739) von 1704 und (2. Teil) 1714 (z. B. Christian Friedrich Richters einmaliges Es glänzet der Christen inwendiges Leben nach den Kap. 5 und 6 des Diognet-Briefs aus der Mitte des 2. Jh.) und in den sog. Köthnischen Liedern, die seit 1733 im dortigen reformierten Waisenhaus erschienen (z.B. Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude). Erst für private Andachten bestimmt, fließen diese Lieder schon sehr bald auch in das offizielle Liedgut der Gesangbücher ein, was etwa an demjenigen für Naumburg-Zeitz von 1736 deutlich wird, das musikalisch von Johann Sebastian -»Bach betreut wurde (darin die mit Sicherheit von Bach stammende, sehr schlichte Aria-Melodie zu Gerhardts Weihnachtslied Ich steh an deiner Krippe hier, aber auch bewegtere wie z.B. die ebenfalls von Bach stammende zu Dir, dir, Jehoua, will ich singen). Im Gutachten, das die Wittenberger Theologische Fakultät 1716 über das Freylinghausen'sche Gesangbuch abgab, wird dieser Liedtyp, „wodurch das menschliche Herz durch eine gewisse springende und tanzende Art von Melodeyen wohl gar in eine empfindliche Veränderung und Anfang einer Raserey gebracht werden kann," scharf abgelehnt. Wieviel besser aber diese Art von Melodien die subjektiv geprägten Texte der Barockzeit zu tragen imstande sind als die klassischen Melodien der Reformationszeit, auf die sie z. T. gedichtet sind, kann gerade etwa an dem vorletzten der genannten Beispiele sehr einleuchtend gezeigt werden (die Originalmelodie ist die etwas steife zweite Melodie Luthers zu seinem Nun freut euch, lieben Christen gmein von 1529; bezeichnend, daß für das römisch-katholische Einheitsgesangbuch Gotteslob diese Weise und nicht die Bach'sche, die zur Wahl stand, gewählt wurde).
3.23. Die Ode der Aufklärungszeit stellt einen neuen Liedtyp von für jene Zeit charakteristischem Gepräge dar. Sie steht dem auffallend häufig sich an Jesus wendenden, tänzelnden, bisweilen sogar tändelnden Stil der pietistischen Lieder mit einer deutlich distanziert-erhabenen Gebärde der Anbetung und Rühmung des Schöpfers und Weltenherrschers diametral gegenüber. Die Strophen sind meist knapper, das Geklingel der durchgehenden Daktylen wird gemieden; dafür treten Metren mit gemischten Versfüßen auf. Ja sogar das Reimgeklingel wird in Frage gestellt (erstmals bei Klopstock). Ein (in den besten Stücken keineswegs hohles) Pathos, das sich häufig in rhetorischen Fragen kundtut, bestimmt die Sprechweise (dies auch in traditionellen Formen). Christian Fürchtegott -•Geliert hat mit seinen „Oden und geistlichen Liedern", Leipzig 1757, den Ton angegeben und mit Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre ein klassisches Beispiel für diesen neuen Typus geliefert. Beethoven ist von allen, die diesen Text vertont haben, der Intention des Dichters wohl am nächsten gekommen; Johann Joachim Quantz (1697-1773) dürfte jene Melodie (aufgrund einer solchen von Johann Friedrich Doles) gefunden haben, die diesen Stil am besten in's Gemeindegemäße umsetzt. 3.24. Das Erweckungs- und Missionslied: Beides ist der Beitrag des 19. Jh. zur Palette der Kirchenlied-Gattungen (-»Erweckung/Erweckungsbewegungen), beides geht in ähnlicher Richtung und beides überschneidet sich vielfältig. Das 19. Jh. ist das Jahrhundert der Entstehung und Hauptwirksamkeit der großen -»Missionsgesellschaften. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Kirchenlieder geben in erster Linie dem Missionseifer der aussendenden Heimatgemeinde Ausdruck oder suchen diese zu missionarischem Handeln zu motivieren. Ein Missionslied wie K.J. Philipp Spittas O komm, du Geist der Wahrheit, das auch die Missionssituation im eigenen Land in den Blick bringt, hat Seltenheitswert. Diese Ausrichtung haben dann - freilich im Gewände eines ganz anderen Stils-
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die Erweckungs- und Evangelisationslieder des 19. Jh., die stark von angelsächsischen Anleihen und Anlehnungen geprägt sind. Ihre Sprache ist weitgehend klischeehaft und ihre Musik simpelster Abklatsch der Romantik. Diese Lieder wollen wohl Glauben bezeugen und Glauben pflanzen, aber sie wollen in erster Linie jene Stimmung herbeiführen, in der dann die evangelistische Verkündigung um so eher ihre Wirkung zu tun vermag. 4. Geschichtlicher
Überblick
bis 1900
Die Epochen der Kirchenliedgeschichte sind dieselben wie die der allgemeinen Geistesgeschichte, der Kunst-, Musik- und Kirchengeschichte (-*Kunst und Religion; -»Musik und Religion). Es gehört jedoch zu den Besonderheiten der Kirchenliedgeschichte, daß es hier besonders häufig schwerfällt, die für eine Epoche kennzeichnenden Merkmale an allen in den betreffenden Jahrzehnten entstandenen Werken deutlich festzustellen. Das kommt daher, daß dem einzelnen Kirchenliedautor fast immer das Liedschaffen der meisten der vorausgegangenen Epochen in einer größeren Zahl von Beispielen gegenwärtig, ja aus eigener Frömmigkeitspraxis vertraut war. Denn zu keiner Zeit (nicht einmal während der Aufklärung) wurden ausschließlich die zeitgenössischen Kirchenlieder gebraucht. So ist es vielen Autoren schwergefallen, sich vom Einfluß der Tradition freizuhalten. Das gilt selbst für unsere Zeit, obgleich das historische Bewußtsein kaum jemals stärker geschult und ausgebildet war als heute. Auch wenn es nicht ohne weiteres auf der Hand liegt, so gilt das auch im Blick auf die älteste Epoche der Kirchenliedgeschichte. Wie sich bei der Betrachtung der einzelnen formalen und inhaltlichen Typen (s.o. 3) gezeigt hat, ist das deutsche Kirchenlied weder als Gesamterscheinung noch in seiner Geschichte und ihren einzelnen Ausprägungen zu würdigen und zu verstehen ohne das lateinische Kirchenlied des Mittelalters, von dem nur die wichtigsten und wirksamsten Formen und Typen genannt werden konnten. Ihre Wirkung reicht weit über die Reformationszeit hinaus und ist nicht etwa nur in der katholischen Kirchcnliedgeschichte, sondern auch in der evangelischen immer mehr oder minder spürbar. Was das Mittelalter hatte entstehen lassen, wurde zwar auch auf diesem Gebiet (nicht nur in der bildenden Kunst!) durch die Reformation wie durch die innerkatholische Reform stark bedroht, ja dezimiert, aber es lebte doch weiter. (In Frankreich wurden z.B. die Sequenzen trotz des Verbots durch das Tridentinum bis ins 18. Jh. in großer Zahl weiter verwendet und gedruckt.) Ein deutsches Kirchenlied gibt es, seit es die deutsche Sprache gibt. Zu den ältesten deutschen Sprachdenkmälern gehört das sog. Freisinger Petruslied (Utisar trohtin hat farsalt / sanete Petre giwalt [Unser Herr hat Sankt Peter Vollmacht gegeben]), eine dreistrophige Leise, also ein original deutsches Gedicht und keine Übersetzung aus dem Lateinischen, mit Neumen überliefert, also offenbar zum Singen bestimmt, und bei Otfried (I 7,25) wörtlich zitiert, also offenbar bekannt und verbreitet. Die Zahl der uns überlieferten Kirchenlieder des Mittelalters mag (selbst wenn man die niederdeutschen und niederländischen oder sogar noch die böhmischen hinzunimmt) als niedrig erscheinen und zur Annahme verleiten, es handle sich hier um einen Zweig des kirchlichen Liedschaffens von gänzlich marginaler Bedeutung. Bedenkt man jedoch, daß das Mittel des Drucks zur Verbreitung erst ganz am Ende der Epoche zur Verfügung stand, ein großer Teil dieser nur handschriftlich und häufig singulär überlieferten Werke verloren gegangen sein muß, so hat man doch auch jetzt schon das volkssprachliche Kirchenlied als Kulturträger, Ausdruck und Anreger der Frömmigkeit recht hoch zu bewerten und entsprechend zu berücksichtigen. Einzelne Lieder (z. B. Christ ist erstanden oder In dulei jubilo) haben auch dokumentierbar eine starke und weite Verbreitung gefunden. So muß das volkssprachliche Lied z.B. im Rahmen der Frömmigkeitsbewegung der -*Devotio moderna eine große Rolle gespielt haben. Die im Laufe des 15. Jh. auftauchenden Verbote des Singens deutscher Lieder während der Messe (Basel 1435, wiederholt 1503; Eichstätt 1446; Schwerin 1492; Köln noch 1536) beweisen nur, daß dieser Brauch gebietsweise eine auffallende Bedeutung erlangt hatte.
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Der Großteil der mittelalterlichen deutschen Kirchenlieder ist anonym geblieben. An namentlich bekannten Dichtern sind hier zu erwähnen Herman, „der Mönch von Salzb u r g " (Wende 14./15. Jh.), und Heinrich von Laufenberg (um 1390-1458 [?]), „der fruchtbarste, volkstümlichste und einflußreichste Dichter des Mittelalters" (Ernst Barnikol: R G G 3 3, 204). Johann - • Tauler gehört nicht zu ihnen; was ihm zugeschrieben wird (vor allem Es kommt ein Schiff geladen), hat ihm der Schwenckfeldianer Daniel Sudermann (1550-1631) zugeschrieben; doch geben ihm die Quellen Unrecht. Die -*Reformation als große Predigtbewegung hatte natürlich von Anfang an eine starke Affinität zu dem schon im Mittelalter vor allem in den Predigtgottesdiensten beheimateten volkssprachlichen Kirchenlied. Hinzu kommt, daß (nicht nur bei Luther!) das Lied gemäß damaliger Kulturlage ein hervorragender Träger der Propaganda für den neuen Glauben war. Vor allem aber setzte sich das Kirchenlied sofort und ohne „kirchenamtliche" Anordnungen als neues unentbehrliches liturgisches Element durch. Die Entstehung von eindeutig auf die Liturgie ausgerichteten Liedern und deren Zusammenfassung in Chor- und Gemeindegesangbüchern - ein Printmedium, das sofort zu überragender Bedeutung gelangte - beweist das auf eindrückliche Weise. Der entscheidende Anstoß zur Kirchenliedproduktion ging von Luther aus, wenn er auch nicht der erste ist, der deutsche evangelische Kirchenlieder schuf. Zentren der Kirchenliedproduktion und -Verbreitung wurden neben Wittenberg zuerst Straßburg, dann (in verschiedenem Ausmaß) Nürnberg und die kryptotäuferischen Kreise in Augsburg, Königsberg, Konstanz und (trotz Zwingiis ablehnender oder doch zögernder Haltung) die Schweiz, Frankfurt und die Orte, wo sich die -»Böhmischen Brüder sammelten. (Daneben gibt es Orte, die wohl für die Gesangbuchgeschichte bedeutungsvoll sind, wie etwa Bonn oder später Heidelberg, auch Leipzig, in der Liedproduktion aber keine große Rolle spielen.) Die wichtigsten Namen sind für diese erste Epoche des evangelischen Kirchenliedschaffens neben Luther und seinen Freunden wie Johann -»Agricola, Justus -»Jonas, Paul -»Speratus und Johann Walter (1496-1570), dieser auch als Melodieschöpfer, Johann Endlich oder Englisch (um 1500-1577), Bucers Mitarbeiter Konrad Hubert (1507-1577) und für die frühe französische Hymnopöie -»Calvin, in Konstanz die Brüder Thomas (1499-1570) und Ambrosius -»Blarer und ihr Vetter Johannes Zwick (s. o. 3.16), in der Schweiz (trotz allem!) Huldrych -»Zwingli (mit einem zwar sehr kleinen, aber hochinteressanten Lied-Oeuvre), dann in Königsberg der Reformator Johann Gramann (1487—1541), der Musiker Johann Kugclmann (um 1495-1542) und, wie man seit Friedrich Spittas emsigen Forschungen weiß, auch der Landesherr, Herzog -»Albrecht von Preußen (1490-1568), weiter Hans -»Sachs (1494-1576) und Sebald Heyden (1499-1561) in Nürnberg, Erasmus -»Alber (1500-1553) in Hessen und gegen Ende der Epoche Nikolaus -»Herman (1500-1561) in St. Joachimstal; bei den Böhmischen Brüdern sind Michael Weiße (um 1488-1534) und später Michael T h a m (gest. 1571), nicht hingegen Johann Horn (um 1490-1547), der als Dichter deutscher Lieder nicht in Frage kommt, zu nennen. Die Zeit der Gegenreformation (-»Katholische Reform und Gegenreformation) lind der Konsolidierung der Reformation in der beginnenden -»Orthodoxie bringt auf der Seite der auf die Reformation antwortenden Römischen Kirche den engagierten Johann Leisentrit (1527—1586) auf den Plan, der den Löwenanteil in seinem umfangreichen Gesangbuch von 1567 selber geschrieben, z. T. wohl auch die Melodien dazu selber geschaffen oder bearbeitet hat und so mit einem gewissen Recht seinen Namen als Kolumnentitel über alle ungeraden Seiten setzen durfte. Auf evangelischer Seite sind Ambrosius Lob wasser in Königsberg (s.o. 3.14), der nicht nur Psalmbereimungen geschrieben hat (z.B. das mitreißende Weihnachtslied Freut euch, freut euch, all insgemein), Nikolaus -»Seinecker in Leipzig und Paul Eber (1511-1569) in Wittenberg zu nennen. Zweierlei ist kennzeichnend für diese Epoche: einmal das Betonen der rechten Lehre und die Bitte um Bewährung, zum andern das Einfließen spätmittelalterlichen mystischen Gedankengutes und entsprechender Spiritualität, wofür man in erster Linie die Erbauungsbücher Martin
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Mollers (1547-1606) Meditationes Sanctorum Patrum (seit 1584) und Johann -»Arndts Paradiesgärtlein (seit 1612 oder etwas früher [ s . T R E 4,124,23 f]) verantwortlich zu machen hat. Aus diesen beiden Büchern schöpft manches Kirchenlied dieser Epoche (und der folgenden) direkt oder indirekt. Mit etwa 1600 läßt man im allgemeinen die Epoche des Barock beginnen. Zu nennen ist hier zunächst eine Gruppe von zwischen 1580 und 1620 entstandenen Kirchenliedweisen, die einen regelmäßigen Wechsel zwischen 2 x 3 und 3 x 2 Vierteln und damit eine für den Barock typische Zweischichtigkeit aufweisen (z. B. Nun laßt uns Gott, den Herren oder Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ). Zugleich beginnt die Harmonik die Uberhand über die Melodik zu gewinnen: Manche dieser Melodien sind mehr die zufällige Folge der obersten Töne einer Reihe von Akkorden und haben melodisch kein besonderes Gesicht (so z. B. die erste der beiden eben genannten). Und auch die späteren Liedweisen dieser bis rund 1750 reichenden Epoche sind stets mit ihrem harmonischen Hintergrund (Generalbaß) zusammen erfunden und nur so richtig zu verstehen. Ein weiteres Merkmal barocker Melodiebildung ist die gelegentliche Anwendung der vor allem in der Mehrstimmigkeit zur Geltung gelangenden Kompositionsregeln der sog. Figurenlehre: Bestimmte Textinhalte, -haltungen und -Stimmungen werden durch bestimmte melodische oder rhythmische (in der Mehrstimmigkeit dann auch harmonische) Formeln „in die Music übersetzet" (Heinrich -»Schütz). Klassische Beispiele hierfür sind schon gleich zu Beginn der Epoche (1599) die sofort in auffallender Breite rezipierten beiden Lieder, die Philipp Nicolai (1556-1608) seinem Freudenspiegel des ewigen Lebens betitelten Erbauungsbuch am Ende beigab (Wachet auf, ruft uns die Stimme und Wie schön leuchtet der Morgenstern), aber etwa auch manche Melodien des Jenaer Kantors Melchior Vulpius (um 1570—1615), so Hinunter ist der Sonne Schein und Die helle Sonn leucht' jetzt herfür, oder der Gerhardt-Melodisten Johann Crüger (1598-1662) und Johann Georg Ebeling (1637—1676), so des erstgenannten Melodie zu O Welt, sieh hier dein Leben (Zahn 2298) und des zweitgenannten weitberühmte Weise zu Die güldne Sonne mit ihrem auffallenden Einsatz auf sol und der ganz genau dem Text entlang verlaufenden Melodiebewegung. 1624 erscheint Martin Opitz' (1597-1639) epochemachendes poetisches Regelwerk (Buch von der teutschen Poeterey), in dem u.a. das Zusammenfallen von Wort- und Versakzent im deutschen Gedicht verlangt wird. Das wirkt sich sofort auch auf die Kirchenlieddichtung aus, zumal viele unter den Kirchenliedautoren den sich nun überall bildenden Dichterbünden anschließen. Doch ist nicht zu übersehen, daß z. B. ein Friedrich Spee schon vor 1624 im Opitz'schen Sinne reine Strophen schreibt (vgl. O Heiland, reiß die Himmel auf von 1622, das ohne jeden bessernden Eingriff in unseren Gesangbüchern steht) und auch bei Luther und bis zurück zu Walther von der Vogelweide neben freier Zeilenfüllung auch Gedichte mit ganz oder fast ganz durchgehender Ubereinstimmung zwischen Wort- und Versakzent zu finden sind. Sowohl hinsichtlich der Anzahl der Lieder wie hinsichtlich der Fülle der vertretenen Stile, Formen und Inhalte hat wohl keine andere Epoche der Kirchenliedgeschichte einen umfangreicheren Beitrag zum deutschen Kirchenliedschaffen geleistet als die Barockzeit. Vom nüchternen orthodox-dogmatischen Lehrlied bis zur überschwenglichen, beinahe erotischen Jesus-Anbetung, von der fast schon rationalistisch anmutenden Naturschilderung bis zur glühenden Jenseitsvision, vom fast trockenen Bibellied bis zur gewagten theologischen Spekulation ist alles vertreten, was man sich denken kann, und hinsichtlich der Strophenzahl scheinen sich die Dichter kaum Fesseln anzulegen. Konzentration ist auch inhaltlich kein hervorragendes Merkmal barocker Kirchenliedgestaltung. Den Hymnologen, der das gesamte barocke Kirchenlied auch nur karteimäßig erfaßt hätte, gibt es wohl noch nicht, erst recht nicht den, der es wirklich überblickt. Über die bereits erwähnten Namen hinaus sind noch zu nennen: aus der Opitz-Schule Johann Heermann (s.o. 3.17), Andreas Gryphius (1616-1664) und Matthäus Apelles von Löwenstern (1594-1648), aus der Königsberger Dichtergruppe Georg Weissei (1590-1635), Simon Dach (1605-1659) und Heinrich Albert (1604-1651), ferner Martin
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Rinckart (1586-1649), Paul Fleming (1609-1640), Johann Olearius (1611-1684), Johann Franck (1618-1677), Johann Matthäus Meyfart (1590-1642) und Georg Neumark (1621-1681). Heermann gilt als der bedeutendste deutsche Kirchenliederdichter zwischen Luther und Gerhardt. Er ist auch bis heute in den Gesangbüchern mit mehreren Liedern vertreten, während alle anderen, die hier genannt wurden, zwar meist ebenfalls eine größere Zahl von Liedern geschrieben haben, aber mit wenigen Ausnahmen nur mit je einem in die Geschichte eingegangen sind. Unter den katholischen Dichtern des frühen und mittleren Barock ragen Friedrich Spee von Langenfeld (1591—1632), sonst auch als mutiger Kämpfer gegen den Hexenwahn seiner Zeit bekannt, und Johann -»Scheffler (1624—1677), einer der berühmtesten Konvertiten (er nannte sich nach seiner Konversion Johannes Angelus5) heraus. Beide sind mit mehreren bedeutenden Liedern bis heute in den Gesangbüchern vertreten. Der - soweit die Forschung keinen anderen übersehen hat - mit über 1000 Liedern fruchtbarste Kirchenliederdichter des Barock ist der Begründer des Elbschwanordens, Johann Rist (1607-1667), dessen Namen Zeitgenossen zu „Es rinnt ja so" umgestellt haben, der uns aber auch jene „eine Verszeile, die ihn unsterblich machen sollte" (Martin Gregor-Dellin, Heinrich Schütz, München/Zürich 1984, 253): O Ewigkeit, du Donnerwort, geschenkt hat. Mit in der „Fruchtbringenden Gesellschaft", der Rist angehörte, waren Justus Gesenius (1601-1673) und David Denicke (1603-1680), die nicht nur das erste Gesangbuch herausgegeben haben, das ganz nach den Opitz'schen Grundsätzen durchredigiert war (Hannover 1646), sondern dazu auch eigene Beiträge geliefert haben. Paul -»Gerhardt gehört - obwohl er außer Kirchenliedern nichts Nennenswertes geschrieben hat - zu den Großen der deutschen Literaturgeschichte. Im Gegensatz aber zu andern Großen wie Opitz oder Gryphius (gar nicht zu reden von denen des 18. bis 20. Jh.) ist er im Gesangbuch nicht nur am Rande mit einem oder zwei Stücken vertreten, sondern er ist derjenige Dichter, von dem die Gesangbücher im allgemeinen den (von Luther abgesehen) höchsten Prozentsatz seiner Lieder enthalten. (Zu gewissen Zeiten lagen unter Umständen Neander, Tersteegen und Geliert höher, doch heute ist es deutlich Gerhardt.) Diese andauernd starke Rezeption ist wohl ein ebenso starker Qualitätsausweis wie die Urteile der literarischen und theologischen Fachleute. An Gerhardts Seite stellen darf man seinen Freund und Zeitgenossen Michael Schirmer (1606-1673), der schon zu Lebzeiten den Dichterlorbeer empfing, den Gerhardt erst die Nachwelt verlieh. Den größten Anteil an der spätbarocken Kirchenlieddichtung haben die Vertreter des -»Pietismus. Voraus nennen wir aber drei in drei aufeinander folgenden Jahren geborene orthodoxe Dichter, die sich in der Kirchenliedgeschichte einen bleibenden Namen gemacht haben: Erdmann Neumeister (1671-1756), der auch als Kantatendichter Johann Sebastian -»Bachs bekannt ist, Benjamin Schmolck (1672—1737), der mit seinem Liedoeuvre umfangmäßig nahe an Rist herankommt und mit seinem Gebetbuch fast ebenso berühmt wurde wie mit seinen Liedern, und Valentin Ernst -»Löscher, den bedeutendsten orthodoxen Kämpfer gegen Pietismus, Katholizismus und beginnende Aufklärung. Aus der Frühzeit des Pietismus sind zu nennen Johann Jakob Schütz (1640-1690), Lorenz Lorenzen (Laurentius Laurentii) (1660-1722) und Gottfried -»Arnold, dem wir das große Freiheitslied O Durchbrecher aller Bande verdanken. Aus der Blütezeit ist dann in erster Linie Johann Anastasius Freylinghausen (1670-1739) anzuführen, weniger der Lieder wegen, die er geschrieben hat, als des Geist-reichen Gesangbuchs (l.Teil 1704, 2. Teil 1714), das er bearbeitet hat und das auch für eine ganze Reihe von noch heute gesungenen Melodien, deren Autor noch immer nicht ermittelt ist, die älteste Quelle darstellt. In diesem Gesangbuch stehen auch erstmals die Lieder des Hausarztes der Francke'schen Stiftungen in Halle, des wohl originellsten und tiefsinnigsten der pietistischen Liederdichter, Christian Friedrich Richter (1676-1711). Und aus der Spätzeit des Pietismus sind die beiden wichtigsten Namen Johann Jakob Rambach (1693-1735) und Philipp Friedrich Hiller (1699—1769), der erste Schüler August Hermann -»Franckes, der andere Schüler Johann Albrecht -»Bengels.
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Zu den Pietisten zählt man auch zwei bedeutende reformierte Kirchenliederdichter der Barockzeit, Joachim Neander (1650-1680), dessen Name eine Zeitlang so selbstverständlich auf dem Titel reformierter Gesangbücher stand wie derjenige Luthers auf lutherischen und von dem das in der weltweiten Ökumene wohl bekannteste und verbreitetste Kirchenlied stammt: Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren, und Gerhard -»Tersteegen, der seine Mystik stellenweise (nicht in den heute noch tradierten Liedern) bis über die Grenze des mit den kirchlichen Bekenntnissen sich noch Vertragenden hinaus führt. In einem weiteren Sinne (vor allem aber auch dem in den Liedern sich manifestierenden Frömmigkeitsstil nach) hat man auch den Gründer der -»Brüdergemeine, den Grafen Nikolaus Ludwig von -»Zinzendorf, zu den Pietisten zu rechnen. Er ist wie J.J. Rambach, J.A. Freylinghausen und vorher Gesenius und Denicke auch Gesangbuchbearbeiter und -herausgeber gewesen, doch enthalten die verschiedenen Brüder-Gesangbücher sehr viele Lieder von ihm selbst. Deren Reduktion auf einen auch heute noch erträglichen, ja teilweise beeindruckenden Wortlaut (z.B. Herz und Herz vereint zusammen) verdankt man z.T. Christian Gregor (1713-1801), der das Brüdergesangbuch von 1778 bearbeitete, auch das Choralbuch dazu herausgab (1784) und 1787 als Bischof an die Spitze seiner Kirche trat.
Die -»Aufklärung konnte mit dem überlieferten Kirchenlied, sei es nun reformatorisch oder barock, sei es orthodox oder pietistisch, wenig oder nichts mehr anfangen. Wie den ganzen Glauben, so versucht man auch das Kirchenlied aus der Umklammerung durch die alten dogmatischen Vorstellungen zu befreien und die große Bewegung des religiösen Gefühls an diese Stelle zu setzen. Diese befreiende Gebärde wird nun allerdings gemäß dem Gesetz, unter dem diese Geistesbewegung angetreten ist, stets wieder durch des vernünftigen Gedankens Blässe vereitelt. Typisch etwa die folgende Weihnachsstrophe Gellerts: „Wenn ich dies Wunder fassen will, / so steht mein Geist voll Ehrfurcht still. / Er betet an und [statt es nun dabei gut sein zu lassen:] er ermißt, / daß Gottes Lieb unendlich ist." Wie blaß und platt das doch ausgeht! Aber Verständlichkeit und Genauigkeit sind das oberste Gesetz für diese Dichtkunst. So beginnt Johann Caspar Lavater ein Silvesterlied: „Ach! Wiederum ein Jahr verschwunden! / Ein Jahr - und kömmt nicht mehr zurück! / Ach! Mehr als achtmahltausend Stunden / sind weg, als wie ein Augenblick..."
Eine starke Wirkung auf das ethische Verhalten wird außerdem beabsichtigt; auch in Gebetsliedern kommt das Wort „Pflicht" auffallend häufig vor. Die neu entstandenen Melodien entsprechen einem Grundsatz, der im Vorwort des Württembergischen Choralbuches von 1799 so formuliert wird: „Der Choral ist der einfachste und langsamste Gesang, der nur gedacht werden kann." Überdies versucht man, möglichst viele Texte auf einunddieselbe Melodie zu singen, mißt also dem Wort-Ton-Verhältnis keinen besonderen Wert mehr bei. Die Melodien aus dieser Zeit sind denn auch fast alle überaus langweilig. Ihr einziges Charakteristikum ist, daß sie nicht selten auf der Oberoktav des Grundtons schließen, gerne auch mit einer das Pathos verstärkenden, abschließenden Rhythmus-Verbreiterung. Diese Epoche versuchte als einzige, sich von der eingangs genannten Belastung freizumachen, indem sie die Kirchenliedschöpfungen früherer Epochen radikal den Forderungen der Zeit anpaßte und ältere Kirchenlieder bis zur Unkenntlichkeit umarbeitete. Johann Andreas Cramer (1723-1788) plante sogar ein Gesangbuch, das ausschließlich aus Liedern von Zeitgenossen bestehen sollte. Was vom Schaffen dieser Zeit Bestand hatte, waren die Geistlichen Oden und Lieder (1757) Christian Fürchtegott -»Gellerts, von mehreren Komponisten der Zeit, u.a. dem Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel (1714-1788), zur Gänze vertont und unzählige Male aufgelegt (noch 1936 erscheint eine vom Synodalrat der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Bern mit einem empfehlenden Vorwort versehene Ausgabe „mit einem dreifachen Register und dem Einmaleins"!), einige der Lieder des eben genannten Johann Andreas Cramer (wohl sein Bestes ist Du gingst, o Heiland, hin für uns zu leiden) und des Zürcher Pfarrers Johann Caspar Lavater (1741 -1801), alle drei Vertreter der sog.
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„frommen Aufklärung". Der einzige weitere namhafte Dichter dieser Epoche, der sich auch um das Kirchenlied bemühte, ist Friedrich Gottlieb -»Klopstock. Lange stand von ihm noch in den Gesangbüchern Auferstehti, ja auferstehn wirst du, heute vielleicht noch das Abendmahlslied Herr, du wollst uns vollbereiten auf das Metrum von Nicolais Wächterlied, zu dessen heute wieder in Gebrauch stehender Urform sich der Text jedoch schlecht fügt. Auf katholischer Seite sind bedeutende Dichter in der Zeit der Aufklärung kaum zu entdecken. Man orientiert sich an Klopstock und Geliert und sucht nach Volkstümlichkeit. Die nachgerade weltweit verbreitete Liedparaphrase des Te Deutn von Ignaz Franz (1719-1790), Großer Gott, wir loben dich, ist inhaltlich kaum aufklärerisch, zeigt aber darin die völlige Verständnislosigkeit ihres Autors gegenüber überkommenen liturgischen Formen, daß sie diesen großartig-knappen Lobgesang in 12 Strophen glaubt breitwalzen zu müssen. Die Melodie ist in ihrer Urform reinste Rokoko-Tändelei; dadurch, daß sie zum „Choral" verkommt, wird sie kaum besser. Bleibt aus dieser Zeit noch ein von der Aufklärung kaum berührter Dichter zu nennen: Matthias Claudius (1740-1815) ist von Haus aus kein Kirchenliederdichter, obwohl er das Zeug dazu durchaus gehabt hätte. Er ist jedoch durch die Rezeptionsgeschichte seines Abendliedes und seines balladesken Im Anfang war's auf Erden (spätere Rezension: Wir pflügen und wir streuen) einer geworden. Im übrigen darf er in der Kirchenliedgeschichte Erwähnung finden, weil er - mit Geliert (im Vorwort zu seinen „ O d e n . . . " ) und Johann Gottfried -»Herder (mit seinem Gesangbuch von 1795) - zu jenen gehört, die sich gegen die rationalistischen Bearbeitungen alter Kirchenlieder wandten, und dies nicht aus konservativer Beharrlichkeit und Unbeweglichkeit, sondern aufgrund literarischen Sachverstandes. Das 19. Jh., das Zeitalter der - + R o m a n t i k und der Restauration, meldet sich bereits in den Stellungnahmen von Herder und Claudius. Es stellt die für die Kirchenliedgeschichte im deutschen Sprachgebiet problematischste, verworrenste und von der zu Beginn dieses Abschnitts (s. o. S. 618) dargestellten Sachlage am härtesten bedrängte Epoche dar. Die Nachwirkungen der Aufklärung sind - auch in musikalischer Beziehung - noch keineswegs verklungen, ja z.T. beginnt sich diese Geistesbewegung erst jetzt auszuwirken. Gleichzeitig schlägt das Pendel auch wieder zurück: In Überwindung der radikalen Abrechnung mit der Last der Tradition bekommt die Geschichte mit einem Mal ein neues Gewicht. Damit hebt auch eine neue, positive Auseinandersetzung mit dem überlieferten Kirchenliedgut an, wenngleich zunächst vorwiegend im Rahmen nationaler und rein historischer Interessen. Die noch heute unentbehrlichen Quellen-Editionen beginnen zu erscheinen und legen teilweise erstmalig die originalen Fassungen von Texten und Melodien frei. Unmittelbar neben weiterhin rationalistischen Gesangbüchern erscheinen solche, in denen die „Restauration des Kirchenliedes" (Ph. Dietz) ihren Niederschlag findet. Freilich führt diese Wiederbegegnung mit dem alten Kirchenlied nicht immer bis zur Urform; ein Herausgeber wie Albert Knapp (1798-1864), der auch selbst fleißig Kirchenlieder dichtete, ist, wenn auch unter pietistischem Vorzeichen, immer noch ein sehr unbekümmerter „Verbesserer" der alten Lieder. Das durch die Freiheitskriege gestärkte Nationalgefühl macht sich in beiden Konfessionen bemerkbar im Streben nach einer Uberwindung des landeskirchlichen bzw. diözesanen Partikularismus, auf evangelischer Seite seit einer einschlägigen Schrift August H.C. Vilmars von 1843, auf katholischer Seite seit Heinrich Bone (1813-1893) mit seinem bahnbrechenden Cantate (1847 und zehn weitere Auflagen bis 1905) und Josef Mohr (1834-1892, nicht der Dichter von Stille Nacht'.) mit Magnificat und Cacilia, beide von 1873, und dem Psälterlein von 1891. Ja, Ernst Moritz Arndt (1769-1860) ruft schon zu Anfang des Jahrhunderts (Von dem Wort und dem Kirchenliede 1819, Nachdr. Hildesheim 1970) sogar nach dem allen christlichen Konfessionen und den Juden gemeinsamen Lied, gibt auch einige Muster älterer und eigener Kirchenliedpoesie bei. Von seinen Beiträgen hat einiges bis heute Bestand gehabt (Ich weiß, woran ich glaube; Auf, bleibet treu und haltet fest). Im übrigen haben die großen Dichter und Dichterinnen der Romantik zum deutschen Kirchenlied kaum etwas beigetragen, auch der Pfarrer und Lyriker Eduard Mörike nicht. Einiges von -»Novalis
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(Friedrich von Hardenberg, 1772-1801) und das kraftvolle Dein König kommt in niedem Hüllen von Friedrich Rückert (1788-1866) bleiben Einzelstücke. Der erfolgreichste deutsche Kirchenliederdichter des 19. Jh. dürfte Karl Johann Philipp Spitta (1801-1859) mit seiner oft neuaufgelegten Sammlung Psalter und Harfe von 1833 gewesen sein. Das Geheimnis seines Erfolgs war jedoch weder irgend eine Originalität noch besondere Zeitgemäßheit, sondern sein vorsichtiges Beharren auf dem tradierten Kirchenliedstil. D i e Z a h l der im 19. J h . entstandenen deutschen Kirchenlieder steht in keinem Verhältnis zum Wert und der Verbreitung derselben. Besondere Umstände (wie z. B. bei Stille Nacht oder Harre, meine Seele) mußten zu Hilfe k o m m e n , wenn das eine oder andere von ihnen zu dauernder Verbreitung k a m . Z u diesen besonderen Umständen ist auch der Gebrauch einzelner Lieder durch die Erweckungsbewegungen des 19. Jh. zu rechnen. Durch jene um Barbara Juliane von -»Krüdener-Vietinghoff z.B. sind noch heute gern gesungene Lieder wie Großer Gott, wir loben dich und O daß doch bald dein Feuer brennte in den allgemeinen Kirchenliederschatz eingegangen. Auch über die -»Freikirchen ist manches Lied des 19. Jh. bekannt geworden. Auf diesem Weg hat auch Liedgut aus dem angelsächsischen Sprachraum eine erste, noch bescheidene Verbreitung im deutschen Sprachgebiet gefunden (z.B. Ernst Gebhardt). Am Ende des 19. Jh. steht die Gestalt des vielseitigen Theologen und Hymnologen Friedrich Adolf Wilhelm Spitta (1852-1924), Sohn des eben genannten Karl J o h a n n Philipp Spitta. Er hat sich einerseits nochmals kräftig am Heben der Schätze der Vergangenheit beteiligt und mit seinem vorbildlichen Elsäßer Gesangbuch von 1899 beste Restaurationsarbeit betrieben, andererseits aber auch mit seiner „älteren liturgischen Beweg u n g " (zusammen mit Julius Smend) den G r u n d gelegt f ü r die Erneuerung auch des Kirchenliedes, die d a n n d a s 20. J h . bringt. Anmerkungen 1
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Die Liedanfänge werden (entgegen germanistischem Brauch) mit einer einzigen Ausnahme in heutiger Schreibweise und nicht in derjenigen der Quelle(n) angeführt. Als Beispiele werden vorzugsweise solche Lieder genannt, die auch in den heutigen Gesangbüchern stehen. Die Liste bei Cordier 62—66 ist bei weitem nicht vollständig. Überdies enthält sie eine ganze Reihe von Titeln, die nicht hineingehören, weil es sich nur um Gesangbücher mit einem Psalmteil, aber nicht um vollständige Reimpsalter handelt. Die Ubersetzung ist entnommen aus: Martin Luthers. Ausgewählte Schriften, hg. von Karin Bornkamm/Gerhard Ebeling, Frankfurt/M. 1982, VI Briefe. Auswahl, Ubersetzung und Erläuterungen von Johannes Schilling, 67. Diese einleitende Rubrik steht weder in der ältesten erhaltenen Ausgabe von Luthers Gesangbuch (1533) noch in der nächsten, wohl aber in derjenigen von 1543. In WA 35 und Archiv zur WA 4, Köln/Wien 1985, wird sie, soweit ich sehen kann, merkwürdigerweise nicht mitgeteilt, wohl aber in der in Anm. 3 angeführten Luther-Ausgabe (Bd. 5,244) und bei Jenny, Luther, Zwingli, Calvin 71. Der neue Name, den Scheffler bei seiner Konversion (und nicht als Dichtername, wie man bisweilen liest) annahm, lautete: Johannes Angelus. Das bedeutet, daß er seinen Taufnamen beibehielt, jedoch den Geschlechtsnamen ändert, und zwar nach einem von ihm verehrten spanischen Mystiker namens Johannes ab Angeiis. So nach Ausweis von: Johann Caspar Wetzeis Hymnopoeographia, oder Historische Lebens-Beschreibung der berühmtesten Lieder-Dichter, Herrnstadt 1719, 57, wo Scheffler unter dem Stichwort „ANGELUS (Johannes)" erscheint. Eine deutliche Sprache sprechen auch Titel wie: „JOHANNIS ANGELI und GEORGII JOSEPHI Vierdter Theil Der Geistlichen Hirten-Lieder..." (RISM-DKL 165712 und 166810). Das angehängte „Silesius" ist nicht Name, sondern Herkunftsbezeichnung (aus Schlesien). So nennt sich z.B. Praetorius auch meistens: Michael Praetorius Creuzburgensis (MPC). Der Name „Silesius", den die Literatur- und Kirchengeschichte diesem Dichter zugelegt hat, ist schlicht und einfach falsch. Quellen
Diejenigen zum lateinischen Kirchenlied des Mittelalters sind in TRE 15,762,9 ff genannt. Nachzutragen ist dort die Ausgabe der Hymnenmelodien von Bruno Stäblein in MMMA, 11956, und das Register zu AHMA von Max Lütolf, 3 Bde., Bern/München 1978, ferner wichtige Anthologien wie z. B. Richard Zoozmann, Lobet den Herrn. Altchristl. Kirchenlieder u. geistliche Gedichte lat. u. dt.,
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München 1928, oder Carl Fischer, Summa poetica. Griech. u. lat. Lyrik v. der christl. Antike bis zum Humanismus, München 1967, außerdem zu Chevalier: Clemens Blume, Repertorium repertorii. Krit. Wegweiser durch U. Chevaliers Repertorium Hymnologicum. Alphabetisches Register falscher, mangelhafter oder irreleitender Hymnenanfänge u. Nachweise..., Leipzig 1901 — Hildesheim 1971. Zum deutschen Kirchenlied: Wilhelm Baumker, Das kath. dt. Kirchenlied in seinen Singweisen v. den frühesten Zeiten bis gegen Ende des 17. Jh., Freiburg i.B., I 1886, II 1883, III 1883 (mit den Singweisen des 18. Jh.), IV 1911 (mit denjenigen des 19. Jh.) - Hildesheim 1962 (vom Text wird jeweils nur die 1. Strophe mitgeteilt). - Franz Magnus Böhme, Altdt. Liederbuch, Leipzig 1876 = 1925. - Norbert Böker-Heil / Harald Heckmann / Ilse Kindermann, Das Tenorlied. Mehrstimmige Lieder in dt. Quellen 1450-1580, hg. v. Dt. Musikgesch. Archiv Kassel u. v. Staatlichen Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz Berlin, I Drucke, Kassel u.a. 1979. - Florian van Duyse, Het oude nederlandse Lied, 3 Bde., 's-Gravenhage 1903-1907. - Albert Fischer/Wilhelm Tümpel, Das dt. ev. Kirchenlied des 17. Jh., 6 Bde., Gütersloh 1904-1916 = Hildesheim 1964 (gibt aus vielen der benützten Quellen nur wenige Beispiele; enthält z.T. Angaben über in der Vorlage sich findenden Melodien in Form von Incipits in Buchstaben). — HDEKM, vor allem III, 1936-1956 (zu dem jedoch der wichtige Kritische Bericht fehlt u. kaum noch nachgeliefert werden wird; enthält die Melodien u. die Texte, aber nur in strenger Auswahl u. nur bis zum beginnenden 18. Jh.). — F. Hommel, Geistliche Volkslieder aus alter u. neuer Zeit mit ihren Singweisen, Leipzig 1864. - Josef Kehrein, Kirchen- u. rel. Lieder aus dem 12.-15. Jh., Paderborn 1853. - Ders., Kirchenlieder, Hymnen, Psalmen, aus den ältesten Gesangbüchern zusammengestellt, 4 Bde., Würzburg 1859-1863 = Hildesheim 1965. - Samuel Jan Lenselink, Les Psaumes de Clément Marot. Edition critique..., Assen/Kassel u.a. 1969. - Hans Joachim Moser / Josef Müller-Blattau, Dt. Lieder des MA v. Waither v. der Vogelweide bis zum Lochamer Liederbuch. Texte u. Melodien, Stuttgart 1968. — Pierre Pidoux, Le Psautier Huguenot du XVIe Siècle. Mélodies et Documents, 2 Bde., Bâle 1962. Ders., Thédore de Bèze. Psaumes mis en vers français, Genf 1984. - RISM-DKL, Das Dt. Kirchenlied. Verzeichnis der Drucke v. den Anfängen bis 1800, bearb. v. Konrad Ameln / Markus Jenny / Walther Lipphardt, Kassel u.a. 1975 (dazu: Register, bearb. v. Markus Jenny, Kassel u.a. 1980). Hier sind (intentioneil) sämtl. gedr. Quellen zum dt. Kirchenlied verzeichnet, freilich nur soweit, als sie Noten aufweisen; auf Reprints und Neuausgaben derselben wird dort jedesmal verwiesen. Ein Repertorium für die nicht mit Noten versehenen Kirchenliedquellen - seien es Gesangbücher oder andere Veröffentlichungen - fehlt für den ev. Bereich nach 1600. Anthologien
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(chronologisch)
August Jakob Rambach, Anthologie christl. Gesänge, 6 Bde., Altona/Leipzig 1817-1833. - Karl von Raumer, Sammlung geistlicher Lieder, Basel 1831, Stuttgart 21846. - Geistlicher Liederschatz. Sammlung der vorzüglichsten geistlichen Lieder für Kirche, Schule u. Haus u. alle Lebensverhältnisse, Berlin 1832 21842 e 1863. - Albert Knapp, Ev. Liederschatz für Kirche u. Haus. Eine Sammlung geistlicher Lieder aus allen christl. Jh., . . . nach den Bedürfnissen unserer Zeit bearbeitet, Stuttgart/Tübingen 1837 2 1850 3 1865