Theologische Realenzyklopädie: Band 15 Heinrich II. - Ibsen 9783110867978, 9783110085853


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German Pages 808 [944] Year 1986

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Theologische Realenzyklopädie: Band 15 Heinrich II. - Ibsen
 9783110867978, 9783110085853

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Theologische Realenzyklopädie Band XV

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Theologische Realenzyidopädie In Gemeinschaft m i t Horst Robert Balz • Stuart G. Hall Brian L. Hebblethwaite • Richard H e n t s c h k e W o l f g a n g Janke • Günter Lanczkowski J o a c h i m Mehlhausen • Carl Heinz R a t s c h o w Knut Schäferdiek • Henning Schröer Gottfried Seebaß • C l e m e n s T h o m a herausgegeben v o n Gerhard Müller

Band XV Heinrich II. - Ibsen

Walter de Gruyter • Berlin • N e w York 1986

Redaktion: Dr. Christian Uhlig Lieferung 1/2 Heinrich II. - Hilarius v o n Poitiers ersch. Juli 1986 Lieferung 3 / 4 Hilarius von Poitiers — H u m a n i s m u s / H u m a n i s m u s f o r s c h u n g ersch. N o vember 1986 Lieferung 5 H u m a n i s m u s / H u m a n i s m u s f o r s c h u n g - Ibsen ersch. Dezember 1986

ClP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Theologische Realenzyklopädie / in Gemeinschaft mit Horst Robert Balz . . . hrsg. von Gerhard Müller. - Berlin ; New York : de Gruyter Teilw. hrsg. von Gerhard Krause u. Gerhard Müller NE: Krause, Gerhard [Hrsg.]; Müller, Gerhard [Hrsg.] Bd. 15. Heinrich II. - Ibsen. - 1986. Abschlußaufnahme von Bd. 15 ISBN 3-11-008585-2

© 1986 by Walter de Gruyter & Co. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg-Passau Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Heinrich II. Heinrich IL, Kaiser

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(978-1024)

Heinrich II., „der Heilige", letzter deutscher König aus der sächsischen Liudolfingerdynastie, wurde am 6.5.978 in Hildesheim als Sohn des Bayernherzogs Heinrich II., „des Zänkers" (955-995) und dessen weifischer Gemahlin Gisela (gest. ca. 1006), Tochter des Burgunderkönigs Konrad III. (937—993), geboren. Er war seit 1000 mit Kunigunde (gest. 1033), der Tochter des Grafen Siegfried I. von Lützelburg (963-998), in kinderlos bleibender Ehe verheiratet. Seinem Vater folgend, regierte er als Heinrich IV. 995-1004 zunächst das Herzogtum Bayern, mit dem er dann als König seinen luxemburgischen Schwager Heinrich V. (1004-1026) belehnte. Nach dem frühen Tod seines Großvetters, des Kaisers -»Otto III., konnte sich Heinrich dessen Nachfolge im deutschen Königtum schon dadurch sichern, daß er sich beim Durchzug des kaiserlichen Kondukts aus Italien nach Aachen in Bayern der Insignien bemächtigte. Seine Ansprüche setzte er auch gegen die Kandidatur des Herzogs Hermann II. von Schwaben (997-1003) Und des Markgrafen Ekkehard von Meißen (985-1002) durch, wobei sicher die Verwandtschaft zu Otto III. eine Rolle gespielt hat. Auf die Königswahl folgte am 6.6.1002 die Krönung in Aachen durch den Reichserzkanzler, Erzbischof Willigis von Mainz (975-1011). Noch 1004 unternahm Heinrich einen ersten Italienzug, der am 14.5.1004 zur Krönung in Pavia führte, doch konnte sich Heinrich zunächst in Italien nicht gegen den schon vorher zum König proklamierten Markgrafen Arduin von Ivrea (1002-1015) durchsetzen. Ein zweiter Italienzug erbrachte am 14.2.1014 die Kaiserkrönung in Rom durch den aus der Tuskulanerfamilie stammenden Papst Benedikt VIII. (1012-1024). Als italischer König und als römischer Kaiser war Heinrich der erste seines Namens. Der Kaiser starb am 13.7.1024 in der sächsischen Pfalz Grone und wurde wunschgemäß in Bamberg bestattet. Auf Betreiben der Bamberger Kirche unter Bischof Egilbert (1139-1146) erfolgte am 12.3.1146 die Heiligsprechung durch Papst Eugen III. (1145-1153) aufgrund einer Vita, als deren Schreiber sich der Bamberger Diakon Adalbert nennt und die zum Teil auf der nur unvollständig überlieferten zeitgenössischen Vita des Bischofs Adalbold von Utrecht (1010—1026) beruht. Kaiserin Kunigunde wurde 1200 ebenfalls kanonisiert. Ausschlaggebend war weniger die angebliche Josefsehe des Kaiserpaares als die Gründung des Bistums Bamberg durch Heinrich II. 1007. Sie erfolgte nach langen Entschädigungsverhandlungen mit dem betroffenen Diözesanbischof Heinrich von Würzburg (995-1018) und nach Billigung des Planes durch eine römische Synode und durch ein Privileg Papst Johannes' XVIII. (1003-1009) auf einem Frankfurter Reichskonzil am 1.11.1007, wobei der König die Synodalen durch einen demütigen Fußfall für seine Absichten gewonnen haben soll. Von vornherein waren mit der Gründung besondere Pläne auch für die Slawenmission und die Ostpolitik des Reiches verknüpft. Das Bistum wurde von Heinrich reich ausgestattet und urkundlich dem päpstlichen Schutz kommendiert, als Papst Benedikt VIII. zu Ostern 1020 in Bamberg weilte. Schon vor der Gründung Bambergs hat Heinrich bald nach seiner Königs wähl 1004 für die Wiederherstellung des 981 aufgelösten Bistums Merseburg gesorgt und dadurch einen langdauernden kirchlichen Streit beendet. Ebenfalls fällt in seine Regierungszeit 1006 die Schlichtung des Gandersheimer Streites zwischen Mainz und Hildesheim um die Diözesanzugehörigkeit des Klosters. Schon seit seiner Herzogszeit hatte Heinrich die klösterliche Reform unterstützt, freundschaftlich verbunden mit Abt Godehard von Niederaltaich (996-1022, dann bis 1038 Bischof von Hildesheim). Er galt als „pater monachorum", stand vor allem mit der lothringischen Reformbewegung (-»Gorze) und Abt Richard von St-Vannes in Verdun (1004-1046) in Kontakt, hat aber 1022 auch ->Cluny unter Abt Odilo (996-1049) besucht und mit Krone und Reichsapfel beschenkt. Das durch Wilhelm von Volpiano, Abt von St-Benigne in Dijon (990-1031), begründete oberitalienische Kloster Fruttuaria hat den Kaiser in seine Gebetsbrüderschaft aufgenommen, und in verschiedenen Domkapiteln war er Ehrenkanoniker, so zuerst seit 1007 in Bamberg. Der zweite Italienzug führte 1014 gemeinsam mit

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Heinrich II.

Papst Benedikt VIII. zu Interventionen zugunsten des v o m lokalen Adel bedrängten Reichsklosters Farfa, im dritten Italienzug 1022 w u r d e im benediktinischen Mutterkloster a m M o n t e Cassino ein neuer Abt eingesetzt. Das Papsttum w a r auf Kooperation mit d e m Kaiser (-»Kaisertum und Papsttum) bedacht, speziell unter Benedikt VIII., nachdem Heinrich diesen aus d e m G r a f e n h a u s Tusculum stammenden und wohl aufgrund einer Usurpation zur Papstwürde aufgestiegenen Papst a n e r k a n n t hatte, obgleich sich sein Gegenkandidat Gregor (VI.) (1012-1013) persönlich in Deutschland u m die Gunst Heinrichs b e m ü h t hatte. Es w a r eine politische Entscheidung, die nach den Creszentiern den Tuskulanern das Papsttum f ü r drei Dezennien und drei Pontifikate auslieferte. N a c h dem auch im päpstlichen Interesse ausgeführten Süditalienfeldzug hat Heinrich gemeinsam mit Papst Benedikt VIII. a m 1.8.1022 eine Synode in Pavia abgehalten, auf der vor allem der Z ö l i b a t des Klerus eingeschärft wurde. Die Konzilsbeschlüsse wurden durch ein kaiserliches Edikt publiziert. Sie sollten das Kirchengut vor Entfremdung schützen. O h n e Kritik ist allerdings Heinrichs Regierung auch nicht geblieben. So erregte sein langer Krieg gegen Polen (1007-1018) das Mißfallen kirchlicher Kreise, nicht nur weil er die Ostmission störte, sondern auch weil sich ein christlicher Herrscher bedenkenlos gegen einen anderen mit den noch heidnischen Liutizen verbündet hatte. Ebenfalls läßt sich feststellen, d a ß Heinrich die Möglichkeiten des ottonischen Reichskirchensystems in seinem Kirchenregiment voll genützt hat, sowohl bei der Investitur kirchlicher Würdenträger als auch bei der Inanspruchnahme kirchlicher Servitienleistungen. Die neuere Forschung hat herausgearbeitet, d a ß das Heinrich „ d e m Heiligen" im Vergleich zu seinem nur angeblich strengeren Nachfolger Konrad II. (1024-1039) zuteil gewordene Lob auf einer „ U m p r ä g u n g des Geschichtsbildes durch die Kirchenreform des 11. J h . " (Schieffer) beruht, die Heinrich günstiger beurteilen wollte. Quellen Vita Heinrici II. imperatoris, auctore Adalboldo, ed. G. Waitz, MGH.SS 4, 1841, 679-695. Adalberti, Vita Heinrici II. imperatoris, ed. G. Waitz, MGH.SS 4,1841,792-814. - Theodor Graff, Die Regesten des Kaiserreiches unter Heinrich II. 1002-1024: RI KR 2.4, 1971.

Literatur Leopold Auer, Geburtsjahr u. Herkunft Kaiser Heinrichs II.: DA 28 (1972) 223 - 228. - Georg Beck, St. Heinrich u. St. Kunigunde, Berlin 1961. - Robert Folz, Le légende liturgique de saint Henri II, empereur et confesseur: Mélanges J. Stiennon, Lüttich 1982,245-258. - Mario Fornasari, Enrico II e Benedetto VIII e i canoni del presunto concilio di Ravenna del 1014: RSCI 18 (1964) 4 6 - 5 5 . Heinrich Günter, Kaiser Heinrich II. u. Bamberg: HJ 59 (1939) 273-290. - Erich Frh. v. Guttenberg, Das Gründungsprivileg Johannes XVIII. für das Bistum Bamberg: ZBLG 4 (1931) 439-462. - KlausJürgen Herrmann, Das Tuskulanerpapsttum (1012-1046), Stuttgart 1973 (Päpste u. Papsttum 4). Siegfried Hirsch, Hermann Pabst u. Harry Bresslau, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich II., 3 Bde., Berlin 1862-1875. - Eduard Hlawitschka, Merkst Du nicht, daß Dir das vierte Rad am Wagen fehlt? Zur Thronkandidatur Ekkehards von Meißen ( 1002) nach Thietmar, Chronicon IV c. 52: Geschichtsschreibung u. geistiges Leben im MA. FS Heinz Löwe, 1978, 281-311. - Robert Holtzmann, Gesch. der sächs. Kaiserzeit, München 6 1979. - Gerhard Kallen, Kaiser Heinrich II. u. Würzburg: WDGB 14-15 (1952) 141 - 1 4 6 . - Renate Klauser, Der Heinrichs- u. Kunigundenkult im ma. Bistum Bamberg, Bamberg 1957.-Franz Mader, Kaiser Heinrich II. der Heilige (1002-1024) u. Niederbayern: Passauer Jb. 21 (1979) 94-100. - T h e o d o r Mayer, Die Anfänge des Bistums Bamberg: FS E.E.Stengel,Münster 1952,272-288 = ders., Fürsten u. Staat, Weimar 1950, 248 - 2 7 5 . - Hanns Leo Mikoletzky, Kaiser Heinrich II. u. die Kirche, Wien 1946. - Carl Pfaff, Kaiser Heinrich II. Sein Nachleben u. sein Kult im ma. Bistum Basel, Basel 1963. - Theodor Schieffer, Heinrich II. u. Konrad II. Die Umprägung des Geschichtsbildes durch die Kirchenreform des 11. Jh.: DA 8 (1951) 384-437, Nachdr. Darmstadt 2 1969. - Walter Schlesinger, Erbfolge u. Wahl bei der Königserhebung Heinrichs II. 1002: FS Hermann Heimpel, III1972,1-36. - Ders., Die sog. Nachwahl Heinrichs II. 1002: Gesch. in der Gesellschaft. FS Karl Bosl, 1974,350-369. - Roderich Schmidt, Königsumritt u. Huldigung in ottonisch-salischer Zeit: Vortr. u. Forsch. 6 (1961) 114-150. - Reinhard Schneider, Die Königserhebung Heinrichs II. im Jahre 1002: DA 28 (1972) 74-104. - Hermann Schöppler, Die Krankheiten

Heinrich III.

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Kaiser Heinrichs II. u. seine Josefsehe: Archiv f. Gesch. der Medizin 11 (1919) 200-205. - Wolfram von den Steinen, Kaiser Heinrich II. der Heilige. Legenden u. Sagen, Bamberg 1924. — Hans Joachim Vogt, Konrad II. im Vergleich zu Heinrich II. u. Heinrich III., Diss. Frankfurt/Main 1957. - Joachim Wollasch, Kaiser Heinrich II. in Cluny: FMSt 3 (1969) 327-342. - Ders., Bemerkungen zur goldenen Altartafel von Basel: Text u. Bild, hg. v. Chr. Meider/U. Ruberg, Wiesbaden 1980,383-407. - Ders., Gesch. Hintergründe der Dortmunder Versammlung des Jahres 1005: Westfalen 58 (1980) 5 5 - 6 9 . Harald Zimmermann, Gründung u. Bedeutung des Bistums Bamberg für den Osten: SODA 10 (1967) 35-49.

Harald Zimmermann

Heinrich III., Kaiser

(1017-1056)

Heinrich III., deutscher König (seit 1028) und römischer Kaiser (seit 1046) aus salischer Dynastie, wurde am 28.10.1017 als Sohn des späteren deutschen Königs und Kaisers Konrad II. (1024-1039) und der schwäbischen Herzogstochter Gisela (990-1043) geboren. Vom Vater schon 1026 zum Nachfolger designiert und nach förmlicher Wahl zu Ostern (14.4.) 1028 in Aachen gekrönt, übernahm er am 4.6.1039 die Regierung in Deutschland, nachdem er bereits seit 1027 mit dem Herzogtum Bayern und seit 1038 mit Schwaben belehnt war. Noch vor Konrads II. Tod hatte er auch 1038 die Königshuldigung in dem seit 1033 mit Deutschland in Personalunion vereinigten Burgundcrreich empfangen. Ohne Schwierigkeiten vollzog sich die Nachfolge in dem seit langem ebenfalls unter deutscher Herrschaft stehenden Italien. Während Heinrich als König 1042 Bayern und 1045 Schwaben weiterverlieh, brachte der erste Italienfeldzug für den schon seit 1040 in Urkunden als Rex Romanorum bezeichneten Hcrrschcr zu Weihnachten (25.12.) 1046 die Kaiserkrönung in Rom. Nach vergeblicher Brautwerbung am byzantinischen Kaiserhof (1028) heiratete Heinrich 1036 die dänische Prinzessin Gunhild (Kunigunde) (gest. 1038), Tochter König Knuts des Großen (1016-1035), und nach deren frühem Tode 1043 Agnes von Poitou (gest. 1077), Tochter des Herzogs Wilhelm V. von Aquitanien (993-1030). Aus dieser wegen zu naher Verwandtschaft kritisierten Ehe stammt der 1050 geborene und schon 1053 aufgrund väterlicher Designation gewählte Nachfolger -»Heinrich IV. (1056-1106) sowie ein früh verstorbener Sohn und drei Töchter. Heinrich III. starb am 5.10.1056 in der Pfalz Bodfeld im Harz und wurde im Speyrer Dom bestattet, dessen von Konrad II. begonnener Neubau unter des Sohnes Herrschaft vollendet wurde. Die Regierung Heinrichs III. stellt trotz einiger innen- und außenpolitischer Krisen zweifelsohne einen Höhepunkt der deutschen Kaiserzeit dar. Feldzüge gegen östliche Nachbarn und 1047 nach Süditalien brachten zwar nicht volle Erfolge, aber auch Lehenshuldigungen der jeweiligen Herrscher. Innerhalb des Reiches gab es langdauernde Schwierigkeiten mit Herzog Gottfried von Lothringen (1044-1069), die sich durch dessen 1054 geschlossene Ehe mit Beatrix von Tuszien-Canossa (gest. 1076) auch auf Italien übertrugen. Kirchenhistorisch bedeutsam war Heinrichs III. Regierung vor allem als Epoche der deutschen Päpste, die 1046-1058 in Rom regierten. Das tuskulanische Familienpapsttum (1012-1045) endete, als der weltlich gesinnte Benedikt IX. (1032-1044), der dritte Tuskulaner auf dem Papstthron, gegen entsprechende Abfindung resignierte und die Papstwürde seinem reichen Paten, dem römischen Archipresbyter Johannes Gratian als Gregor VI. (1045-1046) überließ, zumal die von der Adelsfamilie der Creszentier geführte römische Opposition ihm bereits in Silvester III. (1045-1046) einen Gegenpapst entgegengestellt hatte. In diesem Schisma zur Hilfe gerufen, kam Heinrich III. im Herbst 1046 nach Italien und ließ knapp vor Weihnachten auf Synoden in Sutri und Rom alle drei rivalisierenden Päpste für abgesetzt erklären. Während sich Silvester III. in sein Bistum Sabina zurückzog (gest. 1063), hat Benedikt IX. nach nochmaliger Usurpation des Papstthrones (1047) den Papsttitel bis zu seinem 1056 im Kloster Grottaferrata erfolgten Tod weitergeführt. Nur Gregor VI., der wohl in der Hoffnung auf Anerkennung dem König bis Piacenza entge-

Heinrich III.

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Kaiser Heinrichs II. u. seine Josefsehe: Archiv f. Gesch. der Medizin 11 (1919) 200-205. - Wolfram von den Steinen, Kaiser Heinrich II. der Heilige. Legenden u. Sagen, Bamberg 1924. — Hans Joachim Vogt, Konrad II. im Vergleich zu Heinrich II. u. Heinrich III., Diss. Frankfurt/Main 1957. - Joachim Wollasch, Kaiser Heinrich II. in Cluny: FMSt 3 (1969) 327-342. - Ders., Bemerkungen zur goldenen Altartafel von Basel: Text u. Bild, hg. v. Chr. Meider/U. Ruberg, Wiesbaden 1980,383-407. - Ders., Gesch. Hintergründe der Dortmunder Versammlung des Jahres 1005: Westfalen 58 (1980) 5 5 - 6 9 . Harald Zimmermann, Gründung u. Bedeutung des Bistums Bamberg für den Osten: SODA 10 (1967) 35-49.

Harald Zimmermann

Heinrich III., Kaiser

(1017-1056)

Heinrich III., deutscher König (seit 1028) und römischer Kaiser (seit 1046) aus salischer Dynastie, wurde am 28.10.1017 als Sohn des späteren deutschen Königs und Kaisers Konrad II. (1024-1039) und der schwäbischen Herzogstochter Gisela (990-1043) geboren. Vom Vater schon 1026 zum Nachfolger designiert und nach förmlicher Wahl zu Ostern (14.4.) 1028 in Aachen gekrönt, übernahm er am 4.6.1039 die Regierung in Deutschland, nachdem er bereits seit 1027 mit dem Herzogtum Bayern und seit 1038 mit Schwaben belehnt war. Noch vor Konrads II. Tod hatte er auch 1038 die Königshuldigung in dem seit 1033 mit Deutschland in Personalunion vereinigten Burgundcrreich empfangen. Ohne Schwierigkeiten vollzog sich die Nachfolge in dem seit langem ebenfalls unter deutscher Herrschaft stehenden Italien. Während Heinrich als König 1042 Bayern und 1045 Schwaben weiterverlieh, brachte der erste Italienfeldzug für den schon seit 1040 in Urkunden als Rex Romanorum bezeichneten Hcrrschcr zu Weihnachten (25.12.) 1046 die Kaiserkrönung in Rom. Nach vergeblicher Brautwerbung am byzantinischen Kaiserhof (1028) heiratete Heinrich 1036 die dänische Prinzessin Gunhild (Kunigunde) (gest. 1038), Tochter König Knuts des Großen (1016-1035), und nach deren frühem Tode 1043 Agnes von Poitou (gest. 1077), Tochter des Herzogs Wilhelm V. von Aquitanien (993-1030). Aus dieser wegen zu naher Verwandtschaft kritisierten Ehe stammt der 1050 geborene und schon 1053 aufgrund väterlicher Designation gewählte Nachfolger -»Heinrich IV. (1056-1106) sowie ein früh verstorbener Sohn und drei Töchter. Heinrich III. starb am 5.10.1056 in der Pfalz Bodfeld im Harz und wurde im Speyrer Dom bestattet, dessen von Konrad II. begonnener Neubau unter des Sohnes Herrschaft vollendet wurde. Die Regierung Heinrichs III. stellt trotz einiger innen- und außenpolitischer Krisen zweifelsohne einen Höhepunkt der deutschen Kaiserzeit dar. Feldzüge gegen östliche Nachbarn und 1047 nach Süditalien brachten zwar nicht volle Erfolge, aber auch Lehenshuldigungen der jeweiligen Herrscher. Innerhalb des Reiches gab es langdauernde Schwierigkeiten mit Herzog Gottfried von Lothringen (1044-1069), die sich durch dessen 1054 geschlossene Ehe mit Beatrix von Tuszien-Canossa (gest. 1076) auch auf Italien übertrugen. Kirchenhistorisch bedeutsam war Heinrichs III. Regierung vor allem als Epoche der deutschen Päpste, die 1046-1058 in Rom regierten. Das tuskulanische Familienpapsttum (1012-1045) endete, als der weltlich gesinnte Benedikt IX. (1032-1044), der dritte Tuskulaner auf dem Papstthron, gegen entsprechende Abfindung resignierte und die Papstwürde seinem reichen Paten, dem römischen Archipresbyter Johannes Gratian als Gregor VI. (1045-1046) überließ, zumal die von der Adelsfamilie der Creszentier geführte römische Opposition ihm bereits in Silvester III. (1045-1046) einen Gegenpapst entgegengestellt hatte. In diesem Schisma zur Hilfe gerufen, kam Heinrich III. im Herbst 1046 nach Italien und ließ knapp vor Weihnachten auf Synoden in Sutri und Rom alle drei rivalisierenden Päpste für abgesetzt erklären. Während sich Silvester III. in sein Bistum Sabina zurückzog (gest. 1063), hat Benedikt IX. nach nochmaliger Usurpation des Papstthrones (1047) den Papsttitel bis zu seinem 1056 im Kloster Grottaferrata erfolgten Tod weitergeführt. Nur Gregor VI., der wohl in der Hoffnung auf Anerkennung dem König bis Piacenza entge-

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Heinrich III.

gengezogen war, hatte sich der Synode gestellt und in Sutri in Form einer Autodeposition resigniert. Man hatte ihm -»Simonie bei Erlangung der Papstwürde vorgeworfen, was damals um so schwerer wog, als erst im Oktober 1046 ein von Heinrich III. geleitetes Reformkonzil in Pavia Ämterkauf generell verboten hat. Gregor wurde nach Deutschland verbannt und ist noch 1047 in Köln gestorben. Als neuer Papst soll der vom König auch sonst sehr geförderte Grzbischof -»Adalbert von Hamburg-Bremen (1043—1072) vorgesehen gewesen sein, nach dessen Weigerung Heinrich den Bischof Suitger von Bamberg (1040-1047) vorschlug, der dann angeblich einmütig gewählt wurde und den Namen Clemens II. annahm. Er vollzog einen Tag später die Kaiserkrönung. Von den Römern ließ sich Heinrich III. aber zur nachträglichen Rechtfertigung seiner römischen Maßnahmen die Insignien eines Patricius Romanorum übergeben. Nach dem bald verstorbenen Clemens II. transferierte der Kaiser Bischof Poppo von Brixen (1039-1048) als Damasus II. nach Rom, der aber hier nur drei Wochen (1048) residiert hat. Dann wurde der Elsässer Brun von Dagsburg-Egisheim, Bischof von Toul (1027-1051), nominiert und als -»Leo IX. (1049-1054) Papst, und ihm folgte wiederum nach kaiserlicher Ernennung Bischof Gebhard von Eichstätt (1042-1057) als Viktor II. (1055-1057), dem der Kaiser am Sterbebett nebst der Kaiserin die vormundschaftliche Reichsregierung für Heinrich IV. anvertraut hat. Erst Friedrich von Lothringen wurde dann ohne vorherige Fühlungnahme mit der Reichsregierung unter dem Namen Stephan IX. (1057—1058) zum Papst gewählt. Alle genannten Päpste haben ihre deutschen Bistümer beibehalten, wodurch Rom noch stärker mit der Reichskirche verklammert und in sie eingeführt wurde. Daß deutsche Kleriker in Italien zu Bischöfen befördert wurden, war längst üblich und wurde auch von Heinrich III. praktiziert. Wie sich auch an der Wahl der an die Frühchristenheit erinnernden Papstnamen zeigt, war die Epoche der deutschen Päpste von Reformtendenzen erfüllt. Insbesondere Leo IX. brachte aus Lothringen reformerisch gesinnte Mitarbeiter nach Rom. In Reformkreisen wurde gar das Eingreifen Heinrichs III. in die römische Kirche kritisiert und dem Kaiser vorgeworfen, er habe sich nicht etwa als „defensor ecclesiae" erwiesen, sondern sich mit Annahme der römischen Patriciuswürde jenen Tyrannen gleichgestellt, die in letzter Zeit Rom beherrscht haben. Bischof Wazo von Lüttich (1042-1048) und ein anonymer Traktat De ordinando pontifice haben 1047 Heinrich III. vergeblich von Papsternennungen abgemahnt. Dieser glaubte sich aber dazu nicht nur aufgrund des Patriziates, sondern schon aus sakraler Herrscherpflicht durchaus berechtigt. Gegenüber Wazo von Lüttich soll er sich auf seine -•Salbung berufen haben. Freilich fußt seine Einstellung ebensosehr auf Ideen des ottonisch-salischen Reichskirchensystems, dessen Höhepunkt in der damaligen Einbeziehung Roms gesehen wird. Heinrich verhielt sich hier nicht anders als sonst bei der Vergabe von Reichsbistümern und Reichsabteien. Das freie Wahlrecht war überall zurückgedrängt, ohne daß man darin eine Verletzung kanonischer Prinzipien sah. Erstmals begegnet aber unter Heinrich III. 1042 bei der Einsetzung Gebhards von Eichstätt, des späteren Papstes Viktor II., die Investitur nicht nur, wie längst üblich, mit dem Bischofsstab, sondern auch mit einem Ring (per anulum et baculum), woran sich wegen der geistlichen Deutung dieser Symbole der -•Investiturstreit entzünden sollte. Trotz ehrlichen Bemühens glückte dem Herrscher nicht immer eine optimale Personenwahl. Immerhin war der damalige Führer der lothringischen Reformbewegung, Abt Richard von St-Vannes in Verdun (1004-1046), gleich nach Heinrichs Regierungsantritt 1039 als Bischof für Verdun vorgesehen, hatte aber abgelehnt. Daß der reformerische Abt Halinard von St-Benigne in Dijon (1031-1046) zur Annahme der Wahl zum Erzbischof von Lyon (1046-1052) gezwungen werden mußte und dem König mit Berufung auf sein Mönchsgelübde den üblichen Treueid verweigerte, wurde ebenso akzeptiert wie 1048 sein Ausschlagen der Papstwürde. Zur Heranbildung von Geistlichen für den Reichsdienst und als Zentrum der Hofkapelle hat Heinrich III. 1051 in der Pfalz Goslar das Stift St. Simon und Judas begründet.

Heinrich III.

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Auch selbst war Heinrich aufgrund seiner von Geistlichen stammenden Erziehung von tiefer Religiosität, wofür es viele Zeugnisse gibt. Sein Stift in Goslar hat der Kaiser reich mit Reliquien ausstatten lassen. Den Böhmenfeldzug von 1041 begann er mit einer Buße, den Ungarnsieg feierte er 1044 noch am Schlachtfeld als Büßer. Die ungarischen Kroninsignien wurden damals zum Grab des Apostelfürsten nach Rom übersandt. Bei seiner Hochzeit mit Agnes von Poitou in Ingelheim 1043 soll sich Heinrich den Auftritt von Spielleuten und Gauklern verbeten haben. Die aus Frankreich nach Deutschland importierte Idee des Gottesfriedens, der Treuga Dei und des Fehdeverbotes an den durch Christi Passion geheiligten Wochentagen (-»Frieden V 2.4), hat der König unterstützt und 1043 sowohl während einer Konstanzer Synode als auch in Trier höchstpersönlich in der Kirche für den Frieden gepredigt. Das Kloster -»Cluny und die kluniazensische Reformbewegung erfreute sich der Unterstützung des Herrschers. Abt Hugo von Cluny (1049-1109) wurde 1050 der Pate des Thronfolgers Heinrich IV. Während seines Süditalienfeldzuges hatte der Kaiser 1047 das benediktinische Mutterkloster Monte Cassino besucht und unter seinem deutschen Abt Richer von Niederaltaich (1038-1055) privilegiert. Auch mit dem italischen Eremitentum bestanden Kontakte, so mit Abt Wido von Pomposa (1009-1046) und insbesondere mit -»Petrus Damiani (1006-1072), dem Prior der Einsiedelei von Fönte Avellana und späteren Kardinal der Reformkurie. Der Kaiser wurde von ihm als neuer Konstantin gefeiert. Mag man auf solches Herrscherlob auch nicht allzu viel geben wollen - daß Heinrich III. seinen Zeitgenossen als überragende Persönlichkeit erschien, ist gewiß. Leider hat des Kaisers Lehrer, der Kapellan Wipo (gest. nach 1046), seinen Plan nicht ausgeführt, die von ihm verfaßten Gesta Chuonradi durch eine Vita Heinrichs fortzusetzen. Quellen Harry Brcsslau/Paul Kehr, Die Urkunden Heinrichs III., 1931 (MGH DR 5). Literatur Hans Hubert Anton, Der sog. Traktat „De ordinando pontífice". Ein Rechtsgutachten in Zusammenhang mit der Synode von Sutri (1046), 1982 (BHF 48). - Helmut Beumann, Reformpäpste als Reichsbischöfe in der Zeit Heinrichs III. Ein Beitrag zur Geschichte des ottonisch-salischen Reichskirchensystems: FS Friedrich Hausmann, Graz 1977,21-37. - Ders., Der dt. König als „Romanorum Rex": SbWGF 18/2 (1981) 35-84. - Egon Boshof, Lothringen, Frankreich u. das Reich in der Regierungszeit Heinrichs III.: RhV 42 (1978) 63-127. - Ders., Das Reich in der Krise. Überlegungen zum Regierungsausgang Heinrichs III.: HZ 228 (1979) 265-287. - Karl Bosl, Die Markengründungen Kaiser Heinrichs III. auf bayerisch-österr. Boden: ZBLG 14 (1943-44) 177-247. - Marie Luise Bulst-Thiele, Kaiserin Agnes, Berlin 1933. - Karl Erdmann, Bern von Reichenau u. Heinrich III.: ders., Forsch, zur politischen Ideenwelt des Frühma., Berlin 1951,112-119. - Eugen Fischer, Der Patriziat Heinrichs III. u. Heinrichs IV., Tübingen 1908. - Josef Fleckenstein, Die Hofkapelle der dt. Könige, 2. Teil: Die Hofkapelle im Rahmen der ottonisch-salischen Reichskirche, 1966 (SMGH 16,2). - Philipp Funk, Pseudo-Isidor gegen Heinrichs III. Kirchenhoheit: HJ 56 (1936) 305-330. Henri Glaesener, Les démeles de Godefroid le Barbu avec Henri III et l'évéque Wazon: RHE 40 (1944-45) 141-170. - Werner Goez, Papa qui et episcopus. Zum Selbstverständnis des Reformpapsttums im 11. Jh.: AHP 8 (1970) 27-59. - Karl Hauck, Heinrich III. u. der Ruodlieb: BGDS 70 (1948) 372-419. - Klaus-Jürgen Herrmann, Das Tuskulanerpapsttum (1012-1046), Stuttgart 1973 (Päpste u. Papsttum 4). - Ernst Hoerschelmann, Bischof Wazo v. Lüttich u. seine Bedeutung für den Beginn des Investiturstreites, Düsseldorf 1955. - Hartmut Hoffmann, Gottesfriede u. Treuga Dei, 1964 (SMGH 20). - Paul Kehr, Vier Kapitel aus der Gesch. Kaiser Heinrichs III., 1931 (APAW.PH 1930/3). - Gerhard Ladner, Theol. u. Politik vor dem Investiturstreit, Wien 1936. - Emst Müller, Das Itinerar Heinrichs III., 1901 (HS 26). - Werner Ohnsorge, Das nach Goslar gelangte Auslandsschreiben des Konstantinos IX. Monomachos für Kaiser Heinrich III. von 1049: Braunschweigisches Jb. 32 (1951) 57-69 = ders., Abendland u. Byzanz, Darmstadt 1963,317-332. - Ders., Eine RotulusBulle des Kaisers Michael VI. Stratiotikos von 1056: ByZ 46 (1953) 47-52 = ders., Abendland u. Byzanz, Darmstadt 1963,333-341. - Franz-Josef Schmale, Die „Absetzung" Gregors VI. in Sutri u. die synodale Tradition: AHC 11 (1979) 55-103. - Karl Schmid, Heinrich III. u. Gregor VI. im Gebetsgedächtnis v. Piacenza des Jahres 1046: Verbum et Signum 2 (1975) 79-97. - Paul Gerhard Schmidt, Heinrich III. Das Bild des Herrschers in der Lit. seiner Zeit: DA 39 (1983) 582-590. - Karl

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Heinrich IV.

Schnich, Recht u. Friede. Zum Königsgedanken im Umkreis Heinrichs III.: HJ 81 (1962) 22-57. Ernst Steindorff, Jb. des Dt. Reiches unter Heinrich III., 2 Bde., Berlin 1874-81, Nachdr. 1963. Gerd Teilenbach, Libertas. Kirche u. Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreites, 1936 (FKKG 7). - Heinz Thomas, Zur Kritik an der Ehe Heinrichs III. mit Agnes von Poitou: FS Helmut Beumann, Sigmaringen 1977,224-235. - Hans Joachim Vogt, Konrad II. im Vergleich zu Heinrich II. u. Heinrich III., Diss. Frankfurt/Main 1957. - Hanna Vollrath: Kaisertum u. Patriziat in den Anfängen des Investiturstreites: ZKG 85 (1974) 11-44. - Harald Zimmermann, Papstabsetzungen des MA, Graz/Köln/Wien 1968.

Harald Zimmermann

Heinrich IV., Kaiser

(10S0-1106)

Am 11.11.1050 wurde Heinrich IV. als Sohn des Kaisers -»Heinrich III. (Salier) und der Agnes von Poitou (in Goslar?) geboren. Bereits im November 1053 in Tribur zum König gewählt und am 17.7.1054 in Aachen gekrönt, trat er nach dem vorzeitigen Tode des Vaters (5.10.) 1056 nominell die Herrschaft an; für den Minderjährigen übernahm die Mutter die Regentschaft, zunächst unterstützt von Papst Viktor II., der aber bereits 1057 (28.7.) starb. In der Kirchenpolitik verblieb Agnes in den von ihrem Gemahl vorgezeichneten Bahnen, in der Besetzung der Herzogtümer aber fielen bereits Entscheidungen, die die politische Zukunft Heinrichs IV. mitbestimmen sollten: Schwaben kam 1057 an Rudolf v. Rheinfelden, Bayern 1061 an Otto v. Northeim, Kärnten 1061 an Berthold v. Zähringen. Die für die salische Monarchie schicksalhafte Wende aber vollzog sich in jenen Jahren in Rom: Der Königshof verlor den Kontakt zur Reformbewegung, das Papsttum suchte zur Sicherung seiner Autonomie Anlehnung an neuen Mächten, zunächst an Gottfried dem Bärtigen, Markgraf v. Canossa-Tuszien, dann an den Normannen (1059 -»Nikolaus II.). Gegen Ende seines Pontifikates geriet Nikolaus II. sogar in einen offenen Konflikt mit der Reichsregierung, der nach seinem Tode 1061 zu einem Schisma führte, als der Hof zusammen mit italischen Reformgegnern gegen -»Alexander II. den Bischof Gadalus v. Parma als Gegenpapst (Honorius II.) erhob. Diese Entscheidung wurde von einem Teil des deutschen Episkopates mißbilligt; Ausdruck der Mißstimmung war der Staatsstreich von Kaiserswerth im April 1062, durch den mit der Entführung des jungen Königs nach Köln der Erzbischof -»Anno II. in der Reichsregierung, aus der sich die Kaiserin zurückzog, den maßgebenden Einfluß gewann. Er warf das Steuer herum; der Hof erkannte Alexander II. an (Synoden zu Augsburg 1062 und Mantua 1064). Unter ungünstigen Voraussetzungen begann nach seiner Schwertleite (29.3.1065) und dem durch die Fürsten herbeigeführten Sturz seines mächtigsten Ratgebers, des Erzbischofs -»Adalbert von Hamburg-Bremen, (Januar 1066) die selbständige Regierung Heinrichs IV., der sich im Juli 1066 mit Bertha von Turin vermählte. Den Prestigeverlust des deutschen Königtums hätte ein schneller Romzug mit dem Erwerb der Kaiserkrone wettmachen können, doch wurde das Unternehmen immer wieder verschoben. Eine persönliche Affäre, das auf einer Wormser Reichsversammlung im Juni 1069 den Fürsten vorgetragene Begehren Heinrichs, einer Scheidung seiner Ehe zuzustimmen, belastete das Ansehen des Königs zusätzlich; vor den strengen Vorhaltungen des Eremitenkardinals -•Petrus Damiani wich der Salier zurück (Oktober 1069). Gleichzeitig verschärften sich die inneren Spannungen. Seit etwa 1067 hatte Heinrich die in den Jahren der Regentschaft unterbrochene Politik, in Sachsen ein größeres Königsterritorium zu schaffen, mit aller Energie wiederaufgenommen. Die Reorganisation und Ausweitung des Reichsgutes und die Anlage von Befestigungen, die vorwiegend mit süddeutschen Ministerialen besetzt wurden, forderten aber den Widerstand des sächsischen Adels heraus, der sich in seiner Unabhängigkeit bedroht sah. Vor diesem Hintergrund ist auch die Absetzung und Ächtung Ottos von Bayern zu sehen, der in einem undurchsichtigen Verfahren des Hochverrats angeklagt worden war (1070/71). Bayern kam an Weif IV. Die aufgespeicherte Unzu-

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Heinrich IV.

Schnich, Recht u. Friede. Zum Königsgedanken im Umkreis Heinrichs III.: HJ 81 (1962) 22-57. Ernst Steindorff, Jb. des Dt. Reiches unter Heinrich III., 2 Bde., Berlin 1874-81, Nachdr. 1963. Gerd Teilenbach, Libertas. Kirche u. Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreites, 1936 (FKKG 7). - Heinz Thomas, Zur Kritik an der Ehe Heinrichs III. mit Agnes von Poitou: FS Helmut Beumann, Sigmaringen 1977,224-235. - Hans Joachim Vogt, Konrad II. im Vergleich zu Heinrich II. u. Heinrich III., Diss. Frankfurt/Main 1957. - Hanna Vollrath: Kaisertum u. Patriziat in den Anfängen des Investiturstreites: ZKG 85 (1974) 11-44. - Harald Zimmermann, Papstabsetzungen des MA, Graz/Köln/Wien 1968.

Harald Zimmermann

Heinrich IV., Kaiser

(10S0-1106)

Am 11.11.1050 wurde Heinrich IV. als Sohn des Kaisers -»Heinrich III. (Salier) und der Agnes von Poitou (in Goslar?) geboren. Bereits im November 1053 in Tribur zum König gewählt und am 17.7.1054 in Aachen gekrönt, trat er nach dem vorzeitigen Tode des Vaters (5.10.) 1056 nominell die Herrschaft an; für den Minderjährigen übernahm die Mutter die Regentschaft, zunächst unterstützt von Papst Viktor II., der aber bereits 1057 (28.7.) starb. In der Kirchenpolitik verblieb Agnes in den von ihrem Gemahl vorgezeichneten Bahnen, in der Besetzung der Herzogtümer aber fielen bereits Entscheidungen, die die politische Zukunft Heinrichs IV. mitbestimmen sollten: Schwaben kam 1057 an Rudolf v. Rheinfelden, Bayern 1061 an Otto v. Northeim, Kärnten 1061 an Berthold v. Zähringen. Die für die salische Monarchie schicksalhafte Wende aber vollzog sich in jenen Jahren in Rom: Der Königshof verlor den Kontakt zur Reformbewegung, das Papsttum suchte zur Sicherung seiner Autonomie Anlehnung an neuen Mächten, zunächst an Gottfried dem Bärtigen, Markgraf v. Canossa-Tuszien, dann an den Normannen (1059 -»Nikolaus II.). Gegen Ende seines Pontifikates geriet Nikolaus II. sogar in einen offenen Konflikt mit der Reichsregierung, der nach seinem Tode 1061 zu einem Schisma führte, als der Hof zusammen mit italischen Reformgegnern gegen -»Alexander II. den Bischof Gadalus v. Parma als Gegenpapst (Honorius II.) erhob. Diese Entscheidung wurde von einem Teil des deutschen Episkopates mißbilligt; Ausdruck der Mißstimmung war der Staatsstreich von Kaiserswerth im April 1062, durch den mit der Entführung des jungen Königs nach Köln der Erzbischof -»Anno II. in der Reichsregierung, aus der sich die Kaiserin zurückzog, den maßgebenden Einfluß gewann. Er warf das Steuer herum; der Hof erkannte Alexander II. an (Synoden zu Augsburg 1062 und Mantua 1064). Unter ungünstigen Voraussetzungen begann nach seiner Schwertleite (29.3.1065) und dem durch die Fürsten herbeigeführten Sturz seines mächtigsten Ratgebers, des Erzbischofs -»Adalbert von Hamburg-Bremen, (Januar 1066) die selbständige Regierung Heinrichs IV., der sich im Juli 1066 mit Bertha von Turin vermählte. Den Prestigeverlust des deutschen Königtums hätte ein schneller Romzug mit dem Erwerb der Kaiserkrone wettmachen können, doch wurde das Unternehmen immer wieder verschoben. Eine persönliche Affäre, das auf einer Wormser Reichsversammlung im Juni 1069 den Fürsten vorgetragene Begehren Heinrichs, einer Scheidung seiner Ehe zuzustimmen, belastete das Ansehen des Königs zusätzlich; vor den strengen Vorhaltungen des Eremitenkardinals -•Petrus Damiani wich der Salier zurück (Oktober 1069). Gleichzeitig verschärften sich die inneren Spannungen. Seit etwa 1067 hatte Heinrich die in den Jahren der Regentschaft unterbrochene Politik, in Sachsen ein größeres Königsterritorium zu schaffen, mit aller Energie wiederaufgenommen. Die Reorganisation und Ausweitung des Reichsgutes und die Anlage von Befestigungen, die vorwiegend mit süddeutschen Ministerialen besetzt wurden, forderten aber den Widerstand des sächsischen Adels heraus, der sich in seiner Unabhängigkeit bedroht sah. Vor diesem Hintergrund ist auch die Absetzung und Ächtung Ottos von Bayern zu sehen, der in einem undurchsichtigen Verfahren des Hochverrats angeklagt worden war (1070/71). Bayern kam an Weif IV. Die aufgespeicherte Unzu-

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friedenheit der Sachsen entlud sich im Sommer 1073 in offenem Aufruhr, dessen Ausmaß Heinrich überraschte und zur Flucht von der Harzburg zwang. Unterstützung - freilich mehr moralische als materielle - fand er bei den Bürgern von Worms, denen er ihre Treue mit einem großen Zollprivileg (18.1.1074) dankte. Im Frieden von Gerstungen (2.2.1074) mußte er der Schleifung der Burgen zustimmen. Als sich aber die sächsischen Bauern bei der Zerstörung der Harzburg zur Verwüstung der Kirche und Schändung der Gräber der königlichen Familie hinreißen ließen, erklärte Heinrich den Frieden für gebrochen; auch die süddeutschen Fürsten traten nun auf seine Seite. Die militärische Auseinandersetzung endete mit dem Sieg des Königs in der Schlacht bei Homburg an der Unstrut (9.6.1075) und der Unterwerfung der Aufständischen Ende Oktober. Am Weihnachtsfest versprachen ihm die in Goslar versammelten Großen eidlich die Anerkennung seines Sohnes Konrad (geb. 12.2.1074) als Thronfolger; die Kontinuität der Dynastie war damit gesichert. Parallel zum Sachsenaufstand hatte sich auch die kirchenpolitische Situation zugespitzt. Nach der Resignation des Erzbischofs Wido von Mailand hatte Heinrich den vornehmen Kleriker Gottfried investiert. Aber die radikale Reformpartei der -»Pataria leistete unter Führung Erlembalds schärfsten Widerstand und setzte nach Widos Tod die Wahl des Klerikers Atto durch (1072), den der Papst anerkannte. Heinrich aber veranlaßte auf einer Synode der Mailänder Suffragane die Weihe Gottfrieds. Im Gegenzug bannte der Papst die beteiligten lombardischen Bischöfe und die Ratgeber des Königs. Damit war ein lokaler Investiturkonflikt entstanden, dessen Verschärfung allerdings zunächst durch den Tod Alexanders II. vermieden wurde. Angesichts seiner schwierigen Lage im Sachsenaufstand suchte Heinrich bei dem am 22.4.1073 erhobenen -»Gregor VII. moralische und politische Hilfe: Er bekundete ihm seine Ergebenheit und sicherte ihm seine Unterstützung bei der Reform der Reichskirchc zu. Die vom Papst für 1074 geplante Reformsynode scheiterte aber am Widerstand des deutschen Episkopats, der sich gegen den Ausbau des päpstlichen Zentralismus zur Wehr setzte. Eine schwere Niederlage der Pataria im Frühjahr 1075 und Heinrichs Sachsensieg schufen eine neue Lage. Im Hochgefühl seines Erfolges unternahm der König den Versuch, durch die Ernennung des Hofkaplans Tcdald zum Erzbischof die Mailänder Frage in seinem Sinne zu lösen. Die so provozierte scharfe Reaktion des Papstes betrachtete der Salier als Kampfansage, auf die die zum 24.1.1076 nach Worms einberufene Reichsversammlung die Antwort geben sollte. Die Bischöfe kündigten dem „Bruder Hildebrand" unter dem Vorwurf seiner illegalen Erhebung den Gehorsam auf, und Heinrich forderte ihn kraft seines Patriziatrechts (-»Kaisertum und Papsttum) auf, seiner Würde zu entsagen. Reichskirche und König gingen in Worms ein Bündnis ein, dessen geistige Triebkräfte -»Episkopalismus und theokratische Herrschaftsauffassung waren. Auf der Fastensynode vom 14./15.2. schlug Gregor zurück: unter Berufung auf seine Binde- und Lösegewalt widersagte er Heinrich die Herrschaft in Deutschland und Italien, löste die Untertanen vom Eid und belegte den Salier mit dem Bann. Deutlicher konnten sich die hierokratischen Vorstellungen des Papstes nicht dokumentieren. Der Streit wurde nun ins Grundsätzliche gehoben: Es ging um die metaphysischen Grundlagen von weltlicher und geistlicher Gewalt und damit um die richtige Ordnung in der Welt überhaupt. Die vom Papst gegen die Bischöfe verhängten Strafen taten bald ihre Wirkung; auch die fürstliche Opposition wurde wieder aktiv, der Sachsenaufstand flammte erneut auf. Im Oktober versammelten sich die Fürsten in Anwesenheit päpstlicher Legaten in Tribur; Heinrich lagerte in Oppenheim. Das Ergebnis der Verhandlungen kennzeichnet die machtpolitische Niederlage des Saliers: Er mußte sich zu einer Oboedienzerklärung gegenüber Gregor VII. bereitfinden; die Fürsten verzichteten zwar auf eine sofortige Neuwahl, stellten aber die Bedingung einer Lösung des Königs vom Bann bis zum Jahrestag seiner Exkommunikation und luden den Papst zur Entscheidung des Streites nach Deutschland ein. Heinrich hat den drohenden Zusammenschluß seiner Gegner auf deutschem Boden durch den Gang nach Canossa verhindert. Am 28.1.1077 erteilte ihm

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Heinrich IV.

Gregor VII. nach Ableistung der Buße die Absolution. Zweifellos bedeutete dieser Akt einen politischen Erfolg für den Salier, da der Fürstenopposition nun ihre moralischreligiöse Rechtfertigung genommen war; gemessen an seinem Herrschaftsanspruch aber war die Kirchenbuße, die er in den für Laien vorgeschriebenen Formen geleistet hatte, ein entscheidender Schlag gegen die sakral-theokratische Interpretation der Königswürde, die Wende zur Entsakralisierung des -»Königtums. Trotz der Bannlösung hielten die opponierenden Fürsten an ihren ursprünglichen Absichten fest und erhoben am 15.3. in Forchheim den Schwabenherzog Rudolf v. Rheinfelden zum Gegenkönig. Diese Wahl ist zugleich ein Markstein in der Geschichte des deutschen Thronfolgerechts, da Rudolf auf die Sohnesfolge verzichten und das Prinzip der freien Wahl akzeptieren mußte. Die weitere Entwicklung wurde nun von der militärischen Auseinandersetzung zwischen Heinrich und Rudolf und den Versuchen, in Verhandlungen eine Lösung zu finden, bestimmt. Gregor hielt an seinem Ziele fest, ein Schiedsgericht in der Königsfrage durchzusetzen, was Heinrich zu verhindern wußte. Gleichzeitig trieb der Papst die Kirchenreform voran. Auf der Lateransynode im November 1078 wurde zum erstenmal in aller Klarheit und mit umfassender Geltung das Verbot der Laieninvestitur formuliert, das 1080 noch verschärft wurde. Der Salier erreichte eine gewisse Konsolidierung der Monarchie. Ende Mai 1077 verfügte er die Absetzung der süddeutschen Herzöge; Schwaben verlieh er 1079 an Friedrich von Büren, dem er seine Tochter Agnes zur Gemahlin gab. Friedrich wurde der Stammvater der Staufer. Nach langem Zögern verhängte Gregor auf der Fastensynode 1080 erneut Bann und Absetzung über Heinrich und erkannte Rudolf als König an, worauf der Salier auf der Synode von Brixen (Juni 1080) den Erzbischof Wibert v. Ravenna als Gegenpapst nominierte. Der Tod Rudolfs in der Schlacht an der Elster (15.10.1080) gab ihm den Rücken frei für eine offensive Politik, zumal das Gegenkönigtum Hermanns v. Salm ohne Bedeutung blieb. Im April 1081 überschritt Heinrich die Alpen; im März 1084 konnte er in die Heilige Stadt einziehen. Wibert wurde als Clemens III. inthronisiert; aus seiner Hand empfingen Heinrich und Bertha am Ostersonntag die Kaiserkrone. Vor den anrückenden Normannen mußten Kaiser und Gegenpapst Rom zwar verlassen, aber auch Gregor konnte sich hier nicht mehr halten. Er folgte seinen Befreiern nach Salerno, wo er am 25.5.1085 starb. In Deutschland erreichte Heinrich zunächst die Festigung seiner Königsmacht (Gottesfrieden 1085; Krönung Konrads 1087). Das Reformpapsttum war vorübergehend in eine Krise geraten, aus der es erst -»Urban II. (1088-1099) herausführte. Er nahm den Kampf mit dem Salier erneut auf, dem nun das wibertinische Schisma zum Schicksal wurde. Durch die von ihm 1089 vermittelte Ehe zwischen Mathilde von Tuszien und Weif V. konnte der Papst süddeutsche und italienische Opposition miteinander verbinden. Der Italienzug Heinrichs verlief nach anfänglichen Erfolgen unglücklich: 1093 ging sein Sohn Konrad ins gegnerische Lager über; im folgenden Jahr sagte sich seine zweite Gemahlin Praxedis (Adelheid) von ihm los und ließ sich zur Propaganda gegen ihn mißbrauchen. Bis 1097 war er in Oberitalien isoliert, während Urban das Reformpapsttum mit dem Aufruf zum 1. Kreuzzug (1095) an die Spitze der Christenheit führte (-»Kreuzzüge). Nach seiner Rückkehr nach Deutschland gelang Heinrich erneut eine Konsolidierung der Monarchie: Absetzung Konrads (gest. 1101) und Wahl des Sohnes Heinrich, der am 6.1.1099 in Aachen gekrönt wurde. Der Tod Wiberts (8.9.1100) eröffnete die Möglichkeit zur Beilegung des Schismas, doch scheiterten Heinrichs Bemühungen an der starren Haltung des Papstes Paschalis II. (1099-1118), für den es in der Investiturfrage keinen Kompromiß gab; hier vermochte auch Hugo v. Cluny, Heinrichs Taufpate, nicht zu vermitteln, obwohl der Salier sogar einen Sühnekreuzzug versprach. In diesen Zusammenhang gehört der Reichslandfrieden, den Heinrich am 6.1.1103 auf einem Mainzer Reichstag erließ; er stellt einen Markstein in der Reichsgesetzgebung dar. Die Erfolglosigkeit in den Friedensbemühungen hat schließlich die letzte dramatische Wende im Leben Heinrichs herbeigeführt. In der Hoffnung, vom Papst Zugeständnisse zu erhalten und so den Frieden mit der Kirche wiederherstellen zu können, erhob sich Hein-

Heinrich VIII. von England

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rieh V. Ende 1104 gegen den Vater. Durch Täuschung konnte er ihn Ende 1105 gefangensetzen. Auf einer Reichsversammlung in Ingelheim wurde der Kaiser am 31.12.1105 unter schärfstem Druck zur Abdankung gezwungen. Zwar gelang ihm die Flucht, und von Niederlothringen aus versuchte er eine Rückgewinnung der Macht; doch in diesen Bemühungen ereilte ihn am 7 . 8 . 1 1 0 6 in Lüttich der Tod. Der Leichnam wurde nach Speyer überführt und zunächst in ungeweihter Erde, am 7 . 8 . 1 1 1 1 dann im Dom beigesetzt. Heinrich war nicht der geniale Reformer, als der er mitunter gesehen worden ist; im Konflikt mit dem Papsttum hat er lediglich die überkommene Ordnung verteidigt. Daß er neue soziale Gruppen (Ministerialität, Bürgertum) an den Staat heranzuziehen versuchte und den Landfrieden als Instrument königlicher Rechts- und Machtpolitik einsetzte, läßt staatsmännische Fähigkeiten erkennen. In der zähen Verteidigung der Königsrechte hat er die salische Monarchie über ihre schwerste Krise hinweggerettet; die Investiturfrage aber hinterließ er als ungelöstes Problem seinem Nachfolger. Quellen und Literatur Die Briefe Heinrichs, hg. v. Carl Erdmann, M G H . Dt. MA I 1937. - Urkunden: MGH.DD.VI 1 - 3 , 1941-1978. — Quellen zur Gesch. Kaiser Heinrichs IV., hg. v. Franz-Josef Schmale, 1963 = 3 1974 (AQDG1). - Gerold Meyer v. Knonau, J b b . des Dt. Reiches unter Heinrich IV. u. Heinrich V., 1 - 7 , Leipzig 1890-1909. - Egon Boshof, Heinrich IV. Herrscher an einer Zeitenwende, Göttingen 1979 (Persönlichkeit u. Geschichte 108/109) (Lit.). - Hanns Leo Mikoletzky, Der „fromme" Kaiser Heinrich IV.: M1ÖG 68 (1960) 2 5 0 - 2 6 5 . - Theodor Schieffer, Art. Heinrich IV.: NDB 8 (1969) 3 1 5 - 3 2 0 . - Erica Schirmer, Die Persönlichkeit Kaiser Heinrichs IV. im Urteil der dt. Geschichtsschreibung, Jena 1931. - Harald Zimmermann, Heinrich IV. (1056-1106): Kaisergestalten des MA, hg. v. Helmut Beumann, München 1984, 1 1 6 - 1 3 4 . 365ff.

Egon Boshof Heinrich IV. von Frankreich

Heinrich VIII. von England

Frankreich, -» Hugenotten

(1491-1547)

Als drittes Kind von Heinrich IV. und Elisabeth v. York am 28. Juni 1491 geboren, wurde er am 18. Februar 1503 nach dem Tode seines älteren Bruders Arthur zum Thronfolger ernannt. Im gleichen Jahr wurde zwischen ihm und der siebzehnjährigen Witwe seines Bruders, Katharina von Aragonien, ein Ehevertrag geschlossen, der mit dem 15. Lebensjahr Heinrichs in Kraft treten sollte. Da die erste Ehe Katharinas wohl nicht vollzogen worden war, wurde ein päpstlicher Dispens erteilt, trotzdem ein Protest Heinrichs gegen die Verlobung für alle Fälle archiviert (Thieme 7). Am 23. April 1509 wurde Heinrich zum König proklamiert und heiratete am 11. Juni Katharina. Der 1511 geborene Thronfolger stirbt bald (LP 1, LXXIII) wie später auch weitere Söhne. Im gleichen Jahr schließt sich Heinrich einer Allianz gegen Frankreich an, scheitert jedoch in einem Feldzug und wird zusätzlich durch einen Sonderfrieden überrumpelt, den sein Schwiegervater Ferdinand von Aragon mit Ludwig XII. von Frankreich schließt. 1513 können jedoch die englischen Truppen einen Sieg über die Franzosen erringen, der das Prestige Heinrichs entscheidend erhöht (LP 1 Nr. 4398), obwohl er weithin ein Erfolg für Thomas - * Wolsey ist, der von nun an für sechzehn Jahre als Lordkanzler die englische Politik entscheidend beeinflussen sollte. Eine während der Abwesenheit Heinrichs in Frankreich durch Jakob IV. von Schottland versuchte Invasion scheitert. Als 1516 der Neffe seiner Frau -»Karl V. spanischer König wird, erlaubt er Heinrich, in seinen jahrelangen Konflikten mit -»Franz I. von Frankreich eine umworbene Vermittlerrolle einzunehmen. 1518 wurde die zweijährige Tochter Heinrichs, Maria, mit dem erst am 31. März geborenen Dauphin vermählt, obwohl sie an sich dem vierzehnjährigen Karl V. versprochen war (LP 2,2 Nr. 4481). 1521 vollendet Heinrich seine Assertio Septem sacramentorum - wohl unterstützt von John

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rieh V. Ende 1104 gegen den Vater. Durch Täuschung konnte er ihn Ende 1105 gefangensetzen. Auf einer Reichsversammlung in Ingelheim wurde der Kaiser am 31.12.1105 unter schärfstem Druck zur Abdankung gezwungen. Zwar gelang ihm die Flucht, und von Niederlothringen aus versuchte er eine Rückgewinnung der Macht; doch in diesen Bemühungen ereilte ihn am 7 . 8 . 1 1 0 6 in Lüttich der Tod. Der Leichnam wurde nach Speyer überführt und zunächst in ungeweihter Erde, am 7 . 8 . 1 1 1 1 dann im Dom beigesetzt. Heinrich war nicht der geniale Reformer, als der er mitunter gesehen worden ist; im Konflikt mit dem Papsttum hat er lediglich die überkommene Ordnung verteidigt. Daß er neue soziale Gruppen (Ministerialität, Bürgertum) an den Staat heranzuziehen versuchte und den Landfrieden als Instrument königlicher Rechts- und Machtpolitik einsetzte, läßt staatsmännische Fähigkeiten erkennen. In der zähen Verteidigung der Königsrechte hat er die salische Monarchie über ihre schwerste Krise hinweggerettet; die Investiturfrage aber hinterließ er als ungelöstes Problem seinem Nachfolger. Quellen und Literatur Die Briefe Heinrichs, hg. v. Carl Erdmann, M G H . Dt. MA I 1937. - Urkunden: MGH.DD.VI 1 - 3 , 1941-1978. — Quellen zur Gesch. Kaiser Heinrichs IV., hg. v. Franz-Josef Schmale, 1963 = 3 1974 (AQDG1). - Gerold Meyer v. Knonau, J b b . des Dt. Reiches unter Heinrich IV. u. Heinrich V., 1 - 7 , Leipzig 1890-1909. - Egon Boshof, Heinrich IV. Herrscher an einer Zeitenwende, Göttingen 1979 (Persönlichkeit u. Geschichte 108/109) (Lit.). - Hanns Leo Mikoletzky, Der „fromme" Kaiser Heinrich IV.: M1ÖG 68 (1960) 2 5 0 - 2 6 5 . - Theodor Schieffer, Art. Heinrich IV.: NDB 8 (1969) 3 1 5 - 3 2 0 . - Erica Schirmer, Die Persönlichkeit Kaiser Heinrichs IV. im Urteil der dt. Geschichtsschreibung, Jena 1931. - Harald Zimmermann, Heinrich IV. (1056-1106): Kaisergestalten des MA, hg. v. Helmut Beumann, München 1984, 1 1 6 - 1 3 4 . 365ff.

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Frankreich, -» Hugenotten

(1491-1547)

Als drittes Kind von Heinrich IV. und Elisabeth v. York am 28. Juni 1491 geboren, wurde er am 18. Februar 1503 nach dem Tode seines älteren Bruders Arthur zum Thronfolger ernannt. Im gleichen Jahr wurde zwischen ihm und der siebzehnjährigen Witwe seines Bruders, Katharina von Aragonien, ein Ehevertrag geschlossen, der mit dem 15. Lebensjahr Heinrichs in Kraft treten sollte. Da die erste Ehe Katharinas wohl nicht vollzogen worden war, wurde ein päpstlicher Dispens erteilt, trotzdem ein Protest Heinrichs gegen die Verlobung für alle Fälle archiviert (Thieme 7). Am 23. April 1509 wurde Heinrich zum König proklamiert und heiratete am 11. Juni Katharina. Der 1511 geborene Thronfolger stirbt bald (LP 1, LXXIII) wie später auch weitere Söhne. Im gleichen Jahr schließt sich Heinrich einer Allianz gegen Frankreich an, scheitert jedoch in einem Feldzug und wird zusätzlich durch einen Sonderfrieden überrumpelt, den sein Schwiegervater Ferdinand von Aragon mit Ludwig XII. von Frankreich schließt. 1513 können jedoch die englischen Truppen einen Sieg über die Franzosen erringen, der das Prestige Heinrichs entscheidend erhöht (LP 1 Nr. 4398), obwohl er weithin ein Erfolg für Thomas - * Wolsey ist, der von nun an für sechzehn Jahre als Lordkanzler die englische Politik entscheidend beeinflussen sollte. Eine während der Abwesenheit Heinrichs in Frankreich durch Jakob IV. von Schottland versuchte Invasion scheitert. Als 1516 der Neffe seiner Frau -»Karl V. spanischer König wird, erlaubt er Heinrich, in seinen jahrelangen Konflikten mit -»Franz I. von Frankreich eine umworbene Vermittlerrolle einzunehmen. 1518 wurde die zweijährige Tochter Heinrichs, Maria, mit dem erst am 31. März geborenen Dauphin vermählt, obwohl sie an sich dem vierzehnjährigen Karl V. versprochen war (LP 2,2 Nr. 4481). 1521 vollendet Heinrich seine Assertio Septem sacramentorum - wohl unterstützt von John

Heinrich VIII. von England

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rieh V. Ende 1104 gegen den Vater. Durch Täuschung konnte er ihn Ende 1105 gefangensetzen. Auf einer Reichsversammlung in Ingelheim wurde der Kaiser am 31.12.1105 unter schärfstem Druck zur Abdankung gezwungen. Zwar gelang ihm die Flucht, und von Niederlothringen aus versuchte er eine Rückgewinnung der Macht; doch in diesen Bemühungen ereilte ihn am 7 . 8 . 1 1 0 6 in Lüttich der Tod. Der Leichnam wurde nach Speyer überführt und zunächst in ungeweihter Erde, am 7 . 8 . 1 1 1 1 dann im Dom beigesetzt. Heinrich war nicht der geniale Reformer, als der er mitunter gesehen worden ist; im Konflikt mit dem Papsttum hat er lediglich die überkommene Ordnung verteidigt. Daß er neue soziale Gruppen (Ministerialität, Bürgertum) an den Staat heranzuziehen versuchte und den Landfrieden als Instrument königlicher Rechts- und Machtpolitik einsetzte, läßt staatsmännische Fähigkeiten erkennen. In der zähen Verteidigung der Königsrechte hat er die salische Monarchie über ihre schwerste Krise hinweggerettet; die Investiturfrage aber hinterließ er als ungelöstes Problem seinem Nachfolger. Quellen und Literatur Die Briefe Heinrichs, hg. v. Carl Erdmann, M G H . Dt. MA I 1937. - Urkunden: MGH.DD.VI 1 - 3 , 1941-1978. — Quellen zur Gesch. Kaiser Heinrichs IV., hg. v. Franz-Josef Schmale, 1963 = 3 1974 (AQDG1). - Gerold Meyer v. Knonau, J b b . des Dt. Reiches unter Heinrich IV. u. Heinrich V., 1 - 7 , Leipzig 1890-1909. - Egon Boshof, Heinrich IV. Herrscher an einer Zeitenwende, Göttingen 1979 (Persönlichkeit u. Geschichte 108/109) (Lit.). - Hanns Leo Mikoletzky, Der „fromme" Kaiser Heinrich IV.: M1ÖG 68 (1960) 2 5 0 - 2 6 5 . - Theodor Schieffer, Art. Heinrich IV.: NDB 8 (1969) 3 1 5 - 3 2 0 . - Erica Schirmer, Die Persönlichkeit Kaiser Heinrichs IV. im Urteil der dt. Geschichtsschreibung, Jena 1931. - Harald Zimmermann, Heinrich IV. (1056-1106): Kaisergestalten des MA, hg. v. Helmut Beumann, München 1984, 1 1 6 - 1 3 4 . 365ff.

Egon Boshof Heinrich IV. von Frankreich

Heinrich VIII. von England

Frankreich, -» Hugenotten

(1491-1547)

Als drittes Kind von Heinrich IV. und Elisabeth v. York am 28. Juni 1491 geboren, wurde er am 18. Februar 1503 nach dem Tode seines älteren Bruders Arthur zum Thronfolger ernannt. Im gleichen Jahr wurde zwischen ihm und der siebzehnjährigen Witwe seines Bruders, Katharina von Aragonien, ein Ehevertrag geschlossen, der mit dem 15. Lebensjahr Heinrichs in Kraft treten sollte. Da die erste Ehe Katharinas wohl nicht vollzogen worden war, wurde ein päpstlicher Dispens erteilt, trotzdem ein Protest Heinrichs gegen die Verlobung für alle Fälle archiviert (Thieme 7). Am 23. April 1509 wurde Heinrich zum König proklamiert und heiratete am 11. Juni Katharina. Der 1511 geborene Thronfolger stirbt bald (LP 1, LXXIII) wie später auch weitere Söhne. Im gleichen Jahr schließt sich Heinrich einer Allianz gegen Frankreich an, scheitert jedoch in einem Feldzug und wird zusätzlich durch einen Sonderfrieden überrumpelt, den sein Schwiegervater Ferdinand von Aragon mit Ludwig XII. von Frankreich schließt. 1513 können jedoch die englischen Truppen einen Sieg über die Franzosen erringen, der das Prestige Heinrichs entscheidend erhöht (LP 1 Nr. 4398), obwohl er weithin ein Erfolg für Thomas - * Wolsey ist, der von nun an für sechzehn Jahre als Lordkanzler die englische Politik entscheidend beeinflussen sollte. Eine während der Abwesenheit Heinrichs in Frankreich durch Jakob IV. von Schottland versuchte Invasion scheitert. Als 1516 der Neffe seiner Frau -»Karl V. spanischer König wird, erlaubt er Heinrich, in seinen jahrelangen Konflikten mit -»Franz I. von Frankreich eine umworbene Vermittlerrolle einzunehmen. 1518 wurde die zweijährige Tochter Heinrichs, Maria, mit dem erst am 31. März geborenen Dauphin vermählt, obwohl sie an sich dem vierzehnjährigen Karl V. versprochen war (LP 2,2 Nr. 4481). 1521 vollendet Heinrich seine Assertio Septem sacramentorum - wohl unterstützt von John

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Heinrich Vili, von England

-•Fisher u. a. - , eine Verteidigung der katholischen Sakramentslehre und des Traditionsprinzips gegenüber -»Luthers Schriftprinzip (zur Ausgabe und Übersetzung s. WA 6,494f; 10/2,175-179), die im 16. Jh. allein zwanzig Auflagen erlebte. Die schon lange angestrebte päpstliche Ehrung (LP 2,1 Nr. 1928) wird ihm nun am 11. Oktober 1521 durch die Verleihung des Titels Defensor Fidei zuteil (Doernberg 20). Luther antwortet scharf in deutsch und lateinisch (WA 10/2,175 ff.) Als Franz I. im Februar 1524 in der Schlacht bei Pavia in Gefangenschaft gerät, erhofft sich Heinrich eine Rückgabe verlorener Provinzen und läßt durch Wolsey seine Tochter Maria Karl zur Frau anbieten (LP 4,1 Nr. 1212; LIX). Nach erneuter Annäherung an Franz I. versucht Heinrich ab 1526, seine Ehe mit Katharina durch den Papst für nichtig erklären zu lassen (LP 4,3 Nr. 6208; 6287; 6633), weil er Anna Boleyn (Byrne 5 4 - 6 1 ; 68 - 7 1 ; 74 f u. ö.) heiraten wollte. Vergeblich versuchen John Fisher und Kardinal -* Campeggio zu vermitteln, auch die nach Deutschland geflohenen englischen Protestanten sowie Luther versucht Heinrich für seine Ehesachen einzuspannen; Verhandlungen finden 1531/1532,1534 und 1535/1536 statt. 1530 wird Wolsey entlassen, an seine Stelle tritt für zweieinhalb Jahre Thomas -»Morus, gefolgt von Thomas -»Cromwell. Am 11. Februar 1531 wird Heinrich von der Kirchenversammlung von Canterbury zum obersten Haupt der Kirche und der Geistlichkeit von England proklamiert, lediglich unter Hinzufügung der Vorbehaltsklausel „soweit das Gesetz Gottes es zuläßt". Im Januar 1533 findet die geheime Eheschließung mit Anna statt, die bald darauf gekrönt wird und im September die spätere -»Elisabeth I. (-»England IV.4) gebiert. Heinrich befürchtet jetzt kriegerisches Vorgehen Karls gegen ihn und versichert sich erneut der Hilfe des französischen Königs. 1534 wird von Rom aus der endgültige Bruch mit der englischen Kirche vollzogen, woraufhin in England die Suprematsakte (Act of Supremacy) dem König alle Vollmachten, die bisher dem Papst zustanden, überträgt. Gleichzeitig wird jeder zum Hochverräter erklärt, der dieses neue königliche Amt negiert oder nicht den Suprematseid leistet, wodurch dem Terror Tür und Tor geöffnet werden (LP 8 Nr. 52; 848 u.ö.); zahlreiche Gegner dieser Entscheidung werden zu Märtyrern, darunter auch More und Fisher (LP 8 Nr.609; 661; 666; 948; 996; 1096 u.ö.). In den folgenden Jahren werden die Klöster aufgelöst, und ihr Besitz wird der Krone oder auch treuen Anhängern des Königs zugeführt. Im Mai 1536 wird Anna Boleyn hingerichtet (LP 10 Nr. 910), nachdem sich Heinrich der fünfundzwanzigjährigen Johanna Seymour zugewandt hatte, die er einen Tag nach der Hinrichtung ehelicht (LP 10 Nr. 1000). Sie schenkte ihm am 12. Oktober 1537 den lang ersehnten Erben, Edward VI. (LP 12,2 Nr. 911), doch stirbt sie schon wenige Tage später (LP 12,2 Nr. 1004). Um mit dem sächsischen Kurfürsten eine Konföderation gegen den Papst bilden zu können, heiratet Heinrich nun dessen Schwägerin, die 24jährige Prinzessin Anna von Kleve, ist ihrer jedoch nicht nur aus politischen Gründen durch wiederauflebende freundschaftliche Beziehungen zu Franz I. schon nach wenigen Monaten überdrüssig (LP 15 Nr. 823; 850). Die Kontakte zu den deutschen Protestanten, die seit 1536 verstärkt worden waren (Delius 285 ff), werden abgeblockt durch die altgläubigen sechs Artikel vom 2. Juni 1539 (Tjernagel 197; Prüser 180; LP 14,1 Nr. 1040). Außerdem hatte Heinrich ein gemeinsames Vorgehen von Franz und Karl gegen ihn befürchtet; als dieses ausblieb, konnte er auf die Protestanten verzichten. Die Lutheraner mußten erkennen, daß es Heinrich mit dem Evangelium nie ernst gewesen war (Delius 290 und Anm. 94.89) und er eine Einheitskirche aller Protestanten nur zu seiner Rückendeckung gesucht hatte (Meißner 440). Bald nach der Heirat mit der 18jährigen Katharina Howard (Scarisbrick 429 ff) kommt es zum Prozeß, da Katharina nicht nur vor ihrer Ehe, sondern auch als Königin leichtlebig war (LP 16 Nr. 1134; 1334). Sie wird 1542 hingerichtet, und 1543 heiratet Heinrich erneut, diesmal eine 31jährige zweifache Witwe, die evangelische Katharina Parr (LP 18,1 Nr. 873), die trotz katholischen Widerstandes zur Regentin eingesetzt wird (LP 19,2 Nr. 246). Nachdem im Juli 1542 der Krieg zwischen Franz und Karl ausgebrochen war, schließen Heinrich und Karl 1543 einen Freundschaftsvertrag (LP 18,1 Nr. 144), der sich

Heinrich von Langenstein

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gegen Frankreich richtet. 1542 fallen englische Truppen in Schottland ein (LP 17 Nr. 661; 10607), dennoch wird im Mai 1543 ein Ehevertrag zwischen Edward und der 1542 geborenen Maria Stuart geschlossen (LP 18,1 Nr. 577). 1544 erobert Heinrich Boulogne (LP 19,2 Nr. 424), doch schließt Karl im Vertrag von Crepy mit Franz einen Separatfrieden (LP 19,2 Nr. 249). Danach muß Heinrich erneut ein Vorgehen katholischer Mächte gegen sich befürchten und beginnt ein Doppelspiel, um protestantische Fürsten zu gewinnen (LP 20,2 Nr. 46), doch erneuern 1546 Heinrich und Karl ihr Freundschaftsabkommen. Im Juli 1545 erfolgt der französische Gegenschlag (LP 20,1 Nr. 812). Nach einer schweren Niederlage im Januar 1546 kommt es zum Friedensvertrag zwischen England und Frankreich (LP 21,1 Nr. 1015). Aus Furcht vor einer Isolierung durch katholische Staaten unterdrückt Heinrich weithin antikatholische Tendenzen, unterstützt aber andererseits durchaus Reformvorschläge Thomas ->Cranmers (LP 21,1 Nr. 110). Heinrich stirbt am 28. Januar 1547 (Scarisbrick 495 f). Er galt der Zeit als Ideal eines humanistisch gebildeten Fürsten, war aber von einem starken Machtinstinkt, gepaart mit skrupelloser Grausamkeit, geprägt (Meißner 78), eine Verbindung des Absolutismus mit der Auffassung vom Gottesgnadentum der Tudor. Quellen und

Bibliographien

John N. King, English Reformation literature. The Tudor origins of the Protestant tradition, Princeton/N. J. 1982. - Letters and papers, foreign and domestic, of the reign of Henry VIII, 1509-1547 (zit.: LP), hg. v. J.S. Brewer u.a., 21 Bde., London 1862-1910. - The Letters of King Henry VIII., hg. v. M . S . C . Byrne, London 1936. - C. Read, Bibliography of British History, Tudor Period 1485-1603, Oxford 1933. - T h e Bibliography of the Reform 1450-1648, hg. v. Derek Baker, Oxford 1979 (bis 1970). Literatur Hans-Ulrich Delius, Königlicher Supremat oder ev. Reformation der Kirche. Heinrich VIII. v. England u.die Wittenberger 1531-1540: WZ(C).GS4/5 (1971) 283-291.-ErwinDoernberg, Henry VIII and Luther, London 1961. - Geoffrey Rudolph Elton, Reform and Reformation. The New History of England II, London 1977. - Felix Grayeff, Heinrich der Achte. Das Leben eines Königs, Schicksal eines Reiches, Düsseldorf 1978, Gütersloh 1980. - Francis Hackett, Heinrich der Achte, Berlin 1932 u.ö.; dt. Übers, v. Dora Sophie Keller, Frankfurt 1978, Frankfurt/Wien/Zürich 1979. Robert Lacey, Heinrich VIII. Macht u. Leidenschaft eines Königs, Wiesbaden 1978. - Paul Meißner, England im Zeitalter v. Humanismus, Renaissance u. Reformation, hg. v. H. Kauter, Heidelberg 1952. - Friedrich Prüser, England u. die Schmalkaldener 1535-1540,1929 (QFRG 11). - John Joseph Scarisbrick, Henry VIII, Berkeley/Los Angeles 1968, London 1976. - Hans Thiemc, Die Ehescheidung Heinrich VIII. u. die europ. Universitäten, 1957 (Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe 31). - Neelak Serawlook Tjemagel, Henry VIII and the Lutherans, St. Louis 1965. - James Alexander Williamson, The Tudor Age, London 1979.

Hans-Ulrich Delius

Heinrich von Langenstein (gest. 1397) 1. Leben

2. Werk

3. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S. 13)

1. Leben Heinrich, der häufig nur He(i)rtricus de Hassia genannt wird, wurde wahrscheinlich in dem Dorf Langenstein (in der Nähe von Marburg/Lahn) geboren. Sein Geburtsjahr ist unbekannt. Wohl einer bürgerlichen Familie entstammend, ist er erstmals am 20.2.1363 nachzuweisen. An diesem Tage wurde er an der Universität -»Paris Bakkalaureus der Artes. Genau drei Monate später erwarb er den Grad eines Lizentiaten der Artistenfakultät. Am 22. Mai 1363 begann er seine Lehrtätigkeit als magister artium. In den Jahren 1364-1373 führte er zahlreiche Studenten zum Bakkalaureat und Lizentiat der Artes. Während er als magister artium amtierte, studierte er Theologie. Am 24.9.1375 wurde er

Heinrich von Langenstein

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gegen Frankreich richtet. 1542 fallen englische Truppen in Schottland ein (LP 17 Nr. 661; 10607), dennoch wird im Mai 1543 ein Ehevertrag zwischen Edward und der 1542 geborenen Maria Stuart geschlossen (LP 18,1 Nr. 577). 1544 erobert Heinrich Boulogne (LP 19,2 Nr. 424), doch schließt Karl im Vertrag von Crepy mit Franz einen Separatfrieden (LP 19,2 Nr. 249). Danach muß Heinrich erneut ein Vorgehen katholischer Mächte gegen sich befürchten und beginnt ein Doppelspiel, um protestantische Fürsten zu gewinnen (LP 20,2 Nr. 46), doch erneuern 1546 Heinrich und Karl ihr Freundschaftsabkommen. Im Juli 1545 erfolgt der französische Gegenschlag (LP 20,1 Nr. 812). Nach einer schweren Niederlage im Januar 1546 kommt es zum Friedensvertrag zwischen England und Frankreich (LP 21,1 Nr. 1015). Aus Furcht vor einer Isolierung durch katholische Staaten unterdrückt Heinrich weithin antikatholische Tendenzen, unterstützt aber andererseits durchaus Reformvorschläge Thomas ->Cranmers (LP 21,1 Nr. 110). Heinrich stirbt am 28. Januar 1547 (Scarisbrick 495 f). Er galt der Zeit als Ideal eines humanistisch gebildeten Fürsten, war aber von einem starken Machtinstinkt, gepaart mit skrupelloser Grausamkeit, geprägt (Meißner 78), eine Verbindung des Absolutismus mit der Auffassung vom Gottesgnadentum der Tudor. Quellen und

Bibliographien

John N. King, English Reformation literature. The Tudor origins of the Protestant tradition, Princeton/N. J. 1982. - Letters and papers, foreign and domestic, of the reign of Henry VIII, 1509-1547 (zit.: LP), hg. v. J.S. Brewer u.a., 21 Bde., London 1862-1910. - The Letters of King Henry VIII., hg. v. M . S . C . Byrne, London 1936. - C. Read, Bibliography of British History, Tudor Period 1485-1603, Oxford 1933. - T h e Bibliography of the Reform 1450-1648, hg. v. Derek Baker, Oxford 1979 (bis 1970). Literatur Hans-Ulrich Delius, Königlicher Supremat oder ev. Reformation der Kirche. Heinrich VIII. v. England u.die Wittenberger 1531-1540: WZ(C).GS4/5 (1971) 283-291.-ErwinDoernberg, Henry VIII and Luther, London 1961. - Geoffrey Rudolph Elton, Reform and Reformation. The New History of England II, London 1977. - Felix Grayeff, Heinrich der Achte. Das Leben eines Königs, Schicksal eines Reiches, Düsseldorf 1978, Gütersloh 1980. - Francis Hackett, Heinrich der Achte, Berlin 1932 u.ö.; dt. Übers, v. Dora Sophie Keller, Frankfurt 1978, Frankfurt/Wien/Zürich 1979. Robert Lacey, Heinrich VIII. Macht u. Leidenschaft eines Königs, Wiesbaden 1978. - Paul Meißner, England im Zeitalter v. Humanismus, Renaissance u. Reformation, hg. v. H. Kauter, Heidelberg 1952. - Friedrich Prüser, England u. die Schmalkaldener 1535-1540,1929 (QFRG 11). - John Joseph Scarisbrick, Henry VIII, Berkeley/Los Angeles 1968, London 1976. - Hans Thiemc, Die Ehescheidung Heinrich VIII. u. die europ. Universitäten, 1957 (Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe 31). - Neelak Serawlook Tjemagel, Henry VIII and the Lutherans, St. Louis 1965. - James Alexander Williamson, The Tudor Age, London 1979.

Hans-Ulrich Delius

Heinrich von Langenstein (gest. 1397) 1. Leben

2. Werk

3. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S. 13)

1. Leben Heinrich, der häufig nur He(i)rtricus de Hassia genannt wird, wurde wahrscheinlich in dem Dorf Langenstein (in der Nähe von Marburg/Lahn) geboren. Sein Geburtsjahr ist unbekannt. Wohl einer bürgerlichen Familie entstammend, ist er erstmals am 20.2.1363 nachzuweisen. An diesem Tage wurde er an der Universität -»Paris Bakkalaureus der Artes. Genau drei Monate später erwarb er den Grad eines Lizentiaten der Artistenfakultät. Am 22. Mai 1363 begann er seine Lehrtätigkeit als magister artium. In den Jahren 1364-1373 führte er zahlreiche Studenten zum Bakkalaureat und Lizentiat der Artes. Während er als magister artium amtierte, studierte er Theologie. Am 24.9.1375 wurde er

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Heinrich von Langenstein

Lizentiat der Theologie. Febr./März 1376 begann er seine theologische Lehrtätigkeit mit der Lesung der Sentenzen. Von dem universitätspolitischen Engagement Heinrichs während seiner Pariser Zeit zeugen vor allem seine Tätigkeit als Prokurator der natio Anglicana August/September 1363 und sein Wirken als Vizekanzler der Universität unter dem Kanzler Johannes de Calore (1371-1381). Nach Beginn des Großen Schismas (1378) gehörte Heinrich zu denjenigen, die sich in den Auseinandersetzungen zwischen Urban VI. und -»Clemens VII. zunächst neutral verhielten (-»Papsttum). In zwei Traktaten sprach er sich dafür aus, daß ein allgemeines Konzil das Schisma beenden solle (-»Konziliarismus). Da er nicht der Obedienz Clemens VII. beitreten wollte, mußte er, wohl im Frühjahr 1382, Paris verlassen. Möglicherweise weilte er anschließend kurz an seiner Lütticher Pfründe, ehe er in den Rheingau überwechselte. Am Mittelrhein, wo er die meiste Zeit in Worms und in der Zisterzienserabtei Ebersbach verlebte, hielt er sich wohl nur knapp zwei Jahre (1383/84) auf. Hier dürfte ihm auch von Urban VI. das Bistum ösel in Livland angeboten worden sein. Heinrich lehnte jedoch ab. 1384 wurde er von Herzog Albrecht III. von Österreich (1365-1395) an die Universität -•Wien berufen, deren Ansehen er zusammen mit anderen ehemaligen Pariser Professoren begründete. Heinrich wirkte an der Reform des Wiener Universitätsstudiums entscheidend mit. 1388 war er Dekan der theologischen Fakultät und 1393/94 Rektor. Er starb am 11.2.1397 in Wien und wurde in der Stephanskirche beigesetzt. 2. Werk Heinrich gehört zweifellos zu den bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit. Er verfaßte Werke naturwissenschaftlichen Inhalts (so u.a. Quaestio de cometa; De reprobatione ecentricorum et epiciclorum; Tractatus contra astrologos coniunctionistas de eventibus futurorum), sozialpolitische Schriften (Epistola de contractibus emptionis et venditionis; Tractatus bipartitus de contractibus) und theologische Abhandlungen (hier vor allem den umfangreichen Genesiskommentar [Zu Gen 1 - 3 ] , seine Wiener theologische Hauptvorlesung; einen Jesajakommentar; die Lectura super Pater noster\ einen Sentenzenkommentar). Dazu kommen noch mehrere kirchenpolitische Traktate (so z.B. die Epistola pacis und die Epistola concilii pacis), in denen er konziliare Ideen vertrat, erbauliche Schriften (Briefe asketischen Inhalts an Freunde, Opuscula wie De tnissa, Expositio super Pater noster, Speculum animae, De discretione spirituum) und Predigten (so u. a. die Continuatio homeliae sancti Augustini de festo lanceae et clavorum; De ascensione domini und fünf Homilien zu Marienfesten). Den Ubergang von einer Universitätsschrift zu einer Predigt bildet der Sermo de sancta Catharina, in dem sich Heinrich über den Aufbau der Wissenschaften äußert. Sicher dürfte Heinrich eine Anzahl seiner bislang bekannten Predigten vor Universitätsmitgliedern gehalten haben. Seine Verfasserschaft an den ihm zugeschriebenen deutschen Traktaten (hier ist vor allem das handschriftlich häufig überlieferte Werk über die Erkenntnis der Sünde zu nennen) konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Deshalb werden wohl auch die deutschen Ubersetzungen von sieben seiner lateinischen Opuscula ihm zu Unrecht zugeschrieben. 3.

Nachwirkung

Über die Nachwirkung der Schriften Heinrichs läßt sich bisher kaum pauschal urteilen, da wichtige Werke (so z. B. Genesiskommentar und De ascensione domini) weder gedruckt noch genauer untersucht wurden. So wird bezüglich des Genesiskommentars der Nachweis, daß der Krakauer Theologe Stanislaus von Zawada (gest. 1491) Heinrichs theologisches Hauptwerk ausgiebig benutzte, nicht singulär bleiben. Von den sog. konzilstheoretischen Schriften dürfte die Epistola concilii pacis die größte Nachwirkung gehabt haben. Vermittelt durch -»Petrus von Ailly wurden manche ihrer Vorstellungen noch vom Tridentinum rezipiert. Die Schriften erbaulichen Inhalts wirkten auf indirek-

H e i n r i c h der M ö n c h

13

t e m W e g , vermittelt d u r c h Schüler u n d Übersetzer, v o r allem in d e u t s c h e n Beicht- und Meßerklärungen nach. Quellen Johannes Gerson, Opera. IV, Köln 1484, fol. 1 8 5 " - 2 2 4 r * (Tractatus de contractibus). - Magnum oecumenicum Constantiense concilium. Hg. v. Hermann v. der Hardt. II, 1, Frankfurt u. Leipzig 1 6 9 7 , 2 - 6 1 (Epistola concilii pacis). - Hermann v. der Hardt (Hg.), In discrepantiam manuscriptorum et editionum, exemplis ex seculo XIV. et XV. Henrici de Hassia, et Theodorici de Niem, Helmstedt 1 7 1 5 , 9 - 1 1 (Epistola concilii pacis cap. 1 - 2 ) . - H e n r i c i de Hassia de Langenstein Epistola pacis, Helmstedt 1 7 7 8 - 7 9 . - Hubert Pruckner, Stud. zu den astrologischen Sehr, des Heinrich v. Langenstein, 1933 ( S B W 1 4 ) . - Heinrich v. Langenstein, Erchantnuzz der sund. Hg. v. Rainer Rudolf, 1969 ( T S M A 22). - Thomas Hohmann, Heinrichs v. Langenstein .Unterscheidung der Geister' lat. u. dt., 1977 (Münchener Texte und Untersuchungen 63). - Der Sentenzenkommentar des Heinrich v. Langenstein. Hg. v. Rudolf Damerau, 1 - 4 , 1 9 7 9 - 8 0 (SGR 1 5 - 1 8 ) . Literatur Johannes Bauer, Heinrich v. Langenstein über die Vulgata des Hieronymus: Für Kirche u. Heimat, FS Franz Loidl, Wien/München 1 9 8 5 , 1 5 - 2 8 . — Otto Hartwig, Henricus de Langenstein dictus de Hassia. Zwei Untersuchungen über das Leben und die Schriften Heinrichs v. Langenstein, Marburg 1857. - Konrad Josef Heilig, Krit. Stud. zum Schrifttum der beiden Heinriche v. Hessen: R Q 40 (1932) 1 0 5 - 1 7 6 . - Thomas Hohmann, Dt. Texte aus der .Wiener Schule' als Quelle f. Michel Beheims rel. Gedichte: Z D A 107 (1978) 3 1 9 - 3 3 0 . - Ders., Dt. Texte unter dem Namen .Heinrich v. Langenstein': Würzburger Prosastudien II, 1975 (Medium Aevum 31) 2 1 9 - 2 3 6 . - Ders., Initienreg. der Werke Heinrichs v. Langenstein: Tr. 32 (1976) 3 9 9 - 4 2 6 (mit Nennung der Ausg. u. Drucke). — Ders./Georg Kreuzer, Art. Heinrich v. Langenstein: VerLex 2 4 (1981) 7 6 3 - 7 7 3 . - A u g u s t Kneer, Die Entstehung der konziliaren Theorie. Zur Gesch. des Schismas u. der kirchenpolitischen Schriftsteller Konrad v. Gelnhausen (gest. 1390) u. Heinrich v. Langenstein (gest. 1397), 1893 ( R Q SupplH. 1). Georg Kreuzer, Heinrich v. Langenstein. Stud. zur Biographie u. den Schismatraktaten unter bes. Berücksichtigung der Epistola pacis u. der Epistola concilii pacis, HabSchr. Phil. Augsburg 1982. Ders., Zu einem bislang unbeachteten Schismatraktat Heinrichs v. Langenstein: A H C 10 (1978) 1 3 1 - 1 4 4 . - Albert Lang, Die Katharinenpredigt Heinrichs v. Langenstein: D T 26 (1948) 1 2 3 - 1 5 9 , 233 - 250, 3 6 1 - 3 9 4 ; 27 (1949) 4 1 - 8 6 . - Justin Lang, Die Christologie bei Heinrich v. Langenstein, 1966 (FThSt 85). - Oskar Putzer, Konjunktionale Nebensätze u. äquivalente Strukturen in der Heinrich v. Langenstein zugeschriebenen .Erkenntnis der Sünde', 1979 (Sehr, zur dt. Sprache in Österreich 2). - Friedrich Wilhelm Emil Roth, Zur Bibliogr. des Henricus Hembuche de Hassia dictus de Langenstein, 1888 (ZfB Beih. 2). - Fredy Seifert, Heinrich v. Langenstein. Sein Leben, seine Schriften u. seine Quellen im besonderen Verhältnis zu Conrad v. Gelnhausen, Diss. Phil. Leipzig 1914. - Michael Shank, Academic Benefices and German Universities during the Great Schism: Three Letters from Johannes of Stralen, Arnold of Emelisse and Gerard of Kalkar to Henry of Langenstein, 1 3 8 7 - 1 3 8 8 : Cod. manuscripti 7 (1981) 3 3 - 4 7 . - Erich Sommerfeld, ökonomisches Denken in Deutschland vor der frühbürgerlichen Revolution: Der ,Tractatus de contractibus' des Heinrich v. Langenstein, Diss. Berlin(-Ost) 1969. - Nicholas H. Steneck, Science and Creation in the Middle Ages: Henry of Langenstein (d. 1397) on Genesis, Notre Dame (Indiana)/London 1976. Winfried Trusen, Spätmittelalterliche Jurisprudenz u. Wirtschaftsethik, darg. an Wiener Gutachten des 14. J h . , 1961 (VSWG.B 43). - Peter Wiesinger, Zur Autorschaft u. Entstehung des Heinrich v. Langenstein zugeschriebenen Traktats .Erkenntnis der Sünde': Z D P 97 (1978) 4 2 - 6 0 . G e o r g Kreuzer H e i n r i c h der M ö n c h W e d e r über die H e r k u n f t n o c h über die geistliche Bildung H e i n r i c h s liegen N a c h r i c h ten v o r . Die B e n e n n u n g als H e i n r i c h v. L a u s a n n e , unter d e r er häufig angeführt w i r d , s t a m m t aus d e m 18. J h . und bezieht sich nur a u f einen, und nicht einmal a u f einen d e r wichtigsten O r t e seines W i r k e n s . H i s t o r i s c h a u s z u m a c h e n ist, d a ß Heinrich als bereits e i n i g e r m a ß e n b e k a n n t e r W a n derprediger 1 1 1 6 in E r s c h e i n u n g tritt. E r k a m d a m a l s offenbar n a c h einer in den W ä l d e r n der N o r m a n d i e v e r b r a c h t e n Z e i t des Einsiedlerlebens n a c h L e M a n s , w o er freudige A u f n a h m e fand und e n t s p r e c h e n d den kirchenrechtlichen Vorschriften die Predigterlaubnis e r b a t und erhielt. W ä h r e n d d e r O r t s b i s c h o f Hildebert v o n L a v a r d i n sich a u f einer

H e i n r i c h der M ö n c h

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t e m W e g , vermittelt d u r c h Schüler u n d Übersetzer, v o r allem in d e u t s c h e n Beicht- und Meßerklärungen nach. Quellen Johannes Gerson, Opera. IV, Köln 1484, fol. 1 8 5 " - 2 2 4 r * (Tractatus de contractibus). - Magnum oecumenicum Constantiense concilium. Hg. v. Hermann v. der Hardt. II, 1, Frankfurt u. Leipzig 1 6 9 7 , 2 - 6 1 (Epistola concilii pacis). - Hermann v. der Hardt (Hg.), In discrepantiam manuscriptorum et editionum, exemplis ex seculo XIV. et XV. Henrici de Hassia, et Theodorici de Niem, Helmstedt 1 7 1 5 , 9 - 1 1 (Epistola concilii pacis cap. 1 - 2 ) . - H e n r i c i de Hassia de Langenstein Epistola pacis, Helmstedt 1 7 7 8 - 7 9 . - Hubert Pruckner, Stud. zu den astrologischen Sehr, des Heinrich v. Langenstein, 1933 ( S B W 1 4 ) . - Heinrich v. Langenstein, Erchantnuzz der sund. Hg. v. Rainer Rudolf, 1969 ( T S M A 22). - Thomas Hohmann, Heinrichs v. Langenstein .Unterscheidung der Geister' lat. u. dt., 1977 (Münchener Texte und Untersuchungen 63). - Der Sentenzenkommentar des Heinrich v. Langenstein. Hg. v. Rudolf Damerau, 1 - 4 , 1 9 7 9 - 8 0 (SGR 1 5 - 1 8 ) . Literatur Johannes Bauer, Heinrich v. Langenstein über die Vulgata des Hieronymus: Für Kirche u. Heimat, FS Franz Loidl, Wien/München 1 9 8 5 , 1 5 - 2 8 . — Otto Hartwig, Henricus de Langenstein dictus de Hassia. Zwei Untersuchungen über das Leben und die Schriften Heinrichs v. Langenstein, Marburg 1857. - Konrad Josef Heilig, Krit. Stud. zum Schrifttum der beiden Heinriche v. Hessen: R Q 40 (1932) 1 0 5 - 1 7 6 . - Thomas Hohmann, Dt. Texte aus der .Wiener Schule' als Quelle f. Michel Beheims rel. Gedichte: Z D A 107 (1978) 3 1 9 - 3 3 0 . - Ders., Dt. Texte unter dem Namen .Heinrich v. Langenstein': Würzburger Prosastudien II, 1975 (Medium Aevum 31) 2 1 9 - 2 3 6 . - Ders., Initienreg. der Werke Heinrichs v. Langenstein: Tr. 32 (1976) 3 9 9 - 4 2 6 (mit Nennung der Ausg. u. Drucke). — Ders./Georg Kreuzer, Art. Heinrich v. Langenstein: VerLex 2 4 (1981) 7 6 3 - 7 7 3 . - A u g u s t Kneer, Die Entstehung der konziliaren Theorie. Zur Gesch. des Schismas u. der kirchenpolitischen Schriftsteller Konrad v. Gelnhausen (gest. 1390) u. Heinrich v. Langenstein (gest. 1397), 1893 ( R Q SupplH. 1). Georg Kreuzer, Heinrich v. Langenstein. Stud. zur Biographie u. den Schismatraktaten unter bes. Berücksichtigung der Epistola pacis u. der Epistola concilii pacis, HabSchr. Phil. Augsburg 1982. Ders., Zu einem bislang unbeachteten Schismatraktat Heinrichs v. Langenstein: A H C 10 (1978) 1 3 1 - 1 4 4 . - Albert Lang, Die Katharinenpredigt Heinrichs v. Langenstein: D T 26 (1948) 1 2 3 - 1 5 9 , 233 - 250, 3 6 1 - 3 9 4 ; 27 (1949) 4 1 - 8 6 . - Justin Lang, Die Christologie bei Heinrich v. Langenstein, 1966 (FThSt 85). - Oskar Putzer, Konjunktionale Nebensätze u. äquivalente Strukturen in der Heinrich v. Langenstein zugeschriebenen .Erkenntnis der Sünde', 1979 (Sehr, zur dt. Sprache in Österreich 2). - Friedrich Wilhelm Emil Roth, Zur Bibliogr. des Henricus Hembuche de Hassia dictus de Langenstein, 1888 (ZfB Beih. 2). - Fredy Seifert, Heinrich v. Langenstein. Sein Leben, seine Schriften u. seine Quellen im besonderen Verhältnis zu Conrad v. Gelnhausen, Diss. Phil. Leipzig 1914. - Michael Shank, Academic Benefices and German Universities during the Great Schism: Three Letters from Johannes of Stralen, Arnold of Emelisse and Gerard of Kalkar to Henry of Langenstein, 1 3 8 7 - 1 3 8 8 : Cod. manuscripti 7 (1981) 3 3 - 4 7 . - Erich Sommerfeld, ökonomisches Denken in Deutschland vor der frühbürgerlichen Revolution: Der ,Tractatus de contractibus' des Heinrich v. Langenstein, Diss. Berlin(-Ost) 1969. - Nicholas H. Steneck, Science and Creation in the Middle Ages: Henry of Langenstein (d. 1397) on Genesis, Notre Dame (Indiana)/London 1976. Winfried Trusen, Spätmittelalterliche Jurisprudenz u. Wirtschaftsethik, darg. an Wiener Gutachten des 14. J h . , 1961 (VSWG.B 43). - Peter Wiesinger, Zur Autorschaft u. Entstehung des Heinrich v. Langenstein zugeschriebenen Traktats .Erkenntnis der Sünde': Z D P 97 (1978) 4 2 - 6 0 . G e o r g Kreuzer H e i n r i c h der M ö n c h W e d e r über die H e r k u n f t n o c h über die geistliche Bildung H e i n r i c h s liegen N a c h r i c h ten v o r . Die B e n e n n u n g als H e i n r i c h v. L a u s a n n e , unter d e r er häufig angeführt w i r d , s t a m m t aus d e m 18. J h . und bezieht sich nur a u f einen, und nicht einmal a u f einen d e r wichtigsten O r t e seines W i r k e n s . H i s t o r i s c h a u s z u m a c h e n ist, d a ß Heinrich als bereits e i n i g e r m a ß e n b e k a n n t e r W a n derprediger 1 1 1 6 in E r s c h e i n u n g tritt. E r k a m d a m a l s offenbar n a c h einer in den W ä l d e r n der N o r m a n d i e v e r b r a c h t e n Z e i t des Einsiedlerlebens n a c h L e M a n s , w o er freudige A u f n a h m e fand und e n t s p r e c h e n d den kirchenrechtlichen Vorschriften die Predigterlaubnis e r b a t und erhielt. W ä h r e n d d e r O r t s b i s c h o f Hildebert v o n L a v a r d i n sich a u f einer

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Heinrich der Mönch

Reise nach Italien befand, predigte Heinrich unter bewegter Anteilnahme der Gläubigen und brachte dabei eine umfassende Reihe von Verhaltensregeln zur Geltung, die auf eine bescheidene, demütige Lebensweise und eine moralische Erneuerung des bürgerlichen Lebens abzielten, zu der unter anderem auch die Befreiung der Prostituierten durch ihre gesellschaftliche Wiedereingliederung über eine Verehelichung gehörte. Mit dieser Wirksamkeit und dem Aufruf der Gläubigen zu vertieftem religiösen Leben weckte er Mißstimmung gegenüber der Geistlichkeit und insbesondere gegenüber den Kanonikern der Stadt. Von ihnen deshalb dringend heimgerufen, kehrte Bischof Hildebert von seiner Reise zurück, wies Heinrich öffentlich unter Aufweis seiner nur begrenzten Bildung zurecht und nötigte ihn, die Stadt zu verlassen. Es folgt eine Zeit, über die keine genauere Kunde vorliegt. Es scheint, daß Heinrich aus nicht weiter bekannten Gründen Unruhe in Lausanne hervorrief. Zugleich gewann offenbar seine Haltung an Schärfe, und zwar unter dem Eindruck der Lehre des -»Petrus von Bruis, den der Großabt von -»Cluny -»Petrus Venerabiiis (1122-1156) als den Lehrmeister seiner Ketzerei ansieht. Nach einem zwischenzeitlichen Aufenthalt in Bordeaux, wo er sich in eine den Erzbischof und die Kanoniker entzweiende Auseinandersetzung einmischte, fand er freundliche Aufnahme in Toulouse und wurde dort, wie aus einem Brief des Grafen Ildefons von St.-Gilles hervorgeht, zur zentralen Gestalt der Opposition gegen die örtliche kirchliche Amtsgewalt. Im übrigen hatte er zu dieser Zeit bereits einen ersten Zusammenstoß mit der offiziellen Kirche auf dem Konzil zu Pisa von 1134 hinter sich. Dabei hatte er seinen ketzerischen Vorstellungen abgeschworen; doch da er sich nie nach Citeaux begab, wo er eine Zeitlang in Klosterhaft verbringen sollte, war das wohl nur ein Mittel, schärferen Maßnahmen auszuweichen. Seine in Pisa abgeschworenen, in Toulouse aber wieder aufgenommenen Vorstellungen sind uns näher bekannt aus einem Streitgespräch mit dem Mönch Wilhelm (der nicht, wie des öfteren geschehen, mit -»Wilhelm von St. Thierry verwechselt werden darf). Sie laufen auf eine radikale Spiritualisierung des christlichen Glaubens und den damit einhergehenden Anspruch hinaus, sich eines solchen Glaubens schon im Augenblick des Empfangs ganz und vollkommen bewußt zu sein. Er lehnt daher die Vorstellung der Erbsünde ab, da die Sünde nicht über Adam und Eva hinaus übertragbar gewesen sei, sowie die Kindertaufe, weil den Kindern dafür das Verständnis abgehe. Verbunden damit ist eine Ablehnung des Gedankens einer geistlichen Amtsvollmacht des Klerus, die die Gültigkeit der -»Sakramente bestreitet, sofern sie von unwürdigen Priestern versehen werden. Auf jeden Fall betont und verficht Heinrich das -»Priestertum aller Gläubigen. Die Geistlichkeit, soweit sie moralisch würdig ist, hat in völliger -»Armut zu leben und besitzt nicht das ausschließliche Recht zur Verkündigung. Diese ist vielmehr eine allen Gläubigen aufgetragene Pflicht, und Heinrich findet in diesem Zusammenhang auch zu dem wohlbekannten Wort: „ M a n muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Act 5,29). Ebenfalls in theologischer Hinsicht ist noch erwähnenswert, daß in einer der Quellen über ihn die Lehre von der Gemeinschaft der Heiligen und daher auch jegliche Totenfürbitte angefochten wird. Dieser Lehren Heinrichs wegen begab sich -»Bernhard von Clairvaux an der Spitze eines regelrechten Missionsunternehmens und unterstützt durch die Anwesenheit und Autorität des Kardinalbischofs von Ostia Alberich, eines ehemaligen Cluniazensermönches, nach Südfrankreich. Heinrich versuchte zu fliehen, wurde aber eingeholt, in H a f t genommen und Alberich überstellt. Weiteres wissen wir von ihm nicht mehr. Als hervorstechende Persönlichkeit im religiösen Leben Frankreichs des 12. Jh. verkörpert Heinrich bestimmte Forderungen zeitgenössischer volkstümlicher Religiosität wie den Wunsch nach einer um die Gläubigen bemühten, der Armut ergebenen und ihrer seelsorgerlichen Aufgabe sich widmenden Geistlichkeit. Davon, daß er eine wirkliche Bewegung nach sich gezogen hätte, kann keine Rede sein, doch darf als sehr wahrscheinlich gelten, daß er einen mittelbaren Einfluß auf Valdes und die frühen -»Waldenser ausgeübt hat.

Heiding

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Literatur Adriaan H. Bredero, Henri de Lausanne, Un réformateur devenue hérétique: Pascua mediaevalia. Studies voor Jozef-Maria deSmet, Löwen 1 9 8 3 , 1 0 8 - 1 2 3 . - R a o u l Manselli, II monaco Enrico de la sua eresia: BISI65 (1953) 1 - 6 3 (Lit.).-Ders., Il secoloXII: religione popolare ed eresia, Rom 1983, 101-117 (Lit.).

Raoul Manselli f Heiding, Michael

(Michael

Sidonius)

(1506-1561)

In Langenenslingen bei Riedlingen (Sigmaringen) geboren, begann Heiding im Herbst 1525 d a s Studium in -»'Tübingen und w u r d e Weihnachten 1528 Magister artium. D a n a c h w a r er Lehrer und seit 1531 Rektor der Mainzer Domschule. N a c h der Priesterweihe erhielt er 1533 die Mainzer D o m p f a r r e i und entwickelte nun bis 1550 eine rege Seelsorgeu n d Predigttätigkeit. 1543 promovierte er hier zum D o k t o r der Theologie. Durch die Bestellung zum Weihbischof f ü r Mainz am 18. O k t o b e r 1537 kamen auf Heiding weitere Aufgaben zu. Am 6. Februar 1538 w u r d e er zum Titularbischof von Sidon ernannt (daher oft „Sidonius" genannt); die Konsekration erteilte ihm Kardinal Albrecht von Mainz a m 4. August 1538. 1540 beteiligte sich Heiding am Wormser Religionsgespräch ( - • R e formationsgespräche) . Als einziger deutscher Prälat n a h m er 1545 an der Eröffnung des Trienter Konzils (-»Tridentinum) teil, das er freilich auf Anweisung des neuen Erzbischofs Sebastian von Heusenstamm schon im J a n u a r 1546 wieder verlassen mußte. Auf Wunsch -»Karls V. n a h m Heiding am Regensburger Religionsgespräch 1546 und a m Reichstag 1547/48 in Augsburg (-»Reichstage der Reformationszeit) teil. Hier hielt er 15 Predigten über die Messe, die, noch 1548 gedruckt, heftige Reaktionen auf neugläubiger Seite hervorriefen. M i t Julius -»Pflug und anderen w a r er maßgeblich beteiligt an der Ausarbeitung des -»Interims. Auf der Mainzer Diözesansynode 1548 wie auch auf der Provinzialsynode 1549 spielte er eine einflußreiche Rolle. Auf kaiserliches Verlangen postulierte d a s Domkapitel von Merseburg am 28. M a i 1549 Heiding einstimmig zum neuen Bischof des weithin evangelischen Bistums. Die päpstliche Bestätigung, bedingt durch den Tod -»Pauls III., verzögerte sich bis M ä r z 1550, so d a ß Heiding sein Amt erst im Dezember 1550 antreten konnte. Seine Lage war recht schwierig. Dem Kapitel mußte er versprechen, in Sachen der Religion keine Änderung vorzunehmen. Durch zahlreiche Predigten, Wiedereinführung des katholischen Kultes an der Domkirche und Anstellung katholischer Geistlicher bemühte er sich vorsichtig, wenn auch vergeblich, um eine Rekatholisierung; selbst das Interim k o n n t e er nicht durchsetzen. Erschwerend k a m seine häufige Abwesenheit durch Teilnahme an Reichstagen hinzu. Auf kaiserlichen Wunsch beteiligte er sich 1557 neben Julius Pflug und Petrus —»Canisius a m Wormser Religionsgespräch und verwirrte durch seine Hinweise auf innerevangelische Uneinigkeit die Gegenpartei. 1558 ernannte der Kaiser Heiding zum Richter am Wormser Reichskammergericht und 1561 zum Vorsitzenden des Reichshofrats in Wien. D o r t starb Heiding am 30. September 1561; er w u r d e im Stephansdom begraben. Michael Heiding, einer „der bedeutendsten u n d geistig selbständigsten Seelsorger und Bischöfe dieser J a h r e " (Feifei, Weihbischof Heiding 6), gehörte zur Mainzer Vermittlungspartei. Die Schwächen seiner Kirche sehend, bemühte er sich um Reformen und griff, o h n e seinen katholischen Standpunkt zu verleugnen, ihm richtig erscheinende reformatorische Anliegen auf. Bei hoher Wertschätzung der Bibel und der Kirchenväter waren ihm die rechte Verkündigung des Wortes Gottes und die religiöse Unterweisung des Volkes besondere Anliegen. Neben vielen Einzelpredigten und Predigtzyklen über einzelne Bücher der H l . Schrift (allein 128 Predigten über die Sprüche Salomos) wurden von besonderer Bedeutung seine 1 5 4 2 - 4 4 im Mainzer D o m gehaltenen Katechismuspredigten. Auf Wunsch des Erzbischofs Sebastian als Christliche Underweißung 1551 gedruckt, w u r d e dieser „ C a t e c h i s m u s " zu einer Art H a n d b u c h f ü r die Pfarrer jener Tage, nicht nur in M a i n z , sondern auf Empfehlung vieler Synoden auch d a r ü b e r hinaus. Außerdem er-

Heiding

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Literatur Adriaan H. Bredero, Henri de Lausanne, Un réformateur devenue hérétique: Pascua mediaevalia. Studies voor Jozef-Maria deSmet, Löwen 1 9 8 3 , 1 0 8 - 1 2 3 . - R a o u l Manselli, II monaco Enrico de la sua eresia: BISI65 (1953) 1 - 6 3 (Lit.).-Ders., Il secoloXII: religione popolare ed eresia, Rom 1983, 101-117 (Lit.).

Raoul Manselli f Heiding, Michael

(Michael

Sidonius)

(1506-1561)

In Langenenslingen bei Riedlingen (Sigmaringen) geboren, begann Heiding im Herbst 1525 d a s Studium in -»'Tübingen und w u r d e Weihnachten 1528 Magister artium. D a n a c h w a r er Lehrer und seit 1531 Rektor der Mainzer Domschule. N a c h der Priesterweihe erhielt er 1533 die Mainzer D o m p f a r r e i und entwickelte nun bis 1550 eine rege Seelsorgeu n d Predigttätigkeit. 1543 promovierte er hier zum D o k t o r der Theologie. Durch die Bestellung zum Weihbischof f ü r Mainz am 18. O k t o b e r 1537 kamen auf Heiding weitere Aufgaben zu. Am 6. Februar 1538 w u r d e er zum Titularbischof von Sidon ernannt (daher oft „Sidonius" genannt); die Konsekration erteilte ihm Kardinal Albrecht von Mainz a m 4. August 1538. 1540 beteiligte sich Heiding am Wormser Religionsgespräch ( - • R e formationsgespräche) . Als einziger deutscher Prälat n a h m er 1545 an der Eröffnung des Trienter Konzils (-»Tridentinum) teil, das er freilich auf Anweisung des neuen Erzbischofs Sebastian von Heusenstamm schon im J a n u a r 1546 wieder verlassen mußte. Auf Wunsch -»Karls V. n a h m Heiding am Regensburger Religionsgespräch 1546 und a m Reichstag 1547/48 in Augsburg (-»Reichstage der Reformationszeit) teil. Hier hielt er 15 Predigten über die Messe, die, noch 1548 gedruckt, heftige Reaktionen auf neugläubiger Seite hervorriefen. M i t Julius -»Pflug und anderen w a r er maßgeblich beteiligt an der Ausarbeitung des -»Interims. Auf der Mainzer Diözesansynode 1548 wie auch auf der Provinzialsynode 1549 spielte er eine einflußreiche Rolle. Auf kaiserliches Verlangen postulierte d a s Domkapitel von Merseburg am 28. M a i 1549 Heiding einstimmig zum neuen Bischof des weithin evangelischen Bistums. Die päpstliche Bestätigung, bedingt durch den Tod -»Pauls III., verzögerte sich bis M ä r z 1550, so d a ß Heiding sein Amt erst im Dezember 1550 antreten konnte. Seine Lage war recht schwierig. Dem Kapitel mußte er versprechen, in Sachen der Religion keine Änderung vorzunehmen. Durch zahlreiche Predigten, Wiedereinführung des katholischen Kultes an der Domkirche und Anstellung katholischer Geistlicher bemühte er sich vorsichtig, wenn auch vergeblich, um eine Rekatholisierung; selbst das Interim k o n n t e er nicht durchsetzen. Erschwerend k a m seine häufige Abwesenheit durch Teilnahme an Reichstagen hinzu. Auf kaiserlichen Wunsch beteiligte er sich 1557 neben Julius Pflug und Petrus —»Canisius a m Wormser Religionsgespräch und verwirrte durch seine Hinweise auf innerevangelische Uneinigkeit die Gegenpartei. 1558 ernannte der Kaiser Heiding zum Richter am Wormser Reichskammergericht und 1561 zum Vorsitzenden des Reichshofrats in Wien. D o r t starb Heiding am 30. September 1561; er w u r d e im Stephansdom begraben. Michael Heiding, einer „der bedeutendsten u n d geistig selbständigsten Seelsorger und Bischöfe dieser J a h r e " (Feifei, Weihbischof Heiding 6), gehörte zur Mainzer Vermittlungspartei. Die Schwächen seiner Kirche sehend, bemühte er sich um Reformen und griff, o h n e seinen katholischen Standpunkt zu verleugnen, ihm richtig erscheinende reformatorische Anliegen auf. Bei hoher Wertschätzung der Bibel und der Kirchenväter waren ihm die rechte Verkündigung des Wortes Gottes und die religiöse Unterweisung des Volkes besondere Anliegen. Neben vielen Einzelpredigten und Predigtzyklen über einzelne Bücher der H l . Schrift (allein 128 Predigten über die Sprüche Salomos) wurden von besonderer Bedeutung seine 1 5 4 2 - 4 4 im Mainzer D o m gehaltenen Katechismuspredigten. Auf Wunsch des Erzbischofs Sebastian als Christliche Underweißung 1551 gedruckt, w u r d e dieser „ C a t e c h i s m u s " zu einer Art H a n d b u c h f ü r die Pfarrer jener Tage, nicht nur in M a i n z , sondern auf Empfehlung vieler Synoden auch d a r ü b e r hinaus. Außerdem er-

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Heliand

schienen n o c h sein „kleiner K a t e c h i s m u s " ( 1 5 4 9 lateinisch, 1 5 5 5 deutsch) und die tio ad pietatem

Christianam

lnstitu-

als A n h a n g zu den Beschlüssen der Provinzialsynode. F r e i

v o n a n t i r e f o r m a t o r i s c h e r P o l e m i k w o l l t e er den G l a u b e n der katholischen K i r c h e d a r s t e l len als Hilfe zur Vertiefung christlichen L e b e n s . Seine T ä t i g k e i t sollte nicht zuletzt d e r E r h a l t u n g b z w . der W i e d e r h e r s t e l l u n g d e r Einheit d e r K i r c h e dienen. Quellen Werkverzeichnis: Erich Feifei, Grundzüge (s. u.) 258 f. - Kath. Kontroverstheologen u. Reformer des 16. J h . Ein Werkverzeichnis, hg. v. Wilbirgis Klaiber, 1978 ( R S T 116), 1 3 6 - 1 3 8 . A R C E G , Regensburg, II 1960, III 1968, IV 1971, V 1973, VI 1974. - Anton Ph. Brück, Drei Briefe Heldings vom Tridentinum: A M R h K G 2 (1950) 2 1 9 - 2 2 6 . - CT, Freiburg, I 1901, IV 1904, VII/3 1980, X 1916, X I 1 9 2 7 . - August v. Druffel, Monumenta Tridentina, München 1899. - Julius Pflug, Correspondance, hg. v. Jacques V. Pollet, Leiden, II 1973, III 1977, IV 1979. - Franz Schräder, Die Beschickung des Konzils v. Trient durch die Diözesen Magdeburg, Halberstadt, Merseburg, Naumburg u. Meißen. Ein Briefwechsel aus den Jahren 1551 u. 1552: A H C 2 (1970) 3 0 3 - 3 5 2 . Literatur Georg Biundo, Art. Michael Heiding: R G G 3 3 (1959) 207. - Anton Ph. Brück, Das Erzstift Mainz u. das Tridentinum: W K T 2 (1953) 1 9 2 - 2 4 3 . - Ders., Art. Heiding (Sidonius) Michael: N D B 8 (1969) 486 f. - Franz Eisele, Die Bischöfe aus Hohenzollern: Hohenzollerische Jahreshefte 12 (1952) 9 - 2 5 . — Erich Feifei, Grundzüge einer Theol. des Gottesdienstes. Motive u. Konzeption der Glaubensverkündigung Michael Heldings ( 1 5 0 6 - 1 5 6 1 ) als Ausdruck einer kathol. „Reformation", 1960 (UTS 15) (Lit.). - Ders., Der Mainzer Weihbischof Michael Heiding ( 1 5 0 6 - 1 5 6 1 ) , Wiesbaden 1962. - Josef Hundhausen, Art. Michael Sidonius: W W K L 2 8 (1893) 1 4 9 3 - 1 4 9 8 . - Hubert Jedin, Die dt. Teilnehmer am Trienter Konzil: T h Q 122 (1941) 2 3 8 - 2 6 1 . - D e r s . , Gesch. des Konzils von Trient, Freiburg, I 1949 J 1 9 5 1 , II 1957, III 1970. - Gustav Kawerau, Art. Heiding, Michael: R E 3 7 (1899) 6 1 0 - 6 1 3 (Lit.). - Ludwig Lenhart, Die Mainzer Synoden von 1548 u. 1549 im Licht der im Schloß-Archiv Vollrads/Rhg. aufgefundenen Protokolle: A M R h K G 10 (1958) 6 7 - 1 1 1 . - Christoph Moufang, Die Mainzer Katechismen v. der Erfindung der Buchdruckerkunst bis zum Ende des 18. Jh., Mainz 1877. - Ludwig Pastor, Die kirchl. Reunionsbestrebungen während der Regierung Karls V., Freiburg 1879. - Nikolaus Paulus, Michael Heiding: Kath 74/11 (1894) 4 1 0 - 4 3 0 , 4 8 1 - 5 0 2 . - Heribert Raab, Art. Heiding, Michael: L T h K 2 5 (1960) 207. - Horst Rabe, Reichsbund u. Interim. Die Verfassungs- u. Religionspolitik Karls V. u. der Reichstag v. Augsburg 1547/48, Köln 1971. - Heribert Smolinsky, Michael Heiding ( 1 5 0 6 - 1 5 6 1 ) : Kath. Theologen der Reformationszeit 2, hg. v. Erwin Iserloh, 1985 (KLK 45), 1 2 4 - 1 3 6 (Lit.). - Paul Tschackert, Art. Sidonius, kath. Bischof v. Merseburg: ADB 34 (1892) 1 6 4 - 1 6 6 . - L u d w i g A. Veit, Kirche u. Kirchenreform in der Erzdiözese Mainz im Zeitalter der Glaubensspaltung u. der beginnenden tridentinischen Reform, Freiburg 1920. E r n s t Reiter

Heliand 1. Uberlieferung teratur S. 19)

2. Verfasser

3. Vorlage

4. Gehalt und Form (Bibliographie/Ausgabe/Li-

Altsächsische p o e t i s c h e Darstellung des Lebens J e s u in c a . 6 0 0 0 Stabreimversen. D e r Titel Heliand,

d e r die E i n d e u t s c h u n g des N a m e n s J e s u s ' (über lat. salvator,

Heiland)

d u r c h d e n D i c h t e r aufgreift, s t a m m t v o m ersten H g . ( J o h a n n A n d r e a s Schmeller, 1 8 3 0 ) , w ä h r e n d die H s . C , die als einzige den Beginn des E p o s enthält, den präziseren (und anspruchsvolleren) T i t e l Quattuor 1.

evangelium

( D i a t e s s a r o n ) bietet.

Überlieferung

Der Text ist in 2 Hss. (C = London, Brit. Libr., Cott. Cal. A VII, 165 Bll., nach 950 im Südwesten Englands; M = München, Cgm 2 5 , 7 4 + 1/2 Bll., ca. 1/4 verloren, um 850 in Korvey geschrieben), 2 Frgm. (P = Prag, jetzt: Berlin, Mus. f. dt. Gesch., R 56/2573, Einzelbl., um 850; S = Straubing, z . Z . BSB München, o. Sign., inneres u. äußeres (2/3) Doppelbl. einer Lage, um 850) und 1 Exzerpt in einer ehem. Mainzer Hs. (V = Vatikanstadt, Bibl. Vat., Cod. Pal. Lat. 1 4 4 7 , 8 0 Vv. Beginn d. Bergpredigt, um 860) fast vollständig überliefert. Eine größere Lücke bleibt lediglich zwischen Emmausgang (C = V. 5968) und Himmelfahrt (M = V. 5969ff.). Das Original muß also vollendet gewesen und -

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Heliand

schienen n o c h sein „kleiner K a t e c h i s m u s " ( 1 5 4 9 lateinisch, 1 5 5 5 deutsch) und die tio ad pietatem

Christianam

lnstitu-

als A n h a n g zu den Beschlüssen der Provinzialsynode. F r e i

v o n a n t i r e f o r m a t o r i s c h e r P o l e m i k w o l l t e er den G l a u b e n der katholischen K i r c h e d a r s t e l len als Hilfe zur Vertiefung christlichen L e b e n s . Seine T ä t i g k e i t sollte nicht zuletzt d e r E r h a l t u n g b z w . der W i e d e r h e r s t e l l u n g d e r Einheit d e r K i r c h e dienen. Quellen Werkverzeichnis: Erich Feifei, Grundzüge (s. u.) 258 f. - Kath. Kontroverstheologen u. Reformer des 16. J h . Ein Werkverzeichnis, hg. v. Wilbirgis Klaiber, 1978 ( R S T 116), 1 3 6 - 1 3 8 . A R C E G , Regensburg, II 1960, III 1968, IV 1971, V 1973, VI 1974. - Anton Ph. Brück, Drei Briefe Heldings vom Tridentinum: A M R h K G 2 (1950) 2 1 9 - 2 2 6 . - CT, Freiburg, I 1901, IV 1904, VII/3 1980, X 1916, X I 1 9 2 7 . - August v. Druffel, Monumenta Tridentina, München 1899. - Julius Pflug, Correspondance, hg. v. Jacques V. Pollet, Leiden, II 1973, III 1977, IV 1979. - Franz Schräder, Die Beschickung des Konzils v. Trient durch die Diözesen Magdeburg, Halberstadt, Merseburg, Naumburg u. Meißen. Ein Briefwechsel aus den Jahren 1551 u. 1552: A H C 2 (1970) 3 0 3 - 3 5 2 . Literatur Georg Biundo, Art. Michael Heiding: R G G 3 3 (1959) 207. - Anton Ph. Brück, Das Erzstift Mainz u. das Tridentinum: W K T 2 (1953) 1 9 2 - 2 4 3 . - Ders., Art. Heiding (Sidonius) Michael: N D B 8 (1969) 486 f. - Franz Eisele, Die Bischöfe aus Hohenzollern: Hohenzollerische Jahreshefte 12 (1952) 9 - 2 5 . — Erich Feifei, Grundzüge einer Theol. des Gottesdienstes. Motive u. Konzeption der Glaubensverkündigung Michael Heldings ( 1 5 0 6 - 1 5 6 1 ) als Ausdruck einer kathol. „Reformation", 1960 (UTS 15) (Lit.). - Ders., Der Mainzer Weihbischof Michael Heiding ( 1 5 0 6 - 1 5 6 1 ) , Wiesbaden 1962. - Josef Hundhausen, Art. Michael Sidonius: W W K L 2 8 (1893) 1 4 9 3 - 1 4 9 8 . - Hubert Jedin, Die dt. Teilnehmer am Trienter Konzil: T h Q 122 (1941) 2 3 8 - 2 6 1 . - D e r s . , Gesch. des Konzils von Trient, Freiburg, I 1949 J 1 9 5 1 , II 1957, III 1970. - Gustav Kawerau, Art. Heiding, Michael: R E 3 7 (1899) 6 1 0 - 6 1 3 (Lit.). - Ludwig Lenhart, Die Mainzer Synoden von 1548 u. 1549 im Licht der im Schloß-Archiv Vollrads/Rhg. aufgefundenen Protokolle: A M R h K G 10 (1958) 6 7 - 1 1 1 . - Christoph Moufang, Die Mainzer Katechismen v. der Erfindung der Buchdruckerkunst bis zum Ende des 18. Jh., Mainz 1877. - Ludwig Pastor, Die kirchl. Reunionsbestrebungen während der Regierung Karls V., Freiburg 1879. - Nikolaus Paulus, Michael Heiding: Kath 74/11 (1894) 4 1 0 - 4 3 0 , 4 8 1 - 5 0 2 . - Heribert Raab, Art. Heiding, Michael: L T h K 2 5 (1960) 207. - Horst Rabe, Reichsbund u. Interim. Die Verfassungs- u. Religionspolitik Karls V. u. der Reichstag v. Augsburg 1547/48, Köln 1971. - Heribert Smolinsky, Michael Heiding ( 1 5 0 6 - 1 5 6 1 ) : Kath. Theologen der Reformationszeit 2, hg. v. Erwin Iserloh, 1985 (KLK 45), 1 2 4 - 1 3 6 (Lit.). - Paul Tschackert, Art. Sidonius, kath. Bischof v. Merseburg: ADB 34 (1892) 1 6 4 - 1 6 6 . - L u d w i g A. Veit, Kirche u. Kirchenreform in der Erzdiözese Mainz im Zeitalter der Glaubensspaltung u. der beginnenden tridentinischen Reform, Freiburg 1920. E r n s t Reiter

Heliand 1. Uberlieferung teratur S. 19)

2. Verfasser

3. Vorlage

4. Gehalt und Form (Bibliographie/Ausgabe/Li-

Altsächsische p o e t i s c h e Darstellung des Lebens J e s u in c a . 6 0 0 0 Stabreimversen. D e r Titel Heliand,

d e r die E i n d e u t s c h u n g des N a m e n s J e s u s ' (über lat. salvator,

Heiland)

d u r c h d e n D i c h t e r aufgreift, s t a m m t v o m ersten H g . ( J o h a n n A n d r e a s Schmeller, 1 8 3 0 ) , w ä h r e n d die H s . C , die als einzige den Beginn des E p o s enthält, den präziseren (und anspruchsvolleren) T i t e l Quattuor 1.

evangelium

( D i a t e s s a r o n ) bietet.

Überlieferung

Der Text ist in 2 Hss. (C = London, Brit. Libr., Cott. Cal. A VII, 165 Bll., nach 950 im Südwesten Englands; M = München, Cgm 2 5 , 7 4 + 1/2 Bll., ca. 1/4 verloren, um 850 in Korvey geschrieben), 2 Frgm. (P = Prag, jetzt: Berlin, Mus. f. dt. Gesch., R 56/2573, Einzelbl., um 850; S = Straubing, z . Z . BSB München, o. Sign., inneres u. äußeres (2/3) Doppelbl. einer Lage, um 850) und 1 Exzerpt in einer ehem. Mainzer Hs. (V = Vatikanstadt, Bibl. Vat., Cod. Pal. Lat. 1 4 4 7 , 8 0 Vv. Beginn d. Bergpredigt, um 860) fast vollständig überliefert. Eine größere Lücke bleibt lediglich zwischen Emmausgang (C = V. 5968) und Himmelfahrt (M = V. 5969ff.). Das Original muß also vollendet gewesen und -

Hcliand

17

angesichts der frühen hsl. Überlieferung, die sich z. T. bereits weit vom Archetyp entfernt, — wohl vor 840 abgefaßt worden sein.

2. Verfasser Nach der nur abschriftl. überkommenen lat. Praefatio, die einer seit dem 16. Jh. verschollenen Heliand-Hs. voranstand und 1562 von Matthias -»Flacius Illyricus veröffentlicht wurde, beauftragte Ludouicus piissimus Augustus einen schon berühmten sächsischen Sänger damit, das (Alte und) Neue Testament poetice in die Volkssprache zu übertragen, um es auch den illiterati zugänglich zu machen. Bisher ist es nicht gelungen, den Dichter zu identifizieren, doch weist ihn die Art seiner Quellenbearbeitung als einen gebildeten Geistlichen aus, der souverän über das in Bibelkommentaren und Handbüchern seiner Zeit vermittelte Wissen verfügt. 3. Vorlage Als Textgrundlage benutzte er nicht die Einzelevangelien, sondern das unum ex quattuor evangelium (Victor v. Capua) —»Tatians. Demnach kann der Heliand nur an einem Ort entstanden sein, der vor 840 eine Tatian-Hs. mit den erst von Victor der Harmonie beigefügten Randkonkordanzen besaß und zugleich diesem (nichtkanonischen) Evangelium' besondere Wertschätzung entgegenbrachte. Beides ist bislang nur für Fulda nachweisbar. Hier lag seit 754 als ,Reliquie' des -»Bonifatius das Original des Victor-Cod. (F = Bonif. I) aus d. J. 546/47, hier war dessen .Evangelium' bereits um 830 kopiert, ins Althochdeutsche übersetzt und zu einer Bilingue zusammengefügt worden (G = St. Gallen, Hs. 56). Da die Entstehung von G in Fulda jetzt gesichert ist und es zudem eine von F unabhängige altlateinische Tatian-Rezension, auf die man G und den Heliand zurückführen wollte, nicht gegeben hat, ist der noch jüngst in der Heimatfrage des Heliand vertretene Agnostizismus unberechtigt. 4. Gehalt und Form Die Umsetzung der narratio dieses lateinischen quattuor evangelium in ein stabreimendes Epos mit seinen gattungsspezifischen, in heimischer Tradition entwickelten Stilmerkmalen und in eine Dichtersprache, die ihren Wort-, Bild- und Formelschatz im weltlichen Heldenlied ausgebildet hatte, wurde lange als eine von kriegerischem Geist' getragene, bewußte ,Germanisierung' der christlichen Botschaft interpretiert (—•Germanisierung des Christentums). Die jüngere Heliand-Forschung hat das hier liegende, nur scheinbar exzeptionelle Problem in die Tradition der kirchlichen Akkommodationsmethode einzuordnen versucht und auf ein vielfach analoges Vorgehen bereits des Hellenisten Lukas bei der Abfassung seines Evangeliums hingewiesen. Die Hereinnahme der Geschichte Jesu in die geographisch, kulturell und sprachlich-geistig von heimisch-germanischen Vorstellungen geprägte Umwelt des Dichters und seines adligen Publikums (,Inkulturation') ist legitim; die Steigerung der humilitas des biblischen Berichts ins ,Festliche, Leuchtende und Edle' resultiert aus den Gesetzen der epischen Darstellung. Dennoch wird nirgendwo zentral christliches Denken durch Abstriche oder Konzessionen verfälscht. Insbesondere das Christusbild stimmt in allen wesentlichen Punkten, selbst in spezifischen Zügen (Betonung der Gottheit und Freiwilligkeit in allem Tun und Leiden Jesu), mit der karolingischen Theologie überein. Das Kind in der Krippe ist der präexistente Gottessohn, der mächtigste König, der Herr der Welt, der ,aus Demut' (V. 376) Mensch wird, um alle, die aufgrund seiner Machterweise an ihn glauben und dem Licht seiner Lehre folgen, der Finsternis der Sünde und dem ,Tal des Todes' (V. 3611) zu entreißen. Entsprechend der zeitgenössischen Erlösungs- und Gnadenlehre, die die Folge der Ursünde primär in der caecitas mentis sah und deshalb der illuminatio durch die evangelica doctrina besondere soteriologische Bedeutung zusprach, bildet die Verklärung auf dem ,Berg' die strahlende Mitte der Dichtung (F. 38), wird an der Blindenheilung in allegorischer Deutung das Wesen der Heilsgeschichte entfaltet (F. 44) und nimmt die

18

Heliand

-•Bergpredigt den breitesten Raum ein (F. 16-23). Ihr Ethos wird vom .besten der Lehrer', dem .Friedenskind Gottes' (20mal als Name für Christus), kompromißlos verkündigt, auch und gerade, wo es ererbten Anschauungen zuwiderläuft (Demut, Feindesliebe, Ertragen von Unrecht). Andererseits werden positive Wertvorstellungen der germanischen Welt (Sippengedanke, Gefolgschaftstreue) nicht einfach eliminiert, sondern bisweilen zur Verdeutlichung des Neuen herangezogen und dadurch zugleich im Sinne der christlichen Botschaft erweitert (Gebot der Nächstenliebe) und vertieft (Glaube als unaufkündbare persönliche Treue). Selbst w o der Dichter dabei genötigt war, auf Kernwörter aus germanischen Bereichen zurückzugreifen, ist es ihm gelungen, sie mit Hilfe vorwiegend stilistisch-formaler Mittel so unter den von ihm intendierten neuen Sinngehalt zu rücken, daß ursprünglich durch sie evozierte Bedeutungen und Vorstellungen zurücktreten oder sogar direkt verwandelt werden. Mit Recht darf heute gesagt werden, daß die Dichtung als Ganzes „bis in die Sinngebung des Einzelwortes hinein Ausdruck eines christlich religiösen, von gelehrt theologischen Vorstellungen geformten Erlebnisses ist" (M. Ohly-Steimer, ZDA 86 [1955/56] 86). Nach der Praefatio hat der Dichter, der unbestritten als .Meister der Sprache' und .begnadeter Stilist' gilt, sein episches Quattuor evangelium in .Fitten' (Abschnitte) eingeteilt und jeder einzelnen ein capitulum (Inhaltsangabe) beigegeben, dem eigentlichen Text also eine capitula-Reihe vorangestellt. Da diese dem Leser die inventio der gesta ermöglichen sollte, mußte sie durchnumeriert und der zugehörige Abschnitt im Textcorpus mit der entsprechenden Zahl gekennzeichnet sein, wie dies in der Tatian-Vorlage und allen Evangeliaren der Fall war. Die Angaben der Praefatio setzen also eine Fitten Zählung voraus, die als solche allerdings nur in der Hs. C überliefert ist (II-LXXI) und mit dem Emmausgang abbricht. Diese Gliederung in 71 ( + 4 verlorene?) Fitten hat zu dem Versuch geführt, den Heliand als ein wohldurchdachtes Formkunstwerk zu erweisen, in dem zahlenkompositorische und -symbolische Elemente eine gehalterschließende Funktion haben und sich ,theologischer Sinn als tektonische Form' manifestiert. Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß innerhalb der linearen Abfolge der capitula die Fitten 3 2 - 4 4 sowohl nach ihrer eignen (6-1-6) als auch nach der Anzahl ihrer Verse (501-48-501: Abgrenzung nach Hs. C) sich völlig symmetrisch um die 38. Fitte (Verklärung) als ihre äußere und innere Mitte lagern. Der 13er-Abschnitt mit genau 1050 Versen enthält die christologischen (verus homo - verus deus), soteriologischen (caecitas - illuminatio) und ekklesiologischen (Einsetzung des Petrusamtes) Kerngedanken des Heliand. Die 13er-,Gestalt' bedeutet Christus und die Zwölf als fundamentum ecclesiae. Da diesen 13 Fitten 31 vorangehen, könnten ihnen aus Gründen der Symmetrie (31-13-31) ebensoviele gefolgt sein. Das Gesamtwerk bildete dann eine dreiteilige Zentralkomposition, in der die 2mal 31 Flügelfitten die figura des Gottesvolkes .bedeuten' würden. Die Tatsache, daß auch die Tatianhandschrift G die Transfiguration exakt in die Mitte ihrer durchnumerierten 181 Kapitel (90-1-90) stellt, bildet ein formales Analogon, das auf den Bauwillen des Dichters eingewirkt haben könnte. Unter anderem Aspekt zeigt das gleiche altsächsische Quattuor evangelium eine mehr statische Aufteilung in 4,Bücher' mit den Fitten 1 - 1 2 , 1 3 - 3 1 , 3 2 - 5 3 , 5 4 - 7 5 ( ? ) . Sie lassen sich zu einer simultan anschaubaren figura crucis zusammenschließen, in der die beiden ersten,Bücher' mit ihren 31 Fitten den senkrechten und die beiden letzten mit je 22 Fitten den waagerechten Kreuzesbalken bilden. Im Schnittpunkt steht dann die 16. Fitte, die die Quintessenz der 4 Evangelien und der 4,Bücher'des Quattuor evangelium enthält, nämlich die 8 Seligpreisungen der 8 Fitten umfassenden Bergpredigt. Die heftige Diskussion um diese neue Sicht ist keinesfalls abgeschlossen. Auch Skeptiker bestätigen, d a ß der Heliand hier ,als christlich-kirchlich tief fundierte Dichtung wieder voll ernstgenommen' wird (M. Wehrli). Und selbst anfänglich prinzipielle Gegner halten es jetzt immerhin für möglich, ja für einen .ansprechenden Gedanken', den Heliand ,als eine Zentralkomposition anzusehen', deren numerische Mitte die 38. Fitte mit der Verklärung Christi als .vorweggenommene Uberwindung des Leidens' bildet (Tae-

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Hellenismus I

ger). Wenn auch mehr als 150 Jahre nach der editio princeps kaum eine der zahlreichen und erregenden Fragen, die Werk und Verfasser der Forschung stellen, gelöst zu sein scheint: Fest steht, daß das altsächsische Quattuor evangelium, das wir Heliand nennen, die großartigste christliche Dichtung des 9. Jh. ist. Bibliographie J. Belkin/J. Meier, Bibliogr. zu Otfrid v. Weißenburg u. zur altsächsischen Bibeldichtung (Heliand und Genesis), Berlin 1975 (Bibliogr. z. dt. Lit. d. MA, H . 7); nach sachlichen Gesichtspunkten. Neue

Ausgabe

Heliand und Genesis, hg. v. O. Behaghel; 9. Aufl. bearb. v. B. Taeger, 1984 (ATB 4). Literatur Johannes Rathofer, Der Heliand. Theolog. Sinn als tektonische Form, Köln 1962. - Ders., Z u m Aufbau des Heliand: ZDA 93 (1964) 239-272 = WdF 321 (1973) 344-399. - Ders., Z u r Heimatfrage des Ahd. Tatian, A l O N : Sez. Germ. 14 (1971) 7 - 1 0 4 . - Ders., Realien zur altsächsischen Lit.: Nd.Wort 16 (1976) 4 - 6 2 . - Bernhard Sowinski, Darstellungsstil u. Sprachstil im Heliand, Köln 1985 (Kölner Germ. Stud. 21). - Burkhard Taeger, Zahlensymbolik bei H r a b a n , bei Hincmar - u. im Heliand? München 1970 (MTU 30). - Ders., Art. .Heliand': VerLex 3 (1981) 958-971. - M . Wehrli, Lit. im dt. MA, Stuttgart 1984, 229 f.

Johannes Rathofer

Hellenisierung des Christentums -»Antike und Christentum Hellenismus I. Begriff II. Altes Testament III. Neues Testament

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I. Begriff Der Begriff Hellenismus hat seine eigene Wissenschaftsgeschichte, seit J. J. Scaliger (1540-1609) die „Hellenisten" von Act 6,1 als Juden identifizierte, die das Griechische als Synagogensprache verwendeten (ludaei Craecis Bibliis in Synagogis utentes [Animadversiones in Chronologica Eusebii, 1606, p. 134 a - b ] ) und seit C. Salmasius (1588-1653) die Sprache der griechischen Bibel als lingua hellenistica bezeichnete (Funus Linguae hellenisticae, 1643; dazu R. Laqueur, Hellenismus, 1925; A. Momigliano, Essays in Ancient and Modern Historiography, 1977,307—323). Ausgehend von J . G . - • H e r d e r und J . G . - » H a m a n n , erhob J . G . Droysen den Hellenismus zum geschichtswissenschaftlichen Epochenbegriff. Droysen verstand unter Hellenismus vor allem die Mischung von Hellenentum und Orient, die als Vorbereitung für das Christentum diente. J. Kaerst betonte dagegen die geistesgeschichtliche Ausbreitung der griechischen Kultur im Mittelmeerraum. R. Laqueur sah im Hellenismus die Umwandlung des ethnisch-nationalen Griechentums in eine universale Kultur und Zivilisation. Nach ihm transzendiert der hellenistische Mensch die Traditionen seines Volkes; er ist in erster Linie Träger einer als fortschrittlich geltenden Weltkultur. Als Programm enthält der Hellenismus das Potential sowohl für neue kulturelle Schöpfungen als auch für tiefgreifende Konflikte mit den nationalen Kulturen. Im 20. Jh. wandte sich die Forschung den Spezialgebieten zu. Mit den wirtschaftlichen und sozialgeschichtlichen Aspekten befaßt sich das Werk von M . Rostovtzeff. Das Thema der Kulturgeschichte wird behandelt in dem materialreichen, aber problematischen Werk von C. Schneider (s. die Rez. von O . Murray: C1R 19 [1969] 69-72), sowie in den zusammenfassenden Darstellungen von A . J . Toynbee und F. Adorno. Während das Standardwerk von E. Will sich auf die politische Geschichte konzentriert, berücksichtigen andere Darstellungen übergreifend Teilgebiete wie die Kultur-, die Kunst-, die Philosophie- und die Religionsgeschichte (P. Grimal, C. Préaux). Im Vordergrund gegenwärtigen Interesses steht die Erforschung der hellenistischen Religionsgeschichte, die mit der Philosophiegeschichte besonders eng zusammenhängt. Auf den grundlegenden Arbeiten von H. Usener, A. Dieterich und R. Reitzenstein aufbauend, verfügt dieser Wissenschaftszweig über eine

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Hellenismus I

ger). Wenn auch mehr als 150 Jahre nach der editio princeps kaum eine der zahlreichen und erregenden Fragen, die Werk und Verfasser der Forschung stellen, gelöst zu sein scheint: Fest steht, daß das altsächsische Quattuor evangelium, das wir Heliand nennen, die großartigste christliche Dichtung des 9. Jh. ist. Bibliographie J. Belkin/J. Meier, Bibliogr. zu Otfrid v. Weißenburg u. zur altsächsischen Bibeldichtung (Heliand und Genesis), Berlin 1975 (Bibliogr. z. dt. Lit. d. MA, H . 7); nach sachlichen Gesichtspunkten. Neue

Ausgabe

Heliand und Genesis, hg. v. O. Behaghel; 9. Aufl. bearb. v. B. Taeger, 1984 (ATB 4). Literatur Johannes Rathofer, Der Heliand. Theolog. Sinn als tektonische Form, Köln 1962. - Ders., Z u m Aufbau des Heliand: ZDA 93 (1964) 239-272 = WdF 321 (1973) 344-399. - Ders., Z u r Heimatfrage des Ahd. Tatian, A l O N : Sez. Germ. 14 (1971) 7 - 1 0 4 . - Ders., Realien zur altsächsischen Lit.: Nd.Wort 16 (1976) 4 - 6 2 . - Bernhard Sowinski, Darstellungsstil u. Sprachstil im Heliand, Köln 1985 (Kölner Germ. Stud. 21). - Burkhard Taeger, Zahlensymbolik bei H r a b a n , bei Hincmar - u. im Heliand? München 1970 (MTU 30). - Ders., Art. .Heliand': VerLex 3 (1981) 958-971. - M . Wehrli, Lit. im dt. MA, Stuttgart 1984, 229 f.

Johannes Rathofer

Hellenisierung des Christentums -»Antike und Christentum Hellenismus I. Begriff II. Altes Testament III. Neues Testament

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I. Begriff Der Begriff Hellenismus hat seine eigene Wissenschaftsgeschichte, seit J. J. Scaliger (1540-1609) die „Hellenisten" von Act 6,1 als Juden identifizierte, die das Griechische als Synagogensprache verwendeten (ludaei Craecis Bibliis in Synagogis utentes [Animadversiones in Chronologica Eusebii, 1606, p. 134 a - b ] ) und seit C. Salmasius (1588-1653) die Sprache der griechischen Bibel als lingua hellenistica bezeichnete (Funus Linguae hellenisticae, 1643; dazu R. Laqueur, Hellenismus, 1925; A. Momigliano, Essays in Ancient and Modern Historiography, 1977,307—323). Ausgehend von J . G . - • H e r d e r und J . G . - » H a m a n n , erhob J . G . Droysen den Hellenismus zum geschichtswissenschaftlichen Epochenbegriff. Droysen verstand unter Hellenismus vor allem die Mischung von Hellenentum und Orient, die als Vorbereitung für das Christentum diente. J. Kaerst betonte dagegen die geistesgeschichtliche Ausbreitung der griechischen Kultur im Mittelmeerraum. R. Laqueur sah im Hellenismus die Umwandlung des ethnisch-nationalen Griechentums in eine universale Kultur und Zivilisation. Nach ihm transzendiert der hellenistische Mensch die Traditionen seines Volkes; er ist in erster Linie Träger einer als fortschrittlich geltenden Weltkultur. Als Programm enthält der Hellenismus das Potential sowohl für neue kulturelle Schöpfungen als auch für tiefgreifende Konflikte mit den nationalen Kulturen. Im 20. Jh. wandte sich die Forschung den Spezialgebieten zu. Mit den wirtschaftlichen und sozialgeschichtlichen Aspekten befaßt sich das Werk von M . Rostovtzeff. Das Thema der Kulturgeschichte wird behandelt in dem materialreichen, aber problematischen Werk von C. Schneider (s. die Rez. von O . Murray: C1R 19 [1969] 69-72), sowie in den zusammenfassenden Darstellungen von A . J . Toynbee und F. Adorno. Während das Standardwerk von E. Will sich auf die politische Geschichte konzentriert, berücksichtigen andere Darstellungen übergreifend Teilgebiete wie die Kultur-, die Kunst-, die Philosophie- und die Religionsgeschichte (P. Grimal, C. Préaux). Im Vordergrund gegenwärtigen Interesses steht die Erforschung der hellenistischen Religionsgeschichte, die mit der Philosophiegeschichte besonders eng zusammenhängt. Auf den grundlegenden Arbeiten von H. Usener, A. Dieterich und R. Reitzenstein aufbauend, verfügt dieser Wissenschaftszweig über eine

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Hellenismus I

ger). Wenn auch mehr als 150 Jahre nach der editio princeps kaum eine der zahlreichen und erregenden Fragen, die Werk und Verfasser der Forschung stellen, gelöst zu sein scheint: Fest steht, daß das altsächsische Quattuor evangelium, das wir Heliand nennen, die großartigste christliche Dichtung des 9. Jh. ist. Bibliographie J. Belkin/J. Meier, Bibliogr. zu Otfrid v. Weißenburg u. zur altsächsischen Bibeldichtung (Heliand und Genesis), Berlin 1975 (Bibliogr. z. dt. Lit. d. MA, H . 7); nach sachlichen Gesichtspunkten. Neue

Ausgabe

Heliand und Genesis, hg. v. O. Behaghel; 9. Aufl. bearb. v. B. Taeger, 1984 (ATB 4). Literatur Johannes Rathofer, Der Heliand. Theolog. Sinn als tektonische Form, Köln 1962. - Ders., Z u m Aufbau des Heliand: ZDA 93 (1964) 239-272 = WdF 321 (1973) 344-399. - Ders., Z u r Heimatfrage des Ahd. Tatian, A l O N : Sez. Germ. 14 (1971) 7 - 1 0 4 . - Ders., Realien zur altsächsischen Lit.: Nd.Wort 16 (1976) 4 - 6 2 . - Bernhard Sowinski, Darstellungsstil u. Sprachstil im Heliand, Köln 1985 (Kölner Germ. Stud. 21). - Burkhard Taeger, Zahlensymbolik bei H r a b a n , bei Hincmar - u. im Heliand? München 1970 (MTU 30). - Ders., Art. .Heliand': VerLex 3 (1981) 958-971. - M . Wehrli, Lit. im dt. MA, Stuttgart 1984, 229 f.

Johannes Rathofer

Hellenisierung des Christentums -»Antike und Christentum Hellenismus I. Begriff II. Altes Testament III. Neues Testament

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I. Begriff Der Begriff Hellenismus hat seine eigene Wissenschaftsgeschichte, seit J. J. Scaliger (1540-1609) die „Hellenisten" von Act 6,1 als Juden identifizierte, die das Griechische als Synagogensprache verwendeten (ludaei Craecis Bibliis in Synagogis utentes [Animadversiones in Chronologica Eusebii, 1606, p. 134 a - b ] ) und seit C. Salmasius (1588-1653) die Sprache der griechischen Bibel als lingua hellenistica bezeichnete (Funus Linguae hellenisticae, 1643; dazu R. Laqueur, Hellenismus, 1925; A. Momigliano, Essays in Ancient and Modern Historiography, 1977,307—323). Ausgehend von J . G . - • H e r d e r und J . G . - » H a m a n n , erhob J . G . Droysen den Hellenismus zum geschichtswissenschaftlichen Epochenbegriff. Droysen verstand unter Hellenismus vor allem die Mischung von Hellenentum und Orient, die als Vorbereitung für das Christentum diente. J. Kaerst betonte dagegen die geistesgeschichtliche Ausbreitung der griechischen Kultur im Mittelmeerraum. R. Laqueur sah im Hellenismus die Umwandlung des ethnisch-nationalen Griechentums in eine universale Kultur und Zivilisation. Nach ihm transzendiert der hellenistische Mensch die Traditionen seines Volkes; er ist in erster Linie Träger einer als fortschrittlich geltenden Weltkultur. Als Programm enthält der Hellenismus das Potential sowohl für neue kulturelle Schöpfungen als auch für tiefgreifende Konflikte mit den nationalen Kulturen. Im 20. Jh. wandte sich die Forschung den Spezialgebieten zu. Mit den wirtschaftlichen und sozialgeschichtlichen Aspekten befaßt sich das Werk von M . Rostovtzeff. Das Thema der Kulturgeschichte wird behandelt in dem materialreichen, aber problematischen Werk von C. Schneider (s. die Rez. von O . Murray: C1R 19 [1969] 69-72), sowie in den zusammenfassenden Darstellungen von A . J . Toynbee und F. Adorno. Während das Standardwerk von E. Will sich auf die politische Geschichte konzentriert, berücksichtigen andere Darstellungen übergreifend Teilgebiete wie die Kultur-, die Kunst-, die Philosophie- und die Religionsgeschichte (P. Grimal, C. Préaux). Im Vordergrund gegenwärtigen Interesses steht die Erforschung der hellenistischen Religionsgeschichte, die mit der Philosophiegeschichte besonders eng zusammenhängt. Auf den grundlegenden Arbeiten von H. Usener, A. Dieterich und R. Reitzenstein aufbauend, verfügt dieser Wissenschaftszweig über eine

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Hellenismus II

fast schon unübersehbare Zahl von Publikationen (s. vor allem die Monographienreihen R V V und E P R O ) . Nachdem die Gesamtdarstellungen von K. Prümm und M.P. Nilsson schon wieder überholt sind, muß ergänzend auf Zeitschriften- und Lexikonartikel zurückgegriffen werden (s. vor allem P R E , Der Kleine Pauly, R A C mit den Ergänzungen in J A C , A N R W ) .

II. Altes Testament 1. Die griechischen Ubersetzungen (Septuaginta) 2. Komposition und Redaktion 3. Auseinandersetzung mit dem Hellenismus 4. Präsenz des Alten Testaments in der nachalttestamentlichen und neutestamentlichen Literatur (Literatur S . 3 1 )

Das Problem des Hellenismus im Alten Testament ist von dem im Neuen Testament zu unterscheiden. Der überwiegende Teil des Alten Testaments stammt aus vorhellenistischer Zeit und ist in -»Hebräisch bzw. -»Aramäisch verfaßt. Seine Begegnung mit dem Hellenismus geschieht aber noch vor dem Abschluß des Kanons (-»Bibel I) und zeichnet sich ab in sprachlichen, redaktionellen und inhaltlichen Phänomenen. 1. Die griechischen Übersetzungen der Septuaginta (-»Bibelübersetzungen 1.2.1) zogen sich entgegen der Legende des Aristeasbriefes über einen langen Zeitraum hin. Daß mit der Übersetzung die Gefahr einer illegitimen Hellenisierung verbunden war, war bekannt (Arist 312-316). Faktisch ist die LXX-Version an unzähligen Stellen nicht bloß eine Übersetzung, sondern eine Umsetzung in griechische Sprache und griechisches Denken. Erst spätere Übersetzer wie Aquila und Symmachus bemühten sich systematisch um möglichst große Textnähe. 2. Wie weit hellenistische Einflüsse die Komposition und Redaktion alttestamentlicher Schriften bestimmt haben, ist umstritten (s. M. Smith, Palestinian Parties and Politics). Auf jeden Fall hat die einsetzende geistige und religiöse Konfrontation mit dem Hellenismus zur Abfassung und Umgestaltung ganzer Schriften geführt. Diese Auseinandersetzung beginnt mit dem Buche Daniel (-»Daniel/Danielbuch und Zusätze) und umfaßt die -»Apokryphen sowie die gesamte hellenistisch-jüdische Literatur (s.u. Abschn. III). 3. Inhaltlich wird die Auseinandersetzung mit dem Hellenismus durch die bevorzugten literarischen Gattungen angezeigt. Dazu gehören die von der -»Weisheitsliteratur ausgebildeten Spruchgattungen (-»Proverbia, -»Koheletbuch, -»Sirach/Sirachbuch, -•Salomo/Salomoschriften), die -»Apokalyptik/Apokalypsen und die Geschichtsdarstellungen; s. M. Hengel, Judentum u. Hellenismus 199 ff. In der gegenwärtigen Forschung wird die Möglichkeit hellenistischer, vor allem griechisch-philosophischer Einflüsse immer wieder diskutiert, jedoch wird unter solchen Einflüssen immer noch zu stark die äußerliche Übernahme von Lehren und Begriffen verstanden. Solche Übernahmen liegen ohne Zweifel vor, aber die Auseinandersetzung mit hellenistischem Gedankengut geht viel tiefer und erfolgt zudem großenteils indirekt durch Anspielungen und durch theologische Gegenentwürfe. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Weisheit Salomos, besonders 2 , 1 - 2 0 ; 7,1 - 6 ; 1 3 - 1 5 , wie die Untersuchungen von C. Larcher, J . M . Reese, M . Gilbert, D. Georgi und D . Winston gezeigt haben. Die zwischen diesen Forschern bestehenden Differenzen erklären sich zum großen Teil aus methodischen Problemen (vgl. auch die sorgfältigen Aufstellungen bei W. Theiler, Poseidonios. Die Fragmente II, S. 2 8 3 - 285). Andere Schriften wie Kohelet und Jesus Sirach (s. Hengel, Judentum und Hellenismus 210ff; J . Marböck; T h . Middendorp; G . Sauer: Jüd. Sehr, aus hellenistisch-röm. Zeit III/5,1981 [Lit.]) bezeugen stark ausgebildete Individualitäten unter diesen Schriftstellern.

Eine weitere Phase jüdisch-hellenistischer Literatur wird damit eröffnet, daß der „hebräische Peripatetiker" Aristobul die heiligen Schriften mit der griechischen Philosophie in Einklang zu bringen versuchte und dabei festgestellt zu haben glaubte, daß die Griechen von der hebräischen Philosophie abhängig seien (Fragment 3 [Eusebius, praep. ev. 13.12.1-2]; s. N. Walter, Der Toraausleger Aristobulos, 1964; Hengel, Judentum und Hellenismus 295-307; N. Walter: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit III/2, 1975, 257-279).

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4. Die Präsenz des Alten Testaments in der nachalttestamentlichen (-»Apokryphen, -» Pseudepigraphen des AT) und neutestamentlichen (s.u. Abschn. III) Literatur steht unter den zuvor genannten Prämissen und richtet sich außerdem nach den verschiedenen theologischen Voraussetzungen der jeweiligen Autoren. Die nachalttestamentliche Literatur einschließlich des Neuen Testaments setzt den abgeschlossenen Kanon des Alten Testaments nicht voraus (-«Bibel II), erkennt aber dessen Autorität grundsätzlich an. Die Bezeugung des Alten Testaments in der nachalttestamentlichen Literatur ist überhaupt ein sehr komplexes Phänomen. Sie geht über Zitate im engeren Sinn hinaus und schöpft aus einem breiten Traditionsstrom mündlicher und schriftlicher Form (Spruchtradition, Erzählungen, Liturgie). In starkem Maße ist diese Literatur der Auseinandersetzung mit dem Hellenismus über Fragen der jüdischen Religion gewidmet. Im Neuen Testament ist das Alte Testament daher nicht direkt, sondern durch Vermittlung des zeitgenössischen Judentums präsent. Obwohl von den neutestamentlichen Autoren verschieden interpretiert, wird die Autorität des Alten Testaments anerkannt, entweder als „das Gesetz und die Propheten" (Mt 5,17; 7,12 usw.) oder als „Schrift" {ypa(prj, -»Bibel II.2). Die Bezeugung des Alten Testaments im Neuen umfaßt daher Zitate (s. den Index in Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, 26 1979,739-775) und einen breiten Strom der Lehrtradition. Zitiert wird die Septuaginta, wobei die Textgrundlage oft von den bekannten Versionen abweicht. Der hebräische Text wird nur Mt 5,18 par. Lk 16,17 als verbindlich erklärt, und zwar wohl in Auseinandersetzung mit dem hellenistischen Christentum (s.u. Abschn. III.3.2.3). Trotz dieses hellenistischen Charakters des Neuen Testaments steht das Alte in ihm im Dienste der Auseinandersetzung mit dem Hellenismus. III. Neues Testament 1. Anwendung des Begriffs Hellenismus auf das Neue Testament grundsätzlich 2. Geschichte der Forschung 3. Urchristentum und Hellenismus 4. Die Literaturwerdung des Neuen Testaments (Literatur S. 31) 1. Bei der Anwendung des Begriffes Hellenismus auf das Neue Testament sind grundsätzlich verschiedene Aspekte im Auge zu behalten. Hinsichtlich des Epochenbegriffs ist das Neue Testament als solches hellenistisch. Droysens Begriff der Mischung ist zunächst auf das hellenistische -»Judentum zu beziehen (V. Tcherikover, M . Hengel). Jedoch stellt das Urchristentum nicht bloß die Fortsetzung des hellenistischen Judentums dar. Bei aller Kontinuität ist das Neue Testament Ergebnis einer neuen Mischung. Andererseits ist das Neue Testament selber aktiv an der Ausbreitung des Hellenismus beteiligt. Alle neutestamentlichen Autoren waren hellenistische Menschen im Sinne Laqueurs. Jedoch konnte sich die Ausbreitung des Christentums nicht einfach an eine bereits vorhandene Weltkultur anhängen. „Die Physiognomie der hellenistischen Kultur erhält das ihr eigentümliche Gepräge durch die besondere Rolle, die zwei fremde Volksgruppen, Juden und Römer, in ihr zu spielen beginnen. Die Juden blieben im Grunde überzeugt von der Überlegenheit ihres Glaubens und ihrer Lebensweise und kämpften dafür. Und doch verglichen sie unablässig ihre Ideen mit denen der Griechen, machten Propaganda für ihre eigenen Glaubensvorstellungen und nahmen dabei selbst viele griechische Vorstellungen und Sitten auf; am Ende befanden sie sich in einer geistesgeschichtlichen Lage, in der griechische und jüdische Wertvorstellungen miteinander in einem Widerstreit standen, die wir Christentum nennen. Die Römer nahmen ihre Beziehungen auf geistigem Gebiet mit den Griechen nie so ernst. Sie handelten von einer Position der Stärke aus und bewahrten sich mühelos ein Gefühl für ihre Identität und Überlegenheit. Sie gaben den Griechen Geld dafür, d a ß sie ihnen ihr Wissen beibrachten; oft mußten sie sogar nicht einmal etwas bezahlen, weil jene ihre Sklaven w a r e n " (A. Momigliano, Hochkulturen im Hellenismus, München 1979, 19f).

Das Christentum wurde so der geistige Kampfplatz, auf dem die eigentliche Konfrontation von Judentum und Hellenismus mit beispielloser Intensität ausgetragen wurde. Im Neuen Testament hat sich die erste, entscheidende Phase dieser Auseinandersetzung literarisch niedergeschlagen. Die Texte dokumentieren aber nicht nur den Beginn eines langen geschichtlichen Prozesses, sondern enthalten zugleich die Gesichtspunkte, Ziele und Grenzen, die für die Umgestaltung des Hellenismus und die Ausbildung einer europä-

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ischen Kultur (-»Antike und Christentum) sowie für die Geschichte des Christentums maßgebend wurden ( - » Kanon). 2. Geschichte

der

Forschung

2.1. Die Sprache des Neuen Testaments war der Grund dafür, daß die Erforschung des Hellenismus von vornherein mit dem Neuen Testament verbunden war. Auf diese Sprache war zunächst das Augenmerk der Wissenschaft gerichtet, d. h. auf Grammatik, Idiomatik und Lexikologie der Koirte (-»Griechisch). Wichtig wurden vor allem die Arbeiten von A. -»Deißmann. Als die wichtigsten Grammatiken sind heute in Gebrauch die von L. Radermacher (219Z5) und die von F. Blass, A. Debrunner und F. Rehkopf (' 6 1984; vgl. den Überblick bei E. Schwyzer, I M968, 116-130). Als wichtigstes Lexikon hat sich das von W. -»Bauer (M9S8) durchgesetzt, dessen 6. Auflage vorbereitet wird (K. Aland 19-23). Das von G. Kittel begründete und von G. Friedrich herausgegebene Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament (ThWNT) begann sein Erscheinen im Jahre 1933 und war erst 1979 abgeschlossen. Bei allen Mängeln ist dieses Werk eine unschätzbare Leistung (s. G. Friedrich, Zur Vorgeschichte des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament: ThWNT 10/1 [1978] 1 - 5 2 ; dort weitere Lit.). Das 1978-1983 erschienene Exegetische Wörterbuch zum Neuen Testament (EWNT), hg. von H. Balz und G. Schneider, führt das im ThWNT Erarbeitete in gestraffter Form und unter neuen exegetischen Gesichtspunkten fort. 2.2. Die Observationenliteratur des 17. und 18. Jh. Die Frage nach der Beziehung von Hellenismus und Neuem Testament war im 17. und 18. Jh. Gegenstand einer ganzen Gattung wissenschaftlicher Untersuchungen im Gefolge von H. -»Grotius, oft Observationenliteratur genannt. Sie sammelte Parallelstellen aus der antiken Literatur zur Erhellung des Neuen Testaments (s. die Uberblicke bei G. Delling: ZNW 54, 1 - 1 5 ; W.C. van Unnik: JBL 63,17-33). Das weitaus wichtigste dieser Werke ist die mit einer bislang unübertroffenen Parallelensammlung ausgestattete kritische Ausgabe des Neuen Testaments von J. J. -»Wettstein. Außerchristliche Parallelen aus der klassischen Literatur wurden bereits im Neuen Testament selbst aufgeboten (Act 17,28; 5,29; 26,14). Beobachtung und Deutung solcher Parallelen hat die gesamte Patristik beschäftigt (-»Antike und Christentum), aber erst das enzyklopädische Zeitalter ging daran, sie systematisch zu sammeln. Etwa zur gleichen Zeit wie Wettstein erschien ein ähnliches Werk von G. D. Kypke (1755). Ältere Beiträge sind zusammengestellt in den sieben Bänden der Critici sacri (1660), die Auszüge aus L. -»Valla, D. -»Erasmus, J. Scaliger, J. Casaubonus, H. —»Grotius u. a. enthalten. Im 19. Jh. kommt diese Art der Forschung zum Erliegen, abgesehen von dem Nachzügler E. Spieß (1871). 2.3. Die Rhetorik des Paulus. In der Frage nach den Beziehungen des Neuen Testaments zum klassischen Altertum hat die Rhetorik des Paulus eine wichtige Rolle gespielt. Die Frage war ja vom Apostel selber, und zwar in Auseinandersetzung mit den korinthischen Gegnern, grundsätzlich erörtert worden (I Kor 2; II Kor 10,10; 11,6 usw.; s. H . D . Betz, Der Apostel Paulus 5 7 - 6 9 ) . Durch die ganze Auslegungsgeschichte hindurch wurde sie immer wieder von einzelnen Exegeten aufgenommen. In der Antike ging besonders Augustin, De doctrina Christiana auf sie ein, in der Reformationszeit Melanchthon (s. H. D. Betz, Galatians 14). Auch diesem Problem suchte man im 18. Jh. systematisch beizukommen. Nach manchen Vorgängern erschien das umfassende Werk von K.L. Bauer (1782). Auch in der Utrechter Proefschrift von H.J. Royaards (1818) iindet sich eine Abhandlung über die Rhetorik des Paulus (99-152). Aber auch dieser Forschungszweig kam im 19. Jh. zum Erliegen. Stattdessen kam es zu der eigenartigen, für die Geschichte der Forschung aber bezeichnenden Kontroverse zwischen dem klassischen Philologen E. Norden und dem neutestamentlichen Exegeten C.F.G. Heinrici. Der in den Klassikern bewanderte Heinrici hatte in seiner Untersuchung über Das zweite Sendschreiben des Apostels Paulus an die Korinthier (1887) auf eine Fülle von Parallelstellen zum Neuen Testament hingewiesen, was ihm einen ungewöhnlich heftigen Angriff seitens E. Nordens in dessen Standardwerk Die antike Kunstprosa II (1898) 493 ff (auch 474 f) einbrachte. Norden wollte den Apostel lieber dem „unhellenischen" und bildungsarmen Judentum zuweisen. Der pathetische und von ideologischen Vorurteilen strotzende Angriff Nordens, der gleichwohl den damaligen Zeitströmungen entgegenkam, wirkt bis heute in der neutestamentlichen Wissenschaft nach. Daran hat auch die Tatsache nichts geändert, daß Heinrici die Vorwürfe Nordens im Anhang zu seinem Kommentar Der zweite Brief an die Korinther (1900), überschrieben „Zum Hellenismus des Paulus" (436-458), widerlegte und daß Norden dies in den Nachträgen zu seinem Werk (3-4) auch mehr oder weniger anerkannte. Norden hatte nur wenig Beifall gefunden

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(vgl. die scharfe Stellungnahme für Heinrici aus der Feder von A. Deißmann: T h R 5 , 5 8 - 6 9 ) . Auch war die bedeutende Studie von J. Weiß (Beiträge zur paulinischen Rhetorik) bereits vorher erschienen, die ihn hätte vorsichtiger vorgehen lassen müssen. Leider ist J. Weiß nicht mehr zur Ausarbeitung seiner literarischen Ideen gekommen (manches ist in den Kommentar zum I Kor [1910] und in Das Urchristentum [1917] eingegangen), aber er vermittelte seine Forschungsinteressen an seine Schüler, vor allem an R. -»Bultmann, dessen Dissertation Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe (1910) der Rhetorik des Paulus gewidmet war, und H . Windisch, der in seinem Kommentar zum II Kor (1924) darauf aufbaute (s. das Vorwort V). Dennoch bedeutete auch für diesen Forschungszweig der Erste Weltkrieg einen Wendepunkt (-»Formgeschichte/Formenkritik, -»Literaturgeschichte, Biblische).

2.4. Das Corpus Hellenisticum Novi Testamenti. Im Gefolge der Religionsgeschichtlichen Schule ( - • Bibelwissenschaft II.8, -»Religionsgeschichte des Urchristentums) änderte sich die Forschungslage insofern, als sich die am Hellenismus interessierten Forscher mehr und mehr der hellenistischen Religionsgeschichte zuwendeten. Über die Konsequenzen scheint man sich aber zunächst nicht im klaren gewesen zu sein. „Nicht lange vor seinem Tode (29. Sept. 1915) h a t . . . Heinrici den Plan eines Corpus Hellenisticum zum Neuen Testament angeregt, das nach Art der Observationenliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts die Parallelen zum Neuen Testament zunächst nach den einzelnen hellenistischen Autoren getrennt in einer Serie von Monographien darbieten sollte, um dann das ganze Material in einer Neuausgabe des Neuen Testaments mit Kommentar nach Art des alten, noch immer unentbehrlichen, ja vielfach unausgeschöpften... Wettstein... gesammelt und geordnet darzubieten" (so der Bericht von E. v. Dobschütz: Z N W 21,146-148; das Zitat 146). Das Unternehmen wurde vor allem von A. Deißmann (Licht vom Osten, l f f ) , H . -»Lietzmann und H . Windisch unterstützt. Als erster Beitrag erschien Heinricis Die Hermes-Mystik und das Neue Testament (1918). Nach dem Ersten Weltkrieg, als bekannt wurde, d a ß man auch in England einen neuen Wettstein plante, wurde das Projekt internationalisiert; hinzu kamen F.C. -»Burkitt, F.H. Colson und A. Fridrichsen. Die Leitung lag nun in der Hand von E. von Dobschütz in Halle (s. dessen Artikel Zum Corpus Hellenisticum: Z N W 24, 4 3 - 5 1 ) . Nach seinem Tode (20.5.1934) wurde das „schwierige Werk der Weiterführung" von H . Windisch, nunmehr in Halle, übernommen (s. seinen Artikel Zum Corpus Hellenisticum: Z N W 34,124 f). Aber trotz aller Aufrufe zur Mitarbeit kam das Projekt nicht über Zettelsammlungen und Einzelstudien hinaus, die z.T. in Kommentare (HNT, KEK) Eingang fanden. Grund dafür waren sicher der Tod Windischs (8.11.1935) und die sich ungünstig entwickelnden politischen und geistigen Verhältnisse, aber doch wohl auch die veraltete Konzeption eines riesigen Sammelunternehmens, dessen Konturen sich mehr und mehr verflüchtigten. Es gelang, das Projekt durch den Zweiten Weltkrieg hindurchzuretten. Schon 1929 war es in einen judaeo-hellenistischen und einen pagano-hellenistischen Teil getrennt worden. Während des Krieges kam das Pagano-Hellenisticum nach Uppsala, w o es von A. Fridrichsen und H . Riesenfeld betreut wurde. Beiträge wurden hauptsächlich in den Coniectanea Neotestamentica 1 - 2 0 (1936-1964) veröffentlicht. Das Judaeo-Hellenisticum befindet sich bis heute in Halle und wird von G. Delling geleitet. Einen Neuanfang für das Pagano-Hellenisticum brachte dessen Übernahme durch W.C. van Unnik, im Zuge dessen es zur Einrichtung einer Arbeitsstelle in Utrecht kam. Die beiden Teile wurden der Kommission für spätantike Religionsgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DDR) bzw. der Koninglijke Akademie van Wetenschappen (Amsterdam) unterstellt. Der seit langem geplante Zweig in der englischsprechenden Welt kam zustande, als H . D. Betz 1966 einen Teil des Pagano-Hellenisticums übernahm und eine Arbeitsstelle am Institute for Antiquity and Christianity in Claremont, California, U.S. A., einrichtete. Mit der Berufung von Betz an die Universität von Chicago gelangte auch dieser Teil des Projektes dorthin; er wird seit 1970 vom National Endowment for the Humanities unterstützt. Seit dem Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich das Projekt in mehrfacher Hinsicht entwickelt. Die älteren Parallelsammlungen wurden durchgeprüft und an vielen Stellen ergänzt. Unter diesen Sammlungen ist die aus -»Philo von Alexandrien besonders hervorzuheben; sie geht auf H . Windisch zurück und wurde seitdem durch H . Hegermann, N . Walter und G. Delling vermehrt. Die Veröffentlichung von Monographien begann mit der Uppsala-Dissertation von H . Almqvist, Plutarch und das Neue Testament (1946). Die Mainzer Dissertation von H . D. Betz über Lukian und das Neue Testament, angeregt von H . Braun, einem ehemaligen Schüler von E. von Dobschütz, erschien 1961. Eine weitere, ebenfalls von H . Braun angeregte Mainzer Dissertation ist die von G. Petzke, Die Traditionen über Apollonius von Tyana und das Neue Testament; sie erschien als Band I der von H . D. Betz, G. Delling und W. C. van Unnik edierten Monographienreihe Studia ad Corpus Hellenisticum Novi Testamenti ( S C H N T 1, 1971). Seitdem sind erschienen:G. Mussies zu Dio Chrysostomus ( S C H N T II, 1972), zwei von H . D . Betz herausgegebene Bände zu Plutarch ( S C H N T

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III, 1975; IV, 1978), die Claremont-Dissertation von W.C. Grese zu Corpus Hermeticum XIII (SCHNT V, 1979) und P.W. van der Horst über Aelius Aristides (SCHNT VI, 1980). Kleinere Beiträge wurden in Zeitschriften publiziert:H.D. Betz, The Mithras Inscriptions; P.W. van der Horst, Macrobius; ders., Hierocles the Stoic; ders., Cornutus; ders., Pseudo-Phocylides. Zu nennen sind ferner Materialsammlungen in unveröffentlichten Dissertationen :P.G. Keyser zur Sapientia Salomonis und Paulus (1971); E.W. Smith zu Joseph und Aseneth (1975); R.L. Parrott zu den politisch-philosophischen Ideen des Paulus in Rom 13,1-7 (1980); W.F. Taylor über die Einheit des Menschengeschlechts in der Antike und im Neuen Testament, besonders bei Paulus (1981). 2.5. Probleme und Aufgaben. Bei aller Veränderung der Forschungsinteressen und -methoden ist die Zielsetzung des Corpus Hellenisticum nach wie vor berechtigt. Das N e u e Testament k a n n wissenschaftlich nicht anders als in seinen Beziehungen zur Sprache, Literatur, Religion, Kultur und Zivilisation seiner hellenistischen (einschließlich der jüdischen) Umwelt interpretiert werden. Die Probleme, die sich dieser Forschung entgegenstellen, sind gleichwohl nicht zu unterschätzen. Das Gebiet des zu Erforschenden hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg in einer ungeahnten Weise ausgedehnt und in seinen M e t h o d e n verfeinert. Z u r gleichen Zeit nimmt die Qualität der Vorbildung in den klassischen Sprachen und den humanistischen Wissenschaften a b . Die kirchliche Theologie, sofern sie ihre Identität gegenüber den Strömungen des Zeitgeistes verloren hat, hat auch das Interesse an der Auseinandersetzung mit d e m geschichtlichen Erbe verloren. Folglich ist die Z a h l der Arbeiter auch in diesem Weinberg klein. Die Vorstellung einer bloßen Ausnutzung bereits vorhandener Texte ist vielen Texten gegenüber unangebracht und sollte grundsätzlich aufgegeben werden. Vielmehr m u ß sich die neutestamentliche Forschung, wenn auch in bescheidenem Ausmaß, durch die Erforschung der hellenistischen Literatur aktiv beteiligen. Dazu muß auch die f r ü h e r bestehende Z u s a m m e n a r b e i t mit der klassischen Altertumswissenschaft wiederhergestellt werden. Auch die Vorstellung mechanischen Sammeins von Daten m u ß ersetzt werden von der Erforschung der Problemzusammenhänge, innerhalb derer dann das N e u e Testament zu seinem Recht gebracht werden muß. Auf diesem Hintergrund ist die Erstellung wissenschaftlicher Daten in Form von Parallelen nach wie vor die unentbehrliche Grundlage. 3. Urchristentum

und

Hellenismus

3.1. Die Sprachen des Urchristentums. Kennzeichen des Hellenismus ist in erster Linie die Sprache, d a n n aber auch die durch sie vermittelte Lebensweise, Bildung und Ethos. Treffend ist die Charakterisierung eines hellenisierten Juden bei Josephus, Ap 1,180, in einem Zitat aus Klearchos von Soli: „Er w a r griechisch nicht nur seiner Sprache nach, sondern auch in seiner Seele." Hinsichtlich der Sprache ist das N e u e Testament hellenistisch (-»Griechisch). Hypothesen, wonach Teile des Neuen Testaments aus dem Hebräischen oder Aramäischen übersetzt seien, haben sich nicht beweisen lassen. Auch bei sprachlichen Eigenheiten sind semitische Einflüsse geringer und schwerer nachzuweisen, als m a n erwarten sollte (-»Aramäisch II; J. A. Fitzmyer, A Wandering A r a m e a n . Collected Aramean Essays, 1979). Auch die Latinismen, die aus Militär-, Gerichts- und Geschäftssprache stammen, sind Anzeichen der Hellenisierung. Schwer zu beantworten ist die Frage nach den im Urchristentum gesprochenen Sprachen. Für das N e u e Testament gilt es auch in den alten Schichten der Überlieferung als selbstverständlich, d a ß Jesus und seine Jünger im täglichen Leben griechisch sprachen. O b diese A n n a h m e bloß naiv ist oder den Tatsachen entspricht, ist nicht mehr festzustellen. Unter den neutestamentlichen Autoren ist nur der Historiker Lukas am Sprachenproblem interessiert. N a c h ihm m u ß Paulus mit den römischen Behörden griechisch (Act 21,37), mit d e m Volk von Jerusalem aber hebräisch gesprochen haben (Act 21,40; 22,2). Selbst die dem Paulus erscheinende Himmelsstimme kann nach Lukas (Act 26,14) nur hebräisch gesprochen haben. Die Kirche ist aber f ü r diesen griechischsten der neutestamentlichen Autoren grundsätzlich vielsprachig (Act 2 , 8 - 1 1 ) . Aus neutestamentlichen und außerneutestamentlichen Indizien geht hervor, d a ß im

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Palästina des 1. Jh. n. Chr. vorwiegend (noch) Aramäisch gesprochen wurde, d a ß aber das Griechische nicht nur in den hellenisierten Städten, sondern auch auf dem Lande, bei Bauern und Handwerkern, gebräuchlich war. Das Hebräische scheint auf bestimmte Kreise beschränkt gewesen zu sein (s. Lieberman, Greek in Jewish Palestine; Sevenster; Fitzmyer 2 9 - 5 6 ) . Im Blick auf das Neue Testament gibt es zwei Spezialprobleme. Sprach Jesus nur aramäisch oder auch griechisch? Angesichts der Verbreitung des Griechischen in Palästina ist die Kenntnis dieser Sprache auch für Jesus anzunehmen. Aber dies ist nicht notwendig identisch mit ihrer Bevorzugung im täglichen Leben. Falls Jesus aramäisch gelehrt hat, was auch nicht beweisbar und nur anzunehmen ist, müssen seine Lehren bereits im ältesten Uberlieferungsstadium ins Griechische übertragen worden sein (s. Barr: BJRL 53, 9 - 2 9 ; Jeremias §§ 1 - 2 ) . Schwer zu beantworten ist auch die Frage nach der Sprachlichkeit der sog. Hellenisten (Act 6,1; 9,29; 11,20). M a n wird nicht fehlgehen, sie für hellenisierte, also griechischsprechende Judenchristen zu halten. Daß sie nur das Griechische verstanden, wird man daraus nicht zu schließen brauchen (vgl. Fitzmyer 36 f; Hengel). 3.2. Die Auseinandersetzung mit dem Hellenismus. Ist das Neue Testament sprachlich dem Hellenismus weitgehend entgegengekommen, so bleibt die Frage zu stellen, ob es auch in seiner .Seele' hellenistisch ist. Die Antwort hängt in gewissem Sinne davon ab, von welcher Seite aus sie erfolgt. Selbst wenn man der Definition in Ps.-CIem. Horn. 11,16 folgt (Grieche ist jeder, der die Tora nicht beobachtet, gleich ob jüdischer oder griechischer Herkunft), ist ja gerade die entscheidende Frage des Neuen Testaments, was es denn heißt, die Tora zu beobachten (-»Gesetz). 3.2.1. Das Judentum der neutestamentlichen Zeit (-»Judentum) bestand aus einer Vielzahl unterschiedlicher Gruppen und Bewegungen teils politischer, teils religiöser Art. Jede dieser Gruppen und Bewegungen nahm Stellung auch zum Hellenismus, wobei die Breite der Möglichkeiten groß war. Während z.B. -»Philo von Alexandrien dem Hellenismus sehr entgegenkam, kapselte sich die Sekte von -»Qumran von ihm ab. Dazwischen gab es Übergänge aller Art. Die Frage nach der Grenze erlaubter Hellenisierung wurde gestellt, aber nicht einheitlich beantwortet (-»Häresie). 3.2.2. Die Jesusbewegung, daran kann trotz mangelnder Quellen kein Zweifel bestehen, war zunächst antihellenistisch eingestellt. Darauf weist schon das Wenige, was wir über -»Johannes den Täufer wissen. Seine Opposition gegen Herodes Antipas und sein Märtyrertod, sowie seine messianisch-apokalyptische Botschaft sind Reaktionen gegen die Hellenisierung des Judentums. Der für ihn eigentümliche Taufritus (-»Taufe), dessen Herkunft religionsgeschichtlich nicht geklärt ist, diente auch als Abgrenzungsritual gegenüber einem nach seiner Ansicht verdorbenen Judentum. Im ganzen hat Jesus (-»Jesus Christus) die antihellenistische Haltung seines Lehrers geteilt. In den Augen Jesu stellte sich der Hellenismus durch die römische Besatzung und durch die von - » R o m eingesetzten jüdischen Machthaber dar. An ihrer Ablehnung durch Jesus kann kein Zweifel bestehen, obwohl die Evangelienverfasser diesen Aspekt aus apologetischen Gründen mit Zurückhaltung behandeln (vgl. Mk 12,15-22 par.; Leidensgeschichte Jesu; -»Evangelien, Synoptische). Seine Ablehnung der hellenisierten jüdischen Machthaber ist in alten Quellenstücken belegt (Mk 8,15; 12,13; Lk 13,31-33). Auch die Kritik Jesu an anderen jüdischen Richtungen (-»Häresie 1.2.2.) ist antihellenistisch ausgerichtet und deckt sich in diesem Punkte mit Johannes dem Täufer und anderen jüdischen Bewegungen seiner Zeit (s. M t 11,2-19 par.; die Weherufe über die Städte Galiläas [Mt 11,20-23 par.] und über Jerusalem [Mt 23,37f]; zu Qumran s. Braun, Radikalismus I.II). D a ß Jesus als messianischer Aufrührer (-»Messias/Messianische Bewegungen) hingerichtet wurde, ist sicheres Indiz seiner antirömischen und damit antihellenistischen Einstellung (zur Kreuzesinschrift Mk 15,26 par.; Joh 19,19-22 s. Blinzler 367f). Jedoch haben die Evangelien

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richtig festgehalten, daß Jesus sich nicht als militanter Revolutionär verstand (O. Cullmann, M. Hengel). Wahrscheinlich ist, daß er die äußere Machtüberlegenheit mit der Gewißheit innerer Überlegenheit beantwortete und Berührungen vermied. Der auf Jesus bezogene Messiastitel (-»Jesus Christus) ist denn auch durchweg christlich gedeutet, während politisch-militante Erwartungen als Mißverständnisse zurückgewiesen werden (vgl. Lk 24,19-27; Joh 6,14f, sowie die Leidensgeschichte Jesu, passim). 3.2.3. Das hellenistische Christentum. Wie konnte es trotz dieser antihellenistischen Einstellung Jesu zur Entstehung eines hellenistischen Christentums (-»Urchristentum) kommen? Daß Jesus selber diese Entwicklung eingeleitet haben sollte, wie die Evangelien versichern (s. Mk 7,24-30 par.; Mt 8,5-13 par.; Lk 10,30-37; 17,16; Joh 4,4-26.39-40; 8,48), ist historisch nicht wahrscheinlich (s. Hahn 19-36). Bei aller Übermalung aus späterer Sicht lassen die Quellen noch erkennen, daß es sich bei der Heidenmission um eine neue Phase in der Geschichte des Urchristentums handelt, daß aber Ansätze dazu in der Theologie und im Verhalten Jesu vorlagen. Seine Offenheit gegenüber dem 'am ha'ara$ und den sog. Zöllnern und Sündern (Mt 11,19 par.; s. Braun, Radikalismus 11,18-23.38 Anm. 1; Michel: T h W N T 8,103-106) läßt eine Öffnung gegenüber Nichtjuden als naheliegend erscheinen. Dem entspricht in der Lehre das antipharisäische Toraverständnis (-»Gesetz) Jesu. Sein Verzicht auf -»Askese (vgl. -»Johannes der Täufer), seine Handhabung der Reinheitsvorschriften (bes. Mk 7,15; -»Reinheit), der Sabbatheiligung (-»Sabbat) und seine Ablehnung von Esoterik und Formalismus wird seinen Jüngern den Umgang mit Nichtjuden erleichtert haben. Wenn das Toraverständnis Jesu von seinen Anhängern sowohl als Verschärfung als auch als Erleichterung aufgefaßt werden konnte, so lagen Ansätze zu beidem in der Lehre Jesu selbst. Die Quellen lassen auch erkennen, daß die Heidenmission keineswegs das Ergebnis sorgfältiger Planung war, sondern eher im Verlauf verwirrender Entwicklungen erfolgte. Beim Übergang zum Heidenchristentum scheinen die jüdischen Randzonen in Galiläa, Dekapolis, Samarien, Syrien, Nabatäerland (Arabien, -»Palästina) eine wichtige Rolle gespielt zu haben (Act 1,8; 2,9-11). Wie weit in diesen Gebieten eine klare Unterscheidung von Juden und Nichtjuden erfolgte, ist eine weitere Frage. Ferner heben die Quellen wohl richtig die Bedeutung von Angehörigen des Militärs hervor (Mk 15,39 par.; Mt 8,5ff; Act 10,1 ff). Eine entscheidende Rolle haben sicher auch die sog. „Hellenisten" gespielt (Act 6,1; 9,29; 11,20), über die viel geschrieben worden ist (s. mit Lit. Hengel: ZThK 72 [1975] 151 -206; Schneider). Diese griechischsprechenden Diasporajuden, die in Jerusalem ansässig geworden waren, hatten sich (insgesamt?) der christlichen Gemeinde angeschlossen. Daß sie aus Jerusalem vertrieben wurden (Act 8,11 ff), beweist, daß sie weitgehend hellenisiert waren, wofür die Predigt des Stephanus (Act 6,13 f; 7,11 ff) wenigstens die allgemeinen Konturen abgeben wird. Man wird aber gegenüber der Tendenz der Act kritisch sein müssen, nach der ihnen die gesamte Heidenmission zugeschrieben wird. Dafür, daß die Hellenisten für die Übertragung der Botschaft Jesu ins Griechische gesorgt hätten (Hengel 199ff), fehlt die Evidenz. 3.2.4. Die christliche Heidenmission (-»Mission) muß im Zusammenhang mit dem für den Hellenismus typischen Missionsgedanken gesehen werden. Durch gezielte Mission verschafften sich vor allem nicht-griechische Religionen (Isis-, Mithraskult; -»Mysterienreligionen) Ansehen und Anhänger. Mitgliedschaft in ,Weltreligionen' auf freiwilliger Basis (-»Bekehrung) trat neben die Teilnahme an lokalen, ethnischen und nationalen Kulten. Im Judentum war es vor allem die hellenistische -»Diaspora, die Mission unter Nichtjuden betrieb. Es entwickelte sich eine umfangreiche Missionsliteratur, die die verbreitete Ansicht von der Überlegenheit der,Weisheit der Barbaren' dahingehend konkretisierte, daß sie die jüdische Religion als die dem Hellenismus am besten entsprechende anzubieten suchte. Dabei wurde das Judentum selber weitgehend umgeformt. In der Betonung von Monotheismus, Gesetz, Ethik und Eschatologie machte sich diese Literatur u.a. Forderungen der griechischen Philosophen zu eigen, die diese an die Religionen

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gerichtet hatten. Während das Gespräch mit der hellenistischen Philosophie zumeist implizit erfolgte, sympathisierte die hellenistisch-jüdische Weisheit vorwiegend mit der sokratischen Tradition und dem stoisch-mittelplatonischen Gedankengut. Dagegen wird das Epikureertum in jeglicher Form abgelehnt. Demgegenüber schloß sich das palästinische Judentum der Proselytenbewegung (-»Proselyten/Proselyten taufe) erst nur zögernd an, um dann zunehmend einem antihellenistischen Partikularismus zuzuneigen. Die damit verbundenen starken Spannungen griffen auch auf das Urchristentum über, da die urchristliche Mission ja zu Anfang Teil der Proselytenbewegung war. Die christliche Heidenmission war vor allem eine Sache der Diaspora (Act 2,11; 6,5; 13,43). Das Missionskerygma (I Thess 1,9 f) war auf die sog. Gottesfürchtigen zugeschnitten (Act 13,43.50; 16,14 usw.; s. K. G. Kuhn: ThWNT 6,727-745; Lit. in T h W N T 10/2,1249). Im palästinischen -»Judenchristentum blieb die Heidenmission umstritten, wobei sich Partikularsten auf das Vorbild des historischen Jesus berufen konnten (Mt 15,24; 23,15). Die Heidenmissionare verwiesen auf Wunder- und Geisterfahrungen (-»Wunder, -•Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben), eine Hypothek, deren Problematik sich bald zeigen sollte. Der Stand der Problematik ist an der sog. Bergpredigt (Mt 5,3-7,27), einer um die Mitte des 1. Jh. verfaßten Epitome judenchristlicher Jesustheologie (s. die Arbeiten von Betz; anders -»Bergpredigt), abzulesen. Die Heidenwelt wird durchweg negativ gekennzeichnet; die Assimilation wird abgelehnt (Mt 5,47; 6,7.32). Das gesetzesfreie Heidenchristentum wird verworfen (5,17; 7,21-23). Die Trennung von Jesusbewegung und Heidenchristentum wird aber noch nicht als ekklesiologisches Problem erkannt, sondern nur als Heilsdefizit der Heidenchristen. Die Konferenz von Jerusalem (Gal 2,1-10; Act 15) setzt sowohl die Verschärfung des Konflikts als auch die theologische Erkenntnis der Einheit der Kirche als einer Forderung des Evangeliums voraus. Die Verschärfung trat ein, als judenchristliche Partikularisten auf Tora und Beschneidung als jüdischen (und christlichen) Unterscheidungsmerkmalen bestanden, während die Heidenchristen das Missionskerygma, den Glauben an Christus, die Taufe und das neue Ethos für ausreichend erklärten. Die Frage war, ob die Heidenmission die Einbeziehung der Bekehrten in das Judentum zum Ziele hatte oder o b das Heidenchristentum einen eigenen Status besaß. Was den Partikularisten als häretische Hellenisierung erschien, galt den Heidenchristen als heilsgemäß; ihnen galten die Forderungen der Partikularisten als häretische Judaisierung. Angesichts dieser Spaltung erwies sich der Gedanke der Einheit der Kirche, der offenbar aus dem Monotheismus gefolgert wurde (Gal 2,8), als Gegenkraft und führte zur Teilung des Missionsfeldes: Barnabas und Paulus zu den Heiden, Petrus zu den Juden, - so hieß die in Jerusalem ausgehandelte Formel (Gal 2 , 8 - 9 ; vgl. die Missionsinstruktion M t 10,5f, sowie Betz, Galatians 97-101). Die Teilung war ein Kompromiß, der von Paulus so verstanden wurde, daß die Heidenmission als solche legitim war und daß der Judenmission aus ethnischen Rücksichten eine Art Sonderstatus zugebilligt worden war. Damit war freilich das Heidenchristentum aus dem Judentum ausgeschieden. Die von Paulus als „Falschbrüder" betitelten Partikularisten weigerten sich folgerichtig, den Kompromiß zu unterstützen. Dagegen versuchten die sog. Säulen (-»Jakobus, Kephas [-»Petrus, Apostel], Johannes), einen Mittelkurs zu steuern, der freilich bald an den Realitäten zerbrach. Das Judenchristentum wurde gezwungen, sich zwischen Judentum und Heidenchristentum (dem „Israel Gottes" Gal 6,17) zu entscheiden (Gal 2,11-14). Dieser innerchristliche Konflikt bestand fort als Gegensatz zwischen Großkirche und Judenchristentum.

3.2.5. Paulus. Nach der Antiochia-Episode (Gal 2,11-14; s. dazu Betz, Galatians 103-112) wurde Paulus (-»Paulus, Apostel) zur Schlüsselfigur des Heidenchristentums, zum „Apostel der Heiden" (Rom 11,13; s. Lüdemann). Von Hause aus gehörte Paulus dem hellenistischen Diasporajudentum an. Nach dem Zeugnis der Act besaß er, von seinen Vorfahren ererbt, das Bürgerrecht seiner Heimatstadt Tarsus in Kilikien (Act 9,11.30; 11,25; 21,39; 22,3) und auch das römische Reichsbürgerrecht (Act 16,37-39; 22,25-29; 23,27). Das ihm sicher schon bei seiner Geburt gegebene cognomen Paulus (vgl. Act 7,58; 8,1.3 usw.; 13,9; dazu Betz, Galatians 37 Anm. 11) läßt auf Bürgerbewußtsein seitens der Familie schließen, dem sicher auch eine hellenistische Schulausbildung des jungen Paulus entsprach. Religiös aber gehörte die Familie und auch Paulus selber zu denen, die sich gegen eine Hellenisierung des Judentums stellten, zu den sog. Hebräern (Phil 3,5 f; Gal 1,14; Act 22,3; 23,6). Paulus schloß sich folgerichtig den -»Phari-

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säern an (Phil 3,5; Act 23,6; 26,5). Daß er deshalb, wie Act 22,3; 26,4 schließen zu müssen meint, in Jerusalem studiert und hebräische Sprachkenntnisse besessen habe (Act 21,40; 22,2; 26,14), ist eine unbeweisbare Behauptung. In den Briefen gibt es keinerlei Hinweise auf hebräische Sprachkenntnis; die Kenntnis von Fremdworten wie abba, maranatha usw. kann auch ohne Kenntnis der Sprachen durch Liturgie und Tradition erworben werden. Für eine genauere Kenntnis des kulturellen Niveaus des Diasporapharisäertums fehlen die Quellen. Der „Eifer" des Paulus richtete sich auf die strenge Befolgung des Gesetzes (Phil 3,5 f; Gal 1,14; 5,3; Act 22,3; 23,6) und damit gegen alle Tendenzen, die auf eine Abschaffung der Tora hinausliefen. Da die urchristliche Gemeinde sich diesen Tendenzen geöffnet hatte, wurde Paulus zum Christenverfolger (Gal 1,13.23; Phil 3,6; I Kor 15,9; Act 8,3; 9,1 f; 22,4f.l9;26,10f; -» Christenverfolgungen 1.5). Seine Verfolgertätigkeit wird sich aber nur gegen das gesetzesfreie Diasporachristentum gerichtet haben (Damaskus Act 9,2; 22,5; 26,12.20) und nicht gegen das Judenchristentum Judäas (anders Act 8,1-3; 22,19f; 26,10 f). Die sog. Bekehrung des Paulus (Gal 1,15 f; I Kor 9,1; 15,8; dazu Betz, Galatians 64 ff) brachte auch einen grundsätzlichen Wandel in seinem Verhältnis zum Hellenismus. Von den antihellenistischen Pharisäern trat Paulus zu den hellenisierenden Judenchristen über. Schon seine Schilderungen von Bekehrung und Berufung zum Heidenmissionar (-•Berufung II.2.) sind typisch hellenistisch, eine Typik, die von Act noch ausgebaut wird (9,1 ff; 22,3 ff; 26,9ff). Die weitere Interpretation nimmt Vorstellungen auf, die uns aus den Mysterien bekannt sind (Phil 3,7-11; II Kor 4,4-6). Jedoch hat der Christ Paulus die Problematik des Hellenismus nicht einfach hinter sich gelassen. Vielmehr tritt diese, die ja schon vor ihm zu einer innerchristlichen geworden war, auf eine neue Weise auf ihn zu und führt zur Ausbildung seiner Theologie, die sich in ihrer Entwicklung noch in den Briefen ablesen läßt. Diese Auseinandersetzung wird nach mehreren Seiten zugleich geführt: gegen Gegner verschiedener Herkunft und Ausrichtung sowie gegen Fehldeutungen seiner Botschaft. Ohne Zweifel war Paulus für seine judenchristlichen Gegner ein Apostat (-»Häresie 1.2.3.), der die Mission an den Heiden zur ,Paganisierung des Christentums' verfälschte. Andererseits hatte er mit Leuten zu kämpfen, die durch hellenisierende Weiterdeutung seiner Botschaft diese selbst zerstörten. Die Auseinandersetzungen waren u. a. deshalb so schwierig, weil eine religiöse und kulturelle Identität des Heidenchristentums erst im Entstehen begriffen war. Paulus konnte auch nicht mit einer fertig ausgebildeten Theologie in den Kampf gehen, sondern seine Theologie bildete sich erst in den auch für ihn z.T. neuen Erfahrungen heraus. Die zweifellos größte Herausforderung ergab sich als Folge der Gemeindegründung in Korinth. Hier war es der paulinischen Mission gelungen, in die Schichten des kultivierten und gebildeten Bürgertums einer blühenden, reichen und kosmopolitisch ausgerichteten Stadt vorzudringen. Die Annahme des Evangeliums ging Hand in Hand mit einer konsequenten Einschmelzung in hellenistische Religiosität. Die Riten von -»Taufe und -»Abendmahl wurden im Sinne hellenistischer Mysterienriten umgestaltet (I Kor 1 , 1 3 - 1 7 ; 15,29; 1 1 , 1 7 - 3 4 ) . An die Stelle des überkommenen judenchristlichen Ethos trat das der hellenistischen Großstadt. Neben den materiellen Reichtum, für den Korinth sprichwörtlich bekannt war, trat der Reichtum an intellektuellen Gaben (I Kor 1,5; II Kor 8 , 7 - 9 ; 9,11) und ekstatisch-pneumatischen Erfahrungen als neuer christlicher Wertmaßstab ( - » E k stase; -»Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben). Das Verhältnis zu anderen Religionen wurde im Geiste der Aufklärung und nach polytheistischer Praxis geordnet (I Kor 8 , 1 - 1 1 , 1 ) . In Fragen der Moral ließ man sowohl den Libertinismus (I Kor 5 - 6 ) als auch die radikale Askese (I Kor 7) gelten, wobei der Gegensatz zu den alten Moralkatalogen (I Kor 5 , 9 - 1 1 ; 6 , 9 - 1 0 ; II Kor 12,20; dazu Betz, Galatians 2 8 1 - 2 8 8 ) durch Berufung auf den Freiheitsbegriff gerechtfertigt wurde (I Kor 7,21 f; 9,1 ff; 10,29; II Kor 3,17; -»Freiheit). Wo Freiheit ist, da „ist mir alles erlaubt" (I Kor 6,12; 10,23). Grundvoraussetzung war bei alldem, daß sich mit der Freiheit von der alten Religion auch der Mythos vom Endgericht (-»Gericht Gottes) erledigte (I Kor 6,9; 15,12.50). Das Vorhandensein von Parteien (I Kor l,10ff) beweist jedoch, daß die konsequente Hellenisierung nicht von allen Mitgliedern der Gemeinde unterstützt wurde. Im Kern ging der Streit um das judenchristliche Erbe einerseits und die neue hellenistisch-christliche Identität andererseits.

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Die Bedeutung des Paulus für das Problem des Hellenismus besteht darin, daß er das von den Korinthern aufgeworfene Problem in seinen tieferen Ausmaßen erfaßt und sich ihm gestellt hat. Er sah sich vor die Alternative gestellt, entweder die korinthischen Ansätze in eine neue Gesamtkonzeption christlicher Existenz einzubringen oder die Selbstauflösung der paulinischen Gemeinden mitansehen zu müssen. Die korinthische Korrespondenz (-»Korintherbriefe) ist der literarische Niederschlag dieser tiefgehenden Auseinandersetzung mit dem Hellenismus, deren Ergebnis die paulinische Theologie der Korintherbriefe ist. Paulus spricht die Korinther programmatisch als Griechen an (I Kor 1,22). Als Griechen sind sie gewohnt und befugt, nach „Weisheit" zu fragen. Was wirft das Evangelium an „Weisheit" ab? Ein reiches intellektuelles Repertoire (I Kor 1,5) ist noch keine Weisheit, denn zuerst einmal gilt es, die „Weisheit dieser Welt", die ja nicht Weisheit sondern Torheit ist, von der „Weisheit Gottes", die oberflächlich als Torheit erscheint, zu unterscheiden. Die wirkliche Weisheit, die Weisheit Gottes, erweist sich als solche erst in der Anwendung auf die konkreten Lebensprobleme. Dieser Nachweis wird im I Kor durchgeführt. Der H a u p t s t o ß geht dahin, die Korinther von der Weisheit der aydjttj als dem Grund und Inhalt des christlichen Glaubens zu überzeugen, die sich auch im konkreten Leben als solche bewährt (I Kor 8,1; 13,1 ff; 14,1 usw.). Paulus identifiziert sich mit keiner der Parteien, sondern arbeitet am Beispiel der korinthischen Probleme die auf die Liebe begründete Weisheit Gottes heraus. Der Prozeß der Erziehung zieht sich auch durch die im II Kor zusammengefaßten Brieffragmente hindurch und kommt erst nach z.T. tumultartigen Konflikten mit der Gemeinde zum Abschluß. Die Durchführung der Kollekte für Jerusalem (I Kor 16,1 ff; II Kor 8 und 9; Rom 15,25 ff) spielt in diesem Prozeß eine entscheidende Rolle.

3.2.6. Die Gegner des Paulus erhoben erwartungsgemäß den Vorwurf, er schaffe nicht nur das Gesetz, sondern auch die Sünde ab (Rom 3,5-8.31; 6,1; Mt 5,17; 7,21—23). Auch dahinter steht wieder der Vorwurf illegitimer Hellenisierung, d.h. ,Paganisierung': Als Ergebnis paulinischer Lehre falle das Hcidenchristentum ins Heidentum zurück und trete damit wieder dem Judentum gegenüber. Dieser Problematik stellt sich der Apostel im -•Römerbrief. Er beginnt die Verteidigung seines Evangeliums (1,16 f) mit einer scharfen Kritik der hellenistischen Religiosität, Kultur und Moral (1,18 ff) und des nichtchristlichen Judentums (2,1 ff), um sich dann der Herausarbeitung des bereits in Gal 6,17 angedeuteten ,wahren Judentums' zuzuwenden. Das Christentum erscheint hier als übergeordnete universale Kirche, in der das Gesetz keineswegs abgeschafft (7,12) noch die Sünde negiert wird (7,13ff), sondern in der die Welt überwunden wird (8,31 if). In Kap. 9 - 1 1 zeigt Paulus dann, daß die Kirche keineswegs dem Judentum entgegengesetzt ist, sondern mit ihm zutiefst verbunden ist und in ihm verwurzelt bleibt. 3.2.7. Die nackpaulirtische Entwicklung setzt die Auseinandersetzungen um den Hellenismus in den Pseudepigraphen fort (—•Kolosserbrief, —»Epheserbrief, II Thess [-•Thessalonicherbriefc], -»Pastoralbriefe), wobei sie mit dem Problem von Orthodoxie und Häresie zusammenfällt (-»Häresie 1.3.3.). Jeder dieser Texte verhandelt aufs neue die Probleme von Öffnung und Abgrenzung gegenüber dem Hellenismus. 3.2.8. Die Evangelien und Act entstanden im Zusammenhang mit dem Problem, wie Leben und Lehre Jesu sowie der Ursprung der Kirche für hellenistische Menschen begreiflich zu machen waren. In je verschiedener Weise wird dabei die schon in den Wundergeschichten vertretene Christologie von Jesus als einem ,göttlichen Menschen' aufgenommen und umgedeutet (s. dazu Betz). Im Markusevangelium wird das Mysterium der Kreuzigung Jesu in einer hellenistischem Verstehen zugänglichen Weise dargestellt. Das Matthäusevangelium verbindet das heidenchristliche Markusevangelium mit Traditionen aus dem älteren Judenchristentum. Das -*Johannesevangelium setzt sich mit dem Hellenismus unter dem Vorzeichen der -»Gnosis auseinander. Im Lukasevangelium und in Act wird das Christentum als die dem Hellenismus am besten entsprechende Religion empfohlen (-»Apologetik). 4. Die Literaturwerdung

des Neuen

Testaments

4.1. Zum Stande der Forschung. Zum Thema Hellenismus im Neuen Testament gehört auch seine Literaturwerdung, die aus dem Neuen Testament z.T. eruiert werden

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kann. Die wissenschaftliche Erforschung dieses Prozesses ist gegenwärtig noch belastet von z.T. überholten Vorstellungen und Begriffen. Dazu gehört vor allem die Frage einer Anwendung des Begriffes Literatur auf das Neue Testament (-»Literaturgeschichte, Biblische), die stark unter dem Einfluß F. -•Overbecks und dessen Unterscheidung von „christlicher Urliteratur" und der patristischen als der eigentlich christlichen Literatur steht. Dieser Literaturbegriff, dessen Problematik und Geschichte noch kaum untersucht sind, hat auch die neutestamentliche Wissenschaft geprägt (-» Formgeschichte/Formenkritik, -»Redaktionskritik/Redaktionsgeschichte). So ist auch die neueste Geschichte der urchristlichen Literatur von Ph. Vielhauer (1975) davon beeinflußt (s. H . D . Betz). 4.2. Die Briefliteratur. Die im Gefolge von A. -»Deißmann übliche Unterscheidung von „wirklichem Brief" und „kunstmäßiger Epistel" ist nicht mehr brauchbar (s. Doty, T h e Classification); eine adäquate Klassifizierung neutestamentlicher Briefe fehlt. 4.2.1. Die echten Briefe umfassen Rom, I.II Kor, Gal, Phil, I Thess, Phlm, jedoch ist für Rom, II Kor und Phil mit redaktioneller Verarbeitung von Fragmenten zu rechnen. Die Interpretation der Paulusbriefe im Rahmen der antiken Briefliteratur steht noch in den Anfängen (s. Vielhauer § 3). Heute dürfte feststehen, daß diese Briefe nicht als Privatbriefe anzusehen sind. Daß sie nach Form und Inhalt gemäß antiker Briefstellerei und Rhetorik komponiert sind, ist z. Z. umstritten. Ihre literarische Funktion ist die einer Gebrauchsliteratur im Bereich christlicher Gemeinden. Gattungsbestimmungen und Kompositionsanalysen müssen bei evtl. Teilungshypothesen in Anschlag gebracht werden. Nachdem H . D . Betz das Fragment II Kor 1 0 - 1 3 (-»Korintherbriefe) als „Apologie" bestimmt hatte (Der Apostel Paulus), hat er erstmals den Galaterbrief als Gesamttext auf Briefgattung und Komposition untersucht (Galatians). Eine weitere Untersuchung zu II Kor 8 und 9 ist abgeschlossen; s. Betz, 2 Corinthians 8 and 9. 4.2.2. Die pseudepigraphischeti Briefe umfassen II Thess, Kol, Eph, Pastoralbriefe, Hebr, Katholische Briefe, sowie die in Act 15,23-29 und Apk 2 , 1 - 3 , 2 2 eingelegten Briefe. II Thess, Kol und Eph sind Nachahmungen des paulinischen Briefformats, setzen also dessen Literaturwerdung voraus. Einschlägige Untersuchungen sind zu II Thess die Dissertationen von G. Holland, zu den Pastoralbriefen von L. Donelson. 4.3. Die Evangelien wurden zuerst von K.L. -»Schmidt, M . -»Dibelius und R. ->Bultmann im Rahmen der antiken Literatur interpretiert ( - • Formgeschichte/Formenkritik). Während sich ihr Hauptinteresse auf die kleineren Formen richtete, konzentrierte sich die -»Redaktionsgeschichte auf die Evangelienverfasser. Seitdem ist jedoch diese Forschung nur geringfügig über die Anfänge hinausgekommen. Eine Ausnahme bildet nur die Gleichnisforschung. Trotz mancher Versuche (Talbert) ist es bisher nicht gelungen, die Gattung Evangelium angemessen zu bestimmen (s. J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus I [1978] 17-24; Aune). 4.4. Die -* Apostelgeschichte in die antike Literatur hineinzustellen, war das Bestreben von M . -»Dibelius (Aufsätze zur Apostelgeschichte [1951]). An ihn schlössen sich weitere Untersuchungen zur lukanischen Geschichtsschreibung an (C. K. Barrett; E. Plümacher; Vielhauer §§26-27). Es steht heute fest, daß Lukas literarisch an die Seite von hellenistischen Historikern wie Polybius, Plutarch, Josephus und Tacitus gestellt werden muß. 4.5. Die -»Apokalypse des Johannes ist der literarischen Gattung nach Gegenstand einer Reihe neuer Untersuchungen. Die apokalyptische Literatur stellt sich in zunehmendem Maße als Auseinandersetzungsliteratur dar (zum Stande der Forschung s. Collins; Hellholm).

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Universität

1. Universitätsgeschichte im Überblick S. 38) 1. Universitätsgeschichte

im

2. Die theologische Fakultät

(Quellen/Literatur

Überblick

Die Geschichte der letzten durch einen protestantischen Territorialfürsten im 16. J h . gegründeten Universität Helmstedt kann nach dem tatsächlich ausgeübten landesherrlichen R e k t o r a t in drei Perioden gegliedert werden: 1 5 7 6 - 1 6 3 4 unter dem mittleren H a u s -»•Braunschweig, 1 6 3 5 - 1 7 4 5 unter gesamtwelfischem K o n d o m i n a t , 1 7 4 5 - 1 8 1 0 unter dem neuen H a u s Braunschweig. Als H e r z o g Julius v. Braunschweig-Wolfenbüttel mit Hilfe der Melanchthonschüler David - » C h y t r a e u s und M a r t i n -»-Chemnitz begann, das 1571 eröffnete Gandersheimer P ä d a g o g i u m zu einer Volluniversität auszubauen und nach Helmstedt zu verlegen, um die R e f o r m a t i o n durch Ausbildung von bekenntnistreuen Geistlichen und Beamten zu festigen, befand sich von den 17 reichsdeutschen Hochschulen noch keine im heutigen Niedersachsen. Der von der Hansestadt Lüneburg unternommene Gründungsversuch k a m über die Einholung eines kaiserlichen (1471) und päpstlichen Privilegs (1479) nicht hinaus. F ü r Helmstedt erteilte nur noch M a x i m i l i a n II. am 9. M a i 1 5 7 5 ein Privileg. E s zeichnet sich neben der Erlaubnis zu akademischer Gradverleihung in allen vier Fakultäten durch die Übertragung des R e k t o r e n a m t e s auf den wolfenbüttelschen Erbprinzen und dessen E r nennung zum kaiserlichen Hofpfalzgrafen aus. Bald fiel ihm auch das Kanzleramt zu. Unter ihm stand der semesterweise wechselnde akademische Vizerektor.

Helmstedt

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Universität

1. Universitätsgeschichte im Überblick S. 38) 1. Universitätsgeschichte

im

2. Die theologische Fakultät

(Quellen/Literatur

Überblick

Die Geschichte der letzten durch einen protestantischen Territorialfürsten im 16. J h . gegründeten Universität Helmstedt kann nach dem tatsächlich ausgeübten landesherrlichen R e k t o r a t in drei Perioden gegliedert werden: 1 5 7 6 - 1 6 3 4 unter dem mittleren H a u s -»•Braunschweig, 1 6 3 5 - 1 7 4 5 unter gesamtwelfischem K o n d o m i n a t , 1 7 4 5 - 1 8 1 0 unter dem neuen H a u s Braunschweig. Als H e r z o g Julius v. Braunschweig-Wolfenbüttel mit Hilfe der Melanchthonschüler David - » C h y t r a e u s und M a r t i n -»-Chemnitz begann, das 1571 eröffnete Gandersheimer P ä d a g o g i u m zu einer Volluniversität auszubauen und nach Helmstedt zu verlegen, um die R e f o r m a t i o n durch Ausbildung von bekenntnistreuen Geistlichen und Beamten zu festigen, befand sich von den 17 reichsdeutschen Hochschulen noch keine im heutigen Niedersachsen. Der von der Hansestadt Lüneburg unternommene Gründungsversuch k a m über die Einholung eines kaiserlichen (1471) und päpstlichen Privilegs (1479) nicht hinaus. F ü r Helmstedt erteilte nur noch M a x i m i l i a n II. am 9. M a i 1 5 7 5 ein Privileg. E s zeichnet sich neben der Erlaubnis zu akademischer Gradverleihung in allen vier Fakultäten durch die Übertragung des R e k t o r e n a m t e s auf den wolfenbüttelschen Erbprinzen und dessen E r nennung zum kaiserlichen Hofpfalzgrafen aus. Bald fiel ihm auch das Kanzleramt zu. Unter ihm stand der semesterweise wechselnde akademische Vizerektor.

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Nach den notwendigen Vorbereitungen fand die Einweihung der Academia Julia schon mit rund 200 Studenten und 14 Dozenten am 15. O k t o b e r 1576 statt. Während der ersten von der untersten philosophischen Fakultät ausgehenden Blütezeit unter dem gelehrten und liberalen Heinrich Julius (1589-1613) stieg die jährliche Studentenfrequenz um mehr als das Doppelte an. Die wirtschaftliche Grundlage bildeten die Zinsen eines von den Landständen bewilligten Geldfonds sowie die Einkünfte von zwei, ab 1633 von fünf Klöstern. Der Professor Primarius der theologischen Fakultät verdiente 1582 7,5 mal so viel wie der Gräzist in der philosophischen Fakultät. Das Verhältnis von Kleinstadt und Universität blieb lange gespannt. Als Hörsaalgebäude diente nach anfänglichen Provisorien das 1593-1612 im Renaissancestil errichtete Juleum, dem nur der etwa gleichzeitig entstandene Würzburger Kollegienkomplex an die Seite zu stellen ist.

Mit dem Umzug nach Helmstedt wurde die Universitätsverfassung unter Federführung von Chytraeus ausgearbeitet. Sie enthält die Statuten der vier Fakultäten mit humanistisch geprägten Anleitungen für das philosophische Grundstudium, die studentischen Disziplinargesetze und Bestimmungen über die Verwaltung. Ebenfalls rechtzeitig zur Einweihung hatte Herzog Julius ein Corpus Doctrinae zusammenstellen lassen, auf das sich alle nach Helmstedt berufenen Professoren (mit wenigen Ausnahmen) und sonstigen Beamten auch nach dem Erscheinen der —»Konkordienformel, die in Braunschweig-Wolfenbüttel keine Rechtsnorm wurde, verpflichten mußten. Unter der durch unregelmäßige Visitationen und strenge Zensuraufsicht über sämtliche Veröffentlichungen durchgeführten Anteilnahme und Kontrolle des fürstlichen Gründers überwand die junge Hochschule ihre Anfangsschwierigkeiten, stieß aber in ihren Autonomiebedürfnissen nicht selten mit den Machtansprüchen des aufstrebenden Territorialherren zusammen. Während der Regierung des weitsichtigen Heinrich Julius entwickelte sich Helmstedt durch die Philosophen Johannes Caselius (1589-1613 in Helmstedt) und Cornelius Martini (1592-1621 in Helmstedt), durch den Historiker Heinrich Meibom d.Ä. (1583-1625 in Helmstedt) und den Orientalisten Valentin Schindler (1593-1604 in Helmstedt) zu einem glänzenden Zentrum des deutschen Späthumanismus, zu einer Pflegestätte antiramistischer, aristotelischer und historischer Studien und zu einem eigentümlichen Anziehungspunkt für freie unabhängige Geister (z. B. 1589 Giordano -»Bruno und zahlreiche Studenten aus Territorien ohne FC). Bis zum Ausbruch des 30jährigen Krieges hatte Helmstedt sich mit 24 Professoren und jährlich bis zu 500 Studierenden (aus Nord-, Mittel-, Ostdeutschland und Skandinavien mit anfangs hohen Adelsquoten) zur drittgrößten Universität neben -•Leipzig und -»Wittenberg emporgearbeitet. Landesstipendien und eine gute Mensa mit Freitischen ermöglichten auch Minderbemittelten das Studium. Größere Freiheit und die sozialen Unterschiede unter den Studierenden führten allerdings häufig zu Konflikten und zu sprichwörtlicher Disziplinlosigkeit. Durch Pest und Krieg kam der Lehrbetrieb 1625-27 zum Erliegen, konnte aber ab 1628 aufgrund von kaiserlichen und schwedischen Schutzbriefen wieder aufgenommen werden. Während der Notzeit studierten einige Helmstedter als Stipendiaten eines reichen Niederländers in Leiden. Mit dem erbenlosen Tode Herzog Friedrich Ulrichs wurde Helmstedt weifische Gesamtuniversität. Das Reskript vom 14. Dezember 1635 sah ein jährlich wechselndes Direktorium der drei weifischen Linien vor. Dadurch ergaben sich organisatorische Schwerfälligkeiten und Parteibildungen, aber auch Vorteile durch wetteifernde Förderung. Als besonders wissenschaftsfreundlich erwies sich der vielseitige Sammler, Kunstliebhaber und theologische Laienschriftsteller August d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel (1635-1666), Freund vieler Gelehrter und Begründer einer der bedeutendsten europäischen Fürstenbibliotheken. 1650 erfolgte die umfassende Reorganisation der Hochschule durch eine außerordentliche Visitation. Als bei der Hundertjahrfeier 1676 der zum Katholizismus konvertierte Herzog Johann Friedrich von Hannover das Rektorat führte, war die zweite durch -»Calixt und -»Conring bestimmte Blüte bereits im Welken begriffen. Die Gründung von -»Kiel (1665) schmälerte den Einzugsbereich, die pietistenfeindliche weifische Kirchenpolitik ließ das calixtinische Helmstedt langsam hinter dem 1694 eröffneten Halle in den Schatten treten, und schließlich lief die 1734/37 im benachbarten -»Göttingen errichtete moderne aufgeklärte Universität dem trotz eines letzten Aufschwungs durch den Mediziner Lorenz Heister

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(1720-1758 in Helmstedt) und Johann Lorenz v. -»Mosheim mehr und mehr ins Provinzielle abgleitenden einst gefeierten Elm-Athen den Rang ab. 1745 legte Kurfürst Georg August von Hannover ( = Georg II. v. England) seine Mitverantwortung und Unterhaltungspflicht für Helmstedt nieder. Daraufhin versuchte Karl I. v. Braunschweig-Wolfenbüttel (1745-1780), der in Julia Carolina umbenannten akademischen Ausbildungsstätte durch bauliche und organisatorische Veränderungen (u.a. Erweiterung der Bibliothek, Einrichtung eines philologischen und eines Predigerseminars) aufzuhelfen. Gleichzeitig entzog er ihr aber durch die Gründung des Collegium Carolinum in Braunschweig wichtige wirtschaftliche Kräfte. Wegen Unterbringungs- und Versorgungsschwierigkeiten wiederholt auftauchende Verlegungspläne nach Wolfenbüttel und Braunschweig fanden keine Verwirklichung, hätten den Niedergang auch schwerlich aufhalten können. Seit 1807 gehörte Helmstedt zum Königreich Westfalen mit insgesamt fünf Universitäten. Obgleich der Lehrkörper in allen Fakultäten bis zuletzt bedeutende Namen aufzuweisen hatte (z. B. den Mediziner und Raritätensammler Gottfried Christoph Beireis, den Goethe 1805 besuchte, oder den Juristen Karl Friedrich Häberlin) und immer noch jährlich etwa 300 Studenten (meist Landeskinder) das ehrwürdige Gehäuse belebten, verfügte König Jérôme am 10. Dezember 1809 die Zusammenlegung von Helmstedt und Rinteln mit Göttingen und Marburg. Politische Gründe scheinen dabei mit im Spiel gewesen zu sein. Versuche, den Lehrbetrieb nach dem französischen Abzug wieder aufzunehmen, schlugen fehl. Die Bestände der hauptsächlich aus zwei fürstlichen Schenkungen (u.a. mit der Büchersammlung des -»Flacius Illyricus) bestehenden Universitätsbibliothek gingen 1812 nach Marburg und Göttingen, ein Teil kam 1815 nach Wolfenbüttel in die Herzog August Bibliothek. Der Rest von 30000 Bänden befindet sich noch heute im 1971 wiedereröffneten restaurierten Juleum.

2. Die theologische

Fakultät

Die Geschichte der theologischen Fakultät läßt sich nach den vorherrschenden theologischen Strömungen in drei Abschnitte einteilen: 1576-1624 lutherische Orthodoxie, 1624-1700 Calixtinismus, 1700-1810 calixtinischer Ausklang und Aufklärung. Die Universität Helmstedt sollte nach dem Wunsch Herzog Julius' eine Pflegestätte lutherischen Geistes gegen Philippismus und Kryptocalvinismus sein. Gleichwohl war ihre wissenschaftliche Gesamtkonzeption mit der humanistisch-melanchthonischen Zielvorstellung von „sapiens et eloquens pietas" für das philosophische Grundstudium liberal und dazu prädestiniert, dem protestantischen Aristotelismus voll zum Durchbruch zu verhelfen. Demgegenüber vertraten die streng lutherischen Helmstedter Theologen (Timotheus Kirchner, Tilemann —»Heshusius, Basilius Sattler, Daniel Hofmann), die gemäß den Statuten Bibelkunde, Exegese, Dogmatik, Kirchengeschichte und Homiletik zu lehren hatten, eine zunehmend philosophiefeindliche Haltung. Nur durch ihre gebrochene Stellung zur Konkordienformel und der darin vermuteten ubiquitistischen Christologie hatten sie teil an der Helmstedter Liberalität. Die Spannungen zwischen Theologen und Philosophen entluden sich in dem 1598-1601 hauptsächlich zwischen Hofmann und Martini um die doppelte Wahrheit geführten Streit, den Herzog Heinrich Julius aufgrund eines Rostocker Gutachtens zugunsten der Philosophen entschied. Dadurch war Martini mit seiner 1597—1599 gehaltenen Metaphysikvorlesung als Neubegründer der -»Metaphysik im deutschen Luthertum bestätigt. Die Auseinandersetzung mit Hofmann hatte ihn zur Unterscheidung von Theologie und Glaube wie zur Beschäftigung mit theologischen Fragen geführt. 1601 nahm er am Regensburger Religionsgespräch teil und fand ab 1603 in Georg Calixt seinen treuesten und zugleich eigenständigsten Schüler. Mit Calixt übernahm die theologische Fakultät die Führungsrolle an der Universität, wenn auch die letzten Vertreter des älteren Helmstedter Luthertums den Emporkömmling, „der nie Theologos orthodoxos gehöret hat", durch enge Zensurmaßnahmen gängelten und ein Jenaer Theologenkonvent (1621) seine Christologie und Sündenlehre verurteilte. Gleichwohl stellte seine 40jährige Lehrtätigkeit (1615-1656) mit Ausnahme der Kriegspause einen bleibenden Anziehungspunkt für alle diejenigen dar, die im Zeitalter des Konfessionalismus und der Lehrverfestigung ein Gespür für die ökumenizität des Christentums, für seine elementare Praxisbezogenheit und für freie historische Forschung besaßen. (Seit 1650 gab es in Helmstedt einen eigenen Lehrstuhl für Kirchengeschichte.) Während des Synkretistischen Streites zwischen den Helmstedter Calixtinern und einem Großteil des deutschen konfessionellen Luthertums erlitt die Universität keinen Schaden. Nicht nur Fachkollegen wie

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Konrad Hornejus (1621-1649 in Helmstedt), sondern auch der weit über Helmstedts Grenzen hinaus bekannte eigenständige Schüler Martinis H e r m a n n -»Conring (16321681 in Helmstedt) sowie vor allem die weifischen Herzöge standen auf Calixts Seite. Durch eine Reihe bedeutender Calixtanhänger (Justus Gesenius, Christoph Schräder, Gerhard Titius) bestimmte humanistischer, toleranter Geist die Juliusuniversität wie die gesamte niedersächsische Kirche. 1694 unterstützte G . W . -»Leibniz von Hannover aus die Berufung J o h . Andreas Schmids aus Jena (1695-1726 in Helmstedt) wegen seiner an calixtinische Tradition anknüpfenden theologia moderata. (Hätte die Berufung Johann Gerhards aus Jena 1622 Erfolg gehabt, wäre die Geschichte der theologischen Fakultät möglicherweise anders verlaufen!) 1704 k o n n t e wiederum ganz im Sinne Calixts Johannes Fabricius (1697-1704 in Helmstedt) die heiratspolitisch bedingte Konversion der Prinzessin Elisabeth Christine (Enkelin Herzog Anton Ulrichs, Gemahlin Kaiser Karls VI. und nachmalige M u t t e r M a r i a Theresias) zum Katholizismus theologisch rechtfertigen, da auch dieser die Seligkeit ermögliche. Pietistische Einflüsse k a m e n demgegenüber in Helmstedt nicht zum Tragen. Der Orientalist, kritische Exeget des Alten Testaments und gründliche Erforscher des Konstanzer Konzils H e r m a n n v. der H a r d t (1690-1746 in Helmstedt) gab seine anfänglich mystischen Neigungen bald auf. Der letzte große Helmstedter Theologe und entfernte Erbe calixtinischer Anliegen w a r J o h a n n Lorenz v. - • M o s h e i m , der Helmstedt während seiner vielseitigen Wirksamkeit (1723-1747) als akademischer Lehrer und Prediger ein letztes M a l anziehend machte. Obgleich er 1726 lebenslanges Bleiben in Helmstedt versprochen hatte, das Jahreshöchstgehalt von 600 Talern bezog und Abt von Mariental w a r , ging er 1747 als Universitätskanzler nach Göttingen. Damit w a r die Julia Carolina gleichzeitig wirtschaftlich und geistig beraubt. Der schwindenden Attraktivität sollten der streng o r t h o d o x e J o h a n n Benedikt Carpzov (1748—1803 in Helmstedt) sowie der vielversprechende Neologe Wilhelm Abraham Teller (1761-1767 in Helmstedt) entgegenwirken. Doch letzterer rüttelte mit seinem kritischen Lehrbuch des christlichen Glaubens (1764) so sehr an Althergebrachtem, daß man über seinen Weggang nach Berlin Erleichterung e m p f a n d . Der seit 1770 im benachbarten Wolfenbüttel wirkende Bibliothekar G . E . -»Lessing n a h m z.B. von Helmstedt kaum Notiz. Die - » A u f k l ä r u n g k o n n t e erst mit dem Kirchenhistoriker Heinrich Philipp Konrad H e n k e (1777-1809) in Helmstedt richtig Fuß fassen. Durch seine Ansätze zu periodischer und synchronistischer Geschichtsbetrachtung trat er als würdiger Vertreter der seit den Anfängen herausragenden Helmstedter historischen Bemühungen neben den in der philosophischen Fakultät lehrenden Franz Dominikus Häberlin (1767-1787), Verfasser einer 32bändigen deutschen Reichsgeschichte. Unter den zuletzt berufenen Theologen kamen der Exeget David Julius Pott (1787-1810 in Helmstedt) und der Praktiker Heinrich Philipp Sextro (1788-1798 in Helmstedt) bereits aus Göttingen. Eine 1794 erwogene Beruf u n g Immanuel - » K a n t s in die philosophische Fakultät zerschlug sich aus politischen Rücksichten. Für den Fortbestand der Julia Carolina nach 1807 setzte sich durch Bittgesuche in Paris und Kassel vor allem H e n k e als Abt von Königslutter und erster Sprecher der Landstände ein. (Dieses Amt hatten seit 1635 nach G . Calixt verdiente Helmstedter Theologen zur Gehaltsaufbesserung zusätzlich inne.) Henkes Sohn Ernst Ludwig Theod p r schrieb gleichsam als Nachruf auf eine rund 240jährige glanzvolle Gelehrtengeschichte 1 8 3 3 - 1 8 6 0 die Biographie Georg Calixts, des bemerkenswertesten aller 60 Lehrer in der Helmstedter theologischen Fakultät.

Quellen/Literatur Handschriftliches Material in reichem Maße findet sich im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv Hannover sowie im Niedersächsischen Staatsarchiv Wolfenbüttel. Album Academiae Helmstadiensis, 11574-1636. Bearb. v. Paul Zimmermann, Hannover 1926 (Veröff. d. Hist. Komm. f. Hannover IX/1/1). - Personen- u. Ortsregister, ebd. 1955. - Die Matrikel der Universität Helmstedt 1636-1685. Bearb. v. Werner Hillebrand, Hildesheim 1981 (Veröffentlichungen d. Hist. Komm. f. Niedersachsen IX/1/2). - Die Matrikel der Universität Helmstedt 1685-1810. Bearb. v. Herbert

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H e n g s t e n b e r g , Ernst 1. Leben 1.

2. Werk

-»Schottland

Wilhelm 3. Wertung

(1802-1869) (Quellen/Literatur S. 42)

Leben

Ernst W i l h e l m H e n g s t e n b e r g w u r d e a m 20. O k t o b e r 1802 als S o h n eines reformierten Pfarrers in Fröndenberg (bei Unna) in Westfalen g e b o r e n . D e r vielseitig gebildete Vater vertrat einen g e m ä ß i g t e n t h e o l o g i s c h e n - • R a t i o n a l i s m u s u n d e r z o g seinen S o h n - d e m er bis z u m Studienbeginn Hausunterricht erteilte - im Geiste eines humanistisch geprägten, toleranten, aber a u c h g e f ü h l s b e t o n t e n Christentums. H e n g s t e n b e r g b e g a n n 1819 d a s Stud i u m der klassischen u n d orientalischen P h i l o l o g i e s o w i e der P h i l o s o p h i e an der Universität zu - » B o n n . Seine intensiven arabischen Studien unter der Leitung d e s b e d e u t e n d e n Orientalisten G e o r g W i l h e l m Freytag ( 1 7 8 8 - 1 8 6 1 ) s c h l o ß er 1823 mit der P r o m o t i o n z u m D o k t o r der P h i l o s o p h i e ab. T h e o l o g i s c h e Vorlesungen hörte H e n g s t e n b e r g in B o n n nur sporadisch; d e n n o c h hatte er d a s feste Ziel, T h e o l o g e zu w e r d e n . So schlug er n a c h der

Hengstenberg

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Mundhenke, Hildesheim 1979 (ebd. IX/1/3). - Die Statuten der Univ. Helmstedt. Bearb. v. Peter Baumgart/Ernst Pitz, Göttingen 1963 (Veröffentlichungen d. Nieders. Archivverwaltung 15). Helmstedter Promoviertenliste, zusammengestellt v. Franz Dominicus Haeberlin. Hg. v. Friedrich Wecken, Leipzig 1917 (Mitteilungen d. Zentralstelle f. Personen- u. Familiengesch. 15). - Historica Narratio de introductione universitatis Juliae et promulgatione Privilegiorum. Id. Octobr. 1576, Helmstedt 1579. - Rolf Volkmann, Bibliogr. der Heimatkunde des Landkreises Helmstedt, Helmstedt 1958, 112-207. - Inge Mager, Bibliogr. zur Gesch. der Univ. Helmstedt: J G N K G 74 (1976) 237-242. Peter Baumgart, Die Anfänge der Univ. Helmstedt, Habilitationsschrift FU Berlin 1964. - Ders., David Chyträus u. die Gründung der Univ. Helmstedt: Braunschweig. Jb. 42 (1961) 3 6 - 8 2 . - Ders., Die Gründung der Univ. Helmstedt: ebd. 57 (1976) 3 1 - 4 8 = Wolfenbütteler Forsch. 4 (1978) 217-241. - Ders., Universitätsautonomie u. landesherrliche Gewalt im späten 16. Jh. Das Beispiel Helmstedt: Zeitschr. f. Hist. Forschung 1 (1974) 2 3 - 5 3 . - Ders., Z u r wirtschaftlichen Situation der dt. Universitätsprofessoren am Ausgang des 16. Jh.. Das Beispiel Helmstedt: JFLF 34/35 = FS Gerhard Pfeiffer (1975), 9 5 7 - 974. - Bernd Becker, Die Privilegien der Univ. Helmstedt u. ihre Bekämpfung durch die Stadt 1576-1810, Diss. phil. Braunschweig 1939. - Arthur Behse, Die juristische Fakultät der Univ. Helmstedt im Zeitalter des Naturrechts, Wolfenbüttel 1920 (Quellen u. Forschungen zur braunschweigischen Gesch. 12). - Johannes Beste, Gesch. der Braunschweigischen Landeskirche, Wolfenbüttel 1889. - Hans Haase, Die Univ. Helmstedt 1576-1810. Bilder aus ihrer Gesch., Wolfenbüttel 1976. - Ernst Ludwig Theodor Henke, Georg Calixtus u. seine Zeit, 2 Bde., Halle 1853 - 6 0 (Die Einleitung erschien selbständig Halle 1833). - Gisela Hölk, Die Geschichtswiss. an der Univ. Helmstedt seit der Gründung der Univ. Göttingen (1737-1809), Diss. phil. Berlin 1969. Hermann Hofmeister, Die Gründung der Univers. Helmstedt, Diss. phil. Marburg, Hannover 1904 = Z H V N S (1904), 127-198. - Ders., Die Univ. Helmstedt zur Zeit des 30jährigen Krieges: Z H V N S (1907) 241-277. - Friedrich Koldewey, Gesch. der klass. Phil, auf der Univ. Helmstedt, Braunschweig 1895. - Inge Mager, Hermann Conring als theol. Schriftsteller: Hist. Forsch. 23 (1983) 5 5 - 8 4 . - Dies., Luth. Theol. u. aristotelische Phil, an der Univ. Helmstedt im 16. Jh.: J G N K G 73 (1975) 83 - 9 8 . - Dies., Reformatorische Theol. u. Reformationsverständnis an der Univ. Helmstedt im 16. u. 17. Jh.: J G N K G 74 (1976) 11 - 3 3 . - Dies., Theol. Promotionen an der Univ. Helmstedt im ersten Jh. des Bestehens: J G N K G 69 (1971) 8 3 - 1 0 2 . - Christof Römer, Helmstedt als Typ der Universitätsstadt: NSJ 52 (1980) 5 9 - 7 4 . - Ernst Schlee, Der Streit des Daniel H o f m a n n über das Verhältniss der Phil, zur Theol., Marburg 1862. - Späthumanismus u. Landeserneuerung. Die Gründungsepoche der Univ. Helmstedt 1576-1613 [Ausstellungskatalog v. Christof Römer], Braunschweig 1976 (Veröff. des Braunschweiger Landesmuseums 9). - Walter Sparn, Doppelte Wahrheit? Erinnerungen zur theol. Struktur des Problems der Einheit des Denkens: Zugang zur Theol. FS Wilfried Jocst, Göttingen 1979, 5 3 - 7 8 . - Rolf Volkmann, Die ehemalige Universitätsbibliothek zu Helmstedt u. die Neukatalogisierung der noch vorhandenen Bestände: Braunschw. Jb. 39 (1958) 154-156. - Johannes Wallmann, Helmstcdtcr Theol. in Conrings Zeit: Hist. Forsch. 23 (1983) 3 3 - 5 3 . - Paul Zimmermann, Franz Häberlin, Die Gründung der Univ. Helmstedt u. der weitere Verlauf ihrer Gesch., Helmstedt 1927. Inge M a g e r H e n d e r s o n , Alexander

H e n g s t e n b e r g , Ernst 1. Leben 1.

2. Werk

-»Schottland

Wilhelm 3. Wertung

(1802-1869) (Quellen/Literatur S. 42)

Leben

Ernst W i l h e l m H e n g s t e n b e r g w u r d e a m 20. O k t o b e r 1802 als S o h n eines reformierten Pfarrers in Fröndenberg (bei Unna) in Westfalen g e b o r e n . D e r vielseitig gebildete Vater vertrat einen g e m ä ß i g t e n t h e o l o g i s c h e n - • R a t i o n a l i s m u s u n d e r z o g seinen S o h n - d e m er bis z u m Studienbeginn Hausunterricht erteilte - im Geiste eines humanistisch geprägten, toleranten, aber a u c h g e f ü h l s b e t o n t e n Christentums. H e n g s t e n b e r g b e g a n n 1819 d a s Stud i u m der klassischen u n d orientalischen P h i l o l o g i e s o w i e der P h i l o s o p h i e an der Universität zu - » B o n n . Seine intensiven arabischen Studien unter der Leitung d e s b e d e u t e n d e n Orientalisten G e o r g W i l h e l m Freytag ( 1 7 8 8 - 1 8 6 1 ) s c h l o ß er 1823 mit der P r o m o t i o n z u m D o k t o r der P h i l o s o p h i e ab. T h e o l o g i s c h e Vorlesungen hörte H e n g s t e n b e r g in B o n n nur sporadisch; d e n n o c h hatte er d a s feste Ziel, T h e o l o g e zu w e r d e n . So schlug er n a c h der

Hengstenberg

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Mundhenke, Hildesheim 1979 (ebd. IX/1/3). - Die Statuten der Univ. Helmstedt. Bearb. v. Peter Baumgart/Ernst Pitz, Göttingen 1963 (Veröffentlichungen d. Nieders. Archivverwaltung 15). Helmstedter Promoviertenliste, zusammengestellt v. Franz Dominicus Haeberlin. Hg. v. Friedrich Wecken, Leipzig 1917 (Mitteilungen d. Zentralstelle f. Personen- u. Familiengesch. 15). - Historica Narratio de introductione universitatis Juliae et promulgatione Privilegiorum. Id. Octobr. 1576, Helmstedt 1579. - Rolf Volkmann, Bibliogr. der Heimatkunde des Landkreises Helmstedt, Helmstedt 1958, 112-207. - Inge Mager, Bibliogr. zur Gesch. der Univ. Helmstedt: J G N K G 74 (1976) 237-242. Peter Baumgart, Die Anfänge der Univ. Helmstedt, Habilitationsschrift FU Berlin 1964. - Ders., David Chyträus u. die Gründung der Univ. Helmstedt: Braunschweig. Jb. 42 (1961) 3 6 - 8 2 . - Ders., Die Gründung der Univ. Helmstedt: ebd. 57 (1976) 3 1 - 4 8 = Wolfenbütteler Forsch. 4 (1978) 217-241. - Ders., Universitätsautonomie u. landesherrliche Gewalt im späten 16. Jh. Das Beispiel Helmstedt: Zeitschr. f. Hist. Forschung 1 (1974) 2 3 - 5 3 . - Ders., Z u r wirtschaftlichen Situation der dt. Universitätsprofessoren am Ausgang des 16. Jh.. Das Beispiel Helmstedt: JFLF 34/35 = FS Gerhard Pfeiffer (1975), 9 5 7 - 974. - Bernd Becker, Die Privilegien der Univ. Helmstedt u. ihre Bekämpfung durch die Stadt 1576-1810, Diss. phil. Braunschweig 1939. - Arthur Behse, Die juristische Fakultät der Univ. Helmstedt im Zeitalter des Naturrechts, Wolfenbüttel 1920 (Quellen u. Forschungen zur braunschweigischen Gesch. 12). - Johannes Beste, Gesch. der Braunschweigischen Landeskirche, Wolfenbüttel 1889. - Hans Haase, Die Univ. Helmstedt 1576-1810. Bilder aus ihrer Gesch., Wolfenbüttel 1976. - Ernst Ludwig Theodor Henke, Georg Calixtus u. seine Zeit, 2 Bde., Halle 1853 - 6 0 (Die Einleitung erschien selbständig Halle 1833). - Gisela Hölk, Die Geschichtswiss. an der Univ. Helmstedt seit der Gründung der Univ. Göttingen (1737-1809), Diss. phil. Berlin 1969. Hermann Hofmeister, Die Gründung der Univers. Helmstedt, Diss. phil. Marburg, Hannover 1904 = Z H V N S (1904), 127-198. - Ders., Die Univ. Helmstedt zur Zeit des 30jährigen Krieges: Z H V N S (1907) 241-277. - Friedrich Koldewey, Gesch. der klass. Phil, auf der Univ. Helmstedt, Braunschweig 1895. - Inge Mager, Hermann Conring als theol. Schriftsteller: Hist. Forsch. 23 (1983) 5 5 - 8 4 . - Dies., Luth. Theol. u. aristotelische Phil, an der Univ. Helmstedt im 16. Jh.: J G N K G 73 (1975) 83 - 9 8 . - Dies., Reformatorische Theol. u. Reformationsverständnis an der Univ. Helmstedt im 16. u. 17. Jh.: J G N K G 74 (1976) 11 - 3 3 . - Dies., Theol. Promotionen an der Univ. Helmstedt im ersten Jh. des Bestehens: J G N K G 69 (1971) 8 3 - 1 0 2 . - Christof Römer, Helmstedt als Typ der Universitätsstadt: NSJ 52 (1980) 5 9 - 7 4 . - Ernst Schlee, Der Streit des Daniel H o f m a n n über das Verhältniss der Phil, zur Theol., Marburg 1862. - Späthumanismus u. Landeserneuerung. Die Gründungsepoche der Univ. Helmstedt 1576-1613 [Ausstellungskatalog v. Christof Römer], Braunschweig 1976 (Veröff. des Braunschweiger Landesmuseums 9). - Walter Sparn, Doppelte Wahrheit? Erinnerungen zur theol. Struktur des Problems der Einheit des Denkens: Zugang zur Theol. FS Wilfried Jocst, Göttingen 1979, 5 3 - 7 8 . - Rolf Volkmann, Die ehemalige Universitätsbibliothek zu Helmstedt u. die Neukatalogisierung der noch vorhandenen Bestände: Braunschw. Jb. 39 (1958) 154-156. - Johannes Wallmann, Helmstcdtcr Theol. in Conrings Zeit: Hist. Forsch. 23 (1983) 3 3 - 5 3 . - Paul Zimmermann, Franz Häberlin, Die Gründung der Univ. Helmstedt u. der weitere Verlauf ihrer Gesch., Helmstedt 1927. Inge M a g e r H e n d e r s o n , Alexander

H e n g s t e n b e r g , Ernst 1. Leben 1.

2. Werk

-»Schottland

Wilhelm 3. Wertung

(1802-1869) (Quellen/Literatur S. 42)

Leben

Ernst W i l h e l m H e n g s t e n b e r g w u r d e a m 20. O k t o b e r 1802 als S o h n eines reformierten Pfarrers in Fröndenberg (bei Unna) in Westfalen g e b o r e n . D e r vielseitig gebildete Vater vertrat einen g e m ä ß i g t e n t h e o l o g i s c h e n - • R a t i o n a l i s m u s u n d e r z o g seinen S o h n - d e m er bis z u m Studienbeginn Hausunterricht erteilte - im Geiste eines humanistisch geprägten, toleranten, aber a u c h g e f ü h l s b e t o n t e n Christentums. H e n g s t e n b e r g b e g a n n 1819 d a s Stud i u m der klassischen u n d orientalischen P h i l o l o g i e s o w i e der P h i l o s o p h i e an der Universität zu - » B o n n . Seine intensiven arabischen Studien unter der Leitung d e s b e d e u t e n d e n Orientalisten G e o r g W i l h e l m Freytag ( 1 7 8 8 - 1 8 6 1 ) s c h l o ß er 1823 mit der P r o m o t i o n z u m D o k t o r der P h i l o s o p h i e ab. T h e o l o g i s c h e Vorlesungen hörte H e n g s t e n b e r g in B o n n nur sporadisch; d e n n o c h hatte er d a s feste Ziel, T h e o l o g e zu w e r d e n . So schlug er n a c h der

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Hengstenberg

Promotion ein Angebot aus, sich in der Arabistik weiter zu spezialisieren. Hengstenberg wollte sich in Berlin auf ein akademisches Lehramt an der dortigen theologischen Fakultät vorbereiten; als ihm hierzu kein Stipendium gewährt wurde, ging er 1823 für ein Jahr als Hauslehrer nach Basel. In der älteren Literatur (Bachmann, Lenz, Hirsch) wird die Auffassung vertreten, Hengstenberg habe in Basel einen „Durchbruch zum Glauben" erlebt. Der Einfluß des Missionshauses, in dem er Sprachenunterricht erteilte, und Begegnungen mit Vertretern der Christentumsgesellschaft (-»Basel, Christentumsgesellschaft) hätten zu einer Bekehrung „ziemlich nach Art des alten Hallischen Pietismus" (Hirsch V,120) geführt. Die neuere Literatur deutet die Entwicklung Hengstenbergs anders: In Basel sei es lediglich zu einer Hinwendung zu theologischer Lektüre gekommen (Melanchthons Loci, Calvins Institutio, -»Schleiermacher, -»De Wette, -»Tholuck, -»Neander; vgl. Kriege 20f); die Hengstenberg zeitlebens prägende Kritik an der rationalistischen Schriftauslegung habe sich erst in Berlin herangebildet (Kramer 6; Wulfmeyer 28). t

Hengstenberg habilitierte sich 1824 in Berlin zunächst in der philosophischen Fakultät; dies war die vom Ministerium geforderte Voraussetzung für seine Promotion zum Lizentiaten der Theologie (16.4.1825) und seine unmittelbar danach beginnende Vorlesungstätigkeit (alttestamentliche Exegese) an der Berliner theologischen Fakultät (zu deren damaliger Zusammensetzung vgl. T R E 5,636). Vor allem Neander förderte den jungen Kollegen und brachte ihn in Verbindung mit hochgestellten Persönlichkeiten der Berliner Erweckungsbewegung (H.E. v. -»Kottwitz, die Gebrüder v. Gerlach; vgl. T R E 7,119,54 ff; 10,211 f). In den 20 Theses theologicae der Lizentiatenpromotion ist der Einfluß der Erweckungsbewegung auf Hengstenberg bereits unverkennbar (Text bei Bachmann I, 333 f). Mit der kleinen Schrift Einige Worte über die Nothwendigkeit der Überordnung des äußeren Wortes über das innere, nebst Stellen aus Luthers Schriften (1825) und mit einer bemerkenswert selbstbewußten „authentischen Erklärung" über Die Königl. Preußische Ministerialverfügung über Mysticismus, Pietismus und Separatismus (1826) erregte Hengstenberg einiges Aufsehen. Zumal die zweite Schrift erschwerte das Fortkommen des jungen Extraordinarius (seit 31.1.1826) an der Berliner Fakultät (Bedenken von Minister Altenstein und Ph.K. -»Marheineke); sie stärkte aber zugleich das erwartungsvolle Vertrauen der Berliner Erweckungskreise, denen Hengstenberg auch durch seine Heirat (1829) mit Therese v. Quast (1812-1861) verbunden war. Als der schon seit Jahren bestehende Plan zur Gründung einer konservativen kirchlich-theologischen Zeitschrift 1827 verwirklicht werden konnte, trugen die Gebrüder v. Gerlach die Redaktion des Blattes Hengstenberg an. Als Herausgeber der Evangelischen Kirchenzeitung hat er 42 Jahre lang erheblichen Einfluß auf die Kirchenpolitik in Preußen (und darüber hinaus) genommen. Ohne je ein kirchenleitendes Amt innegehabt zu haben gelang es ihm, mit den Mitteln der kirchlichen Publizistik die Kräfte der Reaktion gegen alle Formen des —»Liberalismus wirksam zu unterstützen; dabei schreckte er auch vor solchen Methoden nicht zurück, die schon seine Zeitgenossen als denunziatorisch empfanden. Hengstenbergs Lehrtätigkeit an der Berliner Universität (seit 1828 Ordinarius für Biblische Exegese) galt als erfolgreich, führte aber nicht zu einer eigenen Schulbildung. Nach einem an polemischen Auseinandersetzungen reichen Leben starb Hengstenberg am 28. Mai 1869 in Berlin. 2. Werk Hengstenberg hat die Theologie der -»Erweckungsbewegung zur strengen Orthodoxie eines neuen -» Konfessionalismus lutherischer Prägung weiterzuführen versucht. Dabei ging er als Exeget wie als Kirchenpolitiker von wenigen, festumrissenen Prinzipien aus, deren „Objektivität" er gegen die auflösenden Tendenzen' von Rationalismus, Liberalismus und —»Revolution setzte. 2.1. Exegetische Arbeiten. In seinen zahlreichen Kommentaren zu einzelnen biblischen Büchern hat Hengstenberg versucht, in strenger Wendung gegen die geschichtliche Kritik den Nachweis der Einheit, Widerspruchslosigkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel als ganzer zu führen (vgl. T R E

Hengstenberg

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6,432,46ff). So verteidigte er die Zuverlässigkeit der biblischen Chronologie (Beiträge zur Einleitung ins Alte Testament, 1831) und erklärte gegen die Kritiker seiner Zeit Die Authentie des Daniel (1831) ebenso wie Die Authentie des Pentateuches (I 1836). Das leitende Interesse dieser apologetischen Schriftauslegung wird vor allem in der Christologie des Alten Testamentes (4 Bde., 1829-1835, 2 1854-1857) erkennbar: Weil alle „messianischen Weissagungen" des Alten Testaments in ihrer ursprünglichen Intention unmittelbar und bindend auf Christus bezogen sind, darf keine einzige von ihnen durch die historische Kritik geschichtlich relativiert werden, denn „wer die geringste alttestamentliche Stelle antastet, tastet Christus an" (Hirsch V.127). Die entscheidende theologische Schwäche einer solchen „voraussetzungslosen" Schriftauslegung hat B. -»Bauer schon 1839 klar erkannt: Der Unterschied zwischen -»Gesetz und Evangelium geht verloren und die Biblische Theologie zerfällt in „Einzelheiten und immer wieder Einzelheiten, Gründe und nur Gründe, die durch ihre Anzahl wirken wollen" (Herr Dr. Hengstenberg, Berlin 1839,129). Die postum veröffentlichte Geschichte des Reiches Gottes unter dem Alten Bunde (3 Bde., 1869-1871) reiht eine Fülle chronologischer, topographischer und kultgeschichtlicher Einzelbeobachtungen aneinander; sie werden nicht zu einer heilsgeschichtlichen Theologie zusammengefügt. Hengstenberg ignoriert die „reale Geschichtlichkeit des Alten Testaments" und bildet aus dem Pentateuch, der für ihn „die einzige Quelle ist" (11,1,1), ein geschichtsloses „überschaubares Lehrgebäude" (Kraus 223). Nicht der konsequente Verzicht auf die neueren exegetischen Methoden, sondern dieser Mangel im Geschichtsverständnis ist für Hengstenbergs exegetische Arbeiten kennzeichnend und hat ihnen auch in der Tradition des -»Biblizismus nur eine sehr geringe Nachwirkung ermöglicht (über die Wirkungsgeschichte der Christologie in den USA [neue Ubersetzung 1956!] vgl. Davis 4). 2.2. Die Evangelische Kirchenzeitung (EKZ). Hengstenberg eröffnete jeden Jahrgang der EKZ mit einem viel gelesenen - und gefürchteten - Vorwort, in dem er die innerkirchlichen Kampfparolen für das neue Jahr ausgab. Der entschiedene Gegensatz der EKZ zum theologischen Rationalismus wurde schon in den ersten Heften zum Ausdruck gebracht. Es folgten Angriffe gegen Schleiermacher (EKZ Dezember 1829), die dieser als „zu unanständig und zu wenig bedeutend" mit Schweigen überging. Großes öffentliches Aufsehen erregte 1830 die sog. „Hallesche Denunziation": In einem von Ludwig v. Gerlach (1795-1877) stammenden Artikel (EKZ Januar 1830) wurden die in -»Halle lehrenden Theologen W. -»Gesenius und Julius A.L. Wegscheider (1771-1849) schonungslos angegriffen: Ihre Theologie sei Schrift- und bekenntniswidrig und errege bei den Studenten einen „Ekel an der heiligen Schrift"; die staatlichen und kirchlichen Aufsichtsbehörden werden aufgerufen, die Lehrfreiheit an den Universitäten einzuschränken. König Friedrich Wilhelm III. verzichtete auf disziplinarische Maßnahmen gegen die Hallenser Professoren, gab aber seinem Minister die Anweisung, bei der Besetzung theologischer Lehrstühle künftig nur solche Gelehrte zu berücksichtigen, „deren Anhänglichkeit an den Lehrbegriff der evangelischen Kirche im Sinne der Augsburgischen Confession" erwiesen sei. Jahrelang kämpfte die EKZ gegen den Einfluß -»Hegels auf die Theologie. Im Vorwort des Jahrgangs 1836 nahm Hengstenberg das Erscheinen des Leben Jesu von D.F. -»Strauß zum Anlaß, „dem Rationalismus die Leichenrede zu halten". Nicht minder heftig war 1844 die Ablehnung der -»Lichtfreunde. - Die in fast allen Jahrgängen der EKZ geführte Auseinandersetzung mit den „Irrlehren" der römisch-katholischen Kirche erreichte ihren Höhepunkt 1854/55 in der Verwerfung des neuen Mariendogmas (-»Maria; -»Pius IX., Papst). Im Blick auf die Union in Preußen (-»Unionen, Kirchliche; vgl. TRE 10,678 f) vertrat Hengstenberg mit zunehmender Entschiedenheit das Anliegen der lutherischen Konfession innerhalb der Union. Mit F. J. -»Stahl kritisierte er die Bemühungen der Berliner Generalsynode von 1846 um ein eigenes Unionsbekenntnis (EKZ Januar 1847; Mehlhausen 207f). Nach dem Regierungsantritt König Wilhelms I. machte er sogar den Vorschlag, eine Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen zu etablieren (EKZ Dezember 1866; Besier 59-63). Die Revolution von 1848 deutete Hengstenberg mit Hilfe von Apk 6,12-17 als Folge einer „nur schlecht verhüllten Christusfeindschaft"; der Staat werde seinem „sicheren Untergange" entgegengehen, wenn die „Proklamierung der Religionslosigkeit des Staates und der Lostrennung desselben von der Kirche" nicht überwunden werde (EKZ 1849, 3—36).

3. 'Wertung Hengstenbergs Wirken ist immer defensiv gewesen. Die These, ohne unbedingte Autorität der Bibel und ohne bekenntnismäßige Lehre gebe es kein echtes Christentum, wurde zur Abwehr von Gefahren eingesetzt, die nach Hengstenbergs Ansicht in der Geisteshaltung des -»Modernismus schlummerten. Als Hengstenberg starb, waren viele der von ihm so leidenschaftlich und ernst behandelten Themen in Theologie, Kirche und Gesellschaft längst durch neue Fragestellungen überholt. Problemkreise wie die Soziale Frage (-»Sozialismus), -»Kirchenentfremdung, -»Naturwissenschaft und Theologie

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Henochgestalt/Henochliteratur

oder Fragen der neuzeitlichen -»Sozialethik hat Hengstenberg i m m e r nur in einer polemischen Abwehrhaltung behandeln können. E m a n u e l Hirsch ist zuzustimmen, der betont, die Repristinationstheologie Hengstenbergs sei mit einem „ F o r t s t o ß e n aller v o m neuen Denken und Dichten und Leben irgendwie tiefer berührten K r e i s e " erkauft worden (Hirsch V,130). Quellen Der Nachlaß Hengstenbergs (ca. 7000 Briefe Redaktionskorrespondenz) wird in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (Berlin-Dahlem) verwahrt. Schriften Hengstenbergs (außer den im Text genannten) in Auswahl: Kommentar über die Psalmen, 4 Bde., Berlin 1 8 4 2 - 1 8 4 5 . - Die Freimaurerei u. das Ev. Pfarramt, Berlin 1854. - Das Evangelium des heiligen Johannes, 3 Bde., Berlin 1 8 6 1 - 1 8 6 3 . - Die Offenbarung des heiligen Johannes für solche, die in der Schrift forschen, 2 Bde., Berlin 2 1861 —1862. - Die Weissagungen des Propheten Ezechiel für solche, die in der Schrift forschen, 2 Bde., Berlin 1867-1868. - Das Buch Hiob erläutert, 2 Bde., Leipzig 1 8 7 0 - 1 8 7 5 . - Vorlesungen über die Leidensgeschichte, Leipzig 1875. Literatur Johannes Bachmann, E.W. Hengstenberg. Sein Leben u. Wirken nach gedruckten u. ungedruckten Quellen, 2 Bde., Gütersloh 1876-1880; Bd. 3 bearb. v. Theodor Schmalenbach, Gütersloh 1892. Gerhard Besier, Preussische Kirchenpolitik in der Bismarckära, Berlin/New York 1980. - G. Nathanael Bonwetsch (Hg.), Aus vierzig Jahren Dt. KG. Briefe an E.W. Hengstenberg l/II, 1917-1919 (BFChTh 22,1/24,1 u. 2). - Marshall Kenneth Christensen, E. W. Hengstenberg and the Kirchenzeitung faction. Throne and altar in 19th Century Prussia, Ann Arbor (Michigan) 1978 (Univ. Microfilms). - D . C . Davis, The Hermeneutics of E.W. Hengstenberg. Edifying Value as Exegetical Standard, Diss.theoI.(masch.) Göttingen 1960. - Holsten Fagerberg, Bekenntnis, Kirche u. Amt in der dt. konfessionellen Theol. des 19. Jh., Uppsala 1952. - Emanuel Hirsch, Gesch. der neuern ev. Theol., V Gütersloh '1975. - Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Baron H . E . v. Kottwitz u. die Erweckungsbewegung in Berlin, Pommern u. Schlesien, Ulm 1964. - Wolfgang Kramer, E. W. Hengstenberg, die Ev. Kirchenzeitung u. der theol. Rationalismus, Diss.phil. Erlangen-Nürnberg 1972 (Lit.). - Hans-Joachim Kraus, Gesch. der hist.-krit. Erforschung des AT, Neukirchen 3 1982. - Anneliese Kriege, Gesch. der Ev.-Kirchen-Zeitung unter der Redaktion Ernst-Wilhelm Hengstenbergs (vom 1 .Juli 1827 bis zum 1 .Juni 1869). Ein Beitr. zur KG des 19. Jh., Diss.theol.(masch.) Bonn 1958. - Max Lenz, Gesch. der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Univ. zu Berlin, Halle, 11/2 1918. - Joachim Mehlhausen, Friedrich Wilhelm IV. Ein Laientheologe auf dem preußischen Königsthron: Henning Schröer/Gerhard Müller (Hg.), Vom Amt des Laien in Kirche u. Theol. FS Gerhard Krause, Berlin/New York 1 9 8 2 , 1 8 5 - 2 1 4 . - Gottfried Mehnert, Ev. Presse. Gesch. u. Erscheinungsbild v. der Reformation bis zur Gegenwart, Bielefeld 1983. - Hans-Joachim Schoeps, Das andere Preußen. Konservative Gestalten u. Probleme im Zeitalter Friedrich Wilhelm IV., Berlin '1981. — Hans Wulfmeyer, E.W. Hengstenberg als Konfessionalist, Diss.phil. Erlangen-Nürnberg 1970 (Lit.). J o a c h i m Mehlhausen

Henochgestalt/Henochliteratur 1. Allgemeines und Hintergrund des äthHen 2. Das Äthiopische Henochbuch sche Henochbuch 4. Das Hebräische Henochbuch (Ausgaben/Literatur S. 52)

3. Das Slavi-

1. Allgemeines und Hintergrund des äthHen 1.1. M i t dem Begriff Henochliteratur bezeichnet m a n einen recht weiten Literaturkreis, der sich zeitlich über die beträchtliche Spanne v o m fünften vorchristlichen J a h r hundert bis zur Spätantike erstreckt und verschiedene Ergänzungen noch aus dem Beginn der Neuzeit aufweist. Die drei Hauptschriften der Henochüberlieferung sind das Äthiopische Henochbuch (äthHen, 1 H e n ) , das Slavische Henochbuch (slHen, 2 H e n ) und das Hebräische Henochbuch (hebrHen, 3 H e n ) . Die unterscheidenden Beiwörter zielen dabei auf die Sprache ab, in der die jeweilige Schrift a u f uns g e k o m m e n (slHen, hebr H e n ) oder in der ihre Überlieferung a m besten bezeugt (äthHen) ist.

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Henochgestalt/Henochliteratur

oder Fragen der neuzeitlichen -»Sozialethik hat Hengstenberg i m m e r nur in einer polemischen Abwehrhaltung behandeln können. E m a n u e l Hirsch ist zuzustimmen, der betont, die Repristinationstheologie Hengstenbergs sei mit einem „ F o r t s t o ß e n aller v o m neuen Denken und Dichten und Leben irgendwie tiefer berührten K r e i s e " erkauft worden (Hirsch V,130). Quellen Der Nachlaß Hengstenbergs (ca. 7000 Briefe Redaktionskorrespondenz) wird in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (Berlin-Dahlem) verwahrt. Schriften Hengstenbergs (außer den im Text genannten) in Auswahl: Kommentar über die Psalmen, 4 Bde., Berlin 1 8 4 2 - 1 8 4 5 . - Die Freimaurerei u. das Ev. Pfarramt, Berlin 1854. - Das Evangelium des heiligen Johannes, 3 Bde., Berlin 1 8 6 1 - 1 8 6 3 . - Die Offenbarung des heiligen Johannes für solche, die in der Schrift forschen, 2 Bde., Berlin 2 1861 —1862. - Die Weissagungen des Propheten Ezechiel für solche, die in der Schrift forschen, 2 Bde., Berlin 1867-1868. - Das Buch Hiob erläutert, 2 Bde., Leipzig 1 8 7 0 - 1 8 7 5 . - Vorlesungen über die Leidensgeschichte, Leipzig 1875. Literatur Johannes Bachmann, E.W. Hengstenberg. Sein Leben u. Wirken nach gedruckten u. ungedruckten Quellen, 2 Bde., Gütersloh 1876-1880; Bd. 3 bearb. v. Theodor Schmalenbach, Gütersloh 1892. Gerhard Besier, Preussische Kirchenpolitik in der Bismarckära, Berlin/New York 1980. - G. Nathanael Bonwetsch (Hg.), Aus vierzig Jahren Dt. KG. Briefe an E.W. Hengstenberg l/II, 1917-1919 (BFChTh 22,1/24,1 u. 2). - Marshall Kenneth Christensen, E. W. Hengstenberg and the Kirchenzeitung faction. Throne and altar in 19th Century Prussia, Ann Arbor (Michigan) 1978 (Univ. Microfilms). - D . C . Davis, The Hermeneutics of E.W. Hengstenberg. Edifying Value as Exegetical Standard, Diss.theoI.(masch.) Göttingen 1960. - Holsten Fagerberg, Bekenntnis, Kirche u. Amt in der dt. konfessionellen Theol. des 19. Jh., Uppsala 1952. - Emanuel Hirsch, Gesch. der neuern ev. Theol., V Gütersloh '1975. - Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Baron H . E . v. Kottwitz u. die Erweckungsbewegung in Berlin, Pommern u. Schlesien, Ulm 1964. - Wolfgang Kramer, E. W. Hengstenberg, die Ev. Kirchenzeitung u. der theol. Rationalismus, Diss.phil. Erlangen-Nürnberg 1972 (Lit.). - Hans-Joachim Kraus, Gesch. der hist.-krit. Erforschung des AT, Neukirchen 3 1982. - Anneliese Kriege, Gesch. der Ev.-Kirchen-Zeitung unter der Redaktion Ernst-Wilhelm Hengstenbergs (vom 1 .Juli 1827 bis zum 1 .Juni 1869). Ein Beitr. zur KG des 19. Jh., Diss.theol.(masch.) Bonn 1958. - Max Lenz, Gesch. der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Univ. zu Berlin, Halle, 11/2 1918. - Joachim Mehlhausen, Friedrich Wilhelm IV. Ein Laientheologe auf dem preußischen Königsthron: Henning Schröer/Gerhard Müller (Hg.), Vom Amt des Laien in Kirche u. Theol. FS Gerhard Krause, Berlin/New York 1 9 8 2 , 1 8 5 - 2 1 4 . - Gottfried Mehnert, Ev. Presse. Gesch. u. Erscheinungsbild v. der Reformation bis zur Gegenwart, Bielefeld 1983. - Hans-Joachim Schoeps, Das andere Preußen. Konservative Gestalten u. Probleme im Zeitalter Friedrich Wilhelm IV., Berlin '1981. — Hans Wulfmeyer, E.W. Hengstenberg als Konfessionalist, Diss.phil. Erlangen-Nürnberg 1970 (Lit.). J o a c h i m Mehlhausen

Henochgestalt/Henochliteratur 1. Allgemeines und Hintergrund des äthHen 2. Das Äthiopische Henochbuch sche Henochbuch 4. Das Hebräische Henochbuch (Ausgaben/Literatur S. 52)

3. Das Slavi-

1. Allgemeines und Hintergrund des äthHen 1.1. M i t dem Begriff Henochliteratur bezeichnet m a n einen recht weiten Literaturkreis, der sich zeitlich über die beträchtliche Spanne v o m fünften vorchristlichen J a h r hundert bis zur Spätantike erstreckt und verschiedene Ergänzungen noch aus dem Beginn der Neuzeit aufweist. Die drei Hauptschriften der Henochüberlieferung sind das Äthiopische Henochbuch (äthHen, 1 H e n ) , das Slavische Henochbuch (slHen, 2 H e n ) und das Hebräische Henochbuch (hebrHen, 3 H e n ) . Die unterscheidenden Beiwörter zielen dabei auf die Sprache ab, in der die jeweilige Schrift a u f uns g e k o m m e n (slHen, hebr H e n ) oder in der ihre Überlieferung a m besten bezeugt (äthHen) ist.

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Das äthHen ist eine Sammlung von fünf Büchern unterschiedlicher Entstehungszeit, der eine Einleitung voransteht und zwei Anhänge folgen. Diese fünf Bücher, die das äthHen in seiner vorliegenden Gestalt bilden, sind das Buch von den Wächtern (Kap. 6 - 3 6 ) , das Buch der Bilderreden (Kap. 37-71), das astronomische Buch (Kap. 72-82), das Buch der Traumgesichte (Kap. 83-90) und der Brief Henochs (Kap. 91-105). Die vorliegende Stelle des Buchs der Bilderreden hat ursprünglich ein Buch von den Riesen eingenommen; seine Auswechslung ist um den Beginn der christlichen Zeitrechnung erfolgt. 1.2. Die ältesten Stoffe der Henochüberlieferung sind im äthHen enthalten. Indessen ist auch das Buch von den Wächtern, das wahrscheinlich älteste der fünf das äthHen bildenden Bücher, lediglich das älteste textlich bezeugte Henochbuch. Zuerst hat es offenbar ein Buch Noahs gegeben, das aufgrund seiner reichlichen Benutzung in einigen Schichten des äthHen als wesentlicher Bestandteil der Henochüberlieferung gelten muß. Sein Titel ist uns nicht aus der Henochüberlieferung, sondern aus dem Jubiläenbuch bekannt, in dem es unter dieser Bezeichnung angeführt wird (Jub 10,13; 21,10). 1.3. Angesichts der zahlreichen auf das Buch Noahs zurückgehenden Textstücke hat man seinen Umfang und Inhalt zu bestimmen versucht. Die Schrift hat vom Fall der Engel und seinen verheerenden Folgen für die Menschheit erzählt und darauf von der wunderhaften Geburt Noahs, der, kaum geboren, von Gott sprach. Weiterhin muß eine Darstellung seines Lebens und die Sintfluterzählung gefolgt sein. Schon als Gestalt, der ein himmlisches Leben eignete (vgl. Gen 5,24), muß Henoch im Buch Noahs häufig begegnet sein. Das Buch hat wohl mit Noahs Opfer nach der Sintflut abgeschlossen. Dabei dürfte Noah nicht nur Vorschriften über Blutgenuß und Blutvergießen gegeben, sondern seinen Söhnen auch eine Reihe ethischer Gebote (vgl. -»Noachidische Gebote) aufgetragen haben (Garcia Martinez). Der Mythos vom Fall der Engel, von dem sich auch in der Bibel ein Niederschlag erhalten hat (Gen 6,1-4), ist Grundlage und Ausgangspunkt der Henochspekulation. Deshalb wird das Buch von den Wächtcrn zusammen mit den ersten 5 Kapiteln des äthHen auch angelologischer Teil des äthHen genannt. 1.4. Entscheidend für die Bestimmung der Entstehungszeit des Buches Noahs ist das Verhältnis zwischen ihm und Gen 6 , 1 - 4 . Die Frage dabei ist, ob das Motiv des Falls der Engel in seiner ursprünglichen Gestalt in Genesis vorliegt und das Buch Noahs nur einen ausführlichen -»Midrasch dazu bietet, oder ob der Abschnitt der Genesis eine stark verkürzte und teilweise rationalisierte Fassung der Erzählung des Buches Noahs darstellt. Diese letzte Auffassung ist, wenn auch nicht unbestritten (Prato), so doch die wahrscheinlichere und häufiger vertretene Annahme (Milik, The Books 31; N . M . Sarna: EJ 6, 793; Sacchi, Ordine cosmico). Für sie sprechen im wesentlichen zwei Gründe: 1) Im Verhältnis zur Fülle des berichteten Geschehens ist die biblische Erzählung reichlich kurz und ohne Zuziehung des pseudepigraphen Textes nur schlecht verständlich; 2) die biblische Darstellung entmythisiert einen Mythos; sie behauptet, die Riesen seien nichts anderes als die berühmten Recken der Urzeit, bestreitet also, daß sie dämonische Wesen gewesen seien, und eine Bestreitung setzt eine schon vorgegebene gegenteilige Behauptung voraus. Es läßt sich mithin behaupten, daß die Henochüberlieferung (zumindest das Buch Noahs) in ihren Anfängen älter ist als die Endredaktion des -»Pentateuch, die Redaktion, die die Erzählung vom Fall der Engel zusammengefaßt und entmythisiert hat. Wie spät man auch diese Endredaktion ansetzen mag, so ist doch ausgeschlossen, das Buch Noahs später als in das fünfte vorchristliche Jahrhundert zu datieren (vgl. Beckwith; Fitzmyer; van der Kam).

1.5. Eine kräftige Stütze dieser Frühdatierung der Anfänge der Henochliteratur bringt die jüngste Veröffentlichung aramäischer, in -»Qumran gefundener Fragmente des äthHen (Milik, The Books). Ein auf die erste Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts datiertes Fragment enthält bereits das Buch von den Wächtern in seiner vorliegenden Form ( = 4 Q En"; von 1,1 bis 12,6, obwohl mit vielen Lücken, dessen Entstehungszeit somit zeitlich wesentlich früher sein muß (Fitzmyer; Milik,The Books; Sacchi, II libro dei Vigilanti, Riflessioni). Bedenkt man, daß äthHen ein apokalyptisches Buch ist, dann ergibt sich die Notwen-

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digkeit, die Geschichte des -*Frühjudentums und der -»Apokalyptik neu zu überdenken. Die neuerschienene Übersetzung von Corriente und Piñero läßt noch die herkömmliche Datierung der Schrift als richtig gelten (Anfang des 2. Jh. v. Chr.). Aber das Vorkommen eines Fragments wie 4 Q En 1 , das die ersten fünf Kapitel enthält, scheint diese Möglichkeit ganz auszuschließen, zumal die Verfasser der Meinung sind, daß dieser Abschnitt als Einleitung des ganzen äthHen gelten soll (16; vgl. Abschn. 2.8). 1.6. Die Gestalt Henochs hat in der jüdischen Literatur große Bedeutung erlangt. Als Beispiel der Erkenntnis {daat) im hebräischen -»Sirach, wurde er für dessen Enkel (Sir 44,16) zum Beispiel der fiezávoia (Lührmann, der jedoch den Unterschied zwischen da'at und fiexávoia nicht erfaßt). Jud 14 führt das äthHen als heilige Schrift an und bezeichnet Henoch als Propheten (Osburn). Hebr 11,5 heißt es, Henoch sei des „Glaubens wegen" in den Himmel entrückt worden. Henoch war „ein Zeichen, dem widersprochen wurde". Bereits in der Bibel ist er für den -»Jahwisten ein Sohn Kains, während er für die -»Priesterschrift von Seth abstammt und in den Himmel entrückt wurde. Auch innerhalb der rabbinischen Tradition setzt sich der Zwiespalt fort zwischen denen, die seine Entrückung in den Himmel und somit seine außerordentliche Gerechtigkeit annahmen (CN, TPsJ) und seiner Person überdies eine beträchtliche religiöse Wertschätzung angedeihen ließen (vgl. Abschn. 3.6), und denen, die alles dies zurückwiesen. Im Targum Onqelos wird ausdrücklich erklärt, Henoch sei gestorben, doch in einer Handschrift ist das in „nicht gestorben" korrigiert. In BerR 25,1 heißt es, er sei „manchmal gerecht und manchmal gottlos" gewesen (Rosso Ubigli). 2. Das Äthiopische

Henochbuch

2.1. Der vollständige Text des äthHen ist uns nur in Ge'ez, dem klassischen Äthiopisch, überkommen, und zwar in 33 Handschriften (vgl. die Ausgabe von Knibb; es fehlt allerdings noch eine systematische Durchforschung der Klöster -»Äthiopiens [Milik, The Books 85]). Die Beachtung, die diese Schrift im äthiopischen Geistesleben gefunden hat, kommt auch darin zum Ausdruck, daß sie in der -»Koptischen Kirche kanonische Geltung besitzt und in neuer Zeit ins Amharische übersetzt worden ist, in einer in hohem Grade deutenden und theologisierenden Wiedergabe, die für die philologische Texterschließung zwar unbrauchbar, für die Geistigkeit der neuzeitlichen Koptischen Kirche aber kennzeichnend ist. Fusella (Sacchi, Apocrifi) hat ausgedehnte Abschnitte daraus ins Italienische übertragen. Die Übersetzung in Ge'ez ist um 500 n.Chr. auf der Grundlage einer griechischen Fassung entstanden. Diese ihrerseits war eine Übersetzung aus dem Semitischen, wahrscheinlich aus dem Aramäischen, wofür jetzt auch die Entdeckung aramäischer Fragmente aus Qumran spricht, wenn auch bestimmte Teile (das Buch Noahs) hebräisch verfaßt sein mögen (Milik, Discoveries). Da das äthHen aus fünf verschiedenen Schriften besteht (vgl. 1.1), sollen diese im folgenden je für sich vorgestellt werden. 2.2. Das Buch von den Wächtern zeigt einen sehr verwickelten Aufbau, der zu auseinandergehenden Gliederungsvorschlägen geführt hat (zur Übersicht vgl. Sacchi, Riflessioni 41, Anm.). Die nachstehend gegebene Einteilung beruht auf ideologischen Unterschieden zwischen den verschiedenen Abschnitten. Außerdem ist zwischen Kap. 11 und Kap. 12 eine deutliche Zäsur zu vermerken. Erst in Kap. 12 nämlich tritt die Vision als Erkenntnismittel in Erscheinung: bis Kap. 11 werden die Dinge erzählt, danach werden sie erschaut. Kap. 6 - 1 1 sind aus dem Buch Noahs entnommen, mit wesentlichen ideologischen Korrekturen zwar, die aber doch gut ausgrenzbar sind, da sie sich nicht zum Kontext fügen. Kap. 6 - 1 1 bilden Teil 1, Kap. 1 2 - 3 7 Teil 2 des Buches von den Wächtern. Diese beiden Hauptteile lassen sich folgendermaßen noch weiter untergliedern: l a a = Kap. 6 - 7 ; la/? = Kap. 8; l b = Kap. 9 - 1 1 . 2a = Kap. 12-16; 2ba = Kap. 17-19, 21-22; Ibß = Kap. 20; 2c = Kap. 23 - 3 6 .

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Das Hauptthema des ersten großen Teils ist der Fall der Engel, der als Grund für die Existenz des Bösen in der Welt betrachtet wird (Barker, Sacchi). Die Art und Weise aber, in der die gefallenen Engel das Böse verbreitet haben, wechselt von einem Unterabschnitt zum anderen. Nach laa wird das Böse unmittelbar von den Riesen, aus der Verbindung der Engel mit Frauen entsprossenen dämonischen Wesen, über die Menschen gebracht. Nach laß hingegen ist das Böse Folgeerscheinung der Unterweisung in Kenntnissen und Fertigkeiten, die die Engel als himmlische Geheimnisse den Menschen enthüllt haben (Koch). In l b tritt, wenn wohl auch, wie der Kontext zu erkennen gibt, auf der Ebene redaktioneller Korrektur (Sacchi, Riflessioni 40), der Gedanke an die Existenz einer unkörperlichen, unsterblichen Seele in Erscheinung (Grelot, L'eschatologie 123, der indessen diese Korrektur dem äthHen insgesamt zuschreibt). Außerdem begegnet hier die apodiktische Behauptung, daß alles Böse dem Haupt der gefallenen Engel zuzurechnen ist (10,8). In 2a ist die Ursache des Bösen die Unordnung, die von den Engeln in der Natur hervorgerufen wurde, als sie Kinder zeugen wollten, als seien sie Menschen (15,3ff). Das Heil für die Menschen liegt allein im Jenseits. In 2ba gewinnt die Vorstellung vom außermenschlichen Ursprung des Bösen ihre größte innere Stimmigkeit: Da ja der Fall der Engel sich zur Zeit Jareds zugetragen hatte, konnte er nicht die vorher geschehene Sünde Kains erklären. Der bestimmende Grundgedanke ist, daß die Welt in ihrer Vorfindlichkeit so nicht von Gott geschaffen sein kann, und daher jemand sie verdorben haben muß; auch kann es nicht als möglich erscheinen, daß die Natur allein durch die Schuld und Unreinheit des Menschen so verderbt worden ist. Es muß daher eine andere Engelsünde vor der Zeit Jareds stattgefunden haben, und das ist die Sünde der „sieben Sterne" (18,15; 21,3), d.h. der Engel, die am vierten Schöpfungstag die sieben Planeten aus ihrer von Gott gewollten Bahn geführt haben. Weiterhin wird in 2ba das Leben der Seelen im äußersten Westen beschrieben (offensichtlich ägyptischer Einfluß [Loprieno u. Le Déaut: JSJ 13, 1982, 232]). Sie leben beim „Wasser des Lichtes" (22,9). In 2c liegt die Bestimmung der Menschheit nicht mehr im Jenseits, sondern in einer heilen Welt, die am Ende der Geschichte von Gott auf Erden errichtet werden wird. Die Verschiebung des Eschatons vom Jenseits auf das Ende der Geschichte geht wahrscheinlich stärker auf den Einfluß von Vorstellungen zurück, die in der altisraelischen Tradition verhaftet sind. Da aber der Verfasser von 2c die früheren literarischen Schichten des Werkes nicht getilgt oder korrigiert hat, ist daraus - und das gilt auch, wenn es sich bei 2c um einen redaktionellen Zusatz handelt - eine eigentümliche Schau der zukünftigen Welt erwachsen, die in schillernder Weise einmal ihre Ortsbestimmung am Ende der Zeiten und zum anderen wieder bereits in der Gegenwart, aber in einer anderen Dimension findet. Diese Art, sich das Eschaton vorzustellen, kommt um die Zeit Jesu zu bewußter Geltung; sie ist über das Neue Testament hinaus kennzeichnend auch für jüdische Schriften der Zeit (Maier). Große Bedeutung hat in 2a eine Gottesschau (Kap. 14); der Myste gelangt zu ihr durch die Sinneserfahrung extremer Gegensätze (Feuer und Frost). Zwischen diesem Kapitel und Dan 7 gibt es literarische Beziehungen (Glasson; Grelot, Daniel). 2.3. Das Buch von den Riesen ist uns lediglich aus Qumranfragmenten bekannt, von denen einige bereits bei Milik, The Books veröffentlicht sind. Das Buch dürfte die Geschehnisse des Kampfes und Todes der Riesen erzählt haben, auf die in verschiedenen Teilen der Henochliteratur angespielt wird. Daß darin der Wächter Smihaza als Büßer vorgestellt worden ist (vgl. Milik, The Books 43), könnte der Beweggrund dafür sein, daß das Buch später aus dem äthHen entfernt und, um dennoch einen „Pentateuch" beizubehalten, durch das Buch der Bilderreden ersetzt worden ist. Andererseits findet sich eine Möglichkeit der Buße auch für die aufrührerischen Engel in Spuren ebenfalls hier und da im Buch von den Wächtern (18, 12-16 [2a] und 21,6 [2ba]) belegt. 2.4. Infolge der Entdeckung der aramäischen Fragmente wissen wir, daß das astronomische Buch in seiner im Äthiopischen vorliegenden Form weithin eine zusammenfassen-

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de Textgestalt darstellt. Da griechische Fragmente dieses Teiles überhaupt nicht erhalten sind, kann man annehmen, daß er nach der Durchsetzung der griechischen Astronomie kein größeres Interesse mehr gefunden hat. W i r sind heute u . a . deshalb an diesem Buch interessiert, weil es einen Kalender darlegt und verficht, der sich von dem in der Folgezeit von der pharisäischen und rabbinischen Überlieferung offiziell aufgenommenen babylonischen Kalender ( - + Zeitrechnung) unterscheidet. D i e M o n a t e sind darin nicht mit ihrem babylonischen Namen (Nisan usw.) bezeichnet, sondern werden im J a h r e s l a u f durchnumeriert. Es sind zwölf M o n a t e zu je dreißig T a g e n mit vier jeweils den Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen entsprechenden Schalttagen. Es ergibt sich so ein von den M o n d p h a s e n unabhängiger Kalender auf der Grundlage eines Zyklus von 3 6 4 T a g e n , der eine glatte Jahresteilung in vier gleichmäßige Jahreszeiten von j e 91 Tagen erlaubt, deren jede wieder in 13 Wochen eingeteilt ist. D e r J a h r e s a n f a n g fällt stets auf einen M i t t w o c h (den T a g der Erschaffung der Gestirne und damit der geschichtlichen Z e i t ) , und stets auf einen M i t t w o c h (den 15. T a g des ersten M o n a t s ) fällt auch das Passafest ( - » O s t e r n ) . Unklar ist, auf welche Weise dieser Jahreszyklus mit dem 365tägigen ausgeglichen wurde. Immerhin m u ß , sofern die Uberlieferung H e n o c h ein Lebensalter von 3 6 5 J a h r e n zuschreibt, die wirkliche Jahreslänge von 3 6 5 Tagen nicht unbekannt gewesen sein. Wahrscheinlich hat man etwa alle sieben J a h r e eine S c h a l t w o c h e eingeschoben (Ettich; Kutsch präzisiert, stimmt aber im wesentlichen zu), um die Bindung der liturgischen Feste an feste Daten aufrecht erhalten zu k ö n n e n . D e r Ursprung dieses Kalenders scheint in Ägypten zu liegen (Loprieno; u n h a l t b a r B e c k w i t h , der trotz der recht beträchtlichen Unterschiede eher an einen babylonischen Ursprung denkt).

2.5. Das Buch der Traumgesiebte besteht aus zwei Visionsschilderungen. Von besonderem Interesse ist dabei die zweite, die sog. Tierapokalypse, die die Geschichte der Menschheit von Adam bis zu den Makkabäern erzählt. Der Name rührt daher, daß dabei die Menschen unter Tiersymbolen dargestellt sind. Der Erzähler ist Henoch, der in einer Vision das zu seiner Zeit bereits Geschehene wie das für ihn noch in der Zukunft Liegende geschaut hat. Während im Buch von den Wächtern (mit Ausnahme des Teils 2c, der die Voraussetzungen der Geschichtsauffassung des Buchs der Traumgesichte enthält) die Geschichte, vom Bösen und somit von etwas Gottfremdem beherrscht, ihren selbstgesteuerten Verlauf auf ihr Ende in der Vernichtung hin nimmt, da die eigentliche Bestimmung des Menschen in den Tälern des Westens liegt, erscheint sie demgegenüber im Buch der Traumgesichte von Gott vorherbestimmt. Mit diesem Buch meldet sich deutlich der Praedeterminismus auf der Ebene der Geschichte zu Wort (auf der Ebene des Individuums tritt er nicht zu Tage und wird auf jeden Fall von der nachfolgenden Henochüberlieferung ausgeschlossen [vgl. den Brief Henochs]) und als Folge dessen ein periodisierendes Geschichtsverständnis (zur Einzelanalyse vgl. Klijn). 2.6. Der Brief Henochs enthält eine Apokalypse und eine Paränese. Henoch liest die Geschichte, wie sie auf den „himmlischen Tafeln" aufgezeichnet worden ist. Sie ist in zehn Perioden eingeteilt, die Wochen genannt werden, daher auch die Bezeichnung Zehnwochenapokalypse. In der Paränese erscheint die Behauptung, daß die Sünde vom Menschen gemacht worden sei (98,4). Damit wird hier sowohl die Periodizität der Geschichte behauptet als auch die Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen, die in 10,8 abgestritten zu sein schien (vgl. Abschn. 2.2). 2.7. Der Verfasser des Buchs der Bilderreden hat sein Werk „Zweite Vision Henochs" (37,1) genannt, weil er eine andere Vision Henochs fortsetzen wollte, womit wohl das äthHen bereits in seiner fünfteiligen Gestalt, in der es uns vorliegt, nur mit dem Buch von den Riesen anstelle des Buches der Bilderreden gemeint war. Die Einstellung des Verfassers steht dem Buch von den Wächtern näher als den späteren Büchern, dem Buch der Traumgesichte und dem Brief Henochs. Er hat eine einheitliche Weltsicht: Die Gesetze der Natur und die der Gerechtigkeit Gottes entsprechen einander; es sei verwiesen auf Kap. 41, wo eingangs vom Lauf des Gerichtes Gottes und dann anschließend von dem der Gestirne die Rede ist. Das Hauptthema des Buches der Bilderreden ist der Heilsweg. Er ist den Guten vorbehalten, die einfachhin mit den Geringen im sozialen Sinn identifiziert werden, während die Bösen mit den Mächtigen auf Erden in eins gesetzt sind. Doch auch

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die Guten sind nicht imstande, sich das Heil zu verschaffen: Es kommt von Gott durch eine geheimnisvolle messianische Gestalt (-»Messias), die seit Anbeginn der Schöpfung bei ihm ist (48,2-3) und, sich steigernd, der Gerechte, der Erwählte sowie, nach buchstäblichem Verständnis von Dan 7, der Menschensohn genannt wird. Z u m Schluß wird dann (71,14) Henoch als der Menschensohn proklamiert. Das Buch der Bilderreden ist von erheblicher Bedeutung für die Erforschung der christlichen Messiasvorstellungen. Einige Gelehrte haben sogar die Vermutung aufgestellt, es handele sich um ein christliches Werk, so im 19. Jh. Hilgenfeld, Cornill und andere. Gegenwärtig ist sie erneut von Milik wieder aufgenommen worden, hat aber dabei keinerlei Zustimmung gefunden. Der Verfasser des Buches der Bilderreden hat den historischen Jesus nicht gekannt (Barr; Mearns; Nickelsburg, Jewish Literature; vgl. auch Knibb). 2.8. Nach der Entdeckung der aramäischen Fragmente aus Qumran hat sich die Frage der Datierung der einzelnen Bücher des äthHen ganz neu gestellt, da jetzt ein sicheres äußeres Zeugnis vorliegt, das Vorhandensein eines auf die erste Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts datierten Fragments (4Q En"), das bereits die Endfassung des Buches von den Wächtern enthält. So läßt sich heute mit Sicherheit sagen, daß das Buch von den Wächtern, das astronomische Buch und wahrscheinlich auch das Buch von den Riesen vor 200 v. Chr. anzusetzen sind; das Buch von den Wächtern könnte bis ins vierte vorchristliche Jahrhundert zurückgehen (terminus post quem ist das Buch Noahs). Das Buch der Traumgesichte weiß vom Tod Antiochos IV. (175-164 v. Chr.) und dürfte daher um 160 v. Chr. anzusetzen sein. Weiterhin auf inneren Kriterien beruht die Datierung des Briefes Henochs und des Buchs der Bilderreden; doch besteht hier kein Grund, von dem allgemein angenommenen Ansatz zwischen der Mitte des ersten vorchristlichen und der Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts abzugehen. 3. Das Slavische

Henocbbuch

3.1. Das slHen ist lediglich aus altslavischen Handschriften bekannt. Das lateinische Fragment von Förster enthält Spekulationen über die Erschaffung Adams ähnlich denen, die sich im slHen (Uberlieferung A vgl. weiter unten) finden, scheint aber nicht aus ihm herzustammen. Das slHen ist um die Zeit des 1 0 . / l l . J h . in Makedonien oder Bulgarien aus dem Griechischen übertragen worden und hat dann Verbreitung im gesamten kirchenslavischen Raum, nicht aber über diesen hinaus gefunden. Offensichtlich hat das Werk eine feste Verankerung in der slavischen Geisteswelt des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit erfahren (Vaillant). Deutlich sind auch seine Beziehungen zur griechischen Kultur, durch deren Sprache es übermittelt worden ist. Charles (Pseudepigrapha 427-429) führt eine Reihe von Stellen aus der griechisch-christlichen Literatur an, die auf eine Kenntnis des slHen hindeuten sollen; doch bleiben die hier angenommenen Beziehungen eher undeutlich. Die gleiche Unbestimmtheit zeigen auch einige Stellen des slHen, die man zu Matthäus, Paulus und den Testamenten der zwölf Patriarchen wie anderen zeitgenössischen jüdischen Schriften in Beziehung gesetzt hat: Es bleibt unklar, ob es sich um literarische Beziehungen handelt oder ob hier wie dort gemein jüdisches Gedankengut zur Geltung kommt. Angesichts dieses Fehlens eindeutiger literarischer Beziehungen ist die herkömmliche Annahme, die das slHen als Werk eines jüdischen Ursprungsmilieus der frühchristlichen Zeit anspricht, auf Kritik gestoßen. Vor allem Milik (The Books 109) hat mit großem Nachdruck auf den Mangel an Beziehungen zwischen dem slHen und dem jüdischen Umfeld zu Beginn unserer Zeitrechnung abgehoben. Doch wenn auch die literarischen Anklänge durchweg umstritten sind, sind sie doch zu zahlreich, um die herkömmliche Auffassung stichhaltig ausschließen zu können. 3.2. Die Frage der Datierung des slHen ist engstens verknüpft mit derjenigen nach seinem Ursprungsmilieu, das als jüdisch (Charles, Bonwetsch, de Santos Otero), judenchristlich (Vaillant), mittelalterlich christlich (Fotheringham, Milik) oder gar bogomi-

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lisch (Maunder) bestimmt w o r d e n ist. Die Wurzel dieser ganzen Problematik liegt in der Besonderheit der handschriftlichen Überlieferung. 3.3. Diese Uberlieferung zerfällt in zwei deutlich sich heraushebende Textfamilien, die so sehr voneinander abweichen, daß von zwei Rezensionen gesprochen werden muß, einer kurzen Rezension B und einer langen A (nach der Benennung von Charles). Sokolov hat überdies auch noch mit einer dritten, eine Zwischenstellung einnehmenden Textfamilie gerechnet, die allein durch die Handschrift U vertreten sei; doch ist U von Vaillant als bester Vertreter der Kurzfassung angesehen worden und bildet die Grundlage seiner Ausgabe. Andersen hebt demgegenüber hervor, daß alle Handschriften des slHen so verschieden untereinander sind, daß vorzuziehen sei, von mehreren Textfassungen zu sprechen. Er veröffentlicht jedoch eine Obersetzung von nur zwei Handschriften, einer zur A-Rezension und einer zur B-Rezension gehörenden, so daß er die herkömmliche Gesamtauffassung der Schrift bestätigt. Die Fassung A unterscheidet sich nicht nur formal von B, sie enthält auch kleinere und größere Zusätze, die beträchtliche sachlich-inhaltliche Unterschiede gegenüber B aufweisen. Für A gibt es zehn Himmel, für B nur sieben; anläßlich der Erschaffung des Menschen beschränkt sich B auf die Angabe, Gott habe die Weisheit angewiesen, ihn zu erschaffen (30,7), während A zahlreiche Einzelheiten bietet: In A wird die Frage nach den Elementen gestellt, aus denen Adam besteht (s. das Fragment von Förster), und das Problem des Satans aufgeworfen. Hinsichtlich der Weisheit als Schöpferin des Menschen legt sich heute wohl auch ein Verweis auf CN zu Gen 1,1 und BerR zu Gen 1,1 nahe. 3.4. Das erste Problem, das sich bei der Beschäftigung mit dem slHen gestellt hat, w a r die Frage, welche der beiden Fassungen die ursprüngliche ist, während als zeitlicher Ansatz in jedem Fall das erste nachchristliche J a h r h u n d e r t genannt wurde. Bonwetsch w a r der Meinung, A sei die ursprüngliche Fassung, und darauf beruht die Übersetzung von Charles, der indessen dazu in einer Parallelspalte auch den Text von B wiedergegeben hat, weil er ihm unabhängig von seiner textgeschichtlichen Einordnung einen eigenständigen Wert zu haben schien. Auch Andersen folgt darin Charles, d a ß er den Text der Aund B-Rezension in zwei Parallelspalten vorstellt, mit der herkömmlichen Kapiteleinteilung. Schmidt hat die entgegengesetzte Auffassung vertreten: B sei die ursprüngliche Textform und A eine Erweiterung des 5. J h . Mittlerweile hat die Ausgabe von Vaillant erhärtet, d a ß B früher ist als A (Rubinstein, Pines, Philonenko, de Santos Otero), wenn auch f ü r einige Abschnitte aus A die Frage offen bleibt (Pines), o b sie nicht zum ursprünglichen Text gehören könnten. N o c h in der Diskussion zwischen der begründeten Verfechtung des herkömmlichen Ansatzes (Philonenko, Rubinstein, Pines) und einer W i e d e r a u f n a h m e desjenigen von Fotheringham (Milik) steht die Frage der Datierung der ursprünglichen Fassung. Ganz abseits d ü r f t e die Vermutung von M a u n d e r liegen. Vaillant hat sogar behauptet, d a ß die Z u f ü g u n g e n von A von einem gelehrten und phantasievollen slavischen Abschreiber stammen, der wahrscheinlich gegen Ende des 15. Jh. gelebt haben soll. Die extreme Spätdatierung Vaillants ist neuerdings von de Santos O t e r o abgelehnt worden. Er nimmt die Vorstellungen Schmidts wieder auf und verlegt den Ursprung des ATextes in die griechische Welt der Zeit des 5. bis 6. J h . 3.5. Das slHen beginnt mit dem Bericht von Henochs Reise durch die sieben Himmel. Deren erster ist der O r t der atmosphärischen Erscheinungen. Im zweiten befindet sich das Gefängnis der aufrührerischen Engel, die als „ A b t r ü n n i g e " beschrieben werden, weil sie nicht auf das Wort Gottes gehört haben, „vielmehr ihrem eigenen Willen nachgegangen s i n d " (vgl. J u b 12,20; 1QS 9 , 2 3 - 2 5 ; C D 2 , 1 7 - 1 8 und vor allem 3 , 2 - 3 ) ; diese Engel sind die ersten Sünder des ä t h H e n , nicht die gefallenen Engel. Im dritten Himmel befinden sich d a s Paradies und die Hölle f ü r die Menschen. Das Paradies wird als Garten Eden mit allen biblischen Zügen geschildert, jedoch ohne den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, an dessen Stelle ein Ö l b a u m getreten ist, von dem unablässig ö l fließt. Die Hölle liegt im nördlichen Teil dieses Himmels und besteht aus den beiden herkömmlichen Elementen der Finsternis und der Qualen. Diese werden den Verdammten nicht von Teufeln, sondern von „ b r u t a l e n " Engeln zugefügt. Im vierten

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Himmel sind Sonne und Mond. Im Gefolge des äthHen verficht der Verfasser den solaren Kalender gegenüber dem Iunaren. Im fünften Himmel befinden sich die Wächter, „Brüder" der abtrünnigen Engel des zweiten Himmels. Sie sind betrübt und untätig. Henoch drängt sie zur Bekehrung und dazu, wieder Gottes Lob zu singen, und sie lassen sich überzeugen. Auch wenn es bisher nicht näher untersucht und nicht einmal bemerkt worden ist, so ist hier doch deutlich, daß das slHen das äthHen in seiner älteren Form mit dem Buch von den Riesen gekannt hat; die Bilderreden scheinen ihm unbekannt gewesen zu sein. Den sechsten Himmel nehmen die Engel ein, die das Leben der Welt ordnen. Es sind die Phönixengel, die Cherubim und die Seraphim. Im siebten Himmel ist Gottes Herrschaftssitz. Henoch betritt ihn und schaut das Antlitz Gottes, der dem Erzengel Vrevoil (Uriel?) befiehlt, Henoch den Weltenplan zu diktieren. Henoch schreibt alles während dreißig Tagen in 360 Büchern auf. Dann aber ist es Gott selbst, der ihm das ganze Geheimnis des Schöpfungswerks erklärt, ein Geheimnis, „das nicht einmal die Engel kennen". Gott hat die Welt geschaffen „aus dem Nichts zum Sein, aus dem Unsichtbaren zum Sichtbaren" (24,2). Er durchläuft ohne Rast die Räume des Lichtes „wie einer der Unsichtbaren" (24,4). Dann befiehlt er Adoel (Jado'el = „seine Hand ist Gott" [Philonenko] oder besser vielleicht „Hand Gottes"), aus der Tiefe aufsteigend zu erscheinen. Adoel hat in seinem Leib den großen Äon und gebiert ihn auf göttliche Anordnung. Dem Licht befiehlt Gott, in die Höhe zu steigen, und „oberhalb des Lichtes ist nichts anderes" (25,5). Aus dem Unsichtbaren geht auf Anordnung Gottes auch Aruchaz hervor, „ein hartes, schweres, tiefschwarzes Ding" (26,1). Gott befiehlt Aruchaz, nach unten hinabzusteigen und sich zu verfestigen: „Er wurde zum Fundament der unteren Dinge, und unter der Finsternis ist nichts anderes" (26,3). So befindet sich das Licht über der Finsternis, zwei unbegrenzte Größen, die sich gegenseitig begrenzen (Philonenko 112). Der Ort der Erde scheint auf der Grenze zwischen ihnen zu sein. Es folgt die knapp gehaltene Aussage über die Erschaffung des Menschen durch die Weisheit. Dann geht Gott dazu über, Henoch die Geschichte der Menschheit vom Anfang bis zur Sintflut zu erzählen. Diese wurde allein durch die Bosheit der Menschen, d.h. wegen ihrer Auflehnung gegen Gott und ihre Mißgunst untereinander, ausgelöst. Im slHen fällt der Gedanke einer Verunreinigung der Natur fort, und die Sünde der Engel steht in Parallele zu der der Menschen. Der alte Mythos verliert seine ursprüngliche Bedeutung und wird zur bloßen Beschreibung von Geheimnissen der jenseitigen Welt. Im slHen findet sich nicht einmal eine Spur der Vorstellung von der Sünde Adams als einer Sünde, die die gesamte Menschheit betroffen hat. Die mythologischen Elemente sind die gleichen wie im äthHen, syrBar und IV Esr, aber sie sind unter der Wirkung anderer kultureller Einflüsse einem unterschiedlichen Verständnis der Welt eingepaßt. Ein kräftiger zarathustrischer Einfluß (-»Iranische Religionen) ist von Pines hervorgehoben worden; Philonenko hat außer diesem iranischen auch einen ägyptischen Einfluß betont. Henoch kehrt dann zur Erde zurück, um seinen Söhnen und Nachkommen diese himmlischen Offenbarungen zu übermitteln (Henochüberlieferung) und sie zu mahnen, seinen Unterweisungen zu folgen. In zwei Handschriften (U und R) findet sich dann noch ein langer Anhang, der vom Hohenpriestertum -»Melchisedeks spricht und ihn zu einer übermenschlichen Gestalt macht. Erbe Henochs im Hohenpriestertum war Nir, Zweitgeborener Lamechs und mithin jüngerer Bruder Noahs. Als dieser Hoherpriester geworden war, entsagte er jedweden Verkehrs mit seiner Frau Sofonima; doch sie empfing gleichwohl einen Sohn, der am Tag ihres Todes geboren wurde und den Namen Melchisedek erhielt. Bei seiner Geburt hatte er auf der Brust das Siegel des Hohenpriesteramtes. Als er vierzig Tage zählte, wurde er in das himmlische Eden gebracht, bevor die Sintflut über die Erde hereinbrach.

3.6. Ausgangsbasis für die Deutung des slHen ist die von der heutigen Forschung erhärtete Tatsache, daß B älter ist als A. Da die die A-Rezension charakterisierenden Abschnitte als späte griechische oder vom Griechischen abhängige slavische (Vaillant)

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Hinzufügungen gelten und da es sich dabei um Stellen handelt, die vielfach einer Frühdatierung der Schrift im Wege standen, erscheint diese jetzt als die einzig mögliche Deutung. Eine Untersuchung über die Kultur des Ursprungsorts der A-Rezension und über die Rolle, welche das slHen innerhalb der slavischen Geisteswelt gespielt hat, steht noch aus. Charles hat das slHen vor 70 n.Chr. datiert, weil nach 51,4 der Tempel noch zu bestehen scheint („es ist schön, zum Tempel zu gehen") (neuerdings auch de Santos Otero). Bestätigt wird die Frühdatierung der älteren Forschung durch die Entdeckung der Fragmente des Buchs von den Riesen und dadurch, daß das slHen das äthHen in einer älteren als der uns überlieferten Gestalt, mit dem Buch von den Riesen anstelle des Buches der Bilderreden, gekannt hat. Hinsichtlich der Sprache der ursprünglichen Abfassung haben die für eine semitische Urfassung sprechenden Beobachtungen von Charles (Pseudepigrapha 428 unten) heute neues Gewicht erhalten, da das Problem der griechischen Buchstabierung des Namens Adams (30,13: Adam = avaxoXr], ¿6mg, ÜQKTOQ, fieaefißgia) insofern hinfällig geworden ist, als sie sich in einer der späten Interpolationen findet. Die Denkwelt des Verfassers steht unter dem starken Einfluß des äthHen, ist aber aufgeschlossen auch gegenüber vielfältigen Einflüssen iranischer und ägyptischer Prägung. In seiner Theologie erhält die Bedeutung des Hohenpriestertums besonderes Gewicht. Das gemahnt in gewissem Grade an den Hebräerbrief und die Melchisedekschrift von Qumran. Auf jeden Fall aber gehört die Bedeutung der Henochgestalt für den Kult zum jüdischen Erbe (Rosso Ubigli). Die Deutung der Schrift als eines christlichen Werks fällt mit der Datierung dahin. Im übrigen kann nicht hinreichend genug wiederholt werden, daß es, um einen Text als christlich anzusprechen, nicht genügt, daß er sich mit einer auch in Teilen des Neuen Testaments sich wiederfindenden Fragestellung befaßt (dann wäre ein großer Teil der jüdischen Uberlieferung christlich), daß es dafür vielmehr erforderlich ist, daß sich darin eine Bezugnahme auf den Jesus der Evangelien findet. 4. Das hebräische

Henochbuch

4.1. Im Jahre 1928 hat Odeberg als Ganzes ein bis dahin bereits in Auszügen (Jellinek u. a., vgl. Odeberg 17f) vorhandenes Werk veröffentlicht, dem er in Ubereinstimmung mit Charles den Titel 3 Enoch gab (Odeberg, Vorwort). Er ist der als Grundlage für seine Ausgabe ausgewählten Handschrift entnommen: sfrhnwh lr' ysm"l kwhn gdwl. Für diese Handschrift ergibt sich das Datum 1511. Ihre Auswahl als Leithandschrift der Ausgabe ist von Scholem (Rezension) kritisiert worden, da sie spät und interpoliert sei. Greenfield hat herausgestellt, daß der Titel ein der übrigen Überlieferung unbekannter späterer Zusatz sei (XXI). Er möchte dem Buch eher den Titel sefer ha-Hekalot geben, mit dem es in anderen Handschriften gekennzeichnet ist, und in der Encyclopaedia Judatca erscheint es unter diesem Namen (11, 4 1978, 1388 s.v. Merkabah). 4.2. Tatsächlich ist die Titelfrage kein rein philologisches Problem, sondern schließt die Frage des Gesamtverständnisses der Schrift ein. Für Odeberg (und offenbar auch für Charles) verkörpert das hebrHen „eine direkte Weiterführung der Entwicklung der älteren Henochliteratur mit Einflüssen einerseits von Ideen von außen (Gnosis usw.), andererseits von rabbinischen Traditionen, die während der tannaitischen Zeit ausgebildet wurden" (39). Demgegenüber sieht Scholem die Schrift im Zusammenhang der mystischen Strömung der Merkabah stehen. Auf der anderen Seite gesteht auch er zu, daß hebrHen „eine gegenüber derjenigen in den Hekalot Rabbati oder Hekalot Zutrati sehr unterschiedliche Ausrichtung" vertritt. Die Kontinuität zwischen den beiden ersten Werken der Henochliteratur und dem hebrHen wird durch eine lange, von Odeberg (43-63) beigebrachte Reihe von Parallelen aufgewiesen. Darüber hinaus zeigt sogar Greenfield, wie beides, die Überlieferung der Mystik der Merkabah (d. h. des Thrones Gottes) und die Henochüberlieferung, in einem

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essenisch {„essenoid" [XXXVII]) bestimmten apokalyptischen Milieu seine Bedeutung gehabt hat. 4.3. Die Deutung der Schrift schließt auch die Frage ihrer Datierung ein. Odeberg hat die zweite Hälfte des dritten nachchristlichen Jahrhunderts vorgeschlagen, wenn er dabei auch weder das Gegebensein späterer Interpolationen noch das älterer Elemente ausschließt. Insbesondere könnten die Henoch-Metatron betreffenden Kapitel 3 - 1 5 in das zweite oder sogar das erste nachchristliche Jahrhundert zurückreichen. Andere geben in Einklang mit der mystischen Deutung der Hekalot einem etwas späteren Ansatz ( 5 . - 7 . Jh. n. Chr.) den Vorzug. Unannehmbar ist Miliks Datierung in das Spätmittelalter, eine Folge seiner Spätdatierung des slHen. Immerhin aber ergeben sich Fragen für die Datierung auch daraus, daß es einige (wenn auch nicht wesentliche und in jedem Fall einer neuen Untersuchung bedürfende) Parallelen zwischen dem hebrHen und der ARezension des slHen gibt. 4.4. Das hebrHen berichtet von einer Vision des Rabbi Ismael, der ähnlich wie der Henoch des slHen in den siebten Himmel aufsteigt und zur Schau des Thrones Gottes gelangt. Er begegnet dort Henoch, der ihm enthüllt, daß er eine Metamorphose erfahren habe und in den Engel Metatron, den größten aller Engel, verwandelt worden sei. Um Metatron hatte sich bereits seit den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung eine ausgedehnte Spekulation entfaltet bis hin zu seiner Bestimmung als kleinerer Jahwe oder kleiner Jahwe. Henochs Identifizierung mit ihm findet sich schon im T J zu Gen 5,24: „Henoch hat in Wahrheit vor dem Herrn gedient; und siehe, er war nicht mehr bei denen, die auf Erden wohnen; denn er ward hinweggeführt und ist aufgestiegen zum Himmel durch das Wort Jahwes, und sein Name war Metatron, der große Schreiber." In Metatron dürften zwei ursprünglich unterschiedene Überlieferungen zusammengeflossen sein. Die eine ist die von dem Engel Jahuel, der zu Anbeginn erschaffen wurde (vgl. ApkAbr 10), in seinem Namen den göttlichen Namen führte und die höchsten Aufgaben im himmlischen Reich innehatte. Die andere dagegen stammt aus den eigentlichen Henochüberlieferungen, die bereits den Menschensohn mit Henoch gleichgesetzt hatten (Buch der Bilderreden). Interessant ist festzustellen, daß das Buch der Bilderreden für das hebrHen eine wesentliche Bezugsgröße ist, während es das slHen nicht gekannt hat. 4.5. Der Inhalt des hebrHen läßt sich wie folgt umreißen: 1) = Kap. 1 - 2 : Einleitung. 2) = Kap. 3 - 1 6 : Henoch-Metatron; Metatron ist sar happanim, der „Fürst des Angesichts"; er hat siebzig Namen, doch Gott nennt ihn na'ar, „Jüngling", ein Name, der an anderer Stelle daraus erklärt wird, daß er der jüngste der Engel sei (4.10); Henoch wurde in den Himmel entrückt, um ein Zeugnis gegen die Sünder zu sein im Blick auf den Eingang in die zukünftige Welt; in 6,3 hat er den Titel „Erwählter" (vgl. Buch der Bilderreden); er regiert das All im Namen Gottes (10); er kennt alle Geheimnisse der Schöpfung (11); er erhält den Titel „klein(er)er Jahwe" (12). 3) = Kap. 17-28: angelologischer Abschnitt. 4) = Kap. 2 9 - 3 3 : das Gericht. 5) = Kap. 35f; 3 8 - 4 0 : Qedussa, Gesang der Engel, die Gott lobpreisen, indem sie ihn den „Heiligen" nennen. 6) = Kap.23f;33f;37:dieMerkabah. 7) Die himmlischen Geheimnisse unter besonderer Berücksichtigung der kosmischen Buchstaben (41) und der gleichzeitigen Schau der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Geschichte unter Einschluß der beiden Messiasgestalten, nämlich des Sohnes Josephs und des Sohnes Davids; sie kämpfen gegen die Heiden und handeln an Israel „im Guten wie im Bösen" (45,5); doch scheinen die „Tage des Messias" nicht zusammenzufallen mit denen der beiden Messiasgestalten. Es folgt ein astronomischer Abschnitt. 8) = Kap. 48: göttliche Namen. 9) Verschiedene Anhänge. In jedem Fall hat die jüngere Forschung (Schäfer, Synopse, Geniza-Fragmente) festgestellt, daß die nähere Einordnung des hebrHen in den Bereich der Erforschung der jüdischen -»Esoterik, näherhin der Hekalot-Esoterik, gehört. Schäfer hat auch weitere Zugänge zu den entsprechenden Handschriften der Hekalot-Literatur erschlossen.

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Henochgestalt/Henochliteratur Ausgaben und Literatur

Einleitung in die Pseudepigraphen: James H. Charlesworth, The Pseudepigrapha and Modern Research, with a Supplement, Ann Arbor 1981. - Albert M. Denis, Introduction aux Pseudépigraphes grecs d'AT, Leiden 1970. - Otto Eissfeldt, Einl. in das AT, Tübingen 3 1964,817-864. - George W.E. Nickelsburg, Jewish Literature between the Bible and the Mishnah, Philadelphia 1981. — Leonhard Rost, Einl. in die atl. Apokryphen u. Pseudepigraphen, Heidelberg 1971 (Italienische Ausgabe mit erweiteter und fortgeschriebener Bibliographie von L. Rosso Ubigli, Turin 1980). Gesamtausgaben in Übersetzung: Robert Henry Charles, The Apocrypha and Pseudepigrapha of the O T in English, 2 Bde. (II Pseudepigrapha), Oxford 1913. - James H. Charlesworth, The O T Pseudepigrapha. Apocalyptic Literature and Testaments, Garden City/New York, 1 1983. - Alejandro Diez Macho, Apócrifos del AT, Tomo IV: Ciclo de Henoc, Madrid 1984 [Darin enthalten: Federico Corriente/Antonio Pinero, Libro 1 de Henoc (Etiòpico y griego), 13-143. - Aurelio de Santos Otero, Libro de los secretos de Henoc (Henoc eslavo), 147-202. - Maria Angeles Navarro, Libro hebreo de Henoc (Sefer Hekalot), 205 - 2 9 1 . - E. Martínez Borobio, Fragmentos arameos de Henoc, 295-325 (Qumran-Fragmente zu äthHen). - Gonzalo Aranda, Fragmentos coptos de Henoc, 329-340]. — Emil Kautzsch, Die Apokryphen u. Pseudepigraphen des AT, 2 Bde., (II Pseudepigraphen), Tübingen 1900 2 1921. - Werner Georg Kümmel u.a., Jüd. Sehr, aus hellenistisch-röm. Zeit, Gütersloh 1973 ff. - Paul Riessler, Altjüd. Schrifttum außerhalb der Bibel, Augsburg 1928, Nachdr. Darmstadt 1966. - Paolo Sacchi, Apocrifi dell'Antico Testamento, Turin, I 1981. Die Henochgestalt und das Noahbuch: Florentino García Martínez, 4QMesAram y el libro de Noé: Salmanticensis 28 (1981) 195-232. - Herman Ludin Jansen, Die Henochgestalt. Eine vergleichende religionsgesch. Unters., Oslo 1939. - Ferdinando Luciani, La sorte di Enoc in un ambiguo passo targumico: Bibbia e Oriente 22 (1980) 125-158. - Ders., La giustizia di Enoc in Sir., 44, 16b secondo la versione greca: 3irKabbala

Gemäß der kabbalistischen Lehre von den zehn Sefirot, den Kräften bzw. Potenzen in der Gottheit, ist die unterste Sefira, die der Welt der Geschöpfe am nächsten steht und durch die alle anderen Potenzen mitvermittelt werden, als malküt [Herrschaft] bekannt. Sie wird auch als Schechina und k'näsät jisrä'el, d.h. als göttliches Gegenstück zum jüdischen Volk auf Erden, bezeichnet. Von grundlegender Bedeutung in der Kabbala ist die Vorstellung, daß jede Handlung des Menschen einen Einfluß auf die Sefirot ausübt. Ist ein Mensch rechtschaffen, so gehen von ihm günstige Impulse nach oben aus, so daß die Harmonie in der Sphäre der Sefirot gefördert wird und die Gnade Gottes die ganze Schöpfung durchdringen kann. Werden böse Taten begangen, so gehen schädliche Impulse nach oben, die die Harmonie der Sefirot stören und den Fluß der göttlichen Gnade aufhalten. Vor diesem Hintergrund bedeutet die „Errichtung des Reichs Gottes", daß man ein heiliges Leben führt, damit malküt in Harmonie mit den anderen Sefirot existieren kann, insbesondere mit tif ärät (Schönheit), bekannt auch als „Himmel", dem männlichen Prinzip, dessen weibliches Pendant malküt ist. Werden diese beiden Prinzipien durch die guten Taten des Menschen geeint, ist das Reich Gottes (malküt sämajim) erreicht. Dies ist die kabbalistische Lehre von der „heiligen Hochzeit" in der Höhe, durch die das männliche und das weibliche, das aktive und das passive Prinzip geeint werden. Diese „Einung" ist allerdings nicht vollkommen, solange die Schechina infolge der Verbannung Israels aus dem Heiligen Land selbst im Exil lebt. Folglich hängt die vollkommene Einung vom Kommen des Messias ab; dann erst wird der Harmonisierungsprozeß seine Vollendung finden, und das Reich Gottes sowohl im Himmel als auch auf Erden etabliert werden. Jede der sieben „unteren" Sefirot wird zudem auf Erden durch eine biblische Gestalt repräsentiert. Obwohl malküt das weibliche Prinzip ist, wird sie auf Erden durch König David verkörpert. Den Vervollkommnungsprozeß der Schechina wird erst der Messias, ein Nachkomme Davids, vollenden. In Weiterentwicklung der rabbinischen Vorstellung, daß das Joch der Himmelsherrschaft speziell beim Rezitieren des S'mä angenommen wird, machen die Kabbalisten darauf aufmerksam, daß das S'mä 248 Worte enthält (wenn vom folgenden Teil der Liturgie drei Worte hinzugezählt werden) und diese den 248 Teilen des menschlichen Körpers entsprechen sollen. Beim Rezitieren des S'mä muß sich der Mensch somit verpflichten, Gott zum König über alle Teile seines Körpers zu machen. Ebenso muß der Mensch in der Sicht der späteren Kabbalisten seine Treue zum König beim Lesen des S'mä dadurch zum Ausdruck bringen, daß er den Märtyrertod ins Auge faßt, d. h. er steht vor der Wahl zwischen Abtrünnigkeit und Tod und entscheidet sich lieber dafür zu sterben, als Gott, dem wahren König, untreu zu werden (Süsskind 34 f).

Herrschaft Gottes/Reich Gottes III 4. Im

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-*Chastdtsmus

Im frühen chasidischen Denken ist, wie G. —•Scholem gezeigt hat, eine gewisse Neutralisierung des Messianismus festzustellen, durch die die gegenwartsbezogenen Aspekte der Gottesherrschaft gegenüber den eschatologischen mehr in den Vordergrund gerückt wurden. Scholems Behauptung ist zwar nicht unumstritten, doch es trifft sicherlich zu, daß ein großer Teil des chasidischen Denkens, wie aus den Werken der chasidischen Lehrer hervorgeht, um die Ansprüche der Gottesherrschaft an den einzelnen Menschen kreist. Nach dem chasidischen Lehrer Simha Bunen von Psychska wird die ursprünglich eschatologische Bedeutung des Kaddisch auf die gegenwärtige Gottesherrschaft übertragen, wobei für den einzelnen allerdings das frühere Verständnis des Gebets als messianische Hoffnung seine Bedeutung nicht ganz verliert. Bei den Ghabad-Chasidim, deren Lehren die strengste akosmische Philosophie enthalten, erhält das Königtum Gottes einen völlig neuen Akzent. Die kabbalistische Vorstellung, wonach für die Entstehung des begrenzten Weltalls ein „Rückzug Gottes in sich selbst" notwendig war, wird akzeptiert; Gott hat sich allerdings, so die Interpretation der Chabad-Chasidim, nur insofern „in sich zurückgezogen", als er das göttliche Licht vor dem menschlichen Blick abgeschirmt hat. In Wirklichkeit ist Gott nach wie vor allgegenwärtig. Vom Standpunkt Gottes aus sozusagen gibt es weder eine begrenzte Welt noch Geschöpfe, die darin wohnen, sondern nur das göttliche Licht. Von unserem Standpunkt aus hingegen findet eine Abschirmung statt, und so nehmen wir die begrenzte Welt und uns selbst als existent wahr. Das höchste Ziel des Menschen besteht im Erreichen der Selbstauslöschung, eines mystischen Zustands, in dem die Welt und die menschliche Identität zurücktreten und nur die Majestät des göttlichen Königs existiert. Am Vorabend des Neujahrstages, wenn Gott insbesondere als König begrüßt wird und der söfar geblasen wird, wie die Trompeten einer Krönungszeremonie, versammeln sich die Mitglieder der Chabad-Sekte in der Synagoge zur Krönung des göttlichen Königs und singen Lieder voller Sehnsucht, in denen sie klar ausdrücken, was für sie die Gottesherrschaft wirklich bedeutet: daß Gott alles ist, daß alles in Gott ist und daß es keine größere Freude und Verzückung gibt als das Verbundensein mit Gott. Das chasidische Verlangen nach Gottesherrschaft im Sinne einer Transzendierung seiner selbst wird in einem Gleichnis deutlich, das vom Begründer der Bewegung, Israel Baal Schern Tob, stammen soll: Ein mächtiger König hat durch seine Wunderkraft einen illusionären Palast um seinen Thron errichtet. Dann lud er seine Untertanen ein, ihn in seinem Palast zu besuchen. Manche der Besucher waren so beeindruckt von der Schönheit und Pracht der Säle, die mit den verschiedensten Kostbarkeiten angefüllt waren, daß sie darüber den Zweck ihres Besuchs vergaßen. Die treuen Untertanen des Königs jedoch, die sich nach seiner Gegenwart sehnten, ließen sich durch die Wunderdinge, die sie sahen, nicht ablenken, da sie ja den König selbst erreichen wollten. Als sie weiterhin darauf drängten, zum König vorgelassen zu werden, erkannten sie plötzlich, daß es überhaupt keinen Palast gab. Alles war nur eine durch die Wunderkraft des Königs bewirkte Einbildung, die sich in Nichts auflöste, sobald sie den König selbst erblicken konnten. Quellen Joseph Albo, Sefer ha-Ikkarim, ed. I. Husik, Philadelphia 1945. - Seligmann Baer, Avodat Yisrael, Prayer Book, Berlin 1937. - Solomon Ibn Gabirol, The King's Crown (hebr.), ed. J. A. Seidman, Jerusalem 1950. — Judah Halevi, Sefer ha-Kuzari, ed. J. Kaufmann, Tel-Aviv 1972. - Midrash Tanhüma, ed. S. Buber, Vilna 1885, - Mose ben Maimon, Guide of the Perplexed (hebr.), ed. J. Kapah, Jerusalem 1977. - Ders., Mishneh Torah, ed. S. N. Rubenstein, Jerusalem 1957. - Moses v. Tachau, Ketav Tamim, ed. R. Kirchheim/Otzar Nehmad, Wien 31960, 54-99. - Service of the Synagogue, New Year, ed. I. Davis, London 1962. - Alexander Süsskind v. Grodno, Yesod ve-sores ha-avodah, Jerusalem 1968.

Literatur Israel Abrahams, A Companion to the Authorized Daily Prayer Book, New York 2 1966,7-9. —

Herrschaft Gottes/Reich Gottes IV

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Gottes

im spätantiken

Judentum

Sprachgebrauch

1.1.1. Der im Neuen Testament vor allem in den synoptischen Evangelien belegte Ausdruck ßaaiXeia rov ÖEOÖ (TÜJV ovpavtöv) hat sachlich wie terminologisch seine Voraussetzungen und Parallelen in der jüdischen Rede von der Gottesherrschaft (hcbräisch: malkut JHWH bzw. bei den Rabbinen malkut samajim und aramäische Äquivalente; Ubersicht über den Sprachgebrauch bei Dalman 7 5 - 8 3 ) . Ebenso wie im Alten Testament meint der Begriff primär den Vollzug der Herrschaft Gottes (vgl. Camponovo 443); zumal im Zusammenhang dualistischer Vorstellungen ist aber auch an den Raum gedacht, in dem sich diese Herrschaft vollzieht („Reich"). (S. auch o. Abschn. III.) 1.1.2. Die (relativ wenigen) vorrabbinischen jüdischen Schriften, die überhaupt von der Gottesherrschaft sprechen, stammen mit Ausnahme der Weisheit Salomos und der sibyllinischen Orakel aus dem palästinischen Raum. Die meisten dieser Schriften sind Apokalypsen (-» Apokalyptik) oder stehen apokalyptischem Denken nahe. Die Literatur des Diaspora-Judentums redet kaum von gegenwärtiger oder endzeitlich-universaler Gottesherrschaft; ihre Eschatologie ist nahezu allein am Individuum orientiert (vgl. Fischer, insbesondere 255-260). 1.1.3. Der komplizierte Befund in den jüdischen Bibelübersetzungen (LXX und Targumim), auf den im folgenden nicht eingegangen wird, ist ausführlich dargestellt bei Camponovo 377-436. 1.2. Apokalyptische

Texte

1.2.1. Das Danielbuch (-»Daniel/Danielbuch) redet von der eschatologischen Herrschaft Gottes und der aus Gottes Hand kommenden unzerstörbaren Herrschaft seines Volkes (2,31-35.44 f; 3,33; 6,25-27). In 7,14 wird die Herrschaft des endzeitlichen Menschensohnes beschrieben: Sie ist fortdauernde Machtausübung Gottes, auch wenn ihr konkreter Vollzug in der Hand des von ihm Beauftragten liegt. Wenn Daniel in der Deutung (7,15-27) erfährt, „Menschensohn" meine das „Volk der Heiligen des Höchsten" (7,18.26 f), dann ist zwar nicht „an Stelle des Reiches Gottes... das Reich der Heiligen getreten" (so Bousset/Greßmann 216); wohl aber verbindet der Apokalyptiker beides zu unauflöslicher Einheit. 1.2.2. Jüngere Nachträge (Becker, Untersuchungen) der -»Testamente der XU Patriarchen sprechen von Gottes Königsherrschaft. Testjud 21.22 sagt, Gott werde Judas ewiges Königtum in der Heilszeit aufrichten, wozu in 24,5 f die Messiaserwartung nachgetragen wird. TestDan 5,10-13 verheißt Gottes Königtum über Israel, wenn Beliar vernichtet und ewiger Friede von Gott heraufgeführt ist (zur Analyse vgl. Becker, Untersuchungen 352f; Camponovo 319-324). TestBenj 9,1 (dazu Becker, a. a. O. 253 f) spricht indirekt von der Gegenwart der Gottesherrschaft als einem Heilszeichen bzw. von deren Fehlen als Zeichen der Unheilszeit.

Herrschaft Gottes/Reich Gottes IV

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1.2.3. Im Dritten Buch der Oracula Sibyllina (-»Sibyllinen) ist in 4 6 - 6 2 anscheinend an ein Offenbarwerden der bereits bestehenden Gottesherrschaft gedacht, deren konkreter Vollzug im Gericht, in der Anerkennung des Tempels und in weltweitem Frieden und Gerechtigkeit erfahren wird (vgl. Camponovo 352-356). „Gericht und Herrschaft des großen Gottes" gehören unmittelbar zusammen (111,767-784). Die Sibyllinen sprechen auch von einem gottgesandten König, der gewaltsam auf Erden Frieden schafft (111,652 ff) und die irdischen Könige vernichtet (V,108 ff; vgl. V,414ff); daß dabei an ein messianisches „Zwischenreich" gedacht sei, läßt sich aber nicht wirklich belegen (richtig Wilcke 3 9 - 4 1 trotz des Einspruchs von Schade 95). 1.2.4. Vom Königtum Gottes sprechen einige der vermutlich nach der Eroberung Jerusalems durch Pompeius (63 v. Chr.) verfaßten Psalmen Salomos (-»Salomo/Salomoschriften). An die Gegenwart denkt offenbar der Beter von PsSal 5, der sein Bittgebet mit einem Lobpreis des Herrn schließt: „Deine Güte (ist) über Israel in deinem Königreich" (V.18), „er ist unser König" (V.19; Übers. Holm-Nielsen: JSHRZIV/2). Das „Königreich" in 5,18 ist vielleicht die ganze Erde, wo Gott seine Güte besonders an Israel wirksam sein läßt (anders Camponovo 216-218, der statt des Indikativs einen Optativ ergänzt und dann so deutet: „Deine Güte komme über Israel, wenn du deine Königsherrschaft erweist" [217]). Ob Gott in V.19 als König der Schöpfung oder aber als Herr Israels angerufen wird, läßt sich nicht entscheiden. Im messianologischen PsSal 17 ist Gott als ewiger König angeredet (V.l und V.46), dessen Königtum „ist in Ewigkeit über den Heiden mit Gericht (¿v xpioti)" (V.3; vgl. 2,30, wo ebenfalls der Königstitel für Gott mit dem Gerichtsgedanken verbunden ist; gemeint ist an beiden Stellen wohl nicht das Endgericht, sondern das gegenwärtig ergehende Urteil; vgl. Holm-Nielsen, a.a.O. 97 und Camponovo 222). Das Verständnis der Gottesherrschaft ist in PsSal 17 nicht rein eschatologisch: Gott ist der ewige König; nur deshalb kann der Beter gegen alle Erfahrung darauf vertrauen, daß Gott sich den Heiden gegenüber als Richter erweist. 17,21-46 spricht er vom davidischen Messias als dem „von Gott gelehrten König" (V.32), ohne daß der Begriff der Gottesherrschaft begegnet. 1.2.5. Die Assumptio Mösts (-»Mose/Moselied/Mosesegen/Moseschriften) beschreibt in Kap. 7 - 9 die in der Endzeit anwachsenden Frevel; auf deren Höhepunkt jedoch werde Gottes „Herrschaft über seine ganze Schöpfung erscheinen, und dann wird der Teufel nicht mehr sein" (10,1; Übers. Brandenburger: JSHRZ V/2; zur Auslegung vgl. Camponovo 165-174). Und „dann (wird aufstehen der) Himmlische vom Sitz seiner Herrschaft" und Gericht halten; am Ende steht die Erhöhung Israels (10,3.8f). Im Kontext eines dualistischen Denkens vereinen sich hier endzeitliche Gottesherrschaft, Theophanie, Gerichtserwartung und nationale Hoffnung Israels (AssMos steht wahrscheinlich den politisch-religiösen Zielen der Zeloten nahe; vgl. Hengel 308-312). 1.2.6. Das äthiopische Henochbuch (-»Henochgestalt/Henochliteratur) spricht von Gott als dem „König der Ewigkeiten" (9,4; 12,3 u.ö.; Camponovo 242-246). In drei Abschnitten ist, in unterschiedlicher Weise, von der Königsherrschaft Gottes die Rede. In 1,3 ff wird die Epiphanie Gottes auf dem Sinai vom Himmel her zum Gericht beschrieben (Frieden den Gerechten, Vernichtung für die Gottlosen, 1,8 f; vgl. 5 , 5 - 9 ) ; hier begegnet zwar nicht explizit der Begriff der Gottesherrschaft, doch es werden deren charakteristische Epitheta dargestellt. 84,2 redet von Gottes „Macht, Königsherrschaft und Größe". In 90,18.30 erscheint die Endzeit als Umkehrung der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse - an Gottes Herrschaft ist nur insoweit gedacht, als er der Urheber dieser Umkehrung ist. Nach dem „Henochbrief" (91 -105) wird Gott dem Gerechten ewige Rechtschaffenheit geben und Herrschaft verleihen (92,4), während nach 103,1 Gott „groß und ruhmreich und stark an Herrschaft" ist. Hier zeigt sich also, wie in der (auffallend seltenen) Rede von der Gottesherrschaft im Henochbuch Gegenwart und Zukunft miteinander verbunden sind (vgl. Camponovo 253 -258). 1.2.7. Es ist bemerkenswert, daß das /V. Esrabuch (-»Esra/Esraschriften) zwar von einem (auf 400 Jahre befristeten) Wirken des Messias spricht (7,26-29), nicht aber von der Gottesherrschaft. Auch am Ende der Tiervision, wo eine solche Terminologie zu erwarten wäre, spricht der Seher nur von seiner Hoffnung auf Gericht und Erbarmen des Schöpfers (11,44-46); und in 12,33 f heißt es, der davidische Messias werde in Gestalt des Löwen den (römischen) Adler überwinden und das Volk im Lande gnädig befreien bis zum Tage des letzten Gerichts. 1.2.8. Im syrischen Baruchbuch (-»Baruch/Baruchschriften) reden die (vermutlich vor 70 n. Chr. verfaßten) apokalyptischen Abschnitte (26-30.36-40.53.56-74; vgl. Klijn: JSHRZ V/2, 112) von der endzeitlichen Herrschaft „meines Gesalbten", die nach dem Sturz der römischen Macht geoffenbart (39,7) und nach dem Tod des letzten irdischen Herrschers auf dem Zion (vgl. 72,1-6) bis zum Ende dieser vergänglichen Welt dauern wird (40,1-3; vgl. 30,1). Im Gericht erniedrigt der Gesalbte alle irdische Macht und setzt sich „auf seiner Königsherrschaft Thron in ewigem Frieden" (73,1; Ubers. Klijn, a.a.O.), worauf die künftige Welt der Freude und der Ruhe folgt (73,2-7). Die die eigentliche theologische Intention des Verfassers enthaltenden paränetischen Stücke (Klijn, a.a.O. 112) reden dagegen nicht vom künftigen Herrschen Gottes, sondern schärfen die Bindung an Gott und sein Gesetz ein. - Im griechischen Baruchbuch begegnet der Ausdruck „Herrschaft der Himmel"

198

Herrschaft Gottes/Reich Gottes IV

(11,2), womit der vom Engelfürsten Michael bewachte Wohnort Gottes bezeichnet ist (Fischer 76f, Anm. 20).

1.3. Weisheitliche

Texte

1.3.1. N u r unwesentlich anders als in der Apokalyptik ist der Befund in den Weisheitstexten. In der Weisheit Salomos (-»Salomo/Salomoschriften) heißt es (3,8), die Seelen der Gerechten würden Nationen richten und über die Völker herrschen; Gott werde über sie König sein in Ewigkeit. In der Gerichtsrede über die irdischen Herrscher (6,1-8) wird diesen vorgeworfen, sie hätten, „obgleich Diener seiner ßaoifcia, nicht recht gerichtet und das Gesetz nicht b e w a h r t " (6,4). In Auslegung von Gen 28,12ff heißt es in 10,10, die Weisheit habe dem Gerechten ( = Jakob) die Gottesherrschaft gezeigt; hier scheint sich die Tendenz anzubahnen, direkte Aussagen über Gott selbst (vgl. Gen 28,12) zu vermeiden und stattdessen theologische Abstrakta zu verwenden (weitere Beispiele bei Dalman 7 9 - 8 3 ; anders Camponovo 373 - 3 7 5 : In Weish 10,10 sei der Himmel gemeint als der Ort, w o Gott gegenwärtig und künftig seine Herrschaft ausübt). 1.3.2. Von der gegenwärtigen Gottesherrschaft spricht auch der Lobpreis in -*Tobit 13,2; sie verwirklicht sich darin, daß Gott jetzt Gericht und Erbarmen übt und niemand seiner Hand entrinnen kann. 1.3.3. Das -* Jubiläenbuch verheißt die künftige Epiphanie des Herrn (l,27f)- Gott ist aber schon jetzt der König Israels; das zeigt der Sabbat, der für Israel „ein Tag des heiligen Königreiches" ist (50,9; Übers. Berger: J S H R Z II/3). Die kleine Apokalypse in 2 3 , 9 - 3 1 schildert die Vernichtung der Erde und sagt, niemand errette das Gottesvolk aus den Händen der Heiden; danach aber werden die Kinder anfangen, nach dem Gesetz zu suchen, womit eine neue Heilszeit beginnt, in der Satan nicht mehr sein wird und die Feinde dem Gericht verfallen (23,26.29 f). Wieder fällt auf, daß der Begriff der Gottesherrschaft fehlt (vgl. Camponovo 236 f).

1.3.4. In der apokalyptischen und weisheitlichen Literatur der Zeit zwischen 150 v. Chr. und 100 n. Chr. meint die Rede von der Gottesherrschaft Gottes gegenwärtiges Königtum, dann aber auch Gottes endzeitlich aller Welt offenbare Herrschaft, die insbesondere im Gericht über die Gottlosen manifest werden wird. Zur Kennzeichnung der Heilszeit wird der Begriff in der Regel nicht gebraucht (vgl. Dalman 83). 1.3.5. Wenn dagegen -*]osephus Flavius die Verwendung des Begriffs völlig vermeidet, so liegt das möglicherweise weniger daran, daß er die eschatologische Hoffnung des Judentums verschweigen will (so Lattke 13) oder persönlich gar nicht teilt (so Fischer 180-183; anders Dexinger 265); sondern es liegt offenbar eher daran, d a ß er von seiner Apologetik her die mit der Rede von der ßaoiteia verbundene Gerichtserwartung bzw. -ankündigung unterdrücken möchte.

1.4. Qumran 1.4.1. Die Qumrangemeinde ( - » Q u m r a n ) verstand sich als das wahre Israel und sah sich als unmittelbar vor dem Ende der gegenwärtigen bösen Zeit stehend an. In ihren Texten spielt der Begriff der Gottesherrschaft dennoch nur eine geringe Rolle. 1.4.2. Die Kriegsrolle ist die einzige Qumranschrift, in welcher „die Endzeit in Zusammenhang mit der Königsherrschaft Gottes gesehen wird", ohne daß dieses Thema „die Kriegsrolle als Ganze geprägt hätte" (Camponovo 305 f). In 1 Q M 6,6 heißt es, die Front des Feindes werde niedergezwungen werden, dem Gott Israels werde das Königtum (m'lukä) gehören, und er werde durch die Heiligen seines Volkes Macht ausüben (vgl. 4 QFlor 1 3 ) . Von der gegenwärtigen Herrschaft (malkut) Gottes redet 1 Q M 12,7: Die Gemeinde vermag allen Feinden mit H o h n und Spott zu begegnen, weil sie Gott als ihren König auf ihrer Seite weiß (vgl. 12,3.16). In 19,8 klingt an, Israel werde eine ewige Herrschaft (malkut) ausüben, wobei das Motiv der Völkerwallfahrt zum Zion voransteht (19,5-7) und der Hinweis auf das Gericht über die Feinde (insbesondere die Römer, vgl. 1,6) folgt (Z. 9 - 1 3 , wo die Schrift abbricht). Voraussetzung für solches Reden ist der für Qumran spezifische Dualismus: Gegenwärtig regiert Belial als Fürst seiner „ H e r r s c h a f t " (mamsala-, vgl. dazu Becker, Heil 78) auf der einen Seite (1 Q M 1,15; 14,9f; 17,5f; 18,11); dem steht auf der anderen Seite der Fürst des Lichts gegenüber, unter dessen Herrschaft alle Geister der Wahrheit stehen (13,10). Die Gemeinde ist aber davon überzeugt, daß die Aufhebung dieses Dualismus der beiden Herrschaftsvollzüge zugunsten der eschatologischen Durchsetzung der Herrschermacht Gottes unmittelbar bevorsteht (1 Q M 17,5-8). 1.4.3. Die Gemeinderegel, in der der Dualismus scharf ausgeprägt begegnet (1 QS 3,20-23), versteht die Gegenwart als Zeit der Herrschaft Belials (1,18.23; 2,19; vgl. 4,19: Herrschaft des Frevels), was nicht meint, daß allein Belial herrscht, sondern d a ß er überhaupt einen Herrschaftsbereich besitzt. Zugleich aber spricht die Regel von der Herrschaft der Menschen (freilich im Rahmen der beiden Geister) über den Erdkreis (3,17; vgl. 1 Q H 1,17), und sie bezeichnet sogar die Schöpfung

Herrschaft Gottes/Reich Gottes IV

199

als Gottes ganze Herrschaft (1 QS 9,24; vgl. 1 QH 13,11). Diese Spannung zeigt an, daß der strenge Dualismus letztlich mit dem jüdischen Schöpfungsglauben nicht vereinbar ist (Lichtenberger 194-196). 1.4.4. In den Lobliedern vergewissert sich der Beter dessen, daß Gottes Engel jetzt in ihren Herrschaftsbereichen Macht ausüben (1 QH 1,11); er weiß, daß die Schöpfung Gottes Herrschaftsbereich ist (10,8; 13,11). Zugleich ist er dessen gewiß, daß seine Feinde am Ende zerstreut sein werden; und er kann sagen, daß „meine Herrschaft auf allen Söhnen [des Unrechts]" liegen wird, weil Gott ihm geholfen hat (7,22f). 1.4.5. In den Segensformeln wird dem Empfänger des Segens ewiger Friede und Herrschaft (malkut) gewünscht (1 QSb 3,5); in 4,25 f gilt ihm der Wunsch, er möge sein „ein Diener im Palast der (sc. endzeitlichen?) Herrschaft" (sc. Gottes?); und in 5,21 lautet die Segensbitte, Gott möge „den Bund der Einung erneuern, um die Herrschaft seines Volkes aufzurichten auf ewig". Ähnlich lautet die messianische Deutung von Gen 49,10 in 4 QPatr 2: „Wenn Israel die Herrschaft hat (mmsl)", erweist sich der davidische König (vgl. Z.4) als unbesiegbar, weil sein Herrscherstab „der Bund der Königsherrschaft (b'rit hammalkut)" ist (4 Qpjes 4,4 f sagt explizit, der davidische König werde über alle Völker herrschen und sie mit dem Schwert richten). Bemerkenswert ist, daß die in 1 Q 28 a überlieferte „Ordnung der endzeitlichen Israelgemeinde" zwar vom Messias spricht (2,12.14.20), nicht aber von der Gottesherrschaft. In einigen kleinen Fragmenten liturgischer Texte begegnet zwar die Rede von Gott als dem König (Camponovo 273-280), doch hat dies „keinen prägenden Einfluß auf die ganzen Texte gehabt" (a.a.O. 279). Inden erhaltenen Textfragmenten exegetischer Literatur zeigt sich sogar „ein bemerkenswertes Desinteresse am Motiv der Königsherrschaft Gottes" (Camponovo 292, der insbesondere auf die Auslegung von Jes 52,7 in 11 Q Melch verweist, 286-291). 1.4.6. D i e Qumrattgemeinde weiß um das Ineinander von Heilsgegenwart und Heilshoffnung (vgl. Kuhn 204). Der Q u m r a n f r o m m e erfährt die Gegenwart des Heils in seiner Zugehörigeit zur Gemeinde, in der er dem Herrschaftsbereich Belials entnommen und der Herrschaft G o t t e s (bzw. dessen guten Geistern) unterstellt ist. Die Z u k u n f t des Heils wird sichtbar werden, wenn nach der Überwindung Belials alle Feinde besiegt sind und das wahre Israel aus der H a n d Gottes die ewige Herrschaft empfängt (daß sich die letzte Zeit „in die Länge z i e h t " , reflektiert 1 Q p H a b 7 , 7 - 1 0 ) . Die insgesamt freilich sehr seltene Rede von der endzeitlichen Herrschaft (Gottes, des Lichtfürsten, Israels, des davidischen Königs) meint in Q u m r a n also sowohl das Gericht über Belial und die Glieder seiner Herrschaft als auch - wenn auch nur angedeutet — das Heil für Israel. 1.5.

Philo

Der Begriff der ßaoiXßia TOO OCOÖ begegnet auch in den Schriften -»Philos, freilich nicht in den (wenigen) Texten, die, zurückhaltend in der Formulierung, Aussagen zu einer futurischen Eschatologie enthalten (vgl. Dexinger 250-255). In der allegorischen Interpretation der Opfervorschriften von Lev 1 wird Gott beschrieben als Lenker der Gestirne, der eine unüberwindliche ßaoifaia besitzt, durch die alles gerecht regiert wird (SpecLeg 1,207); diese Aussage enthält keinerlei eschatologischen und auch kaum einen auf die Schöpfung bezogenen Akzent (vgl. Her 301; Mut 135). Nach SpecLeg IV,164 ist rj roß Oeoö ßaatMa das Urbild der in Dtn 17,14-20 beschriebenen israelitischen Königswürde, deren äußeres Abzeichen nicht ein Zepter, sondern Gottes Gesetz ist. In Abr 261 wird Gen 23,6 auf die ßaaiXEia des Weisen gedeutet, die dieser von Gott selbst empfängt (vgl. Weish 3,8); der Begriff der ßaotteia wird aber nicht weiter entfaltet - er scheint einfach aus der Formulierung von Gen 23,6 L X X abgeleitet zu sein. In VitMos 1,289-291 zitiert Philo innerhalb der Rede Bileams (Num 2 4 , 5 - 9 ) V.7 in der seit L X X stark abweichend vom hebräischen Text messianisch verstandenen Fassung (vgl. zur Uberlieferung der Stelle in den alten Versionen Vermes 159 f): „Einst (noxe, so nur Philo) wird aus eurer Mitte hervorgehen ein Mensch und Macht gewinnen über viele Völker; und seine Herrschaft (ßaoiAeia) wird täglich anwachsend zur Höhe sich emporheben" ($290). Philo gibt keine nähere Deutung dieser Aussage; möglicherweise läßt er ihren messianischen Sinn stillschweigend gelten (anders die Deutung desselben biblischen Textes in Praem 95; vgl. Fischer 200ff; Dexinger 252). Nach Som I,284f sollte der auf eine widergöttliche Schöpfungslehre zu beziehende Turmbau von Babel dazu dienen, „die alles zusammenhaltende Kraft zu erschüttern", die altbvtoi;ßaaiXeia „ewige Herrschaft" (Gottes) zu vernichten ($290f). Gott aber schlug diese Lehre nieder. Philo bezieht dies zwar auf das Bewußtsein des einzelnen Menschen; dennoch fällt auf, daß er Gottes königliche Macht über die Schöpfung hier in einer durchaus jüdischer Tradition entsprechenden Weise hervorhebt. Das Urteil, Philos Anschauung von der Herrschaft Gottes sei „durch und durch ethisch" (Lattke 14), ist insoweit zu modifizieren.

200

Herrschaft Gottes/Reich Gottes IV

1.6. Gottesherrschaft als gegenwärtige und zukünftige Größe im spätantiken Judentum Die Rede von der Gottesherrschaft spielt in den erhaltenen Schriften des spätantiken Judentums „keine hervorragende Rolle" (Camponovo 437). Wo sie begegnet, kann sie besagen, daß Gott gegenwärtig König ist über die Schöpfung, über (das wahre) Israel, über den Weisen bzw. den Gerechten. Häufiger ist jedoch gedacht an Gottes (in Bälde epiphan werdende) endzeitliche uneingeschränkte Herrschaft über die Welt, womit der Gedanke einer von Gott verliehenen endzeitlichen Herrschaft Israels verbunden sein kann. Die Erwartung der Königsherrschaft Gottes enthält zugleich die Erwartung des Gerichts über die Völker (bisweilen konkret: über Rom); der Gerichtsgedanke kann so stark in den Vordergrund treten, daß die mit dem Stichwort Gottesherrschaft verknüpfte Heilserwartung fast ganz verschwindet. 2. Herrschaft Gottes bei Jesus und im

Urchristentum

2.1. Allgemeines 2.1.1. Vorkommen. Der Begriff der Herrschaft Gottes begegnet in nahezu allen Schichten der neutestamentlichen Überlieferung, allerdings in sehr unterschiedlicher Häufigkeit. In den synoptischen Evangelien ist ßaaiÄeia xovOeoßdas zentrale Thema der Predigt des irdischen Jesus (zu ßaaikeia TCÖV ovpav&v bei Mt s.u. Abschn. 2.4.3). Paulus und die deuteropaulinischen Briefe verwenden den Begriff selten. In den späteren Schriften - ausgenommen die Apokalypse des Johannes - begegnet er nur noch vereinzelt; in der johanneischen und vor allem deuterojohanneischen Literatur spielt er so gut wie keine Rolle. Paulus (I Kor 15,24) und jüngere neutestamentliche Schriften bzw. Traditionen sprechen auch von der ßaoiteia Christi (Lk 1,33; M t 20,21; Kol 1,13; II Tim 4,1; II Petr 1,11; vgl. Lk 22,29f; J o h 18,36) bzw. des Menschensohnes (nur M t 13,41; 16,28), sehr selten in Verbindung mit dem Parusiegedanken (Lk 23,42). Gelegentlich begegnet entsprechend jüdischer Messianologie ßaoiAeix; „König" als christologischer Hoheitstitel (vor allem in den Passionstexten; vgl. Act 17,7; Apk 17,14 u.ö.), während Gott nur selten „König" genannt wird (in eigentlicher Rede M t 5,35; I T i m 1,17; im Gleichnis M t 22,2.13; in der Bildrede M t 25,34.40). Der Gedanke, daß Christus gegenwärtig Herrschaft ausübt, wird vor allem bei Paulus weniger durch ßaaiXeia oder ßaoitevt; (vgl. aber I Kor 15,24) als vielmehr durch den Titel xopios ausgedrückt (Rom 14,9; vgl. Phil 2,11); daneben stehen Aussagen über die durch das Heilsgeschehen überwundene Herrschaft der christusfeindlichen Mächte (Tod, Sünde, Gesetz; R o m 5,14.21; 6,9.14; 7,1).

2.1.2. Zum Begriff. Die Debatte, ob ßaaiXeia (roß Qeov/xmv oúpavüv bzw. Xpiazov) im Neuen Testament primär den Herrschaftsvollzug oder eher das Herrschaftsgebiet meint, trägt wenig aus. Zwischen beiden Interpretationen besteht keine strenge Alternative (vgl. Klein 642 Anm. 1): Die Worte vom „Hineingehen in die ßaaiXeia" (Mk 9,47; Mt 5,20 u.ö.; vgl. Mt 21,31) setzen voraus, daß an einen „räumlichen" Machtbereich zu denken ist; die Worte vom „Kommen der ßaoiteia" (Mt 6,10; Lk 19,11; vgl. Mk 1,15 u. ö.) lassen an einen „dynamisch" sich vollziehenden Herrschaftsantritt denken. Obwohl sich die Ubersetzung „Herrschaft" weithin durchgesetzt hat (anders Burchard 24 Anm. 6; vgl. auch Conzelmann, Grundriß 126), ist die Einbeziehung des räumlichen Aspekts durchweg mitzubedenken (vgl. Ladd: JBL 81 [1962] 236). ßaaiXzia roß OEOV ist im Neuen Testament ein eschatologischer Begriff (nur in der in biblischer Sprache formulierten Sentenz Mt 5,35 ist zeitlos an Gottes Königtum gedacht). Die unterschiedlichen Zeitaspekte (die Gottesherrschaft wird erwartet; oder: Sie ist bereits angebrochen) spielen dabei keine Rolle, weil (mit Ausnahme von I Kor 15,24) immer an die endzeitlich-endgültige Herrschaft Gottes bzw. Christi gedacht ist. Die Rede von der Gottesherrschaft verbindet sich im Neuen Testament nicht mit dem Gedanken einer endzeitlichen Herrschaft des (neuen) Gottesvolkes (angedeutet nur in Lk 22,30; vgl. Mt 19,28); der Gedanke einer von Jesus „in dieser Zeit" aufzurichtenden ßaaiXzia zip 'Ia-

Herrschaft Gottes/Reich Gottes IV

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pajjX wird in Act 1,6 f ausdrücklich zurückgewiesen. Zurückgetreten ist in diesem Zusammenhang schließlich auch der für die jüdische Apokalyptik konstitutive Gerichtsgedanke. Die sprachlichen Zusammenhänge, in denen der Begriff der ßaaiXeia in der synoptischen Uberlieferung begegnet, sind bei Jeremias (Theologie 40-44) zusammengestellt (vgl. Dalman 84-113). Insbesondere die in der Jesusüberlieferung im Zusammenhang mit der Rede von der Gottesherrschaft verwendeten Verben zeigen, daß Jesu Rede von der ßaaiXsia der jüdischen Rede vom „kommenden Äon" (ha olam haba) entspricht (Conzelmann: RGG 3 5,915; Luz: EWNT 1,485; vgl. dazu den Exkurs bei Billerbeck IV/2,799-976, vor allem 806-815). Es läßt sich allerdings nicht zeigen, daß diese Analogie, d.h. zugleich: der Wechsel der Terminologie, bewußt hergestellt worden wäre. Außerdem entspricht die Dialektik von Gegenwart und Zukunft in der Rede von der ßaatheia bei Jesus (s. unten) nicht dem Zwei-Äonen-Schema. 2.2. Johannes

der

Täufer

Im Kontext der Überlieferung von Johannes dem Täufer begegnet der Begriff der ßaaiMa nur in M t 3,2: Johannes begründet den Umkehrruf damit, daß die ßaaiXeia rcöv oupavmv „nahe herbeigekommen" ist (rjyyixev). Zumindest der Ausdruck „Herrschaft der Himmel", wahrscheinlich aber die Formulierung als ganze, ist redaktionell (vgl. M t 4 , 1 7 / M k 1,15 und M t 10,7). M t dürfte aber die Tendenz der Täuferverkündigung zutreffend wiedergegeben haben: Johannes predigt, wie Lk 3 , 7 - 9 par.(Q) und Lk 3 , 1 0 - 1 4 zeigen, die unmittelbare Nähe des Gottesgerichts (anders Becker, Johannes 2 7 - 3 9 : Johannes habe das Kommen des richtenden Menschensohnes erwartet). Falls der Täufer in seiner Predigt den Begriff der Gottesherrschaft tatsächlich gebraucht hat, stünde er damit in der Tradition jüdischer Eschatologie, in der Gottesherrschaft und Gericht eng miteinander verknüpft sind (s.o. Abschn. 1). Allerdings zeigt die Taufpraxis, daß sich die Predigt des Johannes primär an den einzelnen richtet. 2.3. Jesus von

Nazareth

2.3.1. Probleme. In der Forschung ist so gut wie nicht umstritten, daß die Rede von der Gottesherrschaft im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu stand (anders etwa Bammel 18). Diskutiert werden vor allem drei Fragenkomplexe: 2.3.1.1. Wie verhält sich Jesu Predigt von der Gottesherrschaft zu seinem Selbstverständnis? War Jesu Eschatologie rein theozentrisch? Oder beanspruchte er einen der traditionellen jüdischen Hoheitstitel eines eschatologischen Heilbringers (vor allem genannt: Menschensohn) für sich selbst bzw. erwartete er das Kommen eines solchen in Verbindung mit der Gottesherrschaft? 2.3.1.2. Wie verhalten sich Aussagen über die kommende Gottesherrschaft zu Aussagen, nach denen sie bereits angebrochen ist? Sind dies überhaupt Alternativen, und wenn ja: Wären die unterschiedlichen Aussagen auf verschiedene Stufen oder Schichten der Überlieferung aufzuteilen? Ist, sofern Jesus die Gottesherrschaft „futurisch" verstanden hat, seine Eschatologie als apokalyptisch zu bezeichnen? Und worin, sofern Jesus die Gottesherrschaft „präsentisch" verstanden hat, würde sich ihre Gegenwart konkretisieren? 2.3.1.3. Wie verhalten sich Jesu Predigt von der Gottesherrschaft und seine Ethik zueinander? Jesu ethische Mahnungen sind ja weithin nicht eschatologisch, sondern weisheitlich oder vom Schöpfungsgedanken her formuliert. Stehen Ethik und Eschatologie bei ihm also unverbunden nebeneinander? Oder haben die ethischen Aussagen Geltung nur für die Zeit bis zum Anbruch der Gottesherrschaft? Wie wäre Jesu ethische Forderung zu interpretieren, sofern die Gottesherrschaft für ihn in gewisser Weise schon Gegenwart ist? 2.3.2. Jesu Gleichnisse von der Gottesherrschaft. Der Inhalt der Verkündigung Jesu läßt sich in den Gleichnissen am sichersten erfassen (Conzelmann: GAufs 49). Obwohl keineswegs alle Gleichnisse ausdrücklich auf die ßaaiXeia Bezug nehmen (bei Mk nur 4,26.30; bei Lk nur 13,18.20; bei M t immerhin zehn Gleichnisanfänge), wird man die authentischen Gleichnisse Jesu wohl durchweg als metaphorische Rede über die Gottesherrschaft ansehen dürfen. Die Gleichnisform dient dabei nicht der bildlichen Einkleidung auch in „eigentlicher Rede" aussagbarer Sachverhalte; sie macht vielmehr deutlich, daß die von Jesus angesagte Gestalt der Gottesherrschaft anders als in metaphorischer Rede offenbar gar nicht zur Sprache gebracht werden kann. Dabei ist Jesu Rede von der ßaaiXeia aber nicht gleichzusetzen mit dieser selbst: Z w a r ist „das zur Sprache Kommen

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Herrschaft Gottes/Reich Gottes IV

der Basileia ein ausgezeichneter Modus ihres Kommens" (Jüngel 139); aber zugleich sind die Gleichnisse „im Blick auf den Hörer... ein Vorgriff auf das Ende der Zeit. Sie vollziehen gleichsam schon jetzt am Hörer, was Gott im Eschaton tun wird" (Weder 282). 2.3.2.1. In der Mehrzahl der authentischen Gleichnisse Jesu wird die Gottesherrschaft verstanden als eine noch ausstehende, nicht als eine bereits gegenwärtige Größe. Die Gleichnisse erzählen von zeitlich sich erstreckenden Vorgängen oder Handlungen; sie führen den Hörer dabei in eine erzählte Zukunft, die freilich im Vollzug der Gleichnisrede selbst schon zur Gegenwart wird. Die Parabel vom Sauerteig (Lk 13,20 f / M t 13,33 Q) läßt vier Akzente erkennen: 1. Gegenwärtig ist die Gottesherrschaft verborgen. 2. Die künftige Herrlichkeit der offenbaren Gottesherrschaft wird — wie die hyperbolische Größenangabe zeigt - eine vollkommene sein. 3. Daß die Gottesherrschaft kommt, ist unter allen Umständen gewiß. 4. Die künftige Gottesherrschaft ist aber bereits jetzt wirklich und wirksam im Wort, das nicht eine (mehr oder weniger nahe) Zukunft ankündigt, sondern sich auf die Gegenwart der Hörer bezieht. Das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4 , 2 6 - 2 9 ) betont zusätzlich, daß das Kommen der Gottesherrschaft menschlicher Einflußnahme nicht unterliegt (nach Maisch 38 ein antizelotischer Akzent); auch dem Vorgang des Säens oder der Person des Säenden ist keine besondere Bedeutung beizumessen (vgl. das eng verwandte Senfkorngleichnis M k 4 , 3 0 - 3 2 par., das einen aktiv Säenden gar nicht erwähnt). Demgegenüber erzählen die drei Parabeln in M t 1 3 , 4 4 - 5 0 (Sondergut) von der Begegnung des Hörers mit der in Jesu Predigt bereits gegenwärtigen Gottesherrschaft. Diese Gleichnisse sind Mitteilung und zugleich Zuspruch einer alles andere überbietenden Wirklichkeit, die dem Hörer ein Ja zu dieser Wirklichkeit förmlich abzwingt: Das Verhalten des Schatzfinders, des Perlenkaufmanns und des Fischers ist keine freiwillig getroffene Entscheidung, sondern Reaktion auf ein unmittelbares Überwältigtsein (anders ist die Tendenz in den sekundär gnostisierten Fassungen dieser Gleichnisse in EvThom 8.76.109; dazu A. Lindemann: Z N W 71 [1980] 2 1 4 - 2 4 3 ) .

Zukunft und Gegenwart der Gottesherrschaft sind in Jesu Gleichnisrede eng miteinander verknüpft: Einerseits ist Gottes Herrschaft so anwesend, daß der, welcher sich auf sie einläßt, alles andere dafür preisgibt, ohne sich damit auf ein „Eschaton" zu vertrösten. Andererseits aber ist diese Anwesenheit der ßaaitäa allein im Wort real: Der Teig ist noch nicht durchsäuert, das Senfkorn ist noch nicht zum Baum geworden, die Ernte steht noch aus. 2.3.2.2. In Jesu Gleichnissen geht es um die Herrschaft Gottes. Sie manifestiert sich nach der Schalksknecht-Parabel (Mt 18,23-30, so die älteste Traditionsstufe; Weder 211 f) darin, daß dem Menschen seine Schuld vergeben wird. Damit ist der Gerichtsgedanke aufgenommen, aber sogleich umgebogen: Der Mensch muß sich vor Gott verantworten; doch die absurd hohe Summe von „zehntausend Talenten" zeigt, daß die Beziehung zwischen Gott und Mensch nicht objektivierbar, nicht „berechenbar" sein kann; vielmehr sind alle irdisch denkbaren Maßstäbe aufgehoben: Die Vergebung im Gericht zerreißt den bisher unauflöslich erscheinenden Zusammenhang von Schuld und Strafe. Der Schluß der Parabel (V.28-30) zeigt, daß die so beschriebene Gottesherrschaft Konsequenzen hat für das Verhalten der Menschen: Der Knecht, dem jene unvorstellbar hohe Schuldsumme erlassen worden war und der nun aber seinerseits von seinem Mitknecht die Rückzahlung von 100 Denaren verlangt, handelt erkennbar unbillig und geradezu widersinnig. Hier — nicht erst in der sicher sekundären moralisierenden Fortsetzung V.31 - 3 4 - wird deutlich, daß der Empfang der Vergebung Gottes und die Bereitschaft zur Vergebung unter den Menschen einander entsprechen (vgl. das Vaterunser Lk 11,4 par.). Denselben Akzent setzt die Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1 - 1 6 ) . Im Vollzug der Gottesherrschaft sind die traditionellen religiösen Leistungsnormen außer Kraft gesetzt: Gott geht, wie der Weinbergbesitzer, dem Menschen nach - selbst noch „in der elften Stunde". Und Gott zahlt dabei (im Gericht?) allen denselben Lohn.

2.3.2.3. Jesu Gleichnisse von der Gottesherrschaft zeigen, wer Gott ist; sie reden an keiner Stelle von Jesus selbst (die einzige Ausnahme ist möglicherweise die SämannParabel Mk 4 , 3 - 9 par.). Jesus informiert aber nicht lediglich über die Gottesherrschaft oder stellt ein bestimmtes Gottesbild zur Diskussion. Vielmehr steht hinter seinen Gleichnissen der Anspruch, Gottes Wirklichkeit autoritativ und vollmächtig anzusagen. Inso-

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fern ist die Gleichnisrede von der Gottesherrschaft tatsächlich nicht abzulösen von der Person Jesu selbst. (-»Jesus Christus). 2.3.3. Jesu Rede von der Herrschaft Gottes außerhalb der Gleichnisse. Anders als die Gleichnisse sprechen Logien und apophthegmatische Texte in „eigentlicher" Rede vom Kommen der Gottesherrschaft und vom Zugang zu ihr; freilich beschreiben sie kaum deren Wesen, sondern reden von der Beziehung der Menschen zu ihr. 2.3.3.1. Vermutlich von Jesus stammen Logien, die Bedingungen formulieren für den Einlaß in die Gottesherrschaft oder für den Ausschluß aus ihr. Diese Logien bestätigen, daß Jesus die Gottesherrschaft positiv als Heilsgut interpretiert. Die Seligpreisung Lk 6 , 2 0 (Q) sagt den Armen die Teilhabe an der Gottesherrschaft zu und verheißt ihnen damit eschatologischen Besitz. Zweifellos ist dabei an ökonomisch Arme gedacht; dennoch ist der M a k a r i s m u s nicht als Sozialrevolutionäre Aussage zu verstehen: Er spricht nicht den Armen als solchen einen Anteil an künftig veränderten Machtverhältnissen zu, sondern er wendet sich mit seiner G o t t e s Zukunft ansagenden Botschaft an fromme Arme. Die Korrektur der ersten Seligpreisung in M t 5,3 und die redaktionelle Bildung eines weiteren abschließenden Makarismus, der denen, die um der Sixaioavvrj „ G e r e c h t i g k e i t " willen Verfolgung leiden, die ßaaiXeia verheißt ( M t 5 , 1 0 ) , zeigt, d a ß nach M t die Teilhabe an der ßaaiXeia allen Christen zukommt. Nach dem sprichwortartigen Logion M k 10,25 werden Reiche keinesfalls Zugang zur Gottesherrschaft haben; ihr persönlicher religiöser Status, ihre Frömmigkeit und Gesetzestreue (vgl. V.20) spielen dabei keine Rolle. Auch hier zeigt die spätere vormarkinische Überlieferung (und die Textgeschichte in V. 24) eine zunehmende Abschwächung der ursprünglich scharf rigoristischen Tendenz (V. 23: ncix; SvoxoXax; oi... ¡xovieQ... uoeXevaonai „wie schwierig werden die B e s i t z e n d e n . . . " ; V.24 [Sin,B]:

nüx; SüaxoXöv iaxiv... ei'eeWeiv „wie schwierig..."; V.24 [A,C,DJ: ndx; SüaxoXöveouv TOIX; neno-

¡9öxa;

sni xoijfiaoiv...

„wie schwierig ist es für die, die auf Besitz v e r t r a u e n . . . " ) .

Einen Absolutheitsanspruch formuliert das Logion Lk 1 2 , 3 1 / M t 6 , 3 3 Q , das die Gottesherrschaft jeder anderen Bindung entgegenstellt. Und ähnlich rigoristisch sagt das hyperbolische Bildwort M k 9 , 4 7 , nur wer „ r e i n " und eindeutig existiere, erhalte einen Zugang zur Gotteshcrrschaft (in M t 18,9 ist ßaaiXeia in eiQ (cor/v „ins L e b e n " korrigiert; vgl. auch den Gegenbegriff ycewa „ H ö l l e " . Denselben Gedanken setzt die markinische Gesamtkomposition der Perikope vom Reichen voraus: M k 10,17 fco»/ alcbviog „ewiges L e b e n " ; 10,23: ßaaiXeia zov OEOÜ). In M k 10,15 ist nebeneinander vom „ A n n e h m e n " der ßaaiXeia und vom „Hineingehen" in sie die Rede: Die Gottesherrschaft k o m m t aus der Z u k u n f t in die Gegenwart, so daß man sie (eschatologisch) „ e m p f a n g e n " kann; sofern man aber nicht eine bestimmte Einlaßbedingung (dx; naiSiov „wie ein K i n d " ; vgl. dazu Lindemann) erfüllt, ist es unmöglich, (räumlich) in sie „hineinzugelangen". D a s D r o h w o r t Lk 1 3 , 2 9 / M t 8,11 f Q kündigt an, d a ß Heiden Anteil haben werden an der Gottesherrschaft, die hier als eschatologisches Freudenmahl gezeichnet ist (Motiv der Völkerwallfahrt und der Sammlung der Zerstreuten; Ps 107,3), während die oioi T(Ji ßaaiXeia^ „ S ö h n e der H e r r s c h a f t " (Mt 8,12), denen die Verheißung ursprünglich galt, jeden Anteil daran verlieren.

2.3.3.2. In welcher Weise und vor allem: in welcher zeitlichen Entfernung hat Jesus das Kommen der ßaaiXeia gedacht? Von ihrer unmittelbaren zeitlichen Nähe spricht das Logion Mk 9,1, und zwar unter drei Aspekten: 1. Die ßaaileia ist als zukünftige vorgestellt, deren Kommen ev Sovä/xei „in Macht" noch aussteht. 2. Ihr Kommen kann „gesehen" werden, d. h. sie ist als eine kosmische Größe in Raum und Zeit verstanden, wobei das Stichwort Sövafiig „ M a c h t " anzeigt, daß sich die Gottesherrschaft mit Macht Bahn brechen wird: Gottes Herrschaft ist - ohne daß dies näher expliziert würde - das Ende jeder anderen Herrschaft. 3. Es heißt hier ausdrücklich, das Kommen der Gottesherrschaft ev SoväftEi stehe so nahe bevor, daß einige der Zeitgenossen Jesu es noch erleben würden. Geht dieses Logion auf Jesus zurück (mit der Konsequenz, daß er sich dann zumindest im letzten Punkt zweifellos geirrt hätte; so Kümmel: GAufs 1464 f; vgl. Klein 645)? Oder ist der Text Gemeindebildung und reflektiert die „Parusieverzögerung", d. h. die Erfahrung erster Todesfälle in der Gemeinde (so R. Bultmann, Gesch. der synopt. Tradition 128 und die meisten) ? Ein sicheres Urteil ist kaum möglich. Aber die Aussage ist einerseits als Trost angesichts der „Parusieverzögerung" schlecht vorstellbar, und sie paßt andererseits ohne Schwierigkeit in den Kontext der ßaaiXeia-Verkündigung Jesu, so daß sie wahrscheinlich doch auf Jesus selbst zurückgeht: Er verheißt einigen seiner Jünger, daß sie das von ihm verkündigte Kommen der ßaaiXeia als kosmisches Ereignis

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„sehen" werden; allerdings nennt er keinerlei Vorzeichen und keinen „Termin": Das Kommen der ßaoiXeia wird tatsächlich ¿v Sovapei geschehen. Daß in der Verkündigung Jesu die Gottesherrschaft als zeitlich nahe vorgestellt ist, zeigt der sicher authentische Text des Vaterunsers. Über die zeitliche Frist bis zum Kommen der ßaaikeia ist hier zwar nichts gesagt; aber es spricht wenig für die Annahme, daß Jesus „mit einer kürzeren oder längeren Zeit zwischen seinem Tode und der Parusie gerechnet" habe (so Kümmel, Verheißung 80). Die Bitte um das Kommen „deiner Herrschaft" kann nur aktuell gemeint sein - zumindest solange der Text nicht liturgisch formalisiert ist. Die Vorstellung, daß die Gottesherrschaft unmittelbar „nahe" ist, muß also als Teil der ßaaikeia-Verkündigung Jesu angesehen werden und ist nicht von ihr zu trennen (Gräßer, Naherwartung 124; gegen Kümmel, Verheißung 144f): Es kommt Jesus darauf an, dem Hörer keine „ Z e i t " mehr zu lassen, sondern ihn unmittelbar der ßaoiXeia, d.h. Gott selbst zu konfrontieren (Klein 659). Überaus schwierig ist die traditionsgeschichtliche Einordnung und inhaltliche Interpretation der drei Logien Mt 11, 12/Lk 16,16, Mt 12,28/Lk 11,20 und Lk 17,20f, die in gewisser Weise von der vollen Gegenwart der Gottesherrschaft sprechen. Die größten Probleme wirft der „Stürmerspruch" Mt 11,12 par. auf, da hier sowohl die Traditionsgeschichte als auch die Übersetzung (und die Auslegung auf der Stufe insbesondere der lukanischen Redaktion; s.u. Abschn. 2.4.4.) umstritten sind (ausführlich dazu Schrenk: ThWNT 1,608-612; Merklein, Gottesherrschaft 80-90). Nach der wahrscheinlichsten Analyse umfaßte das Logion in seiner Q-Fassung Lk 16,16a (Merklein, a.a.O. 87: 6 vo//og xaioinpotprjxai EIOQ 'Itoävvooand TOTe rj ßaoikzia tOÖ deov „das Gesetz und die Propheten bis Johannes; von da an die Gottesherrschaft") und Mt 11,12b (Merklein ebd ßiä(ezai xai ßiaozai apTid^ouaiv adtr/v [Übers, s. unten]); die jetzt vorliegenden Textfassungen lassen sich jeweils als Redaktion erklären. Versteht man ßlä(ea9ai passivisch als „Gewalt leiden" (Schrenk; Strecker 167f u.a.), so wäre gesagt, daß die Gottesherrschaft das Opfer von Räubern ist; das gibt aber nur dann einen Sinn, wenn man das Logion abweichend vom Wortlaut - auf das Schicksal des Johannes (und Jesu) als Verkündiger der ßaatXeia und nicht auf diese selbst bezieht. Deutet man, wie es sprachlich möglich ist (Bauer, Wb. s.v.) und sich jedenfalls vom lukanischen evayysXi(exai „sie wird verkündigt" her nahe legt, ßia&oOai in bonam partem (Merklein, a. a. O.), so spricht das Logion davon, daß seit dem Auftreten des Täufers die Gottesherrschaft sich Bahn bricht und Menschen, die dazu entschlossen sind, sie gerade gewaltsam an sich reißen (vgl. zu dieser Ubers. Merklein, a.a.O. 81-83). Sofern das Logion von Jesus stammt, spräche es von der vollmächtigen Durchsetzung der ßaaikeia in der Gegenwart (vgl. in der Tendenz Lk 9,62). Das durch die Schrift („Gesetz und Propheten") bestimmte Gottesverhältnis des Menschen ist seit dem Auftreten des Täufers abgelöst durch das in der /faff/Af/'a-Verkündigung manifest werdende eschatologische Gottesverhältnis. Umstritten ist auch die Auslegung des Logions Mt 12,28/Lk 11,20 (Q), dessen Echtheit freilich wohl außer Zweifel steht {¿v SOKTOXIO „mit dem Finger" statt ¿v nvEüpaxi „durch den Geist" ist wahrscheinlich redaktionell lukanisch; vgl. George: GAufs. 127-132); vermutlich ist es der einzige Beleg für Jesu Deutung seiner eigenen Person im Kontext seiner ^atriAf/a-Predigt (Burchard 17). Die nur hier begegnende Verwendung von tpOäveiv „eintreffen" galt C. H. Dodd als zentrales Zeugnis für seine These der „realized eschatology" (wobei er dann ctpOaoev und fjyyiXEV für bedeutungsgleich erklärte: Die Gottesherrschaft ist „eingetroffen".) Zweifellos spricht das Logion Mt 12,28 par. von der Gegenwart der Gottesherrschaft. Aber an der Zeitfrage ist es dabei kaum interessiert (vgl. schon Wrede 98 ff); es betont vielmehr drei andere Aspekte: 1. Die Gegenwart der Gottesherrschaft vollzieht sich in Jesu Handeln, nirgends sonst (Mußner 94 f). 2. Es ist die Herrschaft Gottes, die in den Exorzismen anbricht, nichts anderes (vgl. Lk 11,19). 3. Das Logion sagt den Hörern, daß die ßaoiXeia „zu euch" gelangt ist - sie realisiert sich nur in der Begegnung mit Jesus selbst (Burchard 15-17). So wie die Gottesherrschaft im Gleichnis als gegenwärtige zur Sprache kommt und dennoch weiter aussteht, so wird sie auch im Dämonenexorzismus als machtvoll-gegenwärtige erfahren - aber eben nur hier, und deshalb ist sie weiterhin zu erwarten. Die Einheit von Gegenwart und Zukunft der Gottesherrschaft liegt allein in der Person des handelnden Jesus selbst (Maisch 27ff). Anders als in Mt 12,28/Lk 11,20 Q wird in Lk 17,20f (Sondergut) die Frage nach dem „Wann" des Anbruchs der Gottesherrschaft ausdrücklich thematisiert. Zwar dürfte sich die apophthegmatische Einleitung redaktionell lukanischem Interesse verdanken (vgl. Act 1,6f); aber die Authentizität von 17,20 b und möglicherweise auch 17,21 b (zumindest in der Tendenz) läßt sich mit guten Grün-

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den behaupten (vgl. Petrin, Was lehrte 71 ff). V.20b weist den Gedanken zurück, man könne das (zukünftige) Kommen der Gottesherrschaft durch (distanzierte) Beobachtung von außen wahrnehmen; V.21b sagt dazu interpretierend, die Gottesherrschaft sei ¿ v t ò j óftwv „unter euch". Diese Wendung meint weder eine Plötzlichkeit des Kommens noch eine verinnerlichte Gegenwart der ßaaiXeia (zutreffend Hoffmann, Eschatologie 125; anders Jeremias, Theologie 104); vielmehr ist gemeint, daß die künftige Gottesherrschaft bereits jetzt „zu eurer Verfügung" steht (vgl. Rüstow 197ff): „Gott will jetzt bei euch Herr werden" (Becker, Heil 203).

In der Vaterunser-Bitte Lk 11,2/Mt 6,10a (Q) sagt Jesus in zumindest implizit antizelotischer Tendenz (vgl. Hengel, Zeloten 386), allein Gott selbst führe seine künftige Herrschaft herauf, und der Mensch könne ihr Kommen allein durch das Gebet beschleunigen (Mt fügt in V.lObc sekundär die Bitte um die Durchsetzung von Gottes Oéhjfia „Wille" ein). Hier entscheidet es sich, ob Jesu /faffzAaa-Verkündigung als „apokalyptisch" zu bezeichnen ist (vgl. dazu Burchard 14; in dieselbe Richtung ginge das Logion Lk 10,18, sofern sich dessen Authentizität erweisen ließe). Gegen eine Zuweisung Jesu zur Apokalyptik sprechen mehrere Gründe: 1. Jesus nimmt nicht das Bild vom endzeitlichen Kampf zwischen Gott und gegengöttlicher Macht („Satan") auf. 2. Seine Predigt thematisiert nicht die „ b ö s e " Gegenwart; auch wird die Botschaft, daß Gottes Herrschaft nahegekommen sei, nicht aus geschichtlichen Indizien abgeleitet. 3. Die für das apokalyptische Denken konstitutive Unterscheidung zweier Weltzeiten (-»Apokalyptik III) begegnet bei Jesus nicht. Im prinzipiellen Unterschied zur Apokalyptik „ist für Jesus die Herrschaft Gottes in der gegenwärtigen Geschichte schon präsent" (Hoffmann, Eschatologie 123). E. Linnemann versucht, im Anschluß an E. Fuchs die Naherwartung in der Verkündigung Jesu zu bestreiten, indem sie für Jesus eine vom Üblichen abweichende Bestimmung der Zeit reklamiert: Das Nebeneinander von präsentischen und futurischen Aussagen gehe darauf zurück, daß Jesus dem Hörer die Heilszeit als gegenwärtige ansage und dieser sich daraufhin entscheiden könne und müsse (263). Ähnlich erklärt E. Jüngel, die Nähe der Gottcsherrschaft erscheine „als Ausdruck ihres Wesens", und es sei daher „unangebracht, Jesu Verkündigung mit dem Schlagwort .Naherwartung' zu charakterisieren" (175.180). Aber eine derartige Interpretation des Wesens der Zeit durch Jesus läßt sich an den Texten nicht zeigen; es besteht kein Anlaß, eine nicht zeitlich vorgestellte Nähe der Gottesherrschaft zu postulieren (vgl. Gräßer, Problem XIV-XVIII).

Es ist theologisch unsachgemäß, die Worte über die zeitliche N ä h e der Gottcsherrschaft für unerheblich zu erklären (so Goppelt 111). Die Rede von der Gegenwart der Gottesherrschaft und die Ansage ihrer Zukünftigkeit, verbunden mit dem Hinweis auf ihre zeitliche Nähe, gehören vielmehr untrennbar zusammen. Wenn einerseits Jesus hierin sich getäuscht hat, wenn andererseits aber Jesu Rede von der kommenden Gottesherrschaft nach Ostern nicht aus der Überlieferung ausgeschieden wurde, sondern in Geltung blieb, so zeigt dies, daß durch den Osterglauben auch Jesu Eschatologie eine neue Qualität bekommen hat. Jesu N a h e r w a r t u n g ließ sich - wie jede Naherwartung - nicht in die Geschichte hinein prolongieren; aber die urchristliche Theologie hat es vermocht, die Spannung zwischen der überlieferten ßaaiXeia-Ansage und der eigenen Geschichtserfahrung theologisch angemessen zu bewältigen (s.u. Abschn. 2.7). 2.3.4. Gottesherrschaft und Menschensohn. Nach wie vor umstritten ist die Frage, ob Jesus neben oder in Verbindung mit der Erwartung der Gottesherrschaft auch vom Kommen des Menschensohnes gesprochen hat (vgl. dazu zuletzt Vögtle: Logia 7 7 - 9 9 ) . Mehrere G r ü n d e sprechen dafür, diese Frage weiterhin zu verneinen (vgl. Vielhauer 80ff; Vögtle, Logienquelle 95): 1. Die von Jesus gepredigte Gestalt der erwarteten Herrschaft Gottes duldet keine Konkurrenz (Klein 655), was zugleich bedeutet, d a ß Jesus auch nicht sich selbst als den „gekommenen" Menschensohn verstanden hat. 2. Es gibt kein Logion, in dem die Beziehung zwischen Gottesherrschaft und Menschensohn ausdrücklich thematisiert wird (die Verknüpfung von M k 8,38 und M k 9,1 ist erkennbar sekundär). 3. In der jüdischen Tradition vor Jesus sind Aussagen über das Kommen des Menschensohnes und über das Kommen der Gottesherrschaft nur im Zusammenhang der Gerichtsvorstellung miteinander verbunden - gerade dieser Aspekt spielt aber in der ßaailEia-Werkündi-

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gung Jesu keine Rolle. Die Worte über das bevorstehende Kommen des Menschensohnes sind offenbar erst in der Gemeinde entstanden, als sich deren eschatologische Hoffnung primär auf die Parusie Jesu als des Menschensohnes richtete. Kritik an der Position Vielhauers übt Tödt: Die Menschensohnerwartung sei - im Unterschied zur Messiashoffnung - ebenso „übernational" wie die Vorstellung von der ßaoitäa Gottes; zwischen beiden Hoffnungsvorstellungen bestehe eine erhebliche „inhaltliche und strukturelle Parallelität", zumal der Menschensohn als „eschatologischer .Partner' Gottes" zu denken sei (305.314). Auch Jüngel meint, Jesus habe beide eschatologischen Vorstellungen miteinander verknüpft; er habe „das auf die Gottesherrschaft bezogene Wesen des Menschensohnes zur Sprache bringen" wollen (250, vgl. 261). In dieser Auslegung verlieren beide Typen von Eschatologie ihren Zeitaspekt und ihre spezifische Funktion; die Menschensohnerwartung und die Hoffnung auf die ßamMa lassen sich aber nicht einfach auf zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen reduzieren.

2.3.5. Gottesherrschaft und Nachfolge 2.3.5.1. Zwischen der /taoïAe/a-Predigt und der Ethik Jesu besteht nicht in der Weise ein Zusammenhang, daß Jesus bestimmte Weisungen explizit mit dem Hinweis auf die Nähe der Gottesherrschaft begründet hätte; Jesus lehrte keine „Interimsethik". Aber mit der Ankündigung der Nähe Gottes verbindet sich die Forderung an den Menschen, alle bisherigen Maßstäbe seines Handelns zu überprüfen bzw. aufzugeben (vgl. Mt 6,33; dazu Merklein, Gottesherrschaft 182). Nach Mt 8,21 f hebt die Zugehörigkeit zu dem, der die Nähe der ßaaiXda verkündigt, alle anderen Bindungen und Normen auf, selbst die Erfüllung der im Gesetz gebotenen Sohnespflicht (vgl. Lk 9,60b.61.62). Jesus kann, wie vor allem die in Q überlieferten Texte zum Thema „Gesetz" zeigen (Merklein, a.a.O. 72—107), die Weisungen der biblischen Tora seiner ßaaiXtia-Predigt unterordnen (vgl. auch Becker, Heil 216f). Die geradezu anstößigen Logien in Mt 19,12; 21,31 machen deutlich, daß der Zugang zur ßaatÄEia nach anderen als den anerkannten religiös-sittlichen Kriterien erfolgt. Das Gebot der Feindesliebe Mt 5,44 ff, die Schalksknechtparabel Mt 18,23 ff (s. o. Abschn. 2.3.2) und in gewisser Weise auch die Erzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30-37) zeigen, daß die hereinbrechende Gottesherrschaft neue und endgültige Maßstäbe für das Handeln des Menschen setzt (vgl. Merklein, a.a.O. 217-293), auch wenn im Einzelfall das mit der Predigt von der Gottesherrschaft gegebene materiale „Handlungsprinzip" (Merklein) der von der Tora geforderten Ethik entsprechen kann (vgl. Texte wie Mk 10,17-31; 12,28b-31, obwohl hier nicht mehr Jesus selbst, sondern die an seine Botschaft anknüpfende Gemeinde zu Wort kommt). Der zweifellos authentische Ruf Jesu in die Nachfolge verbindet sich aber niemals mit der Aufforderung, die Tora ins Zentrum zu rücken; verbindlich bleibt bzw. wird die Tora insoweit, als Jesus sie in seiner Predigt für verbindlich erklärt - nicht umgekehrt (vgl. Mt 5,17f). 2.3.5.2. Zu fragen ist, ob sich mit der ßamXüa-Verkündigung Jesu eine Kritik oder gar grundsätzliche Infragestellung irdischer (politischer) Herrschaft verbindet. V. Eid leitet aus der ZachäusErzählung Lk 1 9 , 1 - 1 0 und aus der Überlieferung von Jesu „Umgang mit den Sündern" die Folgerung ab, „daß die Rede von der Basileia Gottes geradezu politisch-subversiven Charakter besitzt gegenüber Zwangsverhältnissen und ungerechten Normierungen" (62f). Dies läßt sich aus den Texten so nicht herleiten. Das zeigt sich deutlich in M k 1 0 , 4 2 - 4 5 : Der Text unterscheidet zwischen den Herrschaftsstrukturen, die „bei den Völkern" gelten, und den (paradoxen) Strukturen der Dienstbarkeit, die év v/tïv „bei euch" gelten sollen. Daß dies ein Vorgriff auf die Gottesherrschaft wäre, wird nicht gesagt. Erst Mt stellt in 20,21 redaktionell einen Bezug zur ßaatXzia Christi her.

2.3.6. Der Sinn der ßaoiXeia-Predigt Jesu 2.3.6.1. Jesu Predigt vom Kommen der Gottesherrschaft ist die für ihn charakteristische Gestalt der Rede von Gott (Schillebeeckx 126: „Gottes Herrschaft ist das Gottsein Gottes"). Die ßaaiXeia zoo 6eoö ist nicht eine bestimmte Offenbarungsform und nicht ein partielles Gotteshandeln. Vielmehr meint Jesu Rede von der Gottesherrschaft Gott selbst im Modus seiner eschatologischen Anwesenheit in der Welt (vgl. Jüngel 197). Gottes Anwesenheit in der Welt wird erfahrbar in den Exorzismen (die aber nicht als Beweise für den Anbruch der Gottesherrschaft gelten); ihr besonderes Gesicht und die sich daraus

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ergebenden Konsequenzen für den Menschen werden ausgesagt in den Gleichnissen. Gottes Anwesenheit im Handeln und Reden Jesu ist dem sichtbar, der Jesu Wort annimmt, ihm, wie die spätere Terminologie sagt, „glaubt". Gottes nahe Herrschaft ist Gottes souveräne Zuwendung zum Menschen, die gerade denen gilt, die der (religiösen) Leistung ermangeln, die für Gottes Heil nicht „vorbereitet" sind (vgl. die Gleichnisse in M t 13,44ff) und denen Gott deshalb „nachgeht" (Mt 2 0 , 1 - 1 5 ) . Die Worte von der kommenden und die Worte von der schon hereingebrochenen Gottesherrschaft bilden eine Einheit: Die Gottesherrschaft ist gegenwärtig im Modus ihrer Ansage durch Jesus. Dabei meint der Begriff der „Herrschaft" Gottes gnädiges Heilshandeln - der im übrigen zeitgenössischen Judentum, offenbar auch beim Täufer, stark akzentuierte Gerichtsaspekt tritt zurück. Jesu Rede von der Gottesherrschaft meint, „daß Gott allen in gleicher Weise Recht schafft und jedem ohne Ausnahme wohl will, sofern er nur bereit ist, sich auf dieses Angebot einzulassen" (Hoffmann, Eschatologie 127). Zumindest implizit bedeutet dies eine universale Ausweitung der eschatologischen Hoffnung über Israel hinaus, auch wenn dies nicht ausdrücklich gesagt wird (ausgenommen M t 8,11/Lk 13,29 Q). Insofern besteht ein Zusammenhang zwischen der Rede von der ßaaiXeia Gottes und dem Schöpfungsgedanken: „Als ,König' ist er der Heilsbringer für das, dem er das Leben schenkte" (Schillebeeckx 125). Indirekt wird dies auch darin sichtbar, daß die Bild welt der Gleichnisse weithin dem Feld der Schöpfung entnommen ist (vgl. Flender 51; Burchard 15f). Die Universalität der ßaaiXeia-Ansage Jesu ist dabei durchaus kosmologisch bestimmt und besagt nicht, daß die Herrschaft Gottes ganz auf das Individuum oder auch nur auf die Menschheit allein zu beziehen wäre; Jesu Verkündigung läßt sich eher als „theozentrisch" denn als „anthropozentrisch" bezeichnen (vgl. Goppelt 119). 2.3.6.2. Warum hat Jesus den Begriff der Gottesherrschaft in dieser von der jüdischen Uberlieferung so signifikant abweichenden Weise in den Mittelpunkt seiner Botschaft gerückt? Für die jüdische Apokalyptik war Gott gegenwärtig (verborgener) König, der in (naher) Zukunft aller Welt als (richtender) König offenbar werden würde; damit verband sich implizit oder explizit die Forderung an den einzelnen und an das Volk, zur Erlangung des Heils die Tora zu bewahren (Kellermann; Münchow). Manche Texte verstehen dabei die Tora als Gottes ewigen Rechtswillen, der sich auch und gerade in der Gottesherrschaft als gültige und praktizierte Lebensnorm für Israel und für die Völker durchsetzen wird (vgl. syrBar 77,15; 48,47; 4Esr 9,37 und dann vor allem die rabbinischen Texte, Billerbeck I 245 ff); die meisten apokalyptischen Schriften machen aber über eine Geltung der Tora im „Eschaton" keine bestimmten Aussagen. Möglicherweise liegt hier der Ansatz für Jesu ßaaiXeia-Verkündigung: Keiner der als authentisch anzusehenden Texte, die eine Einlaßbedingung für die Gottesherrschaft formulieren, bindet den Zugang zu ihr an das Halten des Gesetzes. Keines der authentischen Logien, geschweige denn eines der Gleichnisse spricht von einer Gültigkeit der Tora in der Gottesherrschaft. Offenbar hat bei Jesus die Rede von der Gottesherrschaft als charakteristische Gestalt der Rede von Gott überhaupt die Betonung der Rolle der Tora im zeitgenössischen Judentum abgelöst. Sollte das richtig sein, so wäre diese radikale Zuspitzung einer in der Apokalyptik sich erst andeutenden Tendenz ein für das spätantike Judentum analogieloser Vorgang.

2.4. Die ßaaiXeia-Verkündigung

in der frühen

Gemeinde

und bei den

Evangelisten

2.4.1. Die Texte der Logienquelle. In den der Logienquelle Q zuzuweisenden Texten begegnet der Begriff ßaoitäa (zov OcoC/roö nazpÖQ „Gottes/des Vaters") zehnmal 1 (Merklein, Gottesherrschaft 21); daß er irgendwo auf die Q-Redaktion zurückginge, läßt sich nicht erkennen. Die meisten ßaaiXeia-Worte in Q stammen vermutlich von Jesus (s.o.); nur die Texte Lk 10,9/Mt 10,7 (Aussendungsrede) und wohl auch Lk 7,28/Mt 11,11 (Spruch über den Täufer) dürften Gemeindebildung sein. Charakteristisch für das ßaaiXeia-Verständnis von Q ist die Aussendungsrede Lk 10,1 - 1 2 par., in der (nachösterlich) gesagt wird, daß die Predigt der Boten Jesu dessen eigener Predigt entspricht. Das Wort von der Nähe der Gottesherrschaft (V.9) führt den Hörer vor die Entscheidung und unterwirft ihn, wenn er ablehnt, dem Gericht (V.12; falls auch Lk 10,11 aus Q stammt und nicht redaktionell lukanisch ist [s. u. Abschn. 2.4.4], wäre die Rede von der nahen ßaaiXeia hier sogar eine unmittelbare Gerichtsdrohung). Gottes Herrschaft ist darin nahe gekommen, daß die Jünger Vollmacht und Fähigkeit besitzen, Krankheiten zu heilen (Lk 10,9), Dämonen auszutreiben und Tote aufzuwecken (Mt 10,8; die Zugehörigkeit zu Q wird von Hoffmann, Studien 275, verneint). Wenn es dazu in Lk 10,9 Q heißt: tjyyixev ¿TheophiIus von Alexandrien und dem Hospizvorsteher der Stadt, Isidor, der bei den origenistischen Mönchen der nitrischen Wüste Zuflucht suchte (deren Anführer wegen ihrer Körpergröße „lange B r ü d e r " genannt wurden). Theophilos wechselte in diesem Zusammenhang mehrere Briefe mit Hieronymus; er bat ihn um die Übersetzung mehrerer, von ihm verfaßter amtlicher Dokumente ins Lateinische, weil er sie auch in R o m bekannt machen wollte; es handelte sich hierbei im einzelnen um seinen Osterbrief aus dem Jahre 401 (ep. 96), um den Synodalbrief, in dem ebenfalls 401 Isidor und die „langen Brüder" verurteilt wurden (ep. 92), sowie um seine Osterbriefe aus den Jahren 4 0 2 , 4 0 4 und 405. Hieronymus ließ die Texte zusammen mit allen anderen Dokumenten, von denen er Kenntnis erhalten hatte, seinen römischen Freunden zukommen; nur dadurch ist der ganze Vorgang vor der Vergessenheit bewahrt worden (ep. 63; 86-100; 113-114). In die Jahre 4 0 0 bis 4 0 4 fiel außerdem die Korrespondenz mit -»Augustin, die einen recht enttäuschenden Verlauf nahm, da sie ungeschickt begonnen worden war. In den Jahren 3 9 4 - 3 9 5 hatte Augustin, damals noch Presbyter, einen ersten Brief (ep. 56) ver-

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faßt, der von einem seiner Mitbrüder anläßlich einer -»Wallfahrt nach Palästina Hieronymus übergeben werden sollte. Er hatte ihn darin im Namen der afrikanischen Christen (-»•Afrika) gebeten, keine biblischen Bücher mehr zu übersetzen, ohne die Stellen zu kennzeichnen, an denen die Übersetzung vom Text der Septuaginta abwich; außerdem hatte er in dem Brief eine Passage des hieronymianischen Kommentars zum Galaterbrief kritisiert, die die „barmherzige Lüge" verteidigte (eine Lüge, die man sich Kindern oder Personen gegenüber erlaubt, die die Wahrheit nicht ertragen könnten). Doch der Mitbruder Augustins wurde an der Reise nach Palästina gehindert und konnte den Brief an Hieronymus nicht übergeben. Augustin fühlte sich nichtsdestoweniger berechtigt, eine Kopie des Briefes Rufin zukommen zu lassen, und Hieronymus erfuhr davon. Als Augustin im Jahre 400 einen neuen Brief an Hieronymus (ep. 67) schrieb, verweigerte dieser die Antwort. Augustin gab jedoch nicht auf, und so wurden dann doch mehrere Briefe ausgetauscht, in denen Augustin auf der einen Seite seine Fragen erneuerte und sich betrübt darüber zeigte, daß er Hieronymus erzürnt hatte, und Hieronymus auf der anderen Seite immer wieder hartnäckig auf jenen ersten kritischen Brief zurückkam, den Augustin so taktlos einem seiner Feinde in die Hand gegeben hatte, bevor er, Hieronymus, ihn zur Kenntnis hätte nehmen können. Erst 402 in ep. 112 war Hieronymus bereit, die ihm gestellten Fragen zu beantworten. Zur fraglichen Passage aus seinem Kommentar zum Galaterbrief erklärte er, er hätte sich der Meinung des Origenes angeschlossen, die auch von anderen Autoren, insbesondere von -»Johannes Chrysostomus, geteilt würde, und sagte eine Überprüfung der Passage zu; in bezug auf die Bibelübersetzungen (s. u.) schrieb er, er hätte zwei verschiedene Übersetzungen verfaßt: eine erste nach der Septuaginta, in der die Stellen mit Obeli und Asterisci gekennzeichnet seien, an denen der hebräische Text mehr oder weniger ausführlich sei, und eine zweite nach dem hebräischen Original; zugleich begründete er die Notwendigkeit, den Christen die hebraica veritas bekanntzumachen. Im Jahre 404 bat Augustin in ep. 116 Hieronymus darum, ihm die erste, mit Obeli und Asterisci versehene Bibelübersetzung zuzuschicken. Hieronymus antwortete erst zwölf Jahre später (ep. 134) und behauptete, kein Exemplar dieser Ubersetzung mehr zu besitzen. Nach langer Krankheit, während der Hieronymus nicht von ihrer Seite gewichen war, starb Paula am 26.1.404. Er litt sehr unter der Krankheit und dem Tod Paulas, die ihn seit über zwanzig Jahren ständig begleitet hatte; so nahm er in den Jahren 4 0 3 - 4 0 5 kein bedeutendes Werk in Angriff. Sein Nachruf auf Paula (ep. 108) enthält jedoch wertvolle biographische Angaben sowohl über ihn selbst als auch über Paula. 406 erfuhr Hieronymus, daß ein Mönch namens Vigilantius, der sich in Bethlehem aufgehalten hatte, ein Buch gegen verschiedene Bräuche innerhalb der Kirche geschrieben hatte und davon abriet, Almosen an die Mönche des Ostens zu schicken; in Contra Vigilantium widersprach er ihm aufs heftigste. Anschließend wandte er sich erneut der Kommentierung der Propheten zu. Zunächst vollendete er die Kommentarreihe über die kleinen Propheten: Sachar ja, Maleacht, Hosea, Joel und Amos (406). 407 folgte der rasch verfaßte Kommentar zu Daniel. In den Jahren 4 0 8 - 4 0 9 entstanden die 12 Bücher zu Jesaja\ sie waren bereits für den Transport nach Rom fertiggemacht, als Rom von Alarich erobert wurde (August 410). Nach einer langen, durch den Zustrom römischer Flüchtlinge nach Palästina bedingten Pause begann Hieronymus 412 mit dem Kommentar zu Ezechiel und schloß ihn im Frühjahr 415 ab. Noch im selben Jahr nahm er den Kommentar über Jeremía in Angriff; die Arbeit daran wurde zunächst nach Band 3 unterbrochen, da Hieronymus im Winter 4 1 5 - 4 1 6 mit seinen Dialogi contra Pelagianos beschäftigt war. Nachdem er anschließend weitere drei Bände über Jeremía diktiert hatte, brach er das Werk endgültig ab, da sowohl sein Kloster als auch das Kloster Eustochiums durch eine hungrige Menge geplündert worden war. Hinter diesem Vorfall wurde natürlich ein Racheakt der mit Johannes von Jerusalem verbündeten Pelagianer vermutet, doch dafür existiert kein Beweis. Unter den Briefen aus dieser Zeit seien zumindest der Nachruf auf Marcella (ep. 127), die 410 nach der Plünderung Roms gestorben war, der erneute Brief-

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Wechsel mit Augustin, dem der kürzlich entdeckte Brief Augustins an Hieronymus vom Sommer 414 hinzuzufügen ist (CSEL 88, N r . 19), sowie ein kurzes Schreiben von Hieronymus an den römischen Papst Bonifatius I. erwähnt, der ihm zuvor den Beginn seines Pontifikats mitgeteilt hatte (ep. 153). Hieronymus starb am 30. September 420 im Alter von 72 oder 73 Jahren. 2. -»Bibelübersetzungen Hieronymus hat neben seinen Bibelkommentaren eine Übersetzung des Alten und Neuen Testaments ins Lateinische veröffentlicht, die der in den kommenden Jahrhunderten von der lateinischen Kirche benutzten Vulgata zugrundeliegt. 2.1. Die Übersetzung der Evangelien. Hieronymus begann mit der Übersetzung der Evangelien (oder besser gesagt mit der Revision einer bereits vorliegenden lateinischen Übersetzung) an Hand des griechischen Textes. Diese Arbeit wurde in Rom durchgeführt (s. ep. 27,1). In den erhaltenen Handschriften folgt nach der Übersetzung der Evangelien auch eine Übertragung der übrigen neutestamentlichen Schriften, obwohl das an Damasus gerichtete Vorwort nur die Evangelien nennt. So bleibt es fraglich, o b die Übersetzung der Apostelgeschichte, der Briefe sowie der Apokalypse von Hieronymus selbst stammt. 2.2. Die Übersetzung des Alten Testaments „nach der Septuaginta". Es gibt zwei verschiedene, von Hieronymus veröffentlichte Fassungen des Alten Testaments: eine erste, unvollständige, die er nach der griechischen Septuaginta-Version verfertigt hat, und eine zweite, vollständige, die er seinen eigenen Angaben zufolge „nach dem Hebräischen" verfaßt hat (-»Bibelübersetzungen 1.2.1). In der ersten Fassung sind nur belegt: Psalmen, Hiob, Proverbia, Canticum, Kohelet und Chronikbücher; nichts deutet darauf hin, daß sie weitere Schriften des Alten Testaments umfaßt hat. Sie stellte eine Verbesserung des älteren Textes der Vetus Latina mit Hilfe einer hexaplarischen Septuaginta dar. Die ursprüngliche Hexapla war ja eine griechische synoptische Bibel, in der Origenes (in griechischen Buchstaben) dem hebräischen Text die griechischen Übersetzungen von Symmachus, Aquila, der Septuaginta, des Theodotion und bei einigen Büchern noch eine 5. und 6. Version gegenübergestellt hatte. In der Kolumne der Septuaginta hatte Origenes die Sätze, die im hebräischen nicht vorliegen, mit Obeli gekennzeichnet und die, die im Hebräischen überschüssig sind, in griechischer Übersetzung mit Asterisci eingeschoben. Der Text dieser Kolumne wurde oft für sich kopiert. Einer solchen Handschrift (und nicht der gesamten Hexapla) hat sich Hieronymus bei seiner Revision des Alten Testaments bedient. 2.3. Die Übersetzung des Alten Testaments „nach dem Hebräischen". Später veröffentlichte Hieronymus nach und nach eine beinahe vollständige, angeblich nach dem hebräischen Text angefertigte Übersetzung des Alten Testaments (-»Bibelübersetzungen 1.3.2f). Allerdings läßt es sich beweisen, daß er diese Sprache praktisch kaum kannte. Wenn immer er in seinen Kommentaren oder anderen Werken den transkribierten hebräischen Text zitiert - und das tut er oft - oder Anmerkungen zur hebräischen Sprache macht, verdankt er die jeweilige Information seinen Quellen (Origenes, Eusebius, vielleicht auch Acacius v. Caesarea); sobald er sich jedoch von den Quellen entfernt, ist alles reine Erfindung. Ein typisches Beispiel hierfür bietet ep. 20, wo der Sinn des Wortes Hosamta in Ps 117 (118), 25 erklärt wird; der Brief enthält zwei Arten von Angaben: Die einen stammen von einem Autor, der den hebräischen Psalmentext vor Augen hatte und in der Lage war, die darin vorkommenden hebräischen Buchstaben korrekt wiederzugeben; die anderen sind von jemandem hinzugefügt, der, obwohl er keine hebräische Bibel besaß, die Arbeit des ersten Autors ergänzen wollte und dabei eine völlig abenteuerliche Orthographie an den Tag legte. Die ersten Angaben stammen aus der Quelle von Hieronymus, in diesem Fall von Origenes, die zweiten stellen den eigenen Beitrag von Hieronymus dar. In anderen Schriften berief sich Hieronymus gern auf jüdische Gelehrte, die ihm Auskunft über den hebräischen Text erteilt oder auch die hebräische Sprache beigebracht hätten, doch bereits Montfaucon und Bardy haben darauf hingewiesen, daß an den Stellen, deren Quellen bekannt sind, Hieronymus die Berichte von Origenes bzw. Eusebius einfach auf sich selbst übertrug.

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Hieronymus war demnach kaum in der Lage, eine Bibelübersetzung aus dem Hebräischen anzufertigen oder auch nur eine bereits vorliegende Übersetzung am hebräischen Text zu verifizieren. Seine iuxta hebraeos-Edition des Alten Testaments wurde ebenfalls an Hand einer hexaplarischen Septuaginta hergestellt; vielleicht hat er dabei ein neues, mit Randbemerkungen versehenes Exemplar benutzt, das die Lesarten der anderen griechischen Übersetzungen enthielt (ähnlich der in syrischer Ubersetzung erhaltenen sogenannten Syrohexapla; -»Bibelübersetzungen I. 4.1.2.), vielleicht sogar ein bereits revidiertes Exemplar, denn Origenes und Hieronymus waren nicht die einzigen, die den biblischen Text in seiner Urform wieder herstellen wollten (vgl. Eusebius, h.e. V, 2 8 , 1 5 - 1 7 , und nach Hieronymus die Rezension des Theodulf). Im Vorwort zu seiner Ubersetzung der Psalmen „nach der Septuaginta" 2.4. Publikationsdaten. (auch Psalterium gallicanum genannt) erklärt Hieronymus, bereits in Rom eine - wenn auch nicht vollständige — Revision des Psalmentextes durchgeführt zu haben. Da von dieser Revision nichts erhalten ist, ist die Frage berechtigt, ob er nicht lediglich in übertreibender Weise auf die Erläuterungen zum Psalmentext anspielt, die er in seinen in Rom geschriebenen Briefen gegeben hat (ep. 2 5 , 2 6 , 2 8 , 3 0 , 3 4 ) . Die Übersetzung der Psalmen und einiger anderer Schriften des Alten Testaments „nach der Septuaginta" wurde nach 385 in Bethlehem publiziert, wo Hieronymus sich eine hexaplarische Septuaginta besorgt hatte. Die Ubersetzung „nach dem Hebräischen" begann er 393 zu veröffentlichen, indem er den Pentateuch Desiderius v. Cahors, einem Freund Domnions, und die Texte von I—II Sam und I—II Reg Domnion selbst zusandte. 394 schickte er die Übersetzung von Hiob an Marcella und die sämtlicher Propheten an Pammachius. Die Übertragung der Chronikbücher wurde 396 Chromatius von Aquileja gewidmet. Im Jahre 398 folgten vier weitere Bücher, deren Vorworte in Briefform abgefaßt waren. Proverbien, Canticum, Kohelet sowie die Psalmen „nach dem Hebräischen"; alle waren demselben Chromatius und dessen Nachbarn, Heliodor von Altinum, gewidmet, ebenso wie die 399 folgende Übersetzung von Tobias. 400 wurde die von Domnion und Rogation bestellte Ubersetzung von Esra fertig. 404 schließlich, nach dem Tod Paulas, folgten auf Bestellung von Pammachius die Bücher Josua, Richter und Ruth. 2.5. Die Vorworte. Die von Hieronymus veröffentlichten Ubersetzungen wurden von einigen seiner Zeitgenossen scharf kritisiert (ep. 27,1), insbesondere von Augustin (s. Hieronymus, ep. 56, 104,112); sie warfen ihm vor, den traditionellen, in den Kirchen verwendeten Text zu verändern. Zu diesem Vorwurf äußerte sich Hieronymus in den Vorworten, die er mehreren Büchern der Bibel vorangestellt hatte. Im Falle der Evangelien wiesen die lateinischen Handschriften seiner Meinung nach so viele Unterschiede auf, daß es notwendig war, mit Hilfe des Griechischen zum ursprünglichen Text zurückzukehren. In bezug auf seine Übersetzung des Alten Testaments „nach der Septuaginta" argumentierte er ähnlich: Er hätte einzig und allein die Absicht gehabt, die alte Septuaginta wiederherzustellen, nachdem sie durch die Fehler der Kopisten verfälscht worden wäre (praef. in libris Salomonis). Zur Rechtfertigung seiner Ubersetzung iuxta hebraeos schließlich brachte er andere Argumente vor: Zunächst müsse man zwischen dem von Gott inspirierten Verfasser und den Übersetzern seines Werkes in eine fremde Sprache unterscheiden. Für ihn seien die 70 (oder 72) nur Übersetzer gewesen, deren Werk nicht durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes zustande gekommen sei. Er verwarf also jede Legende um die göttliche Inspiration bei der Entstehung der Septuaginta. Ein weiteres Argument war, daß das Neue Testament fünf in der L X X nicht enthaltene Bibelsprüche zitierte, die nur im hebräischen Text zu finden waren (prol. in Pentateucho). Solche Argumente hatten Gewicht, und so trugen die Vorworte zweifellos viel dazu bei, daß den Bibelübersetzungen des Hieronymus großer Wert beigemessen wurde; schon bald kamen sie neben der Vetus latina in Gebrauch und konnten sie schließlich ganz verdrängen. 3.

Nachwirkung

3.1. -»Schriftauslegung. N a c h einer Jugend, in der er an den großen Klassikern der lateinischen Literatur gebildet worden w a r , konnte sich H i e r o n y m u s zunächst kaum von der Bibel angezogen fühlen: „Wenn ich begann, einen Propheten zu lesen, stieß mich die ungebildete Sprache a b " (ep. 2 2 , 3 0 ) . Sein Standpunkt änderte sich erst in Antiochien. Von da an - und besonders nach seiner Ansiedlung in Palästina - lebte er von der Bibel, und z w a r s o w o h l im materiellen Sinne, denn seine Arbeiten a m Bibeltext, seine Werke und Briefe brachten ihm Spenden seitens seiner Freunde und Bekannten ein, als auch im spirituellen Sinne, denn die Heilige Schrift w a r für ihn eine „ N a h r u n g " geworden, ein „Schatz, der alle Schätze der Weisheit und Wissenschaft in sich b i r g t " ( C o m . M a t . 1 3 , 4 4 ) . Seine Bekehrung führte er auf einen T r a u m zurück, den er in Antiochien hatte und in dem er vor den Richterstuhl Gottes geschleppt w u r d e ; a u f den Vorwurf „ C i c e r o n i a n u s es, non Christianus" hin s c h w o r er, die göttlichen Schriften mit einem solchen Eifer zu

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lesen, wie er ihn für die weltlichen nie gekannt hatte (ep. 22,30). Doch ein weitaus prosaischerer Umstand trug ebenfalls viel zu seinem Sinneswandel bei: In Antiochien entdeckte er die Auslegung des Origenes, für den die in der Bibel erzählten Begebenheiten vor allem Symbole einer tieferen Lehre über das religiöse Leben darstellten und die Arbeit des Exegeten darin bestand, hinter jeder Einzelheit der Heiligen Schrift die Absicht Gottes zu enträtseln. Hieronymus hielt sein Leben lang an dieser Lehre fest; um sich allerdings die gegen Origenes vorgebrachten Vorwürfe zu ersparen, betonte er vorsichtshalber immer wieder, daß er den historischen Aspekt auch nicht vernachlässigen würde: „Wir leugnen die Geschichte nicht, doch wir ziehen die spirituelle Aussage vor" (In Marc, tract. 9 , 1 - 7 : CChSL 78, 479,75). Origenes gab nicht nur sein Auslegungsprinzip an Hieronymus weiter, sondern half ihm auch ständig bei dessen Anwendung, vor allem nachdem Hieronymus sich von Bethlehem aus viele in der Bibliothek von Caesarea hergestellte Abschriften seiner Werke hatte besorgen können. Die hieronymianischen Kommentare stellen oft nichts anderes als geringfügig veränderte Texte von Origenes dar. Das läßt sich besonders gut an Hand der Kommentare zu den Paulusbriefen aufzeigen, denn in diesem Fall sind umfangreichere Fragmente der Vorlagen erhalten; es gibt im Text Anhaltspunkte dafür, daß für die meisten anderen Kommentare dasselbe gilt; selbst wenn Hieronymus neben Origenes über eine andere Quelle verfügte, ließ er diesen nie ganz außer acht. Diesem Umstand war es zu verdanken, daß Hieronymus so schnell arbeiten konnte und zum produktivsten lateinsprachigen Exegeten wurde. Seine Kommentare berührten zwar alle Teile der Bibel, doch am wichtigsten waren ihm eindeutig die Propheten; er hat sie alle kommentiert, da sie sowohl den für den Christen spirituell reizvollsten, als auch den literarisch anregendsten Teil der Bibel darstellten, was für Hieronymus entscheidende Kriterien waren. Sein Auslegungswerk hatte prägenden Einfluß auf die gesamte mittelalterliche Exegese des Westens, und zwar nicht nur auf Grund seines Umfangs, sondern auch auf Grund seiner gewollt spiritualistischen Ausrichtung und besonders seines Reichtums an hebräischen Zitaten, die seinen Ruf der Gelehrsamkeit untermauerten. M a n kann ohne Übertreibung sagen, daß Hieronymus innerhalb der lateinischen Kirche für die Schriftauslegung die gleiche Bedeutung hatte, wie Augustin für die Theologie. 3.2. Theologie. Hieronymus war kein Theoretiker, und insgesamt gesehen war seine Theologie nicht sonderlich originell. Es gab jedoch zwei Punkte, in denen er unter dem Einfluß älterer Quellen von der den Autoren seiner Zeit gemeinsamen Meinung abwich. 1. Die potestas clavium (-»Vergebung der Sünden). In Com. M a t . 16,19 beklagt er die Überheblichkeit der Bischöfe und Priester, die „glauben, daß sie die Schuldigen von der Sünde lossprechen; was vor Gott zählt, ist nicht der priesterliche Spruch, sondern das Leben der Angeklagten"; seine Bedenken gegen die Wirksamkeit der Sündenvergebung durch die Kirche gehen auf die beiden Autoren zurück, die ihn am meisten beeinflußt haben: -»Tcrtullian (De pudicitia) und Origenes (Com. Mat. 12,14), der die potestas clavium nur dann anerkennt, wenn der Geistliche würdig und sein Spruch gerecht ist. 2. Die grundsätzliche Identität von Bischofs- und Presbyteramt (-»Amt). In Com. Ep.Tit. 1,5 und in ep. 146 an den Presbyter Evangelus betont Hieronymus, daß im Neuen Testament „Presbyter und Bischof dasselbe sind". Möglicherweise ist ihm dieser Gedanke nicht nur im Neuen Testament und in den Schriften des Ambrosiaster, sondern auch in dem von Origenes verfaßten Kommentar zu Titus begegnet. In diesen beiden Punkten ist ihm die spätere Theologie allerdings nicht gefolgt. Seine polemischen Schriften hatten größeren Einfluß. In Adversus Helvidium verteidigte er in Rom die These der ewigen Jungfräulichkeit -»Marias, die Epiphanius, den er kurz zuvor kennengelernt hatte, bereits einige Jahre früher (Pan. 78) im Sinne von Origenes und Athanasius vertreten hatte. In dem Dialog Altercatio Luciferiani et Orthodoxi (s. o. 1.) wandte er sich unter Rückgriff auf die Argumente -»Cyprians gegen die Praxis der Luciferianer, arianisch Getaufte wiederzutaufen. Die gegen die origenistische Lehre gerichtete Kampfschrift Contra loannem Hierosolymitanum ging hinsichtlich der Wahl der bekämpften Thesen weitgehend

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auf Epiphanius und hinsichtlich der vorgebrachten Argumente für die -»Auferstehung des Leibes auf Tertullian zurück. In Contra Vigilantium verteidigte Hieronymus die Reliquienverehrung (-»Reliquien), die Anbetung der Märtyrer und Heiligen (-•Heilige/Heiligenverehrung), das -»Fasten, das -»Mönchtum sowie den -»Zölibat. Kurz vor seinem Tode verfaßte er die Dialogt contra Pelagianos als Antwort auf die Testimonia des -»Pelagius, in denen dieser die Behauptung aufgestellt hatte, der Mensch könne, wenn er nur wolle, ohne Sünde sein; Pelagius hatte ihm dazu mitgeteilt, diese Behauptung müsse gedanklich durch die Worte „nicht ohne die Gnade Gottes" ergänzt werden; Hieronymus wies nun diese Präzisierung als unzureichend zurück und äußerte die Vermutung, Pelagius würde unter der „Gnade Gottes" nur die Gewährung der menschlichen Entscheidungsfreiheit durch Gott verstehen (ep. 133). Die polemischen Schriften des Hieronymus versuchen zumeist, den Gegner mit einer Flut von nicht immer stichhaltigen biblischen Beweisen zu schlagen; obwohl sie von Leidenschaft, oft von Übertreibung und auch von Schmähsucht geprägt sind, haben sie Hieronymus das Ansehen eines großen Verfechters der Orthodoxie eingebracht und zu seinem Einfluß in den folgenden Jahrhunderten sehr viel beigetragen. 3.3. Spiritualität und Mönchtum. Das Werk von Hieronymus enthält schließlich zahlreiche Schriften über das Gott geweihte Leben (-»Askese): 1. Mehrere, oft sehr lange Briefe: ep. 14 an Heliodor, um ihn zum Mönchtum zu bewegen; ep. 22 an Eustochium über die Bewahrung der Jungfräulichkeit; ep. 52 an Nepotian über das Leben des Geistlichen; ep. 54 an Furia, um sie zum Festhalten am Witwentum zu ermuntern; ep. 125 an den Mönch Rusticus über das monastische Leben; ep. 130 an Demetrias mit Ratschlägen für eine Jungfrau; 2. Die beiden größeren Werke: Adversus Jovinianum zum Beweis der Überlegenheit der Jungfräulichkeit über die Ehe und die Übersetzung der Mönchsregeln von Pachomius, Theodor und Horsiesi samt ihren Briefen; 3. Homilien an seine Mönche über die Psalmen, das Markusevangelium, den Anfang des Johannesevangeliums sowie zu mehreren Festtagen. Im allgemeinen zeigt sich Hieronymus in diesen Schriften maßvoll. Im Vordergrund stehen für ihn das -»Gebet und das Lesen der Heiligen Schrift: Eine Gott geweihte Person müsse neben dem -»Stundengebet (morgens, zu Terz, Sext, Non und abends) zwei- bis dreimal pro Nacht sowie vor und nach dem Essen beten und sich vor jeder Handlung bekreuzigen (ep. 22,37); ebenso wichtig ist das Studium der Heiligen Schrift: „Betest du, so sprichst du mit deinem Bräutigam; liest du, dann redet er mit dir" (ep. 22,25); „Liebe die Heilige Schrift, und die ewige Weisheit wird dich lieben" (ep. 130,20). Er empfiehlt maßvolles -»Fasten: „Im Fasten gehe nicht weiter, als du zu ertragen vermagst" (ep. 52,12; s. ep. 125,7). Er verachtet jede Angeberei und tadelt sowohl die Jungfrauen, die sich das Haar abschneiden, als auch die Mönche, „die sich mit Bußketten beschweren,... die Haare nach Frauenart tragen, dazu einen Bocksbart und ein schwarzes Pallium, und der Kälte zum Trotz barfuß gehen" (ep. 22,27-28). Die Kleidung dürfe „weder zu fein noch schmutzig" sein. Die -»Demut müsse sich eher in der Haltung zur unmittelbaren Umgebung äußern: „Sollten sich Mädchen dienenden Standes deiner Lebensweise anschließen, dann erhebe dich nicht über sie... Warum sollt ihr nicht an seinem Tisch essen?" (ep. 22,29). Bei seiner Vorstellung vom Mönchsleben läßt er sich von demselben Geist leiten. Er zieht das Koinobitentum dem Anachoretentum vor (ep. 22,35 und ep. 125,9): „ D o n lebst du in Gesellschaft vieler und kannst dann von dem einen Demut, von dem anderen Geduld lernen... Du sollst nicht tun, was du willst... Du sollst den Brüdern dienen und die Füße der Gäste waschen" (ep. 125,15). Abgesehen von den religiösen Übungen im engeren Sinne, empfiehlt er den Mönchen manuelle -»Arbeit: Korbflechterei, Gärtnerei, Imkerei, Netzknüpferei und das Abschreiben von Handschriften (ep. 125,11). In ep.22 beschreibt er, wie er sich das Leben in einem Kloster vorstellt: Das Kloster besteht aus einer Reihe von aneinandergrenzenden cellulae (ummauerten Gärtchen mit je einem Häuschen), in denen sich die Mönche bis 15 Uhr jeweils allein aufhalten; um 15 Uhr findet eine Versammlung statt (mit Psalmengesang, Schriftlesung und einer Ansprache des Abtes), anschließend eine gemeinsame Mahlzeit; danach kann

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sich jeder bis zum Abend mit seinen Freunden unterhalten. Das später von Hieronymus in Bethlehem gegründete Kloster w a r nach diesem Vorbild organisiert, wie auch das Wort beweist, mit dem er es zu bezeichnen pflegte: cellulae. In einem Bereich allerdings waren die Ratschläge von Hieronymus so überzogen, d a ß ihm deswegen bereits zu Lebzeiten Vorwürfe gemacht wurden: im Bereich der -»•Sexualität. In seiner Sicht ist der Geschlechtsakt, selbst wenn er in der -»Ehe vollzogen wird, mit einer gewissen Unreinheit belastet: „Vor dem Sündenfall waren A d a m und Eva im Paradies jungfräulich; die Ehe k o m m t erst nach d e m Sündenfall und außerhalb des Paradieses" (Adv. Jov. 1,16; s. ep. 22,19). Daher müsse sich jeder Christ um -»Keuschheit bemühen: „ U n t e r dem Gesetz (von Mose) haben wir in der Ehe gelebt; unter dem Evangelium leben wir in der Jungfräulichkeit" (Adv. Jov. 1,29). Er versteigt sich sogar zu der Aussage: „Sich des Geschlechtsakts zu enthalten, bedeutet eine Ehrung der G e m a h l i n " (ebd. 1,7). Die Ehe findet nur dann G n a d e vor seinen Augen, wenn sie J u n g f r a u e n hervorbringt (ep. 22,20). Die asketischen Schriften des Hieronymus wurden bis zur Neuzeit in Kreisen, die der religiösen Vollkommenheit zugetan waren, viel gelesen und überaus geschätzt. Er w u r d e sogar zum Patron eines M ä n n e r - und Frauenordens gewählt; der im 14. Jh. gegründete, reiche Orden der „ H i e r o n y m i t e n " w a r in Spanien, Portugal und Italien bis zum 17. J h . besonders einflußreich. 3.4. Hagiographie und Kunst. Wie alle großen, als o r t h o d o x geltenden christlichen Schriftsteller w u r d e Hieronymus bereits im hohen Mittelalter in die liturgischen Kalender aufgenommen (so in den auf M a r m o r gemeißelten Neapolitanischen Kalender aus dem 9. Jh., der selbst auf frühere Quellen zurückging) und als Heiliger verehrt; sein Fest wird in der katholischen Kirche auch heute noch am 30. September, seinem Todestag, gefeiert. Er w u r d e im berühmten Decretum de reeipiendis et non reeipiendis libris, das ein Geistlicher aus dem 6. J h . unter dem N a m e n von Papst -»Gelasius I. veröffentlichte, zu den Autoren gezählt, die niemals vom römischen Glauben abgewichen waren; auf G r u n d dieses Zeugnisses w u r d e er auch in die bald danach auftauchenden Listen der Kirchenlehrer aufgenommen und gehörte schließlich zu den vier Personen, denen dieser Titel im Jahre 1295 von -»Bonifatius VIII. offiziell zuerkannt wurde. Im Mittelalter wurden drei Vitae des Hieronymus geschrieben; zwei davon gehen auf das 9. Jh. zurück. In der zweiten Vita taucht zum ersten M a l die Legende des Löwen auf, dem der Heilige einen D o r n aus der Tatze zieht und der zum D a n k d a f ü r Diener seines Klosters wird; sie wurde auf G r u n d einer Namensverwechslung aus dem Pratum spirituale von - » J o h a n n e s Moschus ü b e r n o m m e n , wo sie einem heiligen Gerasimus zugeordnet war. Die dritte Vita wurde im 12. Jh. von Nicolo Maniacoria verfaßt, der Hieronymus mit dem Titel eines Kardinals ehrte. Im 14. Jh. schließlich wurden in Hieronymianus von Giovanni d'Andrea zusammen mit verschiedenen Auszügen aus dem Werk des Hieronymus auch ein apokrypher Brief des Eusebius von C r e m o n a an Damasus über den Tod des Heiligen sowie ein angeblicher Briefwechsel zwischen Augustin und -»Cyrillus v. Jerusalem über seine Wunder verbreitet (PL 22, 2 3 0 - 3 2 6 ) . Diese hagiographischen Werke übten einen wesentlichen Einfluß auf die bildlichen Darstellungen des Hieronymus aus, die vom 14. Jh. an immer zahlreicher wurden; man k a n n ihn im allgemeinen an seinem Kardinalshut und an dem zu seinen Füßen liegenden Löwen erkennen; bald wird er als Gelehrter inmitten seiner Bücher abgebildet, bald als Büßer, der - gemäß seinem eigenen Bericht über seinen Aufenthalt in der „ W ü s t e " (ep. 22,7) - sich vor einem Hintergrund „zackiger Felsen" mit einem Stein auf die Brust schlägt. Quellen Vollständige Editionen: Nach den Inkunabeln des 16. Jh. - die ersten beiden sind in Rom 1468 erschienen-, folgten die Editionen von Erasmus, Basel 1516; von Mariano Vittori, Rom 1566-1572; von Jean Martianay, Paris 1693-1706; von Domenico Vallarsi, Verona 1734-1742; von Jacques Paul Migne PL 22-30 (Nachdruck der Vallarsi-Edition), Paris 1845-1846, und PLS 2, 1960, 18-328. Empfohlene Editionen für jedes Werk: Altercatio luciferiani et orthodoxi, PL 23; Commentarii:

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in Abdiam, CChSL 76; in Aggaeum, CChSL. 76 A; in Arnos, CChSL 76; in Danielem, Pl. 25; in Ecclesiasten, CChSL 72; in epistulas Pauli ad Galatas, ad Ephesios, ad Titum, ad Philemonem, PL 26; in Ezechielem, CChSL 7 5 - 7 5 A; in Habacuc, CChSL 76 A; in Ieremiam, CSEL 59, CChSL 74; in loelcm, CChSL 76; in l o n a m , S C 4 3 , CChSL 76; in Isaiam, CChSL 7 3 - 7 3 A; in Malachiam, CChSL s 76A; in Matthaeum, CChSL 77, SC 242. 259; in Michaeam, CChSL 76; in Naum, CChSL 76 A; in Oseam, CChSL 76; in Psalmos commentarioli, CChSL. 72; in Sophoniam, CChSL 76 A; in Zachariam, CChSL 76 A; Epistulae: CSEL 5 4 , 5 5 , 5 6 , CUFr 1 9 4 9 - 1 9 6 3 ; F.pistula ad Aurclium Carthaginensem, CSEL 88, 1 3 0 - 1 3 3 ; Hebraica nomina, CChSL 72; Aduersus Heluidium de Mariae uirginitate perpetua, PL 23; Contra loannem Hierosolymitanum, PL 23; Contra Iouinianum, PL 23; De locis, in GCS Eusebius 3; Aduersus Pelagianos dialogi, PL 23; Contra Rufinum, CChSL 79; Tractatus in Marci euangelium, CChSL 78; Tractatus in Psalmos, CChSL 78; Vita Hilarionis: Vite dei santi 4, Verona 1975; Vita Malchi, PL. 23: Classical Essays presented to J. A. Kleist, St. Louis 1946, 3 1 - 6 0 ; Vita Pauli, PL 23; Contra Vigilantium, PL 23; De Viris inlustribus, TU 14/1. Übersetzungen: Nouum Testamentum D . N . I . C . L.atine secundum editionem S. Hieronymi ad 15 codicum mss. fidem rec. I. Wordsworth et H . J . White, Oxford 1889; Biblia sacra iuxta uulgatam uersioncm ad codicum fidem...cura et studio monachorum abbatiae pontificiae S. Hieronymi in Urbe ordinis s. Benedicti edita, Rom 1926 (Ed. iuxta L X X für den Psalter und iuxta hebraicum für die anderen Bücher des AT); Biblia sacra, hg.v. Robert Weber, Stuttgart 1969 2 1975 (diese editio minor enthält AT, NT, beide Ausgaben des Psalters sowie die Vorreden). 20 Didymus, De Spiritu sancto, PC 39; Eusebius, Chronica, CCS Eusebius 7; Origenes, Homiliae in leremiam, GCS Origenes 8, SC 238; Homiliae in Isaiam, GCS Origenes 8; Homiliae in Ezechielem, PL. 25; Homiliae in Canticum canticorum, GCS Origenes 8, SC 37; Pachomius, Theodor, Horsiesi u.a.: A. Boon, Pachomiana latina, Löwen 1932.

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Bis 1958 s. Paul Antin: CChSL 72 (1959). Danach s. BPatr, AnPh u. EBB. Im folgenden sind nur die wichtigsten bzw. neuesten Werke angeführt. Paul Antin, Essai sur Saint Jerome, Paris 1951. — Evaristo Arns, L.a technique du livre d'après s. Jérôme, Paris 1953. - Gustave Bardy, St. Jérôme et ses maîtres hébreux: RBen 46 (1934) 1 4 5 - 1 6 4 . G . J . M . Bartelink, Hieronymus, ,Liber de optimo genere interpretanda (Ep 67). Ein Kommentar, 1980 (Mn. Supp. 61). - Johannes B. Bauer, Hieronymus u. Ovid: Grazer Beiträge 4 (1975)13-19. Yvon Bodin, S. Jérôme et l'Eglise, Paris 1966. - Alan D. Booth, The date of Jerome's birth: Phoenix 33 (1979) 3 4 6 - 3 5 3 . - Donatien de Bruyne, l.ettres fictives de s. Jérôme: Z N W 28 (1929) 2 2 9 - 2 3 4 . Ders., Le problème du psautier romain: RBen 42 (1930) 101 —126. — Eitan Burstein, L.a compétence en hébreu de s. Jérôme, Diss. Poitiers 1971, m a s c h . - D e r s . , La compétence de Jérôme en hébreu: RE Aug 21 (1975) 3 - 1 2 . - Maria L. Casanova, Girolamo (Iconografia): BSS 6 (1965) 1132-1137. - Ferdinand Cavallera, Saint Jérôme, sa vie, son oeuvre, 2 Bde., Paris-Namur 1922. - Aldo Ceresa-Gastaldo, La tecnica biografica nel ,De uiris inlustribus' di Girolamo: Renovatio 2 (1972) 221—236. — Pierre Courcelle, Les lettres grecques en Occident de Macrobe à Cassiodore, Paris 2 1948. — Henri Crouzel, S. Jérôme et ses amis toulousains: BLE 73 (1972) 125—146. — Ders., S. Jérôme et ses amis aquitains: Revue fr. d'histoire du livre, 3 (1973) 3 0 1 - 3 2 6 . - Francis Deniau, Le commentaire de Jérôme sur les Ephésiens nous permet-il de connaître celui d'Origène?: Origeniana, Bari 1975, 163 — 179. — Louis Doutreleau, Etude d'une tradition manuscrite, le ,De Spiritu sancto' de Didyme: Kyriakon. FS J. Quasten, Münster 1970, 352—389. — Yves-Marie Duval, St Jérôme devant le baptême des hérétiques...: REAug 14 (1968) 1 4 5 - 1 8 0 . - Ders., Sur les insinuations de Jérôme contre Jean de Jérusalem...: R H E 65 (1970) 3 5 3 - 3 7 4 . - Ders., Tertullien contre Origène sur la résurrection de la chair dans le Contra Iohan. Hierosol. ( 2 5 - 3 6 ) de s. Jérôme: REAug 17 (1971) 2 2 7 - 2 7 8 . - Ders., Le Livre de Jonas dans la littérature chrétienne..., 1 - 2 , Paris 1973. - Ders., Pélage est-il le censeur inconnu de l'„Aduersus Iouinianum" à Rome en 393?: RHE 75 (1980) 5 2 5 - 5 5 7 . - Colette Estin, St. Jérôme traducteur des Psaumes, Diss. masch. Paris 1977. - Robert F. Evans, Pelagius. Inquiries and reappraisals, London 1968. - Charles Favez, St Jérôme peint par lui-même, 1958 (L.atomus 33). Alfred Feder, Stud. zum Schriftstellerkatalog des hl. Hieronymus, Freiburg i.Br. 1927. - H. Friedmann, A Bestiary from St. Jerome. Animai symbolism in European art, Washington 1980. - Manfred Fuhrmann, Die Mönchsgesch. des Hieronymus...: Fondation Hardt, Entretiens 23, VandoeuvresGenève 1976, 45—99. — Gian Domenico Cordini, Il monachesimo romano in Palestina nel IV secolo: StAns 46 (1961) 8 5 - 1 0 7 . - Ders., Usi liturgici e penitenziali degli asceti Romani del IV secolo: Miscellanea liturgica... G. Lercaro, Rom 1967, 841 — 872. — Jean Gribomont, Girolamo (mit Bibliographie): Institutum patristicum a'ugustinianum, Patrologia 3, Rom 1978, 2 0 3 - 2 3 3 . - Georg Grützmacher, Hieronymus. Eine biographische Stud. zur alten KG, 3 Bde., Leipzig/Berlin 1 9 0 1 - 1 9 0 8 . Harold Hagendahl, Latin Fathers and the Classics. A study on the Apologists, Jerome and other Christian Writers, Göteborg 1958. - Ders., Jerome and the Latin Classics: VC 28 (1974) 2 1 6 - 2 2 7 . -

Hilarius von Poitiers

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Pierre J a y , Sur la date de naissance de s. Jerome: R E L 51 (1973) 2 6 2 - 2 8 0 . - Ders., Jerome auditeur d'Apollinaire de Laodicée à Antioche: REAug 20 (1974) 3 6 - 4 1 . - D e r s . , S. Jérôme et le triple sens de l'Ecriture: REAug 26 (1980) 2 1 4 - 2 2 7 . - Ders., La datation des premières traductions de l ' A T sur l'hébreu par s. Jérôme: REAug 28 (1982) 2 0 8 - 2 1 2 . - John N. D. Kelly, Jerome. His life, writings and controversies, London 1975. - Bernard Lambert, Bibliotheca Hieronymiana Manuscripta, 7 Bde., Steenbrugge-La Haye 1 9 6 9 - 1 9 7 2 . - Pierre Lardet, Epistolaires médiévaux de s. Jérôme. Jalons pour un classement: FZPhTh 28 (1981) 2 7 1 - 2 8 9 . - Jean Le Clerc (Clericus), Quaestiones Hieronymianae, Amsterdam 1700. - Rudolf Lorenz, Die Anfänge des abendländischen Mönchtums im 4. Jh.: Z K G 77 (1966) 3 - 8 . - G . Q . A . Meershoek, Le latin biblique d'après s. Jérôme, 1965 ( L C P 2 0 ) . - M . Meiss, Scholarship and penitence in the early Renaissance, the image of s. Jerome: Pantheon 32 (1974) 1 3 4 - 1 4 0 . — Claudio Micaeli, L'influsso di Tertuliano a Girolamo. Le opere sul matrimonio e le seconde nozze: Aug 19 (1979) 415 - 4 1 9 . - Pierre Nautin, La date du De uiris inlustribus de J é r ô m e . . . : R H E 56 (1961) 3 3 - 3 5 . - Ders., L'excommunication de s. Jérôme: AEPHE R 80/81 ( 1 9 7 1 - 7 3 ) 7 - 3 7 . - Ders., Etudes de chronologie hiéronymienne: REAug 18 (1972) 2 0 9 - 2 1 8 ; 19 (1973) 6 9 - 8 6 ; 20 (1974) 2 5 1 - 2 8 4 . - Ders., La date de la mort de Pauline, de l'Ep 66 de J é r ô m e . . . : Aug. 18 (1978) 5 4 7 - 5 5 0 . - Ders., Origène, Paris, I 1977, 2 1 4 - 2 4 0 . 2 8 4 - 2 8 8 . - Ders., La date des commentaires de Jérôme sur les Ep. pauliniennes: R H E 74 (1979) 5 - 1 2 . - Ders., Le premier échange épistolaire entre Jérôme et Damase, lettres réelles ou fictives? (Jérôme, Ep. 3 5 - 3 6 ) : FZPhTh 30 (1983) 3 3 1 - 3 4 4 . - Ders., La lettre de Paule et Eustochium à Marcelle (Jérôme, Ep. 46): Aug 24 (1984). - Ilona Opelt, Hieronymus' Streitschr., Heidelberg 1973. - Angelo Paredi, S. Girolamo e S. Ambrogio: Mélanges E. Tisserant 5 (ST 235), Città del Vaticano 1964, 1 8 3 - 1 9 8 . - Vittorio Peri, Omelie origeniane sui S a l m i . . . , Città del Vaticano 1980 (SET 289). - Philip Rousseau, Ascetics, authority and church in the age of Jerome and Cassian, Oxford 1978. - Henri de Sainte-Marie, L'édition critique de la Vulgate: Lettre deLigugé 184 (1977) 7 - 2 0 . —H. F.D. Sparks, Jerome as Biblical Scholar: C H B 1 (1970) 5 1 0 - 5 4 1 . - Alfredo Vaccari, Scritti di erudizione e di filologia, R o m a 1952. - Domenico Vallarsi, S. Hieronymi Vita: PL 2 2 , 5 - 2 1 2 . - Ders., Epistularum ordo chronologicus: PL 22, L - X C I I . - D a v i d S. Wiesen, St Jerome as a satirist, Ithaca (N.Y.) 1 9 6 4 . - J . Wilkinson, L'apport de s. Jérôme à la topographie: R B 81 (1974) 245 - 257. - Franz Wutz, Onomastica Sacra. Unters, zum 'Liber interpretationis nominum Hebraicorum' des hl. Hieronymus, 2 Bde., Leipzig 1914/1915 (TU 41).

Pierre Nautin

Hilarius von Poitiers (gest. 367 oder 1. Leben

1.

2. Werke

368)

3. Nachwirkungen

(Editionen/Literatur S. 320)

Leben

1.1. Die vita ist weitgehend unbekannt, nur über die letzten zehn Lebensjahre vom Beginn des Exils in Klcinasien bis zum Tode in Poitiers sind wenige Nachrichten vorhanden. Noch im 4. J h . setzte die Legendenbildung ein und überwucherte, was sich bei Hilarius selbst, —»Sulpicius Severus und -»Hieronymus findet. Die lateinischen christlichen Schriftsteller des 4. und 5. J h . wußten über Hilarius nur wenig, die griechischen fast nichts; Athanasius erwähnt ihn nie. Die Vita saneti Milurit ¿es -»Venantius Fortunatus muß als historisch wertlos gelten. Pierre Coustant hat alle biographischen Nachrichten aus den Schriften des Hilarius gesammelt (PL 9 , 1 2 5 - 1 8 4 ) , ein Forschungsüberblick bei Borchardt ( 1 - 3 7 ) . 1.2. Wahrscheinlich wurde Hilarius im ersten Viertel des 4. J h . (Ad Const. 2; Kannengiesser: DSp VII/1,466) in Poitiers geboren, das an Bedeutung verloren, aber ein wichtiger Militärstützpunkt Galliens geblieben war (Brennecke 227). Seine Herkunft aus der städtischen Oberschicht ist nicht unwahrscheinlich, seine Werke zeigen rhetorische und philosophisch-literarische Bildung (Antin). O b Hilarius als Christ aufwuchs, ist nicht klar, der Prolog von De Trinitate kann wegen seines rhetorischen Schemas nicht als autobiographisch angesehen werden (Doignon, Hilaire 27 ff; vgl. Meijering 14£)- Als Erwachsener wurde er getauft (Syn. 91). Die durch Lupus von Ferneres (vita Maximini 1, AS Mai 7,19) überlieferte Nachricht von der Taufe durch Maximin von -»Trier gehört in den Bereich der Legende. Daß Hilarius verheiratet und Vater einer Tochter Abra war, könnte einer Lokaltradition von Poitiers entstammen. Einige Zeit vor 356 wurde er der erste bekannte Bischof von Poitiers (vgl. aber vita M a x i m . 1), nach den archäologischen Zeugnissen eine noch vorwiegend heidnische Stadt (Brennecke 228). Für die Mitte des 4. J h . sind in der Aquitania secunda sonst nur noch Agen und Perigieux

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Pierre J a y , Sur la date de naissance de s. Jerome: R E L 51 (1973) 2 6 2 - 2 8 0 . - Ders., Jerome auditeur d'Apollinaire de Laodicée à Antioche: REAug 20 (1974) 3 6 - 4 1 . - D e r s . , S. Jérôme et le triple sens de l'Ecriture: REAug 26 (1980) 2 1 4 - 2 2 7 . - Ders., La datation des premières traductions de l ' A T sur l'hébreu par s. Jérôme: REAug 28 (1982) 2 0 8 - 2 1 2 . - John N. D. Kelly, Jerome. His life, writings and controversies, London 1975. - Bernard Lambert, Bibliotheca Hieronymiana Manuscripta, 7 Bde., Steenbrugge-La Haye 1 9 6 9 - 1 9 7 2 . - Pierre Lardet, Epistolaires médiévaux de s. Jérôme. Jalons pour un classement: FZPhTh 28 (1981) 2 7 1 - 2 8 9 . - Jean Le Clerc (Clericus), Quaestiones Hieronymianae, Amsterdam 1700. - Rudolf Lorenz, Die Anfänge des abendländischen Mönchtums im 4. Jh.: Z K G 77 (1966) 3 - 8 . - G . Q . A . Meershoek, Le latin biblique d'après s. Jérôme, 1965 ( L C P 2 0 ) . - M . Meiss, Scholarship and penitence in the early Renaissance, the image of s. Jerome: Pantheon 32 (1974) 1 3 4 - 1 4 0 . — Claudio Micaeli, L'influsso di Tertuliano a Girolamo. Le opere sul matrimonio e le seconde nozze: Aug 19 (1979) 415 - 4 1 9 . - Pierre Nautin, La date du De uiris inlustribus de J é r ô m e . . . : R H E 56 (1961) 3 3 - 3 5 . - Ders., L'excommunication de s. Jérôme: AEPHE R 80/81 ( 1 9 7 1 - 7 3 ) 7 - 3 7 . - Ders., Etudes de chronologie hiéronymienne: REAug 18 (1972) 2 0 9 - 2 1 8 ; 19 (1973) 6 9 - 8 6 ; 20 (1974) 2 5 1 - 2 8 4 . - Ders., La date de la mort de Pauline, de l'Ep 66 de J é r ô m e . . . : Aug. 18 (1978) 5 4 7 - 5 5 0 . - Ders., Origène, Paris, I 1977, 2 1 4 - 2 4 0 . 2 8 4 - 2 8 8 . - Ders., La date des commentaires de Jérôme sur les Ep. pauliniennes: R H E 74 (1979) 5 - 1 2 . - Ders., Le premier échange épistolaire entre Jérôme et Damase, lettres réelles ou fictives? (Jérôme, Ep. 3 5 - 3 6 ) : FZPhTh 30 (1983) 3 3 1 - 3 4 4 . - Ders., La lettre de Paule et Eustochium à Marcelle (Jérôme, Ep. 46): Aug 24 (1984). - Ilona Opelt, Hieronymus' Streitschr., Heidelberg 1973. - Angelo Paredi, S. Girolamo e S. Ambrogio: Mélanges E. Tisserant 5 (ST 235), Città del Vaticano 1964, 1 8 3 - 1 9 8 . - Vittorio Peri, Omelie origeniane sui S a l m i . . . , Città del Vaticano 1980 (SET 289). - Philip Rousseau, Ascetics, authority and church in the age of Jerome and Cassian, Oxford 1978. - Henri de Sainte-Marie, L'édition critique de la Vulgate: Lettre deLigugé 184 (1977) 7 - 2 0 . —H. F.D. Sparks, Jerome as Biblical Scholar: C H B 1 (1970) 5 1 0 - 5 4 1 . - Alfredo Vaccari, Scritti di erudizione e di filologia, R o m a 1952. - Domenico Vallarsi, S. Hieronymi Vita: PL 2 2 , 5 - 2 1 2 . - Ders., Epistularum ordo chronologicus: PL 22, L - X C I I . - D a v i d S. Wiesen, St Jerome as a satirist, Ithaca (N.Y.) 1 9 6 4 . - J . Wilkinson, L'apport de s. Jérôme à la topographie: R B 81 (1974) 245 - 257. - Franz Wutz, Onomastica Sacra. Unters, zum 'Liber interpretationis nominum Hebraicorum' des hl. Hieronymus, 2 Bde., Leipzig 1914/1915 (TU 41).

Pierre Nautin

Hilarius von Poitiers (gest. 367 oder 1. Leben

1.

2. Werke

368)

3. Nachwirkungen

(Editionen/Literatur S. 320)

Leben

1.1. Die vita ist weitgehend unbekannt, nur über die letzten zehn Lebensjahre vom Beginn des Exils in Klcinasien bis zum Tode in Poitiers sind wenige Nachrichten vorhanden. Noch im 4. J h . setzte die Legendenbildung ein und überwucherte, was sich bei Hilarius selbst, —»Sulpicius Severus und -»Hieronymus findet. Die lateinischen christlichen Schriftsteller des 4. und 5. J h . wußten über Hilarius nur wenig, die griechischen fast nichts; Athanasius erwähnt ihn nie. Die Vita saneti Milurit ¿es -»Venantius Fortunatus muß als historisch wertlos gelten. Pierre Coustant hat alle biographischen Nachrichten aus den Schriften des Hilarius gesammelt (PL 9 , 1 2 5 - 1 8 4 ) , ein Forschungsüberblick bei Borchardt ( 1 - 3 7 ) . 1.2. Wahrscheinlich wurde Hilarius im ersten Viertel des 4. J h . (Ad Const. 2; Kannengiesser: DSp VII/1,466) in Poitiers geboren, das an Bedeutung verloren, aber ein wichtiger Militärstützpunkt Galliens geblieben war (Brennecke 227). Seine Herkunft aus der städtischen Oberschicht ist nicht unwahrscheinlich, seine Werke zeigen rhetorische und philosophisch-literarische Bildung (Antin). O b Hilarius als Christ aufwuchs, ist nicht klar, der Prolog von De Trinitate kann wegen seines rhetorischen Schemas nicht als autobiographisch angesehen werden (Doignon, Hilaire 27 ff; vgl. Meijering 14£)- Als Erwachsener wurde er getauft (Syn. 91). Die durch Lupus von Ferneres (vita Maximini 1, AS Mai 7,19) überlieferte Nachricht von der Taufe durch Maximin von -»Trier gehört in den Bereich der Legende. Daß Hilarius verheiratet und Vater einer Tochter Abra war, könnte einer Lokaltradition von Poitiers entstammen. Einige Zeit vor 356 wurde er der erste bekannte Bischof von Poitiers (vgl. aber vita M a x i m . 1), nach den archäologischen Zeugnissen eine noch vorwiegend heidnische Stadt (Brennecke 228). Für die Mitte des 4. J h . sind in der Aquitania secunda sonst nur noch Agen und Perigieux

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Hilarius von Poitiers

als Bischofssitze bezeugt (LP, Fastes 2,63). In den theologischen und kirchenpolitischen Kontroversen vor 356 taucht der Name des Hilarius nicht auf, o b er 353 und 355 an den Synoden von Arles und Mailand (Syn. 3,709) gegen -»Athanasius teilgenommen hat, ist unklar, scheint für die Mailänder Synode eher unwahrscheinlich (Brennecke 229). Aus der Kombination von C. Const. 2 (PL 10,578 f) mit dem als Synodalbrief einer gallischen (Pariser) Synode des Jahres 355 oder 356 angesehenen Uber I ad Constantium (CSEL 6 5 , 1 8 1 - 1 8 7 ) hat man Hilarius als Führer einer gegen die Beschlüsse der Synode von Mailand gerichteten nizänischen Opposition gallischer Bischöfe angesehen. Auch nachdem A. Wilmart (RBen 24 [1907] 1 4 9 - 7 9 . 291 ff) erkannt hatte, daß es sich bei dem Uber 1 ad Constantium um den bisher verlorengeglaubten Brief der Synode von Serdika (Syn. 3,708) an Kaiser Konstantius mit einem Kommentar des Hilarius handelt, hat sich die opinio communis nicht geändert. Aktionen des gallischen Episkopats gegen die Kirchenpolitik Konstantius' II. lassen sich aber anhand C. Const. 2 nicht wahrscheinlich machen (Brennecke 2 1 0 - 2 2 ) . Die kirchenpolitisch hervorragende Rolle des Hilarius in der Auseinandersetzung mit der Kirchenpolitik Konstantius' II. und dem homöischen Arianismus beginnt erst mit seinem Exil und darf nicht in die Zeit davor zurückprojiziert werden. Eigene Andeutungen in den Exilsschriften schließen einen Widerstand gegen die allein Athanasius betreffenden Beschlüsse von Mailand wie auch ein Eintreten für das Nizänum aus (Ad Const. 2; Syn. 91). Die Auseinandersetzungen um das Nizänum, an denen Hilarius in entscheidender Weise teilnahm, begannen erst während seines Exils. 355 in Mailand scheint das Nizänum im Gegensatz zudem späteren Bericht des Hilarius-keine Rolle gespielt zu haben (Brennecke 178 ff). 1.3. Allgemein gilt Absetzung und Exkommunikation des Hilarius durch eine Synode in Beziers auf Befehl des in Gallien residierenden Caesars Julian als Folge dieses postulierten Widerstandes gegen die Beschlüsse von Mailand (Syn. 2; Ad Const. 2; C. Const. 2; Munier, Concilia Gallica 31; das Verfahren nach C T h 16,2,12). Anschließend wurde Hilarius durch Julian in die Verbannung nach Kleinasien geschickt (Brennecke 230ff). Mit Hilarius wurde u.U. auch Rhodanius von Toulouse verurteilt (Crouzel: BLE 77 [1976] 173 - 90). Die Leitung dieser Anfang 356 (Brennecke 230) tagenden Synode hatte Saturnin von Arles, der als Bischof der gallischen Residenz vermutlich das Vertrauen des Kaisers hatte; später steht er auf der Seite der illyrischen Hofbischöfe. Unklar ist, warum Hilarius abgesetzt, exkommuniziert und in die Verbannung geschickt wurde. Daß Julian gezwungenermaßen auf Befehl des Kaisers vorging (Bidez, Julian 152), ist unwahrscheinlich. Hilarius selbst sagt (Ad Const. 2), daß er aufgrund falscher Verdächtigungen durch Saturnin von Arles von Julian verurteilt worden sei. Das schließt eine Verurteilung wegen Verweigerung der Unterschrift unter die Beschlüsse von Mailand aus. Wahrscheinlich wurden gegen Hilarius politische Verdächtigungen, u.U. im Zusammenhang mit dem gerade niedergeschlagenen Silvanus-Putsch, vorgebracht (Chadwick: R G G 3 3,317); Parteinahme für den als Hochverräter verurteilten Lucifer von Calaris mag beim Prozeß gegen Hilarius eine Rolle gespielt haben, wie er später behauptet hat (Smulders: Bijdr 39 [1978] 234ff). Nach seiner Verurteilung kehrte Hilarius wohl nicht mehr nach Poitiers zurück, sondern trat direkt den Weg ins Exil an, wo er - im Gegensatz zu den im Zusammenhang mit dem Fall des Athanasius exilierten Bischöfen — weitgehende Bewegungsfreiheit genoß. Aus chronologischen Gründen wird man gegen Sulpicius Severus (Vita Martini 5,1) mit Venantius Fortunatus (Vita Hil. 9[33]) und Gregor von Tours (Hist. 1,36) die Begegnung und den engen Kontakt mit -»Martin von Tours erst für die nachexilische Zeit annehmen können (Brennecke 2 4 3 - 2 4 7 ) . 1.4. Uber das Exil ist wenig bekannt. Nach Hieronymus (vir. ±11. 100), Sulpicius Severus (chron. 2,42) und Venantius Fortunatus (Vita Hil. 5[17]) hielt sich Hilarius vorwiegend in Phrygien auf; er selbst spricht allgemeiner vom Orient oder den asiatischen Provinzen (Syn. 8; Syn. 63). Ein bestimmter Aufenthaltsort scheint ihm nicht zugewiesen worden zu sein. Sicher ist, daß er 359 mit kaiserlicher Erlaubnis oder auf kaiserlichen Befehl an der Synode von Seleukia (Syn. 3,709f) teilnahm, anschließend mit den Legaten der Synode nach Konstantinopel ging und dort das dramatische Ende dieser Doppelsynode erlebte (Sulpicius Severus, chron. 2,45). Während des Exils stand er im Briefwechsel mit gallischen Bischöfen (Syn. 1 f) und eignete sich intensiv theologische und kirchenpolitische Kenntnisse an. Vermutlich im Zusammenhang mit den Versuchen Konstantius' II., das Nizänum offiziell abzuschaffen und durch die zweite sirmische Formel von 357 zu ersetzen (Syn. 3,709), entdeckt Hilarius erst wirklich das Nizänum und wird zu einem seiner konsequenten theologischen und kirchenpolitischen Verfechter (Brennecke 325ff). Um 358 kam er in engen Kontakt mit den Homöusianern, vermutlich nachdem sie in Ankyra die zweite sirmische Formel abgelehnt hatten (Sozomenos, h.e. 4,13). Seither ist Hilarius' literarische und praktische Tätigkeit im Exil auf eine theologische Aussöhnung zwischen Abendländern und homöusianischen Orientalen gerichtet, wobei die Homöusianer ihn theologisch stark beeinflußten (A.D. Jacobs; Smulders, Hilaire et son temps 175 ff). Zur Vorbereitung der für 359 geplanten Reichssynode (Syn. 3,709f) hat Hilarius mit den Führern der Homöusianer in brieflichem Verkehr gestanden (Syn. 7 8 - 9 1 ) . Mit ihnen hofft er, den Kaiser für das homöusianische Programm zu gewinnen (Syn. 78) und so, durchaus mit kaiserlicher Hilfe, die Spaltung der Kirche zu überwinden. Zunächst schienen sich diese Hoffnungen zu erfüllen (Sozomenos, h.e. 4,14), aber die Reichssynode (auf deren orientalischer Teilsynode in Seleu-

Hilarius von Poitiers

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kia sich Hilarius durch ein Bekenntnis von dem Verdacht des Sabellianismus (d. i. Markellianismus) befreien mußte (Sulpicius Severus, chron. 2,42), wurde für homousianische Abendländer und homöusianische Orientalen ein Mißerfolg. Am 10.10.359 (Seeck, Regesten 206) hatten unter Druck die Legaten von Rimini der homöischen Formel von Nike zugestimmt (Hahn, Symbole 205 f), am 31.12. unterschrieben auch die Legaten aus Seleukia eine homöische Formel (Hahn, Symbole 208f). Auf Hilarius selbst scheint in dieser Hinsicht kein Druck ausgeübt worden zu sein. Wahrscheinlich noch kurz vor die Unterschrift der Homöusianer fällt sein Versuch, eine Audienz beim Kaiser zu erlangen [Ad Constantium). Konstantius aber hatte sich inzwischen entschieden, die Kirche mit den dehnbaren Formeln der homöischen Theologie notfalls mit Gewalt zu einigen. Die Enttäuschung des Hilarius hat in der für ihn ungewöhnlich heftigen Polemik von Contra Constantium ihren Niederschlag gefunden. 1.5. Möglicherweise auf die Nachricht von der Usurpation Julians hin kehrte Hilarius Anfang 360 ohne ausdrückliche Genehmigung nach Gallien zurück (Meslin, Hilaire et son temps 38; Duval: At 48 [1970] 251 ff). O b er über Rom reiste und dort mit Liberius Kontakt aufnahm, ist gegen Sulpicius Severus (Mart. 6,7) unklar (Meslin ebd.). In Gallien und Norditalien hat Hilarius führend an Synoden zur Aufhebung der Beschlüsse von Rimini/Nike teilgenommen (Duval ebd.). Erhalten ist das Rundschreiben einer Pariser Synode von 360/61, aus dem hervorgeht, daß Hilarius seine Verständigungspolitik mit den inzwischen zum großen Teil ins Exil verbannten Homöusianern weiterverfolgte (CPL 437). Das führte zu einer Auseinandersetzung mit Lucifer von Calaris (vgl. die Apologetica ad reprehensores libri de synodis responsa [PL 10.545C-548C]), in deren Folge Hilarius von Anhängern des Sardiniers exkommuniziert wurde (Smulders: Bijdr 38 [1978] 2 3 4 - 4 3 ; Rufin, Adult. 11 [CCh 20,14] könnte eine Anspielung darauf sein). Nach Rückkehr Eusebs von Vercelli nach Italien, der 362 an der alexandrinischen Synode (3,711) teilgenommen und (im Gegensatz zu Lucifer) deren Beschlüsse akzeptiert hatte, haben Hilarius und Euseb gegen die Ergebnisse von Rimini und die schroffe Haltung der Luciferianer für eine Reorganisation der Kirche in Gallien und Italien gewirkt (Rufin, h.e. 10,29-31). Ihr gemeinsamer Versuch, den homöischen Mailänder Bischof, Auxentius, 364 durch Valentinian absetzen zu lassen, scheiterte. Auf Befehl des Kaisers mußten sie die Stadt verlassen. Auxentius konnte sich bis zu seinem Tode ungehindert als Bischof behaupten (Meslin, a. a. O. 3 9 - 4 1 ) . In den letzten Lebensjahren war Hilarius noch literarisch tätig, 367 oder 368 ist er in Poitiers gestorben (Goemans: Hilaire et son temps 107-111). 2.

Werke

( C P L 4 3 0 ; SC 2 5 4 ; 2 5 6 [ 1 9 7 8 / 7 9 ] ) : Ältester erhaltener lateinischer 2.1. In Matthaeum M a t t h ä u s k o m m e n t a r , allgemein vor das Exil datiert, da keine Einflüsse griechischer Theologie, aber Kenntnisse über den - » A r i a n i s m u s (Kannengiesser: DSp V I I / 1 , 4 7 2 - 4 7 4 ; vgl. Wille 30ff) vorhanden sind. Theologisch fußt Hilarius hier auf -»Tertullian, - » C y prian und vor allem - » N o v a t i a n und zeigt Kenntnisse der heidnischen literarischen Tradition (Doignon, S C 2 5 4 , 3 0 f f ) . D e r T e x t wird fortlaufend unter bewußten Auslassungen allegorisch und typologisch heilsgeschichtlich ausgelegt. 2 . 2 . Excerpta ex opere historico (Collectanea antiariana Parisina; C P L 4 3 6 ) : In zwei Handschriften des 9. und 15. J h . überlieferte zweiteilige fragmentarische S a m m l u n g von Aktenstücken zur Geschichte des arianischen Streites von 3 4 2 bis 3 6 7 ( T R E 3 , 7 0 8 f f ) , durch einen z . T . zerstörten zeitgenössischen K o m m e n t a r verbunden. Der zweite Teil ist nach den Handschriften einem zweiten Buch des Hilarius über die mit der Synode von Rimini/Seleukia verbundenen Ereignisse e n t n o m m e n . Inhaltliche Schwerpunkte sind: D o k u m e n t e zum Fall des - » A t h a n a s i u s und der Synode von Serdika ( C P L 4 4 0 f ; 4 4 4 ; 4 4 8 - 4 5 2 ; hier die älteste lateinische Bezeugung des N i z ä n u m ; und der seit E n d e des 5 . J h . als selbständige Schrift des Hilarius umlaufende Uber I ad Constantium [ C P L 4 5 9 ] ) ; die Liberiusbriefe ( C P L 4 5 3 ; 4 5 7 ) ; Akten zur Doppelsynode von Rimini/Seleukia und ihren Folgen ( C P L 4 3 7 ; 4 4 2 ; 4 4 3 ; 4 4 5 ; 4 4 6 ; 4 5 8 ) ; dazu einzelne Briefe aus den J a h r e n 3 6 0 - 3 6 7 ( C P L 4 3 8 ; 4 3 9 ; 4 5 4 - 5 6 ) . Die Echtheit der Aktenstücke ist heute unumstritten, ebenso Hilarius als ihr Sammler und Verfasser des K o m m e n t a r s . Seit ihrer Entdeckung im J a h r e 1 5 9 0 gelten die F r a g m e n t e als Reste des bei H i e r o n y m u s (vir. ill. 100) bezeugten Uber adversus Valentem et Ursacium, den m a n seit C o u s t a n t in das J a h r 3 6 0 datierte. N a c h den Untersuchungen von M a r x und W i l m a r t (RBen 2 4 [1907] 1 4 9 - 7 9 ; 2 9 1 - 3 1 7 ; 2 5 [1908] 2 2 5 - 2 2 9 ) m u ß zumindest ein Teil des Werkes bereits 3 5 8 in Gallien bekannt gewesen sein. Daher werden meist drei ursprünglich unabhängig voneinander entstandene Teile ange-

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nommen (Feder, CSEL 65,191-193). Der erste Teil galt seit Wilmart als vorexilisch und von Hilarius zur eigenen Verteidigung nach der Synode von Beziers verfaßt. Nach neueren Untersuchungen wurde der erste Teil, dem neben den Akten zu Serdika und dem Fall des Athanasius auch die Liberiusstücke zuzurechnen sind, von Hilarius als Reaktion auf die zweite sirmische Formel von 357 verfaßt und an die gallischen Bischöfe geschickt, um ihnen den Zusammenhang zwischen der arianischen Häresie und dem Fall des Athanasius zu erläutern (Brennecke 325ff). Der zweite Teil, adressiert an die Legaten von Rimini, wahrscheinlich 360/61 in Gallien entstanden, will die Hintergründe des homöischen Sieges in Rimini und die Rolle der beiden Hofbischöfe Valens und Ursacius dabei aufdecken. Beide Schriften wurden vielleicht erst postum zu einem opus historicum vereint und bei dieser Gelegenheit um einige Dokumente aus der Zeit bis zum Tode des Hilarius vermehrt. 2.3. De Trinitate (CPL 433; CCh.SL 62/62 A, 1979/80): In der bis in das 5. Jh. zurückreichenden handschriftlichen Überlieferung unter verschiedenen Titeln überkommenes dogmatisches Hauptwerk des Hilarius (Smulders, CCh.SL62,Praef.); eine theologische Auseinandersetzung mit dem Arianismus in zwölf Büchern. In Buch 1 - 3 wird nach dem streng rhetorisch geformten Proömium (1,1-14) und einem Plan des ganzen Werkes (1,20-36) eine positive Darlegung der orthodoxen Trinitätslehre entfaltet: a) aus der trinitarischen Taufformel (2), b) aus Joh 1,14 (3). Buch 4 - 1 2 weist die arianische Lehre und besonders den arianischen Schriftgebrauch zurück. In der Auseinandersetzung mit arianischer Exegese und Theologie distanziert sich Hilarius deutlich von -»Marcell von Ancyra (Sabellius) und Photin (1,16; 2.4.23; 7) (-»Jesus Christus; ->Trinität); wohl unter homöusianischem Einfluß (Smulders, Hilaire et son temps 175ff). Ein Bruch zwischen 3 und 4 läßt 1 - 3 als eigene literarische Einheit erscheinen. Gegen Smulders (CCh.SL 6 2 , 1 - 6 ) , der in De Trinitate zwei ursprünglich unabhängige, aber von Hilarius selbst verbundene Werke sehen will, ist Meijering ( 1 - 1 1 ) für die Einheitlichkeit der Schrift aufgrund eines konsequent durchgeführten Planes nach dem Vorbild der zwölfbändigen Institutio oratoria des Quintilian, an dessen Gesetze sich Hilarius überhaupt streng hält, eingetreten. Gegen eine Datierung von Buch 1 —3 in die vorexilische Zeit (so Coustant, Galtier, Borchardt, Doignon) spricht die Distanzierung von der Theologie Marcells und der deutliche homöusianische Einfluß (Meslin, Kannengiesser, Smulders, Meijering).

2.4. De Synodis (CPL 434): Brief an die Bischöfe Galliens, in der handschriftlichen Uberlieferung eng mit De Trinitate verbunden. Hilarius erfüllt mit diesem Brief die Bitte einer gallischen Synode von Ostern 358 um Information über die theologischen und kirchenpolitischen Verhältnisse im Orient (2). Er will aber nicht nur die gallischen Bischöfe informieren, sondern zu der für 359 geplanten Reichssynode eine gemeinsame Front von homousianischen Abendländern und homöusianischen Orientalen herstellen, um so, mit Hilfe des Kaisers, die faktische Spaltung der Kirche zu überwinden. De Synodis soll den Abendländern die theologische Position der Homöusianer orthodox deutbar machen. Von der beiden Gruppen gemeinsamen Ablehnung der zweiten sirmischen Formel von 357 ausgehend (3; 9 - 1 1 ) , teilt Hilarius die homöusianischen Anathemata von Ancyra (Ostern 358) in ihrer seit der sirmischen Synode vom Sommer 358 gültigen Form mit ( 1 2 - 2 7 ; vgl. 3,709-711) und interpretiert die dort von den Homöusianern rezipierten Symbole (2. antiochenische Formel von 341, Bekenntnis der Orientalen von Serdika, 1. sirmische Formel von 351) im Gegensatz zu Athanasius als orthodox (29-61), ebenso den Begriff öfiowvaiOQ (66ff). Am Schluß fügt er einen an die Homöusianer gerichteten Brief (78-91) an, in dem er den Homöusianern gegenüber für das ößoovoioq eintritt. Der Fall des Athanasius wird nicht erwähnt. Die in einigen Handschriften überlieferten und von Coustant als Sancti Hilarii apologetica ad reprehensores libri de synodis responsa edierten Fragmente (CPL 435, weitere Fragmente bei Smulders: Bijdr 39 [1978] 234 ff) gehören nicht zu einer selbständigen Schrift des Hilarius, sondern sind seine eigenen Ergänzungen zu De Synodis in den Auseinandersetzungen mit Lucifer von Calaris und dessen Parteigängern nach 361.

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2.5. Ad Constantium (CPL 460): Nach Ankunft des Hilarius zusammen mit den Legaten von Seleukia in Konstantinopel in den letzten Wochen des Jahres 359 als Eingabe an den Kaiser geschickt. Er bittet um Überprüfung seines eigenen Falles (2) und um Gelegenheit, vor dem Kaiser über die Glaubensangelegenheiten vortragen zu dürfen (8ff). Nach dem Mißerfolg von Homousianern in Rimini und Homöusianern in Seleukia will Hilarius einen letzten Versuch unternehmen, den Kaiser für den mit De Synodis b e s t r i t tenen Weg zur Vereinigung auf der Grundlage des Nizänum (in energischer Abgrenzung von Marceil und Photin, cap. 9) zu gewinnen. 2.6. In Constantium (Contra Constantinum, CPL 461): Wahrscheinlich während oder nach Rückkehr aus dem Exil verfaßte (Brennecke 361) und erst nach dem Tode des Konstantius publizierte (Hieronymus, vir. ill. 100), an die abendländischen Bischöfe gerichtete polemische Auseinandersetzung mit der von Konstantius seit 351 unterstützten homöischen Theologie. Konstantius, der als Christ sich ausgebende -»Antichrist, ist schlimmer als die früheren Verfolgungskaiser ( 4 - 7 ) . Den Anlaß zu dieser in ihrer Polemik für Hilarius ungewöhnlichen Schrift lieferten die Ergebnisse der Doppelsynode von Rimini/Seleukia (7). Jetzt wirft Hilarius dem Kaiser seine Kirchenpolitik seit der Kirchweihsynode von Antiochien (341) als falsch vor (11), berichtet von der Synode von Seleukia als dem Ergebnis dieser verfehlten Politik ( 1 2 - 1 5 ) und setzt sich mit der dem Abendland aufgezwungenen homöischen Theologie auseinander ( 1 6 - 2 2 ) . Die theologische Interpretation dieser Schrift darf von ihrem polemischen Charakter nicht absehen. Trotz 23 ff wird man C. Const. nicht alsein Zeugnis fürdie Forderung nach Freiheit der Kirche vom Staat ansehen dürfen. Hilarius verurteilt nur den häretischen Kaiser, Reflexionen über das Verhältnis von Kirche und christlichem Kaisertum liegen ihm fern.

2.7. Contra Auxentium (Contra Arianos vel Auxentium Mediolanensem, CPL 462): Im Anschluß an die Mailänder Ereignisse von 364/65 als Bcricht über seinen gescheiterten Versuch, den homöischen Mailänder Bischof Auxentius abzusetzen, an den abendländischen Episkopat gerichtet. Um den homöischen Charakter der Theologie des Auxentius zu demonstrieren, fügte Hilarius diesem Brief das (verlorene) Bekenntnis des Auxentius expositio auf der vom Kaiser angeordneten Untersuchung bei (7) wie auch den mit einer fidei verbundenen Bericht des Auxentius an die Kaiser. 2.8. Tractatus super Psalmos (CPL 428): Möglicherweise wegen seines Umfanges schon früh nur in Auszügen umlaufend (Hieronymus, vir. ill. 100), ist von dem ursprünglich weit umfangreicheren Werk nur noch der Kommentar zu 58 Psalmen erhalten (Ps. 1 f; 9; 13 f; 5 1 - 6 9 ; 91; 1 1 8 - 1 5 0 ) . O b der gesamte Psalter kommentiert war, wie Instructio 17 vermuten läßt, ist wegen der Datierung an das Lebensende des Hilarius unklar (nach 67,15 später als Trinitate, wahrscheinlich nach 364 abgefaßt). Möglicherweise hat Hilarius auch auf Homilien zurückgegriffen (z.B. 13,2; 14,1). Die Instructio (CSEL 2 2 , 3 - 1 9 ) gibt Auskunft über die Auslegungsmethode: Der Psalter kann nur von der Inkarnation Christi her verstanden werden (instr. 6) und muß — nach Feststellung des stärker betonten Literalsinns - typologisch und allegorisch ausgelegt, zur Erkenntnis von Christi Heilstaten an uns führen (instr. 5). Hilarius hat den griechischen Bibeltext und andere Psalmenkommentare benutzt, der Einfluß origenistischer Tradition gilt als gesichert (Goffinet). 2.9. Tractatus Mysteriorum (CPL 427): Ein bei Hieronymus (vir. ill. 100) erwähnter Liber myste-

riorum galt als liturgisches Werk, bis Gamurrini 1887 aus dem stark zerstörten Codex Aretinus VI 3 Fragmente eines in zwei Bücher geteilten Tractatus mysteriorum saneti Hilarii mit typologischen Deutungen von Personen der alttestamentlichen Geschichte auf Christus und die Kirche edierte. Seit ihrer Entdeckung gilt diese Schrift als der bei Hieronymus erwähnte Liber mysteriorum (dagegen Gamber, TU 80 [1962] 4 0 - 4 9 ) . Petrus Diaconus kannte und exzerpierte ihn teilweise, wodurch im Codex Aretinus verlorene Stücke erhalten sind (Feder, CSEL 6 5 , I X - X I ; Brisson, SC 19,61 ff; skeptisch Güssen, VigChr 10 [1956] 14ff). Nach einem z.T. zerstörten Proömium über die Praefiguration Christi und seiner Kirche in den Personen der alttestamentlichen Offenbarung (1,1) wird dies demonstriert an Adam und Eva, Kain und Abel, Lamech und Seth, Noah, Abraham und Sarah, Isaak, Jakob und Esau, Mose, Hosea, Josua. Manches ist zerstört oder ganz verloren (z.B. über Elia). Die Verfas-

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Hilarius von Poitiers

serschaft des Hilarius gilt als gesichert, die vielleicht aus Homilien entstandene Schrift ist etwa gleichzeitig mit dem Psalmenkommentar entstanden (vgl. In Ps. 138,4). 2.10. Liber Hymnorum (CPL 463): Nach -»Isidor von Sevilla (de eccl. off. 1,6) galt Hilarius als der erste lateinische Hymnendichter. Hieronymus (vir. ¡11. 100) kennt einen Liber Hymnorum. Nur die drei im Codex Aretinus VI 3 fragmentarisch überlieferten Christushymnen (PLS 1,273 - 7 7 ) k ö n nen sicher Hilarius zugeschrieben werden (zu inhaltlichen Berührungen mit dem theologischen Werk des Hilarius vgl. Kannengiesser: DSp 7/1,485 f). Der stark wechselnde Rhythmus ist ein Indiz, daß es sich um nicht für den liturgischen Gebrauch bestimmte literarische Hymnen handelt. Zwischen dem ersten und dem zweiten Hymnus fehlen in der Handschrift sechs, am Schluß eine unbestimmbare Zahl von Blättern, der vom Codex Aretinus gebotene Liber Hymnorum muß also weit umfangreicher gewesen sein. 2.11. Von einem bei Hieronymus bezeugten Tractatus in Job des Hilarius sind zwei Fragmente bei Augustin erhalten (CSEL 65,229-31; andere Fragmente CSEL 65,227 f; 232ff). Verloren ist die von Hieronymus (vir. all. 100) gelobte Schrift Ad Praefectum Sallustium sive contra Dioscurum, die allgemein mit den christenfeindlichen Maßnahmen Julians seit 361 verbunden und als an Flavius Sallustius, Praef. Praet. Call. 361/63 (PLRE 1,797 f, Sallustius 5) gerichtet gilt, nach Doignon (TU 92 [1966] 170-77) aber wegen der Aktivitäten des alexandrinischen Musikers Dioscuros (PLRE 1,261, Dioscurus 1) im Sinne der julianischen Politik an den Praef. Praet. O r . Saturninus Secundus Salutius (PLRE 1,814-17). Als verloren müssen zahlreiche Briefe des Hilarius gelten (vir. all. 100), von einem Kommentar zum Hohelied hat Hieronymus nur gehört. Neben Hymnen liefen verschiedene Schriftcn unter dem Namen des Hilarius um (CPL 465-72; Feder, Studien 3,96-103), unter denen die Epistula ad Abram filiam (CPL 465) als der bei Venantius Fortunatus (Vita Hil. 6[20]) erwähnte Brief an seine Tochter galt.

3.

Nachwirkungen

Für die Nachwelt hat Hilarius hinter seinem Schüler -»Martin von Tours und seinen jüngeren Zeitgenossen -»Ambrosius und -»Augustin zurückstehen müssen. Ihm ist der größte Anteil an der endgültigen Durchsetzung des Nizänum im Abendland zuzuschreiben. Seine Vermittlungsversuche zwischen homousianischen Abendländern und homöusianischen Orientalen hat er nicht zu Ende führen können. Der Ausgleich wurde im Osten und auf andere Weise gefunden. Dem Abendland hat Hilarius in seinen Werken inhaltlich und methodisch die Erträge der griechischen theologischen Arbeit seit -»Origenes vermittelt und so nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die abendländischen Theologen der nächsten Generation ausgeübt (Kannengiesser: RSR 56 [1968] 435ff). Daß seine exegetischen und dogmatischen Werke im Abendland weit verbreitet waren, zeigt die reiche handschriftliche Verbreitung seiner Schriften bis ins Mittelalter, aber u. a. auch Johannes -»Cassianus und Facundus. In erster Linie galt Hilarius seit Ende des 4. Jh. als der Verteidiger der abendländischen Kirche gegen den Arianismus, wodurch er besonders im 6. Jh. in den von homöischen Germanen beherrschten Ländern eine aktuelle Bedeutung für die theologische Auseinandersetzung und die Ausbildung einer orthodoxen Volksfrömmigkeit erhielt. In diesem Zusammenhang entstanden in Gallien und Italien zu aktuellem Gebrauch Sammlungen seiner antiarianischen Schriften. Nach -»Gregor von Tours (Hist. 2,37) gilt Hilarius als der entscheidende Helfer -»Chlodwigs im Krieg gegen die arianischen Westgoten. Gewisse nationale Aspekte der Hilariusverehrung lassen sich bis in die Gegenwart verfolgen. Eine große Rolle für die Verbreitung eines Hilariuskultes spielte die nach der Mitte des 6. Jh. entstandene Vita Hilarii des Venantius Fortunatus. Im katholisch gewordenen Westgotenreich des 7. Jh. scheinen seine Schriften wichtig gewesen zu sein, wie -»Isidor und verschiedene westgotische Synoden zeigen. Schwerpunkt der kultischen Hilariusverehrung blieb Gallien (Gazeau, Hilaire et son temps 113-126). Editionen CPL 4 2 7 - 4 7 2 (Lit.) (vgl. Hieronymus, vir. all. 100). - Sancti Hilarii... opera omnia, PL 9/10 (1844). - PLS 1 (1958) 2 4 1 - 8 6 . - S. Hilarii Tractatus super Psalmos, ed. A. Zingerle, 1891 (CSEL 22). - S. Hilarii Pictaviensis opera 4, ed. A.L. Feder, 1916 (CSEL 65). - Hilaire de Poitiers, Traité des mystères, ed. J.P. Brisson, 2 1967 (SC 1 9 ) . - S a n c t i Hilarii Pictaviensis episcopi DeTrinitate libri XII, cura et studio P. Smulders, 1979/80 (CCh.SL 62/62A). - Hilaire de Poitiers, Sur Matthieu, ed. J. Doignon, 1978/1979 (SC 254; 258). - V. Buzna, De hymnis s. Hilarii ep. Pict., Coloczae 1911. - W. N.

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Hildegard von Bingen

Poitiers: Gr 60 (1979) 639-674. - M . Pellegrino, La poesia di sane' Ilario di Poitiers: VigChr 1 (1947) 2 0 1 - 2 6 . - Antonio Peñamaria de Llano, La salvación por la fe. La noción „fides" en Hilario de Poitiers, Burgos 1981. — L. Pietro, Fede e grazia in Ilario di Poitiers, Reggio Calabria 1956. - William W. Reinhardt, Time and History in the Thought of Hilary of Poitiers, Diss. Vanderbilt Univ. Nashville 1973. - Manlio Simonetti, Note sul commento a M a t t e o di Ilario di Poitiers: VetChr 1 (1964) 3 5 - 6 4 . - Ders., Note sulla struttura e la cronologia del De Trinitate di Ilario di Poitiers: SUr 39 (1965) 274-300. - Ders., Ilario e Novaziano: Riv. di Cult, class, et med. 7 (1965) 1034-47. - Pieter Smulders, La doctrine trinitaire de Saint Hilaire, Rom 1944. - Ders., Two Passages of Hilary's „Apologetica responsa" rediscovered: Bijdr. 39 (1978) 2 3 4 - 4 3 . - Ders., Hilarius van Poitiers als exegeet van Mattheüs: Bijdr. 44(1985) 5 9 - 8 1 . - Ders., Hilarius v. Poitiers: Gestalten der KG, hg. v. M . Greschat, Mainz I 1984, 2 5 0 - 266. - T h o m a s F. Torrance, Hermeneutics according to Hilary of Poitiers: AbSal 6 (1975) 3 7 - 9 6 . - Wilhelm Wille, Stud. zum Matthäuskomm, des Hilarius v. Poitiers, Diss. Hamburg 1968. - André Wilmart, Le „De mysteriis" de saint Hilaire au Mont-Cassin: RBen 27 (1910) 12-21. - Ders. L'ad Constantium Über primus de s. Hilaire de Poitiers et les fragments historiques: RBen 24 (1907) 149-79; 291-317. - Ders., Les fragments historiques et le synode de Béziers de 356: RBen 25 (1908) 225-229.

Hanns Christof Brennecke Hildegard von Bingen (1098-1179) 1. Leben und Schriften

2. Werk

(Editionen/Übersetzungen/Literatur S.325)

1. Leben und Schriften Hildegard von Bingen gehört zu den größten Frauen des -»Mittelalters. In Bermersheim bei Alzey in der Pfalz wird sie 1098 als Tochter Hildeberts von Bermersheim geboren. Mit neun Jahren kommt Hildegard als Reklusin auf den Disibodenberg bei Kreuznach. Hier wird sie von der Vorsteherin des Nonnenkonventes Jutta von Spanheim (1090-1136) erzogen, deren Nachfolgerin sie 1136 wird. Hildegard gründet 1147/50 auf dem Rupertsberg bei Bingen und um 1165 in Eibingen bei Rüdesheim Klöster. Am 17.9.1179 stirbt Hildegard auf dem Rupertsberg. Hildegard gehört zu den Autoren der Vorscholastik (-»Scholastik). Sie rezipiert die ihr vorgängige theologische Tradition. Gedanken und Bilder von -» Augustin, -»Gregor dem Großen, -»Beda Venerabiiis, -»Hrabanus Maurus, -»Rupert von Deutz u.a. begegnen uns bei Hildegard. Hildegards Zeit ist geprägt von großer Dynamik. -»Anselm von Canterbury, -»Petrus Lombardus und die Viktoriner (-»Sankt Viktor) bahnen neue Wege in der Theologie. Das monastische Ideal (-»Zisterzienser, -»Prämonstratenser), die -»Mystik, die Legisten in der Rechtswissenschaft, die gotische Kunst (-»Gotik) und gesellschaftliche Umschichtung (Städte, -»Bürgertum) kennzeichnen das bewegte Feld dieser Zeit, ebenso wie die Kritik an der traditionalistischen kirchlichen Lehre (-»Abaelard) und an den hierarchischen kirchlichen Machtstrukturen (-»Arnold von Brescia, Petrus Waldus [-»Waldenser], -»Katharer). Hildegards Werk wird geprägt durch ihr Vertrautsein mit der Bibel, der Liturgie, der -»Benediktusregel, Schriften der Kirchenväter und mittelalterlicher Autoren. Großen Einfluß hat Hildegard auf ihre Zeitgenossen. Ihr Rat wird von Päpsten und Königen, Priestern, Mönchen u. a. in Anspruch genommen. Von Kindheit an hat Hildegard Visionen. In ihrer Seele erhält sie die durch Gott gewirkte Schau. In diesem visionären Zustand befindet sich Hildegard immer. Allerdings ist das keine ekstatische Verzücktheit, die sich in äußerer, die Sinne ausschaltender Anomalie äußerte. Wachend sieht Hildegard den Schatten des von Gott kommenden Lichtes (umbra lucis viventis). Die Gestalt dieses Lichtes vermag der Mensch ebensowenig zu erkennen, wie er in die volle Sonnenkugel hineinzuschauen vermag. Manchmal sieht Hildegard aber im Schatten dieses Lichtes ein anderes, die lux vivens, das lebendige Licht. Die Modalitäten seiner Erfahrung zu sagen, sind Hildegard nicht möglich. Begegnet es ihr, dann wird sie aus Angst und Schwäche, Schmerzen und Hemmungen herausgeführt. Ihre Seele trinkt aus dem unerschöpflichen Quell. Ihr Eigenes wird vergessen, wird zum Nichts. Ihr einziger Halt ist der lebendige

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Hildegard von Bingen

Poitiers: Gr 60 (1979) 639-674. - M . Pellegrino, La poesia di sane' Ilario di Poitiers: VigChr 1 (1947) 2 0 1 - 2 6 . - Antonio Peñamaria de Llano, La salvación por la fe. La noción „fides" en Hilario de Poitiers, Burgos 1981. — L. Pietro, Fede e grazia in Ilario di Poitiers, Reggio Calabria 1956. - William W. Reinhardt, Time and History in the Thought of Hilary of Poitiers, Diss. Vanderbilt Univ. Nashville 1973. - Manlio Simonetti, Note sul commento a M a t t e o di Ilario di Poitiers: VetChr 1 (1964) 3 5 - 6 4 . - Ders., Note sulla struttura e la cronologia del De Trinitate di Ilario di Poitiers: SUr 39 (1965) 274-300. - Ders., Ilario e Novaziano: Riv. di Cult, class, et med. 7 (1965) 1034-47. - Pieter Smulders, La doctrine trinitaire de Saint Hilaire, Rom 1944. - Ders., Two Passages of Hilary's „Apologetica responsa" rediscovered: Bijdr. 39 (1978) 2 3 4 - 4 3 . - Ders., Hilarius van Poitiers als exegeet van Mattheüs: Bijdr. 44(1985) 5 9 - 8 1 . - Ders., Hilarius v. Poitiers: Gestalten der KG, hg. v. M . Greschat, Mainz I 1984, 2 5 0 - 266. - T h o m a s F. Torrance, Hermeneutics according to Hilary of Poitiers: AbSal 6 (1975) 3 7 - 9 6 . - Wilhelm Wille, Stud. zum Matthäuskomm, des Hilarius v. Poitiers, Diss. Hamburg 1968. - André Wilmart, Le „De mysteriis" de saint Hilaire au Mont-Cassin: RBen 27 (1910) 12-21. - Ders. L'ad Constantium Über primus de s. Hilaire de Poitiers et les fragments historiques: RBen 24 (1907) 149-79; 291-317. - Ders., Les fragments historiques et le synode de Béziers de 356: RBen 25 (1908) 225-229.

Hanns Christof Brennecke Hildegard von Bingen (1098-1179) 1. Leben und Schriften

2. Werk

(Editionen/Übersetzungen/Literatur S.325)

1. Leben und Schriften Hildegard von Bingen gehört zu den größten Frauen des -»Mittelalters. In Bermersheim bei Alzey in der Pfalz wird sie 1098 als Tochter Hildeberts von Bermersheim geboren. Mit neun Jahren kommt Hildegard als Reklusin auf den Disibodenberg bei Kreuznach. Hier wird sie von der Vorsteherin des Nonnenkonventes Jutta von Spanheim (1090-1136) erzogen, deren Nachfolgerin sie 1136 wird. Hildegard gründet 1147/50 auf dem Rupertsberg bei Bingen und um 1165 in Eibingen bei Rüdesheim Klöster. Am 17.9.1179 stirbt Hildegard auf dem Rupertsberg. Hildegard gehört zu den Autoren der Vorscholastik (-»Scholastik). Sie rezipiert die ihr vorgängige theologische Tradition. Gedanken und Bilder von -» Augustin, -»Gregor dem Großen, -»Beda Venerabiiis, -»Hrabanus Maurus, -»Rupert von Deutz u.a. begegnen uns bei Hildegard. Hildegards Zeit ist geprägt von großer Dynamik. -»Anselm von Canterbury, -»Petrus Lombardus und die Viktoriner (-»Sankt Viktor) bahnen neue Wege in der Theologie. Das monastische Ideal (-»Zisterzienser, -»Prämonstratenser), die -»Mystik, die Legisten in der Rechtswissenschaft, die gotische Kunst (-»Gotik) und gesellschaftliche Umschichtung (Städte, -»Bürgertum) kennzeichnen das bewegte Feld dieser Zeit, ebenso wie die Kritik an der traditionalistischen kirchlichen Lehre (-»Abaelard) und an den hierarchischen kirchlichen Machtstrukturen (-»Arnold von Brescia, Petrus Waldus [-»Waldenser], -»Katharer). Hildegards Werk wird geprägt durch ihr Vertrautsein mit der Bibel, der Liturgie, der -»Benediktusregel, Schriften der Kirchenväter und mittelalterlicher Autoren. Großen Einfluß hat Hildegard auf ihre Zeitgenossen. Ihr Rat wird von Päpsten und Königen, Priestern, Mönchen u. a. in Anspruch genommen. Von Kindheit an hat Hildegard Visionen. In ihrer Seele erhält sie die durch Gott gewirkte Schau. In diesem visionären Zustand befindet sich Hildegard immer. Allerdings ist das keine ekstatische Verzücktheit, die sich in äußerer, die Sinne ausschaltender Anomalie äußerte. Wachend sieht Hildegard den Schatten des von Gott kommenden Lichtes (umbra lucis viventis). Die Gestalt dieses Lichtes vermag der Mensch ebensowenig zu erkennen, wie er in die volle Sonnenkugel hineinzuschauen vermag. Manchmal sieht Hildegard aber im Schatten dieses Lichtes ein anderes, die lux vivens, das lebendige Licht. Die Modalitäten seiner Erfahrung zu sagen, sind Hildegard nicht möglich. Begegnet es ihr, dann wird sie aus Angst und Schwäche, Schmerzen und Hemmungen herausgeführt. Ihre Seele trinkt aus dem unerschöpflichen Quell. Ihr Eigenes wird vergessen, wird zum Nichts. Ihr einziger Halt ist der lebendige

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Gott. Ihm sieht sie sich ausgeliefert, wenn sie das Blitzesleuchten des lebendigen Lichtes erfährt. Hildegard überläßt sich Gott, damit der unendliche Gott sie vor dem Bösen bewahre. Hildegard erfährt durch ihre Schau den Befehl, ihre -»Visionen niederzuschreiben. Ihre Weigerung wird durch von ihr als Strafe erblickte Erkrankung gebrochen. Hildegard sieht sich unter den Auftrag Gottes gestellt. Gott benutzt zerbrechliche Gefäße. Der von Gott beauftragte Mensch soll stets seine zerbrechliche Menschheit und das, was er ist, bedenken. Oft ist das Werkzeug Gottes von Kleinmut niedergeworfen. Gott geißelt die in seinem Auftrage Stehenden, aber er läßt sie nicht zugrunde gehen. Einfältig, wie ein kleines Kind, muß man sein. Hildegard versteht alle ihre Schriften als -»Offenbarung, auch ihre medizinischen und naturkundlichen; letztere haben ihr zuweilen den Ruf der ersten deutschen Naturwissenschaftlerin und Ärztin eingebracht. Hildegards theologisch-philosophische Hauptschriften sind: 1) Scivias, 2) Liber vitae meritorum, 3) Liber divinorum operum. Wichtig sind auch die über 300 Briefe, die Hildegard schrieb. Von Hildegards naturkundlichem und medizinischem Interesse zeugen der Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum (Physica) und der Liber compositae medicinae de aegritudinum causis, sigttis atque curis (Causae et curae). Außerdem sind die für ihre Mitschwestern bestimmten Carmina und die Symphonia caelestium revelationum zu erwähnen, ebenfalls ihre Erklärungen der —»Benediktusregel, des pseudoathanasianischen Symbols und ihre Vita S. Ruperti und die Vita S. Disibodi. Hildegards Werke sind gefüllt von herrlicher, tiefer, zuweilen schwerverständlicher Symbolik. Hier erreicht der philosophisch-theologische Symbolismus einen Höhepunkt. Die große Seherin Hildegard, die prophetissa teutonica, übt Kritik an Kirche und Gesellschaft. Sie geißelt bei Laien, Priestern und Ordensleuten Sünde und Verbrechen einschließlich der -»Simonie. Ihr Zorn gilt der Kirchenführung, die sich durch Sittenverderbnis, Amtserschleicherei, Lauheit und Trägheit ihrer Pflicht entzieht, das Erlösungswerk Gottes zu verkündigen. Hildegard fordert reinigende Buße. 2. Werk -»Gott zu erkennen ist Hildegards Ziel. Gott aber ist super omnia und incomprehensibilis allem. Gott übersteigt allen kreatürlichen sensus und intellectus des Menschen. Der sterbliche Mensch kann Gott nicht sehen. Nur wer Gott liebt, wird von Gott umfangen und durch den Heiligen Geist zum Wissen Gottes geführt. Die scientia dei ist nur den vernunftbegabten Wesen möglich. In gründender Korrelation mit dem Wissen Gottes von sich selbst steht die scientia dei des Menschen. Gott setzt Anfang, Weg und Ende. Alle -»Gerechtigkeit ist in alle Ewigkeit nur durch Gott. Gott ist in der Mitte. Wer ihn erfaßt, wird weder durch Stolz nach oben geführt, noch stürzt er in die Tiefe, noch zerbricht er in der Breite des Lasters (latitudo malorum), sondern die Liebe Gottes gestaltet ihn. — Der Urquell alles Seins und Lebens ist der dreieinige Gott. Gott ist Einheit in der Dreiheit. Vor aller Zeit hat der Vater den Sohn, das verbum, gezeugt, durch das alles gemacht wurde am Anfang der Zeit. Der Heilige Geist erschien bei der Taufe des Gottessohnes am Ende der Zeiten. Die -»Trinität sieht Hildegard symbolisch anschaubar in den Elementen der Natur (Stein, Feuer u.a.). Den einen Gott in den drei Personen soll der Mensch anrufen. Durch die -»Taufe erhält der Mensch Anteil am dreifaltigen göttlichen Leben. Christus brachte Zeugnis von der Trinität Gottes. Gottes Sohn ward Mensch, damit der Mensch Anteil an Gott habe. Durch Christus wird dem Menschen erst die Erfahrung der Welt möglich. Hildegard hat ein christologisches Weltverständnis. Alles kommt aus dem Sohn, dem verbum. Das Wort Gottes ist die causa exemplaris der Kreatur. Der ganze Kosmos ist in Christus, im Logos, zum Heil berufen. Im Logos zentrieren Schöpfung und Erlösung, Anfang, Ende und Sinn der Welt. Das Wort nahm Fleisch in der Jungfrau an. Drei „Schneiden" hat das Wort Gottes, das durch den Heiligen Geist den Menschen dargeboten wird: das -»Gesetz des alten Bundes, das -»Evangelium des neuen Bundes und die enucleatio fidelium doctorum, die Lehre der rechtgläubigen Väter. Christus verwandelte das Wasser des Gesetzes in den Wein des Evangeliums. Dem Worte Gottes ist die scientia

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Hildegard von Bingen

dei zugeordnet, die die Menschen ehrfürchtig annehmen oder zurückweisen können. Die Erkenntnis der unbeschreiblichen Größe Gottes geschieht durch den Heiligen Geist. Er zieht die Vernunft des Menschen (mens hominis) aus der Last des Fleisches (pondus carnis) und deren Blindheit heraus und kündet dem Menschen die unendliche Größe Gottes, die keine menschliche Klugheit beschreiben kann. Die Trinität hält die rota, das Weltenrad, in ihrer Brust, ja in ihrem Herzen. Die Welt ist das „Herzwerk" Gottes, ist operatio dei. Alle Erscheinungen der Welt sind in die rota eingebaut. So ist Universum, Kosmos, ein geordnetes Ganzes gegeben, ein lebendiger Organismus. Ohne Anfang und Ende laufend, symbolisiert die rota Zeit und Ewigkeit, ja setzt sie von ihrem theologischen locus her in organischen Verbund und Dynamik. Im punctum der rota liegt die Erde. Mitten im Weltenbau steht der kleine Mensch in riesenhafter Dimension, der homo dei. Ihm gibt Gott Anteil an seinem Leben, ihn hat er nach seinem Bild als Kostbares geschaffen. Vom Teufel besessen ist, wer den Menschen mordet. Alles ist durch Gott in der Welt auf den Menschen zugeordnet. Der Kosmos trägt anthropologisches Gepräge. Der Mikrokosmos (Mensch) steht in fundamentaler Relation und Parallelität zum Makrokosmos (All der Dinge; -»Makrokosmos/Mikrokosmos). Im Menschen hat Gott die anderen Geschöpfe gezeichnet und die Menschengestalt dem Bau des Firmaments und des Schöpfungsalls entsprechend geordnet. In tiefer Symbolik sieht Hildegard alle Teile des menschlichen Körpers in Beziehung zu den Strukturen des Makrokosmos. In eine große kosmische Landschaft wird der menschliche Körper projiziert und so in ihr geschaut und erfahren. Zur Grundhaltung des Menschen gehören der timor dei und die sapientia humana. Der Gott nicht ehrende, sich für ihn nicht entscheidende Mensch, destruiert nicht nur sich selbst, sondern auch den Kosmos, der Geschöpf Gottes ist. Der Mensch sitzt in der Mitte der Schöpfung und beherrscht (praesidere) nach göttlicher Verfügung (divina dispositione) diese. Die Elemente der Welt sind zum Dienst des Menschen geschaffen. Der Mensch aber soll nicht die elementa mundi verehren, sondern allein Gott. — Drei Pfade (setnita) hat der Mensch in sich, in denen sich das Leben vollzieht: anima, corpus und sensus. Die anima belebt das corpus und leitet den Lebensatem in die sensus. Das corpus zieht die anima an sich und öffnet die sensus. Der Leib ist der Halt der Seelenkräfte. Die sensus berühren die anima und reizen (allicere) das Corpus. Die Seele zeigt sich in der Kindheit voll Einfalt, in der Jugend voll Kraft, im erwachsenen Alter voll Weisheit. Seele und Leib sind in ihrem Wirken eng aneinander gebunden. Die Seele ist für den Körper wie der Saft für den Baum. Die Seele ist die Herrin, das Fleisch die Magd. Die Seele kostet Irdisches und Himmlisches. - Als sonitus animae zeigt sich im Intellekt und Willen des Menschen die ratio. Der intellectus erkennt, ob die Handlungen des Menschen gut oder böse sind. So kann der menschliche Wille zwischen Gut und Böse unterscheiden. Der -+'Wille ist der rechte Arm der -»Seele, mit dem sie den ganzen Körper bewegt. Dieser von der Seele bestimmte Wille kämpft gegen den Willen des Fleisches, da dieser dem martyrium und der poena Christi nicht entspricht. Himmlisch ist der Mensch in spiritu, irdisch in came. Durchweht vom Heiligen Geist kommen die fünf Sinne des Menschen zur utilitas desselben, indem der Mensch mit ihnen, zur Höhe der Gottheit schauend, Gut und Böse erkennt. Gaben des Heiligen Geistes sind die sieben -»Tugenden: humiiitas, Caritas, timor dei, oboedientia, fides, spes, castitas. Da durch die Inkarnation alle Gotteskräfte in volle Wirksamkeit treten, können sich die Tugenden voll entfalten und im Handeln des Menschen Raum gewinnen. Das besagt nicht, daß das Heil der rettenden Liebe anthropologischen Grund hätte. Es verdankt sich allein der Liebe Gottes. Die Heilsgeschichte ist Ausdruck der Liebe Gottes, die in seiner -»Gnade evident ist. Gottes Gnade erleuchtet den Menschen. Die Gnade, die dem Menschen verborgen ist, ist die höchste Kraft Gottes. Sie gibt das göttliche Licht im Geist des Menschen, das der Mensch in seinem Willen vollenden muß. Die Gnade mahnt den Menschen, Buße zu tun. Wer durch die Gnade Sünde erkennt, wird frei, wer die Gnade abschüttelt, ist tot. Der Mensch, der das Gebot

Hildegard von Bingen

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Gottes kennt, aber nicht danach handelt, gerät in Schuld und Sünde, durch die auch die Elemente in Aufruhr geraten. Die Seele, der Leib, die Elemente des Kosmos sind von der Sünde betroffen. Der Mensch, der das Böse tut, hat keine Entschuldigung, da er Gut und Böse erkennen kann. Wendet er sich aber Christus zu, so richtet dieser den Gefallenen auf und hilft ihm im Kampf gegen das Böse und den Teufel, der den Menschen in Gottesvergessenheit führen will. Wer dagegen Christus verachtet, wendet sich dem Teufel zu, dessen Verbrechen darin besteht, so wie G o t t sein zu wollen. Der Teufel wird durch den vom Heiligen Geist eingehauchten Glauben überwunden. Glauben ist Sehen des inneren Auges. Wer glaubt, empfängt durch den Hauch des Heiligen Geistes das in der Taufe geschenkte Leben. Wer nicht glaubt, ist blind und findet in der verdunkelten Erkenntnis des Fleisches den T o d . Der - » G l a u b e legt das Fundament der guten -»Werke. Mittelpunkt der -»Geschichte, die das Werk Gottes ist und bei der der Mensch verantwortlich handelnd dabei ist, ist Christus. Hildegards Einteilung der Geschichte hat, vermittelt durch Gebeno von Eberbach, das Mittelalter beeinflußt. Sieben Tage symbolisieren die Geschichte; die ersten fünf bedeuten die Zeit des Heiden- und Judentums. Der sechste Tag ist der durch Christus bestimmte, und der siebente führt in den ruhigen Besitz der ewigen Wahrheit. Hildegard sieht fünf Zeitläufe, die dem Ende vorangehen und durch Hund, Löwe, Pferd, Schwein und Wolf symbolisiert werden. Das Ende der Zeit sieht Christus in voller Gestalt. Vorher erscheint der schreckliche —»Antichrist, der viele täuscht und verführt, dem aber - » H e n o c h und -»Elia entgegentreten, und dessen Ende Hildegard in drastischen Bildern (Kot) beschreibt. Die Welt zerbricht, aber der Kirche leuchtet durch den Menschensohn der Tag der ewigen Vollendung. In gerechtem Urteil, das die Elemente des Kosmos erschüttert, scheidet der Menschensohn Gerechte und Ungerechte. Der ewige Tag ist da, Tag ohne Finsternis, ohne Wandel. Sonne, Mond und Sterne leuchten in ewiger Klarheit. Die Kirche als Braut des Sohnes, der ihr Haupt ist, geht von der irdischen Gottesstadt in das himmlische Jerusalem. Hildegards visionäre Schau ist streng ekklesiologisch orientiert. Gott muß im wahren katholischen Glauben erfaßt werden. Der katholische Glaube ist die Jungfräulichkeit der -»Kirche, die Kirche die jungfräuliche Mutter aller Christen. Die Kirche, deren hierarchische Struktur mit ihren drei Ständen (Apostel, Virginitas, Laien) Hildegard ebenso wie die Unterscheidung der Menschen in Hoch- und Niederstehende preist, ist ein Bollwerk gegen die Finsternis. Der Weg der Kirche geht durch Leiden und Kampf. Als lebendiger Leib des menschgewordenen Gottessohnes ist die Kirche Kirche des siebenten Tages, Kirche der Vollendung. Die Kirche ist seit ihrer Gründung Wirklichkeit des verherrlichten Gottessohnes. Eine besondere Zierde dieser schon hier eschatologische Qualität habenden Kirche ist das von Hildegard illuminierte Jungfrausein um des Sohnes willen. Hildegards Glaubensschau, die ihre Auswirkungen auf die mittelalterliche Welt (-»Frömmigkeit, -»Geschichte, -»Heilkunde/Medizin) gehabt hat, fasziniert bis heute in ihrer theologischen Anthropologie durch deren universal-kosmologische Dimension in ihrer trinitarischen und christologischen Fundierung. Editionen Maria David-Windstosser, Carmina Sanctae Hildegardis, München 1928. - Guido Maria Dreyes: AHMA 50 (1907) 483 - 4 9 2 (Carmina). - Aldegundis Führkötter/Angela Carlevaris, Hildegardis Scivias, 2 Bde., 1978 (CChr.CM 43.43 A). - Franciscus Haug, Epistolae Sanctae Hildegardis secundum codicem Stuttgartensem: RBen 43 (1931) 9 - 7 1 . - Paul Kaiser, Hildegardis Causae et Curae, Leipzig 1903. - J.P. Migne, S. Hildegardis Abbatissae Opera Omnia, 1855, 1882, 1952 (PL 197). - Jean Baptiste Pitra, Sanctae Hildegardis Opera, Typis sacri Montis Casinensis, Paris 1882, Farnborough 1966 (Analecta sacra 8). Übersetzungen

(in Auswahl)

Pudentia Barth/M. Immaculata Ritscher/Joseph Schmidt-Görg, Hildegard v. Bingen, Lieder, Salzburg 1969. - Maura Böckeier, Hildegard v. Bingen, Wisse die Wege. Scivias, Salzburg 5 1963. Johannes Bühler, Sehr, der hl. Hildegard v. Bingen, Leipzig 1922. - Ludwig Clarus [W. Volk], Leben

Hillel/Hillclschule

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u. Sehr, der hl. Hildegard, 2 Bde., Regensburg 1854. - Aldegundis Führkötter, Hildegard v. Bingen, Briefwechsel, Salzburg 1965. - Dies., Quellen des Heils. Textauswahl, Salzburg 1982. - Peter Riethe, Hildegard v. Bingen, Naturkunde. Das Buch v. dem inneren Wesen der verschiedenen Naturen in der Schöpfung, Salzburg 2 1974. - Heinrich Schipperges, Hildegard v. Bingen, Heilkunde. Das Buch v. dem Grund u. Wesen u. der Heilung der Krankheiten, Salzburg 2 1961. - Ders., Hildegard v. Bingen, Welt u. Mensch. Das Buch ,De Operatione Dei', Salzburg 1965. - Ders., Das Buch der Lebensverdienste, Salzburg 1972. - Ders., Hildegard v. Bingen (Textauswahl), Ölten 1978. - Hugo Schulz, Hildegard v. Bingen. Ursachen u. Behandlung der Krankheiten, Ulm 1955. Literatur Die Hildegard-Literatur ist in folgenden Bibliographien erfaßt: 1. Hildegard-Literatur bis 1887: Antonius van der Linde, Die Hs. der königlichen Landesbibl. in Wiesbaden, Wiesbaden 1 8 7 7 , 1 - 9 6 . 135 f. - Ergänzung: ADB 12 (1880) 4 0 7 - 4 0 8 . - F. Wilhelm Emil Roth, Z u r Bibliogr. der hl. Hildegardis, Meisterin des Klosters Rupertsberg bei Bingen O.S.B.: Quartalblätter des historischen Vereins f ü r das Großherzogtum Hessen (1886) 221-233; (1887) 7 8 - 8 8 . 2. Hildegard-Literatur von 1888-1969: Werner Lauter, Hildegard-Bibliogr. Wegweiser zur Hildegard-Lit., Alzey 1970 (Alzeyer Geschichtsblätter. Sonderh. 4). 3. Hildegard-Literatur vonl 970 bis 1982: Werner Lauter, HildegardBibliogr. T.2, Alzey 1983.

Udo Kern Hilfswerk -»Diakonie Hillel/Hillelschule

(Schammaj/Schammajschule)

1. Hillel und Schammaj S. 329)

1. Hillel und

2. Die „ H ä u s e r " (Bet Schammaj und Bet Hille!)

(Quellen/Literatur

Schammaj

Hillel und Schammaj bildeten das letzte der „Paare" (zugot), unter deren Führung die Pharisäer vor dem Aufkommen des rabbinischen Judentums (mHag 2,2 u.ö.) und der hillelitischen Patriarchendynastie standen. Der hillelitische Ursprung der Patriarchen war aber wohl ebenso fiktiv wie ihre Abstammung von -»David (Levi; Neusner, Pharisees I 375f). In den griechischen Quellen werden weder Hillel noch Schammaj erwähnt (mit „Pollio und Sameas" in Ant 15,3 sind beinahe sicher andere Personen gemeint; s. EJ 3,990). Der Bericht des Talmuds (bShab 15a), wonach Hillel um 30 v.Chr. Berühmtheit erlangt hat, stimmt mit den anderen frühen Quellen überein und ist wahrscheinlich im großen und ganzen korrekt. D a ß es überaus schwer ist, sich von den Persönlichkeiten Hilleis und Schammajs ein klares historisches Bild zu machen, liegt an der Bedeutung, die sie für die späteren Rabbinen gewannen. Urbach schreibt hierzu: „The total impression gairted from the traditional accounts of Hillel... is that of an ideal (sage)" (Talmudic Sage 128); er weicht aber der Beobachtung aus, daß diese Berichte nicht streng historisch verstanden sein wollen, sondern meistens als von späteren Lehrern komponierte Illustrationen, wie sich ein Rabbine benehmen sollte. Beispiele dafür gibt es reichlich. Besonders bekannt ist die Geschichte, wonach Schammaj einen angehenden Konvertiten, der die ganze Tora lernen wollte, während er „auf einem Fuße" stand, ungeduldig fortstieß, während Hillel ihn die -•„Goldene Regel" lehrte: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht" (bShab 31 a). In ihrer gegenwärtigen Form stellt die Geschichte nur den Kontrast dar zwischen der unangemessenen Behandlung von lästigen Personen (durch Schammaj) und der richtigen, geduldigen Art (Hilleis), sie Tugend zu lehren. Auch die tPea 4,10 und bKet 67 b erzählte Episode, wonach Hillel für einen ehemaligen Sklaven einen Diener gekauft und auch selbst die Rolle des Dieners übernommen habe, ist hauptsächlich als Illustration, der Weise lebe stets im Einklang mit den Forderungen der Schrift (hier Dtn 15,8), aufzufassen (Neusner, Pharisees I 229; ders., Politics to Piety 42; Urbach, EJ VIII 484, der die Episode offenbar wörtlich versteht).

Hillel/Hillclschule

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u. Sehr, der hl. Hildegard, 2 Bde., Regensburg 1854. - Aldegundis Führkötter, Hildegard v. Bingen, Briefwechsel, Salzburg 1965. - Dies., Quellen des Heils. Textauswahl, Salzburg 1982. - Peter Riethe, Hildegard v. Bingen, Naturkunde. Das Buch v. dem inneren Wesen der verschiedenen Naturen in der Schöpfung, Salzburg 2 1974. - Heinrich Schipperges, Hildegard v. Bingen, Heilkunde. Das Buch v. dem Grund u. Wesen u. der Heilung der Krankheiten, Salzburg 2 1961. - Ders., Hildegard v. Bingen, Welt u. Mensch. Das Buch ,De Operatione Dei', Salzburg 1965. - Ders., Das Buch der Lebensverdienste, Salzburg 1972. - Ders., Hildegard v. Bingen (Textauswahl), Ölten 1978. - Hugo Schulz, Hildegard v. Bingen. Ursachen u. Behandlung der Krankheiten, Ulm 1955. Literatur Die Hildegard-Literatur ist in folgenden Bibliographien erfaßt: 1. Hildegard-Literatur bis 1887: Antonius van der Linde, Die Hs. der königlichen Landesbibl. in Wiesbaden, Wiesbaden 1 8 7 7 , 1 - 9 6 . 135 f. - Ergänzung: ADB 12 (1880) 4 0 7 - 4 0 8 . - F. Wilhelm Emil Roth, Z u r Bibliogr. der hl. Hildegardis, Meisterin des Klosters Rupertsberg bei Bingen O.S.B.: Quartalblätter des historischen Vereins f ü r das Großherzogtum Hessen (1886) 221-233; (1887) 7 8 - 8 8 . 2. Hildegard-Literatur von 1888-1969: Werner Lauter, Hildegard-Bibliogr. Wegweiser zur Hildegard-Lit., Alzey 1970 (Alzeyer Geschichtsblätter. Sonderh. 4). 3. Hildegard-Literatur vonl 970 bis 1982: Werner Lauter, HildegardBibliogr. T.2, Alzey 1983.

Udo Kern Hilfswerk -»Diakonie Hillel/Hillelschule

(Schammaj/Schammajschule)

1. Hillel und Schammaj S. 329)

1. Hillel und

2. Die „ H ä u s e r " (Bet Schammaj und Bet Hille!)

(Quellen/Literatur

Schammaj

Hillel und Schammaj bildeten das letzte der „Paare" (zugot), unter deren Führung die Pharisäer vor dem Aufkommen des rabbinischen Judentums (mHag 2,2 u.ö.) und der hillelitischen Patriarchendynastie standen. Der hillelitische Ursprung der Patriarchen war aber wohl ebenso fiktiv wie ihre Abstammung von -»David (Levi; Neusner, Pharisees I 375f). In den griechischen Quellen werden weder Hillel noch Schammaj erwähnt (mit „Pollio und Sameas" in Ant 15,3 sind beinahe sicher andere Personen gemeint; s. EJ 3,990). Der Bericht des Talmuds (bShab 15a), wonach Hillel um 30 v.Chr. Berühmtheit erlangt hat, stimmt mit den anderen frühen Quellen überein und ist wahrscheinlich im großen und ganzen korrekt. D a ß es überaus schwer ist, sich von den Persönlichkeiten Hilleis und Schammajs ein klares historisches Bild zu machen, liegt an der Bedeutung, die sie für die späteren Rabbinen gewannen. Urbach schreibt hierzu: „The total impression gairted from the traditional accounts of Hillel... is that of an ideal (sage)" (Talmudic Sage 128); er weicht aber der Beobachtung aus, daß diese Berichte nicht streng historisch verstanden sein wollen, sondern meistens als von späteren Lehrern komponierte Illustrationen, wie sich ein Rabbine benehmen sollte. Beispiele dafür gibt es reichlich. Besonders bekannt ist die Geschichte, wonach Schammaj einen angehenden Konvertiten, der die ganze Tora lernen wollte, während er „auf einem Fuße" stand, ungeduldig fortstieß, während Hillel ihn die -•„Goldene Regel" lehrte: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht" (bShab 31 a). In ihrer gegenwärtigen Form stellt die Geschichte nur den Kontrast dar zwischen der unangemessenen Behandlung von lästigen Personen (durch Schammaj) und der richtigen, geduldigen Art (Hilleis), sie Tugend zu lehren. Auch die tPea 4,10 und bKet 67 b erzählte Episode, wonach Hillel für einen ehemaligen Sklaven einen Diener gekauft und auch selbst die Rolle des Dieners übernommen habe, ist hauptsächlich als Illustration, der Weise lebe stets im Einklang mit den Forderungen der Schrift (hier Dtn 15,8), aufzufassen (Neusner, Pharisees I 229; ders., Politics to Piety 42; Urbach, EJ VIII 484, der die Episode offenbar wörtlich versteht).

Hillel/Hillclschule

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u. Sehr, der hl. Hildegard, 2 Bde., Regensburg 1854. - Aldegundis Führkötter, Hildegard v. Bingen, Briefwechsel, Salzburg 1965. - Dies., Quellen des Heils. Textauswahl, Salzburg 1982. - Peter Riethe, Hildegard v. Bingen, Naturkunde. Das Buch v. dem inneren Wesen der verschiedenen Naturen in der Schöpfung, Salzburg 2 1974. - Heinrich Schipperges, Hildegard v. Bingen, Heilkunde. Das Buch v. dem Grund u. Wesen u. der Heilung der Krankheiten, Salzburg 2 1961. - Ders., Hildegard v. Bingen, Welt u. Mensch. Das Buch ,De Operatione Dei', Salzburg 1965. - Ders., Das Buch der Lebensverdienste, Salzburg 1972. - Ders., Hildegard v. Bingen (Textauswahl), Ölten 1978. - Hugo Schulz, Hildegard v. Bingen. Ursachen u. Behandlung der Krankheiten, Ulm 1955. Literatur Die Hildegard-Literatur ist in folgenden Bibliographien erfaßt: 1. Hildegard-Literatur bis 1887: Antonius van der Linde, Die Hs. der königlichen Landesbibl. in Wiesbaden, Wiesbaden 1 8 7 7 , 1 - 9 6 . 135 f. - Ergänzung: ADB 12 (1880) 4 0 7 - 4 0 8 . - F. Wilhelm Emil Roth, Z u r Bibliogr. der hl. Hildegardis, Meisterin des Klosters Rupertsberg bei Bingen O.S.B.: Quartalblätter des historischen Vereins f ü r das Großherzogtum Hessen (1886) 221-233; (1887) 7 8 - 8 8 . 2. Hildegard-Literatur von 1888-1969: Werner Lauter, Hildegard-Bibliogr. Wegweiser zur Hildegard-Lit., Alzey 1970 (Alzeyer Geschichtsblätter. Sonderh. 4). 3. Hildegard-Literatur vonl 970 bis 1982: Werner Lauter, HildegardBibliogr. T.2, Alzey 1983.

Udo Kern Hilfswerk -»Diakonie Hillel/Hillelschule

(Schammaj/Schammajschule)

1. Hillel und Schammaj S. 329)

1. Hillel und

2. Die „ H ä u s e r " (Bet Schammaj und Bet Hille!)

(Quellen/Literatur

Schammaj

Hillel und Schammaj bildeten das letzte der „Paare" (zugot), unter deren Führung die Pharisäer vor dem Aufkommen des rabbinischen Judentums (mHag 2,2 u.ö.) und der hillelitischen Patriarchendynastie standen. Der hillelitische Ursprung der Patriarchen war aber wohl ebenso fiktiv wie ihre Abstammung von -»David (Levi; Neusner, Pharisees I 375f). In den griechischen Quellen werden weder Hillel noch Schammaj erwähnt (mit „Pollio und Sameas" in Ant 15,3 sind beinahe sicher andere Personen gemeint; s. EJ 3,990). Der Bericht des Talmuds (bShab 15a), wonach Hillel um 30 v.Chr. Berühmtheit erlangt hat, stimmt mit den anderen frühen Quellen überein und ist wahrscheinlich im großen und ganzen korrekt. D a ß es überaus schwer ist, sich von den Persönlichkeiten Hilleis und Schammajs ein klares historisches Bild zu machen, liegt an der Bedeutung, die sie für die späteren Rabbinen gewannen. Urbach schreibt hierzu: „The total impression gairted from the traditional accounts of Hillel... is that of an ideal (sage)" (Talmudic Sage 128); er weicht aber der Beobachtung aus, daß diese Berichte nicht streng historisch verstanden sein wollen, sondern meistens als von späteren Lehrern komponierte Illustrationen, wie sich ein Rabbine benehmen sollte. Beispiele dafür gibt es reichlich. Besonders bekannt ist die Geschichte, wonach Schammaj einen angehenden Konvertiten, der die ganze Tora lernen wollte, während er „auf einem Fuße" stand, ungeduldig fortstieß, während Hillel ihn die -•„Goldene Regel" lehrte: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht" (bShab 31 a). In ihrer gegenwärtigen Form stellt die Geschichte nur den Kontrast dar zwischen der unangemessenen Behandlung von lästigen Personen (durch Schammaj) und der richtigen, geduldigen Art (Hilleis), sie Tugend zu lehren. Auch die tPea 4,10 und bKet 67 b erzählte Episode, wonach Hillel für einen ehemaligen Sklaven einen Diener gekauft und auch selbst die Rolle des Dieners übernommen habe, ist hauptsächlich als Illustration, der Weise lebe stets im Einklang mit den Forderungen der Schrift (hier Dtn 15,8), aufzufassen (Neusner, Pharisees I 229; ders., Politics to Piety 42; Urbach, EJ VIII 484, der die Episode offenbar wörtlich versteht).

Hillel/Hillelschule

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1.1. Hillel. Diese Überlegungen dürfen beim folgenden kurzen Überblick über Hilleis „Leben und Werk" (d. h. über die Berichte zu diesem Thema) nicht aus dem Auge verloren werden. Hillel soll als junger Mann von Babylonien nach Jerusalem gekommen sein. Er soll palästinische Lehrer (Schemaja und Abtaljon) gehabt haben, wird aber auch so beschrieben, als wäre er bereits vor dem Verlassen Babyloniens voll ausgebildet gewesen (yPes 6,1; 33 a; Sifra Tazriach 9,16; tNeg 1,16). Seine führende Stellung soll er an dem Tag erobert haben, an dem das Schlachten des Passalammes auf einen Sabbat fiel und nur er die daraus entstandenen Probleme zu lösen vermochte (yPes ebd.; tPes 4,13; pPes 66ab). In diesem Zusammenhang wird ihm auch die älteste bekannte Liste von sieben erlaubten hermeneutischen Regeln zur Schriftauslegung (middot; -»Midrasch) zugeschrieben (s. auch Sifra, Einleitung; tSan 7,11). Die berühmteste auf Hillel zurückgeführte Rechtsverordnung ist der prozbül (? griech. itQÖQ ßouXtj): Da man nur schwer Geld borgen konnte, weil die Verleiher befürchteten, daß das alle sieben Jahre fällige Erlaßjahr (Dtn 15,1-2.10-11) die Eintreibung unmöglich machen würde, ordnete Hillel an, daß die Gläubiger sich eine Erklärung vom Gerichtshof bestätigen lassen konnten, die ihnen das Recht zusicherte, auch in späteren Jahren ihre Forderungen einzuziehen (Sif Dev 113; mShevi 10,2—4). Da allerdings kaum vorstellbar ist, daß sich dieses Problem nicht schon vor dem 1. Jh. v. Chr. gestellt hätte, ist heute schwer festzustellen, worin genau die Hillel zugeschriebene Neuerung bestand (s. die Kommentare sowie Neusner, Pharisees I, 217-220; 222f). Eine ähnliche Anordnung, durch die eine mißbräuchliche Anwendung von Lev 25,30 verhindert werden sollte, ist in mAr 9,4 überliefert (Neusner, ebd. 214-216). Bemerkenswert ist, daß viele der auf Hillel zurückgeführten Rechtsverordnungen bzw. Entscheidungen einen klaren sozialen oder ethischen Zweck hatten. Hilleis wurde hauptsächlich als des Vaters unzähliger ethischer Grundsätze gedacht; im Mischnatraktat -> Avot werden ihm mehr Sprüche zugeschrieben als jeder anderen Person. Die von ihm überlieferten Lehren stehen in Einklang mit den Berichten über sein Leben; beide Komplexe sind auf die ethischen Merkmale und Anliegen des idealen Gelehrten/Weisen ausgerichtet und bedienen sich der Gestalt Hillels, um diese Ethik zu veranschaulichen und ihre moralische Autorität zu steigern. Unter dem Namen Hillels sind u. a. folgende wichtige Prinzipien rabbinischer Sozial- und Individualethik überliefert: „Sondere dich nicht von der Gemeinde ab" (Av 2,4). „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich? Wenn ich nur für mich bin, was bin ich dann?" (Av 1,14). „Sei ein Schüler Aarons, den Frieden liebend und dem Frieden nachjagend" (Av 1,12). Im allgemeinen wurde Hillels als des idealen Mannes der -»Tora gedacht. Nach bYom 35 b ließ er sich selbst durch seine Armut nicht vom Torastudium abhalten; als er einmal das Eintrittsgeld für das Lchrhaus nicht aufbringen konnte, verfolgte er die Worte seiner Lehrer durch ein Dachfenster und wurde dabei „drei Ellen hoch mit Schnee bedeckt", als sich plötzlich ein Schneesturm erhob. In bSuk 20 a wird Hillel mit ->Esra verglichen: Beide sollen aus Babylonien gekommen sein, um die Tora zu „begründen". Dazu paßt, daß die Schechina auf ihm ruhen sollte, wäre sein Zeitalter dessen nicht unwürdig gewesen (bSot 48 b). Wie Mose selbst, soll Hillel 120 Jahre gelebt (SifDev 357) und Israel in den letzten vierzig Jahren seines Lebens geführt haben; dasselbe wird übrigens auch von den beiden anderen herausragenden Personen der frührabbinischen Zeit, ->Jochanan ben Zakkaj und -»Akiba ben Josef, berichtet. Von Jochanan, dem Begründer der rabbinischen Bewegung in Jabne, heißt es außerdem, er sei Hillels Schüler gewesen (mAv 2,8); durch diese Behauptung sicherten sich einerseits die Rabbinen ihren Platz in der Geschichte der Tora; andererseits macht sie die Rolle Hillels als einer in diesem Zusammenhang zur Legitimierung befugten Autorität deutlich. 1.2. Schammaj. Über Schammaj ist weit weniger überliefert als über Hillel; in vielen Berichten dient er lediglich als „Hintergrund" für Hillel. Oft wird er unvorteilhaft dargestellt, was vor allem auf die spätere Vorherrschaft der Hilleliten zurückzuführen ist. Schammaj soll in einer vergleichbaren Situation mitunter unfreundlicher oder ungeduldi-

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Hillel/Hillelschule

ger gehandelt haben als Hillel (s. z.B. bShab 31a); das widerspricht zwar einem unter Schammajs Namen überlieferten Spruch, man solle alle Menschen mit freundlichem Gesicht empfangen (mAv 1,15), doch wird dieser Widerspruch in der späteren Literatur nicht beachtet. Schammaj soll bisweilen ein so extrem hohes M a ß an Gehorsam gegenüber dem Gesetz gefordert haben, d a ß man seine Ansicht nicht teilen konnte (s. z. B. mSuk 2,8; bYom 77 b). An einigen Stellen wird sogar darauf hingewiesen, daß selbst seine eigenen Anhänger sich seiner Meinung nicht anschließen mochten (mEd 1,7-11; s. auch 1,1-3). Allgemein kann man sagen, daß Schammaj ein Zeitgenosse Hillels war, der nie solches Ansehen und solche Autorität genoß wie sein Gegenüber, dessen aber dennoch gedacht wurde, weil seine Ansichten als bewahrungswürdig galten (mEd 1,4). Infolge seiner im Vergleich zu Hillel untergeordneten Stellung und der Benennung der beiden „Lehrhäuser" der frührabbinischen Zeit nach Hillel und Schammaj, ist Schammajs persönliches Bild im Gedächtnis des Volkes immer mehr verblaßt. Nur das nach ihm benannte „Haus Schammajs" konnte ihn überhaupt vor der Vergessenheit bewahren. 2. Die „Häuser"

(Bit Schammaj

und Bét Hillel)

Von Hillel und Schammaj sollen zwei große Lehrhäuser hervorgegangen sein; ein riesiger Teil des frühen rabbinischen Schrifttums bietet sich heute in der Form von halachischen Streitgesprächen (-»-Halacha) zwischen diesen beiden Parteien dar. Zumeist werden diese Streitgespräche sehr ausgewogen präsentiert, d. h. jedes „ H a u s " hat ausreichend Gelegenheit, seinen Standpunkt darzulegen; gewöhnlich haben dabei die Schammaiten zuerst das Wort. Da sich schließlich die Hilleliten durchsetzen und sogar das Bild prägen konnten, das von Schammaj der Nachwelt überliefert wurde, läßt diese sorgfältige Ausgewogenheit darauf schließen, daß ein großer Teil dieses Korpus sehr alt ist, d . h . aus einer Zeit stammt, in der die beiden Gruppen sich noch als geachtete Gegner behandelten (Neusner, PhariscesII, 1 - 5 ; aber s. ders.,Evidenceofthe Mishnah, 20f). Da bereits im späten 1. Jh. n. Chr. von Auseinandersetzungen zwischen den Lehrhäusern berichtet wird (mNid 5,9; tOhol 5,11; tAr 4,5), müssen sich die beiden Gruppen noch vor der Eroberung Jerusalems gebildet haben; gegen Ende des 1. Jh. oder nur sehr kurz danach begann dann der Aufstieg der Schule Hillels und der Niedergang der Schule Schammajs. Andere rabbinische Traditionen wissen von ausgedehnten Kolloquien zwischen den beiden Gruppen, bei denen jede versuchte, die eigene Meinung zu verteidigen und die Meinung der anderen zu widerlegen. Gelegentlich wurden auch Fragen erörtert, die nicht das Gesetz betrafen: „Zwei und ein halbes Jahr stritten die Schule Schammajs und die Schule Hillels: eine sagte, es wäre für den Menschen besser, nicht erschaffen worden zu sein, als daß er erschaffen worden ist, und eine sagte, es sei für den Menschen besser, daß er erschaffen worden ist, als daß er nicht erschaffen worden wäre. Darauf stimmten sie ab und kamen überein, daß es für den Menschen zwar besser wäre, nicht erschaffen worden zu sein, nachdem er aber erschaffen worden ist, untersuche er seine Handlungen" (bEr 13b). Die Entstehung größerer Parteigruppierungen innerhalb einer Bewegung, die den Anspruch erhob, die Lehren Moses getreu und sorgfältig weiterzugeben - Hillel sagte, ein M a n n müsse sogar die Worte seines Lehrers verwenden (mEd 1,3) - , war für die späteren Rabbinen eindeutig eine Quelle des Unbehagens; die Standarderklärung für die Z u n a h m e der Kontroversen war, daß die Schüler Hillels und Schammajs ihren Lehrern nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt hätten (tHag 2,9; s. Safrai: EJ 4,739). So wurde die Schuld an der wachsenden Zwietracht zwischen den Schulen nicht Hillel und Schammaj persönlich angelastet; zwar existieren von denselben späteren Rabbinen überlieferte Berichte über Kontroversen zwischen Hillel und Schammaj selbst, doch daraus wurden keinerlei Schlüsse gezogen. Spätere Schilderungen stellen die Beziehungen zwischen den beiden Gruppen widersprüchlich dar. Z.B. berichtet mYev 1,4 von Differenzen über einige Bestimmungen des Gesetzes zur Schwagerehe, so d a ß jede Schule Kinder aus den Ehen, die von der jeweils

Hillel/Hillelschule

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anderen Seite für zulässig erklärt wurden, für Bastarde hätte halten müssen; dennoch ließ sich „die Schule Schammajs nicht abhalten, Frauen aus der Schule Hillels zu h e i r a t e n " u n d umgekehrt. An einer anderen Stelle wird berichtet: „ D a steckten sie ein Schwert im L e h r h a u s e a u f . . . An diesem T a g e saß Hillel vor S c h a m m a j gebeugt, wie irgendein Schüler; und schwer w a r dieser T a g für Israel, wie der T a g , an dem das goldene Kalb g e m a c h t w u r d e " (bShab 1 7 a ; s. auch yShab 1,7; 3 b). Diese Geschichte spiegelt einerseits die L o y a l i t ä t der späteren Generationen zu Hillel wider, sie läßt andererseits aber auch verm u t e n , d a ß die Dinge einst anders w a r e n und der Wechsel nicht mühelos eintrat. D a ß sich schließlich die Hilleliten durchsetzen konnten, wird immer wieder auf eine „ H i m m e l s s t i m m e " ( b a t h - q o l ) zurückgeführt, die laut verkündete: „(Die Worte) der einen und der anderen sind W o r t e des lebendigen Gottes; jedoch ist die H a l a c h a nach der Schule Hillels zu entscheiden" (bEr 13 b; ySot 3 , 4 ; 19 a). Diese Stimme soll in J a b n e gehört w o r d e n sein, d . h . kurz nach 7 0 . Der T a l m u d (bEr ebd.) bietet nur homiletische Erklärungen für den Sieg der Hilleliten: Sie w a r e n eben verträglich und bescheiden und ließen stets die Schammaiten zuerst zu W o r t e k o m m e n . Auffallend ist jedoch auch, d a ß bei halachischen Auseinandersetzungen die Schammaiten im allgemeinen den strengeren Standp u n k t vertraten; m E d , Kap. 4 enthält daher eine Liste der Ausnahmen von dieser allgemeinen Regel. Möglicherweise w a r also die Schule Schammajs wegen ihrer konservativen R i c h t u n g einfach weniger fähig, sich den tiefgreifenden Veränderungen nach 7 0 und 135 n . C h r . anzupassen; Hypothesen dieser A r t sind allerdings nicht zu beweisen und gehören in den Bereich der Spekulation (s. Safrai, E J IV,739f; Neusner, Pharisees 111,271). Eine kabbalistische Tradition ( Z o h a r , R a ' j ä m ' h e m n ä 111,245 a; - » K a b b a l a ) lehrt, d a ß in der K o m m e n d e n Welt die H a l a c h a wieder nach der Schule Schammajs entschieden w ü r d e . So könne bei der endzeitlichen Wiederherstellung aller Dinge auch das ursprünglic h e Gleichgewicht zwischen den beiden Schulen wiederhergestellt werden. Quellen Jacob Neusner, The Rabbinic Traditions about the Pharisees before70, Leiden 1971, enthält das gesamte Quellenmaterial in englischer Übersetzung. Israel Konowitz, Bet Smma'j übet Hillel, Jerusalem 1965, enthält sämtliche Quellen zu den beiden Schulen in den Originalsprachen; das Werk zeigt allerdings kein Interesse an literarischer und historischer Kritik und ist daher mit Vorsicht zu gebrauchen. Literatur Viele der in diesem Literaturverzeichnis angeführten Werke sind in ihrer Haltung zu den Quellen unkritisch und müssen daher im Sinne des zweiten Abschnitts dieses Artikels korrigiert werden. Sie sind daher erwähnt, um den Zugang zu den Quellen zu erleichtern und die vielfachen (historischen und homiletischen) Verwendungsmöglichkeiten des Materials aufzuzeigen. Wilhelm Bacher, Art. Hillel: J E 6 (1906) 3 9 7 - 4 0 0 . - Simon Dubnow, Weltgesch. des jüd. Volkes, Berlin, II 1 9 2 5 , 3 1 3 - 3 2 1 . - I s m a r Elbogen, Die Überlieferung von Hillel: FS Leo Baeck, Berlin 1938, 6 7 - 7 8 . - H. A. Fischel, Studies in cynicism and the ancient near east: Religions in Antiquity (Goodenough Memorial Volume), Leiden 1 9 7 0 , 3 7 2 - 4 1 1 . - David Flusser, Hillel's Self-awareness and Jesus: Immanuel 4 (1974) 3 1 - 3 6 . - E . M . Gershfield, Hillel, Shammai, and the three proselytes: CJud 21 (1967) 2 9 - 3 9 . - Louis Ginzberg, The Significance of the Halakhah for Jewish History: On Jewish Law and Lore, Cleveland/Philadelphia 1962, 7 7 - 1 2 3 . - Israel Goldberger, Sources concerning Hillel's rise to the Nesiut [Hebr]: FS Judah Blau, Budapest 1926, 6 8 - 7 6 . - Alexander Guttmann, Hillelites and Shammaites - A Clarification: HUCA 28 (1957) 1 1 5 - 1 2 6 . - Ders., The end of the „houses": FS Abraham Weiss, New York 1964, 8 9 - 1 0 5 . - M . D . Herr, Art. Shammai: E J 14 (1972) 1 2 9 1 - 1 2 9 2 . - Joachim Jeremias, Paulus als Hillelit: Neotestamentica et Semitica. FS M . 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Himmelfahrt Christi I

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I. Neues Testament Das in den Ostererfahrungen wurzelnde urchristliche Erhöhungskerygma hat im Neuen Testament verschiedenartigen Ausdruck gefunden. 1. Es gibt Texte, in denen vorausgesetzt wird, daß Jesus eine himmlische Vollmachtstellung innehat, ohne daß in ihnen aber etwas darüber gesagt wird, wie Jesus zu dieser Herrschaftsstellung gelangt ist. Texte dieser Art sind z.B. der maranatha-Ruf (I Kor 16,22; Apk 22,20; vgl. Vielhauer 160; Schnackenburg 254; Thüsing [SBS 42] 47), die vorpaulinische Glaubensformel von Tod und Auferweckung Jesu (I Kor 15,3-5; vgl. Thüsing, ebd. 45) und die Logienquelle Q (vgl. Thüsing, ebd. 55-66). 2. Es gibt Texte, in denen zwar ebenfalls weder ein unsichtbarer noch ein sichtbarer Erhöhungsbzw. Himmelfahrtsvorgang beschrieben wird, in denen aber doch ein mit der Auferweckung Jesu identischer Einsetzungs- bzw. Erhöhungsakt oder das Innehaben einer gegenwärtigen himmlischen Herrschaftsstellung ausdrücklich genannt ist. 2.1. Der Einsetzungsakt kommt z.B. Rom 1,4; Eph 1,20-22; 4 , 2 - 6 und im Hebr zur Sprache. Der Hebr entfaltet eine Christologie, in der es heißt, daß Jesus als der Sohn Gottes und ewige Hohepriester die Himmel durchschritten hat (4,14), erhöht wurde (7,26) und eingetreten ist in das himmlische Heiligtum (6,20; 9,12.24). Wie 13,20 erkennen läßt, sind für den Verfasser diese Aussagen gleichbedeutend mit dem Bekenntnis zur Auferweckung Jesu durch Gott. An einigen Stellen spricht er von einem Inthronisationsakt, so z.B. 1,3.5; 2,9; 5,5; 8,1; 10,12; 12,2. Die Gebundenheit dieser Aussagen an solche alttestamentliche Zitate, die bereits in der ältesten Christologie herangezogen wurden, um die Auferweckung Jesu als Erhöhung zu bezeugen (Ps 2: Rom 1,3 f; Ps 8:1 Kor 15,27; Ps 110: Rom 8,34), läßt erkennen: a) Der Verfasser hat vorgeprägte Uberlieferung aufgegriffen, b) Sie wurzelt im Auferweckungskerygma. c) Obwohl die Auferweckung nicht ausdrücklich genannt wird, ist sie doch als Inthronisationsgeschehen gemeint (anders Bertram: ThWNT 8,607). 2.2. Ausdrückliche Erhöhungstermini kennzeichnen das Geschehen in Phil 2,9: „Darum hat Gott ihn auch erhöht". Bereits im vorpaulinischen Christuslied schloß sich die Erhöhungsaussage unmittelbar an die Erwähnung des Todes Jesu an, ohne daß die Auferweckung genannt war. Sie ist aber dennoch mitgemeint (so auch Vielhauer 169f; Lohfink 85; anders Georgi 292). Durch die Auferweckung gilt Jesus als erhöht und eingesetzt als Herrscher über alle Mächte. - Auch in Act 2,33; 5,31 ist von Lukas zur Gestaltung zweier Petrusreden jene Form des Kerygmas aufgenommen worden, in dem die Auferweckung Jesu zugleich als Erhöhung gilt. Nach vorherrschender Meinung hat erst Lukas die traditionelle urchristliche Verständnisweise gemäß seiner eigenen Sicht (s. u. Abschn. 4) so uminterpretiert, daß für ihn nun die Erhöhung als die zeitlich von der Auferweckung unterschiedene Himmelfahrt gilt (zu Joh 3,14; 12,32 s.u. Abschn. 3). 2.3. Eine gegenwärtige Herrschaftsstellung Jesu im Himmel, ohne Erwähnung eines Erhöhungsbzw. Himmelfahrtsvorgangs ist z.B. I Thess 1,10; Rom 8,34; 14,9; Kol 3,1; Mt 28,18.20 bezeugt. Die Auferweckung selbst gilt hier als das Geschehen, durch das sich die Erhöhung vollzog. 3. Es gibt Texte, die von einer Erhöhung bzw. Himmelfahrt Jesu als einem unsichtbaren Vorgang sprechen, in denen aber im Unterschied zu der soeben erwähnten Textgruppe von einem „Hinaufsteigen", „Gehen" oder „Aufgenommenwerden" die Rede ist. 3.1. Dazu gehört z.B. Eph 4,10, wo es gemäß frühjüdischer Uminterpretation von Ps 67,19

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Himmelfahrt Christi I

Traditions about the Pharisees before 70, Leiden, I 1971, 185-340; II 1 - 5 et passim; III, 320-368 (Lit.). - Ders., From Politics to Piety, Englewood Cliffs 1973,13-44.100-103. - Ders., Judaism: The Evidence of the Mishnah, Chicago/London 1981,19-21.293 - 298. - Jakob Petuchowski, Do This in Remembrance of Me. 1 Cor 1 1 : 2 4 : JBL 76 (1957) 293-298. - Shmuel Safrai, Art. Bet Hillel and Bet Shammai: EJ 4 (1971) 737-741. - Isaiah Sonne, The Schools of Shammai and Hillel seen from within: FS LouisGinzberg, New York 1945,275 - 2 9 1 . - J o h n Townsend, 1 Corinthians3 : 15 and the School of Shammai: HThR 61 (1968) 500-504. - E.E. Urbach, The Talmudic Sage. Character and Authority: Jewish Society through the Ages, New York 1971,116-147, bes. 124-128. - Ders., Art. Hillel (the Eider): EJ 8 (1971) 482-485 = Elb 14 (537-540). - Solomon Zeitlin, The Rise and Fall of the Judaean State, II, Philadelphia 1967, 100-118. Robert Goldenberg Himmel -»'Weltbild Himmelfahrt Christi I. Neues Testament II. Kirchengeschichtlich/Systematisch-theologisch

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I. Neues Testament Das in den Ostererfahrungen wurzelnde urchristliche Erhöhungskerygma hat im Neuen Testament verschiedenartigen Ausdruck gefunden. 1. Es gibt Texte, in denen vorausgesetzt wird, daß Jesus eine himmlische Vollmachtstellung innehat, ohne daß in ihnen aber etwas darüber gesagt wird, wie Jesus zu dieser Herrschaftsstellung gelangt ist. Texte dieser Art sind z.B. der maranatha-Ruf (I Kor 16,22; Apk 22,20; vgl. Vielhauer 160; Schnackenburg 254; Thüsing [SBS 42] 47), die vorpaulinische Glaubensformel von Tod und Auferweckung Jesu (I Kor 15,3-5; vgl. Thüsing, ebd. 45) und die Logienquelle Q (vgl. Thüsing, ebd. 55-66). 2. Es gibt Texte, in denen zwar ebenfalls weder ein unsichtbarer noch ein sichtbarer Erhöhungsbzw. Himmelfahrtsvorgang beschrieben wird, in denen aber doch ein mit der Auferweckung Jesu identischer Einsetzungs- bzw. Erhöhungsakt oder das Innehaben einer gegenwärtigen himmlischen Herrschaftsstellung ausdrücklich genannt ist. 2.1. Der Einsetzungsakt kommt z.B. Rom 1,4; Eph 1,20-22; 4 , 2 - 6 und im Hebr zur Sprache. Der Hebr entfaltet eine Christologie, in der es heißt, daß Jesus als der Sohn Gottes und ewige Hohepriester die Himmel durchschritten hat (4,14), erhöht wurde (7,26) und eingetreten ist in das himmlische Heiligtum (6,20; 9,12.24). Wie 13,20 erkennen läßt, sind für den Verfasser diese Aussagen gleichbedeutend mit dem Bekenntnis zur Auferweckung Jesu durch Gott. An einigen Stellen spricht er von einem Inthronisationsakt, so z.B. 1,3.5; 2,9; 5,5; 8,1; 10,12; 12,2. Die Gebundenheit dieser Aussagen an solche alttestamentliche Zitate, die bereits in der ältesten Christologie herangezogen wurden, um die Auferweckung Jesu als Erhöhung zu bezeugen (Ps 2: Rom 1,3 f; Ps 8:1 Kor 15,27; Ps 110: Rom 8,34), läßt erkennen: a) Der Verfasser hat vorgeprägte Uberlieferung aufgegriffen, b) Sie wurzelt im Auferweckungskerygma. c) Obwohl die Auferweckung nicht ausdrücklich genannt wird, ist sie doch als Inthronisationsgeschehen gemeint (anders Bertram: ThWNT 8,607). 2.2. Ausdrückliche Erhöhungstermini kennzeichnen das Geschehen in Phil 2,9: „Darum hat Gott ihn auch erhöht". Bereits im vorpaulinischen Christuslied schloß sich die Erhöhungsaussage unmittelbar an die Erwähnung des Todes Jesu an, ohne daß die Auferweckung genannt war. Sie ist aber dennoch mitgemeint (so auch Vielhauer 169f; Lohfink 85; anders Georgi 292). Durch die Auferweckung gilt Jesus als erhöht und eingesetzt als Herrscher über alle Mächte. - Auch in Act 2,33; 5,31 ist von Lukas zur Gestaltung zweier Petrusreden jene Form des Kerygmas aufgenommen worden, in dem die Auferweckung Jesu zugleich als Erhöhung gilt. Nach vorherrschender Meinung hat erst Lukas die traditionelle urchristliche Verständnisweise gemäß seiner eigenen Sicht (s. u. Abschn. 4) so uminterpretiert, daß für ihn nun die Erhöhung als die zeitlich von der Auferweckung unterschiedene Himmelfahrt gilt (zu Joh 3,14; 12,32 s.u. Abschn. 3). 2.3. Eine gegenwärtige Herrschaftsstellung Jesu im Himmel, ohne Erwähnung eines Erhöhungsbzw. Himmelfahrtsvorgangs ist z.B. I Thess 1,10; Rom 8,34; 14,9; Kol 3,1; Mt 28,18.20 bezeugt. Die Auferweckung selbst gilt hier als das Geschehen, durch das sich die Erhöhung vollzog. 3. Es gibt Texte, die von einer Erhöhung bzw. Himmelfahrt Jesu als einem unsichtbaren Vorgang sprechen, in denen aber im Unterschied zu der soeben erwähnten Textgruppe von einem „Hinaufsteigen", „Gehen" oder „Aufgenommenwerden" die Rede ist. 3.1. Dazu gehört z.B. Eph 4,10, wo es gemäß frühjüdischer Uminterpretation von Ps 67,19

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Himmelfahrt Christi I

Traditions about the Pharisees before 70, Leiden, I 1971, 185-340; II 1 - 5 et passim; III, 320-368 (Lit.). - Ders., From Politics to Piety, Englewood Cliffs 1973,13-44.100-103. - Ders., Judaism: The Evidence of the Mishnah, Chicago/London 1981,19-21.293 - 298. - Jakob Petuchowski, Do This in Remembrance of Me. 1 Cor 1 1 : 2 4 : JBL 76 (1957) 293-298. - Shmuel Safrai, Art. Bet Hillel and Bet Shammai: EJ 4 (1971) 737-741. - Isaiah Sonne, The Schools of Shammai and Hillel seen from within: FS LouisGinzberg, New York 1945,275 - 2 9 1 . - J o h n Townsend, 1 Corinthians3 : 15 and the School of Shammai: HThR 61 (1968) 500-504. - E.E. Urbach, The Talmudic Sage. Character and Authority: Jewish Society through the Ages, New York 1971,116-147, bes. 124-128. - Ders., Art. Hillel (the Eider): EJ 8 (1971) 482-485 = Elb 14 (537-540). - Solomon Zeitlin, The Rise and Fall of the Judaean State, II, Philadelphia 1967, 100-118. Robert Goldenberg Himmel -»'Weltbild Himmelfahrt Christi I. Neues Testament II. Kirchengeschichtlich/Systematisch-theologisch

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I. Neues Testament Das in den Ostererfahrungen wurzelnde urchristliche Erhöhungskerygma hat im Neuen Testament verschiedenartigen Ausdruck gefunden. 1. Es gibt Texte, in denen vorausgesetzt wird, daß Jesus eine himmlische Vollmachtstellung innehat, ohne daß in ihnen aber etwas darüber gesagt wird, wie Jesus zu dieser Herrschaftsstellung gelangt ist. Texte dieser Art sind z.B. der maranatha-Ruf (I Kor 16,22; Apk 22,20; vgl. Vielhauer 160; Schnackenburg 254; Thüsing [SBS 42] 47), die vorpaulinische Glaubensformel von Tod und Auferweckung Jesu (I Kor 15,3-5; vgl. Thüsing, ebd. 45) und die Logienquelle Q (vgl. Thüsing, ebd. 55-66). 2. Es gibt Texte, in denen zwar ebenfalls weder ein unsichtbarer noch ein sichtbarer Erhöhungsbzw. Himmelfahrtsvorgang beschrieben wird, in denen aber doch ein mit der Auferweckung Jesu identischer Einsetzungs- bzw. Erhöhungsakt oder das Innehaben einer gegenwärtigen himmlischen Herrschaftsstellung ausdrücklich genannt ist. 2.1. Der Einsetzungsakt kommt z.B. Rom 1,4; Eph 1,20-22; 4 , 2 - 6 und im Hebr zur Sprache. Der Hebr entfaltet eine Christologie, in der es heißt, daß Jesus als der Sohn Gottes und ewige Hohepriester die Himmel durchschritten hat (4,14), erhöht wurde (7,26) und eingetreten ist in das himmlische Heiligtum (6,20; 9,12.24). Wie 13,20 erkennen läßt, sind für den Verfasser diese Aussagen gleichbedeutend mit dem Bekenntnis zur Auferweckung Jesu durch Gott. An einigen Stellen spricht er von einem Inthronisationsakt, so z.B. 1,3.5; 2,9; 5,5; 8,1; 10,12; 12,2. Die Gebundenheit dieser Aussagen an solche alttestamentliche Zitate, die bereits in der ältesten Christologie herangezogen wurden, um die Auferweckung Jesu als Erhöhung zu bezeugen (Ps 2: Rom 1,3 f; Ps 8:1 Kor 15,27; Ps 110: Rom 8,34), läßt erkennen: a) Der Verfasser hat vorgeprägte Uberlieferung aufgegriffen, b) Sie wurzelt im Auferweckungskerygma. c) Obwohl die Auferweckung nicht ausdrücklich genannt wird, ist sie doch als Inthronisationsgeschehen gemeint (anders Bertram: ThWNT 8,607). 2.2. Ausdrückliche Erhöhungstermini kennzeichnen das Geschehen in Phil 2,9: „Darum hat Gott ihn auch erhöht". Bereits im vorpaulinischen Christuslied schloß sich die Erhöhungsaussage unmittelbar an die Erwähnung des Todes Jesu an, ohne daß die Auferweckung genannt war. Sie ist aber dennoch mitgemeint (so auch Vielhauer 169f; Lohfink 85; anders Georgi 292). Durch die Auferweckung gilt Jesus als erhöht und eingesetzt als Herrscher über alle Mächte. - Auch in Act 2,33; 5,31 ist von Lukas zur Gestaltung zweier Petrusreden jene Form des Kerygmas aufgenommen worden, in dem die Auferweckung Jesu zugleich als Erhöhung gilt. Nach vorherrschender Meinung hat erst Lukas die traditionelle urchristliche Verständnisweise gemäß seiner eigenen Sicht (s. u. Abschn. 4) so uminterpretiert, daß für ihn nun die Erhöhung als die zeitlich von der Auferweckung unterschiedene Himmelfahrt gilt (zu Joh 3,14; 12,32 s.u. Abschn. 3). 2.3. Eine gegenwärtige Herrschaftsstellung Jesu im Himmel, ohne Erwähnung eines Erhöhungsbzw. Himmelfahrtsvorgangs ist z.B. I Thess 1,10; Rom 8,34; 14,9; Kol 3,1; Mt 28,18.20 bezeugt. Die Auferweckung selbst gilt hier als das Geschehen, durch das sich die Erhöhung vollzog. 3. Es gibt Texte, die von einer Erhöhung bzw. Himmelfahrt Jesu als einem unsichtbaren Vorgang sprechen, in denen aber im Unterschied zu der soeben erwähnten Textgruppe von einem „Hinaufsteigen", „Gehen" oder „Aufgenommenwerden" die Rede ist. 3.1. Dazu gehört z.B. Eph 4,10, wo es gemäß frühjüdischer Uminterpretation von Ps 67,19

Himmelfahrt Christi I

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(LXX) heißt, daß Christus in einem unsichtbaren Triumphzug zu himmlischer Herrschaft aufstieg, die Mächte überwand und Gaben austeilte. - In ganz ähnlicher Weise sagt Kol 2,15, daß Gott die besiegten Mächte hinter Christus einherziehen ließ, wie der römische Kaiser die Kriegsgefangenen hinter dem Triumphator (vgl. Schweizer [EKK12] 117). - In I Pctr 3 , 1 8 - 2 2 ist die Rede davon, daß der Auferstandene vor seinem himmlischen Herrschaftsantritt zu den Geistern im Gefängnis ging und ihnen predigte. Trotz vieler nicht hinreichend geklärter Fragen (vgl. Vögtle, Osterglauben 21 f; Brox [EKK 21] 173-180) ist doch so viel deutlich, daß älteres Überlieferungsgut aus verschiedenen Traditionsbereichen aufgenommen worden ist und daß Auferstehen, den Geistern Predigen, zum Himmel Gehen und Eingesetztwerden in die Herrschaft als ein zusammenhängender Vorgang verstanden ist, der nur wegen des mythisch-kosmischen Weltbildes in verschiedene Akte gegliedert erscheint. Die enge Zusammengehörigkeit von Auferweckung und Verherrlichung Christi durch Gott drückt der Verfasser auch 1,21 aus, wo er von Gott spricht, der Christus „von den Toten auferweckt und ihm Herrlichkeit gegeben" habe. - Der sehr alte hymnenartige Text I Tim 3,16 bekennt von Christus, er sei „aufgenommen in Herrlichkeit." Obwohl das Verbum ävaXaßßävEiv z. B. II Reg 2; Sir 48 f; Act 1 sichtbare Entrückung kennzeichnet (s. u. Abschn. 4), ist hier doch wegen des Kontextes und der erwähnten ¿¿£a ein „unsichtbares, dem himmlischen Bereich angehörendes Geschehen" gemeint (Kremer: EWNT 1,200; ähnlich Lohfink 89). In der Christologie des Joh nehmen die Aussagen von der Erhöhung, vom Dahin- bzw. Hinaufgehen und Verherrlichtwerden eine zentrale Stellung ein. Es begegnet eine Fülle von Begriffen und Verben aus verschiedenen Traditions- und Vorstellungsbereichen; aber innerhalb des Joh sind sie in ein verhältnismäßig einheitliches christologisches Konzept gefaßt. Es stellt sich im wesentlichen als eine Ausprägung des urchristlichen Erhöhungskerygmas dar. Besonders kennzeichnend ist der Beziehungsreichtum, der sich im Wort vom Erhöhtwerden am Kreuz (12,32) ausdrückt: Das äußere Aufgehängtsein gilt als Erhöhung zu Gott, die Heil wirkt. So wahrscheinlich der Grundgedanke aus der apokalyptischen Menschensohnvorstellung stammt (Dan 7,14; äthHen 70f), so deutlich setzt er bei Johannes Kreuz und Auferstehung Jesu voraus und den Glauben an den Präexistenten, der in die Welt gekommen ist (vgl. Schnackenburg [HThK 4/1] 4 0 6 - 4 2 3 ; [4/2] 498-512). Trotz des WegCharakters der Erhöhungsaussagen versteht Johannes den damit gemeinten Vorgang als unsichtbares Geschehen. Das gilt selbst für Joh 20,17. Das Hinaufgehen bleibt auch hier unsichtbar und überdies als ein Gesamtvorgang eng mit der Auferstehung verbunden. Eine vorjohanneische Himmelfahrtstradition ist nicht greifbar. Johannes macht den Lesern deutlich, daß sich nun das in den Abschiedsreden angekündigte Gehen zum Vater erfüllt (so Schnackenburg [HThK 4/3] 375-378; Lohfink 118; z.T. auch Berger 473f). 3.2. Die soeben genannten Texte lassen den Weg-Charakter und das „Hingehen" stärker hervortreten. In ihnen beginnt „die Auffahrt eine selbständige Funktion" zu erhalten (Hahn: Bib. 55,423), und ein vorübergehendes Sichtbarwerden des Auffahrenden deutet sich an. Manche frühe außerkanonische Aussagen bezeugen die gleiche Sicht, so z.B. Aristides 2,8; EvPetr 9f.l3; ep. Apost. 51; Mk 16,3(k); Ascjes 3,13—18; Barn 15,9. Die Texte zeigen durch die Bindung des Himmelfahrtsgeschehens an die Auferstehung und den Ostertag den Einfluß des urchristlichen Erhöhungskerygmas, und sie lassen überdies die Abhängigkeit von neutestamentlichen Aussagen erkennen (vgl. Lohfink 134). Hahn (Bib. 55,424) rechnet dagegen aufgrund dieser Zeugnisse sowie Mk 2,20; Act 3,20 f; Apk 12,5 mit „einer größeren Vielfalt nebeneinander laufender Traditionen in vorlukanischer Zeit", näherhin mit einer frühen Entrückungstradition. Aber Mk 2,20 „ist christologisch unergiebig" und sagt nichts „über den himmlischen status Jesu" (Vielhauer 170); Act 3,20f ist die Himmelfahrtsaussage lukanisch redaktionell gestaltet (ebd. 169), und das schwer deutbare und umstrittene Bild Apk 12,5 spricht-vielleicht in Anlehnung an jüdische Traditionen (vgl. Billerbeck 1,83; 2,399f) - von der Entrückung des Messias&iW». Berger (473 f) rechnet damit, daß in Joh 20,17; EvPetr 9 f; Mk 16,3(k); Ascjes 3,18; Barn 15,9 der Typ einer Himmelfahrtstradition vorliegt, wie er außerdem Apk 11,11 f begegnet. Gemeinsam sei a) die Erwähnung des Hinaufgehens; b) kurzes Sichtbarwerden (vor Gegnern); c) die Zusammengehörigkeit des Vorgangs der drei Stufen (Auferstehung, Sichtbarwerden, Himmelfahrt). Dieser Befund dient bei Berger als Teilargument für die weitreichende Hypothese, daß der genannte Texttyp eine jüdische Märtyrertradition repräsentiere, in der von der Tötung, Auferstehung und Himmelfahrt (eschatologischer) Märtyrerpropheten wie Henoch und Elia die Rede war (vgl. ebd. 100). Diese jüdische Tradition sei sowohl Jesus wie auch dem frühesten Judenchristentum bekannt gewesen und habe zur Ausprägung der Auferstehungs- und Himmelfahrtsaussagen geführt (vgl. ebd. 125-149). Pesch (ThQ 153,222f) folgt z.T. dieser Hypothese und meint: „Man muß damit rechnen, daß die Aussagen über Auferstehung (und Himmelfahrt/Erhöhung) Jesu an diesen Kategorien (und nicht der Vorstellung der in Jesus anhebenden allgemeinen Totenauferstehung) orientiert waren." Die von Berger und Pesch dargebotenen Quellenbelege, vorwiegend aus Apokalypsen der Danieltradition, darunter Apk 11, werden von Stuhlmacher (ThQ 153 [1973] 246; Hengel,ebd. 257 f; Schweizer: ThLZ 103 [1978] 876 f) als relativ späte und zudem christlich beeinflußte Texte bewertet. Nützet, der das Quellenmaterial sorgfältig geprüft hat, kommt bezüglich der

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Himmelfahrt Christi I

Himmelfahrtsaussagen zu dem Ergebnis: „Eine Himmelfahrt eschatologischer Propheten nach ihrer Auferweckung ist in dem von uns untersuchten Material vorchristlich nicht belegt" (94). 4. Im Formschema einer -»Entrückung als sichtbar von Menschen wahrgenommener Vorgang wird die Himmelfahrt Jesu Lk 2 4 , 5 0 - 5 3 (der Langtext in V.51 wird als ursprünglich vorausgesetzt) und Act 1 , 9 - 1 1 dargestellt. 4.1. Entrückungen werden im Alten Testament und den Schriften des frühen Judentums von Henoch, Elia, Esra, Baruch, Mose und den Kindern Hiobs, in der hellenistisch-römischen Antike von Romulus, Herakles, Apollonius von Tyana und vielen anderen erzählt (Belege: -»Entrückung; außerdem Lohfink 32—79; Strecker; Schmitt). Von den Ausdruckswcisen, Motiven und Intentionen, die in derartigen Entrückungs-Texten mehr oder weniger regelmäßig begegnen, finden sich in den beiden Himmelfahrtserzählungen des Lukas folgende: 1. Die Schilderung des Geschehens vom Blickpunkt irdischer Betrachter aus. 2. Das Entschwinden des ganzen Menschen. 3. Das von Lukas gegenüber Mk/Mt hervorgehobene Nicht-Finden des Leichnams Jesu (Lk 24,3.5.23; vgl. Friedrich 55f; Hoffmann, TRE 4,499.505). 4. Abschiedsgespräche, Auftrags- und Verheißungsworte (Lk 24,44-49; Act 1,6-8). 5. Der Berg als Ort, von dem aus die Entrückung geschieht (Apg 1,12). 6. Die Wolke (Act 1,9). 7. Die Deutung des Gcschehens vom Himmel her (Act 1,11). 8. Die Verehrung gegenüber dem Aufgefahrenen (Lk 24,52). 9. Heimkehr der Jünger und Lobpreis Gottes (Lk 24,52f; z.T. Act 1,12). 10. Die Terminologie: àvatpÉQEiv, ¿naiguv, dvaXafißaveiv eiç xôv ovgavôv. Das hohe Maß der Ubereinstimmung läßt erkennen, daß die lukanischen Himmelfahrtserzählungen in Anlehnung an das antike Entrückungsschema gestaltet worden sind. Insbesondere entsprechen manche Formulierungen in Lk 24/Act 1 so genau den Texten der Elia-Entrückung II Reg/Sir 48, und es liegt in der Zuordnung von Himmelfahrt und Geistsendung eine derart gleiche Motivverbindung vor, daß literarische Abhängigkeit anzunehmen ist. Das Erheben der Hände, der feierliche Schlußsegen, die Proskynese und der Lobpreis Lk 24 sind Elemente, die zwar ebenfalls in Entrückungsszenen vorkommen (vgl. Friedrich 59 f), im vorliegenden Text aber sind sie konkret gestaltet nach der Segensszene Sir 5 0 , 2 0 - 2 2 (so Lohfink 1 6 7 - 1 6 9 ; Pesch, Anfang 16). Berger ( 1 7 0 - 1 7 4 . 4 7 1 - 4 7 5 ) meint, es handle sich in Lk 24/Act 1 gattungsmäßig nicht um Entrückungstexte, sondern in Lk 24, ähnlich wie EvPetr 10, um den Vorstellungstyp „Auferweckung, Sichtbarwerden und Hinaufgehen in den Himmel" (474) und in Act 1 um einen Erscheinungsschluß. Gegen diese Sicht sprechen (1) das deutlich erkennbare Entrückungsschema (nicht nur einzelne Entrückungsmotive), (2) das mehrmalige Erscheinen des Auferstandenen vor den Jüngern und die Erscheinungsgespräche, (3) die lukanische Bewertung der Himmelfahrt als Abschluß der gesamten Erdenwirksamkeit Jesu. 4.2. Daß Lukas selbst an der Gestaltung der beiden Himmelfahrtsszenen großen Anteil hat und daß sich die Differenzen beider Texte redaktionell verstehen lassen, ist heute weithin anerkannt. Kontrovers ist indes, ob die Zeitangabe der 4 0 Tage (Act 1,3; vgl. auch 13,31) erst von Lukas stamme und ob überhaupt erst Lukas zum ersten Mal die Erhöhung des Auferstandenen in Form einer Entrückung als sichtbare Himmelfahrt dargestellt habe. Die Aussageabsichten des Lukas, seine Orientierung an Zahlen der LXX, das Fehlen der 40 Tage in der neutestamentlichen und ältesten patristischen Literatur, lassen annehmen, Lukas selbst habe die Zeitangabe gebildet (so auch Menoud, jours 156; Wilson 270-272; Lohfink 176-186; Roloff [NTD 5] 21; Weiser [ÖTK 5/1] 49f. Für Traditionsgut plädieren Schille 193; Haenchen [KEK 3 7 ] 147; Pesch, Anfang 10.14. Für unentscheidbar halten die Frage Conzelmann [HNT 7] 25; Schneider [HThK 5/1] 191). M.E. ergibt sich auch aus der lukanischen Gestaltungsweise der Texte und aus dem Fehlen vorlukanisch eindeutiger Parallelen, daß erst Lukas selbst das urchristliche Erhöhungskerygma in Form einer Entrückungsszene zur Sprache gebracht hat (so auch Wilson 269; Lohfink 244; Weiser [ÖTK 5/1] 53 f; erwogen von Fridrichsen 340; anders Schlier 227 f; Schille 184; Conzelmann [HNT 7] 23; Haenchen [KEK 3 7 ] 157; Pesch, Anfang 17 f; Hahn: Bib. 55,425 f, die mit einer vorlukanischen Ausprägung rechnen). Freilich werden bei der redaktionellen Gestaltung des Lukas „Vorstufen" seiner Konzeption eine Rolle gespielt haben (s.o. Abschn. 3; vgl. Bouwman 261; Bovon 188; Schneider [HThK 5/1] 210; Roloff [NTD 5] 18.26; Weiser [ÖTK 5/1] 52). 4.3. Nach lukanischem Verständnis erscheint Jesus als Auferstandener mehrmals

Himmelfahrt Christi I

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während der 4 0 Tage und wird danach - also in zeitlicher Trennung vom Auferstehungsgeschehen—durch die als Entrückung dargestellte Himmelfahrt in die Herrlichkeit Gottes erhöht (Berger 471—473 bestreitet m . E . zu Unrecht diese Sichtweise). Die Auferweckung Jesu begründet dementsprechend nach Lukas einen Zustand, der weder als Rückkehr ins Erdenleben noch als sofortige „endgültige Erhöhung" gilt (Schlier 240). Lukas hat seine Sichtweise verhältnismäßig konsequent auch sonst in seinem Doppelwerk zum Ausdruck gebracht: In Lk 9,51 meinen die „Tage der Hinaufnahme" (ävahjfiy/cax;) Tod, Auferweckung und Himmelfahrt Jesu (so auch Schlier 227; Lohfink 213; Kremer: EWNT 1,201; anders Friedrich 73 f); Lk 19,12 ist mit der Reise in „ein fernes Land, um die Königswürde zu erlangen" bildhaft auf die Himmelfahrt angespielt; Act 2,33; 5,31 wird mit der Erhöhungsaussage (vytoöv) ebenso wie 3,21 mit der Aussage, daß „ihn der Himmel aufnehmen" müsse (dexeo9ai) auf der Ebene der lukanischen Redaktion an die sichtbare Himmelfahrt gedacht sein. Einige Texte passen allerdings nicht gut in dieses sonst einheitliche Konzept. Nach Lk 23,43 erhält der Mitgekreuzigte von Jesus die Zusage, er werde „heute noch" mit ihm im Paradiese sein. Zu den Emmausjüngern sagt der Auferstandene noch vor seiner Himmelfahrt, daß der Messias leiden und so „in seine Herrlichkeit eingehen mußte" (Lk 24,26), und Act 13,33 erweckt die Anwendung von Ps 2,7 auf die Auferstehung Jesu den Eindruck, daß mit ihr zugleich die messianische Inthronisation gemeint sei. Ob sich diese Aussagen nicht doch mit der lukanischen Sicht vereinbaren lassen, oder ob Lukas manches unausgeglichen ließ, vielleicht bedingt durch die Aufnahme verschiedener Traditionen, ist umstritten (vgl. Lohfink 211-241; Hahn: Bib.55,426; Berger 471-473). Eine Nachwirkung der lukanischen Himmelfahrtsdarstellung liegt im kanonischen Markus-Schluß vor: „Nachdem J e s u s . . . dies zu ihnen gesagt hatte, wurde er in den Himmel aufgenommen ( Wesley-Schüler Alexander Knox (1757-1831) zusammen mit seinem Freund John Jebb (1775-1833) entwickelt. Die organisierten Mitglieder der Hochkirche erhielten den Spitznamen Hackney Phalanx bzw. Clapton Sect, weil ihre Anführer Henry Handley Norris (1771-1850) und Joshua Watson (1771-1855) in den Londoner Vororten Hackney und Clapton ihren

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Hochkirchliche Bewegung I

Wohnsitz hatten. 1811 gründeten beide die „Nationale Gesellschaft zur Erziehung der Armen", die ein wichtiger, auf freiwilliger Basis gegründeter, Vorläufer des nationalen Erziehungssystems war. Unterstützung erhielten die Mitglieder der Hochkirche durch die Tory Lake Poets: Robert Southey (1774—1843), der in seinem 1824 erschienenen Book of the Church die Katholiken und die Dissenters angriff; William Wordsworth (1770-1850), in dessen 1822 erschienenen Ecclesiastical Sonnets sich der Einfluß der -»Romantik auf die Wiederbelebung der Hochkirche ankündigte; Samuel Taylor -»Coleridge, dessen Abhandlung Über die Verfassung von Kirche und Staat (1830) den Versuch darstellt, die „nationalen" und „katholischen" Elemente im Wesen der Kirche miteinander zu verbinden.

Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat war in den Jahren zwischen 1790 und 1827 äußerst harmonisch; dieser Sachverhalt war auf die in jenen Jahren ununterbrochen regierende, starke Torypartei zurückzuführen, die bereit war, den nach politischer Macht verlangenden zahlreichen Dissentern, römischen Katholiken und antikirchlichen Radikalen ihren Widerstand entgegenzusetzen. 4. Die hochkirchliche

Bewegung

im 19. und 20.

Jahrhundert

Eine erste Schwächung des Verhältnisses Staat-Kirche trat 1828 ein, als das bislang nur stillschweigend zugestandene Recht der protestantischen Dissenters, Plätze im Parlament besetzen zu dürfen, durch ein Gesetz bestätigt wurde. Noch revolutionärer war die Emanzipationsakte von 1829, die den römischen Katholiken dieselben Rechte zugestand. 1830 kam eine neue Whig-Regierung an die Macht, die es störte, daß die Bischöfe bei der Reform des Wahlrechts opponierten. Die Regierung legte 1833 einen Antrag vor, der die Abschaffung von 10 Bistümern in der Kirche von Irland forderte. Diese Maßnahme bezeichnete der Oxforder Poetikprofessor John Keble (1792-1866) als „National Apostasy". Seit 1833 gab Keble in Gemeinschaft mit Oxforder Geistlichen - unter ihnen John Henry -»Newman und Richard Hurrell Froude (1803-1836) - die Tracts for the Times heraus, die ihren Autoren den Beinamen „Traktarianer" einbrachten (vgl. T R E 2, 728f). Die Traktarianer lehrten, daß die Kirche keine bloß nationale Einrichtung sei, sondern eine göttliche Gesellschaft (divine society), gegründet von Christus und mit den Glaubenszeichen der Einheit, Katholizität, Apostolizität und Heiligkeit ausgestattet. Der Glaube der Kirche sei bewahrt worden durch das dreigegliederte Amt des Bischofs, der Priester und der Diakone, das in apostolischer Sukzession seit der Zeit der Apostel durch Handauflegung weitergegeben wurde (vgl. T R E 2, 578,4ff). Newman verteidigte die Kirche von England in seinen Lectures on the Prophetical Office of the Church (1837), weil sie einen ,mittleren Weg' (via media) zwischen römischem Katholizismus und Reformation, zwischen Papsttum und Protestantismus eingehalten habe. Etwas anders argumentierte William Palmer (1803-1885), der von der älteren ,high-and-dry'-Tradition herkommend in seiner „Abhandlung über die Kirche Christi" (Treatise on the Church of Christ, 1838) ausführte: Die Anglikanische Kirche sei einer von drei Zweigen der episkopalen Kirchenverfassung und sie habe mit den Kirchen von Rom und Konstantinopel den katholischen Glauben und die Ordnung der Alten Kirche bewahrt. - Seit 1835 kam es zu einer wechselseitigen Verbindung und Stützung der hochkirchlichen Bewegung in Oxford mit der Schule von E. B. -»Pusey („Puseyites"), die sich insbesondere um die Sammlung patristischer Texte zur Theologie der hochkirchlichen Tradition verdient machte (Library of the Fathers, 1836ff; Library of Anglo-Catholic Theology, 1841 ff).

Die neuen Anglokatholiken (-»Anglokatholizismus) unterscheiden sich von den hochkirchlichen Schriftstellern aus der Zeit vor 1833 zunächst durch ihren entschlossenen Widerstand gegen evangelikale und liberale Reformkräfte in der Kirche; ferner durch ihre theologischen Studien, mit deren Hilfe sie strenge und zunehmend am Mittelalter orientierte Ideale der Askese und Frömmigkeit popularisierten und auch praktizierten. In einer Reihe von Angriffen wurde die Bewegung des Krypto-Katholizismus verdächtigt; die Zurückhaltung, mit der ihr auch weniger radikale Vertreter der Hochkirche entgegentraten, führte dazu, daß die Tracts 1841 ihr Erscheinen einstellten, nachdem vor allem Newmans Tract 90 sehr kritisch beurteilt worden war. Newman und sein Schüler William George Ward (1812-1882), die beiden einzigen originalen Philosophen der Bewegung, setzten sich 1845 nach Rom ab. Newman setzte damit ein Beispiel, das bis in die Gegenwart hinein Einfluß hat.

Hochkirchliche Bewegung I

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Die Oxford-Bewegung in dem engeren Sinne einer akademischen, um Oxford zentrierten anglokatholischen Wiederbelebung, kam mit der Abreise Newmans zu ihrem Abschluß. Doch in den Gemeinden setzte sich die Erneuerung fort: Keble wurde zum Symbol für ihre Verbreitung unter der Geistlichkeit auf dem Lande. Pusey unterstützte Schwestern- und Brüderorden (s. T R E 7,205,37 ff) und förderte in den armen Gemeinden der Städte den anglokatholischen Einfluß. In Cambridge entstand eine weitere Schwesternbewegung. Dort hatte die Camden Society (später Ecclesiological Society), die 1839 von J o h n M a s o n Neale (1818—1866) gegründet worden war, für den —•Kirchenbau zahlreiche Anregungen gegeben: Man baute und restaurierte zahlreiche Kirchengebäude in gotischem Stil; der Altarraum wurde wieder in Gebrauch genommen; Knabenchöre mit Chorhemden wurden eingeführt; Glasmalerei in neu-mittelalterlichem Stil wurde in den Kirchen angebracht; man zog Orgeln den Orchestern vor; man verwendete Steinaltäre anstelle von Altartischen und bestimmte, daß die Armen in der Kirche die Plätze frei wählen konnten. Fast jede englische Pfarrkirche wurde in dem Jahrhundert nach 1839 im Sinne dieser Prinzipien der Camden Society neu eingerichtet. Parallel dazu kam es zu einer Wiederbelebung der -»Kirchenmusik. Sie setzte ein, als Neale seine Bearbeitungen byzantinischer und mittelalterlicher Liturgien vorlegte (Hymns Ancient and Modern, 1861; vgl. TRE 14, 52,32ff). Ein zwiespältigeres Ergebnis dieser Bewegung war der „Ritualismus" - die Übernahme römischkatholischer Zeremonien - , durch den in der ersten Hälfte des 19. Jh. eine schmerzliche Trennung innerhalb der Kirche entstand. In Exeter (1849) und in London (1850; 1858/59) kam es wegen des Gebrauchs von Chorröcken und Meßgewändern zu Tumulten. Auf beiden Seiten der streitenden Parteien wandte man sich an die öffentlichen Gerichte; namentlich die 1860 gegründete anglokatholische English Church Union und die 1865 entstandene protestantische Church Association fochten eine Serie von Gerichtsprozessen über Fragen des Rituals aus. Aufgrund der Public Worship Regulation Act von 1874 wurden fünf Geistliche mit Gefängnis bestraft, weil sie illegale Rituale abgehalten hatten. Obgleich dieser Konflikt noch lange nachwirkte, fand die gerichtliche Verfolgung derartiger Angelegenheiten ein Ende, als der Erzbischof von Canterbury, Edward White Benson (1829-1896), den angeklagten frommen Bischof von Lincoln, Edward King (1829-1910), von dem Vorwurf des Mißbrauchs von Zeremonien persönlich freisprach. Das geläufigste und stärkste Argument zugunsten der Ritualisten war, daß viele von ihnen hingebungsvoll arbeiteten und erfolgreiche Gemeindepfarrer in den ärmsten Slums von England waren. Die Fragen des Rituals zogen in starkem Maße das öffentliche Interesse auf sich. Von den führenden Vertretern des Traktarianismus war aber keiner ein Ritualist gewesen. Selbst George Anthony Denison (1805-1896), der Veteran der großen eucharistischen Kontroverse von 1854-1858, übernahm erst in hohem Alter hochkirchliche Rituale. Die meisten gemäßigten Geistlichen waren AntiRitualisten, so z. B. der Bischof von Oxford und spätere Bischof von Winchester, Samuel Wilberforce (1805-1873), der als Muster eines hochkirchlichen Bischofs zu gelten hat. Wichtige Zeichen eines neuen kirchlichen Lebens waren die Wiedereinberufungen der Provinzialsynoden (1852) und der Diözesansynoden, die Wiederherstellung der großen Kathedralen für öffentliche Gottesdienste und die Tatsache, daß die Anglikanische Kirchen-Gemeinschaft außerhalb Englands wuchs. Auf der -*Lambeth-Konferenz von 1867, auf der sich zum erstenmal die Führer der internationalen Anglikanischen Gemeinschaft trafen, waren 67 Bischöfe anwesend. Diese geistliche Gemeinschaft reichte weiter als das Britische Empire selbst. Die Zahl der Ordinationen stieg bis in die 80er Jahre, und die Zahl der praktizierenden Anglikaner nahm bis zum Ersten Weltkrieg zu. Paradoxerweise wurden in dieser Zeit des wachsenden innerkirchlichen Lebens Elemente des anglikanischen Kirchenwesens teilweise und schrittweise abgebaut: Die Abgabe des „ Z e h n t e n " (tithes) wurde 1836 umgewandelt; im gleichen Jahre wurde die staatliche Registrierung von Geburten, Heiraten und Todesfällen eingeführt (Zivilstandsgesetzgebung, civil registration), 1857 die staatliche Ehescheidung. Die Kirchensteuer wurde 1868 abgeschafft (vgl. T R E 1,345,38ff),und die Education Act von 1870 begründete ein konfessionsunabhängiges System der öffentlichen Erziehung; dennoch blieb der anglikanische Einfluß auf das Erziehungswesen kräftig und wurde durch die Balfour Act (1902) bestätigt. M i t der University Tests Act (1871) wurde das anglikanische Monopol an den alten Universitäten abgeschafft; allerdings behielten die Colleges ihre Kaplansstellen und Kapellen. Diese Veränderungen waren zum großen Teil durch den Druck der Nonkonformisten veran-

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Hochkirchliche Bewegung I

laßt, die sich 1869 mit den irischen Katholiken zusammengeschlossen hatten, um die Entstaatlichung der Kirche von -»Irland herbeizuführen; für die Kirche von England gelang eine solche Entstaatlichung nicht. In den letzten Jahren der Regierungszeit Königin Viktorias und während der Regierung König Eduards VII. (1901-1910) polarisierte sich die lokale und die nationale Politik häufig zwischen den zur Tory-Partei gehörenden Vertretern der Kirche und den liberalen Dissentern. Dennoch war der berühmteste Führer der Liberalen, William Ewart Gladstone (1809-1898), einer der bedeutendsten Laien der Hochkirche. Viele Anglokatholiken wie Stewart Duckworth Headlam (1847-1924, Gründer der christlich-sozialistischcn Guild ofSt. Matthew [1878]) und Charles -»•Gore traten für einen radikalen christlichen Sozialismus ein. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm der Einfluß des Anglokatholizismus oft im Zusammenwirken mit Formen der christlich-sozialen Bewegung - auf die Kirche von England noch zu. Die Anglokatholischen Kongresse unterstrichen diese Entwicklung sehr eindrucksvoll (London 1920, 1923, 1927 und 1933, im Jahr der Zentenarfeier der Oxford-Bewegung). Ihre größte Bedeutung lag wohl im Bereich des Gottesdienstes (vgl. T R E 14, 52,32ff). Aber auch die Dichtung und Prosa einiger Schriftsteller hatte beachtlichen Einfluß auf diese Entwicklung, die zu einer Renaissance der englischen christlichen Literatur führte (Thomas Stearns Eliot [1888-1965], Charles Williams [1886-1945], Clive Staples Lewis, pseud.: Clive Hamilton [1898-1963]). Diese Entwicklungen haben sich jedoch als ein trügerischer Hoffnungsschimmer erwiesen: Der Anglokatholische Kongreß von 1947 fand bereits in einem erheblich verkleinerten äußeren Rahmen statt. Die Jahre nach 1950 waren eher eine Zeit der Konsolidierung als der weiteren Ausdehnung. Eine Reihe berühmter kirchlicher Gebäude war durch die Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Auf der Gemeindeebene erlebte die Hochkirchliche Bewegung eine erhebliche Erosion seit der Mitte der 60er Jahre, als in vielen Arbeitergemeinden eine fast vollständige Kirchenentfremdung durch die Herausforderungen einer neu-heidnischen Volks- und Massenkultur einsetzte. Während evangelikale Bewegungen neue Lebenszeichen gaben, teilte die Hochkirchliche Bewegung zunehmend das Schicksal der übrigen anglikanischen Kirche: Bei sinkenden Gemeindegliederzahlen mußte man sich zugleich mit der verwirrenden Tatsache auseinandersetzen, daß radikale theologische Strömungen eine weitreichende Publizität erlangten. 5. Ausblick Obwohl die Vertreter der Hochkirchlichen Bewegung engere und freundlichere Beziehungen zu den -»Orthodoxen Kirchen und zur Römisch-katholischen Kirche knüpfen konnten, führte gerade der rapide Wandel, den der Katholizismus nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (—»Vatikanum II) erlebte, zu Orientierungsschwierigkeiten bei den Anglokatholiken. Die weite ökumenische Bewegung (-»Ökumene) stellte den hochkirchlichen Geistlichen mit neuer Dringlichkeit die Schwierigkeiten vor Augen, die sie schon immer mit der christlich-brüderlichen Anerkennung nicht-episkopaler Kirchen gehabt hatten. Der bedeutende anglokatholische Missionsbischof von Sansibar, Frank Weston (1871-1924), führte auf der Kikuyu-Kotiferenz von 1913 die Opposition derer an, die sich gegen eine protestantische Kirchengemeinschaft mit Interkommunion wandte. Ähnliche Proteste gab es 1947 beim Zusammenschluß anglikanischer und sonstiger evangelischer Missionskirchen zur Kirche von Südindien (-•Indien; vgl. auch T R E 4,193,8ff). Ebenso war es bei dem Versuch einer Union zwischen Anglikanern und Methodisten im Jahre 1968 (s. T R E 9, 647,11 ff) und 1982 bei der zwischenkirchlichen Vereinbarung zwischen fünf der wichtigsten protestantischen Kirchengemeinschaften in England. Die Anglokatholiken haben sich bis heute nicht zu einer Absprache mit anderen Kirchen bereitfinden können und sie haben - abgesehen von einigen Veteranen wie Michael Ramsey (geb. 1904, früherer Erzbischof von Canterbury) und Eric Mascall (geb. 1905) - derzeit auch keinen Theologen von Rang, der diese theologische Aufgabe bewältigen könnte.

Die Z u k u n f t des Anglokatholizismus ist heute ganz entscheidend mitbestimmt von

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der umfassenderen Suche nach der Identität des Anglikanismus, der als eine internationale „ B r ü c k e n - K i r c h e " zwischen den großen Blöcken der Römisch-katholischen Kirche und den protestantischen bzw. evangelischen Kirchen steht und zugleich eine besondere Öffnung zu den O r t h o d o x e n Kirchen hin hat. D a s Uberleben der Hochkirchlichen Tradition in England hängt unausweichlich auch d a v o n ab, o b die Kirche von England als nationale Institution bestehen bleibt; und dies in einer N a t i o n , die von T a g zu T a g deutlicher als eine nicht-christliche Gemeinschaft erscheint. In alledem ist die Hochkirchliche Bewegung immer noch das Produkt und die Gefangene ihrer eigenen Geschichte.

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Hochkirchliche Bewegung II

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Sheridan Gilley II. Hochkirchliche Bewegung in Deutschland Die Hochkirchliche Bewegung in Deutschland erwuchs aus dem Kirchentum Augsburgischen Bekenntnisses (-»Lutherische Kirchen) und wandte sich, wie in der Anglikanischen Kirche die Oxford-Bewegung (s.o. I), gegen den modernistischen Abfall der Kirche (-»Modernismus). Der schleswig-holsteinische Pastor Heinrich Hansen (1861-1940) veröffentlichte 1917, ähnlich wie sein Landsmann Claus -»Harms 1817, zur Jahrhundertfeier der Reformation 95 Thesen: Die lutherischen Kirchen sollten Buße tun und zur vom Evangelium bestimmten -»Katholizität zurückkehren. Die im Oktober 1918 in Berlin begründete Hochkirchliche Vereinigung leitete H. Hansen, später der ursprünglich katholische und 1919 durch -»Söderblom in das reformatorische Kirchentum aufgenommene Friedrich -»Heiler. Der postum veröffentlichte Briefwechsel zwischen Heiler und Erzbischof N. Söderblom zeigt, wie es durch die in Schweden gewährte Kommunion zu der sonst formell nicht vollzogenen Konversion kam. Unter Heilers Einfluß entstanden -•Bruderschaften; die wichtigste ist die 1929 gegründete Evangelisch-katholische eucharistische Gemeinschaft, nach ihrem Verbot durch die nationalsozialistische Regierung neubegründet 1947 als Hochkirchliche St. Johannesbruderschaft, die Heiler als „Apostolischer Vorsteher" leitete. Nach ihm wurde der pfälzische Dekan Werner E. Linz als Nachfolger eingesetzt und, als dieser gestorben war, 1983 der Hamburger Pastor Heinz Joachim Nerger. Weiter gehören zur Hochkirchlichen Vereinigung der 1925 entstandene Evangelische Humiliatenorden und die 1927 gegründete Evangelische Franziskanerbruderschaft der Nachfolge Christi (Evangelische Franziskanertertiaren), geleitet von Rudolf Irmler, früher Superintendent in Lüben/Schlesien, seit 1963 Rektor des Lehmgrubener Mutterhauses in Marktheidenfeld/Bayern. Gleichfalls gehört die lange Zeit von Helmut Echternach geleitete St. Athanasius-Bruderschaft zum Umkreis der Hochkirchlichen Vereinigung. Als ihr nahestehend zu bezeichnen sind der aus der Kirchlichen Sammlung von Hans -»Asmussen und Max Lackmann (vgl. TRE 4,262,7 ff) hervorgegangene Bund für evangelisch katholische Wiedervereinigung und die in den Bund integrierte St. Jakobus-Bruderschaft, geleitet von Pastor W. Krückeberg; ihr Zentrum haben beide im Hans-Asmussen-Haus in Dalherda bei Fulda. Gleichfalls steht die Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Erneuerung in Bayern der Hochkirchlichen Vereinigung nahe. Die Hochkirchliche Vereinigung verfolgt vier Ziele: Die „entschlossene Rückkehr a) zur völligen biblischen Wahrheit in Lehre und Verkündigung, b) zum apostolischen Amt der Kirche, c) zu bekenntnisgemäßem, sakramentalem Leben und d) zum Bewußtsein der ökumenischen Einheit" (Entschließung des Hochkirchentages 1935). Als F. Heiler im Sinn des zweiten Zieles sich zum apostolischen Vorsteher der Eucharistischen Gemeinschaft (St. Johannesbruderschaft) von einem Bischof der Gallikanischen Kirche weihen ließ in einer Tradition, die sich auf das Patriarchat von Antiochien bezieht, und entsprechend hochkirchliche Pfarrer zu Priestern weihte, führte dies zu Konflikten. Bischofs- und Priesterweihen dieser Art wurden zwar fortgesetzt, doch meist ohne öffentliches Aufsehen. Ein Teil der Mitglieder der Hochkirchlichen Vereinigung und besonders der St. Johannesbruderschaft hält an solchen Weihen fest, andere halten sie nicht für hilfreich auf dem Weg zur Einheit der Kirchen, zumal Kritik auch von römisch-katholischer Seite kam. Der Ausdruck „hochkirchlich" wird oft ungenau verwendet. Er kommt nur den Gemeinschaften zu, die die genannten vier Ziele verfolgen einschließlich der apostolischen Sukzession im Sinn eines historischen Episkopates (-»Bischof II), nicht aber allen Gemeinschaften, die sich an der liturgischen und ökumenischen Bewegung beteiligen (-»Li-

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turgische Bewegung; - » Ö k u m e n e ) . So ist die -»Michaelsbruderschaft nicht zur H o c h kirchlichen Bewegung in Deutschland zu zählen, wiewohl es freundschaftliche Beziehungen u n d gemeinsame Überzeugungen zwischen ihr und der Hochkirchlichen Vereinigung gibt. Die Hochkirchliche Bewegung in Deutschland blieb, im Unterschied zur Anglokatholischen Bewegung, auf kleine Kreise beschränkt, doch ist ein geistlich-theologischer Einfluß wirksam geblieben, z.B. durch die Tagungen im H a u s der Communität Casteller Ring auf Schloß Schwanberg bei Kitzingen unter Mitarbeit von n a m h a f t e n evangelischen, katholischen und o r t h o d o x e n Theologen unter der Leitung des 1. Vorsitzenden der Hochkirchlichen Vereinigung, Pfarrer H . J. M u n d , seit 1985 Pfarrer T h . H ä u f . Die H o c h kirchliche Bewegung in Deutschland wirkt dahin, d a ß in der ökumenischen Bewegung geistliches Leben von der Eucharistie her in katholischer Fülle und Weite lebendig wird. Literatur BBKL, 660 f. - W. Drobnitzky, Ev.-Kath. Stundengebet, Bochum 1982. - J. Halkenhäuser, Kirche u. Kommunität, Paderborn 2 1985. - Friedrich Heiler, Hochkirche heute, Marburg 1970. - Paul Misner (Hg.), Friedrich v. Hügel, Nathan Söderblom, Friedrich Heiler, Briefwechsel 1909-1931, Paderborn 1981. - Mitteilungsblatt der Hochkirchl. Vereinigung. - Hans Joachim Mund, Ev.-ökum. Johannesbruderschaft, Schwanbergbrief 2/1974. - Ders. (Hg.), Das Petrusamt in der gegenwärtigen theol. Diskussion, Paderborn 1976. - Ders. (Hg.), Maria in der Lehre der Kirche, Paderborn 1979. Ingrid Reimer, Verbindliches Leben, Stuttgart 1986. - Taschenbuch der ev. Kirchen, Frankfurt 1978.

Reinhard M u m m H o c h m a n n von H o c h e n a u , Ernst Christoph 1. Leben

2. Gedankenwelt

3. Wirkung

(1669/70-1721) (Anmerkungen/Quellen/Literatur S.423)

1. Leben H o c h m a n n unterscheidet sich von anderen radikalpietistischen Wanderpredigern, die aus dem ,unbehausten Stand' der Handwerksgesellen k a m e n , durch H e r k u n f t und Ausbildung. Er w u r d e zwischen dem 7.9.1669 und dem 18.3.1670 als jüngstes von acht Kindern eines lutherischen, 1664 geadelten („von H o c h e n a u " ) sachsen-lauenburgischen Geheimsekretärs und Z o l l a m t m a n n s und dessen katholischer Ehefrau in Lauenburg/Elbe geboren. Seit 1674 w a r der Vater Kriegsschreiber der Stadt Nürnberg, w o H o c h m a n n a u f w u c h s . An mehreren Universitäten studierte H o c h m a n n die Rechte (immatrikuliert Altdorf 1687, Gießen 1691, Halle 1693, Erfurt 1694 - nach Selbstaussagen ferner in Jena und Leipzig). In Halle hörte er wahrscheinlich Chr. - » T h o m a s i u s , auf dessen naturrechtliche Argumentation sich H o c h m a n n später bei der -»Toleranz-Forderung berief. Über H o c h m a n n s f r ü h e religiöse Entwicklung ist nichts bekannt. Seine Bekehrung erlebte er in Halle, zeigte sich aber „sofort fast als ein T r u n k e n e r " ( A . H . Francke). Der in einem besonderen Berufungsbewußtsein gründende Enthusiasmus äußerte sich in scharfer Kirchenkritik und spiritualistischer Abendmahlsfeier (ohne Brot und Wein) und führte zum Konflikt mit den Behörden, Gefängnis und Ausweisung — ein Geschick, das H o c h m a n n im Laufe seines Lebens noch häufig erleiden sollte. Die Jahre 1 6 9 4 - 9 8 liegen weithin im Dunkeln. In E r f u r t fand H o c h m a n n 1693 eine Stelle im H a u s des -»Petersen-Freundes Prof. Brückner, setzte 1694 sein Studium fort, wirkte danach (1695 ff ?) vielleicht als I n f o r m a t o r im H a u s e von -»Zinzendorfs G r o ß m u t t e r , Henriette Katharina von Gersdorf, in Dresden. Im Umkreis Petersens machte H o c h m a n n Bekanntschaft mit der Gedankenwelt Gichteis und der englischen Philadelphier (-»Spiritualismus). 1697(?)—99 befand sich H o c h m a n n im südhessischen R a u m (Gießen ?, Frankfurt) und stand in Kontakt mit G. - » A r n o l d , J. K. -»Dippel und anderen Radikalpietisten. Im Spätsommer 1699 bereiste er das Berner Land, begegnete d a n n wieder bei der in eschatologischer Hochstimm u n g begonnenen „Kirchenrevolution" in der G r a f s c h a f t Solms-Laubach. Die J a h r e 1 7 0 0 - 1 7 2 0 zeigen ihn als „Apostel des Separatismus" - auf der - von kürzeren oder längeren Aufenthalten in seiner „Eremitage Friedensburg" im Wittgensteinschen

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H o c h m a n n von H o c h e n a u

turgische Bewegung; - » Ö k u m e n e ) . So ist die -»Michaelsbruderschaft nicht zur H o c h kirchlichen Bewegung in Deutschland zu zählen, wiewohl es freundschaftliche Beziehungen u n d gemeinsame Überzeugungen zwischen ihr und der Hochkirchlichen Vereinigung gibt. Die Hochkirchliche Bewegung in Deutschland blieb, im Unterschied zur Anglokatholischen Bewegung, auf kleine Kreise beschränkt, doch ist ein geistlich-theologischer Einfluß wirksam geblieben, z.B. durch die Tagungen im H a u s der Communität Casteller Ring auf Schloß Schwanberg bei Kitzingen unter Mitarbeit von n a m h a f t e n evangelischen, katholischen und o r t h o d o x e n Theologen unter der Leitung des 1. Vorsitzenden der Hochkirchlichen Vereinigung, Pfarrer H . J. M u n d , seit 1985 Pfarrer T h . H ä u f . Die H o c h kirchliche Bewegung in Deutschland wirkt dahin, d a ß in der ökumenischen Bewegung geistliches Leben von der Eucharistie her in katholischer Fülle und Weite lebendig wird. Literatur BBKL, 660 f. - W. Drobnitzky, Ev.-Kath. Stundengebet, Bochum 1982. - J. Halkenhäuser, Kirche u. Kommunität, Paderborn 2 1985. - Friedrich Heiler, Hochkirche heute, Marburg 1970. - Paul Misner (Hg.), Friedrich v. Hügel, Nathan Söderblom, Friedrich Heiler, Briefwechsel 1909-1931, Paderborn 1981. - Mitteilungsblatt der Hochkirchl. Vereinigung. - Hans Joachim Mund, Ev.-ökum. Johannesbruderschaft, Schwanbergbrief 2/1974. - Ders. (Hg.), Das Petrusamt in der gegenwärtigen theol. Diskussion, Paderborn 1976. - Ders. (Hg.), Maria in der Lehre der Kirche, Paderborn 1979. Ingrid Reimer, Verbindliches Leben, Stuttgart 1986. - Taschenbuch der ev. Kirchen, Frankfurt 1978.

Reinhard M u m m H o c h m a n n von H o c h e n a u , Ernst Christoph 1. Leben

2. Gedankenwelt

3. Wirkung

(1669/70-1721) (Anmerkungen/Quellen/Literatur S.423)

1. Leben H o c h m a n n unterscheidet sich von anderen radikalpietistischen Wanderpredigern, die aus dem ,unbehausten Stand' der Handwerksgesellen k a m e n , durch H e r k u n f t und Ausbildung. Er w u r d e zwischen dem 7.9.1669 und dem 18.3.1670 als jüngstes von acht Kindern eines lutherischen, 1664 geadelten („von H o c h e n a u " ) sachsen-lauenburgischen Geheimsekretärs und Z o l l a m t m a n n s und dessen katholischer Ehefrau in Lauenburg/Elbe geboren. Seit 1674 w a r der Vater Kriegsschreiber der Stadt Nürnberg, w o H o c h m a n n a u f w u c h s . An mehreren Universitäten studierte H o c h m a n n die Rechte (immatrikuliert Altdorf 1687, Gießen 1691, Halle 1693, Erfurt 1694 - nach Selbstaussagen ferner in Jena und Leipzig). In Halle hörte er wahrscheinlich Chr. - » T h o m a s i u s , auf dessen naturrechtliche Argumentation sich H o c h m a n n später bei der -»Toleranz-Forderung berief. Über H o c h m a n n s f r ü h e religiöse Entwicklung ist nichts bekannt. Seine Bekehrung erlebte er in Halle, zeigte sich aber „sofort fast als ein T r u n k e n e r " ( A . H . Francke). Der in einem besonderen Berufungsbewußtsein gründende Enthusiasmus äußerte sich in scharfer Kirchenkritik und spiritualistischer Abendmahlsfeier (ohne Brot und Wein) und führte zum Konflikt mit den Behörden, Gefängnis und Ausweisung — ein Geschick, das H o c h m a n n im Laufe seines Lebens noch häufig erleiden sollte. Die Jahre 1 6 9 4 - 9 8 liegen weithin im Dunkeln. In E r f u r t fand H o c h m a n n 1693 eine Stelle im H a u s des -»Petersen-Freundes Prof. Brückner, setzte 1694 sein Studium fort, wirkte danach (1695 ff ?) vielleicht als I n f o r m a t o r im H a u s e von -»Zinzendorfs G r o ß m u t t e r , Henriette Katharina von Gersdorf, in Dresden. Im Umkreis Petersens machte H o c h m a n n Bekanntschaft mit der Gedankenwelt Gichteis und der englischen Philadelphier (-»Spiritualismus). 1697(?)—99 befand sich H o c h m a n n im südhessischen R a u m (Gießen ?, Frankfurt) und stand in Kontakt mit G. - » A r n o l d , J. K. -»Dippel und anderen Radikalpietisten. Im Spätsommer 1699 bereiste er das Berner Land, begegnete d a n n wieder bei der in eschatologischer Hochstimm u n g begonnenen „Kirchenrevolution" in der G r a f s c h a f t Solms-Laubach. Die J a h r e 1 7 0 0 - 1 7 2 0 zeigen ihn als „Apostel des Separatismus" - auf der - von kürzeren oder längeren Aufenthalten in seiner „Eremitage Friedensburg" im Wittgensteinschen

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Hochmann von Hochenau

Schwarzenau unterbrochenen - Wanderschaft, deren Itinerar weitgehend rekonstruierbar ist. Sein Wirkungsfeld erstreckte sich von Leipzig und Nürnberg bis zum Niederrhein, von Mannheim bis Hannover. Hochmann starb am 12(?). 1.1721 in Schwarzenau. 2.

Gedankenwelt

Hochmanns theologische Gedankenwelt und Frömmigkeit sind geprägt von mystisch-spiritualistischen Einflüssen. Sein Eklektizismus (nach I Thess 5,21) ist ein Charakteristikum des radikalen -»Pietismus. Neben Vertretern der mittelalterlichen (-»Bernhard von Clairvaux, Tauler, -»Gerson) und neuzeitlichen katholischen -»Mystik (Bona, -»Molinos) begegnen -»Luther, Spiritualisten (-»Franck, -»Weigel, -»Joris, -»Betke, J. -»Böhme, Gichtel), Täufer (-»Menno Simons) und -»Quäker (Barclay) als Gewährsleute. Hochmanns Gottesvorstellung hebt die Spannung zwischen Gerechtigkeit und Liebe zugunsten eines Ewigen Liebes-Wesens (vgl. -»Dippel) auf. Christsein heißt, in der Herzensvereinigung mit der Ewigen Liebe stehen. Wer Christus liebt, hört inwendig seine Stimme (Joh 10,27), das Schriftwort ist dem inneren Wort untergeordnet. Auch die Sakramente sind keine Gnadenmittel. Die Ablehnung der Kindertaufe führt Hochmann nicht wie einige seiner Anhänger zur Einführung der Erwachsenen—»Taufe der Gläubigen (-»Brüder [Church of the Brethren]), sondern zur Relativierung jeder „äußeren Wassertaufe". Das als Gedächtnis der Liebe Christi (nur gelegentlich) gefeierte Abendmahl („Liebesmahl") ist nur für wahre Jünger eingesetzt. Hochmann kennt nur eine unsichtbare Kirche des Geistes. Nicht das „babylonische äußere Sektenwesen" (Konfessionskirchen), nur die freie, „unparteiische" (überkonfessionelle) Gemeinschaft der Kinder Gottes entspricht der urchristlichen Gemeinde (vgl. -»Arnold) und bildet die endzeitliche Brautgemeinde zu Philadelphia (Apk 3,7ff). Sie bedarf keines „zeremonialischen" Kultus, weil sie in Geist und Wahrheit anbetet (Joh 4 , 2 3 f - locus classicus des Spiritualismus), und keiner Gemeindeorganisation, weil der Geist ihre Glieder verbindet. 1 Die Obrigkeit ist eine göttliche Ordnung im „Reich der Natur", der in Zivil-Sachen zu gehorchen ist (Rom 13), nicht aber in Angelegenheiten, die gegen Gottes Wort, das Gewissen und die „Freiheit Christi" (Gal 5,1) streiten (Act 5,28). Die Forderung der religiösen Toleranz ist im natürlichen und im göttlichen Recht begründet. Todesstrafe, Eidesleistung und Kriegsdienst sind unchristlich. Im Kampf gegen das „Babel in uns" kann der Wiedergeborene zur vollkommenen Heiligung gelangen (I Joh 3,3; Hebr 7,25). Das asketische Weltverhältnis mündet in einen -»Chiliasmus; beide verbindet der Gedanke der Verwandlung zum Göttlichen (nach oben bzw. innen und in eine geschichtliche Zukunft) 2 . Chiliastisch begründet ist auch Hochmanns Erwartung der bevorstehenden Erlösung Israels, dem sich sein Messias in Majestät selbst - ohne vorherige Judenmission - offenbaren wird. Die Apokatastasis (-»Eschatologie) folgt zwingend aus der Allmacht der Ewigen Liebe, die in typologischer Entsprechung zum Fall der gesamten Menschheit in Adam auch die Wiederbringung aller fordert (Rom 5; IKor 15,22: „alle"). In seiner Ehelehre greift Hochmann die (durch Gichtel und die englischen Philadelphier vermittelte) Spekulation J. -»Böhmes vom androgyn erschaffenen Menschen auf. Seit dem Sündenfall liegen Flüche auf dem Ehestand (Gen 3, 16ff), so daß Ehelosigkeit vorzuziehen ist (Mt 19, lOff; I Kor 7,1), nicht als katholisches Zwangs—»Zölibat, sondern als Frucht des Geistes (IKor 7, 32ff). Hochmann unterscheidet fünf aufsteigende Arten von Ehen, von einer ganz tierischen über eine heidnisch-ehrbare, aber unreine, einer christlichen (Eph 5,25), einer jungfräulichen mit einer „Eheschwester" (Maria und Joseph; frühchristliche Beispiele) bis zum vollkommenen Grad der allein mit Christus, ihrem wahren „ M a n n " (vgl. Zinzendorfs Anschauung) verlobten Seele (Cant 6,8 f; Paulus). Für die Unbekehrten fordert Hochmann eine Ziviltrauung, während die Ehen der Wiedergeborenen in der Gemeinde eingesegnet werden sollen.

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Hochschulen, Kirchliche 3.

Wirkung

Hochmanns Wirkung beruht mehr auf seinem persönlichen Auftreten als auf seinen wenigen - Schriften. Nahezu alle radikalpietistischen Gruppierungen des 18. Jh. sind von ihm beeinflußt. Die aus Hochmann-Anhängern entstandenen Schwarzenauer Neutäufer (Church of the Brethren) rezipierten trotz des Dissenses in den Fragen von Taufe und Gemeindeordnung sein Glaubensbekenntnis (Nachdr. 1743). Sein Eheverständnis wirkte in weiten pietistischen Kreisen, auch in Zinzendorfs „Ehe-Religion", nach. Zinzendorf zählte Hochmann, den geistlichen Lehrmeister seiner Gattin, zu den „allerliebsten Namen", widmete ihm ein Epicedium und druckte sein Schreiben an die Juden nach. Auch —»Tersteegen und seine Schüler hielten Hochmanns Andenken hoch (Hs.: Geistliche Liebensbrocken des Tersteegenianers W. Weck, 1771, mit Biographie und Briefabschriften). Hochmanns Ansehen und Nachwirkung in Teilen der -»Erweckungsbewegung dokumentiert -»Jung-Stillings Roman Theobald oder die Schwärmer (1784/85). Anmerkungen 1

2

Für E. -»Troeltschs Entwurf von Typen christlicher Gemeinschaftsbildung (Die Soziallehren der christlichcn Kirchen und Gruppen, [ 3 1922] Nachdr. Aalen 1977) könnte Hochmann ein Paradigma des Idealtyps „Mystik" abgeben; vgl. auch Schneider: J G P 9 (1983) 149f. Vgl. hierzu J. Baur, Salus Christiana. Die Rechtfertigungslehre in der Geschichte des christl. Heilsverständnisses, Gütersloh, I 1968, 106ff.

Quellen Druckschriften: s. Renkewitz (s.u. Lit.) 418f. - Hs. Nachlaß: s. Renkewitz 410-426, Ergänzungen: VIIIf.; ferner: StArch Marburg 4i225 (s. Schneider, Inspirationism), Staats- u. Univ. Bibl. Hamburg, Supp. ep. 26,16; UB Basel, L i a 696, Bl.2f.

Literatur Ernst Benz, Die prot. Thebais. Zur Nachwirkung Makarios des Ägypters im Protestantismus des 17. u. 18. Jh. in Europa u. Amerika, 1963 (AAMWGSL 1). - Donald F. Durnbaugh, Brethren Beginnings. The Origins of the Brethren in Early Eighteenth-Century Europe. PhD-Diss. Univ. of Pennsylvania 1960. - Dcrs. (Hg.), Origins of the Brethren. A source book on the beginnings of the Church of the Brethren in the eighteenth century, Elgin/Ill. 2 1967. - Chauncer D. Ensign, German Radical Pietism (c. 1675-c. 1760), PhD-Diss. Univ. of Boston 1955. - J.B. Neveux, Vie spirituelle et vie sociale entre Rhin et Baltique au XVII e siècle, Paris 1957. - Heinz Renkewitz, Hochmann v. Hochenau. Quellenstud. zur Gesch. des Pietismus, 2 1969 (AGP5). - Martin Schmidt, Pietismus, 3 1983 (UB 145). - Hans Schneider, Hochmann v. Hochenau and Inspirationism. A newly discovered letter: BLT25 (1980) 199 - 2 2 2 . - Ders., Der radikale Pietismus in der neueren Forschung: J G P 8 (1982) 15-42; 9(1983) 117-151. - D e r s . , Gottfried Arnolds angeblicher Schweizbesuch im Jahre 1699: T h Z 41(1985) 434-439. - Ders., Ein .Schreiben an die Juden'. Hochmann, Zinzendorf u. Israel: Unitas fratrum 17 (1985) 68-77. - F. Ernest Stoeffler, German Pietism in the Eighteenth Century, 1973 (SHR24). - Fritz Tanner, Die Ehe im Pietismus, Zürich 1952.

Hans Schneider Hochschulen, Kirchliche (s.a. -*Fakultäten, 1. Grundsätzliche Fragen S.434)

1. Grundsätzliche

Theologische,

2. Die einzelnen Hochschulen

-*Theologiestudium)

3. Zusammenfassung

(Literatur

Fragen

Während die römisch-katholische Kirche seit eh und je die Ausbildung ihrer Theologen in eigene Verantwortung nahm und darüber hinaus eine große Zahl von Hochschuleinrichtungen unterhielt, sind evangelische Pfarrer seit dem 16. Jh. an staatlichen Universitäten ausgebildet worden ( - • Fakultäten, Theologische). Das Summepiskopat ( - • Kirchenregiment, Landesherrliches) des Landesherrn hat die Verbindung von Staat und Kirche auch in der Theologenausbildung über Jahrhunderte hin als unproblematisch, ja

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Hochschulen, Kirchliche 3.

Wirkung

Hochmanns Wirkung beruht mehr auf seinem persönlichen Auftreten als auf seinen wenigen - Schriften. Nahezu alle radikalpietistischen Gruppierungen des 18. Jh. sind von ihm beeinflußt. Die aus Hochmann-Anhängern entstandenen Schwarzenauer Neutäufer (Church of the Brethren) rezipierten trotz des Dissenses in den Fragen von Taufe und Gemeindeordnung sein Glaubensbekenntnis (Nachdr. 1743). Sein Eheverständnis wirkte in weiten pietistischen Kreisen, auch in Zinzendorfs „Ehe-Religion", nach. Zinzendorf zählte Hochmann, den geistlichen Lehrmeister seiner Gattin, zu den „allerliebsten Namen", widmete ihm ein Epicedium und druckte sein Schreiben an die Juden nach. Auch —»Tersteegen und seine Schüler hielten Hochmanns Andenken hoch (Hs.: Geistliche Liebensbrocken des Tersteegenianers W. Weck, 1771, mit Biographie und Briefabschriften). Hochmanns Ansehen und Nachwirkung in Teilen der -»Erweckungsbewegung dokumentiert -»Jung-Stillings Roman Theobald oder die Schwärmer (1784/85). Anmerkungen 1

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Für E. -»Troeltschs Entwurf von Typen christlicher Gemeinschaftsbildung (Die Soziallehren der christlichcn Kirchen und Gruppen, [ 3 1922] Nachdr. Aalen 1977) könnte Hochmann ein Paradigma des Idealtyps „Mystik" abgeben; vgl. auch Schneider: J G P 9 (1983) 149f. Vgl. hierzu J. Baur, Salus Christiana. Die Rechtfertigungslehre in der Geschichte des christl. Heilsverständnisses, Gütersloh, I 1968, 106ff.

Quellen Druckschriften: s. Renkewitz (s.u. Lit.) 418f. - Hs. Nachlaß: s. Renkewitz 410-426, Ergänzungen: VIIIf.; ferner: StArch Marburg 4i225 (s. Schneider, Inspirationism), Staats- u. Univ. Bibl. Hamburg, Supp. ep. 26,16; UB Basel, L i a 696, Bl.2f.

Literatur Ernst Benz, Die prot. Thebais. Zur Nachwirkung Makarios des Ägypters im Protestantismus des 17. u. 18. Jh. in Europa u. Amerika, 1963 (AAMWGSL 1). - Donald F. Durnbaugh, Brethren Beginnings. The Origins of the Brethren in Early Eighteenth-Century Europe. PhD-Diss. Univ. of Pennsylvania 1960. - Dcrs. (Hg.), Origins of the Brethren. A source book on the beginnings of the Church of the Brethren in the eighteenth century, Elgin/Ill. 2 1967. - Chauncer D. Ensign, German Radical Pietism (c. 1675-c. 1760), PhD-Diss. Univ. of Boston 1955. - J.B. Neveux, Vie spirituelle et vie sociale entre Rhin et Baltique au XVII e siècle, Paris 1957. - Heinz Renkewitz, Hochmann v. Hochenau. Quellenstud. zur Gesch. des Pietismus, 2 1969 (AGP5). - Martin Schmidt, Pietismus, 3 1983 (UB 145). - Hans Schneider, Hochmann v. Hochenau and Inspirationism. A newly discovered letter: BLT25 (1980) 199 - 2 2 2 . - Ders., Der radikale Pietismus in der neueren Forschung: J G P 8 (1982) 15-42; 9(1983) 117-151. - D e r s . , Gottfried Arnolds angeblicher Schweizbesuch im Jahre 1699: T h Z 41(1985) 434-439. - Ders., Ein .Schreiben an die Juden'. Hochmann, Zinzendorf u. Israel: Unitas fratrum 17 (1985) 68-77. - F. Ernest Stoeffler, German Pietism in the Eighteenth Century, 1973 (SHR24). - Fritz Tanner, Die Ehe im Pietismus, Zürich 1952.

Hans Schneider Hochschulen, Kirchliche (s.a. -*Fakultäten, 1. Grundsätzliche Fragen S.434)

1. Grundsätzliche

Theologische,

2. Die einzelnen Hochschulen

-*Theologiestudium)

3. Zusammenfassung

(Literatur

Fragen

Während die römisch-katholische Kirche seit eh und je die Ausbildung ihrer Theologen in eigene Verantwortung nahm und darüber hinaus eine große Zahl von Hochschuleinrichtungen unterhielt, sind evangelische Pfarrer seit dem 16. Jh. an staatlichen Universitäten ausgebildet worden ( - • Fakultäten, Theologische). Das Summepiskopat ( - • Kirchenregiment, Landesherrliches) des Landesherrn hat die Verbindung von Staat und Kirche auch in der Theologenausbildung über Jahrhunderte hin als unproblematisch, ja

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selbstverständlich erscheinen lassen. So haben die evangelischen Landeskirchen in Deutschland seit der Reformation keinerlei Interesse an eigenen kirchlichen Hochschuleinrichtungen gezeigt. Diese Situation hat sich erst im 20. Jh. geändert. Nach der Begründung der Theologischen Schule in Bethel 1905, der Kirchlichen Hochschulen Berlin und Wuppertal 1935, in Neuendettelsau und Oberursel 1947 und schließlich in Hamburg 1948 riefen in den siebziger Jahren verschiedene Landeskirchen auch kirchliche Fachhochschulen ins Leben, und eine Reihe von Freien Theologischen Akademien in privater Trägerschaft (Basel, Gießen, Krelingen, Seeheim, Sevetal) erheben mittlerweile Anspruch auf Anerkennung als kirchlich-theologische Ausbildungsstätten, dem bislang allerdings nur die Württembergische Landeskirche in einem sehr begrenzten Umfang nachgekommen ist. Damit ergeben sich Fragen vielfältiger Art, denen hier nur im Bereich des Grundsätzlichen und im Blick auf die bestehenden Kirchlichen Hochschulen nachgegangen werden kann. Die kirchlichen Fachhochschulen verweisen in einen eigenen Bildungsbereich, und die Akademien in privater Trägerschaft sind in Zielsetzung, von einer grundsätzlich fundamentalistischen Orientierung abgesehen, in Struktur und Organisationsform noch so unübersichtlich, daß wohl erst die nächste Generation weitere Auskunft über ihre Entwicklung erteilen kann. Auch über die zahlreichen römisch-katholischen Hochschuleinrichtungen kann in diesem Zusammenhang nicht informiert werden. Schließlich, der ökumenische Horizont, in dem inzwischen Theologie getrieben wird, hat längst darauf aufmerksam werden lassen, daß es Hochschuleinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft schon seit längerer Zeit nicht nur in den USA, in den Schwellenländern und den Kontinenten der Dritten Welt, sondern auch in Europa gibt (z.B. Frankreich, Italien, Niederlande, Norwegen). Gleichwohl beschränkt sich dieser Artikel auf den deutschsprachigen Raum.

1.1. Die Begründung der Kirchlichen Hochschule Bethel 1905 war insofern ein historisches Datum, als sie an das selbstverständliche Bildungsmonopol des Staates rührte. Deshalb hat der preußische Staat ihr zunächst die Anerkennung verweigert und ihr lediglich die Bezeichnung „Theologische Schule" zugestanden. Mit der Trennung von Staat und Kirche (-»Kirche und Staat) seit 1918 hat sich die Situation zwar grundsätzlich, aber noch keineswegs faktisch verändert. Die theologischen Fakultäten wurden (und werden bis zur Gegenwart) weiterhin als die traditionellen Ausbildungsstätten für den Pfarrernachwuchs im Rahmen der Universität geführt, selbst in der D D R , so daß die Kirchlichen Hochschulen Berlin und Wuppertal, in diesem Zusammenhäng auch die Theologische Schule Bethel, vom nationalsozialistischen Staat verboten werden konnten und das Nebeneinander von Kirchlichen Hochschulen und staatlichen theologischen Fakultäten auch nach 1945 zunächst — im Blick auf die Weiterexistenz der theologischen Fakultäten — über lange Jahre als Problem empfunden wurde. Immerhin hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Art. 140 G G , 137 Abs. 3 Satz 1 WRV) den Kirchen grundsätzlich das Recht zugestanden, ihre Angelegenheiten unabhängig vom Staat zu ordnen, und ihnen damit auch das Recht eingeräumt, eigene Einrichtungen zur wissenschaftlichen Ausbildung des Pfarrernachwuchses zu unterhalten. Dadurch, d a ß der Staat die Existenz der bestehenden theologischen Fakultäten nicht in Frage stellte, sondern sogar an den neu begründeten Universitäten -»Bochum und -»Mainz theologische Fakultäten einrichtete, die inzwischen über Staatskirchenverträge voll abgesichert sind, hat sich die Rechtsunsicherheit im Nebeneinander von theologischen Fakultäten und Kirchlichen Hochschulen mittlerweile gelegt. Das Staatskirchenrecht garantiert den Kirchen sowohl das Weiterbestehen der theologischen Fakultäten als auch das Recht auf Hochschulen in eigener Trägerschaft zur Ausbildung des Pfarrernachwuchses. Immerhin kommt den Kirchlichen Hochschulen und ihrer erfolgten Anerkennung im Staatskirchenrecht „Pilotfunktion" (Solte 26) für das Verhältnis von Staat und Kirche seit 1945 zu. Trotzdem, nicht so sehr die Auseinandersetzung um die Freiheit der Kirche vom Staat, die bereits im 19. Jh. verschiedentlich laut oder verhalten gefordert wurde, hat zur Begründung Kirchlicher Hochschulen geführt, sondern theologische Kontroversen zwischen der liberalen und der konservativen Theologie einerseits und defizitäre Erfahrungen bei der Ausbildung des Pfarrers f ü r den Gemeindealltag andererseits. So schrieb F. von -»Bodelschwingh schon 1858 in einem Brief an Josen-

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hans: „Es wird soviel handwerksmäßige Künstelei mit der Heiligen Schrift getrieben, daß man die stille, heilige Freude an ihr verliert - dazu kommt der konfessionelle Hader, dessen herzerkältende Wirkungen ich . . . habe spüren müssen"; und dann 1905 in der Denkschrift Die Freie theologische Schule zu Bethel bei Bielefeld, wenige Monate vor ihrer Gründung: „Nicht darum sind wir der modernen Theologie abhold, weil sie so wissenschaftlich, sondern weil sie so lieblos ist. Mit der Theologie des Zweifels an einen lebendigen, barmherzigen Gott kann man keine Liebe üben, keine Traurigen trösten, kein barmherziger Samariter sein". Es ist also die alte, seit -»Speners Reformvorschlägen für das theologische Studium immer neu auftauchende Erfahrung, daß wissenschaftlich betriebene Theologie theologische Existenz eher bedrohen als fördern, Vergewisserung im Glauben in Verantwortung gegenüber Kirche und Welt eher mindern als vertiefen kann. A. Schlatter, einer der geistigen Väter der Theologischen Schule von Bethel, äußerte 1914: „ E s ist jeder Kirche zu raten, daß sie die Erfüllung der theologischen Pflicht nicht nur solchen Anstalten (sc. den Universitätsfakultäten) übertrage, auf die sie keinen Einfluß hat, sondern sich auch eigene Arbeitsstätten schaffe neben denen, die nach dem überlieferten Recht der Staat unterhält" (Schlatter, Die christliche Ethik 272). In der Weimarer Republik setzte innerhalb von Theologie und Kirche das Ringen um den Kirchenbegriff mit allem Nachdruck ein und fand seine praktische Bewährung in der Auseinandersetzung zwischen den Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche während des Kirchenkampfes im Dritten Reich (-»Nationalsozialismus und Kirchen). Durch die Neuorientierung von Kirche und Theologie an Schrift, Bekenntnis und Kirche, durch den unauflöslichen Bezug von „Botschaft und Ordnung" (Barmen III) wie „Sammlung und Sendung" aufeinander und nicht zuletzt durch die Übernahme Theologischer Examina in die Verantwortung der Bekennenden Kirche erhielten die Kirchlichen Hochschulen neue und fundamentale Bedeutung. Die Theologische Schule Bethel verpflichtete schon im August 1934 Dozenten und Studenten auf die Anerkennung der Theologischen Erklärung von Barmen, und die Hochschulen von Berlin und Wuppertal wurden 1935 als Konsequenz des Beschlusses der 3. Reichsbekenntnissynode in Augsburg ( 4 . - 6 . 6 . 1 9 3 5 ) ins Leben gerufen, der die Kirchenleitungen der Bekennenden Kirche verpflichtet, „überall da, wo die Not es fordert, für Ersatz solcher Vorlesungen und Übungen Sorge zu tragen, deren Besuch den Studenten um des Gewissens willen nicht zugemutet werden k a n n " . 1936 hat die Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union in Breslau ihre Theologiestudenten von der Verpflichtung der obligatorischen sechs Semester an staatlichen Fakultäten entbunden. Kein Wunder, daß Universitätsfakultäten und Staat die Kirchlichen Hochschulen damals nicht nur als Konkurrenz, sondern als Bedrohung empfanden und entsprechend gegen sie vorgingen. Nach 1945 wurden die Lehrstühle an Theologischen Fakultäten weitgehend mit T h e o logen der Bekennenden Kirche besetzt, so daß der Gegensatz zwischen liberaler und positiver Theologie hinfällig wurde, Theologie in kirchlicher Verantwortung ein allseits vertretenes Anliegen auch der Universitätstheologie wurde und sich damit die bisherige Frontstellung, in der die Kirchlichen Hochschulen standen, ebenso abbaute wie die Zurückhaltung der Universitätsfakultäten gegenüber den Kirchlichen Hochschulen. Lediglich die Auseinandersetzung um das Entmythologisierungsprogramm R . Bultmanns schlug noch einige Wellen (vgl. die Stellungnahme des Dozentenkollegiums Bethel zu der von R . Bultmann vertretenen Entmythologisierung 1952, WuD, N F 3 [1952], 146 ff), beruhigte sich aber alsbald, zumal die Theologischen Fakultäten (z. B. -»Heidelberg) an dieser Kontroverse ebenfalls beteiligt waren. 1.2. Damit war die Frage nach dem Selbstverständnis der Kirchlichen Hochschulen im Kontext zeitgenössischer Theologie erstmals prinzipiell gestellt und das Verhältnis zu den theologischen Fakultäten grundsätzlich zu bestimmen. Diese Klärung vollzog sich in einem mehrere Jahrzehnte währenden Prozeß, der mittlerweile zu einem gewissen Abschluß gekommen ist. Er hat eine inhaltliche (1.2.1) und eine formale Seite (1.2.2). 1.2.1. Im allgemeinen wird die Errichtung der Kirchlichen Hochschulen als Anti-

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Hochschulen, Kirchliche

Gründung zu den Universitätsfakultäten und ihrer Ausbildung angesehen. Aber schon für F. von -»Bodelschwingh war der herrschende Liberalismus an den Fakultäten eher ein Rand- als ein Zentralargument für die Gründung seiner Institution. Er wollte mit seiner „Schule" keineswegs eine „Erziehungsstätte der O r t h o d o x i e " bzw. ein „parteitheologisches Privatunternehmen" und schon gar nicht eine „geistliche Dampfdrechselmaschin e " , ein „Treibhaus", eine „künstliche Bekehrungsanstalt" ins Leben rufen (F. von Bodelschwingh, Ausgew. Sehr., II 1964,206.300ff). Es ging ihm vielmehr um „Ergänzung und Vertiefung" des Theologiestudiums in dem Sinn, daß der Anspruch der Heiligen Schrift, die Wirklichkeit des Lebens vor Gott und damit das reformatorisch verstandene T h e m a von Theologie und Kirche wieder zur Geltung kommt. In der im Kirchenkampf aufgekommenen Bezeichnung „Kirchliche Hochschule" wurde die Wiederentdeckung der Kirche als T h e m a der Theologie ausdrücklich apostrophiert. „Das neue Bewußtsein von Kirche ist es, das zu diesen Hochschulgründungen (Berlin, Wuppertal) geführt h a t " (Luck 17). F. von Bodelschwingh hatte dies Anliegen ebenfalls im Auge, und für die Gründung der Hochschulen in Hamburg, Neuendettelsau und Oberursel läßt sich, unter verschiedenen Akzentuierungen zwar, das gleiche feststellen. So sind „Kirchliche Hochschulen" Hochschulen, in denen die Sache der Kirche Gegenstand von Forschung und Lehre ist „im Zusammenhang der Welt, zu der die Kirche gehört" (Luck 13 f). Die Frage, ob die Kirchlichen Hochschulen ihrem Selbstverständnis nach eine „Ergänzung" (Merz, R G G 3 3 [1959] 384) oder eine Parallele zum Universitätsstudium anbieten, läßt sich mittlerweile nicht mehr so alternativ stellen; es geht nicht um eine besonders akzentuierte, schon gar nicht um eine kirchlich approbierte Theologie wann hätte es diese im Protestantismus je gegeben! - , sondern um die spezielle Aufmerksamkeit für eine bestimmte Dimension von Theologie, nämlich die Kirche, die aller Theologie aufgetragen ist. Wie sich das im einzelnen darstellt, wird im Abschn. 2 beschrieben. 1.2.2. Im Lehrangebot, in der Studienorganisation, in der Selbstverwaltung der Hochschulen bestehen keinerlei Unterschiede zu den Universitäten. Die staatliche Gesetzgebung hat in den letzten Jahren den Kirchlichen Hochschulen das Recht zuerkannt, Hochschulprüfungen mit Wirkung für den staatlichen Bereich abzunehmen, akademische Grade zu verleihen und den wissenschaftlichen Nachwuchs zu habilitieren. Bethel, Berlin und Wuppertal besitzen inzwischen das Promotions- und Habilitationsrecht und nehmen es wahr. Dozenten Kirchlicher Hochschulen werden längst auf Lehrstühle staatlicher Fakultäten berufen und umgekehrt. Die Zurückhaltung, mit der sich Universitätsfakultäten über lange Jahre hin den Kirchlichen Hochschulen gegenüber verhalten haben, ist auf Grund dieser Entwicklung mittlerweile gewichen. Die Kirchlichen Hochschulen sind gleichberechtigte Mitglieder mit Sitz und Stimme im EvangelischTheologischen Fakultätentag; sie sind in der Westdeutschen Rektorenkonferenz Mitglied und haben das Wahlrecht zu den Gremien der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Eine über lange Zeit bestehende Einschränkung für die Kirchlichen Hochschulen ist allerdings noch nicht völlig beseitigt: Im Zusammenhang des staatlichen Bildungsmonopols hat der preußische Staat - vor allem gegen die katholische Kirche - 1873 das Triennium verfügt, auf Grund dessen Theologiestudenten, die das Pfarramt anstreben, mindestens drei Jahre an einer staatlichen Fakultät studieren müssen. Die Anrechenbarkeit der an Kirchlichen Hochschulen verbrachten Semester war zunächst grundsätzlich zu erkämpfen - Evangelischer Oberkirchenrat in Berlin und Preußische Generalsynode verhielten sich in dieser Frage fast schwieriger als der Staat - , nach 1945 ergab sie sich, war das Triennium eingehalten, problemlos. Denn durch die Ausdehnung des Theologiestudiums auf in der Regel zehn bis zwölf Semester stellte das Triennium faktisch keine Behinderung der Kirchlichen Hochschulen mehr dar, zumal es im Grunde nur für die ehemals preußischen Landeskirchen (Berlin-Brandenburg, Rheinland, Westfalen) galt und andere Landeskirchen die Ausbildung an Kirchlichen Hochschulen dem Fakultätsstudium durch ihre Prüfungsordnungen inzwischen ausdrücklich gleichgestellt haben (Bayern, Berlin, Kurhessen-Waldeck, Nordelbien, Nordwestdeutschland, Pfalz). Seit längerem haben die Bundesländer in Staatskirchenverträgen Dispensklauseln vom Triennium vorgesehen, an dessen Einhaltung sie sich in den letzten Jahren allerdings kaum noch interessiert zeigten, und wenn, dann formal im Sinne einer Anzeige durch die Landeskirchen. Die Kirchlichen Hochschulen ihrerseits sind an der Fortexistenz der theologischen Fakultäten, die durch das Triennium garantiert sind,

Hochschulen, Kirchliche

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sehr interessiert und legen Wert darauf, d a ß ihre Studenten, nicht nur wegen der Pluralität der Studienangebote, an Universitätsfakultäten ebenfalls studieren. Im Blick auf die Rechtsentwicklung und die Rechtspraxis in Staat (Vertragsrecht) und Kirchen (Ausbildungsrecht) hat das Triennium somit seine die Kirchlichen Hochschulen ursprünglich diskriminierende, dann behindernde Bedeutung verloren. „Dem Triennium kommt im Wesentlichen nur noch die Funktion eines Erinnerungspostens zu, der den Kirchen Bedeutung und Wert der Fakultäten, nicht zuletzt auch im größeren Zusammenhang des Staat-Kirchen-Verhältnisses... deutlich macht" (Solte 22 f). Staat und Universität haben ihre gewandelte Einstellung gegenüber den Kirchlichen Hochschulen auch dadurch bekundet, d a ß es mit Berlin feste rechtliche Vereinbarungen und mit Bethel und Wuppertal Kooperationsverträge gibt. Staatliche Zuschüsse werden allerdings nur für die Kirchliche Hochschule Berlin gezahlt, im übrigen liegt die Trägerschaft der Kirchlichen Hochschulen ganz bei den Landeskirchen (vgl. Abschn. 2). Allerdings erhebt sich die Frage, o b durch die staatliche Anerkennung über die Landeshochschulgesetze und die Verleihung des Promotions- und Habilitationsrechtes nicht eine zu starke, dem Selbstverständnis widersprechende Unterstellung unter die staatliche Aufsicht erfolgt ist. Dies darf mit Fug und Recht verneint werden, weil die Hochschulgesetze den Hochschulen in nichtstaatlicher Trägerschaft zwar die staatliche Anerkennung einräumen und damit Rücksicht auf das Homogenitätsgebot abverlangen, aber auch Ausnahmen für ihre besondere Situation zugestehen (vgl. $70 Hochschulrahmengesetz). Das Homogenitätsgebot, das die Gleichwertigkeit der Zugangsvoraussetzungen, der Ausbildungsgänge, der Berufungsqualifikationen der Professoren und damit der wissenschaftlichen Arbeit sowie der Hochschulselbstverwaltung im Auge hat, wird von den Kirchlichen Hochschulen ohnehin anerkannt, und inhaltliche Eingriffe in Forschung und Lehre von Seiten des Staates sind auf Grund des vom Bundesverfassungsgericht garantierten Pluralismusgebotes, das der Staat zu schützen hat, nicht zu befürchten.

Staatliche Fakultäten und Kirchliche Hochschulen haben inzwischen ihre unbestrittene Existenzberechtigung „aus überliefertem Recht". Da die Ausbildungskapazitäten für Pfarrer und Religionslehrer ausreichen, ist gegenwärtig eine Vermehrung Kirchlicher Hochschulen nicht notwendig. Zur Zeit studieren etwa 10% aller Theologiestudenten an Kirchlichen Hochschulen; auf Grund der größeren Fluktuation im Vergleich mit den Fakultäten ist davon auszugehen, daß, wie in früheren Zeiten, etwa 25% der Pfarrerschaft an Kirchlichen Hochschulen studiert hat. Die Erfahrungen des Kirchenkampfes im Dritten Reich zeigen jedoch, daß die Kirchen gut beraten sind, im Blick auf die Wahrung ihres Auftrages an ihren eigenen Hochschulen festzuhalten. So wenig sich die Kirchlichen Hochschulen gegenwärtig hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit ihrer Ausbildung oder ihrer konfessionellen Festlegung von den staatlichen Fakultäten unterscheiden, so gibt es doch einige Besonderheiten, auf die noch hinzuweisen ist. Die Kirchlichen Hochschulen versagen sich der Massenuniversität und bemühen sich um einen intensiven Austausch zwischen „Lehrenden und Lernenden", auch über die Lehrveranstaltungen hinaus. Durch die campusartige, angelsächsischem Muster entsprechende Anlage der Hochschulen mit mehreren Studentenwohnheimen versuchen sie, auch das gemeinsame Leben unter Studenten als einen besonderen Bildungsauftrag zu realisieren. Nicht zuletzt ist die vita communis im geistlichen und gottesdienstlichen Bereich eine allseits bejahte Aufgabe. Die Einführung in spezielle Praxisfelder, die an kirchlicher Arbeit teilnehmen und diese zugleich kritisch beobachten und bedenken läßt (vgl. Abschn. 2), gehört dazu. Daß „Theologie ein habitus practicus ist und ganz um ihrer selbst" (und nicht im Dienst einer wie immer gearteten Theorie oder Ideologie) zu betreiben ist, wobei das Denken des Glaubens die Aufarbeitung eigener Erfahrung einschließt (vgl. Luck 26), sollte der besondere, natürlich nicht exklusive Auftrag der Kirchlichen Hochschulen bleiben. 2. Die einzelnen

Hochschulen

Die Kirchlichen Hochschulen haben vieles, was sie miteinander verbindet und deshalb auch in einer lockeren Arbeitsgemeinschaft zusammenhält, die vom Rektor der Betheler Hochschule je nach Bedarf koordiniert wird. Aber jede Hochschule hat auch ihre eigene Geschichte und ihr besonderes Profil. In chronologischer Reihenfolge, jeweils am Entstehungsdatum orientiert, ist kurz zu berichten. 2.1. Die Kirchliche Hochschule Bethel. Sie ist eine Gründung F. von -»Bodel-

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Hochschulen, Kirchliche

schwinghs und eng mit dem W i r k e n und Denken ihres Initiators verflochten (vgl. J . v a n der Kooi: G. R u h b a c h , Die kirchl. H o c h s c h u l e Bethel 1 9 0 5 - 1 9 8 0 , 1 1 - 5 7 ) . Schon sein Pariser Auslandspfarramt ließ in Bodelschwingh den Gedanken eines kirchlichen Seminars zur Ausbildung und Weiterbildung von Pfarrern unter dem Aspekt der praktischen Anforderungen des Amtes reifen. Bereits in seiner frühen Betheler Zeit stieß er auf die Entchristlichung der Schule und die mit dem staatlichen Bildungsmonopol gegebenen Gefahren. Er sprach vom Auftrag „schulischer Diakonie", den die Kirche habe, und beteiligte sich an der Errichtung einer „evangelischen Präparandenanstalt" für Lehrer in Holzwickede bei Unna. Pädagogische Aufgaben haben ihn in seinem Betheler Werk, das er ein großes „Lehrhaus" nennen konnte, immer beschäftigt, und sein Interesse an der Theologenausbildung steht in diesem Zusammenhang. 1887 beantragte er bei dem Evangelischen Oberkirchenrat und beim Preußischen Kultusministerium in Berlin die Errichtung eines Kandidatenkonvikts für Vikare, die durch den Dienst „mit der blauen Schürze" und bald auch durch Vorbereitung auf die Missionsarbeit in das Pfarramt eingeübt werden sollten. 1890 wurde das Kandidatenkonvikt in Bethel gegründet und hat fast 80 Jahre bestanden. In den neunziger Jahren beschäftigte der Streit um das Apostolicum (s. T R E 3,560-562) und die Forderung nach Errichtung „positiver Professuren" an den preußischen theologischen Fakultäten die kirchliche Szene und brachte Bodelschwingh in die vorderste Reihe der Auseinandersetzung. Ab 1895, enttäuscht durch vielerlei Unverständnis leitender Kirchenmänner, faßte er den Plan, eine „freie Hochschule" zur Theologenausbildung ins Leben zu rufen, und dachte dabei zunächst an Herford oder Gütersloh als Standort. Mit Eingaben, Reden, Flugschriften, ja sogar Aufstellung von Berufungslisten verfolgte er diesen Plan weiter - trotz aller Widerstände von staatlicher und kirchlicher Seite. Seine Denkschrift vom 20.5.1895 Eine freie theologische Fakultät faßt seine Überlegungen zusammen und macht deutlich, daß seine Hochschule nicht nur Studenten mitausbilden - nie hat er sie von einem Universitätsstudium fernhalten wollen - , sondern auch „eine Pflanzstätte und Erziehungsstätte künftiger Universitätslehrer" sein sollte. Dabei dachte er vor allem an die gegebene Notsituation von Studenten an den staatlichen Fakultäten und nicht an eine zeitüberdauernde Institution. „Hat die Schule ihr Werk getan und wird sie überflüssig, so freuen wir uns und wollen gern wieder sterben, wie jedes christliche Liebeswerk dazu jederzeit bereit sein muß" (F. von Bodelschwingh, Denkschrift, Ausgew. Sehr. II, 220). 1898 begründete Bodelschwingh die „ T h e o l o g i s c h e W o c h e " in Bethel zur Fortbildung von Pfarrern, die jährlich unter großer Beteiligung stattfand und von Universitätsprofessoren wie H . - » C r e m e r , W. - » L ü t g e r t , A. -»•Schlatter u . a . begleitet wurde. Auf ihr trug er den Gedanken einer eigenen Hochschulgründung immer neu vor, veröffentlichte im J a nuar 1905 eine neue Denkschrift Die freie theologische Schule zu Bethel bei Bielefeld und eröffnete diese zum Wintersemester a m 1 5 . 1 0 . 1 9 0 5 mit zwei hauptamtlichen Dozenten (Walter Kahler, Samuel Jaeger) und 11 Studenten. E r selbst hat sich bis zu seinem T o d mit vielen anderen Lehrbeauftragten — a m studentischen Unterricht beteiligt. D a s Ziel seiner Gründung bestimmte er in einem Vortrag 1 9 0 4 folgendermaßen: „Die Gründung und Fortführung der Schule soll eine Glaubenssache sein. Dann wird sie keinen Mangel leiden. Sie soll frei vom Staat sein. Wir setzen unsere Lehrer selbst und bestimmen ihre Arbeit. Mit der Schule hätten wir dann ein vierblättriges Kleeblatt: sie selbst, Bethel, Sarepta und Nazareth. Die Schule muß eine selbständige Korporation bilden, damit die Regierung nicht sagen kann: ihr nehmt Bethel etwas weg; sie ist aber dennoch eine Zionstochter (sc. Tochter der Zionsgemeinde). Und die theologische Konferenz (sc. Theologische Woche) hier soll so eigentlich ihre Großmutter sein. Im übrigen haben wir nicht gerne lange Ordnungen. Das Evangelium ist unser Gesetz". Eine vierte Korporation der von Bodelschwingh'schen Anstalten ist die H o c h s c h u l e trotzdem nicht geworden, sondern - bis zum heutigen T a g e - eine Einrichtung der Z i o n s gemeinde Bethel. Auf staatlichen Einspruch hin durfte Bodelschwingh sie nicht H o c h schule, sondern nur „Theologische S c h u l e " nennen, auf Empfehlung A . Schlatters hat er die Lehrenden nicht „ P r o f e s s o r e n " , sondern „ D o z e n t e n " tituliert, und von Beginn an w a r ein Kuratorium, dessen Mitglieder aus ganz Deutschland k a m e n , für den äußeren und inneren Weg der H o c h s c h u l e verantwortlich. W ä h r e n d des Kirchenkampfes im Dritten Reich erlebte die Theologische Schule eine Drang- und Blütezeit. 1 9 3 9 wurde sie von der Geheimen Staatspolizei geschlossen, allerdings schon zum Wintersemester 1 9 4 6 wieder eröffnet. Die 1 9 3 9 lediglich beurlaubten, aber nicht entlassenen Dozenten nahmen ihren Dienst wieder auf.

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Die Zahl der Dozenten wurde seit 1905 planmäßig vermehrt, allerdings waren erst 1927 alle theologischen Disziplinen durch einen eigenen Fachvertreter ausgewiesen. Diakonie- und Missionswissenschaft waren allerdings bald durch eigene hauptamtliche Dozenten vertreten, und die Kirchenmusik wie die Medizin erhielten - bis heute - einen festen Platz unter den Lehrveranstaltungen. 1955 kam ein ordentlicher Lehrstuhl für Philosophie hinzu, so daß die Propria der Hochschule damit benannt sind. Besonderes Gewicht lag und liegt auf dem gründlichen Unterricht der biblischen und klassischen Sprachen, die allerdings erst seit 1946 durch hauptamtliche Dozenten (damals zwei, gegenwärtig fünf) gelehrt werden. Als Dozenten wurden in der Regel bewährte und in ihrem Spezialfach theologisch ausgewiesene Pfarrer berufen; ihrer Rechtsstellung nach waren die Dozenten „Vereinsgeistliche der Inneren Mission", Pastoren der Zionsgemeinde, erst a b 1970 sind sie Kirchengemeindebeamte. 1955 wurde für den bisherigen „Leiter" der Rektoren- und f ü r die Lehrstuhlinhaber der Professorentitel eingeführt. Ab dieser Zeit werden Promotion und Habilitation zur Berufungsvoraussetzung, allerdings auch immer die Ordination. Der Lehrkörper umfaßt gegenwärtig 13 hauptamtlich tätige Professoren und Dozenten; mehrere wissenschaftliche Mitarbeiter und zahlreiche Lehrbeauftragte kommen hinzu. Die Studenten rekrutieren sich aus allen deutschen Landeskirchen, ihre Zahl stieg ständig an (1905: 11; 1913: 76; 1926: 225; 1931: 238; 1937:191; 1985: 434); im Sommersemester 1984 waren von 378 vollimmatrikulierten Studenten 190 an Sprachkursen beteiligt, 188 sprachfrei, im Wintersemester 1984/85 von 434 Studenten 255 im Sprachunterricht und 179 sprachfrei. In Kooperation mit der Universität Bielefeld besteht ein Studiengang „Evangelische Religionslehre für das Lehramt für die Sekundarstufe II" (1985: 66 Zweithörer) sowie ein Dozentenaustausch. 1972 wurde das neue Hörsaalgebäude und 1984 die erweiterte Bibliothek (ca. 100000 Bände) ihrer Bestimmung übergeben. Die Satzung der Hochschule vom 1.11.1979 hat die Rechtsverhältnisse der Hochschule auf das Wissenschaftliche Hochschulgesetz bezogen und geregelt. Neben den von Bodelschwingh'schen Anstalten sind nahezu alle westdeutschen Landeskirchen mit unterschiedlichen Anteilen an der Trägerschaft der Hochschule beteiligt und im Kuratorium vertreten, besonders die Evangelische Kirche von Westfalen. Das alle zwei Jahre erscheinende Jahrbuch „Wort und Dienst" (WuD) enthält wissenschaftliche Aufsätze und informiert über Details aus dem Hochschulleben. In jedem Semester verbringen Pfarrer aus verschiedenen Landeskirchen ein Kontaktsemester in Bethel, und die Hochschule bietet in regelmäßigen Abständen zusammen mit dem Pastoralkolleg der Evangelischen Kirche von Westfalen ein vierzehntägiges „Kontaktstudienkolleg" für Pfarrer an. Seit 1970 unterhält die Evangelische Kirche in Deutschland ein „Seelsorgeinstitut an der Kirchlichen Hochschule", dessen Direktor der zweite Praktische Theologe der Hochschule ist.

2.2. Die Kirchliche Hochschule Wuppertal. Aufgrund ökumenischer Impulse und der Tatsache, daß das reformierte Bekenntnis an Fakultäten und Predigerseminaren nicht ausreichend vertreten erschien, begründete der Reformierte Bund für Deutschland am 24.4.1928 die Reformierte Theologische Schule Elberfeld, die 1932 als eingetragener Verein abgesichert wurde und ihre Dozenten als „Angestellte des Vereins" führte. Ihre Aufgabe bestand darin, zum Theologiestudium im Blick auf die besonderen Bedürfnisse der reformierten Gemeinden vorzubereiten und dieses entsprechend zu ergänzen. Der Unterricht wurde besonders auf die Anfangssemester orientiert und konzentrierte sich auf die biblischen und klassischen Sprachen sowie auf reformierte Besonderheiten wie den Heidelberger Katechismus. Am 14.12.1936 wurde die Theologische Schule vom nationalsozialistischen Staat aufgelöst und nach 1945 nicht wieder eröffnet. Für die Geschichte der Kirchlichen Hochschule Wuppertal hatte sie insofern Bedeutung, als sie nach deren Schließung diese in ihre Obhut nahm. Die erste Reichsbekenntnissynode in Barmen (29.-31.5.34) sah in ihrer „Erklärung zur praktischen Arbeit der Bekenntnissynode" „die Betreuung des theologischen Nachwuchses durch Sammlung auf den Universitäten und in den Ferien, in geeigneten Vikariaten, in Predigerseminaren, in theologischen Schulen und durch Rüstzeiten" als ihre besondere Aufgabe an. Am 30.10.1934 konkretisierte der Reichsbruderrat der Bekennen-

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den Kirche diesen Beschluß als Konsequenz der 2. Reichsbekenntnissynode von Dahlem. Die 3. Reichsbelcenntnissynode von Augsburg übernahm diesen und machte die eigene Theologenausbildung der gesamten Bekennenden Kirche zur Pflicht. Am 28.8.1935 beschloß der Bruderrat der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union die Errichtung von „Kirchlichen Hochschulen für reformatorische Theologie" in Berlin und Elberfeld, wobei Berlin mehr lutherisches, Wuppertal mehr reformiertes Gepräge haben, aber das jeweils andere Bekenntnis bei der Lehrstuhlbesetzung gebührend berücksichtigt werden sollte. Der Bruderrat berief auch die Dozenten in Berlin und Elberfeld. Das am 24.9.1935 vom nationalsozialistischen Staat erlassene „Gesetz zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche" verbot den Landeskirchen, „Verordnungen mit rechtsverbindlicher Kraft zu erlassen". Beide Hochschulen, zum Wintersemester 1935/36 eröffnet, wurden daher am gleichen Tag von der Geheimen Staatspolizei verboten. Die Wuppertaler Hochschule fand als Kurs B Aufnahme in der Reformierten Theologischen Schule und konnte bis zu deren Schließung ungestört arbeiten. Danach fanden in kleinstem Kreis bis 1941 Lehrveranstaltungen und theologische Prüfungen in Privatwohnungen und KirchenÄumen statt, bis der Krieg auch den Weg in die Katakomben unmöglich machte. Der „Himmlererlaß" vom 29.8.1937 hatte der Bekennenden Kirche längst jede Ausbildungsund Prüfungstätigkeit untersagt; am Beispiel der Kirchlichen Hochschulen läßt sich der Widerstand der Kirche gegen den nationalsozialistischen Staat gut studieren. Die Wiedereröffnung der Hochschule im Herbst 1945 war nicht selbstverständlich, da die Gründungsvoraussetzungen nicht mehr bestanden. Unter Berufung auf den „modernen Säkularisationsprozeß" und „als ein im Universitätsleben aufgerichtetes Zeichen des echten Notstandes der Kirche in der Welt" wurde ihre Arbeit gleichwohl wieder aufgenommen; sie hieß nun Theologische Schule in Wuppertal {Kirchliche Hochschule). Die Gemeindebezogenheit der theologischen Arbeit, die Mitverantwortung der Gemeinde an der theologischen Ausbildung und die Einübung im gemeinsamen Leben wurden als ihre Besonderheiten bezeichnet. Die Hochschule weiß sich der reformatorischen Theologie und dem Erbe des Kirchenkampfes besonders verpflichtet. 1 9 4 5 fand sie zunächst im B a r m e r M i s s i o n s h a u s A u f n a h m e , bis sie dann eigene R ä u m e für den L e h r b e t r i e b und die B i b l i o t h e k , für D o z e n t e n und Studenten erhielt. A m 6 . 9 . 1 9 4 8 wurde sie als „Verein Kirchliche H o c h s c h u l e " in das Vereinsregister des Amtsgerichtes Wuppertal eingetragen; eine Revision der Satzung erfolgte am 3 0 . 3 . 1 9 5 5 . 1 9 7 5 w u r d e die H o c h s c h u l e in die T r ä g e r s c h a f t der Evangelischen K i r c h e im R h e i n l a n d überführt und erhielt eine neue Satzung mit dem R e c h t , H o c h schulprüfungen durchzuführen und a k a d e m i s c h e G r a d e zu verleihen. M i t der G e s a m t h o c h s c h u l e Wuppertal besteht ein K o o p e r a t i o n s v e r t r a g , der den D o z e n t e n a u s t a u s c h und das gegenseitige Belegrecht der Studenten regelt. D a s D o z e n t e n k o l l e g i u m besteht aus z w ö l f Professoren, vier Dozenten sowie mehreren Assistenten und L e h r b e a u f t r a g t e n . D i e Studentenzahl liegt gegenwärtig bei ca. 4 5 0 und hat damit ihren H ö c h s t s t a n d in der G e s c h i c h t e der H o c h s c h u l e erreicht. Auch in Wuppertal liegt ein deutlicher Akzent auf der Erteilung des S p r a c h e n u n t e r r i c h t e s .

2.3. Die Kirchliche Hochschule Berlin (s. auch T R E 5, 6 3 6 - 6 3 8 ) . Für die Anfänge der Hochschule am 1.11.1935 und ihre sofortige Schließung durch die Geheime Staatspolizei gilt Ähnliches wie für Wuppertal. Auch in Berlin wurde die Vorlesungstätigkeit jedoch bei vielfachem Ortswechsel - bis zur Verhaftung aller Dozenten bis 1941 im Untergrund fortgeführt. Am 24.10.1945 beschloß die Bekenntnissynode der Provinz Brandenburg, die Kirchliche Hochschule fortan in ihre Mitverantwortung zu übernehmen. Am 30.10.1945 gab die amerikanische Militärregierung die Erlaubnis zur Wiedereröffnung, und am 12.11.1945 wurde der Lehrbetrieb in vollem Umfang wieder aufgenommen. Im Juni 1946 beschlossen die Besatzungsmächte in Konsequenz der bereits erteilten Sondergenehmigungen, alle vom nationalsozialistischen Staat geschlossenen „Lehranstalten" wieder zu begründen und rechtlich anzuerkennen. Bethel, Wuppertal und Berlin haben dem ihre frühe Wiedereröffnung zu danken; hinzu kam die moralisch-geistliche und finanzielle Unterstützung aus der Ökumene, die - nach dem Stuttgarter Schuldbekenntnis im Oktober 1945 - beträchtlich zum äußeren Aufbau und zur öffentlichen Anerkennung der Kirchlichen Hochschulen beitrug.

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Anders als in Wuppertal stand die Frage nach der Wiedereröffnung der Berliner H o c h schule jedoch niemals zur Diskussion, weil auf G r u n d des Viermächtestatus die Berliner Humboldt-Universität fortan zum Sowjetsektor gehörte und die theologischen Fakultäten in der D D R d u r c h einen scharfen numerus clausus behindert waren, Studienbewerber aufzunehmen. Für viele Theologiestudenten aus den DDR-Kirchen w a r die Berliner Hochschule daher die einzig zugängliche Ausbildungsstätte, so d a ß die Hörerzahl d o r t sehr bald in die H ö h e schnellte. Da eine Integration der Hochschule in die 1948 gegründete Freie Universität Berlin das Studium f ü r DDR-Studenten unmöglich gemacht hätte, blieb die Kirchliche Hochschule als selbständige Einrichtung der Landeskirche bestehen und bis 1961 in ihren Funktionen f ü r beide Teile Deutschlands erhalten. Weil das Land Berlin aber seit 1945 über keine eigene theologische Fakultät verfügte, w u r d e in längeren Verhandlungen zwischen der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (West) und dem Berliner Senat die Kirchliche Hochschule „als wissenschaftliche Hochschule" mit den „Funktionen einer Evangelisch-Theologischen F a k u l t ä t " und als „Körperschaft des öffentlichen Rechts im Bereich der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg" in einer Vereinbarung vom 4./18.7.1969 anerkannt. Nach dem bereits 1958 zugestandenen Promotionsrecht wurde 1970 vom Land Berlin auch das Habilitationsrecht verliehen und ein Zuschuß zu den Personalkosten in Höhe von 70% der Aufwendungen übernommen. Bei der Berufung von Professoren und der Genehmigung von Hochschulordnungen ist allerdings auch die Zustimmung des Senators für Wissenschaft und Kunst einzuholen. Damit steht die Kirchliche Hochschule Berlin im Vergleich zu anderen Kirchlichen Hochschulen durchaus einzigartig da, und die Frage, ob dem Staat nicht unzulässige, dem Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche widersprechende Rechte zugestanden wurden, muß jedenfalls offen bleiben, obwohl die Praxis bislang keinen Anlaß zu Bedenken gab. Die Kirchliche Hochschule versteht sich - ihrem Gründungssinn entsprechend - nach wie vor als „Lehr- und Forschungsstätte reformatorischer Theologie" ohne besonderen konfessionellen Charakter und ist eng am kirchlichen Zusammenhalt zwischen Ost und West beteiligt. Sie verfügt über 11 Lehrstühle und 3 planmäßige Dozenturen; sie hat mehrere Dozenten, Lektoren, Lehrbeauftragte und Assistenten. Die Studentenzahl, unter Einschluß der Studenten für das Fach „Evangelische Religion, Sekundarstufe II", liegt bei ca. 600. Die Hochschule gibt seit 1948/49 ein Jahrbuch Theologia Viatomm heraus, das 1984 in eine Zweimonatsschrift Berliner Theologische Zeitschrift umgewandelt wurde. 2.4. Die Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Die Kirchliche Hochschule Neuendettels.ui, in einem abgelegenen, vom Verkehr unberührten Dorf Mittelfrankens in der N ä h e Ansbachs begründet, stellt in mancher Hinsicht eine bemerkenswerte Novität in der Geschichte der Kirchlichen Hochschulen dar. Sie hat ihre Rechtsgrundlage in der am 2.12.1946 erlassenen bayerischen Verfassung, deren Artikel 150 den Kirchen das Recht zubilligt, „ihre Diener auf eigenen Hochschulen auszubilden u n d fortzubilden". Am 7.5.1947 w u r d e die Augustana-Hochschule durch die bayerische Landessynode begründet und a b 27.5.1947 durch das Kultusministerium in M ü n c h e n als Kirchliche Hochschule anerkannt. Sie ist somit die erste evangelische Hochschule, im Unterschied zu den bestehenden Hochschulen, deren Status von Beginn an durch Kirchen- und Staatsgesetz geregelt ist. Z w a r hat schon W. - » L ö h e Überlegungen zu einer Kirchlichen Hochschule gegenüber Karl von R a u m e r geäußert, und H . —»Bezzel bereits 1907 den Plan zu einer theologischen Hochschule in Neuendettelsau entworfen. Aber in die Wege geleitet und durchgeführt w u r d e er von Georg M e r z (1892-1959), der von 1930-1939 zunächst Dozent, d a n n Leiter der Theologischen Schule in Bethel gewesen war. In verschiedenen Veröffentlichungen hat Merz auf den Modellcharakter der Betheler Hochschule für seine Neugründung verwiesen und folgende Gesichtspunkte als konstitutiv bezeichnet und in Neuendettelsau als realisierbar angetroffen: 1. Die Einbindung der Hochschule in eine lebendige Gemeinde und ihren Gottesdienst, 2. die Verbindung von Theologie und Mission, 3. die Verbindung von Theologie und Diakonie, 4. die Verbindung von Lehramt und Predigtamt (jeder Professor muß ordinierter Pfarrer der Landeskirche sein), 5. die Verbindung von Theologie und Kirche (daher der Name Augustana-Hochschule), 6. das gemeinsame Leben von Dozenten und Studenten in einer

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akademischen und geistlichen vita communis, 7. die Verbindung von Pfarrerausbildung und Pfarrerfortbildung (letzteres ist eine Besonderheit von Neuendettelsau, die darin ihren Grund hat, daß Georg Merz, der erste langjährige Rektor der Hochschule, zugleich der Rektor des 1945 in Neuendettelsau gegründeten Pastoralkollegs war. Die Beziehung zwischen Hochschule und Pastoralkolleg besteht bis in die Gegenwart hinein fruchtbar weiter). Die ersten Studenten, fast alle aus der DDR stammend, kamen Ende 1946 aus der Lagerhochschule Rimini, aber bald auch aus allen deutschen Landeskirchen, um mit dem Erlernen der biblischen Sprachen zugleich intensiv Theologie zu studieren. Die Studentenzahl sollte nach der Gründerabsicht die Zahl 100 nicht übersteigen, im Anfangssemester waren es 62, im Winter 1949 schon 132 und gegenwärtig um 200 Studenten. Die Hochschule hat sieben Lehrstühle, eine Dozentur für Klassische Philologie, mehrere Assistenten und Lehrbeauftragte und einen hauptamtlichen Studentenpfarrer, ein Amt, das G. Merz als akademische Institution begründete und wohl auch als erster bekleidete. Die Augustatta ist dem lutherischen Bekenntnis verpflichtet, interpretiert dieses aber wie G. Merz, der K. -»Barth freundschaftlich-kritisch verbunden w a r , in zeitgemäßer Offenheit. 1967 wurde die Personalunion zwischen Hochschule und Pastoralkolleg beendet und 1971 das Wechselrektorat eingeführt. Im darauf folgenden J a h r w u r d e der H o c h schule ein Fachhochschulstudiengang f ü r Religionspädagogik und kirchliche Bildungsarbeit angegliedert; seitdem wird sie als kirchliche Gesamthochschule geführt. Für die Finanzierung der Personalkosten und des laufenden Betriebes erhält die Hochschule Z u schüsse vom Freistaat Bayern in Anlehnung an d a s bayerische Konkordat von 1974. Die Augustana ist eine Hochschule der Landeskirche, die über ihren Landeskirchenrat Berufungen und Ernennungen vornimmt bzw. die Rektorwahl bestätigt. Z u r Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt bestehen ebenso gute Kontakte wie zwischen Bethel und Paderborn. Weil die neue Hochschule, anders als die bereits bestehenden, nicht unter dem Druck besonderer kirchlicher und gesellschaftlicher Gegebenheiten ins Leben trat, w a r sie gezwungen, ihre Aufgabe genau zu formulieren. G. Merz spricht von der „ E r g ä n z u n g " des Universitätsstudiums, und F. W. Kantzenbach interpretiert dies: „Es geht nicht um die Ergänzung wissenschaftlicher Art, sondern um die Erweiterung theologisch-geistlicher Erfahrung im Umgang mit Liturgie, Mission und Diakonie in der universitas ecclesiae" (Augustana-Hochschule 11), nicht um „Ersatz der akademischen Theologie", nicht um eine „kirchliche" und schon gar nicht um eine „klerikale oder kirchenregimentlich gesteuerte Theologie". Deshalb hat die Augustana-Hochschule immer gute, partnerschaftliche Beziehungen z. B. zur Erlanger theologischen Fakultät gepflegt und d o r t auch Promotionen durchgeführt. 2.5. Die Kirchliche Hochschule Hamburg. Wie die Universitäten F r a n k f u r t und Köln w u r d e die Universität H a m b u r g 1919 ohne theologische Fakultät gegründet. Die Forderung nach einer theologischen Fakultät w u r d e schon in den zwanziger Jahren nachdrücklich erhoben und bei der Wiedereröffnung der Universität 1945/1946 nicht nur von Rektor und Senat aufgenommen, sondern auch von dem zuständigen Schulsenator positiv beurteilt. Da die Errichtung der Fakultät gleichwohl aus politischen G r ü n d e n ins Stocken geriet, beschloß die Landessynode der Evangelisch-lutherischen Kirche im H a m b u r g e r Staate am 27.10.1948, eine Kirchliche Hochschule zu errichten, um der steigenden Z a h l von Theologiestudenten aus dem H a m b u r g e r R a u m Studienmöglichkeiten anzubieten (s. T R E 14,412,41 ff). Natürlich wirkten dabei auch, was die Berufung der Dozenten und die Bestimmung des Auftrages der Hochschule zeigt, Einsichten und Erfahrungen aus d e m Kirchenkampf fort. Im M a i 1949 n a h m die Hochschule ihre Arbeit auf, sie war jedoch von Beginn an nur „als Zwischenlösung zur Etablierung einer Theologischen Fakultät an der Universität g e d a c h t " (T. Koch). Der 1950 von der Bürgerschaft eingesetzte „ H o c h schulbeirat" empfahl 1951 dem Senat die Errichtung einer Theologischen Fakultät an der Universität vor allem vom Gedanken der universitas litterarum her. N a c h d e m nun auch die SPD ihre Z u s t i m m u n g erklärte im Blick auf die „Aufgeschlossenheit des deutschen Protestantismus gegenüber den sozialen Fragen unserer Z e i t " , beschloß die Bürgerschaft a m 22.10.1952 einstimmig das „Gesetz über die Errichtung einer Evangelischen-Theolo-

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g i s c h e n Fakultät an der Universität H a m b u r g " . Z u m Wintersemester 1 9 5 4 / 5 5 n a h m d i e Fakultät ihre Arbeit auf. M i t E m p f e h l u n g d e s v o n E n d e 1952 arbeitenden Berufungsausschusses w u r d e n drei der bisherigen D o z e n t e n als Lehrstuhlinhaber ü b e r n o m m e n , andere w u r d e n H o n o r a r p r o f e s s o r e n , Privatdozenten u n d Lehrbeauftragte der n e u e n Fakultät. Z u m selben Z e i t p u n k t beendete die Kirchliche H o c h s c h u l e H a m b u r g ihre Arbeit. 2.6. Die Lutherische Theologische Hochschule Oberursel. Die Oberurseler Hochschule wird getragen von der Evangelischen Lutherischen Freikirche und der evangelisch-lutherischen (altlutherischen) Kirche, die sich am 25.6.1972 zu einer Kirche, der Selbständigen Evangelischen Lutherischen Kirche in Deutschland, zusammenschlössen und dieser die Trägerschaft der Hochschule übertrugen. Die beiden -»Freikirchen hatten schon vor dem Krieg ihre Ausbildungsstätten, das Theologische Seminar in Breslau (seit 1883) und die Theologische Hochschule in Klein-Machnow bei Berlin (seit 1922). Nach Kriegsende waren beide Institute für Bundesbürger nicht mehr zugänglich. So wurde am 1.10.1946 zunächst in Groß-Oesingen in der Lüneburger Heide ein Theologisches Proseminar zur Erlernung der alten Sprachen errichtet, das im Herbst 1952 der Hochschule in Oberursel eingegliedert wurde. Am 10.11.1947 wurde die Hochschule in Oberursel eröffnet, im Sommersemester 1948 begannen die Vorlesungen. Am 2.5.1955 wurde die Hochschule vom Land Hessen als Hochschule anerkannt und den Philosophisch-Theologischen Hochschulen der römisch-katholischen Kirche gleichgestellt. Neben dem Hochschulgebäude gibt es ein Studentenheim und eine Bibliothek. Oberursel hat vier Lehrstühle, einige Dozenten und Lehrbeauftragte. Ihrem Gründungssinn entsprechend ist die Hochschule dezidiert lutherischer Theologie und wissenschaftlicher Arbeit verpflichtet und steht in engem Kontakt zur lutherischen Missouri-Synode in den USA (-»Lutherische Kirchen). Sie wird auch von Studenten evangelischer Landeskirchen besucht. Die Studentenzahlen lagen zwischen 1948 und 1977 bei durchschnittlich 35 und stiegen seitdem auf durchschnittlich 80 an. 2.7. Die Kirchlichen Hochschulen in der DDR. E t w a die H ä l f t e der T h e o l o g i e s t u d e n ten in der D D R w e r d e n an d e n drei den Kirchlichen H o c h s c h u l e n vergleichbaren Ausbildungsstätten in Ost-Berlin, Leipzig und N a u m b u r g ausgebildet. D i e Studenten h a b e n o f t auch an kirchlichen Ausbildungsstätten die H o c h s c h u l r e i f e e r w o r b e n u n d sind v o n der militärischen A u s b i l d u n g und v o m „Unterricht in der offiziellen Lesart d e s M a r x i s m u s — L e n i n i s m u s " befreit. D a s Studium entspricht in v o l l e m U m f a n g d e m an t h e o l o g i s c h e n Fakultäten. D i e Trägerschaft liegt bei den Landeskirchen; ein staatlich anerkanntes Prom o t i o n s - und Habilitationsrecht gibt es nicht, w o h l aber hochschulinterne Qualifikationen, die allerdings nicht zur Führung eines Titels berechtigen. 2.7.1. Das Sprachenkonvikt in Berlin wurde 1935 als Teil der Kirchlichen Hochschule Berlin gegründet, 1941 geschlossen und 1945 wieder eröffnet. Es diente im wesentlichen dem Unterricht in den alten Sprachen. Seit 1953 hat es ein eigenes Kuratorium und seit 1961 wurde es zur „Theologischen Ausbildungsstätte der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg" (Ost) mit eigenem Statut (seit 1968) und mit vollem Lehrangebot ausgebaut. Das Sprachenkonvikt verfügt über doppelt besetzte Dozenturen in allen theologischen Disziplinen, es hat mehrere Assistenten und Lehrbeauftragte und ca. 130 Studenten. 2.7.2. Das Theologische Seminar Leipzig der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen ist aus dem früheren Missionsseminar hervorgegangen und zu einer eigenen Hochschule ausgestaltet worden. Das Seminar hat sechzehn hauptamtliche Dozenten, einen ökumenischen Gastdozenten (Wolfgang Trilling), mehrere Lehrbeauftragte und Repetenten und etwa 120 Studenten. 2.7.3. Das Katechetische Oberseminar der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen in Naumburg wurde nach Vorformen in Wittenberg 1949 gegründet, zunächst mit dem Auftrag, besonders qualifizierte Katecheten im gesamttheologischen Horizont auszubilden. Seit 1951 wurde dem Oberseminar die theologische Ausbildung auch auf das Pfarramt hin übertragen, wobei der bisherige Schwerpunkt beibehalten wurde. 1963 kam ein Spezialauftrag für das Studium der orthodoxen Kirchen und ihrer Theologie hinzu, und 1984 wurde dem Oberseminar vom Bund der Evangelischen Kirchen in der D D R eine Arbeitsstelle f ü r kirchliche Zeitgeschichte angegliedert. Das Oberseminar hat 9 hauptamtliche Dozenten, einige Lehrbeauftragte und Assistenten und etwa 85 Studenten (vgl. TRE 14,392,26 ff). 3.

Zusammenfassung

E t w a 2 5 % der evangelischen Pfarrer in der Bundesrepublik D e u t s c h l a n d w u r d e n u n d w e r d e n an Kirchlichen H o c h s c h u l e n ausgebildet. D i e Fluktuation zur und v o n der U n i versität ist g e g e n w ä r t i g beträchtlich. D u r c h die im Z u s a m m e n h a n g d e s H o c h s c h u l r a h -

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Hochschulen, Kirchliche

mengesetzes des Bundes und der wissenschaftlichen Hochschulgesetze der Länder erfolgte staatliche „Feststellung" der Kirchlichen Hochschulen als wissenschaftlicher Hochschulen mit allen Rechten und Pflichten (außer Neuendettelsau und Oberursel) ist die Anerkennung von Forschung, Lehre und Studium an den Kirchlichen Hochschulen seit längerem öffentlich erreicht. Bethel, Neuendettelsau, Oberursel und Wuppertal sind Mitglieder der Westdeutschen Rektorenkonferenz und in deren Senat, Plenum und Vollversammlung mit unterschiedlicher Regelung (Senat: ein Vertreter aus allen Hochschulen im jährlichen Wechsel mit einem Vertreter der Arbeitsgemeinschaft Philosophisch-Theologischer Hochschulen, Plenum: ein Vertreter im jährlichen Wechsel aus dem Kreis der vier Kirchlichen Hochschulen, Vollversammlung: ein Vertreter aus jeder Hochschule) repräsentiert. Zu fragen bleibt, wie weit die Kirchlichen Hochschulen angesichts dieser Sachlage ihr ursprüngliches Proprium zu wahren vermögen. G . Merz hat darauf hingewiesen, daß die Kirchlichen Hochschulen ein „wesentliches Stück der abendländischen Bildungsgeschichte" neben den theologischen Fakultäten staatlicher Hochschulen darstellen und „zwischen Klerikalismus und Säkularismus" in der Theologenausbildung zu vermitteln haben. Gegenüber einer forschungsunmittelbaren theologischen Wissenschaft könnten Kirchliche Hochschulen daran erinnern, daß die evangelische Kirche nicht „die dreifache Hierarchie des Pfarrers, Professors und Bischofs, sondern nur das eine Predigtamt" kennt, und damit die Theologie auf ihre kirchliche Funktion verweisen. Gegenüber der Kirche haben Kirchliche Hochschulen die Freiheit von Forschung und Lehre gerade zugunsten der Kirche zu reklamieren. Der Kirchenkampf im Dritten Reich, dem alle Kirchlichen Hochschulen verpflichtet bleiben, hat deutlich gezeigt, daß die Kirchlichen Hochschulen „im Kampf gegen den terroristischen Versuch, die Erziehung des künftigen Pfarrers zu politisieren, ein entschlossenes Zeugnis für die Eigenart der kirchlichen Erziehung abgelegt h a b e n " (G. Merz, Wesen u. Aufgabe 25 ). Auch heute könnten die Kirchlichen Hochschulen - nicht nur im Blick auf eventuell kommende Grenzsituationen - ein Zeichen für die Freiheit der Kirche vom Staat im Bereich ihres speziellen Auftrages bedeuten. Literatur Hartmut Aschermann/Wolfgang Schneider, Studium im Auftrag der Kirche. Die Anfänge der Kirchl. Hochschule Wuppertal 1935 bis 1945,1985 (SVRKG 83). - Manfred Baldus, Kirch!. Hoch- u. Fachhochschulen: Hb. des Staatskirchenrechts 2 (1975) 5 9 7 - 6 2 2 . - Ders., Kirchl. Hochschulen: Hb. des Wiss. Rechts 2 (1982) 1101 ff. - Peter Beyerhaus, Mehr Wege zum Pfarramt. Brauchen wir schon wieder kirchl. Hochschulen?: LM 9 (1970) 7 - 9 . - Walter Delius, Der Plan einer Kirchl. Hochschule im Jahre 1895: T h V i a t 3 (1951) 1 4 3 - 1 6 5 . - M a r t i n Fischer, Die Kirchl. Hochschule Berlin 1948, Sinn u. Auftrag: ThViat 1 (1949) 1 - 2 5 . - Günther Härder, 20 Jahre Kirchl. Hochschule Berlin: J K 17 (1956) 1 7 2 - 1 7 4 . - Gerhard Hausmann, Die Augustana-Hochschule: Hans Rößler (Hg.), Unter Stroh- u. Ziegeldächern, Neuendettelsau 1982, 2 1 7 - 2 2 2 . - Gisela Heckel, Der Rechtsstatus der ev. Kirchl. Hochschulen, Diss. iur. Köln 1957 (Lit.). — Martin Heckel, Die theol. Fakultäten im weltlichen Verfassungsstaat, Tübingen 1986 (JusEccl 31). - Gottfried Hoffmann (Hg.), 25 Jahre Luth.Theol. Hochschule Oberursel, Oberursel 1974. - Wolfgang Huber, Kirche u. Öffentlichkeit, 1973 (FBESG 28), 2 9 5 - 3 7 9 . - Friedrich-Wilhelm Kantzenbach, Georg Merz in memoriam: Rektor Georg Merz in memoriam, München 1960,75 - 9 1 . - Ders., Zum Weg der Augustana-Hochschule: Wilhelm Andersen/Helmut Angermeyer (Hg.), Kontinuität im Umbruch, München 1972, 9 - 2 0 . - Ders., Stätten der Freiheit. 25 Jahre Kirchl. Augustana-Hochschule Neuendettelsau: DtPfrBl 72 (1972) 824-826. - Traugott Koch, Die Theol. an der Univ. wird 25: Univ. Hamburg 10, H. 8, 1977, 2-4. Christoph Link, Staatskirchenrechtliche Probleme der nicht-akademisch vorgebildeten Geistlichen: ZEvKR 17 (1972) 2 5 6 - 2 7 9 . - Ulrich Luck, Selbstverständnis u. Anspruch kirchl. Hochschulen: WuD NF 16 (1981) 11 - 2 6 . - Georg Merz, Wesen u. Aufgabe der kirchl. Hochschule: ders., Die Verantwortung der Kirche für die Ausbildung ihrer Pfarrer, München 1 9 4 8 , 9 - 2 6 . - Ders., Die Erfahrungen der Theologischen Schule Bethel in ihrer Bedeutung für die Neuordnung des theol. Studiums: ders., Die Verantwortung, s. o., 4 2 - 5 0 . - Ders., Die Anfänge der Augustana-Hochschule u. ihre Voraussetzungen: Wilhelm Andersen (Hg.), Das Wort Gottes in Gesch. u. Gegenwart, München 1 9 5 7 , 2 4 0 - 2 4 9 . Gerhard Monninger (Hg.), 30 Jahre Augustana-Hochschule, Neuendettelsau 1977. - Priesterausbildung u. Theologiestudium, Nachkonziliare Dokumentation Bd. 25, Trier 1974. - Gerhard Ruhbach (Hg.), Die Kirchl. Hochschule Bethel 1 9 0 5 - 1 9 8 0 , 1980 (WuD Sonderbd.) (div. Aufs., Dokumente,

Höchstes Gut

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Lit.). — Ders., Theologenausbildung an Kirchl. Hochschulen: Helmut Begemann/Carl Heinz Ratschow, Kirchl. Dienst u. theol. Ausbildung. FS H. Reiß, Bielefeld 1985, 1 0 0 - 1 0 6 . - Ernst-Lüder Solte, Die theol. Fakultäten im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland: Rudolf Weth/Christof Gestrich/Ernst-Lüder Solte, Theol. an staatl. Universitäten, Stuttgart 1 9 7 2 , 9 0 - 1 1 1 . Ders., Die ev. kirchl. Hochschulen in der neueren Rechtsentwicklung: Wissenschaftsrecht, Wissenschaftsverwaltung, Wissenschaftsförderung, Beih. 8: Hochschulen der Religionsgemeinschaften, Tübingen 1983, 1 - 4 5 (Lit.). - Werner Weber, Der gegenwärtige Status der Theol. Fakultäten u. Hochschulen: ders., Staat u. Kirche in der Gegenwart, Rechtswiss. Beitr. aus 4 Jahrzehnten, Tübingen 1978 (JusEcc 25) 9 3 - 1 1 3 .

Gerhard Ruhbach Hodajot -»Qumran Höchstes Gut 1. Begriffsgeschichtlicher Aufriß 2. Die antike Welt 3. Christliche Theologie Moralphilosophie 5. Schlußbemerkung (Literatur S. 441)

1. Begriffsgeschichtlicher

4. Moderne

Aufriß

Die Vorstellung vom summum bonurn (griech.: äyaBdv ÖKQÖxaxov, äßiazov - franz.: souveraitt bien) geht zurück auf Diskussionen über „das Gute", die bei vorsokratischen Philosophen und von Sokrates selbst geführt wurden. In ihren beiden hauptsächlichen Zügen knüpft sie aber an zentralen Punkten der platonischen sowie der aristotelischen Philosophie an. Der platonische Zug sieht das höchste Gut in ontologischen, metaphysischen Begriffen als das oberste Objekt des menschlichen Wissens und Wollens. Der aristotelische Zug sieht es in teleologischen, immanenten Begriffen, als den Zustand oder die Aktivität, worin die wahre Natur des Menschen ihre Erfüllung findet. Die christliche Theologie hat diese beiden Elemente übernommen und zusammengefügt, indem sie einmal von Gott als dem höchsten Gut der Bereiche des Seins und des Wertes spricht und zum anderen von der Schau Gottes, dem Königreich Gottes oder der Gemeinschaft der Heiligen als dem höchsten Gut des Menschen, worin die von Gott gegebene Natur des Menschen ihre erstrebte Erfüllung findet. Die moderne Moralphilosophie lehnt sowohl eine hierarchische Ontologie der Werte, die in einem transzendenten Guten kulminiert, wie auch eine teleologische Sicht des Menschen, die ihn mit einer besonderen Natur oder Wesenhaftigkeit ausgestattet sieht, ab, womit weitgehend die Vorstellung vom summum bortum zurückgewiesen wird, und gibt einer formalen Analyse der Bedeutung des Wortes „gut" und einem irreduziblen Pluralismus dessen, was für den Menschen als „Gutes" charakterisiert werden kann, den Vorzug. 2. Die antike Welt Das Wesen des Guten war bereits in der vorsokratischen Philosophie ein wichtiger Gegenstand, besonders bei den Pythagoräern, die darin den Zustand der Harmonie erblickten, der nur am Ende, wenn dem Unbegrenzten die Ordnung eingeprägt wird, erreicht wird, wie auch bei den Sophisten, besonders bei Protagoras, der das Gute als Maßstab des Einzelmenschen relativierte (obwohl er auch die Meinung vertrat, daß einige Auffassungen vom Guten angemessener seien als andere). Sokrates hat sein Leben lang leidenschaftlich die Vorstellungen seiner Zeitgenossen vom Guten kritisiert und hat, wie Aristoteles feststellt, „nach Allgemeinbegriffen im Bereich des Sittlichen gesucht" (Met. A 987 b). Obwohl er von der Einheit der Tugenden überzeugt war und die Notwendigkeit erkannte, den Sinn oder das Ziel menschlichen Daseins genauer zu bestimmen, ist es ihm doch nicht gelungen, eine metaphysische oder teleologische Bestimmung des Guten zu entwickeln. Die substantiellste metaphysische Theorie des Guten, zugleich Quelle aller folgenden objektiven Theorien über das höchste Gute, lieferte -»Plato im sechsten Buch seiner

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Lit.). — Ders., Theologenausbildung an Kirchl. Hochschulen: Helmut Begemann/Carl Heinz Ratschow, Kirchl. Dienst u. theol. Ausbildung. FS H. Reiß, Bielefeld 1985, 1 0 0 - 1 0 6 . - Ernst-Lüder Solte, Die theol. Fakultäten im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland: Rudolf Weth/Christof Gestrich/Ernst-Lüder Solte, Theol. an staatl. Universitäten, Stuttgart 1 9 7 2 , 9 0 - 1 1 1 . Ders., Die ev. kirchl. Hochschulen in der neueren Rechtsentwicklung: Wissenschaftsrecht, Wissenschaftsverwaltung, Wissenschaftsförderung, Beih. 8: Hochschulen der Religionsgemeinschaften, Tübingen 1983, 1 - 4 5 (Lit.). - Werner Weber, Der gegenwärtige Status der Theol. Fakultäten u. Hochschulen: ders., Staat u. Kirche in der Gegenwart, Rechtswiss. Beitr. aus 4 Jahrzehnten, Tübingen 1978 (JusEcc 25) 9 3 - 1 1 3 .

Gerhard Ruhbach Hodajot -»Qumran Höchstes Gut 1. Begriffsgeschichtlicher Aufriß 2. Die antike Welt 3. Christliche Theologie Moralphilosophie 5. Schlußbemerkung (Literatur S. 441)

1. Begriffsgeschichtlicher

4. Moderne

Aufriß

Die Vorstellung vom summum bonurn (griech.: äyaBdv ÖKQÖxaxov, äßiazov - franz.: souveraitt bien) geht zurück auf Diskussionen über „das Gute", die bei vorsokratischen Philosophen und von Sokrates selbst geführt wurden. In ihren beiden hauptsächlichen Zügen knüpft sie aber an zentralen Punkten der platonischen sowie der aristotelischen Philosophie an. Der platonische Zug sieht das höchste Gut in ontologischen, metaphysischen Begriffen als das oberste Objekt des menschlichen Wissens und Wollens. Der aristotelische Zug sieht es in teleologischen, immanenten Begriffen, als den Zustand oder die Aktivität, worin die wahre Natur des Menschen ihre Erfüllung findet. Die christliche Theologie hat diese beiden Elemente übernommen und zusammengefügt, indem sie einmal von Gott als dem höchsten Gut der Bereiche des Seins und des Wertes spricht und zum anderen von der Schau Gottes, dem Königreich Gottes oder der Gemeinschaft der Heiligen als dem höchsten Gut des Menschen, worin die von Gott gegebene Natur des Menschen ihre erstrebte Erfüllung findet. Die moderne Moralphilosophie lehnt sowohl eine hierarchische Ontologie der Werte, die in einem transzendenten Guten kulminiert, wie auch eine teleologische Sicht des Menschen, die ihn mit einer besonderen Natur oder Wesenhaftigkeit ausgestattet sieht, ab, womit weitgehend die Vorstellung vom summum bortum zurückgewiesen wird, und gibt einer formalen Analyse der Bedeutung des Wortes „gut" und einem irreduziblen Pluralismus dessen, was für den Menschen als „Gutes" charakterisiert werden kann, den Vorzug. 2. Die antike Welt Das Wesen des Guten war bereits in der vorsokratischen Philosophie ein wichtiger Gegenstand, besonders bei den Pythagoräern, die darin den Zustand der Harmonie erblickten, der nur am Ende, wenn dem Unbegrenzten die Ordnung eingeprägt wird, erreicht wird, wie auch bei den Sophisten, besonders bei Protagoras, der das Gute als Maßstab des Einzelmenschen relativierte (obwohl er auch die Meinung vertrat, daß einige Auffassungen vom Guten angemessener seien als andere). Sokrates hat sein Leben lang leidenschaftlich die Vorstellungen seiner Zeitgenossen vom Guten kritisiert und hat, wie Aristoteles feststellt, „nach Allgemeinbegriffen im Bereich des Sittlichen gesucht" (Met. A 987 b). Obwohl er von der Einheit der Tugenden überzeugt war und die Notwendigkeit erkannte, den Sinn oder das Ziel menschlichen Daseins genauer zu bestimmen, ist es ihm doch nicht gelungen, eine metaphysische oder teleologische Bestimmung des Guten zu entwickeln. Die substantiellste metaphysische Theorie des Guten, zugleich Quelle aller folgenden objektiven Theorien über das höchste Gute, lieferte -»Plato im sechsten Buch seiner

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Lit.). — Ders., Theologenausbildung an Kirchl. Hochschulen: Helmut Begemann/Carl Heinz Ratschow, Kirchl. Dienst u. theol. Ausbildung. FS H. Reiß, Bielefeld 1985, 1 0 0 - 1 0 6 . - Ernst-Lüder Solte, Die theol. Fakultäten im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland: Rudolf Weth/Christof Gestrich/Ernst-Lüder Solte, Theol. an staatl. Universitäten, Stuttgart 1 9 7 2 , 9 0 - 1 1 1 . Ders., Die ev. kirchl. Hochschulen in der neueren Rechtsentwicklung: Wissenschaftsrecht, Wissenschaftsverwaltung, Wissenschaftsförderung, Beih. 8: Hochschulen der Religionsgemeinschaften, Tübingen 1983, 1 - 4 5 (Lit.). - Werner Weber, Der gegenwärtige Status der Theol. Fakultäten u. Hochschulen: ders., Staat u. Kirche in der Gegenwart, Rechtswiss. Beitr. aus 4 Jahrzehnten, Tübingen 1978 (JusEcc 25) 9 3 - 1 1 3 .

Gerhard Ruhbach Hodajot -»Qumran Höchstes Gut 1. Begriffsgeschichtlicher Aufriß 2. Die antike Welt 3. Christliche Theologie Moralphilosophie 5. Schlußbemerkung (Literatur S. 441)

1. Begriffsgeschichtlicher

4. Moderne

Aufriß

Die Vorstellung vom summum bonurn (griech.: äyaBdv ÖKQÖxaxov, äßiazov - franz.: souveraitt bien) geht zurück auf Diskussionen über „das Gute", die bei vorsokratischen Philosophen und von Sokrates selbst geführt wurden. In ihren beiden hauptsächlichen Zügen knüpft sie aber an zentralen Punkten der platonischen sowie der aristotelischen Philosophie an. Der platonische Zug sieht das höchste Gut in ontologischen, metaphysischen Begriffen als das oberste Objekt des menschlichen Wissens und Wollens. Der aristotelische Zug sieht es in teleologischen, immanenten Begriffen, als den Zustand oder die Aktivität, worin die wahre Natur des Menschen ihre Erfüllung findet. Die christliche Theologie hat diese beiden Elemente übernommen und zusammengefügt, indem sie einmal von Gott als dem höchsten Gut der Bereiche des Seins und des Wertes spricht und zum anderen von der Schau Gottes, dem Königreich Gottes oder der Gemeinschaft der Heiligen als dem höchsten Gut des Menschen, worin die von Gott gegebene Natur des Menschen ihre erstrebte Erfüllung findet. Die moderne Moralphilosophie lehnt sowohl eine hierarchische Ontologie der Werte, die in einem transzendenten Guten kulminiert, wie auch eine teleologische Sicht des Menschen, die ihn mit einer besonderen Natur oder Wesenhaftigkeit ausgestattet sieht, ab, womit weitgehend die Vorstellung vom summum bortum zurückgewiesen wird, und gibt einer formalen Analyse der Bedeutung des Wortes „gut" und einem irreduziblen Pluralismus dessen, was für den Menschen als „Gutes" charakterisiert werden kann, den Vorzug. 2. Die antike Welt Das Wesen des Guten war bereits in der vorsokratischen Philosophie ein wichtiger Gegenstand, besonders bei den Pythagoräern, die darin den Zustand der Harmonie erblickten, der nur am Ende, wenn dem Unbegrenzten die Ordnung eingeprägt wird, erreicht wird, wie auch bei den Sophisten, besonders bei Protagoras, der das Gute als Maßstab des Einzelmenschen relativierte (obwohl er auch die Meinung vertrat, daß einige Auffassungen vom Guten angemessener seien als andere). Sokrates hat sein Leben lang leidenschaftlich die Vorstellungen seiner Zeitgenossen vom Guten kritisiert und hat, wie Aristoteles feststellt, „nach Allgemeinbegriffen im Bereich des Sittlichen gesucht" (Met. A 987 b). Obwohl er von der Einheit der Tugenden überzeugt war und die Notwendigkeit erkannte, den Sinn oder das Ziel menschlichen Daseins genauer zu bestimmen, ist es ihm doch nicht gelungen, eine metaphysische oder teleologische Bestimmung des Guten zu entwickeln. Die substantiellste metaphysische Theorie des Guten, zugleich Quelle aller folgenden objektiven Theorien über das höchste Gute, lieferte -»Plato im sechsten Buch seiner

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Politeia. Piatos Theorie der Ideen, in der für jede positive Qualität, jede natürliche Art, mathematische Zahl oder jedes Artefakt ein ewiger, intelligibler Archetyp postuliert wird, gewinnt ihr Prinzip der Einheit aus der Form des Guten. Diese letzte Idee, womit immer wieder nur das höchste Gute bezeichnet wird, ist nicht nur dasjenige, kraft dessen alles Gute ist. Sie verleiht allen Objekten der Erkenntnis das Wahrheitsmoment und dem, der es kennt, die Gewißheit des Wissens. Mehr noch verhält es sich mit den Objekten der Erkenntnis, den intelligiblen Formen so, daß nicht nur das Erkanntwerden vom Guten kommt, sie vielmehr auch das Sein und Wesen von ihm haben, sofern das Gute nicht das Sein ist, sondern an Vorrang und Kraft über das Sein hinausragt (Pol. 509b). Die iSsa xoii ayaOov ist für Plato ebenso der höchste ontologische und epistemologische Anfangsgrund {principium essendi, fiendi, cognoscendi) wie das höchste ethische Prinzip. In Piatos späterer Philosophie wird dieses oberste Prinzip häufiger mit „dem Einen" bezeichnet, und später haben die Neuplatoniker das Gute mit dem Einen identifiziert (-* Neupiatonismus). Nach -»Plotin kann das unteilbare Eine das Gute genannt werden, weil es Gegenstand universellen Verlangens ist und in sich selbst als Quelle des Guten über das Gute hinaus (tmepayaOöv) ist (Enn. 6,9,6). Die Kritik, die -»Aristoteles (Nik. Eth. 1,6) gegen Piatos unitarische Vorstellung vom Guten vorbringt - auf der Grundlage, daß „Gutes" in allen Kategorien vorausgesetzt werden kann - , hat ihn nicht daran gehindert, den Versuch zu machen, eine einzige teleologische Theorie über das für den Menschen Gute zu formulieren. Dieses Gute - was auch hier wieder nur das höchste Gut meint — wird aber nicht mit transzendenten, sondern mit immanenten Begriffen beschrieben als die Aktivität, in der die vollsten Möglichkeiten des menschlichen Wesens angewendet werden. Aristoteles zeigt in seiner formalen Definition seine teleologische Auffassung: „EiSri xi xtXoq, caxi TCÖV nßaKxcöv, o öl' avxö ßooXd/iEOa, xäXXa öe öid xovxo,... örjkov i£>f xoöx'äv efy xdyaOöv, Kai xd äpiaxov" [Wenn es ein Ziel für die Aktivitäten gibt, das wir seiner selbst wegen wollen, während das Andere (nur) dessentwegen (gewollt wird) . . . , dann ist offensichtlich dieses (Ziel) das Gute, und zwar das höchste Gut] (1094 a). Es handelt sich hierbei nach Aristoteles um das Glück (EüSaifiovia), das als „y/vxfjQ evegycia xax' äßsxtjv" definiert ist, und von dem er annimmt, es bestehe in der Aktivität des höchsten Seelenteils des Menschen, seinem Intellekt. Das wahre Glück des Menschen sei die spekulative oder kontemplative Aktivität, die mit Weisheit gleichgesetzt wird, obwohl das Glück nicht ohne Hinzuziehung der moralischen Tugenden wie andererseits auch nicht ohne eine gemäßigte Unterstützung durch äußere Güter erlangt und aufrecht erhalten werden kann. Die Stoiker (—»Stoa/Stoizismus) übernahmen bei der Frage nach dem summum botium einen im Grunde aristotelischen Ansatz und haben viel über das Thema diskutiert. Cicero berichtet, daß ein bestimmter Römer vorgeschlagen hatte, die Philosophen sollten sich auf einer Konferenz über das, was das höchste Gute sei, einigen (de leg. 1,20). Cicero kritisierte einerseits die Epikuräer, daß sie höchstes Gut mit Freude bzw. Vergnügen gleichsetzen, und lehnte es zugleich ab, der Vorstellung von Aristoteles zu folgen und es mit einem weiter gefaßten Glück zu identifizieren. Statt dessen identifizierte er es mit dem guten moralischen Willen, was, wie Maclntyre hervorgehoben hat (157), aus dem aristotelischen Ansatz den spezifisch teleologischen Charakter herausstreicht. 3. Christliche

Theologie

Den frühchristlichen Vätern gelang durch die Heranziehung bestimmter biblischer Texte (so z.B. Ps 19,10f, wo es von den Satzungen Gottes heißt, „sie sind begehrenswerter als Gold", oder dem Gebot Gottes „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit" [Mt 6,33] oder dem Gleichnis von der kostbaren Perle [Mt 13,46]) die Christianisierung der neuplatonischen Tradition, und sie entwickelten eine Theologie, nach welcher das Schauen oder Erfassen Gottes das höchste Gut für den Menschen sei. So kann Irenaus sagen: „gloria ettim Dei vivens hotno, vita autem hominis visio Dei" (haer. 4,20,7), und -»Clemens von Alexandrien, der sowohl den teleologischen wie auch

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den ontologischen Aspekt dieser Vorstellung vorträgt, lehrte, daß das vollkommenste Gute jenes Wissen ist, das als höchstes Objekt Gott hat (Str. 6,12). Clemens treibt den Christianisierungsprozeß der platonischen und der aristotelischen Tradition dadurch voran, daß er von Jesus Christus als dem ersten Prinzip alles Guten spricht (Str. 4,25). Seinen Höhepunkt erreicht der christliche Piatonismus in der Theologie -»Augustins. Nach ihm findet die Seele ihr wahres Glück in Gott als dem einen Ziel und der Quelle der Glückseligkeit: „Fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum donec requiescat in te" (Conf, 1.1). Das rationale Wesen kann Glück nicht im Wandelbaren finden, es findet es nur im Besitz eines unwandelbaren Objekts. Ein solcher Besitz ist die Liebe zu Gott: „Si ettim Deus est summum hominis bonum ... sequitur profecto quoniam summum bonum appetere est bene vivere, ut nihil sit aliud bene vivere, quam toto corde, tota anima, tota mente Deum diligere" [Ist nun Gott für den Menschen das höchste Gut..., so folgt tatsächlich, da ja das höchste Gute anzustreben ordentlich leben bedeutet, daß ordentlich leben nichts anderes ist, als aus ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Gemüt Gott zu lieben] (De mor. eccl. 1,25.46). Nach Augustin ist das Böse keine Substanz, sondern eine Abwendung vom ewigen und unwandelbaren Guten; dementsprechend ist das Böse ein unaufhörlicher Wandlungszustand. Im über den Tod hinausreichenden Glückseligkeitszustand wird dem Menschen durch Gottes Gnade perfekte und also unwandelbare Freude am höchsten Guten, an Gott, der beständige Liebe ist, zuteil. Der platonische Zug im mittelalterlichen christlichen Denken läßt sich an den Schriften -»Anselms von Canterbury ablesen, der ausdrücklich für die Identität des höchsten Wesens mit dem höchsten Guten eintritt: „ . . . omnia alia bona sint per aliud quam quod ipsa sunt, et ipsum solum per seipsum ...Id enim summum est, quod sie supereminet aliis, ut nec par habeat nec praestantius. Sed quod est summe bonum, est etiam summe magttum. Est igitur unum aliquid summe bonum et summe magnum, id est summum omnium quae sunt" [Alle anderen sind gut durch etwas anderes, als sie selbst sind, es allein aber (ist gut) durch sich selbst... Das natürlich ist das Höchste, das so über die anderen hinausragt, daß es nichts Gleiches noch Überlegeneres hat. Was aber im höchsten Grade gut ist, ist auch in höchstem Grade groß. Es ist also etwas in höchstem Grade Gutes und in höchstem Grade Großes, mithin das Höchste unter allem Existierenden] (Monologien 1).

Auch für -»Thomas von Aquin ist Gott der äußerste letzte Grund aller Dinge (S. th. 1 a,44,4) und also das höchste Gut. Er nähert sich (S. th. 1 a,2ae,l-5) aber der Frage nach dem letzten Sinn menschlichen Lebens in stärker aristotelischer Weise. Seine erste Behauptung lautet, daß es für den Menschen ein letztes Ziel geben muß, ein erstes Gut, das über allen untergeordneten Werten steht. Außerdem kann es nur ein solch letztes Ziel für alle Menschen geben, nämlich Seligkeit (beatitudo), wie Augustin sagt (1,8). „Beatitudo enim est bonum perfectum, quod totaliter quietat appetitum" (2,8). Letztes Glück kann nicht in geschaffenen Werten liegen. Während also das für den Menschen höchste Gut in ihm eine kreatürliche Realität hat, so ist doch sein Objekt der Grund der unerschaffenen Realität. „Beatitudo dicitur esse summum hominis bonum, quia est adeptio vel fruitio summi boni" (3,2). So besteht das Glück in der kontemplativen Aktivität, Gott zu schauen. Keiner besitzt vollkommene Glückseligkeit, bis er nicht den ersten Grund uneingeschränkt weiß und Gott sieht, so wie er ist (3,8). Der Aristotelismus führt Thomas zu einer stärkeren Betonung der teleologischen Struktur der geschaffenen Natur des Menschen als bei Augustin, obwohl er sich, wie Augustin, dessen bewußt war, daß der gefallene Mensch der göttlichen Gnade bedarf, wenn er wirklich das höchste Gut erreichen will. Die scholastische Metaphysik ist in der Doktrin der Transzendentalien zusammengefaßt: daß die alles übergreifenden Kategorien - ens, aliquid, unum, verum, bonum (und zuweilen pulchrum) — eine ko-extensive Bereichsausdehnung haben. Damit wird das höchste Gut notwendigerweise mit dem höchsten Wesen, mit Gott, gleichgesetzt. Diese Sicht wird von der modernen römisch-katholischen Theologie weitgehend beibehalten, obwohl es hier die Neigung gibt, das für den Menschen höchste Gut weniger in Begriffen

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Augustins als Objekt des Wollens, sondern als Objekt des Gehorsams zu sehen: „Das in sich selbst Gute fordert den Menschen auf, mit Hingabe und Liebe zu antworten" (Splett 406). Die protestantische Theologie ist in ihrer frühen Entwicklungszeit der Vorstellung vom höchsten Gut weitgehend ausgewichen und hat eine Theologie des Wortes Gottes als Grundlage christlicher Ethik bevorzugt. Einzig Ph. -»Melanchthon hat das höchste Gut als ein theologisches Motiv zur Kontrolle für die Ethik herangezogen. F. D. E. Schleiermacher, der „Vater" der modernen protestantischen Theologie, hat zwei Universitätsvorlesungen Über den Begriff des Höchsten Gutes veröffentlicht (1827 und 1830). Da er sein Augenmerk aber auf eine ideale und rationale Gesellschaft richtet, ist bei ihm das höchste Gut fest innerhalb der Sphäre menschlicher Erfüllung verankert. In Die Christliche Ethik redet er von diesem Ideal tatsächlich stärker in spezifisch theologischen Begriffen und sagt, es lasse sich nur durch die Erlösung in Christus und durch die Vereinigung mit Gott erreichen; dennoch liegt aber die Betonung eher auf dem immanenten Ideal als auf dem transzendenten Objekt. In diesem Sinne gehört Schleiermacher zur aristotelischen Tradition, obwohl er, wie Pannenberg festgestellt hat, sich davor scheut, von einem „Ziel" des menschlichen Lebens zu sprechen (Pannenberg, Ethik 81 Anm.). Allerdings hat Schleiermachers Schüler R. -»Rothe eine stärker aufs Ziel gerichtete, jedoch immer noch immanente Ethik „der christlichen Humanität als dem christlich höchsten Gut" entwickelt (T. Rendtorff, TRE 10,510). Der Grund, warum bei W. Herrmann die Frage nach dem höchsten Gut wegfällt, wird von Pannenberg damit erklärt, daß Herrmann an der menschlichen Freiheit und Autonomie festgehalten hat (Pannenberg ebd.). Genau dagegen richtet sich der Einwand, den E. -»Troeltsch gegen Herrmann erhebt, daß damit „ . . . das Charakteristische der christlichen Ethik in dem spezifisch christlichen Gottesglauben und dem hierin eröffneten objektiven Zweck . . . " übersehen werde (GS, 11,652). In der christlichen Ethik erhält die Vorstellung vom höchsten Guten ihren Inhalt von der Botschaft Jesu vom kommenden Königreich Gottes. Daß dieser zukünftigen, eschatologischen Vorstellung vom höchsten Guten eine transzendente religiöse Realität zukommt und sie nicht eine ethische Idee ist, die der Mensch verwirklichen kann, ist bereits von J. -»Weiss hervorgehoben worden (Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, 1892). D. —»Bonhoeffer verleiht in seiner Ethik dieser Vorstellung einen noch stärker christologischen Inhalt, wenn er sagt, das Ziel des menschlichen Lebens sei die „Übereinstimmung mit Christus". Im zeitgenössischen Schrifttum über christliche Ethik wird der wahre Charakter eines solchen eschatologisch und christologisch bestimmten Ideals in Begriffen der -»Liebe ausgedrückt (W. Pannenberg, T. Rendtorff). Exponent der christlichen Doktrin des summurn bonutn in der anglikanischen Theologie ist Kenneth —>Kirk mit seinem Buch The Vision of God. Bei der Frage, wie man sich in der christlichen Tradition das Erreichen des letzten Ziels vorgestellt hat, zeigt er sich von Augustin inspiriert, da er sich auf die Anbetung konzentriert: Sie sei für jene Selbstlosigkeit, die wesentlich zur Erlangung der Seligkeit hinzugehört, die notwendige Bedingung. In die Nähe protestantischer Äußerungen rückt der ebenfalls katholische Anglikaner Austin Farrer. Für ihn besteht das Objekt menschlichen Strebens nicht in einer Vielzahl besonderer menschlicher Güter, sondern im Willen des Schöpfers, des einen höchsten Gutes, soweit wie dieses gewährt werden kann und dem erschaffenen Universum gewährt worden ist (Farrer 89). Wenn es sich auch um eine Sache des Strebens oder Wünschens handelt, so müssen doch darüber hinaus erst einmal unsere fehlgeleiteten Wünsche korrigiert und vom Heiligen Geist und durch die Gnade hierzu befähigt werden, wenn wir jemals unser höchstes Gut wirksam ergreifen wollen. 4. Moderne

Moralphilosophie

In der frühen Neuzeit nahm man sich in England des traditionellen Problems des höchsten Gutes nur ungern an. Th. -»Hobbes, der das Gute als ein Objekt definiert, auf das jedermanns Wollen gerichtet ist, verneint rundherum, daß es ein objektiv Gutes,

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einschließlich eines höchsten Gutes gibt (Leviathan 1,11). In gleicher Weise wird von J. Locke die Vorstellung scharf zurückgewiesen, daß es irgendein höchstes Gut für alle gebe. Er bezeichnet dieses als „vairt" (Essay 2,21), obwohl er erkannt hat, daß es eine eigentümliche Fähigkeit der intellektuellen Wesen ist, im Lichte ihres Hauptziels bzw. dessen, was sie als ihr größtes Gut erblicken, zu handeln. Man könnte meinen, daß im Gegensatz hierzu im -»Utilitarismus die Vorstellung von einem höchsten Gut beibehalten worden wäre, in dem Sinne, daß Nützlichkeit das einzige Kriterium für eine gute Handlung darstellt. Doch J.S. ->Mill selbst liefert ein Beispiel dafür, wie schwierig es ist, die Vorstellung überhaupt mit materiellem Inhalt zu füllen, und er äußert in seinen Dissertations and Discussions (1859) tatsächlich auch Vorbehalte gegenüber dieser Vorstellung. In Deutschland hat bei I. -»Kant eine subtil revidierte Vorstellung vom höchsten Gut eine zentrale Rolle in der Moralphilosophie erhalten. Im Gegensatz zu den Ansichten vieler seiner Kritiker, unter ihnen A. -»Schopenhauer, ist für Kant die Heranziehung des höchsten Gutes nicht unvereinbar mit der Behauptung, daß nur das gute Wollen absolut gut ist. So unterscheidet denn Kant zwischen dem bonum supremum der Tugend - dem Charakter, der in Taten, die rein mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen, zutage tritt - und dem bonum consummatum, der perfekten Übereinstimmung zwischen der Tugend und dem Glück, das aus dieser entspringt. Wie A.W. Wood gezeigt hat, als er auf die Heterogenität zwischen Tugend und Glück und auf das formale Wesen des moralischen Gesetzes hingewiesen hat, hat Kant zwei Schlüsselelemente, die in der antiken Behandlung des höchsten Guten eine Rolle spielen, verworfen (Wood 90ff). Zudem interpretiert Kant die traditionelle Vorstellung von Gott als dem höchsten Guten so, daß sie einzig von der Idee der moralischen Perfektion abstamme (Grundlegung 29). In keiner Weise ist für Kant das Streben nach Glück ein Grund für das Streben nach Tugend. So stellt sich unsere Pflicht, die Übereinstimmung zwischen Tugend und Glück für alle zu suchen und also die Bedingungen zu postulieren, die ihre Realisation möglich machen, nämlich Gott und Unsterblichkeit, einfach als eine unvermeidliche Folge des von der praktischen Vernunft ausgehenden Strebens nach dem Absoluten dar. Das moralische Gesetz ist der einzige kategorische Imperativ. Weil es aber ein Gesetz ist, das unserem Wesen entspricht, müssen wir unausweichlich fordern, daß es nicht nur vollkommen erfüllt werde, sondern es auch seinen vollkommenen Lohn erhalte. Das höchste Gut ist das letzte Ziel alles Handelns, jedoch nicht im Sinne eines Handlungsmotivs, sondern als überspannender Zielpunkt oder Ideal. Der junge ->Fichte hat die theologischen Implikationen in Kants Konzeption mit viel größerer Zuversicht ausgesprochen. Für ihn ist es gewiß, daß Gott die vollkommene Heiligkeit und der einzig Selige ist. In diesem Stadium war Fichte sogar der Meinung, daß Gott von dem moralischen Gesetz gefordert sei, das höchste Gut auch außerhalb seiner selbst zu fördern und somit rationale Geschöpfe zu schaffen. So gesehen, ist nach Fichte die Frage, warum es überhaupt moralische Wesen geben soll, „leicht" beantwortet (GA 1,38 f). Im Gegensatz zu dieser idealistischen Philosophie ist den vorherrschenden Strömungen der Moralphilosophie des 20. Jh. die Vorstellung von einem höchsten Gut absolut fremd. Mit der Ablehnung der transzendentalen Metaphysik und einer teleologischen Sicht des Menschen hat man die aristotelische wie auch die platonische Grundlage für die Vorstellung von einem summum bonum abgeschafft. In den angelsächsischen Schulen des Pragmatismus, Positivismus und der philosophischen Analysis wird die Verschiedenheit des Guten betont. J. Dewey ist der Auffassung, daß die Idee vom höchsten Gut die Ethik bedrohe, weil sie die Plastizität des menschlichen Wesens verneine und menschliche Bereicherung und Fortschritt behindere. G.E. Moore behauptet, die wertvollsten Dinge, die wir kennen oder uns vorstellen können, sind die Freuden des zwischenmenschlichen Verkehrs und die Freude an schönen Dingen (Moore 188). Bei den jüngeren Moralphilosophen besteht allerdings die Tendenz, die Liste des für den Menschen Guten zu erweitern. Eine Äußerung des zeitgenössischen englischen Humanisten H. J. Blackham möge

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als Zusammenfassung dieser hohen Wertschätzung, die der Pluralismus in der Ethik genießt, dienen - sie stehe bewußt im Gegensatz zu dem obersten Beispiel der christlichen Ethik, also Christus: Nach der Vorstellung der Humanisten gibt es kein summum bottum, kein Hauptziel alles Handelns, kein weit entferntes, großes, krönendes Ereignis, auf das alle Dinge sich hinbewegen und für das alle Dinge sind, keine Teleologie, nicht einmal ein definitives menschliches Wesen. Statt dessen gibt es viele Möglichkeiten, bessere oder schlechtere, und es gibt Wege, das Schlechtere zu vermeiden und das Bessere zu verwirklichen und zu vermehren. So gibt es also viele Arten eines guten Lebens, wie die Beispiele zeigen, und es gibt keins, das das beste, das umfassendste oder erschöpfend Gute wäre (Blackham 18f). Bis vor kurzem ist besonders in England das Wort „gut" in rein formalen Begriffen analysiert worden. Es drücke unsere Zustimmung aus („Etnotivtsm") oder Empfehlungen für Vorgehensweisen („Prescriptivism"). Dort, wo man zur Beschäftigung mit dem materiellen Inhalt der Ethik zurückgekehrt ist, hat es entweder eine grundsätzlich utilitaristische Bestimmung angenommen, als notwendige Bedingung für jedes lebensfähige soziale Leben, womit eine Hochschätzung seiner Verschiedenheit innerhalb dieses Rahmens einhergeht (Strawson), oder es steht im Zusammenhang mit einem neuen Interesse an den Tugenden: als etwas für jedes kooperative und langfristige Projekt Notwendiges (Foot). A. Mac Intyre hat dargetan, welche Schwierigkeiten entstehen, wenn man das für den Menschen Gute, gar nicht zu reden vom höchsten Gut, von einem solchen Standpunkt aus bestimmen will. Er hat in klarer Form gezeigt, welch anhaltende und unheilvolle Wirkung es für die Moralphilosophie hat, wenn das aristotelische Verständnis vom menschlichen Wesen verlorengegangen ist. Allerdings unternimmt Maclntyre dann von sich aus nur wenig, um etwas von der aristotelischen Perspektive zurückzugewinnen, indem er eine merkwürdig leere Maxime anbietet: Ein Mensch hat ein gutes Leben geführt, wenn er es damit verbracht hat, das für den Menschen gute Leben zu suchen (Mac Intyre 204). Parallel dazu gibt es beim Existentialismus (-+Existenzphilosophie/Existentialismus) eine Feindschaft gegenüber der Vorstellung vom höchsten Guten. Nach J.-P. -»Sartre gibt es kein vorbestimmtes Muster für das menschliche Leben, so daß sich jeder das Wesen selbst schafft, je nach der Wahl, die er im Leben trifft. Der Marxismus (-»Marx/Marxismus) steht im Gegensatz zur Vielförmigkeit, aber ebenso zum -»Individualismus dieser humanistischen und existentialistischen Vorstellungen des für den Menschen Guten. Er postuliert, daß es ein einziges kollektives Ziel einer klassenlosen Gesellschaft der Zukunft gebe. Das erscheint in mancher Hinsicht wie eine säkularisierte, immanente Version des christlichen Ideals vom Königreich Gottes. Nirgends fehlt aber deutlicher ein kritischer Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit wie er z. B. in den transzendentalen platonischen Zweigen der christlichen Ethik zu finden ist - , als hier in der Utopie von Marx. 5.

Schlußbemerkung

Die Vorstellung vom höchsten Gut ist in solchen religiösen oder ethischen Philosophien beheimatet, wo man davon ausgeht, daß der Mensch eine bestimmbare Seinsweise oder ein bestimmbares Wesen hat. Die christliche Ethik scheint dieser Sicht uneingeschränkt verpflichtet. Ferner geht mit der Auffassung von der Bezogenheit des Menschen - daß er wesentlich für andere Menschen da ist und zugleich seine letzte Erfüllung nur in Bezug zu Gott, der ihn geschaffen hat, finden kann - eine Vorstellung vom höchsten Gut einher, in der die immanente (aristotelische) und die transzendente (platonische) Auffassung von diesem letzten Ziel notwendig miteinander verbunden sind. Besonders da, wo in der christlichen Ethik der materielle Inhalt des höchsten Gutes konkret in Begriffen der Liebe angegeben wird, muß die Flexibilität und Dynamik solch einer alles umfassenden Teleologie beachtet werden. Selbst dort, wo diese Liebe auf das besondere Beispiel Jesus Christus, der die Fleisch gewordene Offenbarung der göttlichen Liebe und somit des

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objektiven höchsten G u t e n ist, gerichtet ist, k a n n d a s M u s t e r nicht einfach d u r c h N a c h a h m u n g angeeignet w e r d e n . C h r i s t u s ist für uns d a s h ö c h s t e G u t , weil er M i t t l e r und F ö r d e r e r für ein Leben in Liebe z u m M i t m e n s c h e n und zu G o t t ist. A u s diesem Verständnis h e r a u s enthält das einzige und einheitliche Ideal des h ö c h s t e n G u t e s , d a s d a s Christent u m gegen alle f o r m a l e n , pluralistischen o d e r f r a g m e n t a r i s c h g e ä u ß e r t e n Konzeptionen d e r menschlichen Identität a u f r e c h t erhält, in sich eine unendliche Vielheit a n persönlic h e n E r f a h r u n g e n , erlebten Beziehungen und sozialen Verwirklichungen. Literatur John Lloyd Ackrill, Aristotle on Eudaimonia: P B A 6 0 (1974), 3 3 9 - 3 6 0 . - Harold T. Blackham (Hg.), Objections to Humanism, London 1963. - Joseph Buckley, M a n ' s Last End, St Louis 1949. — Klaus Düsing, Das Problem des Höchsten Gutes in Kants praktischer Phil.: KantSt 62 (1971) 5 - 4 2 . Dietmar Eickelschulte, Beatitudo als Prozess: Sein u. Ethos, hg. v. Paulus Angelbarde, Mainz 1963, 1 5 8 - 1 8 5 . - Gillian Rosemary Evans, Augustine on Evil, Cambridge 1982. - Alfred Cyril Ewing, T h e Definition of Good, New York 1947. - Austin Marsden Farrer, T h e Christian Doctrine of Man: Interpretation and Belief, hg. v. Charles Conti, London 1976, 6 9 - 9 4 . — Philippa Foot, Virtues and Vices, Oxford 1978. - Maximilian Forschner, Art. Höchstes Gut: Lexikon der Ethik, hg. v. Otfried Höffe, München 1980, 1 0 9 - 1 1 1 . - Bernhard Häring, Das Heilige u. das Gute, München 1950. William Francis Ross Hardie, Aristotle's Ethical Theory, Oxford 1968. - Ders., T h e Final Good in Aristotle's Ethics: Phil 40 (1965) 2 7 7 - 2 9 5 . - R u d o l f Johannesson, Art. Höchstes Gut: R G G J 3 (1959) 3 9 0 - 3 9 4 . - Kenneth Escott Kirk, T h e Vision of God, London 1931. - Alasdair Chalmers Mac Intyre, After Virtue, London 1981. - Iris Murdoch, T h e Sovereignty of Good, Cambridge 1967. - Caspar Nink, Metaphysik des sittlichen Guten, Freiburg 1955. - Anders Nygren, Den kristna kälekstanken genom tiderna, Stockholm 1 9 3 0 - 1 9 3 6 ; dt.: Agape u. Eros, 1 9 3 0 - 1 9 3 9 . - Robert G . Olson, Art. T h e Good: EncPh 3 (1967) 3 6 7 - 3 7 0 . - James Edward O ' M a h o n y , The Desire of God in the Phil, of St Thomas Aquinas, Cork 1929. - George Edward Moore, Principia Ethica, Cambridge 1903. - Wolfhart Pannenberg, Ethik u. Ekklesiologie, Göttingen 1977. - Ders., Theology and the Kingdom of God, Philadelphia 1969; dt.:TheoI. u. Reich Gottes, Gütersloh 1 9 7 1 . - J o h n Passmore.The Perfectibility of M a n , London 1970. - Josef Pieper, Die Wirklichkeit u. das Gute, Leipzig 1935. - Trutz Rendtorff, Ethik, 2Bde., Stuttgart, 1980/1981. - Michael David Rohr, Is Goodness Comparative?: JPh 75 (1978) 4 9 4 - 5 0 3 . - William David Ross, T h e Right and the Good, Oxford 1930. - Paul Shorey, Art. Summum Bonum: H E R E 12 (1921) 4 4 - 4 8 . - G u s t a v Siewerth, Die Freiheit u. das Gute, Freiburg 1959. - John Robert Silber, Kant's Conception of the Highest Good as Immanent and Transcendent: PhRev67 (1959) 4 6 9 - 4 9 2 . - R o b e r t Spaemann, Art. Gut, Höchstes: H W P 3 , (1974) 9 7 4 - 9 7 5 . - P e t e r Frederick Strawson, Social Morality and Individual Ideal: Phil 36 (1961) 1 - 1 7 . - Illtyd Trethowan, Miss Murdoch on the Good: D R 89 (1971) 1 9 6 - 2 0 5 . - Ders, On ,God' and ,Good': J T h S 23 (1972) 5 4 9 - 5 6 1 . - Allen William Wood, Kant's Moral Religion, Ithaca 1970. - Georg Henrik von Wright, The Varieties of Goodness, London 1963. Brian Hebblethwaite Hölderlin, Friedrich

(1770-1843)

1. Methodisches zur Theologie Hölderlins 2. Entwicklungsstadien 3. Ortsbestimmung 4. Idealistische Metamorphosen 5. Theologie der Spätzeit (Literatur S.444) 1. Methodisches

zur Theologie

Hölderlins

V o n einer T h e o l o g i e Hölderlins zu sprechen, ist s t a t t h a f t , w e n n m a n ihre E i g e n t ü m lichkeiten bedenkt. Sie ist 1. die T h e o l o g i e eines D i c h t e r s und h a t sich a n seiner D i c h t u n g - w i e diese an ihr - entwickelt. Seine t h e o l o g i s c h e Ausbildung ( 1 7 8 4 - 1 7 8 8 in den N i e d e ren Klosterschulen D e n k e n d o r f und M a u l b r o n n , 1 7 8 8 - 1 7 9 3 i m Evangelischen Stift in -»'Tübingen) h a t in ihr u n m i t t e l b a r fast keine Spuren hinterlassen. M i t t e l b a r e W i r k u n g e n faßt m a n in M o t i v e n d e r späten G e d i c h t e , p e r c o n t r a r i u m in d e r Energie, w o m i t der klassische Hölderlin gelernte T h e o l o g i e in selbstgedachte Philosophie u m d e u t e t , generell in e i n e m theologischen G r u n d z u g seines D e n k e n s , d e r sich o f t in Verkleidungen u n d M e t a m o r p h o s e n verbirgt. Sie ist 2 . die T h e o l o g i e eines d e n k e n d e n D i c h t e r s , die sich m i t Äußerungen des religiösen Gefühls nicht begnügt, a b e r , u m D i c h t u n g zu bleiben, a u c h nicht System und L e h r e w e r d e n d a r f . Sie versteht sich als einen Inbegriff v o n E r f a h r u n g e n . Da sie a b e r 3 . die T h e o l o g i e eines zugleich e m i n e n t dichterischen D i c h t e r s ist, t r ä g t

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objektiven höchsten G u t e n ist, gerichtet ist, k a n n d a s M u s t e r nicht einfach d u r c h N a c h a h m u n g angeeignet w e r d e n . C h r i s t u s ist für uns d a s h ö c h s t e G u t , weil er M i t t l e r und F ö r d e r e r für ein Leben in Liebe z u m M i t m e n s c h e n und zu G o t t ist. A u s diesem Verständnis h e r a u s enthält das einzige und einheitliche Ideal des h ö c h s t e n G u t e s , d a s d a s Christent u m gegen alle f o r m a l e n , pluralistischen o d e r f r a g m e n t a r i s c h g e ä u ß e r t e n Konzeptionen d e r menschlichen Identität a u f r e c h t erhält, in sich eine unendliche Vielheit a n persönlic h e n E r f a h r u n g e n , erlebten Beziehungen und sozialen Verwirklichungen. Literatur John Lloyd Ackrill, Aristotle on Eudaimonia: P B A 6 0 (1974), 3 3 9 - 3 6 0 . - Harold T. Blackham (Hg.), Objections to Humanism, London 1963. - Joseph Buckley, M a n ' s Last End, St Louis 1949. — Klaus Düsing, Das Problem des Höchsten Gutes in Kants praktischer Phil.: KantSt 62 (1971) 5 - 4 2 . Dietmar Eickelschulte, Beatitudo als Prozess: Sein u. Ethos, hg. v. Paulus Angelbarde, Mainz 1963, 1 5 8 - 1 8 5 . - Gillian Rosemary Evans, Augustine on Evil, Cambridge 1982. - Alfred Cyril Ewing, T h e Definition of Good, New York 1947. - Austin Marsden Farrer, T h e Christian Doctrine of Man: Interpretation and Belief, hg. v. Charles Conti, London 1976, 6 9 - 9 4 . — Philippa Foot, Virtues and Vices, Oxford 1978. - Maximilian Forschner, Art. Höchstes Gut: Lexikon der Ethik, hg. v. Otfried Höffe, München 1980, 1 0 9 - 1 1 1 . - Bernhard Häring, Das Heilige u. das Gute, München 1950. William Francis Ross Hardie, Aristotle's Ethical Theory, Oxford 1968. - Ders., T h e Final Good in Aristotle's Ethics: Phil 40 (1965) 2 7 7 - 2 9 5 . - R u d o l f Johannesson, Art. Höchstes Gut: R G G J 3 (1959) 3 9 0 - 3 9 4 . - Kenneth Escott Kirk, T h e Vision of God, London 1931. - Alasdair Chalmers Mac Intyre, After Virtue, London 1981. - Iris Murdoch, T h e Sovereignty of Good, Cambridge 1967. - Caspar Nink, Metaphysik des sittlichen Guten, Freiburg 1955. - Anders Nygren, Den kristna kälekstanken genom tiderna, Stockholm 1 9 3 0 - 1 9 3 6 ; dt.: Agape u. Eros, 1 9 3 0 - 1 9 3 9 . - Robert G . Olson, Art. T h e Good: EncPh 3 (1967) 3 6 7 - 3 7 0 . - James Edward O ' M a h o n y , The Desire of God in the Phil, of St Thomas Aquinas, Cork 1929. - George Edward Moore, Principia Ethica, Cambridge 1903. - Wolfhart Pannenberg, Ethik u. Ekklesiologie, Göttingen 1977. - Ders., Theology and the Kingdom of God, Philadelphia 1969; dt.:TheoI. u. Reich Gottes, Gütersloh 1 9 7 1 . - J o h n Passmore.The Perfectibility of M a n , London 1970. - Josef Pieper, Die Wirklichkeit u. das Gute, Leipzig 1935. - Trutz Rendtorff, Ethik, 2Bde., Stuttgart, 1980/1981. - Michael David Rohr, Is Goodness Comparative?: JPh 75 (1978) 4 9 4 - 5 0 3 . - William David Ross, T h e Right and the Good, Oxford 1930. - Paul Shorey, Art. Summum Bonum: H E R E 12 (1921) 4 4 - 4 8 . - G u s t a v Siewerth, Die Freiheit u. das Gute, Freiburg 1959. - John Robert Silber, Kant's Conception of the Highest Good as Immanent and Transcendent: PhRev67 (1959) 4 6 9 - 4 9 2 . - R o b e r t Spaemann, Art. Gut, Höchstes: H W P 3 , (1974) 9 7 4 - 9 7 5 . - P e t e r Frederick Strawson, Social Morality and Individual Ideal: Phil 36 (1961) 1 - 1 7 . - Illtyd Trethowan, Miss Murdoch on the Good: D R 89 (1971) 1 9 6 - 2 0 5 . - Ders, On ,God' and ,Good': J T h S 23 (1972) 5 4 9 - 5 6 1 . - Allen William Wood, Kant's Moral Religion, Ithaca 1970. - Georg Henrik von Wright, The Varieties of Goodness, London 1963. Brian Hebblethwaite Hölderlin, Friedrich

(1770-1843)

1. Methodisches zur Theologie Hölderlins 2. Entwicklungsstadien 3. Ortsbestimmung 4. Idealistische Metamorphosen 5. Theologie der Spätzeit (Literatur S.444) 1. Methodisches

zur Theologie

Hölderlins

V o n einer T h e o l o g i e Hölderlins zu sprechen, ist s t a t t h a f t , w e n n m a n ihre E i g e n t ü m lichkeiten bedenkt. Sie ist 1. die T h e o l o g i e eines D i c h t e r s und h a t sich a n seiner D i c h t u n g - w i e diese an ihr - entwickelt. Seine t h e o l o g i s c h e Ausbildung ( 1 7 8 4 - 1 7 8 8 in den N i e d e ren Klosterschulen D e n k e n d o r f und M a u l b r o n n , 1 7 8 8 - 1 7 9 3 i m Evangelischen Stift in -»'Tübingen) h a t in ihr u n m i t t e l b a r fast keine Spuren hinterlassen. M i t t e l b a r e W i r k u n g e n faßt m a n in M o t i v e n d e r späten G e d i c h t e , p e r c o n t r a r i u m in d e r Energie, w o m i t der klassische Hölderlin gelernte T h e o l o g i e in selbstgedachte Philosophie u m d e u t e t , generell in e i n e m theologischen G r u n d z u g seines D e n k e n s , d e r sich o f t in Verkleidungen u n d M e t a m o r p h o s e n verbirgt. Sie ist 2 . die T h e o l o g i e eines d e n k e n d e n D i c h t e r s , die sich m i t Äußerungen des religiösen Gefühls nicht begnügt, a b e r , u m D i c h t u n g zu bleiben, a u c h nicht System und L e h r e w e r d e n d a r f . Sie versteht sich als einen Inbegriff v o n E r f a h r u n g e n . Da sie a b e r 3 . die T h e o l o g i e eines zugleich e m i n e n t dichterischen D i c h t e r s ist, t r ä g t

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Hölderlin diese Erfahrungen selten geradewegs vor. Er verwebt sie in den dichterischen Prozeß - zu Substraten der Aussage oder Fermenten der Form so daß sie nicht als Gegenstand, sondern als Horizont von Gegenständlichkeit erscheinen, Denkformen mehr als Gedanken. Man muß sie herauslösen und Bildlichkeit in Begriffe übersetzen, will man etwas erhalten, das sich als Theologie beschreiben läßt. Von solchen Analysen sind hier nur Resultate mitzuteilen.

2. Entwicklungsstadien Hölderlins Anfänge stehen im Zeichen eines pietistisch geprägten Christentums mit Augenblicken der Rührung und Erleuchtung, mit Gewissenserforschung, Wahl eines geistlichen Mentors und dgl. Es entstammt der Erziehung der Mutter und dem in Denkendorf noch lebendigen Geist Johann Albrecht -•Bengels. Der Student wächst in die moderne Denkwelt der idealistischen Philosophie hinein, -»Leibniz und -»Kant formen ihn, entfremden ihn aber auch den Lehrmeinungen seines Studiums, namentlich dem -»Supranaturalismus der Tübinger Schule. Danach die Begegnung mit -»Fichte, dessen absoluter Idealismus, anfänglich bewundert, in eine schwere Krisis führt, von der Gedichte und Briefe, versteckt auch der Roman Hyperion sprechen. Endgültig überwunden wird sie erst nach dem Abschied von Frankfurt und Diotima; das jetzt entstehende Drama Empedokles spiegelt die Krise und ihre Uberwindung wider. Damit wird der Weg für ein Spätwerk frei, das, jede idealistische Welt- und Daseinsdeutung abweisend, sich mehr und mehr christlich begründet. Gedichte wie Brod und Wein, Friedensfeier, Der Einzige, Patmos und Gedichtentwürfe, auch die Anmerkungen zu den Sophokles-Übertragungen lassen die späte Theologie erkennen. - Hier sind die idealistische und die Spätphase zu skizzieren, zunächst der geistige Raum beider.

3. Ortsbestimmung Hölderlin umgeht zwei Extreme seines Zeitalters, Orthodoxie und Vernunftreligion, dort hermeneutisch, hier metaphysisch argumentierend. Ein Briefwort lautet: „Eine positive Offenbarung, wo der Offenbarende . . . alles . . . thut, und der, dem die Offenbarung gegeben wird, nicht einmal sich regen darf, um sie zu nehmen, denn sonst hätt' er schon von dem Seinen etwas dazu gebracht", ist, da „objektlos", ein „Unding" (StA = Große Stuttgarter Ausgabe VI,301). Sie hat keinen Empfänger, weil alles Verstehen das Verstandene verändert, ein buchstäbliches Hinnehmen daher dem Nichtverstehen gleichkommt. Keinen Geber hat die Vernunftreligion, wenn sie autonom ein System entwirft und dessen Spitze Gott nennt. Daß Gott nur entworfen werden kann, wenn er ist und als Seiender ein Entwerfen möglich macht, geht Hölderlin zuerst in der Kritik des Fichteschen Ichs, das sich selber setzt, auf. Zwar deutet er Gott hier noch als das „Sein" und den „Grund", weil nur eine ichlose Instanz Fichtes Ich widerlegt. Aber der Gedanke eines Seins vor dem Setzen leitet zum Gott der späten Gedichte über, den Menschen nur darum (transzendental) als Ursprung denken können, weil er der (transzendente) Ursprung ihres Denkens ist. Indessen geht es weniger um Vernunft und Offenbarung als um die Hölderlin existentiell berührende Frage nach einem Gott, den nicht nur er, der auch ihn braucht; denn wechselseitiges Vertrauen ist ihm innerstes Bedürfnis. Im Durchdenken der Frage stößt er jedoch auf folgende Konsequenzen: Den Menschen braucht ein Gott, der in Fühlen und Denken des Menschen zu sich selber kommen will, der also Natur und anonymes Sein ist. Vom Menschen gebraucht wird aber ein Gott, der sich ihm zeigt oder, wenn er sich entzieht, als der Verborgene zu erkennen gibt, der also personaler Geist und Geschichte ist. Die Konzeptionen sind unvereinbar und kennzeichnen die idealistische und die Spätphase Hölderlins. Im Übergang glaubt er jedoch längere Zeit, sie vereinigen zu können. Die Hymne Wie wenn am Feiertage z. B. beginnt mit den allebendigen Götterkräften, die in Geist und Wort des Dichters sich fühlen und offenbar werden wollen, und endet mit dem Strahl des Vaters und himmlischen Feuer, das, ins Lied gehüllt, die Erdensöhne ernährt. Ein verborgen Göttliches offenbaren - den unmittelbaren Gott vermitteln: das

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sind heterogene Bestimmungen des Dichters, derentwegen die Hymne wohl unvollendet geblieben ist. Zwischen ihnen entscheidet der Empedokles: Der Offenbarer des verborgen Göttlichen verfällt der Hybris - „Was sind die Götter und ihr Geist, wenn ich sie nicht verkündige?" (StA IV,109) - er macht sich selber zum Gott und büßt mit dem Tod im Krater, worin er den unmittelbaren Gott finden und durch sein Opfer der Welt vermitteln will. Das Fazit des Dramas läßt sich in drei Worte fassen: Idealismus ist superbia. Wie sieht jedoch Hölderlins Idealismus aus? 4. Idealistische

Metamorphosen

In der Mitte des Romans trägt Hyperion die Lehre vor, anfangs lebe die „ewige Schönheit" - auch das „Eins und Alles" und das „Sein" genannt - verborgen und sich selbst nicht kennend allein im Lebensvollzug des Menschen. Der aber wolle sich fühlen. Er stelle seine Schönheit außer sich, in den Göttergestalten der Kunst und Dichtung, dar, um in ihrem Spiegel sich zu erblicken. „So gab der Mensch sich seine Götter" (StA III, 79). Das scheint reiner -»Idealismus: Das Sein kommt in der Kunst zum Selbstbewußtsein, das Göttliche, das ist, erkennt sich am Gott, der gemacht ist. Indessen sind theologische Denkformen nicht zu übersehen: Die Schönheit wird nach dem Muster des Deus abscortditus - revelatus interpretiert, die Kunst ist als Kind, als Werk und als Offenbarung des Ewigen in der Zeit christologisch präfiguriert. Auch Diotima, das gottmenschliche Wesen, dessen Sein allem neuen Sinn gibt, ist im Grunde eine Metamorphose Christi. Aber die Dialektik eines in Mensch und Menschenwerk sich begreifenden Göttlichen überdeckt diese Kryptotheologie. Analoges in Hölderlins Poetologie. Das Gedicht ist eigentlich ein polyphones Gebilde. Was es sagt, ist begleitet von dem, was ungesagt mitklingt, das Gesagte, das „Zeichen", ruht auf seinem „Grund" und trägt einen „Geist" und bildet die Synthesis beider. Eine Trias, scheint es, wie Melodiestimme, Continuo-Bass und Cantus firmus. Konzipiert ist sie jedoch trinitarisch: Das Zeichen entspricht dem Sohn, der Grund dem Vater, der Geist heißt schon wie sein Urbild. Denn Dichtung soll „Echo des Himmels" (StA 11,33) sein. An solchen, vielfach zu vermehrenden Befunden erkennt man, wie theologiegeprägt Hölderlins Kunst und Kunsttheorie in seiner idealistischen Phase ist. Wenn er in einem Aufsatz „alle Religion ihrem Wesen nach poetisch" nennt (StA IV, 281), hat er, nur die Glieder vertauschend, diesen Sachverhalt im Auge. Die Spätphase verwandelt poetische Religion in religiöse Poesie. 5. Theologie

der Spätzeit

Hyperions Götter waren Numina des Raums, sie erfüllten den Äther, das Meer, das feste Land, aber auch die Seele des Menschen, der sie zum Sprechen zu bringen berufen war. Ein Zeitgott fehlte. Im Empedokles ist er unter dem Namen „Herr der Zeit" plötzlich da. In seinem Wesen liegt, daß er ohne menschliches Zutun existiert - wie die Gegenwart, daß er weggehen und sich verbergen kann - wie Vergangenheit und Zukunft, daß er sich dem Erkennen entzieht - wie das Ganze der Zeit, aber dennoch den Augenblick regiert, im Jetzt also sich zeigen kann. Dem Vers der Ode an den Zeitgott: „Lass endlich, Vater! offenen Aug's mich dir begegnen!"(Der Zeitgeist, StA 1,300) liegt der Gedanke zugrunde: Dem seienden Gott begegnet nur, wer sich durch keine selbstmächtige Weltdeutung den Blick verstellt. Die Existenz eines Zeitgottes besagt, daß Hölderlins Theologie sich aus der Dienstbarkeit der idealistischen Metaphysik befreit hat. Damit verändert sich die Grundform seines Denkens. Das Göttliche, das, im Menschen sich fühlend, erst wird, was es ist, war dialektisch gedacht. Der Gott, der, dem Menschen sich zeigend, im Gezeigten sich verbirgt, verkörpert die Denkform des Paradoxes. Diese beherrscht die späte Dichtung und wird bisweilen förmlich ausgesprochen. Ein Fragment fragt: „Was ist Gott?" und antwortet: er ist „unbekannt", ihn verbirgt das „Angesicht des Himmels", das gleichwohl seiner „Eigenschaften" voll ist, d. h. der Zeichen, in denen er sich zeigt. Denn „jemehr ist eins unsichtbar, {desto mehr) schicket es

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sich in Fremdes" (StA II, 210). Der Verborgene offenbart sich nur in fremder Gestalt (sub contraria specie, Luther), in die er nach dem Doppelsinn von „sich schicken" sich fügt und sich sendet. Luthers Theologie des Deus nudus, der terribiiis ist und sich uns nur als ein Deus vestitus zu erkennen gibt, erscheint im Fragment Griechenland, worin es heißt: „Gott hat an ein Gewand", die „Zeit", d.h. die Geschichte, „deckt den Schröcklichen", und „Erkenntnissen verberget sich sein Angesicht", dies aber „zu lieb den Menschen", die seinen unmittelbaren Anblick nicht ertrügen (StA II, 256/257). Indessen weicht Hölderlin in entscheidenden Punkten von -»•Luther ab. Faktum und Deutung des Kreuzestodes umgeht er geflissentlich, Christus ist ihm nicht Erlöser, sondern Bringer von Verheißungen, Versöhnung wird erst am Ende der Zeit sein. Offenbarungsquellen aber sind Natur und Geschichte, die Luther nicht gelten läßt. Es ist eine heilsgeschichtliche, aus der Parusie gedachte Theologie, die im Aufsuchen der Spuren, Zeichen und Winke Gottes sich seines Kommens zu vergewissern sucht. Wie Hölderlin sich Wesen, Formen und Gründe der Verbergung Gottes zurecht legt, warum er neben Christus andere Mittler, Herakles und Dionysos, braucht, was die gradualistische Vorstellung einer stufenweise herabsteigenden Offenbarung bedeutet — für diese u.a. Implikationen seiner späten Theologie sei auf die Literatur verwiesen. Abschließend ist zu sagen: Der späte Hölderlin findet in einem Paradoxiedenken den verbindlichen Grund seiner dichterischen Aussage, aber auch die deutliche Grenze seiner Aussagefreiheit. Denn für die fast unbeschränkte Macht, dem stummen Sein eine Sprache zu geben, tauscht er die streng umschriebene Pflicht ein, im Seienden die Zeichen Gottes zu erkennen. Deshalb ist von Hören, Lesen und Lernen die Rede, wo es früher Wirken, Erschaffen und Beleben hieß. Darin liegt ein Offenwerden für das in Natur und Geschichte Gegebene, es sei zu verstehen oder nicht, und ein Annehmen auch der Undeutbarkeit dessen, der es gegeben hat. Dieses Seinlassen der Dinge, wie sie von sich her sind, und Sicheinlassen auf die Kontingenz des Herrn der Dinge bestimmt die Haltung des späten Hölderlin und rechtfertigt den Vers: „Von Gott aus gehet mein Werk" (StA 11,326). Literatur Walter Betzendörfer, Hölderlins Studienjahre im Tübinger Stift, Heilbronn 1922. - Wolfgang Binder, Hölderlins Dichtung im Zeitalter des Idealismus: H J b ( = Hölderlin-Jahrbuch) 1965/66, 5 7 - 7 2 . - Ders., Hölderlins Patmos-Hymne: H J b 1967/68, 9 2 - 1 2 7 . - Ders., Hölderlin: Theol. u. Kunstwerk: H J b 1971/72,1-29 ( = Z T h K 69 [1972] 350-378). - Ders., Grundformen der Säkularisation: Goethe, Schiller, Hölderlin. Aufschlüsse, Stud. zur dt. Lit., Zürich 1976, 3 5 - 6 2 . - Paul Böckmann, Hölderlin u. seine Götter, München 1935. - Martin Brecht, Hölderlin u. das Tübinger Stift 1788-1793: H J b 1973/74,20-48. - Heinrich Buhr, Hölderlin u. Jesus von Nazareth, Pfullingen 1977. - R o m a n o Guardini, Hölderlin. Weltbild u. Frömmigkeit, Leipzig 1939. - Ulrich Häusermann, Friedensfeier. Eine Einf. in Hölderlins Christushymnen, München 1959. - Karl Josef Hahn, Dichtkunst en religie bij Hölderlin, Nijmwegen/Utrecht 1949. - Dieter Jähnig, Das „Reich des Gesangs". Hölderlins Aufsatz .Über die Religion': Tijdschrift voor Philosophie 17/3 (1955) 409-476. - Karl Kerenyi, Hölderlin u. die Religionsgesch. Das Christusbild der ,Friedensfeier': Geistiger Weg Europas, Zürich 1955. - Werner Kirchner, Hölderlins Patmos-Hymne: Hölderlin. Aufs, zu seiner Homburger Zeit, hg. v. A. Kelletat, Göttingen 1967. - Gustav Konrad, Hölderlin u. das Christentum, Münster/Westf. 1946. — Ulrich M a n n , Bacchus, Herkules u. Christus. Theol. Gedanken zu Hölderlins Dichtung: Die Leibhaftigkeit des Wortes, FG A. Köberle, H a m b u r g 1958, 539-559. - Robin Burnett Marrison, Hölderlin and Greek Literature, O x f o r d 1975. - Wilhelm Michel, Das Leben Friedrich Hölderlins, Bremen 1940. — Ders., Hölderlin u. die Götter: Hölderlins Wiederkunft, Wien 1943, 1 9 - 4 4 . - Ernst Müller, Hölderlin. Stud. zur Gesch. seines Geistes, Stuttgart 1944. - Guido Sommavilla, Cristologia di Friedrich Hoelderlin: Letture 22 (1967) 171-192. - Marianne Schuhes, Hölderlin. Christus, Welt, München 1950. - Ruth-Eva Schulz, Herakles-Dionysos-Christus. Interpretationen zu Hölderlins Hymne ,Der Einzige': Gegenwart der Griechen im neueren Denken, FS H . G . Gadamer, Tübingen 1960, 233-260.

Wolfgang Binder f

Hölle I Hölle I. Religionsgeschichtlich II. Kirchengeschichtlich

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I. Religionsgeschichtlich 1. Nach einem Jüngsten Gericht S.448)

2. In dem Kreislauf der Wiedergeburten

(Quellen/Literatur

Das Wort Hölle, urgermanisch *haljö zur indogermanischen Wurzel *kel, .verbergen', bedeutet eigentlich „Raum in der Erde" (lat. cella, altir. cuile, Keller), ursprünglich das Sippengrab, dann das Totenreich (Güntert 3 5 - 4 4 ) . Nach üblichem Verständnis jenseitiger Straf- und Peinort, kommt der Begriff in den verschiedenen Religionen in zwei Zusammenhängen vor: 1. Nach einem Jüngsten Gericht, 2. In dem Verlauf der Wiedergeburten.

1. Nach einem Jüngsten

Gericht

Dieses Gericht kann entweder automatisch sein wie das Überschreiten einer Brücke (Algonkin, Tscheremissen, die Cinvat-Brücke im Mazdaismus) und das Erscheinen der däena in derselben Religion (-»Iranische Religionen), oder das Werk eines richtenden Gottes wie in Ägypten, Indien, Japan oder Melanesien (Heiler 521). Am erstgenannten Ort benutzen Osiris und die 42 Richter eine Waage (Totenbuch 25), wie auch Yama in Indien (Shatapathabrähmana XI,2,7,33). „Entsprechend der getroffenen automatischen oder formellen Entscheidung erfolgt die Trennung der Guten und Bösen im Jenseits. Die Stätten der Verworfenen befinden sich in der Unterwelt, im Erdinnern oder in einem abgeteilten Raum der Totenstadt" (Heiler 522). In Ägypten wird nicht viel über jenseitige Strafen gesprochen, und an eine räumliche Hölle scheint man nicht gedacht zu haben. Das Jenseits (Dual) ist voller Gefahren und Schwierigkeiten, aber durch Bekenntnis und Magie entgeht man ihm (Bleeker 105; Ludin Jansen 406 f). Für den Fall ungünstigen Gerichtsresultats lauert der „Fresser" (*m) oder „Totenfresser" ('m mwt), ein mischgestaltiges Untier, dem Sünder auf, um ihn zu vertilgen (Morenz 134). Aber „einen Strafort für die Bösen hatten die Ägypter nicht" (Ludin Jansen 407). Bei den heutigen Afrikanern gibt es im allgemeinen auch keine Hölle, nur Strafzustände auf dem Wege zum Totenreich. Unter den Dogon in Westafrika haben die Seelen der Verstorbenen eine lange Reise nordwärts zu tun als eine Vergeltung für Sünden, je länger, je sündiger das Erdleben gewesen ist (Ray 143). Die LoDagaa glauben, daß der Frevler durch den Boden des Fährschiffs über den Totenfluß fällt und allein über den Fluß schwimmen muß, was drei Jahre dauert (ebd. 145). Wie in Ägypten gibt es unter den Sumerern und Akkadern ein Gericht und einen düsteren Ort (sumer. Kur-nu-gi), „das Land ohne Heimkehr" (Römer 136. 180f), aber keine Hölle. Ja, „there is no evidence of any conception of a sort of judgement of the dead based on moral behaviour during life" (ebd. 180f). Eine wirkliche Hölle finden wir dagegen im Iran. Das Gericht in der Form eines „Überschreitens einer Brücke ist gemeinindoiranisch" (Widengren 39 f). Die sündige Seele „stürzt vom höchsten Punkt der Brücke kopfüber in die Hölle und erlebt alles mögliche Böse" (ebd. 40, vgl. Nyberg 182). Die Menschen, die den Himmelsweg verfehlt haben, geraten in die Wohnung der Drug, „Lüge", und „dort haben sie nach dem Tode ihren endgültigen Wohnsitz erhalten" (Nyberg 230). Der kosmische Dualismus zwischen Gutem und Bösem (Asha und Drug) wird nach Nyberg niemals aufhören (ebd.). Dagegen steht die Meinung von Duchesne-Guillemin, daß er nur bis an die endgültige Auferstehung dauern wird (367). Auch in -»China kann man hier und da von „den verdammten Seelen in der Unterwelt" sprechen (Eichhorn 374) und in Korea von einer weiblichen Gestalt als „die Kommandierer.Je der Unterwelt" (Vos 93).

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Die klarste und ausgearbeitetste Vorstellung von der Hölle ist im -*lslam zu finden. Am Jüngsten Tag, der yaum ad-din, „Tag des Gerichts", oder as-sä'a, „die Stunde", genannt wird, löst sich die Welt auf, und Gott richtet jeden Menschen nach dem Kriterium des Glaubens eher als nach guten und bösen Werken (Montgommery Watt 218). „Jene, die beim Gericht verurteilt werden, werden der Hölle übergeben, damit sie dort die Ewigkeit verbringen" (a.a.O., 219). Der Name der Hölle ist im Koran meistenteils annar, „das Feuer", häufig aber auch das hebräische oder äthiopische Lehnwort gähannam, Gehenna (ebd.). Der Koran enthält viele erschreckende Schilderungen von den Strafen der Verdammten: Bei uns sind Fesseln und ein Höllenbrand [für sie bereit] und Speise, die einem [vor Ekel] im Hals stecken bleibt (Sure 73, 12 f). Diejenigen aber, die [gegen Gott] aufsässig sind, haben [im Jenseits] eine üble Einkehr. Die Hölle, d a ß sie darin schmoren - ein schlimmes Lager! Sie sollen es kosten: heißes Wasser und Eiter [?] und anderes dergleichen (Sure 38,55-58).

Interessant ist, daß es freitags kein Feuer in Gehenna gibt und daß der Höllenfürst (sultän an-när) seine tägliche Arbeit nicht verrichtet (Eklund 59). 2. In dem Kreislauf der

Wiedergeburten

Der Weg der Toten, pitryäna (Rgv. X,2,7), führt, dem vedischen Denken gemäß, durch den Rauch, die Nacht, die dunkle Monatshälfte, das Winterhalbjahr, durch die Vorfahrenwelt, den Raum zum Mond und von dort zum Raum, Rauch, Nebel und Regen auf die Erde zurück (Chändogya-Upanishad V, 10,3-6; Brhadäranyaka-Upanishad VI,2,16). In diesem Zusammenhang erscheint der Ausdruck Nirrti, „der Untergang", „die Auflösung", „die Rta-losigkeit", der zwar allgemeine Bedeutung haben kann (z.B. Rgv. 1,38,6,X,59,1), aber bisweilen örtlich gedacht ist (Rgv. VII,58,1;X,18,10), „beinahe eine Hölle" (Gonda 98). In der Nirrti „liegt der tote (Drache) Vrtra, und dorthin gelangen alle Übeltäter, die sich vorsätzlich den Rta widersetzen" (a.a.O. 181). Yama ist der Herr des südlichen Totenreiches und nach den Puränas „das Oberhaupt der Höllen, in welchen die Strafen vollstreckt werden (vgl. Manu 6,61; 12,17)" (a.a.O. 227). Im Veda wird nur wenig über das Schicksal der Übeltäter verhandelt, der -»Hinduismus aber bemüht sich, „die Strafen und Leiden der Sünder und Frevler in ausführlicher, oft recht populär-anschaulicher Weise in grellen Farben auszumahlen" (a.a.O. 331). Wir nehmen ein Beispiel aus Garuda-Puräna 1,36—38: „Während der Tote diese Reden [der Ankläger] sowie das Wehklagen seiner Verwandten hört, bricht er in laute Klagen aus und wird von den Schergen Yama's geschlagen. Wenn sein Herz von den Schmähreden der beiden zerrissen wird, zuckt er zusammen; auf dem Wege von Hunden zerfleischt, gedenkt er in der Bedrängnis seiner Sünde. Von Hunger und Durst gequält, wird er auf glühendem Sand von Winden ausgedörrt, die aus brennenden Wäldern kommen; mit der Peitsche auf den Rücken geschlagen, schleppt er sich mühsam weiter, auch wenn er es fast nicht mehr vermag, auf dem Wege, der keinen Ruheplatz, kein Wasser bietet."

Verleichbares finden wir im —•Jainismus: „Die Unterwelt besteht aus sieben übereinanderliegenden, doch durch angemessene Räume getrennten Regionen, in denen die Stätten der Qual und Angst, finster, glatt, stinkend und für die Berührung schmerzhaft, meist in Reihen nebeneinanderliegen" (Schubring 232). Die ausführlichsten und eingehendsten Schreckenschilderungen der Höllen finden wir im -»Buddhismus. Seiner Lehre gemäß können die Lebewesen je nach ihren Taten in ungleichen Höllen (niraya, naraka) wiedergeboren werden. Es gibt acht Haupthöllen, von denen die schrecklichste die Avtci ist, jede von sechzehn zweitrangigen Höllen umgeben. Einige der langwierigen, grausamen Folterungen werden z.B. so beschrieben: Die Verdammten „werden verbrannt, gebraten, gekocht, erdrückt, zerstückelt, von Wölfen oder Vögeln mit eisernen Schnäbeln aufgefressen, von scharfen Klingen, die die Blätter

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der Höllenbäume bilden, zerschnitten, durch eisige Sturzbäche zum Erfrieren gebracht usw." (Bareau 35). Verschiedene buddhistische Schulen haben verschiedene Meinungen darüber, ob die Hüter der Höllen (nirayapäla) wirkliche Wesenheiten waren, wie es der TheravädaBuddhismus annimmt, oder nur personifizierte Taten der Verdammten (a.a.O. 103). Die Mahäsänghika und die Sarvästwädin lehrten, daß die Bodhisattvas die Qualen der Hölle teilten, um die Schmerzen der Elendigen zu erleichtern, während die Yogäcära meinten, die Bodhisattvas könnten die Verdammten erlösen (a.a.O. 168). Bei den Yoruba in Westafrika herrscht der Seelenwanderungsglaube (eine Seele kann zur selben Zeit in verschiedenen Leibern verkörpert werden!), aber auch die Vorstellung eines „bösen Himmels", wo alles heiß und dürr ist und die Seele für immer bleiben muß (Ray 144). > Bei den Griechen herrschte auch der Wiedergeburtsglaube, den wir bei den Orphikern des 7. Jh. v. Chr. finden (Nilsson 56). Burkert behauptet, diese Lehre sei „ein spekulatives Lehrstück, das im Rahmen griechischer Religion ein Fremdkörper ist" (444), aber man fragt sich erstens, ob das so sicher ist, und zweitens, was mit griechischer Religion genau gemeint ist. Die Lehren „können aber doch auf alten volkstümlichen Glauben zurückgehen, auch wenn wir dafür kein Zeugnis haben" (Dieterich 90, vgl. Cumont 196-207). „Der Gedanke eines unterirdischen Aufenthaltes der Verstorbenen war gewiß fast ebenso alt wie die Sitte des Begrabens. Das Grab war die Wohnung des Verstorbenen" (Dieterich 46). „C'est là une idée commune à tout le monde antique" (Cumont 24). Das Totenreich wurde von den Griechen Hades genannt, à.h.'Alôrjç, attisch"^¿//ç, von"Aïç, „der Unsichtbare" oder „der unsichtbar Machende " (Burkert 301), was teils den Gott der Unterwelt, teils das Totenreich meint. Hier lebten die Seelen (i//oxai) der Menschen als Schatten in „einem einförmigen Grau der Resignation" (Dieterich 46). Hades war zuerst ein unterirdisches Reich (Cumont 55-77), später aber mit verschiedenen Variationen (ebd. 189-196). Bei Homer wird gesagt, die Erinnyen quälen die toten Sünder, z.B. die Meineidigen (Ilias 111,278f; XIX,259f), und die berühmten „drei homerischen Büßer" Tityos, Tantalos und Sisyphos erleiden unaufhörliche Strafen (Odyssee XI, 576-600; vgl. Cumont 66, Dieterich 63, Nilsson 37). Die drei homerischen Büßer sind keine gewöhnlichen Frevler — sie haben sich gegen die Götter vergangen, und ihre Strafen mußten ursprünglich auf Erden vollstreckt werden (Nilsson 38). In allen anderen Fällen ist das homerische Totenreich keine Hölle: „Aucune distinction n'est faite parmi les défunts d'après leur mérite ou leur démérite". Wir finden „ni récompense, ni punition" (Cumont 66). Einen Unterschied zwischen Seligen und Unseligen im Hades, wie auch zwischen Geweihten und Ungeweihten, finden wir zum ersten Mal in den Mysterienlehren, teils in Eleusis und Delphi, teils unter den Orphikern (Dieterich 64-70). Die neue Hadesvorstellung können wir u. a. aus folgenden Quellen erschließen: Plato, Rep. 363 C. 615, weiter Phaid. 69 C (Dieterich 60. 72-77), die KazäßaaiQ des Dionysos, Aristophanes' Frösche (ebd. 70-72) und eine große Monumentalmalung von Polygnotos in Delphi (5. Jh. v.Chr.). Sie ist verloren gegangen, aber von Pausanias genau beschrieben. In überaus reichen Einzelheiten werden hier Plagen und Foltern dargestellt (Dieterich 47. 68-70; Cumont 64; Nilsson 73-76). In diesen verschiedenen Darstellungen finden sich neben schrecklichen Tieren und Monstren spezielle Plagegeister: die Erinnyen, die herznagenden Keren, die mit Fackeln brennenden Straferinnen (Tloivai), Dämonen aller Art, z.B. die àvôgeç äypioi ôiânvpoi (Plato, Rep. 615 C) und viele andere Gestalten (Dieterich 54-61). Die Etrusker haben lebendige Höllenvorstellungen gehabt mit Abbildungen von unheimlichen, bluttriefenden Szenen (Dieterich 210 Anm.2; Cumont 60-63). Die Vorstellung von einem unterirdischen Totenreich (lat. Orcus) kam erst spät zu den Römern durch etruskischen und griechischen Einfluß (Cumont 57-62). Die beiden aus-

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führlichsten Höllendarstellungen sind Ovids M e t a m . IV und Vergils Aen. VI. In der ersten Darstellung haben die Seelen „leur résidence définitive" (Cumont 55). Wir erkennen die homerische Schattenwelt in M e t . I V , 4 4 3 - 4 4 6 : Errant exsangues sine corpore et ossibus umbrae: parsque forum célébrant, pars ini teda tyranni\ pars aliquas artes, antiquae imitamina vitae, exercent: aliam partem sua poena coercet. Ohne Fleisch und Gebein irren da die blutlosen Schatten, manche bevölkern den Markt, das Haus des Herren der Tiefe andere, manche betreiben - als Nachbild früheren Lebens andere Künste, ein Teil ist gebannt an den Ort seiner Strafe. Hier begegnen wir den drei „homerischen B ü ß e r n " nebst Ixion ( 4 5 6 - 4 7 2 ) . Einige von diesen kommen auch in Vergils Tartarus vor (Aen. VI, 5 4 8 - 6 2 0 ) , wohin Aeneas mit der Sibylle kommt. Hier beobachtet er die Strafen der Frevler und bekommt von seinem Vater Anchises Unterricht über die Seelenwanderung ( 7 1 9 - 7 5 1 ) . Unter den alten Germanen hat der pitryäna seine Entsprechung in dem Totenweg, helvegr oder vegr Rânar (Ström 189f). Er führt durch den ragnarekkr, „Götterdämmerung" (Lokasenna 39), die Nacht (Helgakvida Hundingsbana 11,51) und den Nebel (nifi, Atlakvida 33) zum M o n d , den wir in mehreren Totengeschichten finden (z. B. Njâla 78, Grettis saga 35). Die Germanen kannten also die Reinkarnation (Ström 189f). Das Totenreich hieß Hei, ein Schattenreich im homerischen Sinn, aber keine Hölle. Durch Wiedertod (vgl. skr. punar-mrtyu), z . B . Eyrbyggja saga 63, Svarfdola saga 28, kann man aber in etwas Furchtbares, d . h . in eine Hölle, kommen: an die Leichenküste {Nâstrand, Vçluspâ 38) oder in die Niflhel, ,das dunkle Verborgene', wie Vafprüdnismäl 43 sagt: tu kom ek heima fyr Niflhel neòan, hinig deyja ór helju halir

Ich kam in neun Welten unter Niflhel; dorthin sterben Männer aus Hei.

Nach germanischer Auffassung konnte der Tote im Grab, in der Hei und unter den Seinigen so gut wie gleichzeitig sein. Quellen Der Rig-Veda aus dem Sanskrit ins Deutsche übersetzt und mit einem laufenden Kommentar versehen von K.F. Geldner, 2 Bde., Cambridge/Mass. 1951 (Harvard Oriental Sériés). - Ders., Vedismus u. Brahmanismus. Religionsgesch. Lescbuch. Hg. v. A. Bertholet, 2. erw. Aufl., IX Tübingen 1928. - Paul Deussen, Sechzig Upanishad's des Veda, aus dem Sanskrit übers, u. mit Einl. u. Anm. versehen, Leipzig 3 1921, Nachdr. Darmstadt 1963. - Der Pretakalpa des Garuda-Purana. Eine Darst. des hinduistischen Totenkultes u. Jenseitsglaubcns. Aus dem Sanskrit übers, u. erklärt v. Emil Abegg, Berlin 1956. - Der Koran. Ubers, v. Rudi Paret, Stuttgart 1979. - Homeri Opera, ree. D.B. Monro et Th. W. Allen, I: Iliadis libros I - X I I continens, II: libros X I H - X X I V continens, III: Odysseae libros I - X I I continens, IV: libros XIII—XXIV continens, Oxoniae 1908 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis). - P. Vergilii Maronis Opera, ree. F. A. Hirtzel, Oxoniae 1900 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis). - P. Vergilius Maro, Aeneis Buch VI. Erklärt v. Eduard Norden, Leipzig 1903 (Sammlung wiss. Komm, zugriech, u. röm. Schriftstellern).-P. OvidiusNaso, II Métamorphosés, ed. R. Ehwald, Leipzig 1915 (BiTeu). - Ders., Metamorphosen. In dt. Hexameter übertragen v. Erich Rösch, München 1964. - Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern. Hg.v. Gustav Neckel, 4. umgearbeitete Aufl. v. Hans Kuhn, Heidelberg 1962. Literatur André Bareau, Der indische Buddhismus: Die Rei. Indiens III. Hg. v. dems./W. Schubring/Ch. v. Fürer-Haimendorf, 1964 (RM 13). 1 - 2 1 5 . - C . J . Bleeker,The Religion of Ancient Egypt: Historia Religionum, hg.v. dems./G. Widengren, I Religions of the Past, Leiden 1969, 40-114. - Franz Cumont, Lux Perpetua, Paris 1949. - Albrecht Dieterich, Nekyia. Beitr. z. Erklärung der neuentdeckten Petrusapokalypse, Stuttgart 1893, 3 1969. - Jacques Duchesne-Guillemin, The Religion of Ancient-Iran: Historia Religionum (s.o.) 323 - 3 7 6 . -Werner Eichhorn, Die Rei. Chinas, 1973 (RM 21).—

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AkeV. Ström II. Kirchengeschichtlich 1. Alte Kirche

2. Mittelalter

3. Reformation und Neuzeit

(Literatur S.454)

1. Alte Kirche Die Hölle war für das Christentum der Alten Kirche im großen und ganzen kein zentrales Thema. Sowohl in der theologischen Literatur als auch in der christlichen Kunst überwiegt in der Frühzeit der Kirche eine optimistische Gewißheit des Heils, die in den Jenseitsdarstellungen in der Hervorhebung entsprechender Aspekte zum Ausdruck kommt. In der frühchristlichen Ikonographie des Jenseits dominieren die Darstellungen des Paradieses, und im patristischen Schrifttum sind die Erörterungen zum Thema „Hölle" öfter Ausführungen am Rande der Argumentation, in einer theologischen curiositas verwurzelt (vgl. Tertullian, De anima LVIII, 9), als zentrale Lebensfragen, die Ansatz und Argumentation der Schriften bestimmen. Besonders trifft diese Feststellung für die ersten zwei bis drei Jahrhunderte der Kirchengeschichte zu. Die Rede von der Hölle ist hier weithin von einem einfachen biblischen Realismus geprägt. Gemäß dem Buchstaben der neutestamentlichen Gerichtstexte, unterstützt durch eine typologische Auslegung alttestamentlicher Texte, hält man daran fest, daß der -»Teufel und die Verdammten im Feuer der Hölle eine ewige Strafe leiden müssen (z. B. Justin, Dial. 141; Irenaus, Haer. IV,66; Tertullian, Apol. 45; De carne Chr. 14). Eine intensivere Reflexion über das Thema „Hölle" findet man in der Schule der alexandrinischen Theologie, und hier vor allem bei Origenes. Das Ziel der Überlegungen ist jedoch auch für ihn nicht, die Hölle als ein wichtiges theologisches Thema hervorzuheben. Vielmehr argumentiert er von seinem platonisch orientierten Standpunkt aus dafür, daß die biblischen Aussagen über die Höllenstrafen nicht buchstäblich und konkret zu verstehen sind. Das Höllenfeuer ist kein materielles, sondern ein geistiges Feuer. Und sein Zweck ist vor allem die Reinigung der Seelen (De princ. II, 10,4-6), ein Gesichtspunkt, der in der patristischen Tradition vor Origenes hauptsächlich in bezug auf den Aufenthalt der Seelen im Totenreich des Hades vor dem Gericht, und nicht auf die Verdammten im endzeitlichen Feuer der Gehenna zur Geltung gebracht wurde (Russell, Satan 120). Nach Origenes wird sogar der Teufel nach einem harten Reinigungsprozeß gerettet werden können (1,6,3; 111,6,5 f; dagegen jedoch bei Rufin, De ad. libr. Or. 7). Aufgrund seiner Apokatastasis-Lehre neigt Origenes auch dazu, die ewige Dauer der Höllenstrafen abzuweisen, obwohl auf der anderen Seite seine Betonung der freien Wahl der Menschen - auch zum Bösen - zugleich grundsätzlich die Existenz einer Hölle zu fordern scheint (Crouzel). Diese origenistische Interpretation der Hölle hat, besonders in der westlichen Kirche, Kritik und Proteste hervorgerufen. In einem Edikt des Jahres 543 von Kaiser -»Justinian

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wurde die Lehre des Origenes über die Möglichkeit der endzeitlichen Errettung der Dämonen und der Gottlosen schließlich offiziell verdammt (can. 9, DS 411). Die Entwicklung, die zu diesem Beschluß führte, spiegelt ein zunehmendes Interesse an den Fragen des endzeitlichen Gerichts nach der konstantinischen Wende. Nachdem das Christentum die offizielle Religion des Reiches geworden ist, verändert sich auch die Eigenart der Kirche. Ihr Selbstverständnis als eschatologische Gemeinschaft der Getauften wird in den Hintergrund gedrängt. Angesichts der neuen Herausforderungen werden stärker als vorher in Theologie und Unterricht das Endgericht und die Möglichkeit der Verdammung auch für die Christen, wenn sie ein unchristliches Leben führen, hervorgehoben. Und gegen die Lehre des Origenes von einer geistigen und zeitlich beschränkten Hölle, die vor allem durch Rufins Ausgabe von De princtpiis im Westen Verbreitung fand, wurde es jetzt wichtig, die schreckliche Realität der Hölle und ihrer ewigen Strafen neu zur Geltung zu bringen. Zwei Theologen waren in diesem Zusammenhang besonders wichtig: Augustin und Gregor der Große. Bei Augustin werden vor allem in Civ. XXI die Strafen der Verdammten systematisch und ausführlich diskutiert. Augustin wendet sich hier zum einen gegen die Ungläubigen, die die Möglichkeit einer ewigen Höllenstrafe aus Vernunftgründen abweisen; und zum anderen gegen Origenes und andere Christen, die die Gerichtsworte der Schrift nicht nach ihrem Wortlaut, sondern ihren eigenen Wünschen gemäß verstehen (XXI,27; vgl. Ench. 112f). Er stellt fest, daß die Verdammten in einem materialen Feuer eine ewige Strafe leiden müssen (XXI, 9f). Weder die Taufe noch der rechte katholische Glaube können an sich gegen diese Strafe schützen (XXI, 25.21). Vielmehr ist sie - als eine unbeschränkte und ewige Strafe - aufgrund von Adams maßloser Sünde, die das Menschengeschlecht zu einer massa damnata gemacht hat, für alle eine verdiente Strafe, von der man nur durch die Gnade gerettet werden kann (XXI,12). Und die Gnade kann sowohl durch ein unchristliches Leben als auch durch ketzerische Ansichten verloren werden (XXI,17). - Die Verdammten, die nach dem Gericht ins ewige Feuer gekommen sind, sind endgültig verloren, und die Fürbitte der Heiligen kann ihnen nicht mehr helfen (XXI,24). Eine besondere wirkungsgeschichtliche Bedeutung kommt der Behandlung des Themas der ewigen Höllenstrafen bei -»Gregor dem Großen in seinen Dialogi am Ausgang des altkirchlichen Zeitalters zu. Gregor hat in den Hauptzügen die Fragestellungen und Standpunkte Augustins übernommen, er hat aber zugleich eigene Akzente gesetzt, die dem erwähnten zunehmenden Gewicht auf eine pädagogisch-moralische Verwertung des Topos „Hölle" in Spätantike und Frühmittelalter entsprechen. Vor allem werden die Hölle und ihre Strafen bei Gregor konkreter beschrieben als bei Augustin. Als sich die Welt ihrem Ende nähert, offenbart sich nach Gregor das Jenseits - und das heißt in erster Linie die Hölle - deutlicher als bisher (Dial. 4,43). Durch Visionen und Wunder erfährt man, was früher verborgen war (z.B. 4,31.33.37.40). Dazu verweist Gregor auf Schrift und Vernunft (4,30). Anhand der Schrift wird z. B. bewiesen, daß die Sünden der fleischlichen Begierde in der Hölle mit Schwefel und Feuer (Gen 19,24) bestraft werden (4,39). Und anhand von Vernunftargumenten wird - deutlicher und eindringlicher als bei Augustin (Civ. XXI,12) - darauf hingewiesen, daß die ewigen Strafen der Verdammten auch darin ihren Sinn haben, die Freude und Dankbarkeit der Geretteten bei ihrer Ansicht der Qualen der Hölle zu vergrößern (4,46). Die Wirklichkeit der Höllenstrafen rückt auch dadurch besonders nah an die einzelnen Glaubenden heran, daß die Strafen nach Gregor - anders als nach Augustin und den früheren Kirchenvätern - ihren Anfang nicht erst nach dem Endgericht, sondern unmittelbar nach dem Tod des einzelnen haben (4,29). Als Quelle für eine anschaulichere und eingehendere Beschreibung der Höllenstrafen bei der Wende zum Mittelalter muß hier auch auf die jüdisch-christliche Gattung der apokalyptischen Visionsliteratur hingewiesen werden. Zwei frühchristliche Apokalypsen waren besonders wichtig: die Petrus-Apokalypse vom Anfang des 2. Jh. (s. TRE 3,352 f)

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und die Paulus-Apokalypse, die im 4. Jh. entstanden ist. Für die patristische Literatur hatten diese Schriften keine große Bedeutung; als Quelle für die Vorstellungen von der Hölle in der Literatur des Mittelalters hat aber vor allem die Paulus-Apokalypse, trotz ihrer Verurteilung durch Augustin (Silverstein 4), eine wichtige Rolle gespielt, — was man aus den zahlreichen Handschriften und Fassungen der Schrift vorwiegend aus der Zeit zwischen dem achten und dem zwölften Jh. und ihrer häufigen Verwertung in der Dichtung bis zu Dante erschließen kann. Die Visio Sancti Pauli „was responsible more than any other single work for fixing the horrific detail of Hell in the medieval eye" (Owen 3). 2.

Mittelalter

In der mittelalterlichen Überlieferung der Paulus-Apokalypse konzentriert sich das Interesse noch stärker als in den frühen Ausgaben auf die Darstellung der Hölle auf Kosten der Beschreibung des Paradieses. In der am meisten verbreiteten und am häufigsten übersetzten Redaktion der Schrift (Redaktion IV nach Silverstein) wird die Zahl der Höllenstrafen mit 144000 angegeben. Zu den Höllenbildern, die Paulus vorgeführt werden, gehört z.B. der Anblick eines Flusses, in dem die Sünder von Höllentieren geplagt und um so tiefer ins Wasser gesenkt werden, je größer ihr Vergehen ist. Ausdrücklich wird auch gesagt, daß dies ein ewiges Leiden ist. Die Übertreter der Fastenvorschriften befinden sich neben einem Strom von Früchten, gerade so weit entfernt, daß sie nichts nehmen können. Am schlimmsten sind jedoch die Qualen derjenigen, die Paulus in einem Abgrund so tief wie von der Erde bis zum Himmel gehäuft sieht, und die dort von Würmern gefressen werden. Im Laufe des frühen und hohen MA wurden auch weitere Jenseitsvisionen vergleichbarer Art verfaßt, von denen hier nur eine, die Visio Tnugdali (Tundali) erwähnt werden soll. Auch hier ist die Hölle das wichtigste Thema. Die Vision wurde von dem irischen Mönch Marcus in Regensburg geschrieben und läßt im Jahre 1148 (bzw. 1149) den irischen Ritter Tnugdal ins Jenseits schauen. Auch hier hat man es mit einem Text zu tun, der vom 12. bis ins 16. Jh. in viele Sprachen übersetzt wurde und weite Verbreitung fand und dessen Höllenbilder somit für das volkstümliche Denken wie auch für die Dichtung sehr wichtig wurden. Die Visio Tnugdali ist im Schrifttum des Mittelalters ein Höhepunkt, soweit es um die konkrete Darstellung der abschreckenden Einzelzüge der Höllenstrafen geht. Z. B. ist der Feuerofen aus Apk 9,2, der auch in der Visio Sancti Pauli beschrieben wurde, in der Visio Tnugdali geographisch als ein Talkessel dargestellt, der mit brennenden Kohlen gefüllt ist und auf dessen Mündung ein Rost liegt. Darauf werden die Seelen der Sünder geröstet, bis sie schmelzen und auf die glühenden Kohlen herunterfallen, um sich hier für weiteres Leiden zu erneuern (Ed. Schade, c.4). Auch der letzte Abgrund der Hölle wird in der Visio Tnugdali mit einer besonderen Eindringlichkeit geschildert (c. 13f): Durch eine Öffnung sieht Tnugdal eine stinkende Flammen- und Rauchsäule, die aus der Tiefe kommt und in der auch Teufel und Verdammte wie Funken auszumachen sind. Diese Flammensäule ist der Atem des Fürsten des Dunkels, der dort unten auf brennenden Kohlen liegt und die Seelen der Verdammten mit seinen tausend Händen zerreißt, ehe er sie in die Gehenna hineinbläst. Tnugdal wird von seinem Schutzengel durch die Hölle geführt als einer, der selbst mehrere von den Strafen, die er sehen darf, aufgrund seines nicht immer einwandfreien Lebens verdient hätte. Im Laufe des Berichts muß er einige von den Höllenstrafen auch selbst schmecken, wird aber dank der Barmherzigkeit Gottes immer von seinem Schutzengel herausgeholt. Deutlicher als in der Visio Sancti Pauli spricht so aus der Visio Tnugdali ein Geist der Zuversicht und eines gewissen Optimismus angesichts der schrecklichen Realität der Hölle, der neben die Furcht vor den Strafen tritt (vgl. Owen 271 f)- In diesem Sinne konnten die Höllenbilder der Visio Tnugdali auch für eine Kirchen- und Gesellschaftskritik in Dienst genommen werden, indem die Härte der Strafen für die Reichen und die verweltlichten Priester ganz besonders hervorgehoben wurde. Bei

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den volkssprachlichen Bearbeitungen der Vision im späten Mittelalter ist eine Tendenz in dieser Richtung festzustellen (Palmer 382). Jedoch hatten die Höllenvisionen sicher auch im hohen und späten Mittelalter ihre wichtigste Funktion im Rahmen der christlichen Erziehung, als Mahnung zur Buße, die seit dem 12. Jh. den Christen als Aufgabe besonders eindringlich vorgehalten wurde. Neben dieser zunehmenden Konkretisierung der Höllenbilder in der Visionsliteratur sieht man in eigentlich theologischen Erörterungen seit dem hohen Mittelalter eine zunehmende Tendenz zu einer systematischen Differenzierung der Vorstellungen von der Hölle. Sowohl bei Gregor als auch in den Höllenvisionen ist die Darstellung der Hölle vor allem in dem Sinn systematisch orientiert, d a ß die verschiedenen Strafen der Eigenart der jeweiligen Sünden „material" entsprechen: M a n bemüht sich darum, einen unmittelbar einleuchtenden Zusammenhang zwischen Sünde und Strafe festzuhalten. Im Wechsel der Bilder der Visionen kann man auch - etwa in der Visio Tnugdalt - Ansätze zu einer Aufteilung der Hölle in verschiedene Regionen entdecken, vor allem in der Hervorhebung der untersten Hölle des Fürsten des Dunkels. Von geringer Bedeutung ist jedoch die Unterscheidung zwischen Reinigung und ewiger Pein als religiösem Sinn der Strafen. Auf diese Unterscheidung wurde bei Augustin (vgl. z.B. Civ. XXI,26) und Gregor (vgl. z.B. Dialogi 4,41) ein gewisses Gewicht gelegt; in der Visionsliteratur bis zur Entstehung der Visio Tnugdali aber ist die Hölle, sowohl in den untersten als auch in den oberen Regionen, vorwiegend ein Ort der Verdammten. Diese und ähnliche Fragen der Unterscheidung werden von den Theologen des 12. und des 13. Jh. neu in Angriff genommen. Es wird wichtiger als zuvor, einen eigenen Jenseitszustand zwischen der ewigen Verdammnis und der ewigen Freude näher festzulegen und zu beschreiben, in dem Strafen zum Zweck der Reinigung der verstorbenen Seelen erlitten werden. Dieses Interesse hängt mit der Bußpraxis (-»Buße) und mit einer weiter differenzierten Sündenlehre (-»Sünde) zusammen: Ab dem 12. Jh. gewinnt hier die formale Unterscheidung zwischen läßlichen (venialia) Sünden und Todsünden als grundsätzliches Einteilungsprinzip an Bedeutung, und es wird auch wichtig, d a ß die Jenseitsstrafen dieser formalen Unterscheidung entsprechen. Nur die Todsünden - die auch unter sich weiter differenziert werden - führen nach dem Tod in die Hölle, während die läßlichen Sünden im Jenseits „Stoff des Fegefeuers" (LeGoff 296) sind ( - • Fegfeuer). Umstritten ist LeGoffs zugespitzte Zeitangabe für „Die Geburt des Fegefeuers" als eines eigenständigen Orts des Jenseits auf die Jahre zwischen 1170 und 1180 (209 ff)- Auf jeden Fall ist im 13. Jh. die prinzipielle Zweiteilung des Feuerjenseits ein wichtiges theologisches Anliegen geworden. So wird 1254 in der Ep. Sub catholicae professione von Papst -»Innozenz IV. gegenüber den Griechen festgestellt, daß es neben der ewigen Gehenna für die durch die Buße nicht nachgelassenen Todsünden auch die Möglichkeit gebe, daß man nach dem Tod durch ein vorübergehendes Feuer von den leichteren Sünden befreit werde, gemäß der Aussage in I Kor 3,15 (DS 838). Und die grundlegende Zweiteilung der Sünden, die dieser Unterscheidung der Strafen entspricht, kann man aus derselben Zeit z. B. mit der folgenden Aussage des - » T h o m a s v. Aquino belegen: „Ea enim quae in infinitum differunt non possunt esse unius speciei, nec etiam unius generis. Sed veniale et mortale peccatum differunt in infinitum: veniali enim debetur poena temporalis, mortali poena aeterno" [Was sich nämlich unendlich unterscheidet, kann nicht einer Art noch auch einer Gattung sein. Läßliche und tödliche Sünden unterscheiden sich aber unendlich: die läßliche erfordert nämlich zeitliche Strafe, die tödliche ewige] (S.th. Ia 2ae, q.72, Art. 5). Diese neue Hervorhebung des Fegefeuers geht auf Kosten des Umfangs und des theologisch-religiösen Stellenwerts der herkömmlichen Hölle. Ein Teil der Hölle wird, entschiedener als zuvor, als eine Region ausgegrenzt, über die die Kirche und die Nachlebenden durch ihre Gebete einen Einfluß haben können: Auch hier wird somit eine „aktivere" Einstellung den Jenseitsstrafen gegenüber gefördert. - Inwiefern diese Verschiebung von einer Zweiteilung zu einer Dreiteilung des Jenseits ab Ende des 12. Jh. auch einem gesellschaftlichen Wandel, dem Hervortreten eines neuen Stadtbürgertums zwischen den Herr-

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sehenden und den Beherrschten der Lehnsordnung entspricht (Le Goff 177ff), ist in der Forschung umstritten. Sowohl die scholastischen Traditionen einer näheren theologischen Einteilung des Feuerjenseits und seiner Strafen als auch die Traditionen der mittelalterlichen Höllenvisionen findet man am Anfang des 14. Jh. in -»Dante Alighieris Divina Commedia in einer großartigen Synthese vereinigt. Das Werk schließt sich der Visionstradition an, sofern es über eine Visionsreise des Verfassers um die Osterzeit des Jubeljahres 1300 berichtet und viele literarische Motive dieser Tradition bei der Schilderung der Jenseitsstrafen übernimmt (Rüegg). Gleichzeitig spiegelt der Aufbau des Werkes die grundsätzliche Dreiteilung des Jenseits, die sich im Laufe des 13. Jh. durchgesetzt hatte. Die differenzierte Einteilung der Strafen sowohl in der Hölle als auch im Fegefeuer ist z. T. in der Theologie des Thomas Aquinas (und auch anderer scholastischer Theologen), z. T. in der im 13. Jh. neu rezipierten Ethik des Aristoteles verwurzelt. - Wenn man vom ersten Kreis von Dantes Hölle, dem Limbus der Ungetauften, absieht, trifft im zweiten Kreis die leichteste Strafe die Sünden der fleischlichen Begierde. Je stärker die höheren Teile der Seele in die Sünde verwickelt sind, desto schwerwiegender ist die Sünde, - bis zur schlimmsten aller Sünden, die im 9. Kreis bestraft wird: dem Betrug gegen einen Vertrauten. - Dantes Hölle liegt, wie auch sonst im Mittelalter meistens angenommen (-»Weltbild), unter der Erde und ist geographisch genauer unter der Stadt Jerusalem, dem zentralen Ort der bewohnten Erde, lokalisiert. Ihre Form ist konisch, und ganz unten, im kleinsten Kreis zusammen mit den größten Sündern, sieht Dante den Höllenkönig selbst (Inferno, Cant. 34). Im Gegensatz zur Visio Tnugdali herrscht an diesem tiefsten Ort der Hölle nach Dante Kälte und Eis. 3. Reformation

und Neuzeit

Während die römische Kirche im Konzil von Trient (-»Tridentinum) die Lehre vom Fegefeuer ausdrücklich festgehalten hat (DS 1820; vgl. DS 1580), war die Kritik des Fegefeuers und damit auch der Dreiteilung des Jenseits ein wichtiges reformatorisches Anliegen. Das differenzierte kirchenrechtliche System des Mittelalters, das auch einen Bereich des Jenseits appropriiert hatte, wurde von -»Luther zunächst kritisiert und dann schroff und entschieden abgelehnt. Es gebe nach dem Tod nur zwei Möglichkeiten, aber keinen dritten Ort der Läuterung. Diese Rückkehr zu einem dualistischen Denkmuster führte jedoch nicht zu einer neuen Hervorhebung des Themas „Hölle" im reformatorischen Christentum. Vielmehr war, besonders für Luther, nicht Himmel gegen Hölle, sondern Gott gegen Teufel die entscheidende Alternative im Blick auf das Gericht. Für Luthers reformatorische Entwicklung war die Furcht vor der Hölle ein wichtiger Ausgangspunkt. Die Überwindung dieser Furcht mit der reformatorischen Entdeckung bestimmt die Perspektive der meisten seiner späteren Aussagen über die Hölle. Natürlich wird auch bei ihm die Hölle als eine Wirklichkeit nach dem Gericht festgehalten (z. B. WA 47,269,37ff; vgl. auch CA Art. XVII); wichtig ist ihm jedoch vor allem die Abweisung der schrecklichen Bilder dieser Hölle, durch die der Teufel und der Papst die Leute in Angst versetzen wollen (vgl. z.B. WA 2,686ff; 47,441,3ff). Wenn Luther einmal auf die Höllenbilder der Visio Tnugdali ausdrücklich hinweist, schließt er sich diesem Bericht nicht nach dem Buchstaben als einem Bericht über die Hölle als einen Ort des Jenseits an, sondern geistig als einem Bericht über die Versuchungen des Teufels, denen die Christen zu jeder Zeit ausgesetzt sind (WA 32,502,32ff). Dieser Ansatz ist aber in der späteren lutherischen Tradition schon bei Johann -»Gerhard weithin verlassen. Bei Gerhard ist die Hölle wieder ein zentrales eigenständiges Lehrstück (De inferno seu morte aeterno) im letzten Teil seiner Dogmatik und wird sehr ausführlich anhand traditioneller patristischer Fragestellungen und scholastischer und aristotelischer Distinktionen (Materie/Form; causa efficiens!causa finalis-, Subjekt/ Objekt der Hölle) diskutiert (Loci theologici, Ed. Jena 1622, Vol.9c.33). Die Lehre von den ewigen Höllenstrafen konnte sich schwer mit den Idealen der

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Hölle II

-•Aufklärung von Moralität und Rationalität der Weltordnung vertragen. Deshalb wurde dieses Lehrstück ein zentraler Punkt in der Auseinandersetzung zwischen traditionellem Christentum und dem Geist der Aufklärung (Walker). - Zur Lösung des Dilemmas wurden origenistische Gesichtspunkte neu zur Geltung gebracht (besonders in England, vgl. F. D. -»Maurice), und auch der sozinianische Gedanke, daß die Bösen nach dem Tod vernichtet werden, wurde rezipiert und weiter interpretiert. - Zu den Aufklärungskritikern gehörte auch -»Kant, der von einem erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt her die überlieferten eschatologischen Vorstellungen des Christentums in Frage stellte (vgl. Das Ende aller Dinge, 1794). Eine andere Art Kritik wieder findet sich bei Schleiermacher, der z. T. anhand religionspsychologischer, z. T. auch anhand exegetisch-kritischer Argumente die großen Schwierigkeiten der Vorstellung „der ewigen Verdammnis" aufzeigt (Der christl. Glaube, §163, Anhang). Neben dieser Kritik oder Ablehnung traditioneller Höllenvorstellungen, die ab Ende des 17. Jh. in Europa um sich gegriffen haben, sind in derselben Periode zugleich die Vorstellungen von den ewigen Strafen der Hölle sowohl im katholischen als auch im protestantischen Christentum in neuer Weise hervorgehoben und zur Geltung gebracht worden, z.T. als Antwort auf die Kritik, z.T. als eigenständiges Element von verschiedenen Erweckungsbewegungen (-»Erweckung) der Neuzeit. Nur zwei unterschiedliche Beispiele solcher Wiederbelebung der Höllenvorstellungen sollen hier aus den letzten beiden Jh. genannt werden: In England hat John Henry -»Newman die Existenz der ewigen Höllenstrafen angesichts der Kritik der Aufklärer stark hervorgehoben: Es gehe hier um einen entscheidenden Punkt des Christentums, der unlösbar mit der Existenz Gottes zusammenhänge (Rowell 163). Und in Norwegen hat der Theologieprofessor Ole Hallesby, ein herausragender Wortführer der norwegischen Laienfrömmigkeit, in einer Rundfunkansprache 1953 die unbekehrten Hörer mit der Hölle bedroht und die Berechtigung dieser Verkündigung danach in einer scharfen Auseinandersetzung mit der liberalen Kirchlichkeit verteidigt. Literatur Vgl. auch die Literaturangaben zu Fegfeuer, Höllenfahrt Christi und Teufel. Hans-Martin Barth, Der Teufel u. Jesus Christus in der Theol. Martin Luthers, 1967 (FKDG 19). — Hans-Georg Beck, Die Byzantiner u. ihr Jenseits. Z u r Entstehungsgesch. einer Mentalität, 1979 (SBAW. PPH 1979,6). - Alan E. Bernstein, Esoteric Theology. William of Auvergne on the Fires of Hell and Purgatory: Spec. 57 (1982) 509-531. - Henri Crouzel, L'Hadès et la Géhenne selon Origène: Gr. 59 (1978) 291 - 3 3 1 . - De evige helvetsstraffer og bekjennelsen, Oslo 1954. - Peter Dinzelbacher, Klassen u. Hierarchien im Jenseits: Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des MA, hg.v. Albert Zimmermann 1979 ( M M 12/1) 2 0 - 4 0 . - Wallace Fowlie, A Reading of Dante's Inferno, Chicago and London 1981. - Joyce Manheimer Galpern, The Shape of Hell in Anglo-Saxon England, Diss. Berkeley 1977. - Aaron J. Gurjewitsch, Popular and scholarly medieval cultural traditions. Notes in the margin of Jacques Le GofPs book: Journal of Medieval History 9 (1983) 7 1 - 9 0 . - Ingmar Hedenius, Helvetesläran, Stockholm 1972. - Friedrich Heer, Abschied von Höllen und Himmeln, München/Esslingen 1970. - Martha Himmelfarb, Tours of Hell. An Apocalyptic Form in Jewish and Christian Literature, Philadelphia 1983. - Sigurd Hjelde, Das Eschaton u. die Eschata. Eine Stud, über Sprachgebrauch u. Sprachverwirrung in protestantischer Theol. v. der Orthodoxie bis zur Gegenwart, Diss. Oslo 1984. - Robert Hughes, Heaven and Hell in Western Art, New York 1968. Wilfried Kettler, Das Jüngste Gericht. Philol. Stud, zu den Eschatologie-Vorstellungen in den altund frühmittelhochdt. Denkmälern, Berlin/New York 1977. - Alfred Koppen, Der Teufel u. die Hölle in der darstellenden Kunst v. den Anfängen bis zum Zeitalter Dantes u. Giottos, Berlin 1895. Leopold Kretzenbacher, Legendenbilder aus dem Feuerjenseits, 1980 (SÖAW. PH 370). - Ders., Versöhnung im Jenseits. Z u r Widerspiegelung des Apokatastasis-Denkens in Glaube, Hochdichtung u. Legende, 1971 (SBAW. PPH 1971,7). - Jacques Le Goff, La naissance du purgatoire, Paris 1981; dt.: Die Geburt des Fegefeuers, Stuttgart 1984. — Hugette Legros, Le diable et l'enfer. Représentations dans la sculpture romane: Le diable du moyen âge, Paris 1979,309-329. - Wilhelm Maas, Gott u. die Hölle. Stud, zum Descensus Christi, Einsiedeln 1979. - James Perry Martin, T h e Last Judgement in Protestant Theology from Orthodoxy to Ritsehl, Grand Rapids 1963. - Ingun Montgomery, Dörnens d a g - i kyrkohistorisk perspektiv: N T T 82 (1981) 13-25. - D. D. R. Owen, T h e Vision of Hell. Infernal journeys in medieval french literature, Edinburgh/London 1970. - Nigel F. Palmer, „Visio

H ö l l e n f a h r t Christi

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Tnugdali". T h e German and Dutch Translations and their Circulation in the Later Middle Ages, München/Zürich 1982. — Fritz Radecke, Die eschatologischen Anschauungen Bernhards von Clairvaux, Langensalza 1915. - M . Richard, Art. Enfer: D T h C 5(1913) 2 8 - 1 2 0 . - Geoffrey Rowell, Hell and the Victorians. A study of the nineteenth-century theological controversies concerning eternal punishment and the future life, Oxford 1974. - August Rüegg, Die Jenseitsvorstellungen vor Dante und die übrigen literarischen Voraussetzungen der „Divina Commedia" I—II, Einsiedeln/Köln 1945. - Jeffrey Burton Russell, Lucifer. T h e Devil in the Middle Ages, Ithaca/London 1984. - Ders., Satan. T h e Early Christian Tradition, Ithaca/London 1981. - Theodore Silverstein, Visio Sancti Pauli, 1935 (StD IV). - Visio Tnugdali, ed. Oscar Schade, Halle 1869. - Daniel P. Walker, T h e Decline o f Hell. Seventeenth-Century Discussions of Eternal Torment, London 1964. Tarald Rasmussen H ö l l e n f a h r t Christi 1. Die Ursprünge der Anschauung im frühchristlichen Bereich 2. Die Hadesfahrt als Bestandteil altchristlichen Erlösungsglaubens 3. Mittelalterliche Gestaltungsformen 4. Die Reformation und ihre Nachwirkung 5. Neuzeitliche Problemstellungen (Quellen/Literatur S. 459) 1. Die Ursprünge

der Anschauung

im frühchristlichen

Bereich

Wichtigste neutestamentliche Bezugsstelle für die Hades- bzw. Höllenfahrt Christi von ihrer Wirkungsgeschichte her ist I Petr 3 , 1 9 - 2 0 (in Verbindung mit 4,6) geworden. Freilich zeigt bereits die Geschichte ihrer Auslegung (vgl. Vogels 1 8 3 - 2 1 0 ; Holzmeistcr 3 1 7 - 3 4 6 ; Reicke 1 4 - 2 3 ; Norbert Brox, Der I Petr, 1979 [EKK 21], 1 8 2 - 1 8 9 ; -»Petrusbriefe), daß einerseits diese Stelle die Beweislast für die Herausbildung der späteren Anschauung nicht tragen kann, andererseits sich diese Anschauung unabhängig von dieser Stelle herausbildete. I Petr 3 , 1 9 - 2 0 ist eine im einzelnen nicht mehr sicher deutbare „Komposition von Abbreviaturen" (Brox 170), die vermutlich in Aufnahme von Motiven und Erzählungen des griechisch erhaltenen Teils von äthHen entstanden ist. Der „ G a n g " Christi bezieht sich demnach auf die „Gottessöhne" von Gen 6 , 1 - 6 , die an einem Ort gefangen gehalten werden und eine Strafe für ihre Vergehen verbüßen. Uber Motiv und Inhalt der Verkündigung, die Christus an sie richtet, ist freilich nichts gesagt. Falls man an dieser Stelle Christus als Antitypos Henochs (-»Henochgestalt/Henochliteratur) verstehen kann, ist als Motiv und Inhalt des Wirkens Christi am Ort der Gefangenschaft der Gottessöhne am ehesten die Universalität des erlösenden Wirkens Christi anzunehmen, der sogar bis zu diesem Ort vorgedrungen ist und bis zu ihm die Kunde vom Heil gebracht hat (vgl. Jeremias 1 9 4 - 2 0 1 ; Brox 175.181). Das exegetische Verständnis von I Petr 4,6 ist mit ähnlichen Schwierigkeiten belastet. Vom Kontext her liegt eine ähnliche Aussagetendenz nahe wie in 3 , 1 9 - 2 0 : Auch die vor der Zeit Christi Verstorbenen haben das Angebot des Evangeliums erfahren (es bleibt offen, durch wen das geschehen ist), niemand also ist für das Evangelium und das -»Gericht Gottes unerreichbar geblieben (vgl. Brox 1 9 6 - 1 9 9 ) . Auch Eph 4 , 8 - 1 0 hat als Belegstelle für die Hades- bzw. Höllenfahrt Christi gedient (zur Auslegungsgeschichte vgl. Erich Haupt, Die Gefangenschaftsbriefe, 7 1897[KEK 8/9], 1 4 1 - 1 5 0 ; Joachim Gnilka, Der Eph, 1969 [HThK X / 2 ] , 209 Anm. 3; Rudolf Schnackenburg, Eph, 1982 [EKK 10], 181 Anm. 423). Diese Auslegung ist jedoch nicht zwingend. Unbestritten bleibt, daß die Stelle die universale Herrschaft Christi über das All beschreibt. (Zu weiteren biblischen Texten, die als Beleg für die Anschauung von der Hades- bzw. Höllenfahrt Christi herangezogen worden sind, s.u.). E i n e B e f r a g u n g des N e u e n T e s t a m e n t s ergibt, d a ß keiner seiner T e x t e einen sicheren e x e g e t i s c h e n A n s a t z p u n k t für die Ausbildung der A n s c h a u u n g v o n der H ö l l e n f a h r t bietet. Diese A n s c h a u u n g h a t sich a u ß e r h a l b des neutestamentlichen Bereichs herausgebildet. D i e frühesten f a ß b a r e n Spuren - Herrn sim 9 , 1 6 , 5 , flüchtige E r w ä h n u n g e n bei I g n M a g n 8 , 2 ; 9 , 2 ; E v P e t r 4 1 f, ein J e r - A p o k r y p h o n bei J u s t i n , dial. 7 2 , 4 ( s o w i e m e h r f a c h bei Irenaeus) - weisen in die erste H ä l f t e des 2 . J h . Ihre Tendenz läßt die missionarische Auseinandersetzung mit d e m J u d e n t u m , aber a u c h ein T r o s t m o t i v im Blick a u f die v o r C h r i s t u s Verstorbenen erkennen. G e o g r a p h i s c h weisen diese Spuren in den syrischen R a u m u n d n a c h R o m (-»•Hermas). Die Z e u g n i s s e des 2 . und beginnenden 3 . J h . erzählen v o n drei T ä t i g k e i t e n Christi im H a d e s : 1. C h r i s t u s predigt i m H a d e s (bei H i p p o l y t , d e A n t i c h r . 4 5 , und E v . N i c o d . 1 8 , 2 predigt a u c h J o h a n n e s der T ä u f e r als Vorläufer Christi im H a d e s ) . 2 . C h r i s t u s t a u f t die alttestamentlichen G e r e c h t e n (bei Herrn spenden a u c h die A p o s t e l d e n v o r C h r i s t u s Verstorbenen die T a u f e ) . 3 . C h r i s t u s u n t e r w i r f t sich d u r c h seinen K a m p f den H a d e s und seine B e h e r r s c h e r . Die ersten beiden T ä t i g k e i t e n sind deut-

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Tnugdali". T h e German and Dutch Translations and their Circulation in the Later Middle Ages, München/Zürich 1982. — Fritz Radecke, Die eschatologischen Anschauungen Bernhards von Clairvaux, Langensalza 1915. - M . Richard, Art. Enfer: D T h C 5(1913) 2 8 - 1 2 0 . - Geoffrey Rowell, Hell and the Victorians. A study of the nineteenth-century theological controversies concerning eternal punishment and the future life, Oxford 1974. - August Rüegg, Die Jenseitsvorstellungen vor Dante und die übrigen literarischen Voraussetzungen der „Divina Commedia" I—II, Einsiedeln/Köln 1945. - Jeffrey Burton Russell, Lucifer. T h e Devil in the Middle Ages, Ithaca/London 1984. - Ders., Satan. T h e Early Christian Tradition, Ithaca/London 1981. - Theodore Silverstein, Visio Sancti Pauli, 1935 (StD IV). - Visio Tnugdali, ed. Oscar Schade, Halle 1869. - Daniel P. Walker, T h e Decline o f Hell. Seventeenth-Century Discussions of Eternal Torment, London 1964. Tarald Rasmussen H ö l l e n f a h r t Christi 1. Die Ursprünge der Anschauung im frühchristlichen Bereich 2. Die Hadesfahrt als Bestandteil altchristlichen Erlösungsglaubens 3. Mittelalterliche Gestaltungsformen 4. Die Reformation und ihre Nachwirkung 5. Neuzeitliche Problemstellungen (Quellen/Literatur S. 459) 1. Die Ursprünge

der Anschauung

im frühchristlichen

Bereich

Wichtigste neutestamentliche Bezugsstelle für die Hades- bzw. Höllenfahrt Christi von ihrer Wirkungsgeschichte her ist I Petr 3 , 1 9 - 2 0 (in Verbindung mit 4,6) geworden. Freilich zeigt bereits die Geschichte ihrer Auslegung (vgl. Vogels 1 8 3 - 2 1 0 ; Holzmeistcr 3 1 7 - 3 4 6 ; Reicke 1 4 - 2 3 ; Norbert Brox, Der I Petr, 1979 [EKK 21], 1 8 2 - 1 8 9 ; -»Petrusbriefe), daß einerseits diese Stelle die Beweislast für die Herausbildung der späteren Anschauung nicht tragen kann, andererseits sich diese Anschauung unabhängig von dieser Stelle herausbildete. I Petr 3 , 1 9 - 2 0 ist eine im einzelnen nicht mehr sicher deutbare „Komposition von Abbreviaturen" (Brox 170), die vermutlich in Aufnahme von Motiven und Erzählungen des griechisch erhaltenen Teils von äthHen entstanden ist. Der „ G a n g " Christi bezieht sich demnach auf die „Gottessöhne" von Gen 6 , 1 - 6 , die an einem Ort gefangen gehalten werden und eine Strafe für ihre Vergehen verbüßen. Uber Motiv und Inhalt der Verkündigung, die Christus an sie richtet, ist freilich nichts gesagt. Falls man an dieser Stelle Christus als Antitypos Henochs (-»Henochgestalt/Henochliteratur) verstehen kann, ist als Motiv und Inhalt des Wirkens Christi am Ort der Gefangenschaft der Gottessöhne am ehesten die Universalität des erlösenden Wirkens Christi anzunehmen, der sogar bis zu diesem Ort vorgedrungen ist und bis zu ihm die Kunde vom Heil gebracht hat (vgl. Jeremias 1 9 4 - 2 0 1 ; Brox 175.181). Das exegetische Verständnis von I Petr 4,6 ist mit ähnlichen Schwierigkeiten belastet. Vom Kontext her liegt eine ähnliche Aussagetendenz nahe wie in 3 , 1 9 - 2 0 : Auch die vor der Zeit Christi Verstorbenen haben das Angebot des Evangeliums erfahren (es bleibt offen, durch wen das geschehen ist), niemand also ist für das Evangelium und das -»Gericht Gottes unerreichbar geblieben (vgl. Brox 1 9 6 - 1 9 9 ) . Auch Eph 4 , 8 - 1 0 hat als Belegstelle für die Hades- bzw. Höllenfahrt Christi gedient (zur Auslegungsgeschichte vgl. Erich Haupt, Die Gefangenschaftsbriefe, 7 1897[KEK 8/9], 1 4 1 - 1 5 0 ; Joachim Gnilka, Der Eph, 1969 [HThK X / 2 ] , 209 Anm. 3; Rudolf Schnackenburg, Eph, 1982 [EKK 10], 181 Anm. 423). Diese Auslegung ist jedoch nicht zwingend. Unbestritten bleibt, daß die Stelle die universale Herrschaft Christi über das All beschreibt. (Zu weiteren biblischen Texten, die als Beleg für die Anschauung von der Hades- bzw. Höllenfahrt Christi herangezogen worden sind, s.u.). E i n e B e f r a g u n g des N e u e n T e s t a m e n t s ergibt, d a ß keiner seiner T e x t e einen sicheren e x e g e t i s c h e n A n s a t z p u n k t für die Ausbildung der A n s c h a u u n g v o n der H ö l l e n f a h r t bietet. Diese A n s c h a u u n g h a t sich a u ß e r h a l b des neutestamentlichen Bereichs herausgebildet. D i e frühesten f a ß b a r e n Spuren - Herrn sim 9 , 1 6 , 5 , flüchtige E r w ä h n u n g e n bei I g n M a g n 8 , 2 ; 9 , 2 ; E v P e t r 4 1 f, ein J e r - A p o k r y p h o n bei J u s t i n , dial. 7 2 , 4 ( s o w i e m e h r f a c h bei Irenaeus) - weisen in die erste H ä l f t e des 2 . J h . Ihre Tendenz läßt die missionarische Auseinandersetzung mit d e m J u d e n t u m , aber a u c h ein T r o s t m o t i v im Blick a u f die v o r C h r i s t u s Verstorbenen erkennen. G e o g r a p h i s c h weisen diese Spuren in den syrischen R a u m u n d n a c h R o m (-»•Hermas). Die Z e u g n i s s e des 2 . und beginnenden 3 . J h . erzählen v o n drei T ä t i g k e i t e n Christi im H a d e s : 1. C h r i s t u s predigt i m H a d e s (bei H i p p o l y t , d e A n t i c h r . 4 5 , und E v . N i c o d . 1 8 , 2 predigt a u c h J o h a n n e s der T ä u f e r als Vorläufer Christi im H a d e s ) . 2 . C h r i s t u s t a u f t die alttestamentlichen G e r e c h t e n (bei Herrn spenden a u c h die A p o s t e l d e n v o r C h r i s t u s Verstorbenen die T a u f e ) . 3 . C h r i s t u s u n t e r w i r f t sich d u r c h seinen K a m p f den H a d e s und seine B e h e r r s c h e r . Die ersten beiden T ä t i g k e i t e n sind deut-

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Höllenfahrt Christi

lieh Aufnahme von I Petr 3,19 ff, die letztgenannte wurde in der weiteren Überlieferung sehr bald breit und volkstümlich ausgestaltet (vgl. Kroll, Gott 1-125). Im gnostischen Bereich fand die Anschauung von der Hadesfahrt Christi schon aus Gründen des Weltbildes keinen Nährboden (—»Gnosis, Weltbild). 2. Die Hadesfahrt

Christi als Bestandteil altkirchlichen

Erlösungsglaubens

Gab es Erzählungen von einem ähnlichen Auftreten von Heroen im Hades auch in der außerchristlichen Antike (vgl. H. Schmidt, passim; Ganszyniec 2432), die auch bei den Kirchenvätern bekannt waren (vgl. Cyrillus v. Alexandrien, comm.in Ionam II), so gewann wegen der zentralen Bedeutung der -»Auferstehung Christi und des Sieges über den Tod für Theologie und Frömmigkeit der Alten Kirche auch die Anschauung von der Hadesfahrt Christi erhöhte Relevanz. Seit -»Hippolyt ist das Motiv der Hadesfahrt in den altkirchlichen Liturgien im Zusammenhang der eucharistischen Anamnese greifbar und damit als Überlieferung kanonisiert. Es erscheint in den Liturgien als Sieg über Tod und Teufel und als Aufbrechen der Todesgrenze (vgl. Eph 2,14). In weite mythologische Zusammenhänge verweist OdSal 42,11-20. Eine Tendenz zur Dramatisierung erfuhr die Hadesfahrt Christi bereits bei -»Melito von Sardes (Frgm. 13). Sie wurde später im östlichen Bereich von -»Afrahat fortgeführt. Deutlich romanhaft ausgestaltet ist diese Tendenz im Ev. Nicod. Sie verrät etwas von der Umsetzung der Texte der Liturgien in den Volksglauben. Die syrische Theologie, vermittelt durch die Kirchendichtung des 4. und 5. Jh. und die dramatisierende Predigt östlicher Theologen des 5. und 6. Jh., ist auch theologische Wurzel der seit dem 8. Jh. begegnenden Anastasis-Ikone, der eigentlichen Osterikone der Ostkirchen (vgl. Schulz, Höllenfahrt 16—30), deren neutestamentlicher Bezugspunkt Mt 27,51-53 ist. Dieser Text wird als Nachweis dafür verstanden, daß die Auferstehung der alttestamentlichen Gerechten - an ihrer Spitze Adam und Eva - die Auferstehung Christi in ihrer Wirkung offenbart, also auch darstellbar macht. Die Frage, ob sich diese Wirkung auf die Gerechten des Alten Bundes beschränken läßt, hat sich zuerst in der alexandrinischen Theologie gestellt und wird bei -»Clemens von Alexandrien (ström. 6,6,45-46) berührt und ansatzweise diskutiert, wobei - erstmalig in nachneutestamentlicher Zeit - 1 Petr 3,19 und 4,6 zitiert werden. Clemens tritt dafür ein, daß Christus als Retter {¿nei xö acp(Etv epyov aözoß [weil Retten sein Werk ist]) allen, die im Hades seiner Predigt glaubten, das Heil bringen wollte, allerdings nur denen, die in ihrem Streben nach Gerechtigkeit unvollkommen geblieben sind. In ähnlicher Weise muß wohl -»Origenes verstanden werden (princ. 11,5,3; Cels 11,43). Daneben gibt es im Zusammenhang der Wirkungsgeschichte des Origenes die weitergreifende Position, die das Wirken Christi im Hades allen Menschen zugute kommen lassen möchte (vgl. Philastrius von Brescia, haer. 135; Augustinus, haer. 69). Die eigenartig gewundene Auslegung -»Augustinus' von I Petr 3,19 und 4,6, nach der der präexistente Christus den unwissenden sündigen Zeitgenossen Noahs durch innere Mahnungen eine Predigt hält (ep. 164), muß wohl als Abwehr weitgreifender Deutungen verstanden werden. Noch im 17. Jh. mußte die griechische Liturgie wegen der universalistischen Tendenz ihrer Aussagen über die Höllenfahrt Christi gegen den Verdacht der Apokatastasislehre verteidigt werden (Schulz, Höllenfahrt 31 f). Ein zweiter theologischer Themenkreis innerhalb der Anschauung von der Hadesfahrt Christi betrifft die Beteiligung der Person Christi. Die Wurzeln dieses Themenkreises sind in der Christologie des Origenes, der die Definition des Todes als Trennung von Leib und Seele auch auf die Person Christi anwendete, und in der syrischen Geistchristologie zu suchen. Das christologisch-soteriologische Problem, das sich damit ergab, wurde dadurch lösbar, daß - teilweise unter Berufung auf I Petr 3,19 und Act 2,25 ff/Ps 16,10 der Seele Christi die Mittelfunktion zwischen Logos (Pneuma) und Leib zugeschrieben wurde und damit der Logos, mit der Seele verbunden, ins Totenreich ging, während der Leib im Grabe blieb (Grillmeier 132ff). In den Glaubensformeln ist die Höllenfahrt erst ab Mitte des 4. Jh. nachweisbar. Sie

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taucht zuerst 359 auf den homöischen Synoden von Sirmium und Nice auf. Umstritten ist, ob die Heimat dieser Formeln in Syrien oder im Westen zu suchen ist. -»Rufin von Aquileia verrät, welchen biblischen Bezug man im 5. Jh. im Sinne hat, wenn im Glaubensbekenntnis von der Hadesfahrt die Rede ist: Er zitiert neben I Petr 3,19 auch Ps 22,16;30,10;69,3 (comm. in symb. 28). Auch gehört Ps 24 in diesen Deutungszusammenhang (Kahler 50-73; zur Höllenfahrt in den Glaubensformeln vgl. Clemen 8-31). 3. Mittelalterliche

Gestaltungsformen

Die Vergröberung der Deutungsmuster und die Unfähigkeit zur Weiterführung differenzierter theologischer Ansätze infolge des Zerbrechens des Zusammenhangs zwischen Theologie und antiker Bildung hatten zur Folge, daß die Frömmigkeit sich realistische Darstellungsformen als Ausdruck der Uberlieferung suchte. „Zu keiner Zeit in ihrer fast zweitausendjährigen Geschichte und in keinem anderen Bereich hat die Höllenfahrtsthematik eine so hervorragende Rolle gespielt wie im geistlichen Drama des Mittelalters" (Kunstein 6). Hauptquelle für die szenische Darstellung der Höllenfahrt ist das Ev. Nicod., dessen Wirkungsgeschichte sich bis in das 19. Jh. hinein verfolgen läßt. Stoffe des Ev. Nicod. finden sich in der Hymnendichtung, der geistlichen Epik und in der Erbauungsliteratur wieder. In der Beliebtheit des Themas schlagen sich zwei Motive der Frömmigkeit nieder: 1. Der Sieg Christi über die Mächte der Unterwelt zeigt sich in der Ohnmacht der Hölle und ihrer Beherrscher und läßt Hoffnung für das eigene Schicksal und das Schicksal der Verstorbenen schöpfen. 2. Das Vordringen Christi bis in den Bereich der Hölle ist Garantie wie auch Ausdruck für die Wirkung des um die Jahrtausendwende erfolgenden Ausbaus des Bußsystems (s. TRE 7, 458-465), der mit dem Ausbau der Höllentopographie und des Themas des Weltgerichts parallel erfolgt (-»Hölle). Daß die Frömmigkeit - vor allem im Bereich nördlich der Alpen - auf die Dauer freilich Vorhölle (Limbus), -»Fegfeuer und -»Hölle nicht zu unterscheiden vermochte, hat der weiteren Popularisierung des Themas nur Auftrieb verliehen und hat sich in der abendländischen Höllenfahrtsikonographie (s. u.) niedergeschlagen. Ostern wird im geistlichen Schauspiel mehr und mehr ein „Fest der Erlösung des Menschen von Hölle und Sündenstrafen" (Kunstein 12), wobei Kernszene die Höllenfahrt ist. Sie ist am ehesten geeignet, Erlösung nacherlebbar zu machen. Die Predigt der Bettelorden übt mit der Propagierung der Angst vor Hölle und Gericht einen vermutlich nachhaltigen Einfluß auf die heilspädagogische Gewichtigkeit der Höllenfahrtsthematik aus und konnte sich dafür auch das geistliche Spiel nutzbar machen, während der Einfluß der Höllenfahrtsthematik auf die Liturgie auf Einzelfälle beschränkt bleibt (Feier von Barking; Kunstein 41-45). Die scholastische Theologie behandelt die Frage der Höllenfahrt Christi unter dem Aspekt der Einheit der Person Christi. Probleme dieser Art werden von römisch-katholischen Theologen bis ins 17. Jh. diskutiert. Auch radikale Lösungen des Problems, wie die Meinung des -»Abaelard (DS 738) und des -»Pico della Mirandola, Christus sei lediglich quoad effectum [der Wirkung nach] zur Hölle hinabgestiegen, oder die Auslegung von Ps 30,10 durch -»Nikolaus von Kues, nach der Christus am Strafort die Strafe der Verdammten und die Pein der Verlorenen auf sich genommen habe, hatten ihre Nachwirkung. In der Deutschen -»Mystik (Theologia Deutsch, Kap. 11) bedeutet Höllenfahrt der menschlichen Seele in der Nachfolge Christi die Selbstverurteilung des Menschen. 4. Die Reformation und ihre

Nachwirkung

Theologisch hat die Reformationsepoche Ansätze der überkommenen Theologie in unterschiedlicher Weise aufgegriffen bzw. fortgesetzt. 4.1. -»Luther hat seine Höllenfahrtstheologie in seiner Psalmenexegese entfaltet und ist hermeneutisch dem mystisch-theologischen Ansatz gefolgt, Hölle als Erfahrungsbegriff zu verstehen und sie mit der -»Anfechtung zu identifizieren (vgl. WA 3,453,29; s. TRE 2,699 f). Die Höllenfahrt Christi wird dadurch für ihn die Übernahme von menschlicher Anfechtung und Verzweiflung durch Christus, der die Hölle überwunden hat, indem

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Höllenfahrt Christi

er sich ihr aussetzte (WA 23,702,12-16). Wenn Luther nach 1528 gelegentlich diesen Grundansatz verläßt, so sind die Gründe dafür einerseits in katechetischen Erwägungen, andererseits in der Abwehr einer Haltung zu suchen, die sich selbst Leiden auferlegte, um dem Leiden Christi gleichförmig zu werden. Höllenfahrt bleibt für Luther auf Christus bezogen, weil sie auf den am Kreuz erfochtenen Sieg Christi über Sünde, Tod und Hölle bezogen ist (vgl. WA 46, 311,8-13). Die aus der Tradition überkommenen bildlichdramatischen Beschreibungen der Höllenfahrt Christi (WA 37,63,5-13.46,312,9-13) sprechen für Luther von diesem Sieg Christi am Kreuz, der wegen der Gegenwart Christi im Glauben der Sieg für den von der Sünde angefochtenen Menschen wird. Die Auslegung von I Petr 3,19 ist ihm problematisch geblieben (vgl. WA 12,367,31-369,30). 4.2. -»Melanchthon ist innerhalb der reformatorischen Theologie der eigentliche Fortsetzer der Begründung der Höllenfahrt durch I Petr 3,19. Er findet in der Stelle eine Predigt Christi als erudisse fortassis praestantes omrtium gentium viros [Unterweisung für die Vortrefflichsten aller Heiden; CR 5,58], die auf Grund einer körperlichen und physischen Bewegung (corporali et physica locatione; CR 24,852) ermöglicht worden ist und mit einer dramatischen Machtdemonstration gegenüber der Hölle und ihren Beherrschern verbunden war (CR 24,742). 4.3. In den Auseinandersetzungen um die Höllenfahrt Christi unter Schülern Luthers nach dessen Tod (sog. Äpinscher Streit, s. T R E 1,540; Greifswalder Streit 1564, Truemper 273 - 2 7 6 ; Augsburger Streit 1565, Truemper 277-291; Lavater 129-152) spielten unter dem Einfluß Melanchthons das mittelalterliche Weltbild und die antik-mittelalterliche Anthropologie eine größere Rolle als für Luther. Für -»Äpinus, der in der Wirkungsgeschichte von Luthers Auffassung steht, ist das stellvertretende Erleiden der Höllenschrekken und -schmerzen durch die Seele Christi nach dem leiblichen Tod Konsequenz einer Soteriologie, die an der Satisfaktionstheorie orientiert ist. Im Streit mit Johann Matsperger in Augsburg meldet sich die Theologie des Johannes -»Brenz zu Wort, die im Rückgriff auf Luther der Anschauung von der Räumlichkeit der Hölle widersteht und die Höllenfahrt als Erdulden der Angst durch Christus versteht. 4.4. -»Calvin hat von Luther gelernt, indem er anhand von Ps 22,2 Höllenfahrt als Erleiden von Gerichtsschrecken versteht, diese Höllenfahrt dann allerdings als satisfaktorische Stellvertretung interpretiert. I Petr 3,19 meint für ihn, daß die Kraft der Erlösung auch den Vätern des Alten Bundes zuteil wurde. 4.5. Die Zürcher Theologie (Zwingli: CR 89,431,2-10; -»Bullinger: In Acta Apostolorum commentariorum libri VI, Zürich 1533, Bl. 29a/b; -»Bucer: Enarratio in Euangelium Iohannis, Straßburg 1528,264 f) schloß sich an die Deutung des Pico della Mirandola an und verstand — teilweise in direktem Widerspruch zu Luther - unter Hölle das Grab, unter Höllenfahrt die Wirkung, die vom Tod Christi ausging. I Petr 3,19 besagt für sie, daß auch die vorchristlichen Frommen die Kraft des Todes Christi spürten. 4.6. Für täuferisches und mystisch-spiritualistisches Glaubensverständnis (-»Täufer) deutete die Höllenfahrt Christi den Tiefpunkt des Weges Christi an, dem die mystisch verstandene Nachfolge Christi zustrebte, um durch sie hindurch die Wandlung des Lebens zu erreichen. 4.7. Die maßgeblichen Lehrformulierungen der Spätreformation beeinflußten die Problemstellungen der folgenden Jh.: Während der -»Heidelberger Katechismus (Frgm. 44) mit seiner Bezugnahme auf Mt 27,46 dahingehend verstanden werden konnte, daß die Höllenfahrt der letzte Tiefpunkt des Leidens Christi war, legte die -»Konkordienformel im angeblichen Rückgriff auf Luther - das sachliche Gewicht ihrer Darstellung auf den mit der Höllenfahrt beginnenden Triumph Christi (BSLK, 812f.l049-1053). Die Auseinandersetzung um diese Differenz ist eines der Hauptmotive für die Streitschriftenliteratur des 17. und 18. Jh. Die Predigt der nachreformatorischen Zeit im lutherischen Bereich legte den Schwerpunkt bei der Ausdeutung der Höllenfahrt auf den richterlichen Triumph Christi. (Ein Nachhall dieser Predigt findet sich im Gedicht des jungen -»Goethe

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zur Höllenfahrt.) Die Diskussionen um die Deutung der Höllenfahrt blieben dabei Teilaspekt der Auseinandersetzung um die Einheit der Person Jesu (vgl. z.B. Eckhard 109ff). Damit wurden aber auch eine erneute Erörterung von Fragen des Weltbildes und der vielfache Rückgriff auf die Theologiegeschichte unausweichlich. Ihren frömmigkeitsgeschichtlichen Ort behielt die Anschauung von der Höllenfahrt Christi im Bereich des Luthertums im Zusammenhang des Trostes in Anfechtung durch Sünde und Tod, wie der ikonographische Befund, das Kirchenlied und die Erbauungsliteratur ausweisen. 5. Neuzeitliche Problemstellungen Die Beobachtung, d a ß vom 17. Jh. an die Höllenfahrt Christi als ikonographisches T h e m a mehr und mehr schwindet, zeigt eine sich anbahnende zunehmende Verlegenheit dem theologischen Thema gegenüber an. Sie wird bei -•Semler formuliert, der es ablehnte, hinter der Anschauung von der Höllenfahrt ein Ereignis zu sehen; sie sei bestenfalls bildhafte Einkleidung eines noch zu bestimmenden allgemeinen Sachverhalts von der Art, die von Paulus als Milch für die Unmündigen bezeichnet wird (Semler 487). Die protestantische Theologie um die Wende vom 18. zum 19. Jh. befaßt sich darum auch in einer großen Zahl von Einzeluntersuchungen (Titel bei König 265-267) mit der Exegese von I Petr 3,18-19. Die systematischen Folgerungen aus ihr fallen unterschiedlich aus. M a n kann einerseits in der Höllenfahrt Christi die Bedeutung Christi für die Heiden und die Toten ausgedrückt sehen (W.M.L. de -»Wette, Lehrbuch der christl. Dogmatik, 1. Teil, Berlin 1831,252) bzw. in der Höllenfahrt eine Aussage zugunsten des Heilsuniversalismus finden (I.A. -»Dorner, Christi. Glaubenslehre, Berlin, II 1886, 665f), andererseits kann auf der Grundlage philosophischer Anthropologie eine Einwirkung Christi auf die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen zwischen seinem Sterben und seiner Vollendung in der Auferstehung als Sinn der-Anschauung von der Höllenfahrt bezeichnet werden (Güder; s. TRE 11,76). War für A.v. ->Harnack der Satz des Apostolicum über die Höllenfahrt eine „vertrocknete Reliquie" geworden (Marcion, Leipzig 1921,169), so gewann er in der mit der liturgischen Erneuerung verbundenen römisch-katholischen Theologie im Zusammenhang der Deutung des Osterereignisses auf dem Hintergrund der Geschichts- und Lebenserfahrung des 20. Jh. neue christologische Bedeutungsaspekte: Solidarität Jesu mit den Toten, Mit-Einsam-Sein, „Einstiftung der Kreuzesfrucht in den Abgrund der Todcsverlorenheit" (v. Balthasar), Bedenken der unnatürlichen Entmächtigung Jesu (Vorgrimler). Das Thema der Höllenfahrt fand auch literarische Ausformung (Claudel), bildliche Darstellung (Max Beckmann 1948) und tiefenpsychologische Deutung (Stählin, Steffen). In gegenwärtigen Glaubensformeln hat es keine nennenswerte Bedeutung. Quellen Oden Salomos 17;22;42: N T A p o 597f.602f.623ff.-Ev. Nicodemi2: N T A p o 4 1, 348-358. Andres Vaillant, L'Evangile de Nicodème. Texte slave et texte latin, Genève 1968. — Meliton von Sardes, Sur la Päque: SC 123. - Ephraem Syrus, Carmina Nisibena 3 5 - 3 8 : CSCO. S 240f. - Afrahat, Horn. 14: TU 3/3. - Sermo de confusione diaboli (ed. E. Kennard Rand): MPh 2 (1904) 261-278. Pseudo-Epiphanius, Homilie zum Karsamstag: PG 43,452-464. - Romanos Melodos, Sechs Hymnen, ed. P. Maas/C. A.Trypanis, Oxford 1 9 6 3 , 1 8 1 - 2 2 3 . - J o h a n n e s Damascenus, Homilia in Sabbatum Sanctum: PG 9 6 , 6 2 0 - 6 2 5 . - D a n t e Alighieri, Divina Commedia, Inferno IV 5 2 - 6 1 . - D u r a n d u s a S. Porciano, In Petri Lombardi Sententias lect. III d.22 q.3, Venedig 1571/New York 1964. Johannes Pico della Mirandola, Apologia: Opera, Straßburg 1504, Bl. 24 b. - S.V.P. Grund vnd schriftliche Anzaygungen auß hailiger Geschrift des ainigen Artikel halber unsers Glauben, nemlich, Christum zur Hellen hynunder gestygen vnd gefahren seyn, wider etliche Naßweiß vnserer Zeyt, die an diesem Artikel fast schwanken, o. 0 . 1 5 2 5 . — Anton Zimmermann, O b Auch die sele Christi nach seynem todt yn der Hellen gelitten habe, Altenburg 1525. - Calvin, Inst. II 16,8-12 - Johann Leo, Handbüchlein von disem Jamerthal seeliglich abzusterben, Jena 1560. — Konkordienformel Art. 9: BSLK 812-813. 1049-1053. - Quellen des 16.-18. Jh. s. König, 260-268. - Johann Wolfgang v. Goethe, Poetische Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi, 1764/65: Goethe, Berliner Ausg., Berlin/Weimar, II 1966, 5 7 - 6 2 . - Theol. Briefe der Professoren Delitzsch u. v. H o f m a n n , hg. v. Wilhelm Volck, Leipzig 1891.

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Ernst Koch Hörfunk 1. Zum Begriff funk 5. Ausblick

2. Geschichte des Hörfunks 3. Funktion und Wirkung (Quellen/Literatur/Zeitschriften S.465)

4. Kirche und Hör-

1. Zum Begriff Als Hörfunk bezeichnen wir eine Ausstrahlung akustischer Botschaften auf elektromagnetischem Wege von einem Sender an einen potentiell unbegrenzten Kreis von Empfängern. Dabei kann die Sendung drahtlos oder über Kabel erfolgen. Obwohl es Hörfunk seit Anfang der Zwanziger Jahre in Deutschland gibt, ist das Wort selbst erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, um den Unterschied zum gleichfalls elektromagnetisch ausgestrahlten Fernsehen deutlich zu machen. Der eigentlich beide Sendeformen umfassende Begriff Rundfunk, eine Wortschöpfung, die der „Vater des Deutschen Rundfunks", Hans Bredow, gegen die Begriffe Radio oder Broadcasting durchsetzte, hat sich als Synonym für Hörfunk gleichwohl bis heute erhalten. 2. Geschichte des

Hörfunks

Heinrich Hertz entdeckte 1888 die technische Grundlage für Hörfunk, als er zum ersten Mal elektromagnetische Wellen erzeugte, die der Engländer Maxwell schon 1865 vermutet hatte, 1897 unternahm Marconi erste erfolgreiche Versuche mit drahtloser Telegrafie. Die Schiffskatastrophe der Titanic 1912 beschleunigte den Ausbau des Telegrafenwesens. Hans Bredow führte 1913 von New York aus die erste drahtlose Musikübertragung durch (Empfang auf hoher See). Im Ersten

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2 2 2 - 2 3 1 . - Mary Rakow, Christ's descent into hell. Calvin's interpretation: RelLife 43 (1973) 1 4 - 3 5 . - Bo Reicke, T h e disobedient Spirits and christian baptism. A Study of IPetr. Ill 19 and its context, 1946 (ASNU 15). - Olivier Rousseau, La descente aux enfers, fondement sotériologique du baptême chrétien: R S R 40 (1951/52) 273 - 2 9 7 . - Carl Schmidt, Der Descensus ad inferos in der alten Kirche: T U 43 (3. Ser. 13) 4 5 3 - 5 7 6 . — Hans Schmidt, J o n a . Eine Unters, zur vergleichenden Religionsgesch., 1907 ( F R L A N T 9). - Karl W. Ch. Schmidt, Die Darstellung v. Christi Höllenfahrt in den dt. u. den ihnen verwandten Spielen des M A , Diss. Marburg 1915. - Hans-Joachim Schulz, Die Anastasis-Ikone als Erlösungsaussage u. Spiegel des sakramentalen Christusmysteriums: COst 36 (1981) 3 - 1 2 . - Ders., Die „Höllenfahrt" als „Anastasis": Z K T h 81 (1959) 1 - 6 6 . - Johann Salomo Semler, Institutio ad doctrinam Christianam liberaliter discendam, Halle 1774. - Constance I. Smith, Descendit ad Inferos-Again: J H I 28 (1967). - Friedrich Spitta, Christi Predigt an die Geister (1 Petr 3,19ff), Göttingen 1890. - Wilhelm Stählin, Von der Höllenfahrt Christi: ders., Symbolon. Vom gleichnishaften Denken, Stuttgart, 1 1 9 5 8 , 2 3 6 - 2 4 7 . - Uwe Steffen, Das Mysterium v. Tod u. Auferstehung. Formen u. Wandlungen des Jona-Motivs, Göttingen 1963. - J . Teixidor, Le thème de la descente aux enfers chez Saint Éphrem: OrSyr 6 (1961) 25 - 4 1 . - Daniel A. du Toit, „neergedaal ter helle . . . " - uit de geschiedenis van'n interpretatieproblem, Kampen 1971. - David George Truemper, T h e Descensus ad inferos from Luther to the Formula of Concord, Diss. Chicago 1974 (Lit.). Ralph V. Turner, Descendit ad Inferos. Medieval Views on Christ's Descent Into Hell and the Salvation of the Ancient Jyst: J H I 27 (1966) 1 7 3 - 1 9 4 . - A . M . Vitti, Descensus Christi ad inferos: V D 7 (1927) 1 1 1 - 1 1 8 . 1 3 8 - 1 4 4 . 1 7 1 - 1 8 1 . - Heinz-Jürgen Vogels, Christi Abstieg ins Totenreich u. das Läuterungsgericht an den Toten. Eine bibeltheol. dogm. Unters, zum Glaubensart. „descendit ad inferos", 1976 (FThSt 102). - Erich Vogelsang, Der angefochtene Christus bei Luther, 1932 (AKG 21). - Ders., Luthers Torgauer Predigt v. Jesu Christo im Jahre 1532: LuJ 13 (1931) 1 1 4 - 1 3 0 . - Ders., Weltbild u. Kreuzestheol. in den Höllenfahrtsstreitigkeiten der Reformationszeit: A R G 38 (1941) 9 0 - 1 3 2 . - Herbert Vorgrimler, Fragen zum Höllenabstieg Christi: Cone (D) 2 (1966) 7 0 - 7 6 . - Ders., Vorfragen zur Theol. des Karsamstags: Paschatis sollemnia. Stud, zur Osterfeier u. Osterfrömmigkeit, hg. v. Balthasar Fischer/Johannes Wagner, Basel/Freiburg/Wien 1959, 13 - 2 2 (Lit.). - Georg Holger Waage, De aetate articuli, quo in Symbolo Apostolico traditur Jesu Christi ad inferos descensus, Haun 1836. - Dewey D. Wallace, Puritan and Anglican. T h e Interpretation of Christ's Descent into Hell in Elizabethan Theology: A R G 69 (1978) 2 4 8 - 2 8 7 . - Martin Werner, Die Entstehung des christl. Dogmas, Bern/Tübingen 2 1 9 5 3 , 2 5 5 - 2 7 1 . - R i c h a r d Paul Wülcker, Das Evangelium Nicodemi in der Abendländischen Lit., Diss. Marburg 1872. - Karl Young, T h e Harrowing of Hell in Liturgical Drama: Transactions o f the Wisconsin Academy of Sciences, Arts and Letters 16/11, Madison/Wisc. 1909, 8 8 9 - 9 4 7 . - J . Zandee, De descensus ad inferos bij de Kopten: Ned T h T 9 (1955) 1 5 8 - 1 7 4 .

Ernst Koch Hörfunk 1. Zum Begriff funk 5. Ausblick

2. Geschichte des Hörfunks 3. Funktion und Wirkung (Quellen/Literatur/Zeitschriften S.465)

4. Kirche und Hör-

1. Zum Begriff Als Hörfunk bezeichnen wir eine Ausstrahlung akustischer Botschaften auf elektromagnetischem Wege von einem Sender an einen potentiell unbegrenzten Kreis von Empfängern. Dabei kann die Sendung drahtlos oder über Kabel erfolgen. Obwohl es Hörfunk seit Anfang der Zwanziger Jahre in Deutschland gibt, ist das Wort selbst erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, um den Unterschied zum gleichfalls elektromagnetisch ausgestrahlten Fernsehen deutlich zu machen. Der eigentlich beide Sendeformen umfassende Begriff Rundfunk, eine Wortschöpfung, die der „Vater des Deutschen Rundfunks", Hans Bredow, gegen die Begriffe Radio oder Broadcasting durchsetzte, hat sich als Synonym für Hörfunk gleichwohl bis heute erhalten. 2. Geschichte des

Hörfunks

Heinrich Hertz entdeckte 1888 die technische Grundlage für Hörfunk, als er zum ersten Mal elektromagnetische Wellen erzeugte, die der Engländer Maxwell schon 1865 vermutet hatte, 1897 unternahm Marconi erste erfolgreiche Versuche mit drahtloser Telegrafie. Die Schiffskatastrophe der Titanic 1912 beschleunigte den Ausbau des Telegrafenwesens. Hans Bredow führte 1913 von New York aus die erste drahtlose Musikübertragung durch (Empfang auf hoher See). Im Ersten

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Hörfunk

Weltkrieg gab es verschiedene Versuchssendungen, aber noch keinen Durchbruch. Am 1 4 . 1 1 . 1 9 2 0 war ein Hörfunksender zum ersten Mal schneller als die Presse: Der Sender KDKA in Pittsburgh/USA verkündete die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen. In Deutschland nahm am 2 9 . 1 0 . 1 9 2 3 die (kommerzielle) „Berliner Radiostunde" im Berliner Vox-Haus ihre Sendungen auf. Am 1.12.1923 gab es 467 Hörfunkteilnehmer. In den folgenden Jahren entstanden regionale Sendegesellschaften in Leipzig, Frankfurt/Main, München, Hamburg, Stuttgart, Breslau, Königsberg und Münster (später Köln). 1925/26 wurde die Reichs- Rundfunkgesellschaft gegründet. De facto war es die Übernahme des Rundfunks durch die Post und damit durch die Reichsregierung. Für Wortsendungen herrschte strenge Zensur. 1932 wurde eine „Stunde der Reichsregierung" eingeführt. Am 1 . 1 . 1 9 3 3 gab es 4,4 Millionen Hörfunkteilnehmer. Die Nationalsozialisten erreichten in kurzer Zeit die Gleichschaltung aller Rundfunkeinrichtungen und begannen, das neue Instrument für Massenbeeinflussung in ihrem Sinne zu nutzen. Man hat die These vertreten, daß Hitler ohne den Rundfunk Goebbels' kaum hätte werden können, was er wurde. Dies gilt aber erst für die Zeit nach 1933. Vorher hatten die Nationalsozialisten zum Rundfunk keinen Zugang - auch nicht im Wahlkampf im November 1932. Die Produktion von Volksempfängern wurde forciert. 1937 gab es in Deutschland 8,16 Millionen Rundfunkteilnehmer. 1940 erfolgte die endgültige Zusammenschaltung aller Sender mit einem Reichseinheitsprogramm. Seit 1936 hatte Deutschland mit ausgedehnter Auslands-Propaganda über Kurzwelle begonnen, die sich in den Kriegsjahren zu einem regelrechten „Ätherkrieg" steigerte (vgl. Boelcke). Eine besondere Rolle für die Kriegspropaganda spielten auch Sender in besetzten Gebieten wie das legendäre „Radio Belgrad". Die damals begonnene Auseinandersetzung der Weltmächte im Äther hat sich heute um ein Vielfaches gesteigert. Nach Kriegsende 1945 wurden die deutschen Rundfunkeinrichtungen - soweit nicht zerstört - bald wieder unter Kontrolle der Besatzungsmächte aktiviert. Ab 1948 erfolgte die Gründung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die sich am 5 . 8 . 1 9 5 0 zur A R D zusammenschlössen. Auch in der späteren D D R ging Ende der vierziger Jahre das Rundfunkwesen von der Besatzungsmacht in deutsche (staatliche) Hände über. Die Einführung von UKW, heute aus dem Hörfunkwesen nicht mehr wegzudenken, war anfangs nicht mehr als eine Notlösung: Die wichtigsten Mittelwellenfrequenzen des Reichsrundfunks hatten die Siegermächte beschlagnahmt. Als erster Sender führte am 1 . 8 . 1 9 4 9 der Südwestfunk Werbesendungen ein, die im Laufe der Zeit bei allen Rundfunkanstalten einen steigenden Anteil an der Gesamtfinanzierung bekamen. In der entstehenden Bundesrepublik Deutschland erhielten die Rundfunkanstalten, die jeweils Landesrecht unterstanden, die wichtige Aufgabe der Integration z.T. völlig neu geschaffener Staatsgebilde. In diesen Jahren konnte der Hörfunk Publikumserfolge verzeichnen, wie sie, gemessen an der Anzahl der verfügbaren Geräte (1950: 7,2 Millionen) das Fernsehen später nur selten erreichte. Bunte Abende, die Vorläufer der Fernseh-Showsendungen, und -»Hörspiele waren erste „Gassenfe11

ger . Ende der fünfziger Jahre erfolgte die Einführung zweiter und in den sechziger Jahren dritter Hörfunkprogramme. Letztere wurden in den siebziger Jahren meist verstärkt als „Service-Wellen" mit Verkehrsberichten für Autofahrer, stündlichen Nachrichten und einem bunten Musikprogramm konzipiert. 1983 gab es in der Bundesrepublik rund 23 Millionen Hörfunkteilnehmer.

3. Funktion und

Wirkung

Hörfunk ist ein Massen-Medium. Er wendet sich mit einem Sender an eine Vielzahl von Empfängern. Rückmeldungen im System selbst sind nicht vorgesehen. Die Empfänger, obwohl Teile einer Masse, erleben die Angebote des Hörfunks meist in einer Situation der Individualität. Mißverständnisse einer subjektiv empfundenen persönlichen Beziehung zwischen Hörer und Sender liegen von daher nahe. Faszination und Chance des Hörfunks gründen bis heute in einem scheinbaren Mangel: Er liefert keine Bilder, läßt also nicht nur der Phantasie Raum, sondern fordert sie geradezu heraus. Die damit geforderte Leistung des Hörers kann u.U. einen höheren Grad an Identifikation möglich machen als im Fernsehen. Einen erschreckenden Einblick in die hier wirksamen Mechanismen gab zum ersten Mal am 30.10.1938 Orson Welles' Science-Fiction-Hörspiel Invasion vom Mars, das in den USA eine Massen-Panik auslöste. Identifikations-Mechanismen sind auch die Grundlage der Rolle als BestätigungsMedium, die der Hörfunk wie das Fernsehen für die Gesellschaft spielt. Einerseits entspricht dies dem gesetzlichen Programmauftrag, Spiegel der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu sein. Andererseits wird man die Chancen des Hörfunks für Veränderung durch

Hörfunk

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I n f o r m a t i o n als gering einschätzen müssen, da die in der Wirkungsforschung belegte „selektive W a h r n e h m u n g " unbequeme und f r e m d e mediale Einflüsse weithin ausfiltert. D a s Identifikations-Phänomen bietet die Voraussetzungen f ü r unterhaltende Massenp r o g r a m m e mit einem informatorischen und geschmacklichen Minimalanspruch ( „ M u sikteppich"), aber auch für Zielgruppensendungen aller Art: Die akustische R e p r o d u k tion bekannter Eindrücke setzt sich im Kopf des kundigen H ö r e r s zu einer auch visuell vorstellbaren Einheit zusammen und beteiligt ihn d a d u r c h gewissermaßen am Geschehen. 4. Kirchen und

Hörfunk

4.1. Geschichte. In den Anfängen waren es nicht die großen Kirchen, sondern stellvertretend kleine Gruppen, die für den Hörfunk Interesse zeigten. Noch im Herbst 1923 bemühte sich August Hinderer, Direktor des Evangelischen Preßverbandes für Deutschland (der zur Inneren Mission gehörte!) um kirchliche Mitarbeit im Hörfunk. Am 6. Juli 1924 veranstaltete der Frankfurter „Wartburgverein" die erste Morgenfeier beim Südwestdeutschen Rundfunk Frankfurt/Main. Die Bezeichnung „Morgenfeier" wurde gewählt, um keine Verwechslung mit einem Gottesdienst aufkommen zu lassen. Die Landeskirchen selbst begannen erst nach 1930, sich für die Funkarbeit zu interessieren und Beauftragte zu stellen. Nach der Machtübernahme 1933 wurden die kirchlichen Sendungen nicht sofort unterbunden, sondern konnten noch bis April 1939 weitergeführt werden - wenn auch überwiegend mit Deutschen Christen als Rednern. Nach 1945 änderte sich die Situation der Kirchen im Rundfunk grundlegend. Als wichtige Gruppen für den Wiederaufbau erhielten sie nicht nur weit mehr Sendemöglichkeiten als früher (z.B. Morgenandachtcn), sie bekamen auch, außer im NWDR, Sitz und Stimme in den Gremien der Rundfunkanstalten. Sogar eigene Kirchenfunk-Abteilungen wurden in den Funkhäusern eingerichtet. Der Plan eines eigenen ökumenischen Senders in Bamberg wurde bis 1948 verfolgt, dann aber fallengelassen. Die Jahre 1948-1958 wird man als die Zeit der intensivsten kirchlichen Wirkung in den Funkhäusern bezeichnen können. Nach Form und Inhalt (Gottesdienstübertragungen, Morgenfeiern und Morgenandachtcn) sind die kirchlichen Verkündigungssendungen seit 1945 praktisch unverändert geblieben - was nicht nur als Zeichen einer erfreulichen Stabilität zu werten ist. Versuche mit Zwei-Minuten-Kurzmeditationen im Südwestfunk haben sich auf andere Sender übertragen lassen. 4.2. Bedingungen. In den bundesdeutschen H ö r f u n k s e n d e r n hatten die Kirchen im J a h r e 1980 rund 800 Stunden Sendezeit f ü r Verkündigungssendungen zur Verfügung, inhaltlich betreut von den jeweiligen kirchlichen Beauftragten. Redaktionelle Beiträge über kirchliche T h e m e n machten noch einmal mehr als die gleiche Sendezeit aus. Diese im R u n d f u n k einzigartige Sonderstellung wird von den Kirchen keineswegs in dem M a ß e genutzt, wie es der Chance entspräche. Hauptamtliche Mitarbeiter sind lediglich ein Beauftragter (oft in Personalunion mit dem Bereich Fernsehen) p r o Sender, und die M a nuskripte werden meist von Pfarrern erstellt, die keine besondere Ausbildung im H ö r funk genossen haben. Auch die von den Landeskirchen gebotene Fortbildung reicht meist nicht aus. Eine Zentralorganisation, in der gute kirchliche P r o g r a m m e gespeichert und Talente gefördert werden könnten, gibt es nicht. 4.3. Theologische Probleme. Angesichts der längeren Erfahrung, die die Kirchen mit dem M e d i u m H ö r f u n k sammeln konnten, ist die theologische Beschäftigung mit diesem T h e m a verblüffend gering. N a c h einzelnen rundfunkhomiletischen Ansätzen der sechziger J a h r e (hier besonders Schultz) h a t es weitere Versuche so gut wie nicht gegeben. H ö r f u n k a r b e i t ist, wie in den Anfängen, ein Feld der Praktiker, meist der kirchlichen Beauftragten, geblieben. Die genannten Mechanismen des H ö r f u n k s machen im Vergleich zum Fernsehen eine größere Eignung dieses M e d i u m s f ü r Verkündigungssendungen im traditionellen Sinn wie Gottesdienstübertragungen wahrscheinlich. Andererseits gilt es, die ausschnitthafte Wirklichkeitsvermittlung d u r c h H ö r f u n k zu beachten. Insbesondere k a n n es so etwas wie die o f t zitierte „ Ä t h e r k i r c h e " nicht geben, da die personale Gemeinschaft fehlt. An den einzelnen Sprecher stellen Verkündigungssendungen im H ö r f u n k besondere Anforderungen: In Themen- und Wortwahl, Syntax und Aussprache kann er sich nur bedingt an seiner sonstigen Predigtpraxis orientieren. Vielmehr verlangt das M e d i u m

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Hörfunk

H ö r f u n k eine besondere Sensibilität und Schulung für die Beschränkung auf die rein akustische Seite der Botschaft. Traditionelle Zielgruppen der kirchlichen Hörfunkarbeit sind Alte und Kranke, die aus Gesundheitsgründen nicht mehr am Gemeindeleben teilnehmen können. Darüber hinaus gibt es aber auch Millionen Menschen, die etwa in Morgenandachten ihren letzten Kontakt zur Kirche haben. Bei ihrem Dienst wird sich die Kirche stets daran orientieren müssen, wie weit es ihr gelingt, deutlich zu machen, d a ß ihre Beiträge kein Ersatz für die personelle Gemeinschaft der Gemeinde sein können. 4.4. Christliche Sender. Besonders in den USA, aber auch in anderen westlichen Ländern, haben sich zahlreiche Organisationen entwickelt, die eigene christliche H ö r f u n k stationen betreiben - entweder im eigenen Land, oder aber für Missionssendungen in zahlreichen Sprachen über Kurz- oder Mittelwelle. Der älteste noch bestehende Missionssender (gegr. 1931) ist die „Stimme der Anden" mit Sitz in Quito/Ecuador und einer Trägergesellschaft in Miami/USA. Die größte derartige Senderorganisation der Welt ist Trans World Radio mit Sitz in C h a t h a m / N e w Jersey/USA und neun großen Sendestationen in aller Welt (deutscher Zweig: Evangeliums-Rundfunk Wetzlar). Auf katholischer Seite sind Radio Vatikan oder Radio Veritas (Manila/Philippinen) zu nennen. Theologisch erscheint Rundfunkmission nicht unproblematisch. Die für kirchliche Rede im H ö r f u n k genannten Vorbehalte gelten in verschärftem M a ß , wenn Missionspredigt politische, kulturelle und sprachliche Grenzen überschreitet. Hinzu kommt die Tatsache, daß fast alle Missionssender von Industrienationen betrieben werden und in die Entwicklungsregionen der Erde ausstrahlen und daß Funk als Machtfaktor stets eine gewisse Nähe zu den politischen Systemen der Senderstandorte erzwingt. Es verwundert von daher nicht, daß auf protestantischer Seite alle entsprechenden Sendeorganisationen fundamentalistischer bzw. evangelikaler Herkunft sind, wo sich durch das besondere Gewicht, das der Eigenmächtigkeit des Wortes Gottes zugeschrieben wird, solche Probleme möglicherweise in geringerem M a ß e stellen. 5.

Ausblick

Seit Anfang der siebziger Jahre hat sich die Rolle des Hörfunks für die Gesellschaft der Bundesrepublik zu wandeln begonnen. Der Konkurrenzkampf mit dem Fernsehen ist, mindestens im Hauptabendprogramm, zugunsten des Fernsehens entschieden. Wie sich eine Ausweitung der Fernseh-Sendezeiten auf das Hörfunkverhalten auswirken wird, bleibt abzuwarten. Aber der Hörfunk hat sich mindestens überall da etabliert, wo das Fernsehen keinen Platz hat: am frühen Morgen, im Auto, in der Mittagspause, als Arbeitsbegleitung und auf dem Heimweg. Als eine Art Geräuschkulisse ist es nicht nur für die jüngere Generation unentbehrlich geworden und im Gegensatz zu Speichermedien wie Schallplatte und Tonkassette auch praktisch ständig verfügbar. Die Zukunft des H ö r f u n k s wird angesichts der 1984 begonnenen Zulassung privater Veranstalter in einer starken Regionalisierung und Subregionalisierung zu sehen sein. Auch die großen Rundfunkanstalten beginnen, sich darauf einzustellen. Bei ihnen werden die Kosten für zusätzliche Regionalprogramme mit Sicherheit zu Lasten ihrer Beiträge zum ARD-Gemeinschaftsprogramm gehen. Da die Kosten für professionelle Hörfunksendungen allenfalls 10 Prozent von Fernsehsendungen ausmachen, wird sich für kommerzielle Veranstalter hier früher als beim Fernsehen eine Kostendeckung bzw. Gewinn erzielen lassen. Für die Kirchen stellt sich mit dem Aufkommen privater Hörfunk-Veranstalter die Frage, ob sie sich hier über die öffentlich-rechtlichen Sender hinaus an Programmen beteiligen sollen. Es ist abzusehen, d a ß diese Frage überwiegend positiv entschieden werden wird. Freilich macht sich das Fehlen einer gründlichen theologischen Bearbeitung dieses Bereiches schmerzlich bemerkbar. Auch im praktischen Bereich werden sich die Kirchen dieser Herausforderung nur stellen können, wenn sie die Medien-Zukunft auch als Problem der Ausbildung ihrer Mitarbeiter in Medien-Fragen begreifen lernen.

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Hörspiel Quellen

ARD-Jahrbücher, Hamburg 1951 ff. - E. Kurt Fischer, Dokumente zur Gesch. des deutschen Rundfunks u. Fernsehens, Göttingen/Berlin/Frankfurt 1957.

Literatur Jörg Aufermann/Wilfried Scharf/Otto Schlie (Hg.), Fernsehen u. Hörfunk für die Demokratie, Opladen 1979. - Günther Bauer, Kirchl. Rundfunkarbeit 1 9 2 4 - 1 9 3 9 , Frankfurt/M. 1966 (kath.). Willi A. Boelcke, Die Macht des Radios, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1977. - Karl-Werner Bühler, Die Kirchen u. die Massenmedien, Hamburg 1968. - Hans-Joachim Dörger, Kirche in der Öffentlichkeit, Stuttgart 1979. - Manfred Josuttis (Hg.), Beitr. zu einer Rundfunkhomiletik, München 1967. Bernhard Klaus, Massenmedien im Dienst der Kirche, Berlin 1969. - Winfried B. Lerg, Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland, Frankfurt/M. 1965 2 1970. - Hans-Dieter Mattmüller, Verkündigung im Rundfunk, Stuttgart 1976. - Joachim Schmidt, Rundfunkmission. Ein Massenmedium wird Instrument, Erlangen 1980. - Hans Jürgen Schultz, Weltlich v. Gott reden, Stuttgart 1963.

Zeitschriften Medium, München 1964-1971, Frankfurt 1971 ff. - Communicatio socialis, Paderborn 1969ff.

Joachim Schmidt Hörspiel 1. Form

2. Geschichte

3. Kirche und Hörspiel

(Literatur S. 467)

1. Form Als elektroakustisch bedingte und an das Medium - » H ö r f u n k gebundene Gattung ist das Hörspiel eine Kunstform des 20. J h . In einer Mischung aus dramatischen, epischen und lyrischen Elementen evoziert das Hörspiel aus Sprache, Ton, Geräusch und Musik einen akustischen Hör- und Phantasieraum, der auf extreme Weise geeignet ist, innere Vorgänge abzubilden, was seine Entsprechung im verinnerlichenden Rezeptionsvorgang des Hörens findet: Der Begriff „Innere B ü h n e " (E. Wickert) deutet an, daß sich das eigentliche Geschehen im Innern des Hörers abspielt. Wichtigstes formales Mittel des Hörspiels ist die Blende, die wie beim -»Film den Ubergang von einer Spielphase zur nächsten, von einer Spielebene zur anderen ermöglicht, ohne daß die einzelnen Teile deutlich voneinander abgesetzt erscheinen. Von den zumeist auf eine überschaubare Anzahl von Personen verteilten Monologen und Gesprächen hat sich vor allem der M o n o l o g als besonders funkwirksam erwiesen, weil die körperlose Stimme im Hörfunk weitgehend vergeistigt wirkt und so geeignet ist, als Träger von Gedanken, Empfindungen und Assoziationen zu fungieren. Unterformen des Hörspiels sind die Funkbearbeitung, die lyrisch-musikalische Funkballade, die Funkerzählung, das Feature und in gewissem Sinne das oft auf die experimentellen Geräuschhörspiele der Anfangsjahre des Hörfunks zurückgreifende „Neue Hörspiel", das als Kind des Stereozeitalters die „Innere B ü h n e " weitgehend durch einen zwar nicht sichtbaren, aber doch deutlich wahrnehmbaren Spielraum ersetzt, zu dem der H ö rer in Distanz treten soll. Auch durch seine Material verarbeitung, die auf die Collagetechnik zurückgreift, tritt das „Neue Hörspiel" in deutlichen Gegensatz zum traditionellen, gegenüber dem es stärker die Sprachkritik betont, die sich oft zu einer Medien- und Gesellschaftskritik erweitert. Kritik dieser Art dominiert schließlich im „ O - T o n - H ö r spiel", in dem der Autor fast ganz hinter das akustische Material zurücktritt: Das ausschließlich Originalton aufzeichnende Tonband wird zum Manuskript. Aufgrund der Neugliederung der Hörfunkprogramme hat sich in jüngster Zeit das sog. „Kurzhörspiel" entwickelt, das durch geringe zeitliche Dauer gekennzeichnet ist. Gerade diese F o r m macht deutlich, daß die Gattungsentwicklung noch keineswegs als abgeschlossen gelten kann.

465

Hörspiel Quellen

ARD-Jahrbücher, Hamburg 1951 ff. - E. Kurt Fischer, Dokumente zur Gesch. des deutschen Rundfunks u. Fernsehens, Göttingen/Berlin/Frankfurt 1957.

Literatur Jörg Aufermann/Wilfried Scharf/Otto Schlie (Hg.), Fernsehen u. Hörfunk für die Demokratie, Opladen 1979. - Günther Bauer, Kirchl. Rundfunkarbeit 1 9 2 4 - 1 9 3 9 , Frankfurt/M. 1966 (kath.). Willi A. Boelcke, Die Macht des Radios, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1977. - Karl-Werner Bühler, Die Kirchen u. die Massenmedien, Hamburg 1968. - Hans-Joachim Dörger, Kirche in der Öffentlichkeit, Stuttgart 1979. - Manfred Josuttis (Hg.), Beitr. zu einer Rundfunkhomiletik, München 1967. Bernhard Klaus, Massenmedien im Dienst der Kirche, Berlin 1969. - Winfried B. Lerg, Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland, Frankfurt/M. 1965 2 1970. - Hans-Dieter Mattmüller, Verkündigung im Rundfunk, Stuttgart 1976. - Joachim Schmidt, Rundfunkmission. Ein Massenmedium wird Instrument, Erlangen 1980. - Hans Jürgen Schultz, Weltlich v. Gott reden, Stuttgart 1963.

Zeitschriften Medium, München 1964-1971, Frankfurt 1971 ff. - Communicatio socialis, Paderborn 1969ff.

Joachim Schmidt Hörspiel 1. Form

2. Geschichte

3. Kirche und Hörspiel

(Literatur S. 467)

1. Form Als elektroakustisch bedingte und an das Medium - » H ö r f u n k gebundene Gattung ist das Hörspiel eine Kunstform des 20. J h . In einer Mischung aus dramatischen, epischen und lyrischen Elementen evoziert das Hörspiel aus Sprache, Ton, Geräusch und Musik einen akustischen Hör- und Phantasieraum, der auf extreme Weise geeignet ist, innere Vorgänge abzubilden, was seine Entsprechung im verinnerlichenden Rezeptionsvorgang des Hörens findet: Der Begriff „Innere B ü h n e " (E. Wickert) deutet an, daß sich das eigentliche Geschehen im Innern des Hörers abspielt. Wichtigstes formales Mittel des Hörspiels ist die Blende, die wie beim -»Film den Ubergang von einer Spielphase zur nächsten, von einer Spielebene zur anderen ermöglicht, ohne daß die einzelnen Teile deutlich voneinander abgesetzt erscheinen. Von den zumeist auf eine überschaubare Anzahl von Personen verteilten Monologen und Gesprächen hat sich vor allem der M o n o l o g als besonders funkwirksam erwiesen, weil die körperlose Stimme im Hörfunk weitgehend vergeistigt wirkt und so geeignet ist, als Träger von Gedanken, Empfindungen und Assoziationen zu fungieren. Unterformen des Hörspiels sind die Funkbearbeitung, die lyrisch-musikalische Funkballade, die Funkerzählung, das Feature und in gewissem Sinne das oft auf die experimentellen Geräuschhörspiele der Anfangsjahre des Hörfunks zurückgreifende „Neue Hörspiel", das als Kind des Stereozeitalters die „Innere B ü h n e " weitgehend durch einen zwar nicht sichtbaren, aber doch deutlich wahrnehmbaren Spielraum ersetzt, zu dem der H ö rer in Distanz treten soll. Auch durch seine Material verarbeitung, die auf die Collagetechnik zurückgreift, tritt das „Neue Hörspiel" in deutlichen Gegensatz zum traditionellen, gegenüber dem es stärker die Sprachkritik betont, die sich oft zu einer Medien- und Gesellschaftskritik erweitert. Kritik dieser Art dominiert schließlich im „ O - T o n - H ö r spiel", in dem der Autor fast ganz hinter das akustische Material zurücktritt: Das ausschließlich Originalton aufzeichnende Tonband wird zum Manuskript. Aufgrund der Neugliederung der Hörfunkprogramme hat sich in jüngster Zeit das sog. „Kurzhörspiel" entwickelt, das durch geringe zeitliche Dauer gekennzeichnet ist. Gerade diese F o r m macht deutlich, daß die Gattungsentwicklung noch keineswegs als abgeschlossen gelten kann.

466 2.

Hörspiel Geschichte

Das Jahr 1924, als nach R. Hughes A Comedy of Danger im Londoner Hörfunk H. Fleschs Zauberei auf dem Sender vom Frankfurter Sender aufgeführt wurde und H. S. v. Heister den Begriff Hörspiel prägte, gilt als das eigentliche Geburtsjahr des Hörspiels. Seine ersten, erstaunlich experimentierfreudigen Jahre waren gekennzeichnet durch ein Nebeneinander unterschiedlichster Hörspielformen, bevor in der ersten Blütezeit in den Jahren 1929-1932 Hörspiele mit innerem Monolog zu dominieren begannen (H. Kesser: Schwester Henriette; H. Kasack: Stimmen im Kampf.; E. Reinacher: Der Narr mit der Hacke), neben denen sich aber die realistischer angelegten Hörspiele vorwiegend sozialistisch orientierter Autoren behaupten konnten (W. Benjamin, B. Brecht, A. Döblin, F. Gasbarra, E. Kästner, A. Schirokauer, F. Wolf u.a.). Die Spannweite des Hörspiels in dieser Zeit spiegelte sich auch in den ersten hörspieltheoretischen Arbeiten, die im Anschluß an die Kasseler Arbeitstagung „Dichtung und Rundfunk" des Jahres 1929 entstanden. Dabei schrieben H. Pongs (Das Hörspiel, 1930) und R. Kolb (Das Horoskop des Hörspiels, 1932) die sich bereits abzeichnende Entwicklung zum reinen Stimmenhörspiel fest und definierten als Aufgabe des Hörspiels, „uns mehr die Bewegung im Menschen, als die Menschen in Bewegung zu zeigen" (Kolb 41). Die alternativen hörspieltheoretischen Ansätze von Benjamin, Brecht und Schirokauer wurden demgegenüber durch die politischen Ereignisse des Jahres 1933 überholt: An die Stelle der Vision der Brechtschen „Radiotheorie" aus den Jahren 1927-1932, den Hörer zum aktiven Mitspieler werden zu lassen, trat dessen totale Unterwerfung unter das politische Führungsmittel nationalsozialistischer Hörfunk. Die Übernahme religiöser Formeln, die der Heiligung der Politik dienen sollten, ließ das nationalsozialistische Hörspiel zu einem pseudoreligiösen Kult erstarren, für den R. Euringers Deutsche Passion („Entworfen Weihnacht 1932/Vollendet Frühmärz 1933/Urgesendet in der .Stunde der Nation', Gründonnerstag, 13. April 1933, über alle deutschen Sender") exemplarisch ist. Nur wenige Autoren wie G. Eich und P. Hüchel konnten sich dieser Indienstnahme durch das „Dritte Reich", der zahlreiche Autoren zuarbeiteten (W. Brockmeier, A. Bronnen, K. Heynicke, H. Johst, E.W. Möller u. a.), zeitweilig entziehen. Nach Beginn des Krieges schlug sich die zuvor in Weihespielen sichtbar gewordene Funktionalisierung der Gattung in propagandistischen Kriegshörspielen nieder, bevor ab 1942 die Ereignisse diese Form des Zeitbildes obsolet erscheinen ließen. Nach 1945 knüpfte das Hörspiel in der Bundesrepublik nach einer kurzen Featurephase (A. Eggebrecht, E. Schnabel) an das Stimmenhörspiel an und vermochte sich rasch als bedeutende eigenständige Kunstform zu etablieren. Für die neue Blütezeit waren nach W. Borcherts frühem Erfolg Draußen vor der Tür (1947) vor allem die Hörspiele G. Eichs charakteristisch, die für die Autoren der fünfziger und weitgehend auch noch der sechziger Jahre als vorbildlich galten. Neben Eich traten als Hörspielautoren u.a. hervor I. Aichinger, I. Bachmann, H. Boll, F. Dürrenmatt, M. Frisch, W. Hildesheimer, P. Hirche, W. Jens, M.L. Kaschnitz, M. Walser, D. Wellershoff, W. Weyrauch. Der seit 1951 alljährlich vom Bund der Kriegsblinden vergebene „Hörspielpreis der Kriegsblinden" trug entscheidend zum Ansehen der Gattung in diesen Jahren bei. Im Gegensatz zu der traditionellen Ausrichtung des Hörspiels in der Bundesrepublik knüpfte das Hörspiel in der DDR an das sozialistische Hörspiel vor 1933 an und entwickelte eine realitätsbezogenere Form, der 1977 mit der Verleihung des „Prix Italia" für das Hörspiel Grünstein-Variante von W. Kohlhaase auch internationale Anerkennung zukam. Als Autoren des DDR-Hörspiels traten u.a. hervor M. Bieler, S. Hermlin, G. Kunert, H. Müller, G. Rentzsch, G. Rücker, R. Schneider, B. Seeger. Neben den zeitweilig im Vordergrund stehenden „Neuen Hörspielen" (u.a. von J. Becker, R. Döhl, P. Handke, L. Harig, E. Jandl, F. Mayröcker, G. Rühm, W. Wondratschek) gelangen heute in der Bundesrepublik wieder vermehrt traditionelle Stimmenhörspiele zur Aufführung.

467

Hofacker 3. Kirche und Hörspiel

Das besondere Interesse, das die Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg dem Hörspiel entgegenbrachten und das sich in den ständigen Hörspielrubriken der Zeitschriften epd/Kirche und Rundfunk (Frankfurt a.M.) und FUNK-Korrespondenz (Köln) niederschlägt, läßt sich im Fall der evangelischen Kirche unschwer aus der ihr eigenen Nähe zum Wort erklären: Die vorrangige Ausrichtung des traditionellen Hörspiels auf die Verinnerlichung des gesprochenen Wortes korrespondiert im Gegensatz zu den Medien -»Film und -»Fernsehen unmittelbar mit dem Verkündigungsauftrag der Kirche. Zudem sind von zahlreichen Hörspielautoren die Stimmen im Hörspiel in Anlehnung an biblische Vorbilder nicht nur als Stimmen des Gewissens, sondern auch als Stimmen Gottes dargestellt worden. Diese bereits Borcherts Stück prägende transzendente Dimension findet sich u. a. in den Hörspielen von I. Bachmann, G. Eich und besonders von M. L. Kaschnitz. Daß darüber hinaus viele Autoren biblische Hörspiele verfaßt haben und verfassen (S. Andres, H. Flügel, O.H. Kühner, H.G. Lubkoll, W. Mann, H. Ruland, H. Sennlaub, H. Stocker, H. J. Weidlich u. a.), ist nicht allein dem Vorbild entsprechender angelsächsischer Hörspielreihen zuzuschreiben (J. Arden; D. Sayers), sondern ergibt sich auch aus der spezifischen Fähigkeit der Gattung, neben realistischen Handlungen nicht greifbare Vorgänge darzustellen (-»Literatur und Religion). Aufgrund dieser formalen Eigenart des Hörspiels ist seine Einbeziehung in die Gemeindearbeit und in den -»Religionsunterricht der -»Schule als äußerst fruchtbar anzusehen. Auch wenn man der überspitzten Formulierung: „Es scheint, als ob der Mensch im Hörspiel nicht mehr als zoon politikon, sondern nur noch als homo religiosus ernst genommen wird" (H. Schwitzke, Das Hörspiel, 1963,203), vor allem im Hinblick auf die jüngsten Gattungsentwicklungen kaum zustimmen wird, so deutet sie doch an, wie nah das Hörspiel in seiner verbreitetsten Form einer Verkündigung kommen kann, die das Wort in den Mittelpunkt stellt. Literatur Reinhard Döhl, Versuch einer Gesch. u. Typologie des Hörspiels in Lektionen (masch.), Köln 1970ff (WDR). - Peter Gugisch, Hörspiel in der DDR: Hörspiele 6, Berlin (1966) 7 - 1 7 7 . - Christian Hörburger, Das Hörspiel der Weimarer Republik, Stuttgart 1975. - Hermann Keckeis, Das dt. Hörspiel 1923-1973, Frankfurt 1973. - Werner Klippert, Elemente des Hörspiels, Stuttgart 1977. Uwe Rosenbaum, Das Hörspiel. Eine Bibliogr., Hamburg 1974. - Klaus Schöning (Hg.), Neues Hörspiel, Frankfurt 1970. - Ders. (Hg.), Hörspielmacher, Königstein/Ts. 1983. — Heinz Schwitzke, Das Hörspiel, Köln 1963. - Ders. (Hg.), Reclams Hörspielführer, Stuttgart 1969. - Stefan Bodo Würffei, Das deutsche Hörspiel, Stuttgart 1978.

Stefan Bodo Würffel Hofacker, Ludwig

(1798-1828)

1. Leben 2. Theologische Grundanschauung Literatur S. 469)

3. Wertung und Würdigung

(Werke/

1. Leben Der äußere Ablauf des Lebens von Ludwig Hofacker vollzieht sich in einem bescheidenen Rahmen. Er wurde am 15.4.1798 als Sohn des Diakonus Wilhelm Hofacker in Wildbad geboren. Nach dem Studium der Theologie als Angehöriger des Tübinger Stifts legte er 1820 seine 1. theologische Prüfung ab und war vom Herbst 1820 bis Februar 1821 Vikar in Stetten/Rems und (Stuttgart-)Plieningen. Im Januar 1821 bestand er sein 2. theologisches Dienstexamen in Stuttgart. Bis Anfang 1823 mußte er wegen einer Erkrankung seine geliebte Tätigkeit als Pfarrer, Prediger und Seelsorger unterbrechen; dann stand er als Stadtvikar seinem als Stuttgarter Amtsdekan an die dortige Leonhardskirche beförderten Vater an der Seite, nach dem Tod des Vaters im Januar 1825 war er kurze Zeit Pfarrverweser. Im Februar 1825 folgte ein neuer Zusammenbruch. Von Juli 1826 bis zu seinem Tod am 18.11.1828 war er Pfarrer in Rielingshausen bei Marbach/Neckar.

467

Hofacker 3. Kirche und Hörspiel

Das besondere Interesse, das die Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg dem Hörspiel entgegenbrachten und das sich in den ständigen Hörspielrubriken der Zeitschriften epd/Kirche und Rundfunk (Frankfurt a.M.) und FUNK-Korrespondenz (Köln) niederschlägt, läßt sich im Fall der evangelischen Kirche unschwer aus der ihr eigenen Nähe zum Wort erklären: Die vorrangige Ausrichtung des traditionellen Hörspiels auf die Verinnerlichung des gesprochenen Wortes korrespondiert im Gegensatz zu den Medien -»Film und -»Fernsehen unmittelbar mit dem Verkündigungsauftrag der Kirche. Zudem sind von zahlreichen Hörspielautoren die Stimmen im Hörspiel in Anlehnung an biblische Vorbilder nicht nur als Stimmen des Gewissens, sondern auch als Stimmen Gottes dargestellt worden. Diese bereits Borcherts Stück prägende transzendente Dimension findet sich u. a. in den Hörspielen von I. Bachmann, G. Eich und besonders von M. L. Kaschnitz. Daß darüber hinaus viele Autoren biblische Hörspiele verfaßt haben und verfassen (S. Andres, H. Flügel, O.H. Kühner, H.G. Lubkoll, W. Mann, H. Ruland, H. Sennlaub, H. Stocker, H. J. Weidlich u. a.), ist nicht allein dem Vorbild entsprechender angelsächsischer Hörspielreihen zuzuschreiben (J. Arden; D. Sayers), sondern ergibt sich auch aus der spezifischen Fähigkeit der Gattung, neben realistischen Handlungen nicht greifbare Vorgänge darzustellen (-»Literatur und Religion). Aufgrund dieser formalen Eigenart des Hörspiels ist seine Einbeziehung in die Gemeindearbeit und in den -»Religionsunterricht der -»Schule als äußerst fruchtbar anzusehen. Auch wenn man der überspitzten Formulierung: „Es scheint, als ob der Mensch im Hörspiel nicht mehr als zoon politikon, sondern nur noch als homo religiosus ernst genommen wird" (H. Schwitzke, Das Hörspiel, 1963,203), vor allem im Hinblick auf die jüngsten Gattungsentwicklungen kaum zustimmen wird, so deutet sie doch an, wie nah das Hörspiel in seiner verbreitetsten Form einer Verkündigung kommen kann, die das Wort in den Mittelpunkt stellt. Literatur Reinhard Döhl, Versuch einer Gesch. u. Typologie des Hörspiels in Lektionen (masch.), Köln 1970ff (WDR). - Peter Gugisch, Hörspiel in der DDR: Hörspiele 6, Berlin (1966) 7 - 1 7 7 . - Christian Hörburger, Das Hörspiel der Weimarer Republik, Stuttgart 1975. - Hermann Keckeis, Das dt. Hörspiel 1923-1973, Frankfurt 1973. - Werner Klippert, Elemente des Hörspiels, Stuttgart 1977. Uwe Rosenbaum, Das Hörspiel. Eine Bibliogr., Hamburg 1974. - Klaus Schöning (Hg.), Neues Hörspiel, Frankfurt 1970. - Ders. (Hg.), Hörspielmacher, Königstein/Ts. 1983. — Heinz Schwitzke, Das Hörspiel, Köln 1963. - Ders. (Hg.), Reclams Hörspielführer, Stuttgart 1969. - Stefan Bodo Würffei, Das deutsche Hörspiel, Stuttgart 1978.

Stefan Bodo Würffel Hofacker, Ludwig

(1798-1828)

1. Leben 2. Theologische Grundanschauung Literatur S. 469)

3. Wertung und Würdigung

(Werke/

1. Leben Der äußere Ablauf des Lebens von Ludwig Hofacker vollzieht sich in einem bescheidenen Rahmen. Er wurde am 15.4.1798 als Sohn des Diakonus Wilhelm Hofacker in Wildbad geboren. Nach dem Studium der Theologie als Angehöriger des Tübinger Stifts legte er 1820 seine 1. theologische Prüfung ab und war vom Herbst 1820 bis Februar 1821 Vikar in Stetten/Rems und (Stuttgart-)Plieningen. Im Januar 1821 bestand er sein 2. theologisches Dienstexamen in Stuttgart. Bis Anfang 1823 mußte er wegen einer Erkrankung seine geliebte Tätigkeit als Pfarrer, Prediger und Seelsorger unterbrechen; dann stand er als Stadtvikar seinem als Stuttgarter Amtsdekan an die dortige Leonhardskirche beförderten Vater an der Seite, nach dem Tod des Vaters im Januar 1825 war er kurze Zeit Pfarrverweser. Im Februar 1825 folgte ein neuer Zusammenbruch. Von Juli 1826 bis zu seinem Tod am 18.11.1828 war er Pfarrer in Rielingshausen bei Marbach/Neckar.

468 2. Theologische

Hofacker Grundanschauung

Im Elternhaus Hofackers war der alte württembergische -»Pietismus als Tradition zwar lebendig geblieben, war aber überlagert von einem verständigen und trocken erscheinenden -»Supranaturalismus, den der Vater vertrat. Während des Theologiestudiums empfing Hofacker keine ihn persönlich berührenden Impulse; er galt als lustiger Student. Bei eigenen Studien wurde er auch mit J. -»Böhme bekannt und begeisterte sich für Naturmystik; sein Ziel wurde, sich „zur Wiedergeburt und ins himmlische Wesen hindurchzukämpfen". Unter dem Einfluß eines Bruders und im Zusammenhang mit der seit 1815 wieder eingerichteten pietistischen „Stiftsstunde" wurde ihm der Vorrang und die Autorität der Schrift deutlich, er erlebte in langen Kämpfen seine -•Bekehrung (1818/1819). Zunächst zerbrach er fast an der Unmöglichkeit, die -»Heiligung in Übereinstimmung mit dem -»Gesetz Gottes zu schaffen; dann erschloß sich ihm die -»Rechtfertigung als „Gewißheit des Glaubens, daß ihm die Sünden vergeben seien durch die Versöhnungstat Jesu Christi im Herzen Gottes"; er wollte nun sein Leben als ein „Armsündersein... gänzlich und nude auf das lautere Erbarmen Gottes" stellen. Diese Heilserfahrung blieb jedoch nicht unangefochten. Hofacker setzt sich bei diesem Ringen schonungslos aus; Phasen tiefster Zerschlagenheit, die in der Krankheit gewachsene Einsicht, daß der Mensch für Gott „ein entbehrliches Werkzeug" ist, wechseln mit kurzen Stunden „völligen Friedens und ganzen Genusses des Heils in Christo". Er muß die Aussagen der lutherischen Rechtfertigungslehre ganz persönlich und neu sich zu eigen machen; darin ist Hofacker Pietist, daß er auf eine solche Verinnerlichung drängt. Bei aller Betonung der Verderbtheit des Menschen bleibt aber das Bewußtsein von einer im Menschen angelegten Fähigkeit, der O r d n u n g Gottes entsprechend zu leben. Diese Fähigkeit versucht er in seinen Predigten zu aktivieren; neben dem Hinweis auf die -»Gnade ist so ein gewisser Optimismus, eine gewisse Gesetzlichkeit und eine gewisse Systematisierung des Lebens eines Gläubigen bei Hofacker angelegt; die Einsicht in das eigene Verderben und in die Gnade Gottes führt zur -»Buße und zur Erweckung, der volle Gnadenstand ist aber erst durch die Versiegelung erreicht. Die Weite des Blickes des älteren württembergischen Pietismus verengt sich zur Frage nach der Heilsgewißheit des einzelnen; das Erbe der Väter, vor allem der —»Biblizismus wird als unantastbares Gut übernommen, die Spekulation als solche ist jedoch ausgeschieden.

J. A. -»Bengels Prophetie von dem im Jahr 1836 hereinbrechenden neuen Äon (—»Chiliasmus) ist Grundlage der Arbeit Hofackers: In diesen letzten Zeiten kann es nicht mehr darum gehen, sich mit der Weisheit dieser Welt auseinanderzusetzen oder sich für einen sozialen Fortschritt einzusetzen. Alles Bemühen um ein theologisches System wie bei -»Schleiermacher, alle Philosophie und Wissenschaft ist jetzt Hybris und Auflehnung gegen Gott, jede kulturelle Leistung wie Dichtung und Musik und alle Freude an Behaglichkeit ist Abfall von Gott. In der Leitung der Württembergischen Landeskirche glaubt Hofacker eine unter „Höflichkeiten" verborgene „Feindschaft gegen das Evangelium" zu bemerken; nur der König als der von Gott berufene Hüter der Ordnung genießt sein Vertrauen. Es kann nur noch den Ruf zur Vorbereitung auf das Neue, zu Erweckung und Entscheidung geben; Hofacker meint einen grandiosen und rigorosen Exodus aus Theologie, Kirchlichkeit und Gesellschaft. Hofacker hielt sich gegenüber den bestehenden pietistischen Stunden älterer Prägung zurück. In Stuttgart verkehrte er in einem Zirkel von Kaufleuten und Handwerkern, die zu gemeinsamer Lektüre der Bibel und zu gemeinsamem Gebet zusammenkamen; an diesen zunächst von Laien getragenen Pietismus knüpfte er an. Im Oktober 1823 gründete er beim Stuttgarter Bibelfest mit zehn Studienfreunden eine Gesellschaft, um in einer Zirkularkorrespondenz „den Zustand des eigenen Herzens" darzulegen und sich über den Zustand des Reiches Gottes auszutauschen. Er besuchte im Sommer 1824 die Erbauungsstunde im Tübinger Stift und versuchte den Kreis der Teilnehmer neu zu festigen. Im Jahr 1826 organisierte sich die Stuttgarter Predigerkonferenz neu, im März 1828 wurde die Verbindung zu Herrnhut (-»Brüderunität/Brüdergemeine) hergestellt; im Gegensatz zu Bengel erfolgte jetzt diese Annäherung, weil man in der Brüdergemeine eine Kirche sah, die sich nicht auf den Zeitgeist eingelassen hatte. So formierte sich ein neuer Ansatz

Hofacker

469

des württembergischen Pietismus, die ->Erweckungsbewegung. Geistlicher Vater w a r Christian Adam D a n n (1758—1827), seit 1794 Diakonus in Stuttgart, der wegen einer zu scharfen Predigt auf eine Landpfarrei strafversetzt wurde, seit 1825 aber als Nachfolger von Hofackers Vater wieder in Stuttgart wirkte; Hofacker selber war unter den Jüngeren führend, zu denen auch Albert Knapp und Christian Gottlob Barth, der Gründer des Calwer Verlagsvereins gehörten (s. T R E 10,213,24ff). Bei aller Abkehr von der „Welt" ü b e r n a h m man aber auch Impulse der Zeit, besonders auf d e m Feld der Publizistik. Seine eigentliche H a u p t a u f g a b e fand H o f a c k e r als Prediger. Der Zulauf w a r groß und erregte beträchtliches Aufsehen. An ihm wirkte schon seine „triumphierende apollinische Gestalt", sein von Leiden und Feuer gezeichnetes Gesicht. Er w u ß t e sich als „Treiber", der die Schafe in den Stall zu treiben hat und der keine Zeit versäumen darf, weil die Zeit der Ernte nahe sei. Aus der eigenen Gerechtigkeit heraus wollte H o f a c k e r seine Z u h ö r e r durch einen „ S p r u n g " in die Gerechtigkeit Christi hineinführen: „Weg mit den Lumpen der eigenen Gerechtigkeit... als Sünder in die freie Gnade h i n e i n ! . . . Wagen m u ß m a n seine Seligkeit." H o f a c k e r kann in seinen Predigten lebensnah Verhältnisse des Alltags erwähnen; in seiner Seelsorge kann er Nachsicht üben mit weltlicher Freude; als Ziel bleibt aber immer der Ruf zum Aufbruch. 3. Wertung und

Würdigung

Karl Müller vergleicht H o f a c k e r mit d e m methodistischen Erweckungsprediger und Volksredner George -»Whitefield. Hermelink sieht in ihm einen Vertreter der „ n u m i n o sen" Predigt; die Darlegung geht oft plötzlich in Meditation und Anbetung über, er verfällt nicht in den Stil einer „Heils- und Hallelujapredigt"; das Wort ist „im G r u n d e das einzige S a k r a m e n t " . H o f a c k e r ist so f ü r Hermelink der größte Prediger der württembergischen Kirche, sein Predigtbuch w a r das im 19. J h . am meisten gelesene Andachtsbuch (-•Erbauungsliteratur III.8). H o f a c k e r hat in W ü r t t e m b e r g den Pietismus unter das Volk gebracht (Lehmann). Mit der Betonung des „schmalen Weges" prägt er den Pietismus des 19. Jh. entscheidend; er will die Kirche vor die Entscheidung stellen, wem sie zu dienen hat, einer aus Menschengeist entwickelten Idee oder G o t t , und zeigt der folgenden Auseinandersetzung des Pietismus mit der spekulativen Philosophie eines David Friedrich - » S t r a u ß M e t h o d e n und Richtung. Er ist ein Prophet gegen allen Optimismus des Fortschritts in Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft a m Beginn der Epoche des Fortschritts; er nimmt auch politisch die konservative H a l t u n g seiner Nachfolger vorweg. Der früh Vollendete m u ß allerdings nicht wie Sixt Karl von Kapff diese Vision einer erweckten Gemeinschaft ernster Christen in neuen „hochkirchlichen" Formen retten. Werke Predigten für alle Sonn-, Fest- u. Feiertage, Stuttgart 1833. Ab 10. Aufl. (1845) mit Lebenslauf vom Bruder Wilhelm Hofacker u. Gedicht von Albert Knapp „Zum Andenken an Ludwig Hofacker". Literatur (in Auswahl) Friedrich Buck, Württembergische Väter, Stuttgart, III 1924. - Heinrich Hermelink, Gesch. der Ev. Kirche in Württemberg v. der Reformation bis zur Gegenwart, Tübingen 1949, 362-370. Albert Knapp, Leben v. Ludwig Hofacker, Heidelberg 1852,2. u. 3. jeweils verm. Aufl. 1855 u. 1859. - Hartmut Lehmann, Pietismus u. weltliche Ordnung in Württemberg v. 17. bis zum 20. Jh., Stuttgart 1969, 188 f u. Register. - Karl Müller, Die rel. Erweckung in Württemberg am Anfang des 19. Jh., Tübingen 1925. - Gerhard Schäfer, Ludwig Hofacker u. die Erweckungsbewegung in Württemberg: Bausteine zur geschichtlichen Landeskunde v. Baden-Württemberg, Stuttgart 1979, 357-379. Gerhard Schäfer

Hoffman

470 Hoffman, Melchior 1. Leben und Werk

(1500?-1543) 2. Nachwirkung

(Bibliographie/Quellen/Literatur S.473)

1. Leben und Werk Der vermutlich um 1500 in Schwäbisch-Hall geborene Laienprädikant und Kürschner Melchior Hoffman begab sich zu Beginn der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts aus beruflichen Gründen nach Livland und lernte dort eine unter dem Einfluß von Andreas -»Karlstadt stehende Form der Reformation kennen. In den Städten des von fünf Bischöfen und dem Deutschen Orden regierten Landes grassierte ein vehementer Antiklerikalismus, der sich zwischen 1524 und 1526 in zehn großen Bilderstürmen entlud. Die Begegnung mit dieser radikalisierten Gestalt der Reformation prägte seinen weiteren Lebensweg und sein theologisches Denken. Gleich zu Beginn seiner Predigttätigkeit sprach Hoffman den geistlichen Fürsten die Berechtigung zur weltlichen Herrschaft ab und rief zur Vernichtung der Heiligenbilder auf. Der vergebliche Versuch des Erzbischofs von Riga, Johannes Blankenfeld, ihn in Dorpat am 10.1.1525 verhaften zu lassen, führte zu einem blutigen Zusammenstoß zwischen den Söldnern des Bischofs und den für Hoffman eintretenden Einwohnern der Stadt. Der Konflikt endete mit dem größten Bildersturm der livländischen Geschichte. Da Hoffman beteuerte, die Gewalt sei von der Gegenseite ausgegangen, und da er sich darüber hinaus in seinem Sendschreiben Jesus (Luther, WA 18,426-430) von den „Schwarmgeistern", die den Aufstand gegen Junker und Prälaten betrieben, distanzierte, gewährte ihm Martin -»Luther im Juni 1525 das Zeugnis der Rechtgläubigkeit. Der dadurch in seinem Selbstbewußtsein gewaltig gestärkte Laienprädikant geriet aber gleich nach seiner Rückkehr nach Dorpat in einen schweren Konflikt mit der evangelischen Geistlichkeit Livlands. Er trat ihr mit dem Anspruch gegenüber, kraft des ihm zuteil gewordenen Heiligen Geistes ein höheres Wissen zu besitzen als die gelehrten Theologen. Dieses Charisma befähige ihn zur allegorischen und typologischen Exegese der Bibel und zur apokalyptischen Deutung von Gegenwart und Zukunft, was in der Behauptung gipfelte, daß die messianischen Wirren bereits 1526 begonnen hätten und in sieben Jahren (1533) der Jüngste Tag anbrechen werde. Die Endzeit stellte er sich damals noch als Leidenszeit für die wahren Christen vor. Zugleich bekämpfte er die Ohrenbeichte als Herrschaftsinstrument der Pfarrer und trat darüber hinaus für das Recht aller Gemeindemitglieder ein, die Bibel in gottesdienstlichen Versammlungen auszulegen und die Lehre der Geistlichkeit zu beurteilen. Der Vorwurf gegen den Dorpater Bürgermeister, das beschlagnahmte Kirchengut zu veruntreuen, führte zu seiner Verbannung aus Livland (1526). Auch an seinem nächsten Aufenthaltsort, in Stockholm (-»Schweden), konnte Hoffman sich nicht lange halten. König Gustav I. Wasa befahl seine Ausweisung, als er von den eschatologischen Spekulationen des Kürschners hörte, zumal dadurch die Opposition der deutschen Gemeinde gegen die relativ konservative Kirchenpolitik der Krone gestärkt wurde. Die nächste Station seiner Irrfahrt hieß -»Lübeck, wo er sich der Verfolgung des altgläubigen Rates durch die Flucht nach Kiel entzog. Dort gewährte ihm der dänische König Friedrich I. (-»Dänemark) Asyl und die Stelle eines Diakons an der Nikolai-Kirche, verbunden mit dem Auftrag, in ganz Schleswig-Holstein „das reine Wort Gottes" zu verkünden. Vorübergehend kam Hoffman hier zu Reichtum und Ansehen. Er gründete die erste Druckerei in Kiel, die er sogleich einsetzte, um sich gegen die Angriffe Nikolaus von -»Amsdorfs, der ihn einen „falschen Propheten" gescholten hatte, zu wehren. Auch mit dem Kieler Magistrat geriet er bald in Streit, weil dieser sich auf Kosten der Gemeinde am säkularisierten Kirchengut bereichert hatte. Aber nicht die erbitterte, in maßlose Beschimpfungen ausartende Kontroverse mit Amsdorf und seine Kritik am Kieler Rat wurden Hoffman zum Verhängnis, sondern seine spiritualistische Position in der Abendmahlsfrage. Er sah in der lutherischen Sakramentsauffassung einen niederträchtigen Versuch, das Göttliche mit dem Kreatürlichen zu vermischen, um die Herrschaft des Klerus

Hoffman

471

über die Laien wieder aufzurichten. Für ihn gab es nur eine Form der Realpräsenz Christi im Abendmahl: im Wort der Vergebung. Die Lutheraner rechneten ihn deshalb zu den „Sakramentariern". Auf Befehl des streng lutherisch gesonnenen dänischen Kronprinzen, des späteren Königs Christian III., mußte sich Hoffman in der Flensburger Disputation (April 1529) wegen seiner ketzerischen Abendmahlslehre gegen J. -»Bugenhagen und die vornehmsten lutherischen Theologen Schleswig-Holsteins verantworten. Karlstadt, der eigens zur Verteidigung Hoffmans aus Sachsen herbeigeeilt war, wurde noch vor Beginn des Streitgesprächs des Landes verwiesen. Wie zu erwarten, endete die Flensburger Disputation mit der Verurteilung Hoffmans als Irrlehrer. Da er sich weigerte zu widerrufen, wurde er aus Schleswig-Holstein verbannt. Für Hoffman besiegelte die Flensburger Disputation seinen endgültigen Bruch mit dem Luthertum. Das „neue Papsttum" der Wittenberger Reformatoren galt ihm jetzt als ebenso blasphemisch und tyrannisch wie die alte Kirche. Unbeirrt hielt er jedoch fest an seinem Glauben an den „frommen König", den die „gottlosen Pfaffen" - wie einst die Hohenpriester den Pilatus - in die Irre geführt hatten. Zeichen dieses unerschütterten Vertrauens waren die Widmung seines Kommentars zum Hohen Lied an die dänische Königin und der Auslegung der Offenbarung Johannis an den dänischen König. Anschließend zog Hoffman zusammen mit Karlstadt zu den „Sakramentariern" Ostfrieslands. Ein großer Teil des ostfriesischen Adels sympathisierte damals mit der zwinglischen Abendmahlslehre und widersetzte sich dem Versuch der Einführung eines lutherischen Landeskirchenregiments durch den Reichsgrafen Enno II. Offenbar gewann Hoffman auch das Vertrauen des ehemaligen ostfriesischen Kanzlers Ulrich von Dornum, dem er zwei apokalyptische Traktate widmete. Nach der gemeinsamen Abfassung des Dialogus, in dem Karlstadt und Hoffman den Verlauf der Flensburger Disputation aus ihrer Sicht schilderten, trennten sich ihre Wege. Hoffman reiste weiter nach -»Straßburg, wo er von M. -»Bucer als Kampfgenosse gegen die „Magie" der lutherischen Abendmahlsauffassung zunächst freundlich begrüßt wurde. Als ihm aber die Straßburger Reformatoren, entsetzt über des Kürschners phantastische Bibelauslegung, den gut gemeinten Rat gaben, sich doch lieber seinen Fellen als dem Predigen zu widmen, näherte sich Hoffman den Straßburgcr Nonkonformisten. Unter ihrem Einfluß warf er den größten Teil der ihm noch verbliebenen lutherischen Gedankenwelt über Bord. Aus den Straßburger Dissidenten — zu 80% Flüchtlinge — rekrutierte er seine neue Anhängerschar. Von dem Kreis der spiritualistischen Täufer, der sich um die Lehren des Hans -•Denck und Jakob Kautz geschart hatte, übernahm er die Idee der Universalität der göttlichen Gnade und den Glauben an die Willensfreiheit des Menschen. Die bis dahin vertretene lutherische Prädestinationslehre und das Dogma vom unfreien Willen wurden jetzt von ihm verdammt. Darüber hinaus verurteilte er die Kindertaufe (-»Täufer). Allein die Glaubenstaufe sei eines mündigen, freien Menschen würdig. Im Heilsprozeß unterschied er zwei Stufen der -»Rechtfertigung. Die „erste Rechtfertigung", die Tilgung der Folgen der Erbsünde durch das Verdienst Christi, ist ein reines Gnadengeschenk - ebenso die Erleuchtung des verfinsterten menschlichen Verstandes durch das göttliche Wort, die den Willen wieder frei macht und das „Satanskind" in einen natürlichen Menschen verwandelt. Die „zweite Rechtfertigung", die zur ewigen Seligkeit führt, muß sich der Mensch im Kampf gegen die Anfechtung in einem Werk der freiwilligen Kooperation mit Gott selbst erwerben. Sie besteht im Empfang des Heiligen Geistes, der den Menschen zum sündlosen, himmlischen Menschen erhebt, welcher über dem Gesetz steht. In Auseinandersetzung mit -»Schwenckfeld entwickelte Hoffman ferner noch seine Lehre vom „himmlischen Fleisch Christi", wonach Christus kein Fleisch von der Jungfrau Maria, „der sündigen Adamstochter", angenommen hat. Nur unter dieser Voraussetzung habe Christus zum reinen Sühnopfer für die Sünden der Menschheit werden können. Die wichtigste Veränderung fand aber im Bereich seiner -»Apokalyptik statt. Hatte Hoffman bis dahin die messianischen Wirren als Leidenszeit der Christen konzipiert, so übernahm er jetzt von den „Straßburger Propheten", deren Mittelpunkt das Ehepaar

472

Hoffman

Lienhard und Ursula Jost bildete, die Vorstellung, daß sich die Welt auf die Wiederkehr Christi durch einen Akt der großen Säuberung vorbereiten müsse. Der ganze Haufen der falschen Pfaffen, einschließlich „der blutsäuferischen, antichristlichen (-»Antichrist IV), lutherischen und zwinglischen Prediger", müsse erst zugrundegehen, bevor das Neue Jerusalem erbaut werden könne. Im apokalyptischen Endkampf würden die Freien Reichsstädte unter Führung Straßburgs die Wahrheit des Evangeliums gegen die „höllische Dreieinigkeit" - Kaiser, Papst und Irrlehrer - siegreich verteidigen. Die -»Täufer sollten in diesem Ringen zwar nicht die Waffen führen, es aber unterstützen durch Gebet und Schanzarbeiten. Nach dem Untergang Babylons werde eine neue Theokratie entstehen, in der der fromme König und der geisterfüllte Prophet Hand in Hand regieren würden. Der schreckliche Tag der Rache und das darauffolgende Friedensreich (-»Chiliasmus) seien die unabdingbaren Voraussetzungen für die Wiederkehr Christi (Von der reinen Furcht Gottes, 1533). Mit der Idee der Ausrottung der Gottlosen vor dem Jüngsten Tag und der Vorstellung einer irdischen Herrschaft der Heiligen in einem theokratischen Zwischenreich schuf Hoffman die wichtigsten ideologischen Voraussetzungen für das Münsteraner Täuferreich von 1534/35 (-»Täufer). Bernd Rothmann hat später in Münster diese Sozialrevolutionären Ideen ebenso propagiert wie Hoffmans monophysitische Christologie und „pelagianische" Rechtfertigungslehre. Im Unterschied zu den Münsteraner Täufern plädierte Hoffman für die „Revolution von oben". Die große Säuberung sollte vollzogen werden durch die legal zur Macht gekommenen evangelischen Magistrate der Freien Reichsstädte. Ebenso mißbilligte er die von den Münsteraner Melchioriten praktizierte Polygamie. Im Gegensatz zu den taufgesinnten „Schweizer Brüdern" verwarf er deren unbedingten Pazifismus, ihre Lehre von der Unvereinbarkeit des Christenstandes mit dem obrigkeitlichen Amt und die Konzeption einer egalitären Gemeindedemokratie. Nach seiner Meinung sollten die charismatischen „apostolischen Sendboten" die Gemeinden wie alttestamentliche Propheten bekehren und leiten. Nachdem Hoffman im Frühjahr 1530 provokatorisch den Straßburger Rat aufgefordert hatte, den Täufern eine Kirche zu überlassen, erließ dieser Haftbefehl gegen ihn. Er entkam jedoch nach Ostfriesland. In den Jahren 1530 bis 1532 gelang es ihm, durch unermüdliche Missionsarbeit eine stattliche Anhängerschaft in Emden, der Grafschaft Holland (einschließlich Amsterdams; —»Niederlande), Friesland sowie in Groningen und Deventer zu gewinnen. Auch seine Straßburger Gemeinde hielt treu zu ihm. Im Frühjahr 1533 kehrte Hoffmann nach Straßburg zurück, weil er fest damit rechnete, daß dort der apokalyptische Endkampf ausbrechen und diese Stadt das Neue Jerusalem sein würde. Martin Bucer, der Straßburger Reformator, hingegen befürchtete, daß die Melchioriten in Straßburg einen politischen Umsturz herbeiführen würden. Da man Hoffman Hochverratspläne nicht nachweisen konnte, wurde er auf der Straßburger Synode vom Juni 1533, in der man generell mit allen Nonkonformisten abrechnete, wegen seiner „theologischen Irrtümer" verdammt, und zwar wegen seiner monophysitischen Christologie, seiner Lehre vom freien Willen und von der Universalität der göttlichen Gnade, der Verwerfung der Kindertaufe und der Doktrin von der Unvergebbarkeit der bewußten Sünde nach der Bekehrung. Die apokalyptischen Phantasien blieben bei dieser Verurteilung außer Betracht. Den Rest seines Lebens verbrachte Hoffman im Kerker, wo er 1543 starb. Melchior Hoffman verdankte seine Erfolge der Tatsache, daß er an Erwartungen, die die Wittenberger Reformation im Volke zuerst geweckt und dann enttäuscht hatte, anknüpfen konnte. Er gab dem radikalen spätmittelalterlichen Antiklerikalismus, der auch das Feuer der Reformation genährt hatte, konkrete Ziele, indem er die Wiederherstellung der urchristlichen Gemeindevertretung nach I Kor 14 forderte und die inspirierten Propheten aus dem einfachen Volk über die „gelehrten Bauchknechte" erhob. Die mit der Reformation verbundene Hoffnung auf eine Besserung des Lebens, auf eine sittliche

Hoffmann, Christoph

473

Wandlung des Menschen, faßte er in das übersteigerte Postulat, daß die wahre Rechtfertigung den Menschen schließlich vergöttlichen und zu einem himmlischen, sündlosen Wesen machen müsse. Aber auch die spätmittelalterlichen Ängste vor einem nahen Weltende und dem großen Tag der Abrechnung fanden in seiner Apokalyptik ihren Niederschlag, freilich in der Form, daß er sie - wider Willen - schließlich in Sozialrevolutionäre Energie umsetzte durch die Proklamation der bevorstehenden Ausrottung der Gottlosen und eines kommenden theokratischen Zwischenreiches. Die Illusion seines Lebens bestand darin, daß er trotz aller Enttäuschung ungebrochen an der Zuversicht festhielt, eine „fromme Obrigkeit" werde seinen antiklerikalen, spiritualistischen und apokalyptischen Ideen zum Siege verhelfen. Dieser innere Widerspruch erklärt auch den Zerfall der melchioritischen Bewegung in einen friedlichen (Mennoniten, David- -»Joris-Anhänger) und einen militanten (Münsteraner, Batenburger) Flügel. 2.

Nachwirkung

Von Melchior Hoffman sind bedeutende historische Wirkungen ausgegangen: Er hat das Täufertum von Südwestdeutschland in den Norden des Reiches übertragen und muß als der eigentliche Stifter der niederländischen Taufgesinnten gelten. Ohne seine Ideen wäre es nicht zum „Gottesreich" von Münster 1534/35 gekommen. Sowohl in Livland und Schleswig-Holstein als auch in Straßburg und in Westfalen provozierte er aber auch durch seinen Radikalismus den konservativen Rückschlag der weltlichen Obrigkeiten, die ihre bis dahin geübte Toleranz gegenüber nonkonformistischen evangelischen Strömungen aufgaben. Seine monophysitische Christologie wurde von -»Menno Simons übernommen, der nach dem Scheitern der Sozialrevolutionären Bewegungen in Holland und Westfalen (1535) die zerstreuten und verwirrten Melchioriten sammelte und sie - wenigstens zum größten Teil - auf die Gewaltlosigkeit verpflichtete. Die melchioritische Inkarnationslehre blieb bei den Mennoniten bis ins 17. Jh. ein Prüfstein der Orthodoxie und bildete Anlaß für zahlreiche Spaltungen (Dirk Philips contra Adam Pastor) und feindselige Auseinandersetzungen mit den Reformierten (Streitgespräche Menno Simons* mit Johannes ->Laski und Martin Micron). Sie verhinderte auch den Zusammenschluß zwischen den „Schweizer Brüdern" und den niederländisch-norddeutschen Täufergruppen. Bibliographie Vgl. Klaus Deppermann, Melchior Hoffman, s.u., 3 4 5 - 3 6 4 .

Quellen Ein Verzeichnis der Schriften Melchior Hoffmans samt Angabe v. Neuabdrucken liegt vor bei Klaus Deppermann, Melchior Hoffman, s.u., 345 - 3 4 9 .

Literatur Klaus Deppermann, Melchior Hoffman. Soziale Unruhen u. apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1979. - Peter Kawerau, Melchior Hoffman als rel. Denker, Haarlem 1954. - Werner O . Packull, „A Hutterite Book o f Medieval Origin" Revisited: M e n n Q R 56 (1982) 1 4 7 - 1 6 8 . - Ders., Melchior Hoffman - A Recanted Anabaptist in Schwäbisch Hall?: M e n n Q R 57 (1983) 8 3 - 1 1 1 . - Calvine Augustine Pater, Karlstadt as the Father of the Baptist Movements. T h e Emergence of Lay Protestantism, Toronto/Buffalo 1984. - James Stayer, T h e Anabaptists and the Sword, Lawrence/Kansas 2 1976, 203 - 3 2 8 . - Sjouke Voolstra, Het Woord is Vlees geworden. De Melchioritisch-Mennonite Incarnationsleer, Diss. theol. Amsterdam, Kampen 1982.

Klaus Deppermann Hoffmann, Christoph 1. Leben und Werk

(1815-1885) 2. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S.475)

1. Leben und Werk Gottlob Christoph Jonathan Hoffmann wurde am 2. Dezember 1815 in Leonberg als letztes Kind des dortigen Bürgermeisters und königlichen Notars Gottlieb Wilhelm

Hoffmann, Christoph

473

Wandlung des Menschen, faßte er in das übersteigerte Postulat, daß die wahre Rechtfertigung den Menschen schließlich vergöttlichen und zu einem himmlischen, sündlosen Wesen machen müsse. Aber auch die spätmittelalterlichen Ängste vor einem nahen Weltende und dem großen Tag der Abrechnung fanden in seiner Apokalyptik ihren Niederschlag, freilich in der Form, daß er sie - wider Willen - schließlich in Sozialrevolutionäre Energie umsetzte durch die Proklamation der bevorstehenden Ausrottung der Gottlosen und eines kommenden theokratischen Zwischenreiches. Die Illusion seines Lebens bestand darin, daß er trotz aller Enttäuschung ungebrochen an der Zuversicht festhielt, eine „fromme Obrigkeit" werde seinen antiklerikalen, spiritualistischen und apokalyptischen Ideen zum Siege verhelfen. Dieser innere Widerspruch erklärt auch den Zerfall der melchioritischen Bewegung in einen friedlichen (Mennoniten, David- -»Joris-Anhänger) und einen militanten (Münsteraner, Batenburger) Flügel. 2.

Nachwirkung

Von Melchior Hoffman sind bedeutende historische Wirkungen ausgegangen: Er hat das Täufertum von Südwestdeutschland in den Norden des Reiches übertragen und muß als der eigentliche Stifter der niederländischen Taufgesinnten gelten. Ohne seine Ideen wäre es nicht zum „Gottesreich" von Münster 1534/35 gekommen. Sowohl in Livland und Schleswig-Holstein als auch in Straßburg und in Westfalen provozierte er aber auch durch seinen Radikalismus den konservativen Rückschlag der weltlichen Obrigkeiten, die ihre bis dahin geübte Toleranz gegenüber nonkonformistischen evangelischen Strömungen aufgaben. Seine monophysitische Christologie wurde von -»Menno Simons übernommen, der nach dem Scheitern der Sozialrevolutionären Bewegungen in Holland und Westfalen (1535) die zerstreuten und verwirrten Melchioriten sammelte und sie - wenigstens zum größten Teil - auf die Gewaltlosigkeit verpflichtete. Die melchioritische Inkarnationslehre blieb bei den Mennoniten bis ins 17. Jh. ein Prüfstein der Orthodoxie und bildete Anlaß für zahlreiche Spaltungen (Dirk Philips contra Adam Pastor) und feindselige Auseinandersetzungen mit den Reformierten (Streitgespräche Menno Simons* mit Johannes ->Laski und Martin Micron). Sie verhinderte auch den Zusammenschluß zwischen den „Schweizer Brüdern" und den niederländisch-norddeutschen Täufergruppen. Bibliographie Vgl. Klaus Deppermann, Melchior Hoffman, s.u., 3 4 5 - 3 6 4 .

Quellen Ein Verzeichnis der Schriften Melchior Hoffmans samt Angabe v. Neuabdrucken liegt vor bei Klaus Deppermann, Melchior Hoffman, s.u., 345 - 3 4 9 .

Literatur Klaus Deppermann, Melchior Hoffman. Soziale Unruhen u. apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1979. - Peter Kawerau, Melchior Hoffman als rel. Denker, Haarlem 1954. - Werner O . Packull, „A Hutterite Book o f Medieval Origin" Revisited: M e n n Q R 56 (1982) 1 4 7 - 1 6 8 . - Ders., Melchior Hoffman - A Recanted Anabaptist in Schwäbisch Hall?: M e n n Q R 57 (1983) 8 3 - 1 1 1 . - Calvine Augustine Pater, Karlstadt as the Father of the Baptist Movements. T h e Emergence of Lay Protestantism, Toronto/Buffalo 1984. - James Stayer, T h e Anabaptists and the Sword, Lawrence/Kansas 2 1976, 203 - 3 2 8 . - Sjouke Voolstra, Het Woord is Vlees geworden. De Melchioritisch-Mennonite Incarnationsleer, Diss. theol. Amsterdam, Kampen 1982.

Klaus Deppermann Hoffmann, Christoph 1. Leben und Werk

(1815-1885) 2. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S.475)

1. Leben und Werk Gottlob Christoph Jonathan Hoffmann wurde am 2. Dezember 1815 in Leonberg als letztes Kind des dortigen Bürgermeisters und königlichen Notars Gottlieb Wilhelm

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Hoffmann, Christoph

-•Hoffmann geboren. 1819 übersiedelte die Familie Hoffmanns nach -»Korntal, wo der Vater die bekannte Brüdergemeinde gründete, die sich bald zu einem geistigen und geistlichen Zentrum von großer Ausstrahlung entwickelte. Als von Haus aus begeisterter Pietist, erhielt Christoph Hoffmann seine höhere Schulbildung in Stuttgart und ging dann (wie auch sein älterer Bruder Wilhelm, der Hofprediger in Berlin wurde) zum Theologiestudium nach -»Tübingen, das er 1836 abschloß. In Tübingen befreundete er sich mit den angesehenen Brüdern Paulus (deren Schwester er später heiratete), die 1837 in Ludwigsburg den bekannten (Erziehungs-) „Salon" gründeten, dem sich Hoffmann nach einiger Zeit als Teilhaber und Lehrer anschloß. Hoffmann wurde erstmalig 1845 in weiteren Kreisen bekannt, als er anläßlich der aufsehenerregenden Inauguralvorlesung von Friedrich Theodor Vischer seine Einundzwanzig Sätze wider die neuen Gottesleugner, von C. Hoffmann, Diener der evangelischen Kirche in Württemberg veröffentlichte. Dies war der Anfang einer langen und grundsätzlichen Auseinandersetzung Hoffmanns mit der Bibelkritik, die durch die -»Tübinger Schule geführt wurde (-»Bibelwissenschaft II.7). Da sich die Presse weigerte, die Stellungnahmen des Ludwigsburger Kreises zu veröffentlichen, gründeten Hoffmann und seine Freunde 1845 die Süddeutsche Warte, religiöses und politisches Wochenblatt für das deutsche Volk. Als 1848 David Friedrich -»Strauß im Oberamt Ludwigsburg von den Liberalen als Abgeordneter für die deutsche Nationalversammlung in Frankfurt aufgestellt wurde, trat Hoffmann als Gegenkandidat auf und wurde, aufgrund seiner immer wieder bewunderten Überzeugungskraft, mit großer Stimmenmehrheit gewählt, was vielleicht den Höhepunkt der Karriere des damals 31jährigen „Lehrers von Ludwigsburg" bedeutete. Die revolutionären Bestrebungen, die in Frankfurt zum Ausdruck kamen, erinnerten Hoffmann an den Turmbau zu Babel und überzeugten ihn, auch weil die Kirche in seinen Augen versagt hatte, von der Notwendigkeit, das „Volk Gottes" zusammenzurufen, um die Welt vor einem neuen Babel zu retten (s. Stimmen der Weissagung über Babel und das Volk Gottes, Ludwigsburg 1849). Von der Frankfurter Szene enttäuscht, kehrte Hoffmann Anfang 1849 nach Ludwigsburg zurück und setzte sich fortan auch in dem von ihm gegründeten „Evangelischen Verein" mit Evangelistenschule immer entschiedener f ü r die Sache des „Volkes Gottes" gegen die Kirche ein. Letztere reagierte von mal zu mal heftiger auf Hoffmanns radikal-pietistische Anschauungen, für die die Warte, die 1852 an Hoffmann überging, die wesentliche Plattform wurde. Inzwischen war der Krimkrieg ausgebrochen, der allem Anschein nach zur Befreiung des -»Heiligen Landes vom Joch der Türken führen sollte. Hoffmann glaubte nun, d a ß „niemand als das Volk Gottes" (Warte v. 7.7.1853) ein Recht habe, das Heilige Land zu erben, womit nun sein eigentliches Lebenswerk, „die Sammlung des Volkes Gottes in Jerusalem", die endgültige Form annahm (vgl. T R E 10,213,34 ff).

Bereits 1854 legten die „Freunde Jerusalems" mit Christoph Hoffmann, Georg David Hardegg und Christoph Paulus an der Spitze, dem Bundestag in Frankfurt eine Bittschrift vor, beim türkischen Sultan für ihr Anliegen zu intervenieren. 1858 sandten die „Freunde Jerusalems" drei Kundschafter nach Palästina, die unter den damaligen, noch ganz unsicheren Verhältnissen nur eine groß angelegte Ansiedlung für möglich hielten. Es folgten langjährige Bemühungen, neue Anhänger für den Palästinaplan zu gewinnen. Im Kirchenhardthof bei Marbach a. N. wurde das ersehnte Gemeindeleben im Sinne Hoffmanns bereits erprobt. Die Abweichungen der Mitglieder von den üblichen kirchlichen Regeln und Praktiken führten jedoch 1859 zu ihrem Ausschluß aus der evangelischen Landeskirche, worauf Hoffmann 1861 den Deutschen Tempel als selbständige religiöse Bewegung gründete. 1868 kam es schließlich doch noch zur (vom Staat und der Kirche stark angegriffenen) Auswanderung nach Palästina - allerdings in einem (zuvor als ungeeignet angesehenen) viel geringeren Umfang. Als Christoph Hoffmann am 8.12.1885 in Jerusalem starb, besaßen die Templer, nach erheblichen Anfangsschwierigkeiten, bereits vier blühende sogenannte „Deutsche Kolonien" in Palästina: bei Haifa (1869 gegründet), in Jaffa (ebenfalls 1869), in Sarona (1871 heute zu Tel Aviv gehörend) und bei Jerusalem (1873). Später entstanden noch Wilhelma (1902 — bei Lod), das galiläische Bethlehem (1906 - bei Nazareth) und das benachbarte

Hoffmann, Gottlieb Wilhelm

475

Waldheim (1907). Die letzte Kolonie wurde allerdings von den Anhängern Hardeggs gegründet, die allmählich zur Kirche zurückkehrten und im ganzen etwa ein Drittel der deutschen Ansiedler in Palästina ausmachten. Das „Volk Gottes" konnte Hoffmann zwar weder sammeln noch nach Jerusalem führen, jedoch leisteten die dort durch ihn entstandenen Pioniersiedlungen den bedeutendsten Beitrag zum Wiederaufbau Palästinas im 19. Jh., von den Leistungen der, allerdings erst etwas später einsetzenden und zahlenmäßig den Templern weit überlegenen, jüdischen Einwanderung freilich abgesehen. 2.

Nachwirkung

Nach dem Tode Hoffmanns entwickelten sich die Templerkolonien auch weiterhin zwar vorbildlich, jedoch dauerte die schon vorher eingetretene Stagnation der Anziehungskraft seiner Ideen an; er lehnte schließlich u.a. selbst die Sakramente sowie die Dreieinigkeit ab. Bis 1875 kamen 750 Templer ins Heilige Land, die Zahl der Ansiedler wuchs dann bis auf etwa 2200, vor allem aber durch natürliche Vermehrung. Der Erste Weltkrieg brachte eine provisorische Aufgabe der deutschen Kolonien mit sich, der Zweite und die darauffolgende Gründung des Staates -»Israel ihre endgültige Aufgabe. Auch im geistigen Sinne war bereits bei der zweiten Templergeneration sowohl in Palästina als auch in Deutschland ein gewisses Nachlassen der ursprünglichen Ideale spürbar geworden. Nach dem Verlust ihrer Siedlungen in Palästina versuchten die Templer weiterhin im Sinne Hoffmanns ein dogmenfreies Christentum zu vertreten, allerdings ohne sich dabei weiterhin an Jerusalem gebunden zu fühlen. Heute (1982) zählt die Tempelgesellschaft in Deutschland (einschließlich Familienangehörige) rund 700 Seelen, in Australien etwa doppelt so viel; sie ist dem Bund für freies Christentum korporativ angeschlossen. Quellen Vor allem im Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Akten des König). Ministeriums der Auswärtigen Angelegenheiten; E 46/48 (907); Kabinettsakten IV, Sekten und Schwärmer, E 14 (1585). - Weitere Quellenangaben: Alex Carmel, Die Siedlungen der württembergischen Templer, s.u., XIX. Literatur Alex Carmel, Die Siedlungen der württembergischen Templer in Palästina 1868-1918, Stuttgart 1973. - Ders., Palästina-Chronik 1853 bis 1882. Dt. Zeitungsberichte v. Krimkrieg bis zur ersten jüd. Einwanderungswellc, Ulm, 11978, II (1883-1914) 1983.-Christoph Hoffmann, Occident u. Orient, Stuttgart 1875. - Ders., Mein Weg nach Jerusalem, 2 Bde., Jerusalem 1881-1884. - Die Warte des Tempels (1845-1876 als Süddeutsche Warte, 1912 bis 1917 als Jerusalemer Warte).

Alex Carmel Hoffmann, Gottlieb Wilhelm 1. Leben

2. Werk

(1771-1846)

(Quellen/Literatur S. 476)

1. Leben Gottlieb Wilhelm Hoffmann wurde in Ostelsheim bei Calw am 19. Dezember 1771 geboren. Seine Vorfahren väterlicherseits flüchteten während der Gegenreformation von Schlesien nach Württemberg, wo sie später zum Teil kirchliche Ämter bekleideten. Hoffmanns Vater, Pfarrer in Ostelsheim, erzog seine Kinder äußerst streng, was zumindest bei seinem Sohn Gottlieb Wilhelm eine Gegenreaktion hervorrief. Von seinem Sohn Christoph wurde er als „von jovialem Charakter, lebhaft im Gespräch und geneigt zum Scherz, dabei energisch und zugleich pünktlich im Geschäft, voll Tatkraft und Gefahren gegenüber von mehr als gewöhnlicher Unerschrockenheit; er belebte jede Gesellschaft und weckte auch stillere Naturen zur Äußerung und Regsamkeit" geschildert. Nach Schulabschluß wurde Hoffmann von seinem Vater eine dreijährige wiederum sehr strenge Lehrzeit beim Calwer Stadtschreiber vorgeschrieben, womit er für eine Verwaltungslaufbahn bestimmt war.

Hoffmann, Gottlieb Wilhelm

475

Waldheim (1907). Die letzte Kolonie wurde allerdings von den Anhängern Hardeggs gegründet, die allmählich zur Kirche zurückkehrten und im ganzen etwa ein Drittel der deutschen Ansiedler in Palästina ausmachten. Das „Volk Gottes" konnte Hoffmann zwar weder sammeln noch nach Jerusalem führen, jedoch leisteten die dort durch ihn entstandenen Pioniersiedlungen den bedeutendsten Beitrag zum Wiederaufbau Palästinas im 19. Jh., von den Leistungen der, allerdings erst etwas später einsetzenden und zahlenmäßig den Templern weit überlegenen, jüdischen Einwanderung freilich abgesehen. 2.

Nachwirkung

Nach dem Tode Hoffmanns entwickelten sich die Templerkolonien auch weiterhin zwar vorbildlich, jedoch dauerte die schon vorher eingetretene Stagnation der Anziehungskraft seiner Ideen an; er lehnte schließlich u.a. selbst die Sakramente sowie die Dreieinigkeit ab. Bis 1875 kamen 750 Templer ins Heilige Land, die Zahl der Ansiedler wuchs dann bis auf etwa 2200, vor allem aber durch natürliche Vermehrung. Der Erste Weltkrieg brachte eine provisorische Aufgabe der deutschen Kolonien mit sich, der Zweite und die darauffolgende Gründung des Staates -»Israel ihre endgültige Aufgabe. Auch im geistigen Sinne war bereits bei der zweiten Templergeneration sowohl in Palästina als auch in Deutschland ein gewisses Nachlassen der ursprünglichen Ideale spürbar geworden. Nach dem Verlust ihrer Siedlungen in Palästina versuchten die Templer weiterhin im Sinne Hoffmanns ein dogmenfreies Christentum zu vertreten, allerdings ohne sich dabei weiterhin an Jerusalem gebunden zu fühlen. Heute (1982) zählt die Tempelgesellschaft in Deutschland (einschließlich Familienangehörige) rund 700 Seelen, in Australien etwa doppelt so viel; sie ist dem Bund für freies Christentum korporativ angeschlossen. Quellen Vor allem im Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Akten des König). Ministeriums der Auswärtigen Angelegenheiten; E 46/48 (907); Kabinettsakten IV, Sekten und Schwärmer, E 14 (1585). - Weitere Quellenangaben: Alex Carmel, Die Siedlungen der württembergischen Templer, s.u., XIX. Literatur Alex Carmel, Die Siedlungen der württembergischen Templer in Palästina 1868-1918, Stuttgart 1973. - Ders., Palästina-Chronik 1853 bis 1882. Dt. Zeitungsberichte v. Krimkrieg bis zur ersten jüd. Einwanderungswellc, Ulm, 11978, II (1883-1914) 1983.-Christoph Hoffmann, Occident u. Orient, Stuttgart 1875. - Ders., Mein Weg nach Jerusalem, 2 Bde., Jerusalem 1881-1884. - Die Warte des Tempels (1845-1876 als Süddeutsche Warte, 1912 bis 1917 als Jerusalemer Warte).

Alex Carmel Hoffmann, Gottlieb Wilhelm 1. Leben

2. Werk

(1771-1846)

(Quellen/Literatur S. 476)

1. Leben Gottlieb Wilhelm Hoffmann wurde in Ostelsheim bei Calw am 19. Dezember 1771 geboren. Seine Vorfahren väterlicherseits flüchteten während der Gegenreformation von Schlesien nach Württemberg, wo sie später zum Teil kirchliche Ämter bekleideten. Hoffmanns Vater, Pfarrer in Ostelsheim, erzog seine Kinder äußerst streng, was zumindest bei seinem Sohn Gottlieb Wilhelm eine Gegenreaktion hervorrief. Von seinem Sohn Christoph wurde er als „von jovialem Charakter, lebhaft im Gespräch und geneigt zum Scherz, dabei energisch und zugleich pünktlich im Geschäft, voll Tatkraft und Gefahren gegenüber von mehr als gewöhnlicher Unerschrockenheit; er belebte jede Gesellschaft und weckte auch stillere Naturen zur Äußerung und Regsamkeit" geschildert. Nach Schulabschluß wurde Hoffmann von seinem Vater eine dreijährige wiederum sehr strenge Lehrzeit beim Calwer Stadtschreiber vorgeschrieben, womit er für eine Verwaltungslaufbahn bestimmt war.

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Hoffmann, Gottlieb Wilhelm

Wohl um diesen bedrückenden Verhältnissen zu entkommen, führte Hoffmann zunächst ein eher unseriöses Leben, was ihn schließlich in finanzielle Not brachte. Nach eigener Darstellung rief er damals um Gottes Hilfe, ihm seine Schulden zu tilgen. Als sich tatsächlich bald eine Lösung seiner Nöte fand, erweckte das in ihm erstmals aufrichtige Gläubigkeit; diese wurde bald durch seinen neuen Vorgesetzten (und späteren Schwiegervater) Jacob Flattich, Amtsschreiber in Merklingen, der zu den religiös erweckten Kreisen gehörte, gestärkt und brachte Hoffmann zu den Pietisten (vgl. T R E 10,213,12). Als er dann als Gehilfe des Stadtschreibers Osterdinger in Leonberg Beschäftigung fand, lernte Hoffmann den älteren und bekannten Pfarrer Gottlieb Friedrich Machtholf (1735-1800) kennen, der ihm einmal aus Möttlingen die zehn schweren Foliobände Luthers gesammelter Werke, vier Wegstunden weit auf dem Rücken tragend, brachte, was den jungen Hoffmann, wie er oft zu erzählen pflegte, unvergeßlich beeindruckte. Das Vorbild dieses Pfarrers und Seelsorgers, den er bis zu seinem Lebensende als seinen geistigen Vater betrachtete, sollte Hoffmanns eigenen Weg weitgehend mitbestimmen. Dem tüchtigen „Kaiserlichen Notar", „Bürgermeister" und „Amtsbürgermeister" Hoffmann wurden mehrere Verwaltungsämter in Leonberg und Umgebung anvertraut. Nach Beendigung der napoleonischen Kriege (-»Napoleonische Epoche) war er Mitglied der „konstituierenden" ( 1 8 1 5 1819) und der „konstituierten" (1820-1826) Versammlungen des Landtages. Der in der Ständeversammlung herrschende Geist schien ihm aber vom Christentum immer mehr abzufallen, so daß Hoffmann später eine entsprechende Kandidatur ablehnte - 1849 verließ sein Sohn Christoph die (freilich viel bedeutendere) deutsche Nationalversammlung in Frankfurt aus ähnlichen Gründen. Am 29. Januar 1846 starb Hoffmann in Korntal. Zu seinen zahlreichen Kindern gehören der spätere Inspektor der Basler Mission und Hofprediger in Berlin Wilhelm Hoffmann (aus zweiter Ehe) und der Gründer der Tempelgesellschaft Christoph —»Hoffmann (aus dritter Ehe). 2.

Werk

Neben der Ausübung seiner Verwaltungsämter, in denen sich H o f f m a n n als mutiger Kämpfer für die Belange der Bevölkerung einen N a m e n m a c h t e , entfaltete sich auch seine religiöse Tätigkeit, bis er es zu einem der führenden Pietisten W ü r t t e m b e r g s brachte. Die Anfang des 19. J h . durch den - » R a t i o n a l i s m u s bedrängten Pietisten neigten damals häufig (und zum Bedauern des Staates) zur - » A u s w a n d e r u n g , w o r a u f H o f f m a n n 1 8 1 7 König Wilhelm I. den Vorschlag machte, durch die Bildung religiös selbständiger Gemeinden, die der staatlichen Kirche nicht unterstehen sollten, die Auswanderer zurückzuhalten. 1 8 1 8 bewilligte der König Hoffmanns Plan. Ein J a h r d a r a u f e r w a r b H o f f m a n n das Rittergut - » K o r n t a l bei Stuttgart, w o sich dann unter H o f f m a n n , der auch mit seiner Familie dahin übersiedelte, die „Brüdergemeinde" d o r t in kurzer Z e i t zu einem der bedeutendsten geistigen und geistlichen Zentren des Pietismus und der äußeren Mission im deutschsprachigen R a u m entwickelte. Die in Korntal und in der 1 8 2 4 gegründeten zweiten Gemeinde Wilhelmsdorf bei Ravensburg entstandenen Schulen und H e i m e , die mittellose und sozial s c h w a c h e Kinder und E r w a c h s e n e von N a h und Fern bereitwillig aufnahmen, gehörten bald zu den fortgeschrittensten Anstalten im ganzen L a n d e und bildeten das eigentliche Werk Hoffmanns. Quellen Vor allem im Archiv der Brüdergemeinde Korntal. - Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Kabinettsakten IV, Sekten und Schwärmer, E 14 (1585), ferner E 31 (1224), E 33 (653), E 151b II (908-909). Literatur Fritz Grünzweig, Die Ev. Brüdergemeinde Korntal, Metzingen 1957 (ausführliches Quellenverzeichnis 2 8 0 - 2 8 5 ) . — Ders., Gottlieb Wilhelm Hoffmann. Gründer v. Korntal u. Wilhelmsdorf: Lebensbilder aus Schwaben u. Franken, Stuttgart, XI 1 9 6 9 , 1 5 0 - 1 7 3 . - Konrad Hoffmann, Ludwig Friedrich Wilhelm Hoffmann, Missionsinspektor in Basel, Hofprediger u. Generalsuperintendent in Berlin. 1806-1873: Lebensbilder aus Schwaben u. Franken, Stuttgart, XIV 1 9 8 0 , 2 1 9 - 2 5 4 (Quellenu. Lit. 2 5 2 - 2 5 4 ) . Alex C a r m e l

Hofmann, Johann Christian Konrad v. Hofmann, Johann Christian Konrad v. 1. Leben

2. Hauptwerke

3. Theologie

477

(1810-1877) (Werke/Literatur S. 479)

Johann Christian Konrad von Hofmann war ein erfolgreicher Lehrer, ein hochgeschätzter Gesellschafter, Freund von Musik und Literatur, weitgereist, neben seinem Lehramt für Äußere und -»Innere Mission (-»Mission) tätig, nicht nur von großem Einfluß auf Universität und Kirche, sondern auch als Parteipolitiker ein weltzugewandter M a n n , „praktisch unverhältnismäßig mehr Kulturprotestant als Richard R o t h e " (Barth 553). Doch zugleich macht es die Eigenart gerade seines theologischen Denkens schwer, ihn in die Theologie seiner Zeit einzuordnen.

1. Leben Geboren am 21. Dezember 1810 in Nürnberg, wuchs er in engen kleinbürgerlichen, zugleich gut kirchlichen Kreisen auf. Unter dem hochgeschätzten Schulmann Karl Ludwig Roth ( 1 7 9 0 - 1 8 6 8 , A D B 29,333 ff) besuchte er, wie die etwas älteren Adolf -»Harleß und Wilhelm -»Löhe das Nürnberger Gymnasium. 1827 begann er in -»Erlangen das Theologiestudium. Von Einfluß auf seine persönliche wie theologische Entwicklung waren hier der Naturwissenschaftler Karl v. Raumer („Raumer war es, der mich meine Sünden erkennen lehrte", Wapler 17) und der reformierte Pfarrer und a . o . Professor Christian Krafft ( 1 7 8 4 - 1 8 4 5 ) , durch die er zum Verstehen der Schrift wie zu einem lebendigen Christentum im Sinne der -»Erweckungsbewegung kam. 1 8 2 9 - 1 8 3 2 lebte er in Berlin im Hause der Gräfin Bülow als Hofmeister und zugleich als Student, für den insbesondere der Historiker Leopold -»Ranke wichtig wurde, während ihn -»Schleiermacher und -»Hegel nicht besonders beeindruckten. Nach dem Abschlußexamen 1832 wurde er in Erlangen Gymnasiallehrer für Geschichte, Religion und Hebräisch. 1835 erhielt er die Stelle eines Repetenten und habilitierte sich für Geschichte. 1838 folgte die theologische Habilitation, 1841 wurde er zum a . o . Professor befördert. 1842 nahm er einen Ruf als Ordinarius nach -»Rostock an. Dort vertrat er die biblischen Fächer und war auch kirchlich stark engagiert. Nach der Strafversetzung von A. Harleß 1845 wurde Hofmann an seiner Stelle nach Erlangen berufen. Sein Lehrauftrag umfaßte Enzyclopädie, Neues Testament und Ethik. Hofmann fand bei den Studenten rasch Eingang und wurde der berühmteste und einflußreichste Lehrer der Universität. 1847 wurde er zum Prorektor gewählt (Rektor war immer der bayerische König); die Wahl wurde gegen jedes Herkommen im folgenden Jahr wiederholt. Hofmann war dann noch viermal Prorektor, zuletzt 1875; das zeigt, wie seine führende Stellung an der Universität Erlangen dauernd anerkannt war. Nachdem er 1855 einen R u f nach Leipzig abgelehnt hatte, wurde ihm das Ritterkreuz des Verdienstordens der Bayerischen Krone verliehen, mit dem der persönliche Adel verbunden war. 1863 ließ er sich als Abgeordneter der liberalen Fortschrittspartei in den Landtag wählen, dem er 1 8 6 3 - 1 8 6 9 angehörte. Die Glanzzeit der fünfziger Jahre kehrte nach dem Einschnitt von 1870/71 nicht mehr zurück, doch blieb Hofmann der beliebte Lehrer und die führende Gestalt in Fakultät wie Universität, bis er nach kurzer Krankheit am Vorabend seines 67. Geburtstages, am 20.12.1877, starb.

2.

Hauptwerke

Die erste größere Arbeit, Geschichte des Aufruhrs in den Cevennen unter Ludwig XIV., nach den Quellen erzählt, 1831 in Berlin begonnen, erschien 1837 im Druck. Eine weitere historische Arbeit, das Lehrbuch der Weltgeschichte für Gymnasien, folgte 1839. Sein eigentümlicher theologischer Entwurf stand schon zur Zeit seiner Habilitation fest, und die weitere Arbeit diente seiner Ausführung. 1841 erschien der erste Teil des Werkes Weissagung und Erfüllung im Alten und Neuen Testamente. Ein theologischer Versuch. Der 2. Teil folgte 1844. Hier wird gegen eine rationalistische Bestreitung der biblischen Weissagung wie erst recht gegen die ungeschichtliche Anführung isolierter Textstellen als Weissagung auf Christus hin, wie sie der einflußreiche Ernst Wilhelm -»Hengstenberg vertrat, die biblische Geschichte in ihrem Zusammenhang von Geschehen und Bezeugung als Weissagung verstanden: Weissagung des Wortes und der Tat halten gleichen Schritt. Als zweites Hauptwerk folgte Der Schriftbeweis. Ein theologischer Versuch, 1852-1855 (vgl. TRE 6,461,5ff). Nicht einzelne Belegstellen zu einzelnen dogmatischen Aussagen können die biblische Begründung gegenwärtiger Lehre leisten. Vielmehr ist der Beweis für das „Lehrganze" aus dem „Schriftganzen" zu führen. Ausgangspunkt für dieses Lehrganze ist der „Tatbestand" des -»Christentums, wie er als Glaubensgewißheit da ist, „die in Jesu Christo vermittelte Gemeinschaft Gottes und des Menschen". Der Theologe

Hofmann, Johann Christian Konrad v. Hofmann, Johann Christian Konrad v. 1. Leben

2. Hauptwerke

3. Theologie

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(1810-1877) (Werke/Literatur S. 479)

Johann Christian Konrad von Hofmann war ein erfolgreicher Lehrer, ein hochgeschätzter Gesellschafter, Freund von Musik und Literatur, weitgereist, neben seinem Lehramt für Äußere und -»Innere Mission (-»Mission) tätig, nicht nur von großem Einfluß auf Universität und Kirche, sondern auch als Parteipolitiker ein weltzugewandter M a n n , „praktisch unverhältnismäßig mehr Kulturprotestant als Richard R o t h e " (Barth 553). Doch zugleich macht es die Eigenart gerade seines theologischen Denkens schwer, ihn in die Theologie seiner Zeit einzuordnen.

1. Leben Geboren am 21. Dezember 1810 in Nürnberg, wuchs er in engen kleinbürgerlichen, zugleich gut kirchlichen Kreisen auf. Unter dem hochgeschätzten Schulmann Karl Ludwig Roth ( 1 7 9 0 - 1 8 6 8 , A D B 29,333 ff) besuchte er, wie die etwas älteren Adolf -»Harleß und Wilhelm -»Löhe das Nürnberger Gymnasium. 1827 begann er in -»Erlangen das Theologiestudium. Von Einfluß auf seine persönliche wie theologische Entwicklung waren hier der Naturwissenschaftler Karl v. Raumer („Raumer war es, der mich meine Sünden erkennen lehrte", Wapler 17) und der reformierte Pfarrer und a . o . Professor Christian Krafft ( 1 7 8 4 - 1 8 4 5 ) , durch die er zum Verstehen der Schrift wie zu einem lebendigen Christentum im Sinne der -»Erweckungsbewegung kam. 1 8 2 9 - 1 8 3 2 lebte er in Berlin im Hause der Gräfin Bülow als Hofmeister und zugleich als Student, für den insbesondere der Historiker Leopold -»Ranke wichtig wurde, während ihn -»Schleiermacher und -»Hegel nicht besonders beeindruckten. Nach dem Abschlußexamen 1832 wurde er in Erlangen Gymnasiallehrer für Geschichte, Religion und Hebräisch. 1835 erhielt er die Stelle eines Repetenten und habilitierte sich für Geschichte. 1838 folgte die theologische Habilitation, 1841 wurde er zum a . o . Professor befördert. 1842 nahm er einen Ruf als Ordinarius nach -»Rostock an. Dort vertrat er die biblischen Fächer und war auch kirchlich stark engagiert. Nach der Strafversetzung von A. Harleß 1845 wurde Hofmann an seiner Stelle nach Erlangen berufen. Sein Lehrauftrag umfaßte Enzyclopädie, Neues Testament und Ethik. Hofmann fand bei den Studenten rasch Eingang und wurde der berühmteste und einflußreichste Lehrer der Universität. 1847 wurde er zum Prorektor gewählt (Rektor war immer der bayerische König); die Wahl wurde gegen jedes Herkommen im folgenden Jahr wiederholt. Hofmann war dann noch viermal Prorektor, zuletzt 1875; das zeigt, wie seine führende Stellung an der Universität Erlangen dauernd anerkannt war. Nachdem er 1855 einen R u f nach Leipzig abgelehnt hatte, wurde ihm das Ritterkreuz des Verdienstordens der Bayerischen Krone verliehen, mit dem der persönliche Adel verbunden war. 1863 ließ er sich als Abgeordneter der liberalen Fortschrittspartei in den Landtag wählen, dem er 1 8 6 3 - 1 8 6 9 angehörte. Die Glanzzeit der fünfziger Jahre kehrte nach dem Einschnitt von 1870/71 nicht mehr zurück, doch blieb Hofmann der beliebte Lehrer und die führende Gestalt in Fakultät wie Universität, bis er nach kurzer Krankheit am Vorabend seines 67. Geburtstages, am 20.12.1877, starb.

2.

Hauptwerke

Die erste größere Arbeit, Geschichte des Aufruhrs in den Cevennen unter Ludwig XIV., nach den Quellen erzählt, 1831 in Berlin begonnen, erschien 1837 im Druck. Eine weitere historische Arbeit, das Lehrbuch der Weltgeschichte für Gymnasien, folgte 1839. Sein eigentümlicher theologischer Entwurf stand schon zur Zeit seiner Habilitation fest, und die weitere Arbeit diente seiner Ausführung. 1841 erschien der erste Teil des Werkes Weissagung und Erfüllung im Alten und Neuen Testamente. Ein theologischer Versuch. Der 2. Teil folgte 1844. Hier wird gegen eine rationalistische Bestreitung der biblischen Weissagung wie erst recht gegen die ungeschichtliche Anführung isolierter Textstellen als Weissagung auf Christus hin, wie sie der einflußreiche Ernst Wilhelm -»Hengstenberg vertrat, die biblische Geschichte in ihrem Zusammenhang von Geschehen und Bezeugung als Weissagung verstanden: Weissagung des Wortes und der Tat halten gleichen Schritt. Als zweites Hauptwerk folgte Der Schriftbeweis. Ein theologischer Versuch, 1852-1855 (vgl. TRE 6,461,5ff). Nicht einzelne Belegstellen zu einzelnen dogmatischen Aussagen können die biblische Begründung gegenwärtiger Lehre leisten. Vielmehr ist der Beweis für das „Lehrganze" aus dem „Schriftganzen" zu führen. Ausgangspunkt für dieses Lehrganze ist der „Tatbestand" des -»Christentums, wie er als Glaubensgewißheit da ist, „die in Jesu Christo vermittelte Gemeinschaft Gottes und des Menschen". Der Theologe

478

H o f m a n n , J o h a n n Christian Konrad v.

entfaltet reflektierend diesen Tatbestand in seinen Voraussetzungen; nur das kann z u m Lehrganzen gehören, was hier unerläßlich ist. So gewinnt H o f m a n n einen kritischen M a ß s t a b , den er der traditionellen Versöhnungslehre gegenüber einsetzte: Er bestritt die übliche Deutung des Todes Jesu als stellvertretendes Strafleiden (-»Rechtfertigung; -•Versöhnung). Das verwickelte ihn in harte Auseinandersetzungen gerade mit konfessionell bestimmten Lutheranern (vgl. Schutzschriften). Indem dann dieses Lehrganze als mit der ganzen Schrift übereinstimmend erwiesen wird, ist der wissenschaftliche Beweis f ü r den Tatbestand des Christentums geleistet. Das dritte, unvollendet hinterlassene, H a u p t w e r k , Die Schrift neuen Testaments zusammenhängend untersucht (8 Teile 1862-1878), will nicht nur Kommentar sein, sondern die Geistgewirktheit der Schrift dadurch erweisen, d a ß jedes ihrer Bücher einem bestimmten Z w e c k dient und sie insgesamt f ü r die christliche Gemeinde aller Zeiten als Wahrheitszeugnis voll zureichend sind. Neben den genannten H a u p t w e r k e n h a t H o f m a n n vor allem in der Zeitschrift für Protestantismus und Kirche eine Fülle von Aufsätzen veröffentlicht. 3.

Theologie

H o f m a n n s Zielsetzung w a r es, die Theologie als selbständige Wissenschaft zu erweisen. Dazu ist ihr der Tatbestand des Christentums als eigentümlicher Gegenstand gegeben (vgl. T R E 9,735,10-21). „Der christliche Theologe findet das Verhältnis zwischen G o t t und Mensch in Christo, mit welchem er sich beschäftigt, einerseits in der Schrift enthalten und wie es in der Kirche zur Gestaltung gekommen, andererseits in seiner eigenen Erfahrung enthalten und wie es Gestaltung in der Kirche fordert. Beide Male hat er es ins Wort zu fassen, im 1. Falle berichtend, wie es sich kund gegeben, im andern es so darlegend, wie es sich kund geben will" (aus der Dogmatikvorlesung vom Sommer 1842, Wapler 380). In dieser Bestimmung des theologischen Gegenstandes sind zwei im 19. Jh. einflußreiche Gedankenbildungen verarbeitet. Einmal Schleiermachers Bewußtseinstheologie, mit der sich H o f m a n n intensiv auseinandersetzte; dabei weist er die transzendentale Grundlegung in einem allgemeinen Religionsbegriff ab, sieht in der faktischen Gottesbeziehung als dem unleugbaren Tatbestand den G r u n d religiöser Gewißheit (-»Heilsgewißheit) wie den Gegenstand theologischer Reflexion. Weiter n i m m t H o f m a n n das Verständnis der -•Geschichte (VIII.3.1) als organischer Entwicklung auf, um so die Bibel als Bezeugung der G o t t offenbarenden Geschichte verständlich zu machen (vgl. T R E 10,323,7ff). In seinem Insistieren auf der Faktizität, d e m „ T a t b e s t a n d " des Christentums, immunisiert sich H o f m a n n freilich zugleich gegen kritische Einwände: Die Gewißheit des erfahrenen Gottesverhältnisses begründet die Tatsächlichkeit der offenbarenden Geschichte im geistgewirkten Zeugnis der Schrift (vgl. T R E 10,122,49ff). Das biblisch-dogmatische Konzept dient so der Abgrenzung; die Vermittlung zum Allgemeinen der gesellschaftlichen Wirklichkeit hin leistet eher die Ethik. Trotz seiner eindeutigen Zugehörigkeit zu dem aus der Erweckung hervorgegangenen -»Konfessionalismus läßt sich Hofmann schwer einordnen. Dazu ist seine Eigenheit im Drängen auf eine eigenständige Begründung der theologischen Wissenschaft zu ausgeprägt. Schon als er 1845 nach Erlangen zurückberufen wurde, hatte er Bedenken, ob sein Luthertum dort anerkannt werde (-•Neuluthertum). Und obwohl er bei den Erlanger Kollegen immer Verständnis und Freundschaft fand, zeigte doch der Streit um seine Versöhnungslehre, wie isoliert er an diesem Punkt war. Noch weniger aber läßt er sich als Biblizist oder Heilsgeschichtler bezeichnen (vgl. TRE 6,482,25ff). Erst recht stieß seine politische Tätigkeit auf Unverständnis. Allenfalls konnte sein Eintreten für die „kleindeutsche" Lösung der deutschen Frage (den Ausschluß der Habsburger Monarchie aus dem werdenden Nationalstaat), durch die politische Entwicklung bestätigt, gewürdigt werden. Sein Drängen auf eine stärkere Trennung von Staat und Kirche dagegen blieb unverstanden. Ein Schulgesetz, das einen Schritt auf diesem Weg darstellte und für das sich Hofmann publizistisch wie im Landtag sehr stark eingesetzt hatte, wurde 1869 durch die erste Kammer zu Fall gebracht, wobei der ehemalige Kollege, der Konsistorialpräsident Adolf von Harleß, sich als Gegner besonders hervortat. So bleibt auch hier nur der Hinweis auf eine eigenartige, interessante Persönlichkeit.

Hofmann, Johann Christian Konrad v.

479

Werke De bellis ab Antiocho Epiphane adversus Ptolemäos gestis dissertatio, Erlangen 1835. — Die siebzig Jahre des Propheten Jeremia u. die siebzig Jahrwochen des Propheten Daniel, Nürnberg 1836. — Gesch. des Aufruhrs in den Cevennen unter Ludwig XIV. Nach den Quellen erzählt, Nördlingen 1837. — De argumento psalmi centesimi decimi dissertatio, 1838. - Lb. der Weltgesch. für Gymnasien, Nördlingen 1839/42 2 1843/44. - Weissagung u. Erfüllung im A T u. im NT. Ein theol. Versuch, 2 Bde., Nördlingen 1841-1844. - Des Herrn Julius Wiggers Beruf zum öffentlichen Ankläger der luth. Kirche, Rostock 1843. — Die neuen Aufgaben der Univers, in der neuen Zeit, 1848. — Der Schriftbeweis. Ein theol. Versuch, Nördlingen 1 8 5 2 - 1 8 5 5 M 8 5 7 - 1 8 6 0 . - Der sittliche Beruf der Univers., 1853. - Uber die Aufgaben der Univers., 1856. - Beleuchtung des über Dr. Baumgartens Lehrabweichungen abgegebenen Consistorial-Erachtens, Nördlingen 1858. - Schutzschriften für eine neue Weise, die alte Wahrheit zu lehren, 4 Bde., Nördlingen 1 8 5 6 - 1 8 5 9 . - Die heilige Schrift neuen Testaments zusammenhängend unters., 11 Bde., Nördlingen 1862ff 2 1869ff. - An die protestantische Geistlichkeit des diesseitigen Bayern. Ein Wort zur Verständigung im Hinblick auf die bevorstehenden Landtagswahlen, Nördlingen 1869. - Die Univers, im neuen dt. Reich, Erlangen 1871. - Uber die Zukunft der theol. Fakultäten, Erlangen 1875. - Theol. Ethik. Abdruck einer im Sommer 1874 gehaltenen Vorlesung, Nördlingen 1878. - Vermischte Aufs. Eine Auswahl aus der Zs. für Protestantismus u. Kirche, zusammengestellt v. H. Schmid, Erlangen 1878. - Encyclopädie der Theol., nach Vorlesungen u. Manuscripten hg. v. H. J . Bestmann, Nördlingen 1879. - Bibl. Hermeneutik. Nach Manuskripten u. Vorlesungen hg. v. W. Volck, Nördlingen 1880. - Zusammenfassende Unters, der einzelnen ntl. Sehr. Nach Manuskripten u. Vorlesungen bearb. v. W. Volck, Nördlingen 1881. - Die bibl. Gesch. neuen Testaments. Nach Manuskripten u. Vorlesungen bearb. v. W. Volck, Nördlingen 1883. - Bibl. Theol. des neuen Testaments. Nach Manuskripten u. Vorlesungen bearb. v. W. Volck, Nördlingen 1886. - Theol. Briefe der Professoren Delitzsch u. v. Hofmann, hg. v. W. Volck, Leipzig 1891 2 1894. - Gedichte in Auswahl für Verwandte u. Freunde besorgt, 1898. - Briefe an Heinrich Schmid, hg. v. Charlotte Schmid, Leipzig 1910. Literatur Philipp Bachmann, J . Chr. K. v. Hofmanns Versöhnungsichre u. der über sie geführte Streit, 1910 (BFChTh 14). - Karl Barth, Die prot. Theol. im 19. Jh., Zollikon/Zürich 2 1952, 5 5 3 - 5 6 1 . - Werner Eiert, Der Kampf um das Christentum. Gesch. der Beziehungen zwischen dem ev. Christentum in Deutschland u. dem allg. Denken seit Schleiermacher u. Hegel, München 1921. - Günther Flechsenhaar, Das Geschichtsproblem in der Theol. Johann v. Hofmanns, Gießen 1935. - Albert Hauck, Art. Johann Chr. K. v. Hofmann: R E 3 8 (1908) 2 3 4 - 2 4 2 . - J o h a n n e s Haußleiter, Grundlinien der Theol. Joh. Chr. K. v. Hofmanns in seiner eigenen Darst., 1910. - Martin Hein, Luth. Bekenntnis u. Erlanger Theol. im 19. Jh., Gütersloh 1984 (Lit.). - Eberhard Hübner, Schrift u. Theol. Eine Unters, zur Theol. Joh. Chr. K. v. Hofmanns, 1956 (FGLP 10/8). - Hermann Jordan, Beitr. zur HofmannBiographie: BBKG 28 (1920) 1 2 9 - 1 5 3 . - Theodor Kaftan, Hofmanns Exegese: N K Z 30 (1919) 6 3 7 - 6 4 4 . - Waither v. Loewenich, Zur neueren Beurteilung der Theol. Johann Christian Konrad v. Hofmanns: ZBKG 32 (1963) 3 1 5 - 3 3 1 . - Ders., Johannes Christian Konrad v. Hofmann, Leben u. Werk, 1978 (EUR 3.F.). - Georg Merz, Das Bayerische Luthertum, 1955, 2 9 - 4 2 . - Martin Peters, J . Chr. K. v. Hofmann als prakt. Theol.: N K Z 30 (1919) 1 5 7 - 1 9 0 . - Hans Pöhlmann, Die Erlanger Theol. Ihre Gesch. u. ihre Bedeutung: ThStKr 80 (1907) 3 9 0 - 4 3 3 ; 5 3 3 - 5 6 3 . - Otto Proksch, Hofmanns Geschichtsauffassung: AELKZ 43 (1910) 1 0 3 4 - 1 0 3 8 ; 1 0 5 8 - 1 0 6 3 . - Martin Schellbach, Theol. u. Phil, bei v. Hofmann, 1935 (BFChTh 38). - Christoph Senft, Wahrhaftigkeit u. Wahrheit: B H T H 22 (1956) 8 7 - 1 2 3 . - Karl Gerhard Steck, Die Idee der Heilsgesch. Hofmann - Schlatter Cullmann: ThSt (B) 56 (1959) 1 9 - 3 5 . - Ders., Johann Christian Konrad v. Hofmann: Theologen des Protestantismus im 19. u. 20. Jh., hg. v. M . Greschat, I 1978, (Urban T B 284), 9 9 - 1 1 2 . - Bernhard Steffen, Hofmanns u. Ritschis Lehren über die Heilsbedeutung des Todes Jesu, 1910 (BFChTh 14,5). — Klaus Sturm, Die integrierende Funktion der Ekklesiologie in der luth.-konfessionellen Dogmatik des Erlanger Kreises, 1976 (masch.), 2 5 4 - 3 6 2 (Bibliographie Hofmanns 4 8 5 - 4 9 5 ) . - Paul Wapler, Die Genesis der Versöhnungslehre Johannes v. Hofmanns: N K Z 25 (1914) 1 6 7 - 2 0 5 . - Ders., Johannes v. Hofmann. Ein Beitr. zur Gesch. der theol. Grundprobleme, der kirchl. u. der politischen Bewegungen im 19. Jh., Leipzig 1914. - Ders., Die Theol. Hofmanns in ihrem Verhältnis zu Schellings positiver Philosophie: N K Z 16 (1905) 6 9 9 - 7 1 8 . - Horst Weigelt, Erweckungsbewegung u. konfessionelles Luthertum im 19. Jh., Stuttgart 1968. - Ernst Wilhelm Wendebourg, Die heilsgesch. Theol. J . Ch. K. v. Hofmanns krit. unters, als Beitr. zur Klärung des Problems der „Heilsgesch.", Diss. Göttingen 1953 (masch.). - Ders., Die heilsgesch. Theol. J . C h r . K . v. Hofmanns in ihrem Verhältnis zur romantischen Weltanschauung: Z T h K 52 (1955) 6 4 - 1 0 4 . - Gustav Weth, Die Heilsgesch. Ihr universeller u. ihr individueller Sinn in der offenbarungsgesch. Theol. des 19. Jh., 1931 (FGLP 4/2).

Friedrich Mildenberger

480

Hoffnung I

Hoffnung I. Philosophisch II. Neues T e s t a m e n t . . III. Dogmatisch-ethisch

484 491

I. Philosophisch 1. Begriffsgeschichtliche Aspekte 2. Hoffnung im Aufklärungsdenken 3. Der Durchbruch in die existentielle Dimension 4. Grundzüge einer Anthropologie der Hoffnung (Literatur S.484) 1. Begriffsgeschichtliche

Aspekte

Hoffnung (¿kni$) meint im griechischen Altertum die menschliche Zukunftserwartung im guten wie im schlechten Sinne. D a s Wissen um die stets unsichere Z u k u n f t verbindet sich hier mit der Einsicht in die menschliche Neigung, sich illusionären Hoffnungen hinzugeben und trügerische Erwartungen zu hegen. Der Durchbruch zur R a t i o nalität in der griechischen Aufklärung hat auch im Begriff der Hoffnung zur stärkeren Betonung der rationalen Komponente geführt. R a t i o n a l begründet ist eine Hoffnung bzw. E r w a r t u n g , wenn die gegebenen Bedingungen das Eintreten des Erhofften wahrscheinlich machen. D a Hoffnung wie Befürchtung sich hierbei desselben rationalen Schemas bedienen können, äußert sich der Unterschied zwischen positiver und negativer Zukunftserwartung nur noch in der gehobenen oder gedrückten Stimmung der Seele. Seit -•Aristoteles und der - » S t o a ist es in diesem Sinne geläufig, Hoffnung und Befürchtung einerseits den erwartungsbezogenen Affekten der Vorfreude, Furcht usw. zuzuordnen und diese andererseits, weil sie unbeständig sind, einer besonnenen Vernunftführung zu unterstellen. Die mit der stoischen Haltung verbundene Reserve ist, abgesehen von religiösen Traditionen, bis ins 18. J h . bestimmend geblieben. Die mit der Hoffnung verbundene positive Gemütslage erschien unbeständig, auf rationale Voraussicht begründete Z u kunftsperspektiven waren ungesichert und die im Trost der Hoffnung liegenden höchsten Güter subjektiv wie objektiv unverbürgt. 2. Hoffnung

im

Aufklärungsdenken

Erst für das Aufklärungsdenken (-»Aufklärung) wird der Begriff der Hoffnung philosophisch relevant und rückt in eine für die Folgezeit charakteristische doppelte Beleuchtung. Das Bemühen, vernünftiges und unvernünftiges Begehren und Hoffen trennscharf zu machen, führt hier schnell zu der auf den ersten Blick widervernünftig erscheinenden Einsicht, daß die Hoffnung gerade da ihre Kraft am stärksten erweist, wo in ausweglosen Situationen keine Überlegung mehr die Unsicherheit zu mindern und den Druck von der Seele zu nehmen vermag. Aber gerade das irrationale Moment der Hoffnung kann indirekt ein Handeln befördern, das dessen rationaler Komponente wiederum entgegenkommt (vgl. den rettenden Sprung aus dem Fenster des brennenden Hauses. Das Beispiel wird in diesem Sinne von Johann Georg Walch in seinem Philosophischen Lexicon [1726] angeführt; Hildesheim 1968 , Faks. - Ausg. 1,1988). Was vernünftig oder unvernünftig an der Hoffnung ist, das wird nun deutlich, ist nicht auf den ersten Blick auszumachen. Dies gilt auch für Kants Argumentation, für den der Begriff der Hoffnung erstmals einen philosophisch-systematischen Stellenwert erhält. -»Kant formuliert der Systematik seines Werkes entsprechend die drei Grundfragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? und faßt sie in der zentralen Frage zusammen: Was ist der Mensch? (Kritik der reinen Vernunft, B 833 und Logik 25). Die Frage nach der Hoffnung ist in dieser Ortsbestimmung von entscheidender philosophischer Relevanz, denn das -»Interesse der Vernunft an der Kenntnis ihres Endzwecks ist weder eine theoretische noch eine praktische Frage; ein Wissen davon gibt es nicht, und das sittliche Handeln garantiert nicht seinen Erfolg. Es bedarf also der Hoffnung, daß Natur- und Sittengesetz letztlich zusammenstimmen, einer Hoffnung allerdings, die für Kant nur postulatorisch aussagbar ist, weil ihre Gegenstände: die Annahme der Existenz Gottes, der Unsterblichkeit der Seele und der Freiheit des Willens, weder in menschliches Wissen fallen noch durch menschliches Wollen bewirkt werden können. „Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen" (a. a. O. B X X X ) , dieser muß dann aber innerhalb der Grenzen der Vernunft und d.h. in einem anthropologischen Kontext zu einer Philosophie der Hoffnung werden, deren Postulate philosophisch legitime Gegenstände bleiben, weil ohne sie die Idee der Sittlichkeit in Widersprüche verwickelt bliebe und zerstört

Hoffnung I

481

würde. Das moralische Vernunft- bzw. Freiheitsinteresse fordert somit, daß die Hoffnung keine Illusion sei. Als „unerwartete Eröffnung der Aussicht in ein nicht auszumessendes Glück" (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akad.-Ausg. VII,255) ist sie getragen vom aufklärerischen Optimismus in den guten Gang der Dinge, wie er in Kants Schriften zur Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik einen beredten und bei ihm sonst ungewohnten enthusiastischen Ausdruck gefunden hat.

3. Der Durchbruch

in die existentielle

Dimension

Die mit dem Traditionsabbruch der Aufklärungsepoche verbundene Wende zur Zukunft als primärer Dimension menschlichen Selbstverständnisses ist im Zeichen der radikalisierten -»Religions- und Ideologiekritik des 19. Jh. und tiefgreifender noch durch den europäischen -»Nihilismus der Jahrhundertwende einer Belastungsprobe ausgesetzt worden, die säkularisierte Hoffnungsbegriffe nicht weniger als die überlieferten religiösen Hoffnungsinhalte betrifft. Zwar konnte das bei Feuerbach und -»Marx aufkommende Verständnis der Philosophie als verändernder Praxis dem säkularen Hoffnungsdenken neue starke Impulse geben, nicht jedoch die mit der Durchrelativierung aller Werte und Welten verbundene Erfahrung der -»Entfremdung und des Scheiterns tilgen. Eine Konsequenz aus dieser Situation war die Wendung zur Gegenwart - Nietzsches „Großer Mittag" in Also sprach Zarathustra - mit ihrem „Glück in der Hoffnungslosigkeit" (Hugo v. Hofmannsthal, Frgm. „Furcht"). Die Preisgabe der Hoffnung führt nun aber nicht zur Resignation, sie gibt vielmehr eine gesteigerte Handlungsfähigkeit zurück und wird als höchste Schicksalsüberlegenheit, Lebensbejahung und Glück empfunden. Auf den Punkt gebracht: „Freedom is just another word for nothing left to loose" (Janis Joplin, Me and Bobby McGee). Und: „Man muß Sisyphus für glücklich halten" (Albert Camus, Der Mythos vom Sisyphus, letzter Satz). Eine andere Konsequenz betraf die Vertiefung des Hoffnungsverständnisses selbst in Verbindung mit existentiellen Grenzsituationen und Durchbruchserfahrungen, in denen sich eine neue, paradox erscheinende „Hoffnung wider Hoffnung" in der „Nacht der Hoffnungslosigkeit" (Sören Kierkegaard, Zur Selbstprüfung der Gegenwart angeboten. Werke, hg. von Emanuel Hirsch, Bd. 27/29,114) bezeugt. Spätestens an dieser Stelle wird es fragwürdig, Theologisches von Anthropologischem strikt zu trennen und einen rein theologischen Hoffnungsbegriff gegen anthropologische Befunde auszuspielen.

4. Grundzüge einer Anthropologie

der

Hoffnung

Es ist hier ein Punkt erreicht, an dem der Begriff der Hoffnung erstmals eine systematische anthropologische Grundlegung erhalten und von dogmatischen Präsumtionen unabhängig werden kann, ohne dadurch auf einen lediglich postulatorischen Charakter festgelegt zu sein. Der Bezugsrahmen für eine solche Grundlegung ist, in philosophischen Strömungen ausgedrückt, -»Lebensphilosophie und -»Existenzphilosophie, zusammengefaßt eine philosophische Anthropologie der Hoffnung, die auch weitergehende Reflexionen überlieferter Hoffnungsinhalte in sich aufzunehmen vermag. 4.1. Lebensphilosophie. Die Lebensphilosophie begreift Erwartung und Hoffnung als dem -»Leben selbst immanente Funktionen und sieht darin nicht lediglich antizipierende Bewußtseinsakte. Die ausdrücklichen Zukunftsbezüge erweisen sich nur in dem Maße als tragend, in dem sie an jene fundamentale Hoffnungsstruktur der inneren Lebensbewegung selbst anschließen können. Ist diese Verbindung durch Entfremdungen, in der Verzweiflung oder bei schizoiden Zuständen unterbrochen, so wird zeitbezogenes Denken zum Zwangsdenken und verliert mit der inneren Zeitmächtigkeit auch seine Hoffnungskraft. Der Gegenbegriff zur Hoffnung wäre dann nicht die erlebte Hoffnungslosigkeit im Zusammenbruch einer Hoffnung, sondern ein Warten gleichsam ins Leere hinein, in dem der Kontakt mit der eigenen tieferen Lebens- und Selbst-Wirklichkeit unterbrochen ist und nicht mehr frei hergestellt werden kann. -»Pascal beschreibt diesen Zustand des ennui als Vermeidung der existentiellen Begegnung durch Flucht in die Zerstreuung (Pensées Frgm. 131 u.ö.). Über den ausbleibenden existentiellen Werdeprozeß legt sich ein täuschendes psychologisches Substrat aus Vorstellungen und Motivationen, die jedoch keine wirkliche Lebenskraft erhalten und freisetzen können (vgl. Franfc Kafka, Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg: Beim Bau der chinesischen Mauer. Hg. v. Max

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Hoffnung I

Brod/Hans Joachim Schoeps, Berlin 1948,230 und dazu H . Plügge, Pascal 15,23 ff). Die Vermeidung des existentiellen Lebensrisikos steigert dieses in Wirklichkeit, nun aber gleichsam a tergo und unerkennbar, so daß der Mensch nichts mehr dagegensetzen kann und sich hilflos fremden Mächten ausgeliefert fühlt.

4.2. Existenzphilosophie und Anthropologie. Damit ist in der Lebenswirklichkeit selbst eine existentielle Ebene aufgedeckt. Der geschichtlich-hermeneutische Kontext des Sichverstehens und Selbstentwurfs ist damit nicht überhaupt annulliert, aber grundsätzlich durchbrochen von unvordenklichen Erfahrungen einer Selbst-Transzendenz der -»Person, der sich eine tiefere, absolute Dimension der Hoffnung verschließt oder öffnet. Besonders eindrücklich wird die hier mögliche Befreiung vom Zeit- und Todesdruck bei Krebskranken im Endstadium, nachdem der Lebenskampf von ihnen aufgegeben ist und gerade im Zusammenbruch der mit ihm verbundenen, illusionär gewordenen Hoffnungen eine andere, einer Z u k u n f t gewissen, aber von jedem bestimmten Ziel unabhängigen Hoffnung sich zeigt, die das Heil-Sein der Person zu ihrem Inhalt hat (Plügge, Hoffnung 38 ff). Daß diese Hoffnung auf ein „Immer-Weiter" erfolgsunabhängig, ruhig und getrost ist, beweist den in seinem Kern rein affirmativen Charakter des Lebens ,ohne Negation' (Eugène Minkowski, Die gelebte Zeit, Salzburg 1971,1,35. 97 ff), der die Ablösung der fundamentalen Hoffnung von Wunsch, Erwartung und darauf bezogener Erfüllungsangst ermöglicht. Die der Zerstörung standhaltende, in der Hoffnung sich äußernde positive Lebensmacht ist, dies wird hier deutlich, nicht die Vitalität im Sinne einer nur-biologischen Lebenskraft, sondern etwas, was diese begründet, aber auch transzendiert und grundsätzlich nicht illusionär sein, also auch nicht enttäuscht werden kann (Gabriel -•Marcel). Das gelebte und erfahrene Paradox einer Hoffnung wider alle Hoffnung verliert den Anschein einer absurden, verstiegenen Konsequenz, den es von außen gesehen zweifellos hat, und wird vielmehr zu einem letzten, Leben und menschlichc Existenz konstituierenden Element. Bollnow betont mit Gabriel Marcel, daß echte Hoffnung nicht erzwingbar ist und immer mit einer Gunst oder Gnade verbunden bleibt, wie sie den übernatürlichen' theologischen Tugenden: Glaube, Liebe, Hoffnung in besonderem M a ß e zugesprochen wird. Mit Plügge bezeichnet er die im Durchgang durch die Verzweiflung gewonnene Hoffnung deshalb als „natürliche Vorform" der christlichen Hoffnung, durch die jene nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr bestätigt und bekräftigt wird.

4.3. Anthropologie und Ontologie. Einen ganz anderen Typus des Hoffnungsdenkens stellt trotz mancher paralleler Formulierungen Ernst —»Blochs Prinzip Hoffnung dar. Blochs Philosophie der Hoffnung hat vom Geist der Utopie (1918) über das Prinzip Hoffnung (1954-1959) bis hin zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins (1961) und zum Experimentum Mundi (1975) verschiedene Stadien der Ausformulierung durchlaufen, ohne doch im Grundsatz verändert worden zu sein. Eine wesentliche Differenz zu den zuvor behandelten Positionen dürfte darin liegen, daß Bloch alle Weisen der Zukunftseröffnung: vom Lebensdrang und der „Dämmerung nach vorwärts", den Erwartungsaffekten und den utopischen Funktionen der Einbildungskraft bis hin zur docta spes als heilswirksame Möglichkeiten erachtet und die in der Hoffnung gelegene Kraft nicht ebenso sorgsam von den anderen Lebensbändern abgegrenzt hat. Dies hat ihm den Vorwurf eingetragen, sein „Prinzip H o f f n u n g " würde den existentiellen Durchbruchserfahrungen und der in ihnen geschehenden Ablösung der echten Hoffnung aus allen Erwartungskontexten nicht gebührend Rechnung tragen und begrifflich wieder einnivellieren, was im Sinne kategorial unterscheidbarer Phänomene auseinanderzuhalten sei (O. F. Bollnow, Die wissende Hoffnung bei Ernst Bloch, 7 3 - 8 9 ) . Darüber hinaus unterscheidet sich Blochs Ansatz durch die andere Zentrierung, die er dem Phänomen der Hoffnung gibt. Während die von Plügge untersuchte Hoffnung Schwerkranker oder existentiell Verzweifelter, an der auch die Analysen von Bollnow und Marcel sich orientieren, individuell zentriert ist, geht Blochs Hoffnung von vornherein auf das Heil als Weltzustand. Er kann darin an apokalyptische und chiliastische Traditionen des Messianismus anschließen und neuzeitliches utopisches Denken für sich geltend machen. Das Interesse an einer immanenten Verwirklichung des Heils von unten her macht ihn aufmerksam auf esoterische Auslegungstraditionen der „unterirdischen Bibel" und des Atheismus im Christentum (1968), die den

Hoffnung I

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„Herrengott" in Frage stellen und die der Apokalyptik eigene Antithese von alter und neuer Welt vermeiden. Es gilt, die Welt zur Heimat zu machen; statt einer Erlösung von ihr soll eine Versöhnung mit ihr stattfinden. Damit ist der Rahmen abgesteckt: Ziel ist das Reich, zum Grund wird nun aber anstelle des erwarteten Friedensbringers die Sehnsucht der Materie und zum Weg das Dunkel des gelebten Augenblicks. Es gilt am Leitfaden des Hoffens einen Zugang zu den tieferen Wissens- und Handlungsgründen zu finden, aus denen allein echte Zukunft hervorgehen kann. Die Hoffnung schöpft aus tieferen Quellen der noch unfertigen Wirklichkeit, in der sie fortschreitend Neues als ein RealMögliches objektiv erschließt. Sie hält sich wie der Traum in einer Bewußtseinsebene, die noch diesseits der Trennung von Subjekt und Objekt in ungegenständlicher Weise welthaltig ist. Das Dunkel in ihr verweist subjektiv auf Noch-Nicht-Bewußtes, objektiv auf Noch-Nicht-Seiendes, und beides korreliert im „Inkognito des treibenden Inhalts" (Das Prinzip Hoffnung, GA V,1191), der als Hoffnungsgehalt durch geschichtliche Arbeit zu heben ist. Es ist deutlich, daß eine derartige Hoffnungsformel für Subjekt-Objekt (1952) sich nicht mehr wie idealistische Vermittlungsformen im Sinne einer Identitätsphilosophie auflösen läßt. Die der kategorialen Formel „S ist noch nicht P" entsprechende ontologische Formel „Sein als Noch-Nicht-Sein" (Logikum/Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins, GA XIII,222) kann Bloch an den aristotelischen Begriff des In-Möglichkeit-Seins (Svväfia öv) anschließen und wie dieser an eine Materie rückbinden, die nun allerdings als durchweg selbstgestaltend aufgefaßt wird und nicht mehr wie bei Aristoteles einen absoluten Geist zum Ersten Beweger und Gestalter hat. Auch mit dieser Akzentuierung, die dem sog. linken Aristotelismus Avicennas u.a. entspricht (eduetio formarum ex materia), wird von Bloch einer idealistischen Interpretation seines Gedankens vorgebaut. Der in der Materie hinterlegte Hoffnungsgehalt: das „ausstehende Was der Essenz fürs Daß der Existenz" (a.a.O.,219), ist weder vorausgedacht noch bereits entschieden und vielmehr als riskierter Versuch möglichen Heils (laboratorium possibilis salutis) allererst herauszubringen. Bloch geht dabei fraglos davon aus, daß menschliches Handeln in der aufsteigenden Linie des Weltgeschehens liegt und seine mögliche Verkehrung gegen diese „Invariante der Richtung" (Gespräche mit Ernst Bloch 263) letztlich nicht ins Gewicht fällt. Im ganzen gilt für ihn: „Die Sache ist aber nicht ausgemacht, sie steht im Schwange, ist in der Schwebe" (a.a.O.,22), und d.h. es besteht noch Hoffnung auf einen guten Ausgang, auch wenn der Untergang „noch so mächtig ist" (a.a.O.,75). Hoffnung meint für Bloch so die Weigerung, sich der Resignation zu ergeben. Immer noch mehr Recht als Angst und Verzweiflung hat die Hoffnung aber doch wohl nicht vermöge einer Willensentscheidung, sondern weil sie im Durchgang durch diese Anfechtung nicht verloren und vielmehr in einem tieferen Sinne erst gewonnen wird. Die Frage nach einer möglichen Verbindung von Blochs „Prinzip Hoffnung" mit den zuvor dargestellten, existenzphilosophisch zentrierten Ansätzen darf deshalb bei aller Schwierigkeit nicht umgangen werden. Liegt der objektiv-reale Grund der Hoffnung in der Tat im Weltprozeß selber, so muß nach Ort und Funktion des Menschen in diesem Prozeß genauer gefragt werden, soll nicht einfach unterstellt sein, daß der Mensch an der „ F r o n t " des Geschehens dem „ N o v u m " echter Zukunft am nächsten kommt. Blochs richtiger Hinweis, daß der Mensch im Kern nicht von seinem Wissen und auch nicht von seinem Tun her zu verstehen sei, sondern eben im Hoffen seine Auszeichnung finde, müßte m. E. genauer gefaßt werden als möglicher Durchbruch in die absolute Dimension. Wenn er sagt: „ W i r sind (sc. als Menschen) vorsehende Wesen, wir sind von Natur aus utopische Wesen, zum Unterschied von den Tieren. Die Antizipation ist unsere Kraft und unser Schicksal" (Gespräche mit Ernst Bloch, a. a. 0 . , 2 4 ) , so meint Antizipation hier noch etwas Unspezifischeres als das von mir mit Durchbruch in die absolute Dimension Bezeichnete. Antizipation in Formen der Erwartung, Befürchtung etc. ist auch bereits für die tierische Lebensform ein zentraler struktureller Faktor; für den Menschen spezifisch ist demgegenüber die Gebrochenheit dieser Lebensform, seine exzentrische Positionalität (Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch 360ff). Der in der Hoffnung geschehende Durchbruch läßt sich aber m.E. nicht ablösen von der SelbstWirklichkeit der Person und damit auch nicht hinterlegen in den Möglichkeiten der Materie. Zwar geht es auch für den Menschen nicht ohne Einbindung in den materiellen Prozeß, nicht ohne Natur. Die Frage ist nur, ob das Phänomen der Hoffnung im ganzen für einen materialistischen Ansatz spricht. Plügges Untersuchungen der Hoffnung Schwerkranker, die sich nicht nur von der Zeitbindung, sondern auch von der Materieverhaftung weitgehend lösen, weisen in eine andere Richtung.

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Hoffnung II

Damit stellt sich abschließend die Frage, ob es nicht zur Hoffnung im eigentlichen Sinne einer nur im Selbst zu leistenden Zentrierung und qualitativen Transformation bedarf und damit auch einer Theorie des Selbst, soll der materielle, geschichtlich-gesellschaftliche Rahmen menschlicher Entwicklung nicht in sich kurzschlüssig bleiben. Blochs Alternative: Materie oder Herrengott, erweist sich an dieser Stelle als unzureichend und führt nicht heraus aus der Aporie. Existenzphilosophie und Gesellschaftstheorie, des weiteren Anthropologie und Ontologie bedürfen in diesem Sinne einer sehr viel engeren Verzahnung, als sie bisher in ersten Ansätzen zu leisten versucht worden ist. Literatur Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1954-59), GA V Frankfurt 1962-1977. - Ders., Geist der Utopie (1918), GA III u. XVI. - Ders., Logikum/Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins (1961), GA XIII. - Ders., Experimentum Mundi (1975), GA XV. - Otto Friedrich Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a.M. 3 1956. - Ders., Neue Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des Existentalismus, Stuttgart 2 1955. - Ders., Die wissende Hoffnung bei Ernst Bloch: ders., Das Verhältnis zur Zeit, Heidelberg o. J. - Alois Edmaier, Horizonte der Hoffnung, Regensburg 1968. Helmut Fahrenbach, Wesen u. Sinn der Hoffnung, Diss. Heidelberg 1956. - Victor von Gebsattel, Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, Berlin 1954. - Ferdinand Kerstiens, Die Hoffnung — Struktur des Glaubens, Mainz 1969. - Heinz Kimmerle, Die Zukunftsbedeutung der Hoffnung. Auseinandersetzung mit Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung" aus phil. u. theol. Sicht, Bonn 1966 2 1974. - Hans Georg Link, Art. Hoffnung: HWP 3 (1974) 1157-1166. - Gabriel Marcel, Etre et avoir, Paris 1935; dt.: Paderborn 1954. — Ders., Entwurf einer Phänomenologie u. einer Metaphysik der Hoffnung (1942) = Phil, der Hoffnung, München 1957. - Ders., Homo Viator, Paris 1944; dt. Düsseldorf 1949. - Wolf-Dieter Marsch, Hoffen worauf? Auseinandersetzung mit E. Bloch, Hamburg 1963. Eugène Minkowski, Le temps vécu, Paris 1933; dt.: Die gelebte Zeit, Salzburg 1971. — Josef Pieper, Über die Hoffnung, München 1949 6 1961.-Ders., Hoffnung u. Gesch. Fünf Salzburger Vorlesungen, München 1967. -Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen u. der Mensch (1928): Ges. Sehr. IV, Frankfurt a.M. 1981. - Ders., Conditio humana. Ges. Sehr. VIII. - Herbert Plügge, Pascals Begriff des „Ennui" u. seine Bedeutung für eine medizinische Anthropologie: ders., Wohlbefinden u. Mißbefinden, Tübingen 1962,1 - 1 6 . - Ders., Über die Hoffnung: Wohlbefinden u. Mißbefinden, Tübingen 1962, 38-50. - Rainer Traub, Harald Wieser (Hg.), Gespräche mit Ernst Bloch, Frankfurt 1975. Richard Schaeffler, Was dürfen wir hoffen? Die kath. Theol. der Hoffnung zwischen Blochs utopischem Denken u. der reformatorischen Rechtfertigungslehre, Darmstadt 1979. Friedrich Kümmel

II. Neues Testament 1. Vorkommen und Verteilung im Neuen Testament 2. Alltagssprache 3. Die theologische Prägung des Begriffs 3.1. Auferstehungshoffnung 3.2. Gegenwartsrelevanz der Hoffnung 3.3. Der Grund der Hoffnung 3.4. Die Reinheit der Hoffnung (Literatur S. 490)

1. Vorkommen und Verteilung im Neuen Testament Die Wortgruppe ikniç/êXnlÇù) (zu möglichen Synonymen, die hier unberücksichtigt bleiben, vgl. Nebe 24-29) findet sich selten in den Synoptikern (lmal Mt,3mal Lk) und Joh (lmal), während sie in Act etwas häufiger ist (10 Belege). Ihren quantitativen Schwerpunkt hat die Wortgruppe bei Paulus, wo annähernd die Hälfte aller neutestamentlichen Belege stehen. Dies läßt auch in qualitativer Hinsicht Erwartungen aufkommen. Die Verteilung auf Substantiv und Verb ist in den paulinischen Briefen einigermaßen ausgeglichen; eine deutliche Verschiebung in Richtung Substantiv ist bei den nachpaulinischen und übrigen Schriften des Neuen Testaments festzustellen. In dieser Verschiebung zeigt sich möglicherweise eine gewisse Tendenz weg vom Akt des Hoffens zum Status der Hoffnung bzw. zum Hoffnungsgut. Die Wortgruppe fehlt in den folgenden Schriften: Mk; IITim; IlPetr; Jud; Apk(!). 2.

Alltagssprache

Da die Hoffnung mit dem menschlichen Dasein selbst gegeben ist, verwundert es nicht, daß das Wort alltagssprachlich häufig vorkommt. 2.1. In diesem Sinne bedeutet es den Zukunftsbezug des Menschen, sofern er etwas für sich erwartet, ersehnt, wünscht (die ursprünglich ambivalente Bedeutung Hoffen/Fürchten ist schon in der Gräzität und erst recht in der Septuaginta zugunsten der Erwartung des Guten aufgegeben worden). Die alltägliche Bedeutung kommt, wenn auch selten, im Neuen Testament vor: einerseits im Sinne von Erwartung, die nach menschlichem Ermessen gerechtfertigt ist (Lk 6,34; Act 16,19;

Hoffnung II

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24,26; 27,20; I Kor 9,10; II Kor 8,5: hier in einer Metapher, die die Berechtigung der Erwartung zum Ausdruck bringen soll). Wichtig an diesem Sprachgebrauch ist, daß die Hoffnung elementar darauf beruht, was erfahrungsgemäß verläßlich ist. Andererseits findet sich die Wortgruppe auch im Z u sammenhang mit Reiseplänen (des Paulus in I Kor 16,7; Phil 2,19; 2,23; Phlm 22; anderer in I T i m 3,14; II Joh 12; III Joh 14). Hier steht der Aspekt des Wunsches stärker im Vordergrund. Dieselbe Bedeutungsnuance steht auch in der Hoffnung des Paulus gegenüber seiner Gemeinde in Korinth an erster Stelle (II Kor 1,13: vollkommenes Verständnis; 5,11: im Gewissen der Korinther offenbar sein; 10,15: Wertschätzung durch die Korinther; 13,6: Erkenntnis, daß Paulus nicht „unecht" sei).

2.2. Zweifellos liegt der Hauptbeitrag des Neuen Testaments in der theologischen Prägung des Hoffnungsbegriffs und nicht im Alltagssprachlichen. Dennoch lassen sich gewisse Rückwirkungen vom Bereich des Theologischen in den des Alltäglichen namhaft machen: Auch in alltäglichen Nöten findet die Hoffnung auf Errettung ihre Berechtigung nicht in dem, was nach menschlichem Ermessen zu erwarten oder zu wünschen ist, sondern in dem Gott, der Tote auferweckt (II Kor 1,10) bzw. in dem (christologischen) Zusammenhang von jetzigem Leiden und kommendem Trost (II Kor 1,7). Die Hoffnung des Paulus, in nichts zuschanden zu werden, bezieht sich zwar zunächst auf die Befreiung aus dem Leiden, beruht jedoch nicht auf menschlicher Berechnung, sondern auf der Gewißheit des Glaubens (Phil 1,20: hier ist der Aspekt des Alltäglichen mit dem Eschatologischen verschränkt). In ähnlicher Weise wird auch die Hoffnung, Timotheus nach Philippi zu senden, durch ein ¿v Kopiq) präzisiert (Phil 2,19). In den hier genannten Rückwirkungen auf die Alltagssprache dokumentiert sich der Lebensbezug der christlichen Hoffnung. 3. Die theologische

Prägung des

Hoffnungsbegriffs

Die weitaus überwiegende Zahl der neutestamentlichen Belege zeugen vom Gottesbezug der Hoffnung und gehen über das Alltägliche weit hinaus. 3.1. Auferstehungshoffnung. Sie dürfte das Zentrum der christlichcn Hoffnung ausmachen. Lukas stellt in Act einen Zusammenhang zwischen der Auferstehungshoffnung und der Hoffnung des Zwölfstämmevolkes (Act 26,7) bzw. der Hoffnung auf die Verheißung der Väter (Act 26,6 f) her. Damit dürfte der Übergang von der Messiaserwartung (wie sie noch M t 12,21 in einem Gotteskncchtszitat erscheint) zur Auferweckungshoffnung recht gut getroffen sein. Diese lebt ihrerseits von der Auferweckung Jesu. Deshalb ruht auch die aápS, Jesu auf die Hoffnung hin, daß Gott ihn nicht dem Tode überläßt (Act 2,26 in einem auf Jesus angewendeten Psalmzitat). Und weil die weltliche Erscheinung Jesu nicht dem Tode überlassen blieb, gibt es für den Menschen eine Hoffnung auf die Auferweckung (Act 23,6, zum Zusammenhang mit Jesus vgl. Act 4,1 f) oder auf Gott, der Gerechte und Ungerechte auferwecken wird (Act 24,15). In dieser Auferweckungshoffnung kommt zum Ausdruck, d a ß das Ende der menschlichen Möglichkeiten nicht zugleich das Ende der Möglichkeiten Gottes darstellt. So erscheint die Hoffnung auch bei Paulus (nicht nur für dieses Leben gilt die Hoffnung, sondern für das Leben nach dem Tode, vgl. I Kor 15,19; Rom 5 , 2 - 5 . 9 - 1 1 ) , in den -»Pastoralbriefen (als Hoffnung auf das ewige Leben, Tit 1,2; 3,7) und im -»Hebräerbrief (als Hoffnung auf die eschatologische Treue Gottes, vgl. 7,19). Generell läßt sich feststellen, daß die neutestamentliche Hoffnung sich auf die eschatologische Errettung richtet (-»Eschatologie), welche in der Auferweckung zu einem Sein mit Gott ihren klarsten Ausdruck findet. Interessant ist, daß über die Hoffnung eine Brücke von der Auferweckung zum Gerechtigkeitsthema führt: Nach Gal 5,5 erwarten die Christen die „Hoffnung auf Gerechtigkeit", d.h. die endgültige Verwirklichung der jetzt erhofften -»Gerechtigkeit. An dieser (bei Paulus ungewöhnlichen, -»Rechtfertigung) Stelle erscheint die eschatologische Gerechtigkeit als gegenwärtig im M o d u s der Hoffnung. Immerhin erscheint derselbe Zusammenhang von Totenauferweckung und Gerechtigkeitsthema auch in Rom 4 (vgl. bes. 4,17) und - sachlich - auch im Zusammenhang von ölKauoOrjvax (Aorist) und acodrjffeaöat (Futur) in Rom 5,9.

486

Hoffnung II

3.2. Die Gegenwartsrelevanz der Hoffnung. Der grundsätzliche Z u s a m m e n h a n g zwischen Gegenwart und Z u k u n f t , wie er in der H o f f n u n g festgehalten wird, wird schon in den M e t a p h e r n I Kor 9,10 ausdrücklich bestätigt. Die H o f f n u n g veranlaßt den Menschen, jetzt zu pflügen. Diese Gegenwartsrelevanz des Hoffens wird neutestamentlich auf ganz vielfältige Weise und mit großem N a c h d r u c k herausgestellt. Z u n ä c h s t ist erkennbar, d a ß die H o f f n u n g f ü r ein neues Welt- u n d Zeitverständnis sorgt. Diesem wird in den Briefen des Paulus besonders große Aufmerksamkeit geschenkt. Wer seine Selbstgewißheit nicht auf seine eigenen Möglichkeiten, sondern auf die H o f f n u n g setzt, d a ß die Herrlichkeit Gottes auch künftig maßgebend sein wird, der wird veranlaßt, geradezu auf jetzige Bedrängnisse abzustellen (vgl. R o m 5,2 f). Dies wiederum f ü h r t zu Geduld, zum Ausharren in den konkreten Situationen des Menschseins. Und weil Geduld zu Bewährung f ü h r t , schließt sich der Kreis zur H o f f n u n g hin, die von Bewährung gespeist wird (5,4). Die H o f f n u n g erzeugt Geduld und verhindert damit ein Aussteigen aus den Bedrängnissen (vgl. R o m 8,25; I Thess 1,3) oder eine Flucht in ein illusionäres Zeitverständnis (vgl. I Kor 13,7). Wenn es Sache der Liebe ist, alles zu erhoffen, so befindet sich diese H o f f n u n g in schroffem Gegensatz zum korinthischen Enthusiasmus, welcher sich schon im Erhofften w ä h n t . Gerade die H o f f n u n g auf endgültige Rettung versagt sich der Weltflucht, sei es in der Gestalt der Illusion, sei es in Gestalt der gewaltsamen Veränderung. Der Weltbezug bzw. die Eingelassenheit des Menschen in das Jetzt wird also wesentlich konstituiert durch die H o f f n u n g , welche sich über das Weltliche hinauswagt und zum Ende der Zeit blickt. D e m guten Ende, das erhofft wird, enspricht denn auch die gegenwärtige Freude, welche im Horizont der christlichen H o f f n u n g angebracht ist (Rom 12,12: im R a u m der H o f f n u n g freuet euch; auch hier folgt unmittelbar die Geduld). Schließlich ermöglicht die H o f f n u n g d a r a u f , d a ß der N e u e Bund, das Bleibende, in Herrlichkeit sein wird, eine völlige Offenheit (napptjaia) des Apostels (im Unterschied zum Verhalten des Mose, welcher sein Antlitz mit einer Decke verhüllte, II Kor 3,11 f)- Die Freimütigkeit wird erzeugt von der H o f f n u n g , in welcher das gute Ende des Neuen Bundes gegenwärtig wird. Das neue Welt- und Zeitverständnis wird charakterisiert dadurch, d a ß die Gegenwart von dem Phänomen des Hoffens geprägt ist. Die Rettung hat im Christusgeschehen einen Vergangenheitsaspekt gewonnen, so d a ß sie nicht mehr rein futurisch zu begreifen ist (Rom 8,24). Sie ist jedoch gegenwärtig im M o d u s der H o f f n u n g (ry ekniöi ebd.), und zwar einer H o f f n u n g , die sich nicht auf das Vorfindliche stützt und sich so auf das Weltliche beschränkt. Die Gegenwart ist von H o f f n u n g erfüllt, auch die Gegenwart der Schöpfung, die der Nichtigkeit unterworfen ist-Die Nichtigkeit wird darin konkret, d a ß die Schöpfung etwas anderes sein soll als sie ist (vgl. R o m 1,23ff), und das läuft auf Verfall und Verderben hinaus. In dieser - durch den Fall A d a m s provozierten - Nichtigkeit ist ihr dennoch die H o f f n u n g geblieben, die H o f f n u n g auf das, was sie als Geschöpf Gottes sein könnte, bzw. die H o f f n u n g , die Menschen w ü r d e n als Söhne Gottes offenbar statt als seine Gegenspieler (Rom 8,20). D a r a u s folgt: Die Gegenwart ist von H o f f n u n g geprägt, sowohl objektiv (wie im Fall der Schöpfung) als auch existenziell (wie im Fall der Geretteten). Dazu paßt, d a ß d a s P h ä n o m e n des Hoffens sich erstreckt bis ins Gericht, das der Weltzeit ein Ende setzen wird (I Thess 2,19): Von jetzt an bis hin zum Gericht geschieht H o f f n u n g , erst in der auf das Gericht folgenden neuen Zeit tritt das Erhoffte an ihre Stelle. In eine ähnliche Richtung weist auch die Trias in I Kor 13,13: Dort werden Glaube, Liebe und H o f f n u n g als die Bleibenden bezeichnet, w ä h r e n d zugleich die Liebe die größte ist. Die Liebe—in Christus verkörpert — ist das, w o r a n der Glaube glaubt, und das, worauf die H o f f n u n g hofft. Glaube und H o f f n u n g sind insofern von eschatologischer Relevanz, als sie unmittelbar auf das Endgültige bezogen sind. Zugleich ist aber die Liebe die größte, weil an die Stelle des Glaubens d a s Schauen treten wird (vgl. II Kor 5,7) und an die Stelle des Hoffens das Erhoffte selbst. Ähnliches wird im Hebräerbrief mit Blick auf den Glauben gesagt: Die moxiZohar ist fast ebenso ein „Kommentar" zu Cant wie zur Tora (Bonsirven RSR 24 [1934] 37): Er deutet Cant sowohl geschichtlich-allegorisch wie theosophisch-allegorisch, legt aber auf letzteres das Schwergewicht (vgl. etwa 1244 b - 2 4 5 b bei Vajda, Amour 223 -227). Ein verbreiteter kabbalistischer Cant-Kommentar ist der des Zohar hzdas (fol.60b-75a), dem Hauptwerk gewöhnlich beigedruckt. Der extremen „Spiritualisierung" des Schriftworts von Cant in der Kabbala (nicht nur des Mittelalters) entspricht konsequent eine intensivierte Erotik der Bilder. — Die theosophisch-allegorische Cant-Auslegung setzt sich im 16. Jh. in der Kabbala von Zefat (Safed) fort - vgl. dazu den Kommentar des Salomo ben Mose Alqabetz, des Dichters von Lecba dodi — und reicht über den —»Chasidistnus - vgl. etwa die bezeichnende Umdeutung alter Auslegung von Cant 3,3 f durch Jakob Josef von Polnoe (2. Hälfte 18. Jh.) auf Zaddik und Chasidim - in die Gegenwart hinein.

3. Philosophisch-allegorische

Auslegung

In dem Maß, in dem griechische, vor allem aristotelische Philosophie für das jüdische Denken des Mittelalters bestimmend wird, bestimmt sie zunehmend auch die Cant-Exegese, wobei die Grundbewegung der Liebe von Cant auf die Beziehung zwischen göttlichem und menschlichem Intellekt gedeutet wird. Die Werke dieser Richtung müssen vielgestaltig vorgestellt werden, da zum philosophischen Moment ein mystisches treten kann, da die Philosophie hier neben bzw. vor der Metaphysik auch „Mathematik" und „Physik" umfaßt, da die geschichtliche, aber auch die theosophische Cant-Allegorese mit aufgenommen werden kann, und da überdies oft wertvolle Beobachtungen zum Wortsinn des Textes vorausgeschickt werden. Wichtigste Kommentatoren: Josef (ben Jehuda ben Jakob) ibn 'Aknin (ca. 1150-1220; Halkin: nicht Schüler des -»Mose ben Maimon); nach ihm entsprechen drei Deutungsarten von Cant dem dreifach gestuften Wesen des Menschen, die höchste dem Intellekt. - Mose (ben Samuel) ibn Tibbon (2. Hälfte 13. Jh.): Die drei salomonischen Bücher entsprechen den drei Poesiegattungen des Organon; Cant ist Zeugnis für die Unsterblichkeitslehre. — Isaak (ben Salomo) ibn Sahula: In seinem gegen 1284 verfaßten Kommentar überwiegt die philosophische vor der theosophischen Allegorese (nach Vajda, Amour 233 - 2 3 6 ; gegen Salfeld 106ff). - Immanuel ben Salomo aus Rom (Ende 13./Anfang 14. Jh.): Kommentar als Kompilation wichtig; Cant zeigt in seiner Abfolge den zeitlich gestuften Übergang der menschlichen Seele von der Mathematik zur Physik und von da zur Metaphysik. — Schemarja aus Kreta übersandte seinen Kommentar (zu diesem Vajda, Amour 243-247) 1328 an Robert v. Sizilien; darin Deutung von Cant einmal auf Salomos Seele, dann auf die menschliche überhaupt; deren doppelte Mission: erkennende Schau der göttlichen Weisheit und deren Verbreitung. - Levi ben Gerson (1. Hälfte 14. Jh.) schöpft stark aus hebr. Aristoteles-Übersetzung. — Josef Kaspi (Anfang 14. Jh.): rein philosophisch, Maimonides folgend. - Abraham ben Isaak ha-Levi „Tamakh" (Ende 14. Jh.): geschichtlich-allegorisch, drei Stadien der Heilsgeschichte umfassend, und philosophisch-allegorisch, nach dem Prinzip, daß manche Cant-Stellen nur Literalsinn, manche nur verborgenen Sinn, manche beides haben. — Weitere Komm, bei Salfeld 97ff. 122ff; Ifrah. Unter ihnen nimmt derjenige des Jochanan (ben Isaak) Alemano (15. Jh., Lehrer des -»Pico della Mirandola) eine Sonderstellung ein, da er von einem Piatonismus (freilich de troisième main: Vajda) mit geprägt ist, von dem her die Liebe zwischen Gott und Mensch im Sinn gegenseitiger Anziehung in den Mittelpunkt rückt (Vajda, Amour 280-285). Er soll auf die Dialoghi di amore des Jehuda ben Isaak Abrabanel („Leone Ebreo", ca. 1460-1535) eingewirkt haben, die aus dem spezifisch jüdischen Raum in den allgemeinen Renaissance-Platonismus hinausführen (Pflaum).

4. Historisch-kritische

Auslegung und ihre Grenze

Schon die rabbinische Cant-Exegese hat in gewisser Weise den einfachen Wortsinn nie aufgegeben (Loewe), und es können in der rabbinischen Literatur selten, aber doch immerhin Cant-Stellen unbefangen profan gedeutet werden (vgl. ShirR IV 3,12f,16; Ber 24 a; Ket 75 a; Nid 31 b). Im Mittelalter hatten sich vereinzelt rein profan-erotische Gesamtdeutungen von Cant gefunden (Salfeld 52 Anm. 6.124); vielleicht hat sich in dem von Hübsch herausgegebenen anonymen Kommentar (Salfeld 52-56; das Prager Manuskript, wenn noch vorhanden, wäre neu zu prüfen) ein Beispiel dafür erhalten.

Hoheslied II

506

Das jüdische Mittelalter endete, wie weithin, so auch in der C a n t - D e u t u n g erst mit d e m 18. J h . : M i t dem Eindringen von Aufklärung und R o m a n t i k beginnt sich auch hier das Verständnis des Buches als einer Sammlung rein profaner Liebeslieder durchzusetzen. Die Cant-Übersetzung von Moses -•Mendelssohn von 1788 mit ihrem Kommentar durch seine Mithelfer, der nur den Wortsinn wiedergibt (aufschlußreich das vermittelnde Vorwort), tut den entscheidenden Schritt. Die m. W. erste jüdische Schrift, die danach den Spuren von J . F. Jacobi und J . G . Herder (s.u. S. 512) entschlossen folgt und Cant alseine Sammlung von profanen Liebesliedern erklärt, ist immerhin erst 1816 erschienen; ihr Autor: Salomon Löwisohn (1788-1821); ihrer Richtung folgen dann die einflußreichen Kommentare der Rabbiner Salomon Herxheimer (1848) und Ludwig Philippson (1854) (Ginsburg 59). Die Aufteilung von Cant in der 1834 ersch. Schrift von Aron Rebenstein ( = Bernstein, 1812-1884) fand keine Zustimmung; das Büchlein ist aber durch seine entschieden „moderne" Einstellung und vor allem durch die Vorrede von Leopold Zunz (1794-1886) bemerkenswert: Zunz läßt darin, von der Romantik beeinflußt, die traditionelle Allegorese von Cant in allen ihren geschichtlichen Ausformungen als ein bedeutendes Denkmal der jüdischen Geistesgeschichte gelten und ruft zu ihrer Erforschung auf - ein Programm, das bis heute nur bruchstückhaft erfüllt ist. Der erste jüdische Cant-Kommentar, der historisch-kritisch im strengeren Sinn vorgeht, ist der 1871 erschienene von Heinrich —»Graetz; nach ihm ist das Verhältnis der Liebenden in Cant auf einem „ethischen Hintergrund" zu sehen, wobei Graetz der Prüderie des 19. Jh. seinen Tribut zollt (vgl. zu Cant 4,12), freilich in Abwehr eines Renan. Zunehmend mündet nun die jüdische CantAuslegung in die allgemeine historisch-kritische Exegese des Alten Testaments ein; die Arbeiten bedeutender Gelehrter wie Krauss oder Cassuto zwischen den Kriegen und die Kommentare etwa von Gebhardt und Gordis sind Beispiele dafür. Daneben steht eine Exegese, die nach wie vor den geschichtlich-allegorischen (Chouraqui) oder gar den theosophisch-allegorischen (Grad) Sinn für maßgebend hält, nachdem sich schon Vulliaud 1925 von anderer Seite her vehement und geistvoll, aber einseitig für die traditionelle jüdische Deutung von Cant eingesetzt hatte. Es zeigt sich: W i e für die Kirche, so ist es für das J u d e n t u m nicht mehr möglich, den ursprünglichen, „ p r o f a n e n " Sinn von C a n t zu ignorieren; man wird ihn vielmehr mit allen historisch-kritischen Methoden, aber auch mit dem Wissen um deren Grenze, zu erheben suchen. G e r a d e dann aber, wenn die Liebesbeziehung von M a n n und Frau in C a n t in all ihren Dimensionen erhellt ist, wird für gläubiges Denken auf dem Hintergrund der gesamten Schrift, in der die Liebesbeziehung zwischen G o t t und M e n s c h bzw. zwischen G o t t und seinem Volk so oft im Bild der Beziehung zwischen M a n n und F r a u gesehen wird, auch das Geschehen in C a n t auf jenes andere Liebesgeschehen verweisen, ja von ihm her seinen letzten Sinn erhalten (so u. a. Gerson D. C o h e n ) . Die Liebe von C a n t in ihrer je gegenwärtigen und im Tod sich abschließend offenbarenden Endlichkeit verweist als solche auf eine andere, unendliche Liebe, in der sie aufgehoben ist. Diesen Weg der Cant-Deutung hat F r a n z - » R o s e n z w e i g aus den Erschütterungen des 1. Weltkriegs heraus entschlossen beschritten. Quellen

und

Übersetzungen

Zu 1.2. (Midraschim): Vollst. Angaben bei (Herrmann Ludwig Strack/) Günter Stemberger, Einl. in Talmud u. Midrasch, München 7 1982, 289f.292f (hier zu dem v. E. Grünhut 1897 hg. Midrasch u. zu den v. Jacob Mann hg. Fragmenten). 315 (zu Yalq). Zu 1.3. (Targum): Angaben -»Bibelübersetzungen II. (Schäfer) zu 8.3.1.; dazu Wilhelm Riedel, Die älteste Auslegung des Hohenliedes, Naumburg 1898, 9 - 4 1 (dt. Übers.). - Etan Levine, The Targum of the Five Megilloth. Codex Vaticanus Urbinates Ebr. 1, Jerusalem 1977 (enthält Faks. u. engl. Übers.). Zu 2. u. 3. (Ma. Komm., soweit in modernen Ausg. vorliegend): R . Abraham ben Isaac ha-Levi Tamakh, Commentary on the Song of Songs, hg. v. Leon A. Feldman, Assen 1970. - Abraham Ibn Ezra, Commentary on the Canticle..., hg. v. H . J . Matthews, London 1874 (Nachdr. Jerusalem 1967) (2. Rez. des Komm.). - Das Buch B a h i r . . . , hg. v. Gerhard Scholem, Leipzig 1923 (verbesserter Nachdr. Darmstadt 1970). - The Writings of R. Moshe b. Nachman..., hg. v. Charles B. Chavel, Jerusalem 1964 (der hier veröff. Cant-Komm. gehört Esra v. Gerona an). - Georges Vajda, Le commentaire d'Ezra de Gerone sur le Cantique des Cantiques. Traduction et notes annexes, Paris 1969. - Der Kommentar des Immanuel ben Salomon zum Hohenliede, hg. v. Seligmann Bär Eschwege, Frankfurt/M. 1908 (umfaßt nur Wort- u. Sacherklärung, nicht die allegorische Deutung). - Rabbi Yapheth ( = Jefet) Abou A l y . . . in Cant. Canticorum comm. arab. . . . ed. atque in linguam lat.

Hoheslied II

507

transtulit J. J. L. Barges, Paris 1884. - Josephi b. Judah b. Jacob ibn 'Aknin Divulgatio mysteriorum luminumque apparentia, Comm. in Cant. Canticorum. Textum arab. emcndavit versione hebraica et notis instruxit Abraham Schelomoh Halkin, Jerusalem 1964 (vgl. dazu Georges Vajda: REJ 124 [1965] 185-199). - Josef Qaffih, Hamei m'gillot, Jerusalem 1962 (enthält u. a. den Saadja ben Josef zugeschr. Cant-Komm. in hebr. Übers., den Cant-Komm. Schemarjas aus Kreta u. den des Arztes Sacharja ben Salomo, 13. Jh.). - A. Marx, Die Saadjanische Übers, des Hohen Liedes in's Arab., 1882 (nicht vollständig). - Commentar zu Kohelet und dem Hohen Liede v. R. Samuel ben Meïr.., hg. v. Adolph Jellinek, Leipzig 1855 (fehlerhaft ed.: Salters, s.u., 252). - (Salomo ben Isaak:) Perus rasi 'al sir has-sirim 'al pi kitbe jad ud'fusim j'sertim... me'et prof. )ebuda Rosental: FS Samuel K. Mirsky, New York 1958, 130-188. - The Commentary of Rabbi Tobia ben Elieser on Canticles, Ed by A.W. Greenup, London 1909 (Nachdr. Jerusalem 1968[?]). - Zohar, Erstdruck Mantua 1558-1560, nach ihm die übliche Paginierung. - Zohar hadas: Ed. R. Margulies, Jerusalem 1953; sonst dem Zohar beigedruckt (vgl. Gershom Scholem, Die jüd. Mystik, Frankfurt/M. 1957, 417 f Anm. 8). Anonyme Cant-Komm. des MA: FS Steinschneider, Leipzig 1896 (Nachdr. 1975), hebr. Teil, 4 9 - 5 9 (Hg. Friedländer). 164-185 (Hg. Mathews). - REJ 53 (1907), 242-254 (Hg. Eppcnstein). - Die fünf Megilloth... mit einem Komm, zum Texte aus einem hs. Pentateuch-Codex der K. Univ.bibliothek zu Prag..., hg. v. Adolf Hübsch, Prag 1866 (Nachdruck o. O. 1976). - Auszüge aus anonymen ma. Komm, bei Salfeld, s.u., 148-166 passim. Zu 4.: Raphael Breuer, Das Lied der Lieder, Frankfurt a.M. 1923. - Max Brod, Heidentum, Christentum, Judentum, München 1921, II 5 - 6 5 . - Joseph Carlebach, Das Hohelied übertragen u. gedeutet, Frankfurt a.M. 1930. - Gerson D. 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508

Hoheslicd III/l

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2. Mittelalter

3. Von der Reformation bis Herder

(Quellen/Literatur S. 512)

Die christliche Auslegung des Cant steht vor demselben Grundproblem wie die jüdische: daß mit dieser Sammlung von Liebesliedern ein Werk in den -»Kanon der heiligen Schrift aufgenommen ist, das in seinem Wortsinn keinen unmittelbar einleuchtenden religiösen Charakter aufweist. Hauptaufgabe jeder Cant-Interpretation vor der Entstehung des historischen Bibelverständnisses ist es deshalb, eine religiöse Deutung des Werks zu begründen. Schon das Judentum (s.o. 11) versuchte diese Aufgabe durch Uberbietung der wörtlichen Auslegung mit Hilfe der Allegorese zu lösen, und die christliche Exegese ist ihr auf diesem Wege gefolgt. Wo die Allegorese abgelehnt und allein das wörtliche Verständnis gepflegt wird, da ist die Kanonizität des Cant regelmäßig in Frage gestellt. Wo man diese Methode aber akzeptiert, da führt sie nicht so sehr zu exegetischen Einsichten, sondern bietet vielmehr Gelegenheit, im Rahmen der jeweils benützten Deuteschemata Überlegungen anzustellen, die zwar dem Ausleger wichtig, dem Text jedoch fremd sind. So hat die Cant-Auslegung bis ins 18. J h . weniger zum Verständnis des Werks als zur Entwicklung von Ekklesiologie und Geschichtstheologie, Mariologie und Mystik beigetragen. 1. Alte

Kirche

D a s Wissen u m den ursprünglichen W o r t l a u t ist nie v e r l o r e n g e g a n g e n , s o n d e r n nur i m m e r wieder v e r d r ä n g t w o r d e n . W ö r t l i c h e Auslegung wird d u r c h a n o n y m e E r w ä h n u n gen im Ketzerlcatalog des Filastrius (c. 1 3 5 [ 1 0 7 ] . 1 5 0 [ 1 2 2 ] = C S E L 3 8 , 1 0 5 . 1 2 3 ; C C h r . S L 9 , 2 9 9 . 3 1 3 ) und A n d e u t u n g e n - » T h e o d o r e t s v o n K y r o s im P r o l o g seines C a n t - K o m m e n tars bezeugt. Als Vertreter dieser D e u t u n g ist uns allein - » T h e o d o r v o n M o p s u e s t i a namentlich b e k a n n t d u r c h die A k t e n des Konzils v o n K o n s t a n t i n o p e l 5 5 3 I V / 1 , 6 8 , 2 0 - 7 0 , 1 3 ) , der C a n t als Tischlied (mensale

carmen)

(ACO

bezeichnet, als häusliches

und hochzeitliches Lied S a l o m o s für G a s t m ä h l e r , d a s V o r w ü r f e gegen seine B r a u t , eine dunkelhäutige Ägypterin, b e a n t w o r t e t . T h e o d o r h a t w a h r s c h e i n l i c h a u c h Konsequenzen aus seiner D e u t u n g gezogen und d a s W e r k aus d e m K a n o n ausgeschieden (vgl. L e o n t i u s v. B y z a n z , P G 8 6 , 1 3 6 5 D ) . N a c h seiner Verurteilung w a r d a s rein w ö r t l i c h e Verständnis für

Hoheslied III/l

509

ein Jahrtausend ausgeschlossen, auch wenn gelegentlich noch warnend auf seine Gefahren hingewiesen wurde (z.B. Mansi 9,452). Das Judentum hat der christlichen Auslegung den Weg der AHegorese vorgezeichnet, indem es auf alttestamentliche Bilder vom Bund Gottes mit seinem Volk als Liebe, Brautschaft und Ehe zurückgriff. Christliche Exegese konnte zudem an paulinische Redeweise (v.a. II Kor 11,2; Eph 5,22-32) anknüpfen. Im ältesten bekannten, allerdings nur fragmentarisch überlieferten Kommentar -»Hippolyts von Rom ist der Ubergang von der jüdischen Deutung (Gott-Israel) zur christlichen (Gott/Christus-Synagoge/Kirche) noch deutlich faßbar. Für alle folgende Auslegung wird dann die Arbeit des -»Origenes wegweisend. In zwei Homilien (zu 1,1-2,14) bestimmt er literarische Gattung (Drama) und Rollenverteilung (Bräutigam-Braut: Christus-Kirche; die beiden Chöre ihres Gefolges: Engel und Gläubige). Wiederholt fordert er den Leser auf, die Rolle der Braut nachzuvollziehen. Von diesem Anstoß zu individueller Deutung geht eine Linie zum Kommentar (zu 1,1-2,15), in dem das ekklesiologische Verständnis neben der Deutung auf die Liebesbeziehung zwischen Christus (dem göttlichen Logos) und der einzelnen Seele zurücktritt. Damit wird die Cant-Auslegung zum Anlaß von Reflexionen auf eine -»Mystik, die sich bei Origenes erstmals als Brautmystik darstellt. Einen neuen Aspekt erschließt -»Methodius von Olympus, wenn er die Braut u.a. auf die gottgeweihte Jungfrau deutet. - Die späteren Cant-Interpreten folgen im weiteren diesen Vorbildern, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung. So vernachlässigt -»Gregor v. Nyssa in seinen weit verbreiteten und einflußreichen 15 Homilien (zu 1,1-6,8) äußere Form und historischen Sinn und konzentriert sich v.a. auf die mystische Deutung. Die weitere griechische CantAuslegung vollzieht sich weniger im Rahmen von Kommentaren als in Katenen. Die abendländische Cant-Interpretation ist weitgehend von der griechischen abhängig. Der älteste Kommentar, von dem wir wissen (Viktorin von Pettau, gest. 304), ist verloren; die früheste erhaltene Deutung in den Homilien Gregors von Elvira (zu 1,1-3,4) ist ganz ekklesiologisch. Der originelle Beitrag des Aponius (sein Komm. ca. 405/15 wohl in Rom verfaßt), der als geborener Jude der jüdischen Exegese viel verdankt und neben der ekklesiologischen und mystischen eine neue Interpretation der bräutlichen Beziehung als Liebe zwischen der Seele Christi und dem Wort Gottes einführt, blieb ohne Wirkung. Die vier großen lateinischen Kirchenlehrer verfaßten keine CantKommentare. Doch leistete -»Ambrosius dadurch einen wichtigen Beitrag zur Auslegungsgeschichte, daß er in seinen Schriften Einzelerklärungen zu fast allen Versen des Cant bietet (vgl. bes. De Isaac velanima: Weg der Seele zum Wort; De obitu Valentiniani: Deutung der Braut auf den früh verstorbenen Kaiser). Besonders zukunftsträchtig sind seine Deutung der Braut auf die geistliche Jungfrau (schon De virg.) und die Darstellung Marias, der Mutter Jesu, als Inbegriff der durch die Braut bezeichneten Kirche bzw. Jungfrau (De inst. virg. 14,87.89). Hier ist keimhaft der dritte große Zweig der Cant-Allegorese angelegt: der mariologische. -»Gregor d . G r . faßt am Ausgang der altkirchlichen Entwicklung im Prooemium seiner beiden Cant-Homilien (zu 1,1-8; der Rest des unter seinem Namen überlieferten Komm, ist ein Werk des Robert v. Tumbalenia aus dem 11. Jh.) noch einmal die Grundpositionen zusammen. Wirkungsmächtiger sind freilich Florilegien und Kommentare, die aus den in seinen Werken verstreuten Äußerungen zusammengestellt werden (Paterius, Beda, Wilhelm von St. Thierry u.a.).

2.

Mittelalter

Die vier Jahrhunderte Cant-Auslegung von Anfang des 8. bis Anfang des 12. Jh. werden durch die überwiegend ekklesiologische Interpretation -»Bedas bestimmt, der in seinem die patristische Tradition zusammenfassenden Kommentar die Deutung der Braut auf die Seele zurückstellt und die mariologische ausdrücklich ablehnt. Nach einer Unterbrechung von Mitte des 9. bis Mitte des 11. Jh. werden erst in der 2. Hälfte des 11. Jh. wieder Cant-Kommentare verfaßt. Robert von Tumbalenia (gest. ca. 1090) und (von ihm abhängig) Johannes von M a n t u a (gest. ca. 1083) verbinden asketisch-kontemplative Tendenz und kirchenpolitisches Engagement auf Seiten -»Gregors VII. Um 1065 kombiniert Abt Williram von Ebersberg in seinem Kommentar eine lateinische Erklärung in Hexametern mit einer Paraphrase in deutsch-lateinischer Mischprosa - der ersten volkssprachlichen Caiu-Erklärung. Im 12. Jh., der hohen Zeit mittelalterlicher Cant-Auslegung, wer-

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den die Wege der weiteren Entwicklung vorgezeichnet. Die ekklesiologische Deutung herrscht v.a. an den Kathedralschulen (-»Anselm von Laon, -»Glossa ordinaria, Pariser Magistri) und seit dem 13. Jh. an den neu entstehenden Universitäten (zahlreiche, meist nur handschriftlich überlieferte Kommentare), wo sich mit der Deutung auch massive Kirchenkritik verbinden kann (so im höchst originellen Kommentar Wilhelms von Auvergne [hsl.], übernommen von der viel gelesenen Postille Hugos von St.Cher, oder bei Odo von Chariton [hsl.]). -»Aegidius von Rom (Komm. 1285/91) versteht unter der ecclesia erstmals ihre Amtsträger (praelati). In der monastischen Auslegung wird die ekklesiologische Deutung ergänzt, überboten und gelegentlich sogar verdrängt durch andere Sichtweisen. 1) Unter dem Einfluß östlicher Theologie (Origenes, Gregor von Nyssa, teilweise Ps.-Dionys u. a.) lebt die mystische Erklärung insbesondere im Zisterzienserorden wieder auf. So schreibt -»Wilhelm von St. Thierry (neben Sammlungen aus Ambrosius und Gregor d. Gr.) 1135/38 einen rein mystischen Kommentar (zu 1,1-3,3), und -»Bernhard von Clairvaux führt in seinen 1135-1153 verfaßten 86 Cant-Predigten (zu 1,1-3,1) die mystische neben der nicht aufgegebenen ekklesiologischen Auslegung auf eine nie wieder erreichte Höhe. Eine Reihe zisterziensischer Kommentare schließt sich an: teils Fortsetzungen Bernhards (Gilbert von Hoyland [gest. 1172]: 48 Pred. zu 3,1 -5,10; Johannes von Ford [gest. 1220]: 120 Pred. zu 5,8-8,14), teils selbständige Werke, wie der umfassende Kommentar des Thomas Cisterciensis von 1170/89, eine von scholastischen Distinktionen überwucherte, gelehrte Sammlung des bisher Erarbeiteten, in der die mystische Linie zurücktritt. Im 13. Jh. wird die mystische Deutung v. a. durch den Augustinerchorherrn Thomas Gallus (von Vercelli, gest. 1246) und den Franziskanerspiritualen Petrus Johannis -»Olivi (gest. 1298), im Spätmittelalter v. a. durch Johannes -»Gerson (gest. 1429) fortgesetzt. Aber wichtiger als gelehrte Kommentierung ist seit dem 12. Jh. die breite Wirkung des Cant und seiner Auslegung auf die Ausbildung einer Brautmystik. Der unbekannte Verfasser des um 1160 entstandenen St. Trudperter Hohenlieds interpretiert den Text für eine Gemeinschaft von Nonnen. Auf den weitverzweigten Einfluß mystischer Cant-Dcutung auf Frömmigkeit und Literatur religiöser Frauen kann hier nur pauschal hingewiesen werden; auch der Einfluß auf die Liebesauffassung und -dichtung führt von der Auslegungs- in die Wirkungsgeschichte hinein. 2) Aus zwei Wurzeln - der ekklesiologischen Deutung und Einflüssen der Marienliturgie — erwächst im 12. Jh. die durchgehend mariologischc Kommentierung durch den Benediktiner -»Rupert von Deutz (gest. 1129), -»Honorius Augustodunensis (Sigillum b. Mariae neben einem konservativen, konsequent den vierfachen Schriftsinn eruierenden Kommentar), den Prämonstratenser Philipp von Harvengt (verfaßt vor 1153), den Augustinerchorherrn Wilhelm von Newburgh (Guilelmus Parvus, verfaßt bald nach 1160) u. a. Dagegen fehlt diese Deutung unter Bernhards Einfluß bei den Zisterziensern weitgehend (Ausnahme: —»Alanus ab Insulis, gest. 1202). Seit dem 14. Jh. verläuft die Cant-Erklärung mit wenigen Ausnahmen in den gebahnten Gleisen. So beschreibt —»Nikolaus von Lyra OFM (gest. 1349), der in besonderem Maße auch die jüdische Exegese heranzieht, die Braut als Kirche des Alten und Neuen Bundes und sieht in Cant 1 - 6 die Geschichte Israels, in 7 - 8 die der christlichen Kirche bis auf Konstantin d. Gr. dargestellt. Jacobus Perez von Valencia OESA (gest. 1490) unterscheidet einen parabolisch-historischen Sinn, der auf das ganze Alte Testament verweist, und einen prophetischen, der die Kirchengeschichte bis Konstantin vorhersagt. Den Ertrag der mittelalterlichen Cant-Auslegung fassen in der 2. Hälfte des 15. Jh. die Kartäuser Nikolaus Kempf von Straßburg und —»Dionysius der Kartäuser in Kommentaren zusammen, die alle drei traditionellen Deutungen berücksichtigen. 3. Von der Reformation

bis Herder

Nach einer langen Periode ausschließlich allegorischer Auslegung wagen es humanistische Gelehrte, wieder den Wortsinn in den Mittelpunkt zu rücken, ernten aber nur Widerspruch. So lehnt -»Luther (WA 31/2,589) die Deutung als canticum amatorium

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durch -»Erasmus (Hyperaspistes 1, Opp. ed. Clericus, 10, 1706, 1333) ab. Sebastian —»Castellio zieht sich mit seiner Auslegung des Cant als rein erotische Dichtung und mit seiner Kritik an der Kanonizität des Werks den Zorn Calvins zu und muß u. a. deshalb Genf verlassen (vgl. Calvins Bericht CR 39,675). Der spanische Augustinereremit Luis de Leon wird 1572 für fünf Jahre von der Inquisition gefangengesetzt - u. a. weil er es wagt, Cant als Epithalamium Salomos und der Tochter Pharaos zu deuten und überdies eine kastilische Übersetzung des Werks aus der Hand zu geben. In der lateinischen Fassung seines Kommentars ergänzt und entschärft er später die wörtliche Auslegung durch kapitelweise Interpretation nach drei Sinnschichten (wörtlich, mystisch, ekklesiologisch). Trotz solcher vereinzelter Ansätze zu historischem Verständnis herrscht die Allegorese des Cant noch bis ins 18. Jh. Das versteht sich ohne weiteres für die katholische Auslegung. Sie pflegt weiterhin alle drei Zweige des allegorischen Verständnisses, wobei die selbständige Umsetzung des Cant in der spanischen Mystik besondere Beachtung verdient (vgl. -»Teresa von Avila, Meditaciones sobre los Cantares, über einzelne Verse, oder die freie Nachdichtung durch -»Johannes vom Kreuz im Cäntico espiritual). Aber auch im Protestantismus behauptet sich das Streben nach einem tieferen Sinn noch lange, bringt freilich manche neue Lösung hervor. So versteht Luther in seiner Cant-Vorlesung 1530/31 das Werk als ein politisches Buch: als Danklied, das Salomo im Blick auf seine eigene, durch Frieden gesegnete Regierung verfaßt hat (Praef. WA 31/2,586). In der 1539 durch Veit Dietrich veröffentlichten und von Luther gebilligten Druckfassung ist es charakterisiert als Encomion politiae, quae temporibus Salomonis in pulcherrima pace flornit (591,23f). Luthers konkret-politische Deutung, von Johannes -»Brenz aufgenommen (vgl. Argumenta et Sacrae Scripturae Summa, 1544), scheint wenig Widerhall gefunden zu haben. -»Calvin, der keinen Kommentar zu Cant verfaßt hat, schließt sich in der Erklärung des 45. Psalms der ekklcsiologischen Deutung an (vgl. CR 59,449.453 u. 39,676), die auch Theodor -»Beza in seinen Cant-Predigten 1586, dem ersten Cant-Kommentar von reformierter Seite, überwiegend vertritt. Die mystische Deutung wird vor allem unter dem Einfluß Bernhards von Clairvaux sowohl in der altprotestantischen -»Orthodoxie als auch im -»Pietismus gepflegt. Eine extreme Position nimmt dabei Gottfried -»Arnold ein, wenn er aus seiner Kritik an den geschichtlichen Erscheinungsformen der Kirche heraus jede ekklesiologische Interpretation ablehnt und die Deutung „auff die wesentliche Vereinigung und gemeinschafft Gottes mit der gläubigen seele" mit

dem Gedanken vom „gespräch des seelengeistes und der weißheit" verbindet (Geheimniß a4 r ff). Eine originelle und in der niederländischen reformierten Theologie stark nachwirkende Deutung gibt Johann -»Coccejus. Er faßt das ganze Cant als prophetische Abbildung der Herrschaft Christi auf und sieht in der Abfolge des Werks sieben Perioden der Kirchengeschichte von den Anfängen der apostolischen Predigt bis zur gegenwärtigen Zeit nach dem Abschluß des Dreißigjährigen Kriegs angekündigt. Die Differenz zwischen dieser prophetisch-heilsgeschichtlichen und der mystischen Auffassung hat die Auseinandersetzungen in der niederländischen Theologie zwischen Coccejanern (z.B. Henricus Groenewegen, Campegius Vitringa) und Voetianern (z. B. Theodor van Brakel, Jodocus van Lodenstein, Herman Witsius) wesentlich geprägt, die erst um 1740 beigelegt wurden. Neben all diesen den Wortsinn auf einen tieferen religiösen Sinn hin überhöhenden Deutungen können sich seit dem 17. Jh. zunächst nur zaghafte Ansätze zu einem historischen Verständnis an die Öffentlichkeit wagen. Hugo -»Grotius bezeichnet das Cant ganz offen als garritus coniugum inter se, als das liebevolle Gespräch zwischen Salomo und der ägyptischen Königstochter, in dem die Geheimnisse der Hochzeit verhüllt dargestellt sind, ohne freilich die Berechtigung einer allegorischen Auslegung ganz auszuschließen. Im 18. Jh. werden die Stimmen, die eine rein historische Erklärung fordern, immer häufiger. Aber noch 1753 hält Robert Lowth in seinen berühmten Oxforder Vorlesungen De sacra poesi Hebraeorum, in denen er den literarischen Charakter des Cant als Epithalamium herausarbeitet (294), an der allegorischen Auffassung fest (381): Cant handelt von der Ehe Gottes mit seiner Kirche (300). Johann David -»Michaelis verwirft in seiner

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Gegenschrift (In Roberti L o w t h p r a e l e c t i o n e s . . . , O x f o r d 1763) mit L o w t h s Thesen (154ff) die ganze Allegorese des C a n t (161 ff) und formuliert als seine Meinung: castos conjugum amores cani, non sponsi et sponsae (155). Die Wendung zu einer uneingeschränkt geschichtlichen Auffassung des C a n t setzt allerdings eine neue Wertung der Liebe zwischen M a n n und F r a u und der aus ihr erwachsenden Dichtung voraus. Sie wird endgültig durch - » H e r d e r vollzogen, der in seiner Ubersetzung und Interpretation der Lieder der Liebe 1 7 7 8 eine Probe seiner Kunst der Einfühlung und Auslegung bietet. E r nimmt den Wortlaut des C a n t ganz ernst und sieht in ihm eine S a m m l u n g einzelner Liebeslieder Salomos (SW 8,529ff), angeordnet nach dem stufenweisen W a c h s t u m der Liebe (539). Solche wörtliche Interpretation stellt auch die Kanonizität des C a n t nicht mehr in Frage. D a s Werk steht zu R e c h t in der Bibel als ein historisches Zeugnis für C h a r a k t e r und Leben des großen Königs (544). D a m i t ist der Z w a n g zu einer den W o r t sinn überhöhenden Auslegung endgültig durchbrochen. Herders Interpretation wird sofort aufgegriffen: etwa von J o h a n n Gottfried - » E i c h h o r n in seiner weit verbreiteten Einleitung ins Alte Testament (Leipzig, III 1783), der die Autorschaft S a l o m o s bezweifelt (679), C a n t allein „als eine Sammlung einzelner Empfindungen der Liebe in einzelnen Liedern, Idyllen, Wettgesängen" (691) ansieht und durch eine Skizze der Auslegungsgeschichte ( 6 8 9 ff) seine Distanz zur exegetischen Tradition erkennen läßt. Quellen (Bei Komm, sind die Titel weggelassen. Hsl. Komm, verzeichnet Riedlinger, s. u. Makellosigkeit, XV-XIX.) Aegidius v. Rom: Thomas v. Aquin, Op. omn., Paris (Vivès) 18 (1876) 6 0 8 - 6 6 7 . - Alanus ab Insulis, PL 2 1 0 , 5 1 - 1 1 0 . - Aponius, PLS 1, 7 9 9 - 1 0 3 1 . - Gottfried Arnold, Das Geheimniß d. Gotti. Sophia oder Weißheit, Leipzig 1700. - Beda, CChr 119B. - Bernhard v. Clairvaux, Op. ed. Leclercq u.a., Rom, I/II 1957/58. - Theodor Beza, Genf 1586. - Joh. Coccejus, Leiden 1665. - Dionysius v. Rijkel, Op. VII, Montreuil/Tournai 1898, 2 8 9 - 4 4 7 . - Joh. Gerson, Op. ed. du Pin, Den Haag, IV 1706, 2 7 - 8 2 . - Ders., Oeuvres ed. P. Glorieux, Paris/Tournai, Vili 1971, 5 6 5 - 6 3 9 . - Gilbert v. Hoyland, PL 1 8 4 , 1 1 - 2 5 2 . - G r e g o r d. Gr., CChr 1 4 4 , - G r e g o r v . Elvira, PLS 1,473 - 5 1 4 , - G r e g o r v. Nyssa, Op. ed. W. Jaeger, Leiden, VI 1960. - Hugo Grotius: Annotationes ad VT, Op. omn. theol., Basel, I 1732, 2 6 7 - 2 7 0 . - Johann Gottfried Herder, Lieder der Liebe, Leipzig 1778 = SW ed. B. Suphan, Berlin, VIII 1892. - Hippolyt, T U 23 ( = NS8) 2 c , 1902; GCS Hippolytus 1, 1897. - St. Trudperter Hohes Lied, hg. v. H. Menhardt 1934 (Rhein. Beitr. u. Hülfsbücher z. germ. Philol. u. Volksk. 21/22). - Honorius Augustodunensis, PL 172,347-496. - Ders., Sigillum b. Mariae, PL 172,495-518. - Hugo v. St. Cher, Op., Venedig, III 1703. - Johannes v. Ford, CChr. CM 1 7 - 1 8 . Johannes v. Mantua, ed. B. Bischoff/B. Taeger, 1973 (SpicFri 19). - Nikolaus Kempf: B. Pez, Bibliot e c a ascetica 1 1 - 1 2 , Regensburg 1735 - 4 0 . — Luis de León, Salamanca 1580 = Op., Salamanca, II 1892. - Martin Luther, WA 31/2. - Methodius v. Olympos, Symposium, SC 95. - Nikolaus v. Lyra, Postilla super totam Bibliam, Straßburg, III 1492. - Petrus Johannis Olivi: S. Bonaventurae Suppl. 1, Trient 1772, 5 1 - 2 8 2 . - Orígenes, GCS Orígenes 8. - Paterius, PL79, 9 0 5 - 9 1 6 . - Jacobus Pérez v. Valencia, Paris 1507. - Philipp v. Harvengt, P L 2 0 3 , 1 8 1 - 4 9 0 . - Robert v. Tumbalenia, PL 150,1361-1370 (zu 1,1-11); 7 9 , 4 9 3 - 5 4 8 (zu 1 , 1 2 - 8 , 1 4 ; unter d. Namen Gregors d.Gr.). - Rupert v. Deutz, CChr. CM 26. - Theodoret v. Kyros, PL 8 1 , 2 7 - 2 1 4 . - Thomas Cisterciensis, PL 206,21 - 8 6 2 . - Thomas Gallus, ed. J . Barbet, 1967 (TPMA 14). - Wilhelm v. Newburgh, ed. J . C. Gorman, 1960 (SpicFri 6). - Wilhelm v. St. Thierry, ed. M . - M . Davy, 1958 (Bibliothèque des textes philos.). - Ders., Cant. ex scriptis S. Ambrosii, PL 15, 1 8 5 1 - 1 9 6 2 . - Ders., Cant. ex scriptis S. Gregorii, PL 180,441-474. - Williram v. Ebersberg, hg. v. W. Sanders, 1971 (Kleine dt. Prosadenkmäler d. MA 9). Literatur Gustave Bardy, Marie et le Cantique chez les Pères: BVC 7 (1954) 3 2 - 4 1 . - J o h a n n e s Beumer, Die marianische Deutung des Hohen Liedes in der Frühscholastik: Z K T h 76 (1954) 4 1 1 - 4 3 9 . - Izaak Boot, De allegorische uitlegging van het Hooglied voornamelijk in Nederland, Zuijderduijn/Woerden 1971. - Adrien-M. 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these einer Sammlung von Liebesliedern (im Kontrast zu der Vorstellung einer durchgängigen Erzählstruktur auch Fragmenten-Hypothese genannt) weiter entwickelt. Die N ä h e zu den griechischen (besonders mimischen oder amobäischen) Idyllen (Lessing, Stäudlin), später zu den syrisch-palästinischen Volksliedern w u r d e berücksichtigt und die literarkritische Abgrenzung der kleinen Einheiten genauer analysiert (Magnus). Die Schwäche der dramatischen Auslegung, die sich in der Unstimmigkeit über dramatische Aufführung, handelnde Personen, selbst über Inhalt und Lösung der Intrige zeigte, ließ die Hypothese eines Liederkranzes von einem Verfasser (Reuss) oder einer Sammlung erotischer Lieder verschiedenen Ursprungs (Justi, Budde) viel ungezwungener erscheinen. Salomo wird d a n n nicht mehr als Rivale des Hirten, geschweige als Verfasser des Cant, sondern als eine schon der Sage angehörende Person verstanden. Literatur Zur Auslegungsgeschichte vgl. die betreffenden Paragraphen in den Kommentaren (bes. O t t o Zöckler, Langes theologisch-homiletisches Bibelwerk XIII, Bielefeld/Leipzig 1868, §5, und Eduard Reuss, La Bible V, Paris 1879, 4 - 5 5 ; ders., Die Gesch der Hl. Sehr. AT, Braunschweig 2 1890, 231-239) und in den Einleitungen (z.B. Wolf Wilhelm Graf Baudissin, Leipzig 1901, 684ff). Friedrich Böttcher, Die ältesten Bühnendichtungen, Leipzig 1850. - Karl Budde, Was ist das Hohelied?: PrJ78 (1894) 92-117. - Franz Delitzsch, Das Hohelied, Leipzig 1850. - Ders., BC IV/4, 1875. - Heinrich Ewald, Das Hohelied Salomo's, Göttingen 1826. - Heinrich August Hahn, Das Hohe Lied v. Salomo, Breslau 1852. - F.rnst Wilhelm Hengstenberg, Das Hohelied Salomonis, Berlin 1853. - Ferdinand Hitzig, KEH XVI, 1855. - Johann Leonhard Hug, Das Hohelied in einer noch unversuchten Deutung, Freyburg u. Constanz 1813. - Ders., Schutzschrift..., Freyburg 1815. Johann Friedrich Jacobi, Das durch eine leichte u. ungekünstelte Erklärung v. seinen Vorwürfen gerettete Hohelied, Celle 1772. - Karl Wilhelm Justi, Sionitische Harfengesänge, Leipzig 1829. Johann Gottlieb Lessing, Eclogae regis Salomonis, Leipzig 1777. - Eduard Isidor Magnus, Krit. Bearbeitung und Erklärung des Hohen Liedes Salomo's, Halle 1842. - Ernest Renan, Le Cantique des Cantiques, Paris 1860. - Ernst Friedrich Karl Rosenmüller, Ueber des hohen Liedes Sinn und Auslegung: ÄSEST 1,3 (1813) 133-162. - Ders., Scholia in VT IX,2, Leipzig 1830. - Karl Friedrich Stäudlin, Theokrits Idyllen u. das Hohelied: Paulus Memorabilien 2 (1792) 162-170. - Johann Gustav Stickel, Das Hohelied in seiner Einheit u. dramatischen Gliederung, Berlin 1888. - Friedrich Wilhelm Carl Umbreit, Lied der Liebe..., Heidelberg 2 1828.

Jean M . Vincent Holl, Karl 1. Leben

(1866-1926) 2. Werk

(Anmerkung/Quellen/Briefe/Literatur S. 518)

1. Leben Karl Holl w u r d e am 15. M a i 1866 in Tübingen geboren. Seine Eltern waren der Oberrealschullehrer Karl Holl (1815-1881), der lange Jahre in Rußland (Livland) und in der französischen Westschweiz Lehrer gewesen war, und Sophie geb. Prager aus Ravensburg. Der Großvater Xaver Holl, aus d e m O b e r a m t Neresheim stammend, w a r katholisch gewesen und hatte dem Deutschkatholizismus Ronges zugeneigt (-»Deutschkatholiken). Die Lektüre seiner Tagebücher hat bei dem Enkel sehr f r ü h lebhafte, bis in die ersten akademischen Lehrjahre a n d a u e r n d e Sympathien f ü r den Katholizismus geweckt. Die geistige Luft des Elternhauses w a r vom württembergischen Liberalismus geprägt, nicht vom Pietismus, zu dem Holl in deutlicher Distanz blieb und dem er erst in späteren Jahren näher k a m . Früh erwachten in Karl Holl historische Neigungen, genährt schon beim Zwölfjährigen durch die Lektüre Gustav Freytags. Holl durchlief die Seminare Maulb r o n n und Blaubeuren, um nach d e m Militärdienst das Studium der Theologie und Philosophie in -»Tübingen (1884-1888) aufzunehmen. Der Stiftsrepetent M a x Reischle vermittelte ihm das theologische System A. -»Ritschis. Die einseitig auf Philosophie und Dogmatik abgestellte Studienordnung im Tübinger Stift ließ ihn unbefriedigt. In den Umgang mit den Quellen, später f ü r Holl unverzichtbare Bedingung historischer Arbeit, w u r d e er in Tübingen k a u m eingeführt.

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these einer Sammlung von Liebesliedern (im Kontrast zu der Vorstellung einer durchgängigen Erzählstruktur auch Fragmenten-Hypothese genannt) weiter entwickelt. Die N ä h e zu den griechischen (besonders mimischen oder amobäischen) Idyllen (Lessing, Stäudlin), später zu den syrisch-palästinischen Volksliedern w u r d e berücksichtigt und die literarkritische Abgrenzung der kleinen Einheiten genauer analysiert (Magnus). Die Schwäche der dramatischen Auslegung, die sich in der Unstimmigkeit über dramatische Aufführung, handelnde Personen, selbst über Inhalt und Lösung der Intrige zeigte, ließ die Hypothese eines Liederkranzes von einem Verfasser (Reuss) oder einer Sammlung erotischer Lieder verschiedenen Ursprungs (Justi, Budde) viel ungezwungener erscheinen. Salomo wird d a n n nicht mehr als Rivale des Hirten, geschweige als Verfasser des Cant, sondern als eine schon der Sage angehörende Person verstanden. Literatur Zur Auslegungsgeschichte vgl. die betreffenden Paragraphen in den Kommentaren (bes. O t t o Zöckler, Langes theologisch-homiletisches Bibelwerk XIII, Bielefeld/Leipzig 1868, §5, und Eduard Reuss, La Bible V, Paris 1879, 4 - 5 5 ; ders., Die Gesch der Hl. Sehr. AT, Braunschweig 2 1890, 231-239) und in den Einleitungen (z.B. Wolf Wilhelm Graf Baudissin, Leipzig 1901, 684ff). Friedrich Böttcher, Die ältesten Bühnendichtungen, Leipzig 1850. - Karl Budde, Was ist das Hohelied?: PrJ78 (1894) 92-117. - Franz Delitzsch, Das Hohelied, Leipzig 1850. - Ders., BC IV/4, 1875. - Heinrich Ewald, Das Hohelied Salomo's, Göttingen 1826. - Heinrich August Hahn, Das Hohe Lied v. Salomo, Breslau 1852. - F.rnst Wilhelm Hengstenberg, Das Hohelied Salomonis, Berlin 1853. - Ferdinand Hitzig, KEH XVI, 1855. - Johann Leonhard Hug, Das Hohelied in einer noch unversuchten Deutung, Freyburg u. Constanz 1813. - Ders., Schutzschrift..., Freyburg 1815. Johann Friedrich Jacobi, Das durch eine leichte u. ungekünstelte Erklärung v. seinen Vorwürfen gerettete Hohelied, Celle 1772. - Karl Wilhelm Justi, Sionitische Harfengesänge, Leipzig 1829. Johann Gottlieb Lessing, Eclogae regis Salomonis, Leipzig 1777. - Eduard Isidor Magnus, Krit. Bearbeitung und Erklärung des Hohen Liedes Salomo's, Halle 1842. - Ernest Renan, Le Cantique des Cantiques, Paris 1860. - Ernst Friedrich Karl Rosenmüller, Ueber des hohen Liedes Sinn und Auslegung: ÄSEST 1,3 (1813) 133-162. - Ders., Scholia in VT IX,2, Leipzig 1830. - Karl Friedrich Stäudlin, Theokrits Idyllen u. das Hohelied: Paulus Memorabilien 2 (1792) 162-170. - Johann Gustav Stickel, Das Hohelied in seiner Einheit u. dramatischen Gliederung, Berlin 1888. - Friedrich Wilhelm Carl Umbreit, Lied der Liebe..., Heidelberg 2 1828.

Jean M . Vincent Holl, Karl 1. Leben

(1866-1926) 2. Werk

(Anmerkung/Quellen/Briefe/Literatur S. 518)

1. Leben Karl Holl w u r d e am 15. M a i 1866 in Tübingen geboren. Seine Eltern waren der Oberrealschullehrer Karl Holl (1815-1881), der lange Jahre in Rußland (Livland) und in der französischen Westschweiz Lehrer gewesen war, und Sophie geb. Prager aus Ravensburg. Der Großvater Xaver Holl, aus d e m O b e r a m t Neresheim stammend, w a r katholisch gewesen und hatte dem Deutschkatholizismus Ronges zugeneigt (-»Deutschkatholiken). Die Lektüre seiner Tagebücher hat bei dem Enkel sehr f r ü h lebhafte, bis in die ersten akademischen Lehrjahre a n d a u e r n d e Sympathien f ü r den Katholizismus geweckt. Die geistige Luft des Elternhauses w a r vom württembergischen Liberalismus geprägt, nicht vom Pietismus, zu dem Holl in deutlicher Distanz blieb und dem er erst in späteren Jahren näher k a m . Früh erwachten in Karl Holl historische Neigungen, genährt schon beim Zwölfjährigen durch die Lektüre Gustav Freytags. Holl durchlief die Seminare Maulb r o n n und Blaubeuren, um nach d e m Militärdienst das Studium der Theologie und Philosophie in -»Tübingen (1884-1888) aufzunehmen. Der Stiftsrepetent M a x Reischle vermittelte ihm das theologische System A. -»Ritschis. Die einseitig auf Philosophie und Dogmatik abgestellte Studienordnung im Tübinger Stift ließ ihn unbefriedigt. In den Umgang mit den Quellen, später f ü r Holl unverzichtbare Bedingung historischer Arbeit, w u r d e er in Tübingen k a u m eingeführt.

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Die theologischen Prüfungen bestand Holl mit Auszeichnung. Am 7.10.1888 wurde er in der Tübinger Stiftskirche ordiniert. Um sich in der historischen Theologie und allgemeinen Geschichtswissenschaft gründlich ausbilden zu lassen, erhielt Holl nach einem Vikariat in Rottenburg und, nachdem er 1889 mit einer Dissertation über Thomas Hobbes Logik den Dr. phil. bei Christoph Sigwart erworben hatte, Urlaub für eine einjährige Studienreise. Sie führte ihn 1889/90 nach Berlin, Gießen und Marburg und brachte ihn mit den beiden Männern zusammen, die von nun an, der eine als Förderer seiner akademischen Laufbahn, der andere als der einzige engere persönliche Freund, seinen Lebensweg begleiteten: Adolf von -»Harnack und Adolf Jülicher. Mit einer von H a r n a c k angeregten Arbeit über - » P o l y k a r p von Smyrna wurde Holl 1890 in Tübingen zum Licentiaten der Theologie promoviert. Doch das „eiskalte" Urteil Carl von Weizsäckers n a h m ihm sein Selbstvertrauen und die H o f f n u n g e n auf eine wissenschaftliche L a u f b a h n . Als Repetent im Tübinger Stift (WS 1891/92 - WS 1893/94) geriet Holl zudem in eine innere religiöse Krise. Das System der Ritschlschen Theologie zerbrach ihm vor den Ergebnissen der neueren historisch-kritischen Theologie. Im Apostolikumstreit (s. T R E 3 , 5 6 0 - 5 6 2 , bes. 562,9ff) stand Holl innerlich ganz auf der Seite von Christoph Schrempf, zu keinem Gewissenskompromiß bereit und nicht mehr willens, in den Dienst der Kirche zu treten. Längere Zeit an „ U m s a t t e l n " d e n k e n d 1 , brachte H a r n a c k s Angebot einer Stelle als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter bei der Kirchenväterkommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften die befreiende Wende. Holl ging F r ü h j a h r 1894 nach -»Berlin. Die Venia legendi für Kirchengeschichte erw a r b er 1896 mit einer Arbeit über Die Sacra Parallela des Johannes Datnascenus (gedruckt 1897). In der Lehre sich der neueren Kirchengeschichte zuwendend, blieb sein eigentliches Forschungsgebiet die alte Kirchengeschichte. Im A u f t r a g der Kirchenväterkommission reiste er 1895/96, 1900 und 1904 f ü r jeweils ein halbes J a h r zu Handschriftenstudien nach Italien. Von den ihm übertragenen Aufgaben w a r die schwierigste die Edition der Werke des Epiphanius von Salamis. Die Rekonstruktion eines an vielen Stellen heillos verwilderten Textes, die ein außergewöhnliches M a ß von Quellenkenntnis, Scharfsinn und Einfühlungsvermögen erforderte, auch Kühnheit, weil Holl sich nicht mit der bloßen Wiederherstellung des überlieferten attizistisch redigierten Textes begnügte, sondern die ursprüngliche Sprache des Epiphanius, eine gehobene Koine, zurückgewinnen wollte, ist „eine philologische Glanzleistung ersten Ranges" (Hans Lietzmann) genannt worden. Die Arbeit am Epiphanius beschäftigte Holl bis an sein Lebensende, ihre Vollendung erlebte er nicht mehr (erster Band 1915 [GCS 25], zweiter Band 1922 [GCS 31], dritter Band, nach den Vorarbeiten von Holl besorgt von H a n s Lietzmann 1933 [GCS 37]). Die Fülle der literaturgeschichtlichen, dogmengeschichtlichen, liturgischen, institutionengeschichtlichen, prosopographischen etc. Untersuchungen, die Holl vornehmlich aus dem Gebiet der alten Kirchengeschichte und hier besonders des griechischen Ostens vorlegte, kann nicht aufgezählt werden. Zwei Monographien ragen heraus: Enthusiasmus und Bußgewalt beim griechischen Mönchtum (1898), eine von Symeon dem neuen Theologen ausgehende, weitgespannte Untersuchung, in der Holl zeigt, daß der urchristliche Enthusiasmus nicht verschwand, als sich feste Formen der Kirche bildeten, sondern im Mönchtum neubelebt wurde und durch die Anerkennung des Mönchtums in der Kirche dauerhaft wurde. Die Kunst, von einem wenig beachteten Punkt aus größere Zusammenhänge neu zu sehen, bewies er erneut in Amphilochius von Ikonium in seinem Verhältnis zu den großen Kappadoziern (1904; Neudr. 1969), bis heute eine der besten Darstellungen der nachnicänischen Theologie des 4. Jh. durch die genaue Nachzeichnung der inneren, folgerichtigen Entwicklung des Trinitätsgedankens von Basilius über Gregor von Nazianz zu Gregor von Nyssa. Die Berufung nach - » T ü b i n g e n 1900 zum a . o . Professor erlaubte Holl die G r ü n d u n g eines eigenen Hausstandes (verh. 1903 mit Anna Wucherer) und brachte ihn unter den d a n k b a r angenommenen theologischen Einfluß von Adolf -»Schlatter. Z u m ordentlichen Professor 1906 nach Berlin zurückberufen, zugleich Mitglied der Kirchenväterkommission, lehrte Holl a n der Berliner Universität neben H a r n a c k Kirchengeschichte, lange Zeit in dessen Schatten fast unbekannt bleibend und mit äußerlich nur geringem Erfolg. Wiederholt richteten sich seine H o f f n u n g e n auf eine Wegberufung (vor allem nach - » M a r -

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bürg in die Nähe Jülichers). Erst mit der Wahl zum ordentlichen Mitglied der philologisch-historischen Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1915 wurde Holl in Berlin heimisch. Das Erleben des Ersten Weltkrieges entfernte ihn vom theologischen Liberalismus (-»Liberale Theologie), dem sich Holl bis dahin, wenn auch nicht uneingeschränkt, zugerechnet hatte (endgültiger Austritt aus dem Kreis der Freunde der „Christlichen Welt" Oktober 1918). Z u Harnack trotz Vermeidung jedes Bruches in immer stärkeren Gegensatz tretend, kam Holl während des Ersten Weltkrieges dem konservativen Lutheraner Reinhold Seeberg nahe, ohne sich jedoch dem konfessionellen Luthertum anzuschließen. Weihnachten 1921, gleichzeitig mit der zweiten Auflage von Barths Römerbrief, erschien Holls Luther. „Aber meine Stimme ist noch niemals durchgedrungen", hatte er resignierend bei Abschluß des Manuskripts geschrieben (an Jülicher 18.12.1920). Innerhalb eines Jahres wurden zwei Neuauflagen nötig. Mit einem Schlag gelang Holl der Durchbruch in die Öffentlichkeit. Jahrzehntelang in Distanz zur Kirche lebend, fand Holl, der erst in späten Jahren wieder die Kanzel bestieg, in seinen letzten Jahren ein enges Verhältnis zu Kirche und Pfarrerschaft. Nun füllte sich auch sein Hörsaal; in seinem Seminar sammelten sich viele der tüchtigsten Köpfe der jüngeren theologischen Generation, darunter auch Dietrich -»Bonhoeffer. Neben der von Karl Barth ausgehenden „dialektischen Theologie" bildete sich unter der Autorität Holls eine weitere Gegenströmung gegen den Liberalismus (s.u.). Die 1918 gegründete Luthergesellschaft wählte Holl 1925 zu ihrem Vorsitzenden. Für die Preußische Akademie der Wissenschaften nahm er 1924 an den Feierlichkeiten zum zweihundertjährigen Bestehen der Petersburger Akademie der Wissenschaften teil. Das mit höchster Pflichterfüllung durchgestandene Rektorat der Berliner Universität (1923/24) hatte jedoch seine Gesundheit, die er bei der wissenschaftlichen Arbeit nie geschont hatte, gebrochen. An einem Schlaganfall starb er am 23.5.1926. Nach den Worten Adolf von Harnacks bei der akademischen Gedächtnisfeier war Holl in seinen letzten Jahren „in die vorderste Linie deutscher Gelehrter getreten, und die Evangelischen Kirchen aller Länder kannten und verehrten ihn als einen Führer, dem sie sich mit Dank und Bewunderung anvertrauen durften". 2. Werk Karl Holl war „universaler Kirchenhistoriker" (A. v. Harnack). Sein Arbeitsfeld reichte vom Neuen Testament, das Holl mit Harnack und Jülicher noch zur Kirchengeschichte rechnete, über die alte Kirchengeschichte, die lebenslang sein Hauptarbeitsgebiet blieb, das — nur sporadisch durchforschte - Mittelalter, die Reformationszeit, wo Luther und Calvin in den Vordergrund traten, Melanchthon und Zwingli ihn nicht interessierten, die neuzeitliche Kirchengeschichte, von der außer der deutschen besonders die englische und die russische Kirchengeschichte ihn fesselten, bis hin zu Fragen der unmittelbaren kirchlichen Gegenwart (-•Modernismus, Szientismus, -»Anthroposophie, Christentum und -»Sozialismus). Hermann Diels begrüßte Holl bei seinem Eintritt in die Berliner Akademie mit den Worten: „Wie bei diesen Erstlingsstudien, so verdanken Sie bei allen Ihren zahlreichen späteren Forschungen Ihre Erfolge der dreifachen Gabe, einer nie ermattenden, das Kleine wie das Große liebevoll umfassenden philologischen Sorgfalt, einem in die Tiefen und Weiten der ganzen Kultur dringenden historischen Forschersinn und vor allem der Ihren schwäbischen Stammesgenossen angeborenen und anerzogenen philosophischen Allgemeinbildung" (zit. nach H. Lietzmann, Karl Holl f)- In der engen Verbindung von quellennaher historischer Methodik und theologischer Systematik stand Holl in der Nachfolge von F. Chr. -»Baur, den er seinen „wahren und einzigen Lehrer in der Geschichtsforschung" (Christliche Reden IV) genannt hat. Im Zentrum seines theologischen Denkens stand der „Gottesbegriff" (bzw. „Gottesgedanke", „Gottesverständnis", -»Gott), der in scharfer Abgrenzung gegenüber dem idealistisch-liberalen Gottesbegriff des 19. Jh. von der Rechtfertigungslehre (-»Rechtfertigung) her konzipiert war als paradoxal-hartes

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Beieinander von Gerechtigkeit und Liebe Gottes, erfahrbar nur in dem die sittliche Forderung ernst nehmenden, an ihr zerbrechenden und durch die Vergebung eine „innere Umwälzung" erlebenden Gewissen des Menschen. Ein Gottesbegriff, der, religionsgeschichtlich nicht ableitbar, in der Einzigartigkeit Jesu begründet ist und von Paulus und Luther am tiefsten erfaßt wurde. Von diesem theozentrischen Ansatz her, der die Christologie zurücktreten läßt, erhalten Holls kirchenhistorische Arbeiten, die sich nicht zur übergreifenden Darstellung dogmengeschichtlicher Entwicklungen, sondern zur Monographie oder zum Aufsatz formen, trotz der Fülle der jeweils verhandelten Einzelthemen eine starke innere Kohärenz. Holls Luther (1921) war eine Sammlung einzelner Aufsätze, die gleichwohl ein Lutherbild von einzigartiger Geschlossenheit und Einheitlichkeit darboten. Wenn Holls Editionen und Untersuchungen auf dem Feld der alten Kirchengeschichte seine wohl dauerhaftesten Leistungen darstellen (vgl. T R E 3,431.533; Kirchengeschichtsschreibung) , so knüpft sich seine kirchengeschichtliche Bedeutung an den Luther von 1921. In der Geschichte der Lutherforschung (-»Luther III) des 20. Jh. bildet dieses Buch den entscheidenden Markstein. Holl war der erste, der die wiederentdeckten frühen Vorlesungen Luthers als Quellen reformatorischer Theologie umfassend auswertete. Durch den genauen quellenmäßigen Beleg seiner Aussagen, der in der älteren Lutherforschung fehlte, begründete Holl die Methode der modernen Lutherforschung. Indem er in den frühen Vorlesungen, vor allem in der 1908 erstmals veröffentlichten Römerbriefvorlesung, bereits die reformatorische Rechtfertigungslehre voll ausgebildet fand, lenkte Holl den Blick der Forschung für Jahrzehnte auf den frühen Luther. Die Rechtfertigung verstand Holl nicht rein forensisch (synthetisches Urteil), sondern - das eschatologische Urteil proleptisch vorwegnehmend - effektiv (analytisches Urteil). Der vom Zentrum der Rechtfertigungslehre aus gespannte Zirkel schlug weit aus und bezog Ethik, Hermeneutik, Kirchenbegriff und Staatsanschauung Luthers ein. Holl grenzte sein Lutherbild nach zwei Seiten ab. Überzeugend konnte er das psychologisch verzerrte katholische Lutherbild eines Heinrich —»Denifle und Hartmann Grisar korrigieren und überwinden. Andererseits suchte Holl gegen Ernst —»Troeltsch, der Luthers weltindifferente Ethik bemängelte und ihn ins Mittelalter zurückstellte, die das Mittelalter durchbrechende Einzigartigkeit Luthers und seine Bedeutung für die Kultur der -»Neuzeit (s. T R E 8,208,24ff) tiefer und besser als bisher zu erfassen. Das die Esoterik der Gelehrtensprache überwindende Pathos des Lutherbuches, die Direktheit, mit der es Luther unmittelbar zu den Fragen der Gegenwart sprechen ließ, auch die Betonung des den modernen Individualismus überwindenden Gemeinschaftsgedankens, verdankten sich dem Kriegserleben, wie der Vergleich mit der ursprünglichen Form der vor dem Ersten Weltkrieg erschienenen Lutheraufsätze zeigt (vgl. Wallmann 29 f)- Holl blieb gleichwohl kritisch gegenüber der nationalen Vereinnahmung Luthers, die sich in der Lutherrenaissance schon vor und im Ersten Weltkrieg anbahnte. Er fand nicht in Luther allein, sondern erst in einer Synthese zwischen Luther und dem ihm (hinsichtlich der Energie der Weltdurchdringung mit christlichem Geist) überlegenen Genfer Reformator -»Calvin das ganze Wesen der Reformation ausgedrückt. In Fragen der politischen Ethik warnte Holl, bei Luther stehenzubleiben und forderte „einen Schritt über Luther hinaus" (Ges. Aufs. III, 167). Holl präzisierte diesen „Schritt über Luther hinaus", indem er den Nationalismus verurteilte und die Verpflichtung einschärfte, „Rechts- und Wirtschaftsordnung unablässig in dem Sinn weiterzubilden, daß die Rücksicht auf die Menschenwürde überall mit zum Ausdruck gelangt" (ebd.).

Nach dem Zusammenbruch 1918 mit der Monarchie zerfallen, auch zur Weimarer Republik kein inneres Verhältnis findend, hoffte Holl auf eine geistige Erneuerung, ausgehend von einer Verlebendigung des von Luther wiederentdeckten ursprünglichen Christentums. Bis zu seinem Ende hielt Holl eine Position jenseits aller kirchenpolitischen Gruppierungen. Die von Holl in den frühen 20er Jahren ausgehende theologische Bewegung, heute oft mißverständlich mit der „Lutherrenaissance" des frühen 20. Jh. gleichgesetzt (Wallmann 2 Anm. 6), lief zeitlich und in der Intention (Überwindung des theologischen Liberalismus) parallel zu der von Karl Barth ausgehenden -»Dialektischen Theologie, hielt aber durch ihre Verknüpfung der Religion mit dem „Sittlichen" und dem „Gewissen" stärker an der Kontinuität mit dem 19. Jh. fest, was ihr von Seiten der Dialektischen Theologie

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früh den Vorwurf idealistischer Ethisierung Luthers eintrug (Kontroverse - » G o g a r t e n H o l l ; vgl. auch T R E 1 0 , 5 1 2 , 4 2 f f ) . Die Hoffnung vieler Schüler Holls, den völkischen Aufbruch des Jahres 1 9 3 3 mit d e m Geiste Luthers zu durchdringen, erwies sich bald als illusorisch. Z u r sogenannten „ H o l l s c h u l e " gehörten u . a . Erich Vogelsang, H e r m a n n Wolfgang Beyer, H a n n s Rückert, Heinrich B o r n k a m m , Helmuth Kittel, in weiterem Sinn der ihm eng verbundene, aber selbständige Emanuel - » H i r s c h . Schüler Holls waren auch außerdeutsche Kirchenhistoriker wie der Schweizer Fritz Blanke und der Amerikaner William Pauck. Anmerkung 1

Vgl. Briefe Holls an Jülicher 31.12.1892 und 9.10.1893. Danach ist Stupperich, J B B K G 53,63 und 87 Anm. 40 zu korrigieren. Quellen

Aufsätze und Einzelarbeiten sind in überarbeiteter Form von Holl selbst gesammelt herausgegeben: Karl Holl, GAufs. zur KG I (Luther), Tübingen 1921 ( 7 1948). - Postum hg. v. Hans Lietzmann: GAufs. II (Der Osten), Tübingen 1928, Neudr. Darmstadt 1964. - GAufs. III (Der Westen), Tübingen 1928, Neudr. Darmstadt 1965. - Christi. Reden, Gütersloh 1926. - KS, hg. v. Robert Stupperich, Tübingen 1966. Ein Verzeichnis sämtlicher im Druck erschienenen Schriften Karl Holls ist enthalten: GAufs. III (s.o.), 5 7 8 - 5 8 4 . Kleinere Ergänzungen bei Karpp (s.u.), 6 Anm.6. Briefe Von Holls Briefen ist der größte und wichtigste Bestand, Briefe an Adolf Jülicher aus den Jahren 1890-1926, noch nicht ediert (Jülichernachlaß UB Marburg). Publiziert sind die folgenden Briefgruppen: Kurt Aland, Aus der Blütezeit der Kirchenhistorie in Berlin. Die Korrespondenz Adolf v. Harnacks u. Karl Holls mit Hans Lietzmann: Saec 21 (1970) 235 - 263. - Heinrich Karpp, Karl Holl (1866-1926). Briefwechsel mit Adolf von Harnack, Tübingen 1966. - Paul Schattenmann, Briefe von Karl Holl 1914-1921: ZKG 79 (1968) 7 7 - 84. - Robert Stupperich, Briefe Karl Holls an Adolf Schlatter (1897-1925): Z T h K 64 (1967) 1 6 9 - 2 4 0 . Literatur Walter F. Bense, Eastern Christianity in the Thought of Karl Holl: The Unitarian Universalist 31 (1976) 5 - 2 7 . - Walter Bodenstein, Die Theol. Karl Holls im Spiegel des antiken u. reformatorischen Christentums, 1968 (AKG 40). - Heinrich Bornkamm, Luther im Spiegel der dt. Geistesgesch., Göttingen 2 1970, 1 1 4 - 1 1 7 . 3 8 9 - 3 9 7 . - Walter Delius, Karl Holl: NDB 9 (1972) 532f. - Adolf von Harnack/Hans Lietzmann, Karl Holl t , 1926 (AKG 7). Harnacks Nachruf auch: ders., Aus der Werkstatt des Vollendeten, Gießen 1930, 2 7 5 - 2 8 8 . - Justus Hashagen, Die apologetische Tendenz der Lutherforschung u. die sog. Lutherrcnaissance: HV 31 (1937) 625 - 6 5 0 . - Hajo Holborn, Karl Holl: DVfLG 5 (1927) 4 1 3 - 4 3 0 . - Adolf Jülicher, Karl Holl: ChW 40 (1926) 6 2 7 - 6 3 2 . - Ders./Ernst Wolf, Holl, Karl: R G G 3 3 (1959) 432 f. - Hans Lietzmann, Karl Holl t : Gn. 2 (1926) 4 3 0 - 4 3 2 . - Ders., Gedächtnisrede auf Karl Holl: SDAW 1927, L X X X V I - X C V I = K. Holl, GAufs. III, s. o., 5 6 8 - 5 7 7 . - Hanns Rückert, Nachruf auf Karl Holl: Luther 8 (1926) 3 4 - 4 3 = ders., Vortr. u. Aufs, zur hist. Theol., Tübingen 1 9 7 2 , 3 6 0 - 3 6 8 . - Ders., Karl Holl: Tendenzen der Theol. im 20. Jh., hg. v. Hans Jürgen Schultz, Stuttgart 2 1 9 6 7 , 1 0 3 - 1 0 8 = ebd. 3 6 9 - 3 7 3 . - E r i c h Seeberg, Karl Holl in memoriam: ThBl 5 (1926) 1 6 5 - 1 6 9 . - Robert Stupperich, Karl Holls Oststud. u. ihr Einfluß auf sein politisches Denken: H Z 215 (1972) 3 4 5 - 3 6 7 . - D e r s . , Karl Holl als Lutherforscher: Luther 37 (1966) 1 1 2 - 1 2 1 . Ders., Karl Holl im kirchl. Ringen seiner Zeit, darg. nach seinen Briefen: J B B K G 53 (1981) 5 5 - 9 1 . Johannes Wallmann, Karl Holl u. seine Schule: ZThK Beih. 4 (1978) 1 - 3 3 . - Otto Wolff, Die Haupttypen der neueren Lutherforschung, 1938 (TSSTh 7), 3 1 8 - 3 8 4 . J o h a n n e s Wallmann

Hollaz, David - » O r t h o d o x i e , Lutherische

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früh den Vorwurf idealistischer Ethisierung Luthers eintrug (Kontroverse - » G o g a r t e n H o l l ; vgl. auch T R E 1 0 , 5 1 2 , 4 2 f f ) . Die Hoffnung vieler Schüler Holls, den völkischen Aufbruch des Jahres 1 9 3 3 mit d e m Geiste Luthers zu durchdringen, erwies sich bald als illusorisch. Z u r sogenannten „ H o l l s c h u l e " gehörten u . a . Erich Vogelsang, H e r m a n n Wolfgang Beyer, H a n n s Rückert, Heinrich B o r n k a m m , Helmuth Kittel, in weiterem Sinn der ihm eng verbundene, aber selbständige Emanuel - » H i r s c h . Schüler Holls waren auch außerdeutsche Kirchenhistoriker wie der Schweizer Fritz Blanke und der Amerikaner William Pauck. Anmerkung 1

Vgl. Briefe Holls an Jülicher 31.12.1892 und 9.10.1893. Danach ist Stupperich, J B B K G 53,63 und 87 Anm. 40 zu korrigieren. Quellen

Aufsätze und Einzelarbeiten sind in überarbeiteter Form von Holl selbst gesammelt herausgegeben: Karl Holl, GAufs. zur KG I (Luther), Tübingen 1921 ( 7 1948). - Postum hg. v. Hans Lietzmann: GAufs. II (Der Osten), Tübingen 1928, Neudr. Darmstadt 1964. - GAufs. III (Der Westen), Tübingen 1928, Neudr. Darmstadt 1965. - Christi. Reden, Gütersloh 1926. - KS, hg. v. Robert Stupperich, Tübingen 1966. Ein Verzeichnis sämtlicher im Druck erschienenen Schriften Karl Holls ist enthalten: GAufs. III (s.o.), 5 7 8 - 5 8 4 . Kleinere Ergänzungen bei Karpp (s.u.), 6 Anm.6. Briefe Von Holls Briefen ist der größte und wichtigste Bestand, Briefe an Adolf Jülicher aus den Jahren 1890-1926, noch nicht ediert (Jülichernachlaß UB Marburg). Publiziert sind die folgenden Briefgruppen: Kurt Aland, Aus der Blütezeit der Kirchenhistorie in Berlin. Die Korrespondenz Adolf v. Harnacks u. Karl Holls mit Hans Lietzmann: Saec 21 (1970) 235 - 263. - Heinrich Karpp, Karl Holl (1866-1926). Briefwechsel mit Adolf von Harnack, Tübingen 1966. - Paul Schattenmann, Briefe von Karl Holl 1914-1921: ZKG 79 (1968) 7 7 - 84. - Robert Stupperich, Briefe Karl Holls an Adolf Schlatter (1897-1925): Z T h K 64 (1967) 1 6 9 - 2 4 0 . Literatur Walter F. Bense, Eastern Christianity in the Thought of Karl Holl: The Unitarian Universalist 31 (1976) 5 - 2 7 . - Walter Bodenstein, Die Theol. Karl Holls im Spiegel des antiken u. reformatorischen Christentums, 1968 (AKG 40). - Heinrich Bornkamm, Luther im Spiegel der dt. Geistesgesch., Göttingen 2 1970, 1 1 4 - 1 1 7 . 3 8 9 - 3 9 7 . - Walter Delius, Karl Holl: NDB 9 (1972) 532f. - Adolf von Harnack/Hans Lietzmann, Karl Holl t , 1926 (AKG 7). Harnacks Nachruf auch: ders., Aus der Werkstatt des Vollendeten, Gießen 1930, 2 7 5 - 2 8 8 . - Justus Hashagen, Die apologetische Tendenz der Lutherforschung u. die sog. Lutherrcnaissance: HV 31 (1937) 625 - 6 5 0 . - Hajo Holborn, Karl Holl: DVfLG 5 (1927) 4 1 3 - 4 3 0 . - Adolf Jülicher, Karl Holl: ChW 40 (1926) 6 2 7 - 6 3 2 . - Ders./Ernst Wolf, Holl, Karl: R G G 3 3 (1959) 432 f. - Hans Lietzmann, Karl Holl t : Gn. 2 (1926) 4 3 0 - 4 3 2 . - Ders., Gedächtnisrede auf Karl Holl: SDAW 1927, L X X X V I - X C V I = K. Holl, GAufs. III, s. o., 5 6 8 - 5 7 7 . - Hanns Rückert, Nachruf auf Karl Holl: Luther 8 (1926) 3 4 - 4 3 = ders., Vortr. u. Aufs, zur hist. Theol., Tübingen 1 9 7 2 , 3 6 0 - 3 6 8 . - Ders., Karl Holl: Tendenzen der Theol. im 20. Jh., hg. v. Hans Jürgen Schultz, Stuttgart 2 1 9 6 7 , 1 0 3 - 1 0 8 = ebd. 3 6 9 - 3 7 3 . - E r i c h Seeberg, Karl Holl in memoriam: ThBl 5 (1926) 1 6 5 - 1 6 9 . - Robert Stupperich, Karl Holls Oststud. u. ihr Einfluß auf sein politisches Denken: H Z 215 (1972) 3 4 5 - 3 6 7 . - D e r s . , Karl Holl als Lutherforscher: Luther 37 (1966) 1 1 2 - 1 2 1 . Ders., Karl Holl im kirchl. Ringen seiner Zeit, darg. nach seinen Briefen: J B B K G 53 (1981) 5 5 - 9 1 . Johannes Wallmann, Karl Holl u. seine Schule: ZThK Beih. 4 (1978) 1 - 3 3 . - Otto Wolff, Die Haupttypen der neueren Lutherforschung, 1938 (TSSTh 7), 3 1 8 - 3 8 4 . J o h a n n e s Wallmann

Hollaz, David - » O r t h o d o x i e , Lutherische

Holtzmann Holtzmann, Heinrich

Julius

(1832-1910)

1. Leben und akademischer Werdegang (Quellen/Literatur S. 521) 1. Leben

und akademischer

519

2. Wissenschaftliche Bedeutung

3. Nachwirkung

Werdegang

H. J. Holtzmann wurde als ältester Sohn des nachmaligen Prälaten Karl Julius Holtzmann in Karlsruhe geboren (zur Familie: NDB 9 [1972] 559f). Nach dem Abitur am Heidelberger Gymnasium studierte er ebendort 1850/51 und 1852-54 und (enttäuscht) in Berlin 1851/52 acht Semester einschließlich Predigerseminarzeit Theologie, lediglich in seinem letzten Semester von R. -»Rothe und zuvor (in Berlin) von W. -» Vatke beeindruckt. Als Pfarrvikar in Badenweiler 1854-57 mit der festen Absicht, in die Praxis zu gehen (Nippold 400), sah er sich aufgrund der Politik im Evangelischen Oberkirchenrat in Karlsruhe (-»Baden) veranlaßt, die akademische Laufbahn einzuschlagen. Mit der am 23. Januar 1858 bei der Theologischen Fakultät in Heidelberg eingereichten Arbeit De corpore et sanguine Christi quae statuta fuerittt in ecclesia examinantur (Heidelberg 1858) erwarb er am 5. März Summa cum laude den Licentiatengrad und erhielt am 17. April bereits die Venia docendi. Aufgrund dieses und des weiteren dogmengeschichtlichen Werks Kanon und Tradition. Ein Beitrag zur Dogmengeschichte und Symbolik (Ludwigsburg 1859) wurde er zunächst 1859 Lehrer am Predigerseminar und am 3. Juni 1861 a.o. Professor in Heidelberg. Am 5. Oktober 1865 stieg er zum Ordinarius in seiner Fakultät auf, nachdem sein frühes Hauptwerk (s. u. 2.2.1) erschienen war und er im gleichen Jahr einen Ruf an die Evangelisch-theologische Fakultät in Wien, die ihm 1862 den D. (theol.) verlieh, abgelehnt hatte. Seine Berufung nach Straßburg i.E. zum 1.Oktober 1874 war belastet durch seine starken Aktivitäten im -»Protestantenverein (vgl. Anonymus, Die fünfte badische Durlacher Conferenz: PKZ 11 [1864] 651-657 über Holtzmann), die seine Einstellung auch kirchenpolitisch offenkundig machten (Mayer 91), durch seine klare Stellung im Badischen Kirchenstreit und auch durch seine Mitwirkung als Vertreter der Universität und des Heidelberger Landes in der 2. badischen Kammer (1867-1871; vgl. zunächst [1880] anonym, dann nach seinem Tode unter eigenem Namen Heinrich Holtzmann über die kirchliche Lage in Preußen nach dem Sieg der Hofpredigerpartei: PrM 15 [1911] 27-43). Obwohl von radikal konfessionellen Kreisen oft angegriffen, die u.a. gegen ihn die Berufung des alternden J . C . K , v. -»Hofmann anstrebten (Mayer 18f; PKZ 22 [1875] 727), und obwohl die Bemühung des Berliner Magistrats, ihn 1875 als Propst von St. Petri zu berufen, durch den Preußischen Oberkirchenrat scheiterte, war Holtzmann in Straßburg für Jahrzehnte die kirchlich und akademisch herausragende Persönlichkeit. 1878/79 war er (Pro-)Rektor, am 13. August 1897 wurde er zum Dr. phil. h. c. der philosophischen Fakultät promoviert. Hier wirkte er bis Herbst 1904. 1906 zog er nach Baden (heute Baden-Baden), wo er am 4. August 1910 starb. Sein Fachgebiet sah er eingebettet in das Ganze theologischer und philosophischer Arbeit des 19. J h . Entsprechend weit gestreut waren Forschung und Lehre. Neben den neutestamentlichen waren „Pädagogik", „Katechetik" und „Wesen der Religion" bevorzugte Vorlesungen. D a ß er niemals „ R ö m e r b r i e f " las (vgl. Einl. 3 232ff), beruht vornehmlich auf Rücksichtnahme gegenüber seinen Straßburger Kollegen. Große menschliche Güte, übergroße Bescheidenheit und reiches Wissen treffen sich in einer immensen, aber auch belastenden Literaturberücksichtigung, die dem anders Denkenden breiten Raum gewährt, wofür die gegen die eigene wissenschaftliche Ansicht und gegen andere durchgesetzte Habilitation seines Schülers A. -»Schweitzer (1901) einsteht (Bauer 336 f; H. Holtzmann, Gesinnungsethik und Interimsethik: P r M 14 [1910] 1 - 8 ) . 2. Wissenschaftliche

Bedeutung

Holtzmanns wissenschaftliches Werk setzt ein zu Lebzeiten F. C. -»Baurs und endet in der Hochblüte religionsgeschichtlicher Forschung ( T R E 6 , 3 8 6 ff; H. Holtzmann, „Neutestamentler" und „Religionsgeschichtler": P r M 10 [1906] 1—16). Wissend um die Spannung zwischen Baur und R . - » R o t h e (Nippold 599), sucht Holtzmann, von beiden beeindruckt, in kritischer Liberalität gegenüber beiden das Bleibende der Positionen in die nachbaursche Ära und über diese hinaus in die liberale Theologie einzubringen, ohne A. -»Ritschis und seiner Schüler Konzeption zu übernehmen (Brief Holtzmanns an W. -»Herrmann, 16.Dez. 1898 [und in weiteren Briefen im Nachlaß Herrmann]). 2.1. Zeigen die frühen dogmengeschichtlichen Untersuchungen (s. zu 1) die notwendige Abgrenzung gegenüber Baur, so berühren sie sich mit ihm, wenn Holtzmann Anfänge eines liberalen Jesus-

520

Holtzmann

bildes bei ihm aufspürt (Kanon 103.172; vgl. die Kritik A. Ritschis: ThStKr 33 [1860] 571-597). Baurs Konstruktion des Urchristentums bleibt Stachel für ihn. Denn wenn auch „die Wissenschaft vom Urchristenthum... täglich vorsichtiger in Behauptungen (wird)" (FS E. Zeller, 1884,60), so gilt - weit gefaßt: „Daß die Tübinger Kritik durch die nachfolgenden Bemühungen nur mit Correcturen oder wenigstens Modificationen in Detailfragen bereichert werden konnte" (Holtzmann brieflich an E. Zeller am 30. Mai 1884 [Nachlaß Zeller]; vgl. H. Holtzmann, Baur und die neutestamentliche Kritik der Gegenwart: PrM [1897] 177-188.225-239). 2.2.1. Holtzmanns akribischer Nachweis in Die synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter (Leipzig 1863; schon ,Kanon' 146f. 172 skizziert), daß das Mk einer Grundschrift, der Quelle A, am nächsten stehe, Mt und Lk aber zugleich dieser und einer Quelle A (Spruchquelle) folgten, brachte die durchschlagende Begründung der Zweiquellentheorie gegenüber der Tübinger Konstruktion (TRE 10,588 ff. 593). Im Ergebnis berührt sich Holtzmann insofern mit einem Grundgedanken Baurs, als auf der neuen Quellenbasis „Das Lebensbild Jesu nach der Quelle A " entworfen wird (468 ff). „Gesiegt h a t . . . die Markushypothese in liberal-psychologischer Anwendung" (A. Schweitzer, Gesch. d. Leben-Jesu-Forschung, 2 1913,204). Noch manche Verbesserung, vor allem die Gleichsetzung der Grundschrift A mit dem kanonischen Mk, vertieften die Begründungen der seitdem weithin brauchbarsten literarkritischen Arbeitshypothese zu den Synoptikern (Einl. 3 340ff. 382ff; Die Marcus-Kontroverse in ihrer heutigen Gestalt: ARW 10 [1907] 18-40.161-200). 2.2.2. Von frühesten Veröffentlichungen an liegt Holtzmann an der historischen und theologischen Standortbestimmung der Einleitungswissenschaft (über Begriff und Inhalt der biblischen Einleitungswissenschaft: ThStKr 33 [1860] 4 1 0 - 4 1 6 ; Kanon; Die synopt. Evangelien VHff; vgl. T R E 9, 471 ff), deren inhaltliche Füllung in allgemeine und spezielle Einleitung unter Beachtung des Kanonischen einen erheblichen Bereich seiner neutestamentlichen Veröffentlichungen ausmacht (Auflistung bei Bauer 313-315). Die umstrittene Lösung zu -*Kolosser- und -»Epheserbrief (Kritik der Epheser- und Kolosserbriefe auf Grund einer Analyse ihres Verwandtschaftsverhältnisses, Leipzig 1872) bleibt für Holtzmanns diesbezüglichen Gedankenaustausch mit F. -»Overbeck wichtig (Briefe Holtzmanns vom 5. und 7.2.1872 im Overbeck-Nachlaß), die Untersuchung über Die Pastoralbriefe kritisch und exegetisch bearbeitet (Leipzig 1880) ist richtungweisend für die Erhebung des situativen Hintergrundes dieser deuteropaulinischen Schreiben (-• Pastoralbriefe). Das Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament (Freiburg 1885 3 1892) bildet die die einzelnen Schriften des Neuen Testaments aus didaktischen Gründen nicht in der Geschichte des Urchristentums verankernde, aber die Forschung des 19. Jh. abschließend referierende Darstellung (wichtige Kommentierung in Holtzmanns Briefen an A. Jülicher [Jülicher-Nachlaß]). Der exegetische Niederschlag auch der Einleitungswissenschaft ist in Holtzmanns Kommentaren verzeichnet (im HandCommentarzum Neuen Testament: Die Synoptiker [Freiburg 1890, Tübingen/Leipzig 3 1901]; Evangelium, Briefe und Offenbarung des Johannes [Freiburg 1891 2 1893, Tübingen 3 1908, besorgt v. W. Bauer]; Die Apostelgeschichte [Freiburg 1891, Freiburg/Tübingen 3 1901]). 2.2.3. Das Gleiche gilt von dem Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie (2 Bde., Freiburg 1897, Tübingen 2 1911, hg. v. A. Jülicher und W. Bauer), das „vorbildlich in seiner kritischen Gewissenhaftigkeit" (R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen '1984, 593; Breysig 88 ff) nicht einen eigenen Entwurf, aber den Höhepunkt liberaler theologischer Forschung darstellt und doch an seinem Anspruch, methodisch und sachlich in seinem Jesus- und Paulusteil in der Nachfolge F.C. Baurs zu stehen, zerbricht (Nachweise bei A. Schweitzer; T R E 6, 462; Merk 242 ff und die dort Genannten). Es bleibt die von eschatologischer Erwartung freie Persönlichkeit Jesu {Das messianische Bewusstsein Jesu - Ein Beitrag zur Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1907) als „die constanteste Größe" neutestamentlicher Theologie (Ntl. Theol. I 1 348), in der im Hinblick auf den „primären" Religionsstifter Jesus Paulus zum „secundaren... Religionsstifter" wird (Ntl. Theol. II1 203). Damit wird die isolierende Lehrbegriffmethode gerechtfertigt und eine Verwurzelung neutestamentlicher Theologie in der Geschichte des Urchristentums verhindert (vgl. Zum Thema „Jesus und Paulus": PrM 4 [1900] 4 6 3 - 4 6 8 ; 11 [1907] 313 - 3 2 3 ) . 2.3. Holtzmanns weitgespannte dogmen-, kirchengeschichtlichen, philosophisch-religionsphilosophischen Interessen und Arbeitsfelder wollten neutestamentliche Wissenschaft im geistigen Gefüge des 19. Jh. vertiefen, das kritische Gespräch mit R. Rothe in sachgemäßer und abschließender Breite aufnehmen (R. Rothe's speculatives System. Dargestellt und beurtheilt, Freiburg/Leipzig/ Tübingen 1899; Holtzmanns übrige Untersuchungen zu Rothe ebd. V Anm. 1 aufgeführt; dazu: PrM 11 [1907] 1 - 6 ) und das,Wesen der Religion' für die liberale Theologie als geistes- und kulturgeschichtliches Phänomen erschließen (Religion und Speculation: PKZ 21 [1874] 518-522.546-552; PKZ 22 [1875] 3 3 - 4 2 ; Die theologische, insonderheit religions-philosophische Forschung der Gegenwart: JPTh 1 [1875] 1 - 3 8 ) . Da „hauptsächlich die Schule Herbart's, indem sie das religiöse Problem wieder in vorwiegend ethischer Richtung verfolgte, an Kant anknüpfte" (ZWTh 18 [1875] 176 Anm. 1), war für Holtzmann eine Neubesinnung auf I. -»Kant gegeben, die ihn nicht zu dem aufstrebenden Neukantianismus (-»Kant) hinzog, sondern ihn enger an Theobald Ziegler

Holtzmann

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(1846-1918) heranführte, ihn aber in der Auswirkung auf die Pädagogik auch mit Paul Natorp (1854-1924) in Berührung brachte (Briefe Nachlaß Natorp; H. Holtzmann, Kant's Religionsphilosophie mit Bezug auf neuere Darstellungen: ZWTh 18 [1875] 161-190; ders., Die Entwickelung des ästhetischen Religionsbegriffes: ZWTh 19 [1876] 1 - 3 0 ; ders., Der Religionsbegriff der Schule Herbart's: ZWTh 25 [1882] 6 6 - 92). Das Problem der Geschichte der Auslegung (1886) verdeutlicht die hermeneutische Relevanz seiner gesamten wissenschaftlichen Arbeit (vgl. auch H. Holtzmann, Die philosophische Periode der Auslegung und Auslegungskunst: PrM 4 [1900] 173-181; ders.: ZWTh 17 [1874] 269-280). Durch die historisch-kritische Forschung erweist sich der Protestantismus als Ausdruck liberaler Lebensgestaltung (Zur Lage des Protestantismus an der Jahrhundertwende: PrM 5 [1901] 4 1 - 5 6 ) . Lutherstudium und kritische Rezeption der Lutherforschung vertiefen das Anliegen, das in der positiven Wertung des -»Modernismus/Reformkatholizismus seine ökumenische Probe besteht (F. v. -»Hügel; A. -»Loisy; vgl. Der Reformkatholizismus und seine Stellung zur Erforschung vom Neuen Testament und Urchristentum: PrM 7 [1903] 165-196 [dazu: PrM 12 (1908) 41-47.171-174.369—385 über Reformkatholizismus in den europäischen Ländern]; Der Fall Loisy: PrM 9 [1905] 1 - 2 2 ; zu Holtzmanns Beziehungen zu F. v. Hügel vgl. ThLZ 34 [1909] 3 9 0 - 3 9 2 und P. Neuner). 2.4. Selbst ausgehend von der Praxis, hat nach Holtzmann wissenschaftliche Arbeit dann ihr Ziel erreicht, wenn sie in die Praxis mündet, was er beispielhaft als Neutestamentier an praktischen Erklärungen des I Thess und Hebr verdeutlicht (Praktische Erklärung des 1. Thessalonicherbriefes, hg. v. E. Simons, Tübingen 1911; Zur praktischen Erklärung des Hebräerbriefs: ZPrTh 13 [1891] 219-238). Lebenslange Bemühungen gelten Katechetik/Religionsunterricht in der Volksschule (Auflistung der wichtigsten Beiträge bei Bauer 322f; Bassermann). Von der Geschichte der Katechese bis hin zu einem kleinen Kompendium der Didaktik und zu katechetischen Entwürfen reichen die Beiträge, die in der Praxis ihre Wirkung ebensowenig verfehlen (Bassermann 182; Bauer 322) wie Holtzmanns Predigten (wichtigste Titel bei Bauer 325; Bassermann). Selbst ein Meister der Predigtanalyse (vgl. Lutherais Prediger, 1884) war sein Anliegen darauf ausgerichtet, daß „in Zukunft gilt, die Religion des Neuen Testamentes zu verkündigen, ohne desshalb neutestamentliche Lehrbegriffe zu predigen" (Ntl. Theol. I 1 S.X). 2.5. „Der Schatzmeister neutestamentlicher Wissenschaft in unserem Zeitalter" (Jülicher 171) war zugleich ein eigenständiger Kunstkenner: Denkmäler der Religionsgeschichte auf dem Gebiet der italienischen Kunst. Drei Vorträge, Elberfeld 1869; Über die Entstehung des Christusbildes der Kunst: JPTh 3 (1875) 189-192; Zur Entwicklung des Christusbildes in der Kunst: JPTh 10 (1884) 7 1 - 1 3 6 . Sein beachteter Kunstführer über Mailand. Ein Gang durch die Stadt und ihre Geschichte (in der Reihe: Kennst du das Land? Büchersammlung für die Freunde Italiens XIV, Leipzig 1899) enthält ein kompetentes Kapitel über Ambrosius von Mailand (12-37). In Uber Anselm Feuerbach. Aus dem Nachlaß Heinrich J. Holtzmanns mitgeteilt von Robert Holtzmann: Deutsche Rundschau 150 (1912) 135-140 gibt der Sohn eine einfühlsame Einführung in das Verstehen von Kunst bei seinem Vater.

3. Nachwirkung Die Aufarbeitung vielschichtiger Bereiche macht Holtzmanns Untersuchungen für die weitere Erforschung (und Wiederentdeckung) des 19. Jh. unentbehrlich. Seine Lehrbücher haben bis weit in unser Jahrhundert hinein unmittelbare Bedeutung gehabt. Daß Heinrich Julius Holtzmann als der führende Vertreter historisch-kritischer Forschung nach F. C. Baur im zumindest süddeutschen R a u m für eine ganze Epoche ausstrahlend gewesen ist, ist heute in kritischer Weiterarbeit vorbehaltlos anzuerkennen. Quellen Zentrale Untersuchungen sind im Text bibliographisch erfaßt. Weiteres, insbesondere zur Herausgebertätigkeit Holtzmanns, bei Ernst von Dobschütz (s.u.), Walter Bauer (s.u.). Eine Bibliographie existiert nicht. Anonymus, Betrachtungen über die religiöse Bedeutung Shakespeare's, Heidelberg 1858, wird begründet H. J . Holtzmann zugeschrieben. - Für die freundlich gewährte Benutzung von Holtzmanns Briefen an Wilhelm Herrmann, Adolf Jülicher, Paul Natorp (ÜB Marburg), Franz Overbeck (UB Basel), Eduard Zeller (UB Tübingen) und anläßlich der Berufung Holtzmanns nach Straßburg (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin) danke ich den betr. Handschriftenabteilungen. Literatur Heinrich Bassermann, Heinrich Holtzmann als prakt. Theologe: PrM 6 (1902) 172-184. - Walter Bauer, Heinrich Julius Holtzmann (geb. 17. Mai 1832). Ein Lebensbild: ders., Aufs. u. KS, hg. v.

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Holzschnitte und Kupferstiche

Georg Strecker, Tübingen 1967, 285 - 341. - Kurt Breysig, Das neue Geschichtsbild im Sinn der entwickelnden Geschichtsforschung, Berlin 1944,84-100. - Erich Dinkler, Art. Holtzmann, Heinrich: NDB 9 (1972) 560-561. - Ders., Art. Holtzmann, Heinrich Julius: RGG 3 3 (1959) 436 -437. Ernst von Dobschütz, Art. Holtzmann, Heinrich Julius: RE 3 23 (1913) 654-660. - Adolf Hausrath, Richard Rothe u. seine Freunde, 2 Bde., Berlin 1902/1906. - Wilhelm Hönig, Heinrich Holtzmann und sein Heimatland: PrM 6 (1902) 184-187. - Adolf Jülicher, Heinrich Holtzmann's Bedeutung für die ntl. Wiss.: PrM 6 (1902) 165-172. - Werner Georg Kümmel, Das NT. Gesch. der Erforschung seiner Probleme, 1958 2 1970 (OA 3/3). - Ders., Das NT im 20. Jh. Ein Forschungsbericht, 1970 (SBS 50). - Otto Mayer, Die Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg. Ihre Entstehung u. Entwicklung, Berlin/Leipzig 1922 (Elsaß-Lothringische Hausbücherei 3). - Otto Merk, Bibl. Theol. des NT in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler u. Georg Lorenz Bauer u. deren Nachwirkungen, 1972 (MTSt 9). - Peter Neuner, Rel. Erfahrung u. geschichtl. Offenbarung. Friedrich v. Hügels Grundlegung der Theol., 1977 (BÖT 15). - Friedrich Nippold, Richard Rothe. Ein christl. Lebensbild auf Grund der Briefe Rothe's entworfen, Wittenberg, II 1874. - Oskar Rühle, Der theol. Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Rückblicke Sc Ausblicke, Tübingen 1926. - Paul Schmidt (Basel), Heinrich Julius Holtzmann: Frankfurter Zeitung vom 11. August 1910. - Albert Schweitzer, Gesch. der Paulinischen Forschung v. der Reformation bis auf die Gegenwart, Tübingen 1911 2 1933. - Ders., Von Reimarus zu Wrede. Eine Gesch. der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1906; 2 1913 unter dem Titel: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 6 1951. - Eduard Simons, Art. Holtzmann, Heinrich Julius: RGG 1 3(1912) 119-121. - Julius Websky, Heinrich Holtzmann f: PrM 14 (1910) 298-301. Otto Merk

Holzschnitte und Kupferstiche (der 1. Zielsetzung (Literatur S.525)

2. Techniken

Reformationszeit)

3. Geschichte

4. Anwendungsbereiche

5. Auswirkungen

1. Zielsetzung Im vorgegebenen Rahmen geht es bei diesem Stichwort um Holzschnitte und Kupferstiche als Medien zur Verbreitung von Inhalten im Rahmen religiöser Auseinandersetzung oder im Dienst der Kirchen. Deshalb werden Techniken und die Geschichte ihrer Anwendung sowie die Stellung in der Kunstgeschichte nur knapp behandelt (s. auch -«Graphik

2.

Techniken

Bei Holzschnitten und Kupferstichen wird die Zeichnung seitenverkehrt auf eine (bis um 1800 aus dem Langholz geschnittene) Platte aus Holz (Nußbaum, Kirsche, Birne, Pflaume, Erle) beziehungsweise auf eine völlig glatte Kupferplatte aufgetragen. Da es sich um Hochdruckverfahren handelt, wird alles im fertigen Bild weiß erscheinende mit Messern, Hohleisen oder Sticheln in der Platte vertieft. Der Druck erfolgt mit der Presse, beim Holzschnitt auch durch Abreiben (Handabzug). Auch eine Kupferplatte ermöglicht wegen des notwendigen starken Druckes nicht mehr als etwa 1000 Abzüge; die bessere Qualität gegenüber dem Holzschnitt erfordert feines und gleichmäßiges Papier, das in der Anfangszeit nur selten zur Verfügung stand.

3.

Geschichte

Beide Techniken haben das Ende der Buchmalerei und das Vorhandensein von Papier zur Voraussetzung, so daß die frühesten Blätter nach 1400 in Süddeutschland entstanden. Das älteste erhaltene datierte Blatt von 1423 zeigt den Christophorus. Der Holzschnitt konnte auf die uralte Technik des Stoffdruckes mit Holzstempeln („Zeugdruck" mit „Modeln") zurückgreifen. Die Blätter sind in der Anfangszeit klein und werden kräftig koloriert. Die „Briefmaler" (beim Holzschnitt) kommen von der Buchmalerei her, die Kupferstecher vom Goldschmiedehandwerk. Zuerst wurde das Bild allein gedruckt, der Text handschriftlich hinzugefügt. Ab 1430 etwa wurden Bild und Text gemeinsam, auch als künstlerische Einheit, aus einer Platte geschnitten (Blockbücher, -»Bibelillustration 146). 1461 wurden Holzschnitte erstmals in einem mit beweglichen Lettern gesetzten Buch verwendet und dadurch zur Illustration. Von dieser Zeit an tritt der Holzschnitt als Einzelblatt hinter dem für die Wiedergabe mit einem Text oder in einem Buch bestimmten stark zurück. Die anonymen Meister haben dem Holzschnitt von Anfang an eine den Materialien Holz und grobem Papier adäquate und anderen Bildtechniken gegenüber eigenständige Formsprache gegeben. Es ist deshalb unangemessen, die Holzschnitte etwa der gleichzeitigen Tafelmalerei gegenüber als nur „handwerklich" zu bezeichnen, zumal sie ihren Zwecken genau entsprechen. Dieser für das

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Holzschnitte und Kupferstiche

Georg Strecker, Tübingen 1967, 285 - 341. - Kurt Breysig, Das neue Geschichtsbild im Sinn der entwickelnden Geschichtsforschung, Berlin 1944,84-100. - Erich Dinkler, Art. Holtzmann, Heinrich: NDB 9 (1972) 560-561. - Ders., Art. Holtzmann, Heinrich Julius: RGG 3 3 (1959) 436 -437. Ernst von Dobschütz, Art. Holtzmann, Heinrich Julius: RE 3 23 (1913) 654-660. - Adolf Hausrath, Richard Rothe u. seine Freunde, 2 Bde., Berlin 1902/1906. - Wilhelm Hönig, Heinrich Holtzmann und sein Heimatland: PrM 6 (1902) 184-187. - Adolf Jülicher, Heinrich Holtzmann's Bedeutung für die ntl. Wiss.: PrM 6 (1902) 165-172. - Werner Georg Kümmel, Das NT. Gesch. der Erforschung seiner Probleme, 1958 2 1970 (OA 3/3). - Ders., Das NT im 20. Jh. Ein Forschungsbericht, 1970 (SBS 50). - Otto Mayer, Die Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg. Ihre Entstehung u. Entwicklung, Berlin/Leipzig 1922 (Elsaß-Lothringische Hausbücherei 3). - Otto Merk, Bibl. Theol. des NT in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler u. Georg Lorenz Bauer u. deren Nachwirkungen, 1972 (MTSt 9). - Peter Neuner, Rel. Erfahrung u. geschichtl. Offenbarung. Friedrich v. Hügels Grundlegung der Theol., 1977 (BÖT 15). - Friedrich Nippold, Richard Rothe. Ein christl. Lebensbild auf Grund der Briefe Rothe's entworfen, Wittenberg, II 1874. - Oskar Rühle, Der theol. Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Rückblicke Sc Ausblicke, Tübingen 1926. - Paul Schmidt (Basel), Heinrich Julius Holtzmann: Frankfurter Zeitung vom 11. August 1910. - Albert Schweitzer, Gesch. der Paulinischen Forschung v. der Reformation bis auf die Gegenwart, Tübingen 1911 2 1933. - Ders., Von Reimarus zu Wrede. Eine Gesch. der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1906; 2 1913 unter dem Titel: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 6 1951. - Eduard Simons, Art. Holtzmann, Heinrich Julius: RGG 1 3(1912) 119-121. - Julius Websky, Heinrich Holtzmann f: PrM 14 (1910) 298-301. Otto Merk

Holzschnitte und Kupferstiche (der 1. Zielsetzung (Literatur S.525)

2. Techniken

Reformationszeit)

3. Geschichte

4. Anwendungsbereiche

5. Auswirkungen

1. Zielsetzung Im vorgegebenen Rahmen geht es bei diesem Stichwort um Holzschnitte und Kupferstiche als Medien zur Verbreitung von Inhalten im Rahmen religiöser Auseinandersetzung oder im Dienst der Kirchen. Deshalb werden Techniken und die Geschichte ihrer Anwendung sowie die Stellung in der Kunstgeschichte nur knapp behandelt (s. auch -«Graphik

2.

Techniken

Bei Holzschnitten und Kupferstichen wird die Zeichnung seitenverkehrt auf eine (bis um 1800 aus dem Langholz geschnittene) Platte aus Holz (Nußbaum, Kirsche, Birne, Pflaume, Erle) beziehungsweise auf eine völlig glatte Kupferplatte aufgetragen. Da es sich um Hochdruckverfahren handelt, wird alles im fertigen Bild weiß erscheinende mit Messern, Hohleisen oder Sticheln in der Platte vertieft. Der Druck erfolgt mit der Presse, beim Holzschnitt auch durch Abreiben (Handabzug). Auch eine Kupferplatte ermöglicht wegen des notwendigen starken Druckes nicht mehr als etwa 1000 Abzüge; die bessere Qualität gegenüber dem Holzschnitt erfordert feines und gleichmäßiges Papier, das in der Anfangszeit nur selten zur Verfügung stand.

3.

Geschichte

Beide Techniken haben das Ende der Buchmalerei und das Vorhandensein von Papier zur Voraussetzung, so daß die frühesten Blätter nach 1400 in Süddeutschland entstanden. Das älteste erhaltene datierte Blatt von 1423 zeigt den Christophorus. Der Holzschnitt konnte auf die uralte Technik des Stoffdruckes mit Holzstempeln („Zeugdruck" mit „Modeln") zurückgreifen. Die Blätter sind in der Anfangszeit klein und werden kräftig koloriert. Die „Briefmaler" (beim Holzschnitt) kommen von der Buchmalerei her, die Kupferstecher vom Goldschmiedehandwerk. Zuerst wurde das Bild allein gedruckt, der Text handschriftlich hinzugefügt. Ab 1430 etwa wurden Bild und Text gemeinsam, auch als künstlerische Einheit, aus einer Platte geschnitten (Blockbücher, -»Bibelillustration 146). 1461 wurden Holzschnitte erstmals in einem mit beweglichen Lettern gesetzten Buch verwendet und dadurch zur Illustration. Von dieser Zeit an tritt der Holzschnitt als Einzelblatt hinter dem für die Wiedergabe mit einem Text oder in einem Buch bestimmten stark zurück. Die anonymen Meister haben dem Holzschnitt von Anfang an eine den Materialien Holz und grobem Papier adäquate und anderen Bildtechniken gegenüber eigenständige Formsprache gegeben. Es ist deshalb unangemessen, die Holzschnitte etwa der gleichzeitigen Tafelmalerei gegenüber als nur „handwerklich" zu bezeichnen, zumal sie ihren Zwecken genau entsprechen. Dieser für das

Holzschnitte und Kupferstiche

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15. Jh. unzulässige Vergleich legt sich allerdings in dem Moment nahe, als mit A. -»Dürer ein herausragender Künstler sich der Technik des Holzschnittes bediente und Qualitätsmaßstäbe setzte, die sich von der weiterhin existierenden Gebrauchsgraphik abhoben (Apokalypse 1498, Marienleben nach 1500, Große Passion 1509, Kleine Passion 1511). Im 16. Jh. haben zahlreiche bekannte Künstler Holzschnitte gefertigt, so Albrecht Altdorfer, Hans Burgkmaier, Hans Holbein d. J., Peter Flötner. Hans Baidung Griens Entwürfe litten darunter, daß bei der üblich gewordenen Trennung zwischen Zeichner, Reißer (der den Entwurf auf die Platte übertrug) und Formschneider (der die Arbeit mit Messer und Hohleisen ausführte) ihm meist nur schlechte Formschneider zur Verfügung standen. Kupferstiche sind anfangs viel seltener, nur wenige Künstler, wie etwa Martin Schongauer, verwendeten diese Technik. Das änderte sich im 17. Jh., als der Holzschnitt als grob und veraltet empfunden wurde und ihm wegen des immer kleineren Buchformates und der wirtschaftlichen Notlage der Hauptkundschaft, des Bürgertums, der Markt fehlte. Es dominiert nun, und auch im 18. Jh., der Kupferstich. Erst im 19. Jh. mit seiner stark vermehrten Buchproduktion werden beide Techniken wieder häufig angewendet, aber fast ausschließlich als integrierter Bestandteil zeitgenössischer Kunst, während sich bis ins 17. Jh. hinein die ursprüngliche, volkstümliche und originäre Holzschnittkunst erhalten hatte. 4.

Anwendungsbereiche

A m Anfang steht d a s Einzelbild f ü r die private Andacht einfacher Leute, deren Frömmigkeitsbedürfnis die Bildthemen der von den Briefmalern gefertigten und von ihnen auf J a h r m ä r k t e n , bei kirchlichen Festen und Wallfahrten verkauften Holzschnitte bestimmte: die thronende M a d o n n a , Krönung und Tod der - » M a r i a , die Kreuzigung (-»Kreuz), volkstümliche Heilige (-» Heilige/Heiligenverehrung) wie Christopherus und Dorothea. Daneben entstanden Spielkarten und Kalenderblätter. Es wurden selten Szenen, meist Einzelfiguren dargestellt. Das änderte sich, als die Holzschnitte mit Texten kombiniert w u r d e n . Bei den Blockbüchern (-»Bibelillustrationen, 146; älteste um 1430, jüngste um 1530) hat das Bild d e m Text gegenüber eine eigene, komplementäre Stellung und Funktion. Bei der Biblia Pauperum (-»Armenbibel, -»Bibelillustrationen, 143 u. Abb. 14 auf Taf. 7), einem homiletischen Hilfsmittel, dominiert das Bild noch eindeutig über den Text, indem zu einer Einzelszene der Passion je eine alttestamentliche Typologie (-•Schriftauslegung) aus der Zeit ante legem und sub lege sowie vier Prophetenworte gesetzt werden. Diese Blockbücher sind die F o r t f ü h r u n g von entsprechenden Handschriften in der neuen Technik. Wandte sich dieses Werk an Theologen, so ist etwa die -*Ars moriendi (Urausgabe um 1440) eine für den einzelnen Christen gedachte Publikation, die das Bild durch hineingenommene Schriftbänder noch verdeutlicht, w ä h r e n d der auf der gegenüberliegenden Seite stehende Text es ergänzt. Dieses Trostbuch zum Sterben steht im Kontext mit den Sterbebruderschaften (-»Bruderschaften), die im 15. J h . weit verbreitet waren. Weitere Titel, die in Form eines der insgesamt 33 Blockbücher (mit rund 100 Ausgaben) besonders verbreitet waren, sind das „ S p e c u l u m humanae salvationis", -»Antichrist, Canticum Canticorum (-»Hoheslied) und die Apokalypse (-»Apokalypse des Johannes). Z u den wenigen weltlichen Titeln gehört ein Planetenbuch und ein Kalender. Wurde der Holzschnitt in den mit beweglichen Lettern gesetzten Büchern erstmals bei Tierfabeln (Der Edelstein, Bamberg 1461) und dann beim Ackermann aus Böhmen verwendet, so treffen wir ihn besonders bei der -»Bibelillustration an. Hier bestand im Unterschied zum Einzelblatt Möglichkeit und Notwendigkeit der szenischen Darstellung und der mehrere Bilder umfassenden Bildfolge. Die in dieser Zeit erscheinenden Bücher, die das gesamte Wissen der Zeit darstellen wollen, wie z.B. die Schedeische Weltchronik, N ü r n b e r g 1493, bedurften ebenfalls der Bilder. Hier w a r einerseits Genauigkeit der Darstellung erforderlich, wie man andererseits nicht ohne Typisierung a u s k a m (etwa f ü r Stadt, König, oder wenn keine Bildvorlagen vorhanden waren). Fast alle deutschen Bibelausgaben vor der Luthers sind mit Holzschnitten versehen, wobei die umfangreichen a n o n y m e n Zyklen o f t mehrmals verwendet wurden. Auch sie stehen anfangs in der Bildtradition der Miniaturen (vgl. Schmidt, 6 6 - 7 3 und T U E 6, Abb. 16 u n d 17 auf Taf. 8) und prägten andererseits nachfolgende Bibelillustrationen, w a s z. B. bei d e m Zyklus von 123 g r o ß e n querformatigen Holzschnitten der zweiten Auflage der niederdeutschen Kölner

524

Holzschnitte und Kupferstiche

Bibel von etwa 1478 über einhundert Jahre zu verfolgen ist. Hier sind eigene Bildtraditionen vorhanden, die nicht immer eine exakte Umsetzung des biblischen Textes darstellen, den sie illustrieren sollen. Luther hat deshalb von Lucas Cranach d. Ä. zum Teil neue, textgemäße Darstellungen verlangt, die sich aber gegen die übermächtige alte Bildtradition nicht halten konnten (vgl. etwa nur Arche Noah, Schmidt 4 2 0 - 4 2 4 und T R E 6, Abb. 2 auf Taf. 10). Die größte Breitenwirkung haben Holzschnitte und Kupferstiche wohl in der Form von Flugblättern und in den zahlreichen -»Flugschriften gehabt. Man hat sie zu Recht als „Massenkommunikationsmittel mit propagandistisch-agitativer Zielsetzung" bezeichnet, die „in der Phase der geistig-religiösen und politisch-sozialen Auseinandersetzungen an der Schwelle der Neuzeit zum ersten Mal in großem Umfang zur gezielten Massenbeeinflussung eingesetzt wurden" (Köhler X). Die Flugblätter, bei denen später die Kupferstiche zu überwiegen scheinen, sind aber keineswegs eine Erfindung der Reformationszeit oder der Kirchen, sondern ein zeitübliches Medium, dessen man sich bediente. Auf diese Weise wurden damals auffällige Ereignisse bekanntgemacht, die möglichst genau im meist kolorierten Bild wiedergegeben wurden. Dazu kam oftmals ein gereimter und deshalb auch beim Vorlesen einprägsamer Text, so daß auf diese Weise auch Analphabeten erreicht wurden. Blätter rein belehrender Art waren selten, während die Berichte über absonderliche Geburten, Himmelserscheinungen und Dämonen fast immer mit Deutungen der Ereignisse verbunden waren. Die wie so manches übertrieben dargestellten Greuel der Türken sollten zu Geldspenden und Mitwirken im Kampf motivieren, Geschichten von Morden und Hinrichtungen abschreckend wirken. Die so verarbeitet dargebotenen Informationen behandelten in deutscher Sprache Ereignisse aus der ganzen damals bekannten Welt. Dieser Medien bedienten sich auch die Parteien in der Reformationszeit, weitaus überwiegend die evangelische, seltener, aber mit derselben, diesem Genre eigenen Ubertreibung, äußersten Schärfe und Volkstümlichkeit des Textes auch die katholische Kirche. Der Kampf gegen den Ablaß etwa wurde auch mit Flugblättern betrieben, wie die Ablaßbriefe außer dem Text auch immer einen Holzschnitt (mit dem gemarterten Christus und den Leidenswerkzeugen, den Arma Christi) brachten. Gute Beispiele für die Verwendung zunächst rein informativ und ohne Text verbreiteter wunderlicher Tiergestalten sind das „Mönchskalb" und der „Papstesel". Die Mißgeburt eines Kalbes am 8.12.1522 wurde ohne Text publiziert. Ein Astrologe, der dies dem Markgrafen Georg von Brandenburg deuten sollte, interpretierte es auf Luther. Deshalb entschuldigte sich Georg bei Luthers Landesherrn am 5.1.1523. Luther kennt diesen Brief am 22.1.1523 und wird wohl dadurch zu seiner eigenen Deutung gereizt. Kam ihm das Thema doch sehr gelegen, weil er sich zu dieser Zeit gerade mit dem Problem beschäftigte, das sich im April 1523 in der Schrift Ursache und Antwort, daß Jungfrauen Klöster göttlich verlassen mögen (WA 11, 394-400) niederschlug. So kann man Luthers Text zu diesem Bild als eine volkstümliche Fassung seiner Gedanken gegen das Mönchtum bezeichnen, mit denen er sicherlich noch ganz andere Kreise erreichte, als mit der nur verbalen Auseinandersetzung in Büchern. Melanchthon interpretierte das Bild einer im Tiber gefundenen Mißgeburt als „Papstesel", indem er das Prinzip des vierfachen Schriftsinnes anwendet. Gelegentlich wurden auch vorreformatorische Blätter reformatorisch angeeignet (vgl. Seebaß). Flugblätter sind jedoch nicht nur in der Reformationszeit, sondern bis ins 19. Jh. sehr häufig und beliebt. Die -»Flugschriften („aus mehr als einem Blatt bestehende, selbständige, nichtperiodische und nicht gebundene Druckschrift, die sich mit dem Ziel der Agitation, d.h. der Beeinflussung des Handelns, und/oder der Propaganda, d. h. der Beeinflussung der Uberzeugung, an die gesamte Öffentlichkeit wendet", Köhler 3), von denen allein zwischen 1513 und 1523 mehr als 3000 erschienen, die „neue Zeitung" genannt wurden und die ab 1609 zur Zeitung in unserem Sinne führten, wenden sich nicht primär an das Volk wie die Flugblätter, sondern an die Gebildeten. In ihnen hat der Text eine überwiegende und das

TAFEL 1

rutoftmforumMinuammipmma* mdUftwo crcr0 0 jürtitmi^ öifmoitrnmla nontiu»MR**|£f tmu>

Ö

Christopherus, Einblattdruck, Süddeutsch 1 4 2 3

TAFEL 2

TAFEL 3

j^¡m^mmmsmmmm^^^rm^ lanDen ju raaMftgebracfjt roieer inier Kirc^cn | u P i r o iirftinan SÖaieilanD abgeraafcle11 p. teuefdje« mercfetmicij tecfci/ ^ £)nDneun&unD«uamn/ ©naD W»0 3 H a i ) »on ein« SiJnD/ ^5ot«uc^/ff ¿1«««/ JBetb »nöÄin&y S o ! ein jeDer geweitet fein Öooitl ri>rlfeifenflingt/ 3 m fcup Ott © « i im J?imurd}

Lutherus septiceps, Titelholzschnitt zu: Johannes Cochlaeus, .Sieben Köpffe Martini Luthers', Leipzig 1529 (von Hans Brosamer)

TAFEL 8

Ars Moriendi, 4. Bild: Wider die Versuchung der Verzweiflung, Meister Ludwig zu Ulm, um 1470

Holzschnitte und Kupferstiche

525

Bild in der Regel eine nebensächliche, o f t nur n o c h d e k o r a t i v e F u n k t i o n . D o c h wird es a u c h hier im polemischen Sinne verwendet, wie e t w a das Titelbild Lutherus

triumphans

1 5 6 8 a u f einer Flugschrift gegen den katholischen Klerus zeigt. 5.

Auswirkungen

Die Flugblätter h a b e n — vorwiegend d u r c h d a s M e d i u m des Bildes — unter den einfac h e r e n Leuten für die Verbreitung der Ideen der R e f o r m a t i o n eine zumindest ebensolche R o l l e gespielt wie die Flugschriften unter den Gebildeten. A u f die Korrelation zwischen Bibelillustration und Bibelkenntnis h a t Schmidt (11) hingewiesen: N i c h t illustrierte Bücher, wie die P r o p h e t e n , sind i m m e r die u n b e k a n n t e r e n g e w e s e n . D a r ü b e r hinaus lieferten die i m m e r u m f a n g r e i c h e r e n S a m m l u n g e n v o n biblischen Bildern ( 3 4 1 Bilder i m Thesaurus 1 5 8 8 und fast 6 0 0 Bilder im Theatrum

Sacrarum Biblium

Historiarum

Veteris et Novi

Testamenti

1 6 7 4 e t w a ) a u c h den einfachen M a l e r n die

M ö g l i c h k e i t , die Kanzeln und v o r allem die Brüstungen der E m p o r e n in den lutherischen K i r c h e n mit Z y k l e n biblischer Bilder auszustatten. In der B r e i t e n w i r k u n g der I n f o r m a t i o n haben H o l z s c h n i t t e und Kupferstiche eine wesentlich g r ö ß e r e und weitreichendere W i r k u n g als die W e r k e der Tafelmalerei und der Plastik. Literatur Jörg Bahns/Sigrid Wechsler, Flugblätter. Aus der Frühzeit der Zeitung. Gesamtverz. der Flugblatt-Sammlung des Kurpfälzischen Museums der Stadt Heidelberg, Heidelberg 1980. - Hans-Eckehard Bahr, Verkündigung als Information. Zur öffentlichen Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft, Hamburg 1968 (Konkretionen 1). - Bernd Balzer, Bürgerliche Reformationspropaganda. DieFlugschr. des Hans Sachs in den Jahren 1 5 2 3 - 1 5 2 5 , Stuttgart 1973 (Germanistische Abh.42). - Wolfgang Brückner, Massenbildforschung 1 9 6 8 - 1 9 7 8 : Int. Archiv für Sozialgesch, der dt. Lit. 4 (1979) 1 3 0 - 1 7 8 . - William A. Coupe, The German Illustrated Broadsheet in the Seventeenth Century. Hist. and Iconographical Studies, 2 Bde., 1966/67 (BBAur 17). - Hans Fehr, Massenkunst im 16. J h . Flugblätter aus der Sammlung Wickiana, Berlin 1924 (Denkmale der Volkskunst 1). - Otto Fischer, Albrecht Dürer. Sämtl. Holzschnitte, Berlin 1938. - M a x Geisberg, Der dt. Einblatt-Holzschnitt in der ersten Hälfte des X V I . Jh., München 1 9 2 3 - 1 9 3 0 . - Wolfgang Harms u.a. (Hg.), Illustrierte Flugblätter des Barock. Eine Ausw., Tübingen 1983 (Dt. Neudr. R . Barock 30). - Wolfgang Harms (Hg.), Illustrierte Flugblätter aus den Jh. der Reformation u. der Glaubenskämpfe. Bearb. v. Beate Rattay, Coburg 1983 (Kataloge der Kunstsammlungen der Veste Coburg). - Ders. (Hg.), Dt. illustrierte Flugblätter des 16. u. 17. J h . I. Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. 1: Ethica, Physica, Milwood/London 1984, II. Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. 2: Historica, München 1980, IV. Die Sammlungen der Hessischen Landes- u. Hochschulbibliothek Darmstadt, Milwood/London (vermutlich 1986). - Martin Hoberg, Die Gesangbuchillustration des 16. J h . Ein Beitr. zum Problem Reformation u. Kunst, Diss. 1933 (SDKG 296). - Konrad Hoffmann, Die reformatorische Volksbewegung im Bilderkampf: Martin Luther u. die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers, Frankfurt/M 1983 (Kataloge des Germanischen Nationalmuseums), 2 1 9 - 254. - Ders., Typologie, Exemplarik u. reformatorische Bildsatire: Josef Nolte/Hella Tompert/Christof Windhorst (Hg.), Kontinuität u. Umbruch, s.u. - Hans. H. Hofstätter (Hg.), Gesch. der Kunst u. der künstlerischen Techniken, München o. J . - Wolfgang Hütt, Albrecht Dürer 1 4 7 1 - 1 5 2 8 . Das gesamte graphische Werk, München 1970. - Johannes Jahn/Marianne Bernhard, Lucas Cranach d.Ä. Das gesamte graphische Werk, München 1973. - Ruth Kastner, Geistlicher Raufhandel. Form u. Funktion der illustrierten Flugblätter zum Reformationsjubliäum 1617 in ihrem hist. u. publizistischen Kontext, Frankfurt a.M./Bern 1982 (Mikrokosmos 11). - Hans-Joachim Köhler, Die Flugschr. Versuch der Präzisierung eines geläufigen Begriffs: FG Ernst Walter Zeeden, hg. v. Horst Rabe/Hansgeorg Molitor/Hans-Christoph Rublack, 1976 (RGST.S 2), 3 6 - 6 1 . - Ders. (Hg.), Flugschr. als Massenmedien der Reformationszeit. Beitr. zum Tübinger Symposion 1980, Stuttgart 1981 (SpätMA u. frühe Neuzeit. Tübinger Beitr. zur Geschichtsforschung 13). - Eduard Kück (Hg.), Flugschr. aus der Reformationszeit XII. Judas Nazarei, Vom alten u. neuen Gott, Glauben u. Lehre (1521), Halle a. S. 1896 (Neudr. dt. Literaturwerke des 16. u. 17. J h . 142/143). - Hermann Meuche (Hg.), Flugblätter der Reformation u. des Bauernkrieges. 50 Blätter aus der Sammlung des Schloßmuseums Gotha. Katalog v. Ingeborg Neumeister, Leipzig 1976. - Josef Nolte/Hella Tompert/Christof Windhorst (Hg.), Kontinuität u. Umbruch. Theol. u. Frömmigkeit in Flugschr. u. Kleinlit. an der Wende vom 15. zum 16. Jh., Stuttgart 1978 (SpäMA u. frühe Neuzeit. Tübinger Beitr. zur Geschichtsforschung 2). Hermann Oertel, Die prot. Bilderzyklen im niedersächsischen Raum u. ihre Vorbilder: N D B K G 17

526

Homiletik

(1978) 1 0 2 - 1 3 2 . - 0 h n ' A b l a ß von Rom kann man wohl selig werden. Streitschr. und Flugblätter der frühen Reformationszeit, hg. v. Germanischen Nationalmuseum, mit einer Einf. v. Konrad Hoffmann, Nördlingen 1983. - Fritz Saxl, Illustrated Pamphlets of the Reformation: ders., Lectures I, London 1957, 255-266. - Michael Schilling, Allegorie u. Satire auf illustrierten Flugblättern des Barock: Formen u. Funktionen der Allegorie, hg. v. Walter Haug, Stuttgart 1979 (Germanistische Symposien - Berichtsbde. 3), 405-418. - Philipp Schmidt, Die Illustration der Lutherbibel, 1522-1700, Basel 2 1977. - Karl Schottenloher, Flugblatt u. Zeitung. Ein Wegweiser durch das gedruckte Tagesschrifttum, Berlin 1922 (Bibliothek für Kunst- u. Antiquitäten-Sammler 21). - Wilhelm Schreiber, Hb. der Holz- u. Metallschnitte des 15. Jh., Leipzig, IV 1927. - Robert W. Scribner, For the Sake of Simple Folk. Populär Propaganda for the German Reformation, Cambridge 1981 (Cambridge Studies in Oral and Literate Culture 2). — Gottfried Seebaß, Die Himmelsleiter des hl. Bonaventura von Lukas Cranach d.Ä. Z u r Reformation eines Holzschnitts, 1985 (SHAW.PH 4, 1985). Hermann Wäscher, Das dt. illustrierte Flugblatt I. Von den Anfängen bis zu den Befreiungskriegen, Dresden 1955. - Ernst Weil, Die dt. Ubers, der Ars moriendi des Meisters Ludwig von Ulm um 1470, München 1922. - Henning Wendland, Dt. Holzschnitte bis zum Ende des 17. Jh., Königstein/Taunus 198

°-

~

.

.

Peter Poscharsky

Homiletik

1. Begriff und Aufgabe der Homiletik 2. Zur Geschichte der Homiletik 2.1. Alte Kirche und Mittelalter bis zur Reformation 2.2. Von der Reformation bis Schleiermacher 2.2.1. Die Reformation 2.2.2. Orthodoxie, Gegenreformation und Pietismus 2.2.3. Aufklärung 2.3. Von Schleiermacher bis zur Gegenwart 2.3.1. Schleiermacher 2.3.2. Vermittlungstheologie und Erweckungsbewegung 2.3.3. Wendung zum Realismus und die „moderne Predigt" 2.3.4. Homiletik und Wort-Gottes-Theologie 2.3.5. Außerdeutsche und katholische Entwicklung 3. Predigtprobleme der Gegenwart 4. Prinzipielle Homiletik 4.1. Der Grund der Predigt 4.2. Der Gehalt der Predigt 4.3. Die Bedingungen der Predigt 5. Materiale Homiletik 6. Formale Homiletik 7. Rechtsfragen (Anmerkungen/Quellen/Literatur S. 561)

1. Begriff und Aufgabe der

Homiletik

Die Homiletik ist eine Teildisziplin der Praktischen Theologie und wie diese selbst verhältnismäßig jung, wenn auch die Sache, die sie vertritt, und die Beschäftigung damit wesentlich älter sind. Als Bezeichnung für die Theorie der „Kanzelberedsamkeit" taucht der Name Homiletik erst im 17. Jh. auf 1 . Vorher sprach man etwa von ars praedicandi (Reuchlin), ars praedicatoria (Alanus) oder oratoria sacra (noch Joachim Lange 1707). Schon daraus erhellt sich, daß die Homiletik nicht einfach als notwendiges Teilergebnis der Selbstentfaltung der theologischen Wissenschaft angesehen werden kann, sondern als Kunstlehre gewertet werden muß: „Ausübung und Genuß (gehen) lange vorher, ehe die Anweisungen wie das Werk anzufangen und zu vollbringen sei, den engen Kreis der stillen vereinzelten Überlieferung des Meisters an den Schüler verlassen und als zusammenhangende Lehre öffentlich ans Licht treten" (Schleiermacher, SW 1,5,466). Der Versuch vor allem des 19. Jh., für diese Kunstlehre neue Namen zu erfinden, ist mißglückt. Alle diese Bezeichnungen, wie Halieutik (Sickel), Keryktik (Stier) oder Martyretik (Christlieb), haben sich nicht durchgesetzt. Ihnen gegenüber verweist der Name Homiletik auf eine grundlegende kirchliche Praxis: Die Vermittlung des Glaubens geschieht durch die Pflege menschlichen Umgangs, durch öffentliche sprachliche Kommunikation. Denn ofiiXeiv bedeutet ursprünglich auf menschliche Weise miteinander kommunizieren, wobei als Kommunikationsmittel Rede und Gegenrede Vorrang gegenüber anderen hat. In diesem Sinn wird das Wort Act 20,11 und Lk 24,14 f gebraucht. Die Tatsache, d a ß in der christlichen Kirche von Anfang an gepredigt worden ist, kann allerdings die Existenz der Homiletik auch als Kunstlehre nicht hinreichend begründen und ihren Begriff nicht ausschließlich bestimmen. Vielmehr muß die Homiletik diesen ihren Ursprung in der Praxis der Kirche auch als notwendig begreifen; sie muß in der Lehre vom Worte Gottes und in der Lehre von der Kirche (creatura verbi) verankert werden. Homiletik kann also nicht prinzipienlos betrieben werden. In der prinzipiellen Homiletik versucht man mithin, den Zusammenhang dieser Teildisziplin mit der theologischen Wissenschaft als ganzer herzustellen, ihren inneren Aufbau vom Ort der Predigt in der Praxis der Kirche her durchsich-

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Homiletik

(1978) 1 0 2 - 1 3 2 . - 0 h n ' A b l a ß von Rom kann man wohl selig werden. Streitschr. und Flugblätter der frühen Reformationszeit, hg. v. Germanischen Nationalmuseum, mit einer Einf. v. Konrad Hoffmann, Nördlingen 1983. - Fritz Saxl, Illustrated Pamphlets of the Reformation: ders., Lectures I, London 1957, 255-266. - Michael Schilling, Allegorie u. Satire auf illustrierten Flugblättern des Barock: Formen u. Funktionen der Allegorie, hg. v. Walter Haug, Stuttgart 1979 (Germanistische Symposien - Berichtsbde. 3), 405-418. - Philipp Schmidt, Die Illustration der Lutherbibel, 1522-1700, Basel 2 1977. - Karl Schottenloher, Flugblatt u. Zeitung. Ein Wegweiser durch das gedruckte Tagesschrifttum, Berlin 1922 (Bibliothek für Kunst- u. Antiquitäten-Sammler 21). - Wilhelm Schreiber, Hb. der Holz- u. Metallschnitte des 15. Jh., Leipzig, IV 1927. - Robert W. Scribner, For the Sake of Simple Folk. Populär Propaganda for the German Reformation, Cambridge 1981 (Cambridge Studies in Oral and Literate Culture 2). — Gottfried Seebaß, Die Himmelsleiter des hl. Bonaventura von Lukas Cranach d.Ä. Z u r Reformation eines Holzschnitts, 1985 (SHAW.PH 4, 1985). Hermann Wäscher, Das dt. illustrierte Flugblatt I. Von den Anfängen bis zu den Befreiungskriegen, Dresden 1955. - Ernst Weil, Die dt. Ubers, der Ars moriendi des Meisters Ludwig von Ulm um 1470, München 1922. - Henning Wendland, Dt. Holzschnitte bis zum Ende des 17. Jh., Königstein/Taunus 198

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Peter Poscharsky

Homiletik

1. Begriff und Aufgabe der Homiletik 2. Zur Geschichte der Homiletik 2.1. Alte Kirche und Mittelalter bis zur Reformation 2.2. Von der Reformation bis Schleiermacher 2.2.1. Die Reformation 2.2.2. Orthodoxie, Gegenreformation und Pietismus 2.2.3. Aufklärung 2.3. Von Schleiermacher bis zur Gegenwart 2.3.1. Schleiermacher 2.3.2. Vermittlungstheologie und Erweckungsbewegung 2.3.3. Wendung zum Realismus und die „moderne Predigt" 2.3.4. Homiletik und Wort-Gottes-Theologie 2.3.5. Außerdeutsche und katholische Entwicklung 3. Predigtprobleme der Gegenwart 4. Prinzipielle Homiletik 4.1. Der Grund der Predigt 4.2. Der Gehalt der Predigt 4.3. Die Bedingungen der Predigt 5. Materiale Homiletik 6. Formale Homiletik 7. Rechtsfragen (Anmerkungen/Quellen/Literatur S. 561)

1. Begriff und Aufgabe der

Homiletik

Die Homiletik ist eine Teildisziplin der Praktischen Theologie und wie diese selbst verhältnismäßig jung, wenn auch die Sache, die sie vertritt, und die Beschäftigung damit wesentlich älter sind. Als Bezeichnung für die Theorie der „Kanzelberedsamkeit" taucht der Name Homiletik erst im 17. Jh. auf 1 . Vorher sprach man etwa von ars praedicandi (Reuchlin), ars praedicatoria (Alanus) oder oratoria sacra (noch Joachim Lange 1707). Schon daraus erhellt sich, daß die Homiletik nicht einfach als notwendiges Teilergebnis der Selbstentfaltung der theologischen Wissenschaft angesehen werden kann, sondern als Kunstlehre gewertet werden muß: „Ausübung und Genuß (gehen) lange vorher, ehe die Anweisungen wie das Werk anzufangen und zu vollbringen sei, den engen Kreis der stillen vereinzelten Überlieferung des Meisters an den Schüler verlassen und als zusammenhangende Lehre öffentlich ans Licht treten" (Schleiermacher, SW 1,5,466). Der Versuch vor allem des 19. Jh., für diese Kunstlehre neue Namen zu erfinden, ist mißglückt. Alle diese Bezeichnungen, wie Halieutik (Sickel), Keryktik (Stier) oder Martyretik (Christlieb), haben sich nicht durchgesetzt. Ihnen gegenüber verweist der Name Homiletik auf eine grundlegende kirchliche Praxis: Die Vermittlung des Glaubens geschieht durch die Pflege menschlichen Umgangs, durch öffentliche sprachliche Kommunikation. Denn ofiiXeiv bedeutet ursprünglich auf menschliche Weise miteinander kommunizieren, wobei als Kommunikationsmittel Rede und Gegenrede Vorrang gegenüber anderen hat. In diesem Sinn wird das Wort Act 20,11 und Lk 24,14 f gebraucht. Die Tatsache, d a ß in der christlichen Kirche von Anfang an gepredigt worden ist, kann allerdings die Existenz der Homiletik auch als Kunstlehre nicht hinreichend begründen und ihren Begriff nicht ausschließlich bestimmen. Vielmehr muß die Homiletik diesen ihren Ursprung in der Praxis der Kirche auch als notwendig begreifen; sie muß in der Lehre vom Worte Gottes und in der Lehre von der Kirche (creatura verbi) verankert werden. Homiletik kann also nicht prinzipienlos betrieben werden. In der prinzipiellen Homiletik versucht man mithin, den Zusammenhang dieser Teildisziplin mit der theologischen Wissenschaft als ganzer herzustellen, ihren inneren Aufbau vom Ort der Predigt in der Praxis der Kirche her durchsich-

Homiletik

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tig zu machen und ihr Verhältnis zur -»Rhetorik als einer Kunstlehre der menschlichen Rede zu bestimmen. Ist so der Begriff der Homiletik im wesentlichen von ihrer Aufgabe her gewonnen, wobei die prinzipielle Homiletik zugleich die Aufgabe vom Begriff der Predigt her beleuchtet, ergibt sich die weitere Einstellung quasi von selbst: Seit Alexander Schweizer spricht man von der materialeti und der formalen Homiletik als weiteren Teilgebieten neben der prinzipiellen. Wenn u. a. Christian Palmer dagegen geltend macht, daß Inhalt und Form nicht getrennt werden dürften, erinnert er daran, daß die Teilaufgaben nicht isoliert voneinander gelöst werden können. Die materiale Homiletik sucht auf die Frage zu antworten: „Was soll ich predigen?" (Jes 40,6). Wenn die Dogmatik nach Werner Eiert „den unbedingt notwendigen Sollgehalt der christlichen Lehre erfassen" und den Punkt auffinden muß, „an dem sie auch den Menschen der Gegenwart am unmittelbarsten vor die Realität ihrer Sache zu stellen vermag" (30), so vergleicht die materiale Homiletik diesen Sollgehalt mit dem Istgehalt der öffentlichen kirchlichen Lehre und zieht daraus ihre Schlüsse. Sie hat so teil an der kirchenleitenden Funktion der Theologie und steht dabei in Arbeitsgemeinschaft mit Exegese und Dogmatik. Zur Erhebung des Istgehalts wird sie sich auch der Methoden der sog. empirischen oder Humanwissenschaften bedienen, soweit diese sich für die gestellte Aufgabe eignen. Die formale Homiletik antwortet auf die Frage nach dem Wie des Predigens, denn die Form der Predigt ergibt sich nicht zwangsläufig aus ihrem Inhalt, sondern ist das Ergebnis bewußten Bemühens um seine Vermittlung. So lehrt die formale Homiletik vor allem die hermeneutische Kunst im Aneignen des Inhalts der Predigt unter methodischer Hinsicht auf den Hörer und sein Aufnahmevermögen. Sie schließt also die Reflexion auf die rhetorische, die liturgische und die poimenische Stellung der Predigt im Rahmen kirchlicher Praxis ein. Die seelsorgerliche Dimension der Predigt als pastorale Homiletik speziell zu behandeln (Wolfgang Trillhaas), mag angebracht sein, kann aber der formalen Homiletik zugewiesen werden. Auch diese wird wie die materiale die Hilfe der einschlägigen empirischen Wissenschaften, z.B. der -»'Kommunikationswissenschaft in Anspruch nehmen, insofern sie zur Lösung der grundlegenden hermeneutischen Aufgabe beitragen können. Ein besonderes Problem für die Aufgabenstellung der Homiletik als ganzer bildet die Fassung des Predigtbegriffs, der ihr zugrunde liegen soll. Ältere Werke fassen ihn ziemlich eng und klammern z.B. die Missionspredigt, seltener auch die Kasualrede oder die Kinderpredigt aus. Dies erscheint jedoch nicht gerechtfertigt. Gegenstand der Homiletik ist zwar nur ein Teilgebiet der sprachlichen Kommunikation in der Kirche und durch die Kirche; dieses umfaßt aber alle Formen der gebundenen Rede zum Zweck der Dolmetschung des Evangeliums, schließt hingegen die katechetische wie die poimenische Gesprächsführung aus. Auch wenn viele Lehrbücher die Geschichte der Homiletik vernachlässigen, kann auf ihre Darstellung nicht verzichtet werden. Sie ist nötig, weil ein großer Teil der gegenwärtigen Problemstellung nur als geschichtlich geworden zu verstehen ist. Auch die Eigenart der Predigt im Rahmen allgemeiner sprachlicher Kommunikation läßt sich nur im Blick auf die geschichtlichen Hintergründe herausarbeiten. Damit greift die Geschichte der Homiletik als Predigttheorie auch in die Predigtgeschichte hinüber, ohne sie allerdings ganz in sich aufzunehmen. 2. Zur Geschichte der Homiletik 2.1. Alte Kirche und Mittelalter bis zur Reformation „Die Geschichte der Predigt deckt sich nicht immer mit der Geschichte der Theorie der Predigt" (Achelis, Lehrbuch 11,85). Dies gilt besonders für die Anfänge, in denen wir bis auf -»Johannes Chrysostomus und -»Augustin so gut wie keine theoretischen Erörterungen zur Predigt kennen. Dennoch kann aus der Tatsache, daß in der Kirche von Anfang an gepredigt worden ist, auch auf eine theoretische Reflexion über diese zentrale Praxis geschlossen werden. Schon die Zeugnisse wohlgeformter öffentlicher und situationsgebundener Rede aus der apostolischen und nachapostolischen Zeit sprechen dafür, wie

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Homiletik

a u c h die h o c h s t e h e n d e Redekultur der A n t i k e , a u f die die christliche M i s s i o n traf. A u f diese Z u s a m m e n h ä n g e hat schon 1 8 8 9 Paul Kleinert hingewiesen: „Der wachsthümliche Charakter des alten Kirchenlebens, der bei allem Drange zur Einheit doch dem freien Werden und Walten der verschiedenen Landes- und Sprachgeister weiten Raum und mannigfaltigsten Ausdruck gegeben, spiegelt sich auch in der älteren Geschichte der christlichen Beredsamkeit. Aus verschiedenen Quellen fließen die Ströme zusammen, welche schließlich in der Leistung des Chrysostomus und in der Theorie der christlichen Predigt, die Augustin in seinem (427 vollendeten) Buch de doctrina christiana niedergelegt, ihren Sammelpunkt gefunden haben, um von da aus wieder zu verrinnen und erst in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters durch neue Bildungen abgelöst zu werden" (Abhandlungen, 2f). H e u t e unterscheidet man drei H a u p t q u e l l e n der christlichen Predigt, die in unterschiedlichem A u s m a ß für die Entstehung und erste E n t w i c k l u n g der H o m i l e t i k bedeuts a m geworden sind: die d'räsäh der S y n a g o g e , der p o p u l ä r p h i l o s o p h i s c h e V o r t r a g und die Missionspredigt der Apostel und Apostelschüler. E s m a g dahingestellt b l e i b e n , o b hier auch die Vorbilder für die spätere christliche G e m e i n d e p r e d i g t vorliegen, w a s s c h o n von Achelis ( a . a . O . 11,85) bezweifelt w i r d , jedenfalls bleibt ihre F o r m von daher nicht unbeeinflußt. M i t d e m Synagogenvortrag hat die Predigt ihren C h a r a k t e r als Schriftauslegung und die praktisch-ethische A b z w e c k u n g g e m e i n s a m . D i e dabei benutzte Ausleg u n g s m e t h o d e mutet uns heute fremd a n ; es d a r f a b e r nicht übersehen w e r d e n , d a ß die allegorische D e u t u n g autoritativ verstandener alter T e x t e vor d e m A u f k o m m e n des historisch-kritischen B e w u ß t s e i n s die einzige M ö g l i c h k e i t w a r , solche T e x t e in gegenwärtiges Verstehen und Handlungsanweisungen umzusetzen. Diese M e t h o d e teilt der S y n a g o g e n vortrag mit der populärphilosophischen D i a t r i b e , soweit diese sich mit T e x t a u s l e g u n g b e f a ß t . Sie als „ k y n i s c h - s t o i s c h " zu b e z e i c h n e n , ist eine Verengung; auch andere P h i l o s o phenschulen bedienten sich dieser Vortragsart, die P. W e n d l a n d als eine „in z w a n g l o s e m , leichtem G e s p r ä c h s t o n gehaltene, abgegrenzte B e h a n d l u n g eines einzelnen philosophischen, meist ethischen S a t z e s " (3) k e n n z e i c h n e t . Ihr Ziel w a r Lebenshilfe, L e b e n s b e r a tung im umfassenden Sinn und auch für den weniger gebildeten Z e i t g e n o s s e n 2 . M i t beiden F o r m e n öffentlicher R e d e hatte sich die M i s s i o n s p r e d i g t der Apostel und Apostelschüler auseinanderzusetzen. D a b e i trat sie zum S y n a g o g e n v o r t r a g in ein kritisches, zur Popularphilosophie in ein K o n k u r r e n z v e r h ä l t n i s . D i e Paulusbriefe zeugen d a von und bezeichnen zugleich die H a u p t u n t e r s c h e i d u n g s p u n k t e : D e r gekreuzigte Christus ist die Kernaussage v o m Heilsgeschehen, a u f ihn beziehen sich die auszulegenden Schriftzeugnisse des Alten T e s t a m e n t s . „Predigt ist Verkündigung von Heilsgeschehen, in der i m m e r neu Heil sich ereignet. D i e Versöhnung m i t G o t t ist an das W o r t von der Versöhnung und den D i e n s t daran gebunden (II K o r 5 , 1 8 ) " (Schütz, G e s c h i c h t e 7 ) . Predigt ist getragen nicht von Weisheit und R e d e k u n s t , sondern v o m Geist G o t t e s . D e n n o c h d a r f hier kein a b s o l u t e r G e g e n s a t z gesehen w e r d e n . W i r d die urchristliche Predigt als ein pneumatischer V o r g a n g angesehen, so ist er nicht als ekstatisch aufzufassen, sondern folgt e r k e n n b a r e n R e g e l n . Alfred Niebergall nennt SiSaxrj und anoxäAuy/it; im A n schluß an I K o r 14 als ihre beiden H a u p t e l e m e n t e und sieht E n t s p r e c h u n g e n in den G e m e i n d e ä m t e r n der Lehrer und Propheten (Leiturgia II, 193ff)- Allerdings sind die Z u s a m m e n h ä n g e zwischen der E n t w i c k l u n g des kirchlichen A m t e s und der Predigtauffassung und - p r a x i s für die A n f ä n g e zu wenig e r f o r s c h t , als d a ß m a n sich ein bündiges Urteil d a r ü b e r erlauben k ö n n t e . Auch die Beispiele, die A c t von der urchristlichen M i s s i o n s p r e digt bringt, sind bisher nur ungenügend für die Ursprungsgeschichte der H o m i l e t i k berücksichtigt. Vor allem w ä r e die Frage zu b e a n t w o r t e n , w e l c h e G r u n d s ä t z e die A u t o r e n dieser „ P r e d i g t t y p o l o g i e " geleitet h a b e n (Vgl. A n s ä t z e bei L . F e n d t , A . N i e b e r g a l l , J . Schneyer). Die nachapostolische Zeit ist weniger durch eine weiterführende Besinnung über die Predigtform gekennzeichnet als durch die Institutionalisierung des Predigtauftrags. Die Diskussion darüber gehört aber eher in eine Darstellung der Entstehung und Entwicklung des kirchlichen Amtes. Dennoch ist die Frage, wer warum zum öffentlichen Predigen berufen oder befugt ist, auch für die Homiletik

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nicht unwichtig; sie bricht unter mannigfaltigen Formen in ihrer Geschichte immer wieder auf. Mit ihr hängt auch die Frage nach der Grundlage der Predigt zusammen (vgl. Zerfaß). Im Kampf gegen den Enthusiasmus der Montanisten (-» Montanismus) geht die freie Prophetie in der Kirche zugrunde, an ihre Stelle tritt das beauftragte Lehramt und vor allem die Textbindung der Predigt. Dabei wird nun auch die schriftlich fixierte apostolische Tradition (Kanonsbildung) neben dem Alten Testament Predigttext. Deutlich läßt sich diese Entwicklung beobachten schon im 2. -*Clemensbrief. -»Orígenes, der „erste namentlich genannte und individuell zu erfassende Prediger der Kirche" (A. Niebergall, a.a.O. 214f), pflegt die schriftauslegende Predigt; eine andere Erkenntnisquelle als die Bibel läßt er für die Predigt nicht gelten. Wenn er dabei den erkenntnistheoretisch dem Neuplatonismus verpflichteten dreifachen Schriftsinn zugrunde legt, so folgt er damit der der hellenistischen Kulturwelt allein angemessenen -»Hermeneutik. Anders wäre das Evangelium der griechischen Bildungswelt wahrscheinlich kaum zu erschließen gewesen3. Bei den drei großen Kappadoziern wird die christliche Predigt dann auch folgerichtig der zeitgenössischen -»Rhetorik geöffnet. Allerdings befand sich diese im 3./4. Jh. bereits im Niedergang. Die Rede hatte ihre Funktion im politischen Leben weitgehend eingebüßt; jedoch waren der rhetorischen Erziehung andere Aufgaben zugeflossen: Einführung in Philosophie und gelehrten Diskurs, Kunst des literarischen Ausdrucks, Vorbereitung auf den Dienst als Staatsbeamter und nicht zuletzt „Ausbildung für Prediger und Kontroverstheologen" (Kennedy, Greek Rhetoric 4). Die ersten homiletischen Theoretiker, Johannes Chrysostomus und Augustin, verleugnen ihre Rhetorikausbildung auch keinesfalls, wenngleich sie durchaus um den Mißbrauch wissen, der seit -»Plato kontrovers diskutiert wurde. Aber Chrysostomus bekennt, dem Seelenhirten stehe „außer dem Beispiel der guten Tat nur ein Mittel und Weg zur Heilung zur Verfügung, nämlich die Belehrung durch das Wort" (Priestertum IV,3[BKV227]). Denn die Kraft, Wunder zu wirken, sei in der Kirche erloschen. Das Wort Christi ist die Grundlage für die Wirksamkeit des Predigers (ebd. IV,4), dennoch bedarf er der Redefertigkeit. Der Einwand, Paulus habe sie verschmäht (II Kor 11,6), gilt nicht für den Prediger, der sich nicht mit Paulus vergleichen kann, aber doch auf allen überflüssigen Redeschmuck verzichten und einfach, kunstlos die Wahrheit sagen soll (IV,6). Diese Einfachheit ist aber nicht aufgrund einer Naturanlage, sondern nur durch Arbeit zu erreichen, wobei gerade der Begabtere den größeren Fleiß aufbringen muß, denn von ihm wird mehr erwartet (V,6). Dabei darf er sich durch Lob und Tadel der Menge nicht beeinflussen lassen, muß aber Mut, Selbstkritik (V,2-4) und „nach allen Seiten tausend Augen besitzen", weil er der Hirte aller ist (111,12). Die Hinweise des Chrysostomus sind weniger streng homiletischer als pastoralethischer Art. Jedoch war das Ethos des Redners schon zentraler Gegenstand der Rhetorikausbildung gewesen und ist heute zu Unrecht aus der Homiletik verbannt. -»Augustins Erörterungen zur Predigttheorie sind weitergefaßt, betonen aber gleichfalls das pastorale Ethos in besonderem M a ß e . Das gilt in gewissem Sinne auch für seine Schrift De catechizandis rudibus, die keine Katechetik im modernen Sinn ist, sondern homiletische Ratschläge an einen verzagten Prediger und erste theoretische Erwägungen über die Predigtpraxis enthält. Die sog. konstantinische Wende hatte auch auf die Predigtpraxis gewirkt. Die Zahl der Taufbewerber war sprunghaft gestiegen, sie wurden in Predigtform unterrichtet (vgl. Lietzmann, IV, 8 9 - 1 1 5 ) . Die „Katechese" trat somit gewissermaßen an die Stelle der Missionspredigt, sie wurde oft nicht vom Bischof selbst, sondern vom Diakon gehalten. Einem solchen erteilt Augustin in seinem Büchlein Ratschläge für die Predigt gegenüber Anfängern (rüdes) im Glauben. Anders als in seinem homiletischen Hauptwerk De doctrina christiana spricht er hier direkter und mit feinen psychologischen Beobachtungen zu einem M a n n , der nicht Rhetorik studiert hat. Ziel der Predigt ist die Vermittlung der heiligen Geschichte in Form der narratio, Hinführung zu einem christlichen Lebenswandel durch Einprägen der praeeepta. Dabei soll der Prediger durch Wechsel der Gedanken und der Sprachform auf den verschiedenen Bildungsstand und sozialen Status seiner Hörer Rücksicht nehmen. Diese wirken bereits durch ihre bloße Gegenwart aufeinander ein! Augustin merkt den Unterschied zwischen dem seelsorgerlichen Gespräch unter vier Augen und der öffentlichen Rede in einer Versammlung an: Auch hier ist persönliche Anrede wichtig, sie muß aber von einem besonderen Zartgefühl des Predigers geleitet sein, damit niemand vor anderen bloßgestellt wird. Gegenüber dieser „pastoraltheologischen" Anleitung eines Predigers hat die oft als erste Homiletik der Geschichte zitierte Schrift De doctrina christiana einen höheren theoretischen Anspruch. Augustin gibt hier für den gebildeten Laien einen Begriff von der christlichen Lehrweise und ihren beiden modi: „modus inveniendi quae intelligenda sunt,

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et modus proferendi quae intellecta sunt" (1,1; P L 3 4 , 1 9 ) . Die inventio behandelt Augustin 3 9 6 / 3 9 7 zunächst in drei Büchern, denen erst 3 0 J a h r e später die eigentliche Homiletik ( m o d u s proferendi) als viertes folgt. M a n hat es bald isoliert tradiert, o b w o h l es ohne die ersten drei nicht hinreichend zu verstehen ist. So beherrschte es die ganze mittelalterliche Homiletik. Im l . B u c h , der Erkenntnislehre, betont Augustin die philosophische Unterscheidung zwischen res und Signum und die theologische zwischen uti und frui Deo. Das letztere, die Liebe zu Gott um Gottes willen, die die Nächstenliebe in sich schließt, ist die höchste Bestimmung des Menschen und so auch Ziel der Schriftauslegung und der Predigt. Dabei sind auch die Worte der Schrift als signa zu verstehen, deren Realsinn nur mit Hilfe der sieben Gaben des Heiligen Geistes erkannt werden kann, vom Menschen her gesehen also nur auf aszetischem Wege. Freilich ist dazu auch die wissenschaftliche Methode erforderlich, deren bildungsmäßige Voraussetzungen Augustin im 2. Buch behandelt. Hier werden die heidnischen Künste der Schrifterklärung dienstbar gemacht: Als die Septem artes liberales sind sie Grundlage der Klerikerausbildung im Mittelalter geworden (-»Artes liberales). In der eigentlichen Hermeneutik (3. Buch) geht es um die Erkenntnis der unsichtbaren Heilsgüter, die in den Worten der Schrift „ent-deckt" werden müssen. Die im Mittelalter gepflegte und die vorreformatorische Predigt beherrschende Auslegung der Schrift nach dem vierfachen Sinn hat hier eine ihrer Wurzeln. Allerdings ist diese Hermeneutik nicht einfach mit der rhetorischen Figuren- und Tropenlehre identisch, sondern sie wird von Augustin (wie vor ihm von -»Origenes oder dem von Augustin erwähnten -»Tyconius) als geistlicher Erkenntnisvorgang verstanden, der jedoch vernünftigen Regeln (Beachtung von Kontext und Generalskopus) zugänglich ist. Der Prediger hat die Aufgabe, den Hörer in dies tiefere, geistliche Verstehen hineinzuführen. Wie dies gelingen kann, will Augustin im 4. Buch darstellen. Dabei lehnt er sich an die antike Rhetorik, vor allem Cicero, an, betont aber, daß zur Predigt vor allem Weisheit, nicht Beredsamkeit vonnötcn sei. Darum ist Hauptbestreben der christlichen Beredsamkeit die Klarheit, wobei man die Anmut der Rede nicht zu verachten braucht. Vorbild sind dafür die biblischen Schriftsteller: An ihnen kann man sehen, daß „die Weisheit aus der Brust des Weisen wie aus ihrem Hause hervortritt, und daß ihr wie eine unzertrennliche Dienerin auch ungerufen die Beredsamkeit nachfolgt" (IV,6,10 [BKV 2 49,169]). Der Anklang an den älteren Cato ist unüberhörbar: Rem tene, verba sequuntur! Die claritas des Predigers ist also eine Folge der claritas scripturae. Wo die Schrift Dunkelheiten enthält, soll der Leser zum Nachdenken gereizt werden (IV, 8,22). Doch hüte sich der Prediger, diese Art der heiligen Schriftsteller nachzuahmen, er bemühe sich um Schlichtheit, um die Schwierigkeit des Gegenstandes nicht noch zu erhöhen. Seine Aufgabe richtet sich nach dem Kanon Ciceros: docere, delectare, flectere. Dem entspricht eine dreifache Weise des Vortragens und des Zuhörens: sublime - intelligenter, temperatum - libenter, grande oboedienter. Augustin weiß, daß die genera dicendi antiker Rhetorik auf die christliche Predigt nur bedingt passen. Weil diese nur von erhabenen Dingen spricht, kann sich der Prediger aber dennoch nicht nur des genus grande bedienen, sondern muß seine Redemodi wechseln, „ut veritas pateat, placeat, moveat" (IV,28,61). Strenggenommen offenbart sich die Wahrheit nur docendo, die gelehrte Wahrheit aber erfreut, die erkannte wendet den Willen. Augustin betont immer wieder das Ethos des Predigers: Selbst ein mäßiger Redner könne durch seinen Wandel wirken, während ein guter Redner durch einen schlechten Wandel alles zunichte mache. Bei fehlender Redegabe will Augustin keine Einwände gegen die Benutzung fremder Predigten erheben. Er hat mit diesem Ratschlag gewissermaßen die sog. „niedere Homiletik" begründet, die mit einer Fülle von Predigthilfen bis heute stärkste Wirkungen auf die Predigtpraxis ausübt. Der starke Einfluß Augustins im Mittelalter läßt sich nicht allein mit seinem Genius erklären, sondern auch dadurch, d a ß infolge des R ü c k g a n g s der Predigtpraxis k a u m neue Impulse auf die Predigttheorie erfolgen. Die kirchliche Sitte und das Sakrament treten in den Mittelpunkt. Gregors Cura pastoralis zeigt diese Entwicklung schon deutlich: Unter den Pflichten des Klerikers wird die Predigt nicht besonders hervorgehoben; sie steht im Dienst der Gemeindeerziehung. Der Prediger ist der Herold, der die Gemeinde a u f die Schrecken des Gerichtstages vorbereitet. Die Vorherrschaft des Bußgedankens in der Volkspredigt des Mittelalters hat hier einen ihrer Quellpunkte. A u c h im Osten tritt die Predigt als Teil des Kultus zurück, o b z w a r hier die griechische Rhetorik in der Zeremonienrede noch einen gewissen Platz im öffentlichen Leben behauptet. Die an H e r m o g e n e s geschulte byzantinische Rhetorik wird zu Beginn des 15. J h . durch G e o r g von Trapezunt in Italien bekannt, kann sich aber auch dort nicht gegen das a u f k o m m e n d e Studium der antiken Quellen behaupten. Die Predigttätigkeit ist im Abendland durch drei F a k t o r e n neu angeregt worden:

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durch den Aufbau der Kirche nach den Wirren der Völkerwanderung, durch die Auseinandersetzung mit der Laien- und Ketzerbewegung, durch das gestiegene Bildungsbedürfnis in der Hochscholastik und im Bürgertum des ausgehenden Mittelalters. Dem ersten Faktor verdankt die Homiletik das Werk des -»Hrabanus Maurus De clericorum institutione, das in seinen der Predigt gewidmeten Teilen zumeist Augustin ausschreibt und sehr zur Verbreitung seiner Gedanken beigetragen hat. Hinweise auf die Predigtpflicht und die Predigtinhalte geben die Synodalbeschlüsse, die auf die Vermittlung grundlegender Glaubensinhalte und der christlichen Sitte durch die Predigt in der Volkssprache drängen (vgl. u.a. Linsenmayer). Die Tatsache, daß die Synoden schon im 10. Jh. kaum mehr auf die Predigtpflicht eingehen, läßt vermuten, daß die Predigt nicht mehr als unabdingbarer Bestandteil des Kultus angesehen wurde, sondern als Vorbereitung des „eigentlichen" Gottesdienstes. Darauf weist auch der hohe Wert, den die teilweise in die Häresie abgedrängte Laienbewegung der Predigt beimißt (vgl. Zerfaß). Die kirchliche Gesetzgebung beschäftigt sich somit stärker mit dem Verbot der Laienpredigt als mit der Predigtpflicht der Bischöfe, die erst wieder auf dem IV. Lateranense eingeschärft wird (DS 761,770,809). Als eine positive Reaktion ist die Herausbildung der Predigerorden zu betrachten, die auch die Predigttheorie befruchtet hat. Allerdings bezieht sich die letztere weniger auf die Volkspredigt als auf die scholastische Predigt, die vornehmlich der Erbauung des Klerus und der Bildungsschicht galt. Neben den zahlreichen Sammlungen von Musterpredigten, deren Prothemata für die Theoriebildung bedeutsam sind (Schneyer), sind besonders die Artes praedicandi zu nennen, unter denen die des Guibert von Nogent (gest. 1215), -»Alanus ab Insulis, Humbert von Romans (gest. 1277) und Robert von Basevorn (um 1322) hervortreten4. Wesentliche Fortschritte über Augustin hinaus wissen sie allerdings nicht zu bieten, sieht man von dem Engagement der scholastischen Methode für die kunstvolle Komposition ab. Die übersteigerte Entfaltung eines meist aus einem Schriftwort präparierten Themas hat später den Spott der Humanisten herausgefordert, muß aber u.a. auf dem Hintergrund der im Hochmittelalter sich durchsetzenden Methode der Schriftauslegung nach dem vierfachen Schriftsinn heute milder beurteilt werden 5 . Einzelne Theoretiker wie -»Bonaventura oder Humbert suchen auch einer Übersteigerung entgegenzuwirken. Andere wie Alanus geben kasuistische Regeln (Ständepredigt) für eine Predigt, die als „ p u b l i c a instruetio morum et fidei" einen hohen Rang einnimmt. Die scholastische Predigt verliert gegen Ende des Mittelalters an Bedeutung gegenüber einer Volkspredigt, die sich wie vordem die Predigt der Mystiker auch an die neuen städtischen Bildungsschichten wendet. Das hat seinen Niederschlag sowohl in Synodalbeschlüssen (Lentz, I, 358) wie auch in theoretischen Erörterungen gefunden. Hier ist vor allen J . U . Surgant (Manuale curatorum,\S02), aber auch Hieronymus Dungersheim (Tractatus de modo discendi et docendi ad populumSacra, 1514) zu nennen. Surgant ist zwar noch von der scholastischen Tradition abhängig, behandelt aber auch modern anmutende Fragen nach dem Wesen der Predigt, ihrem Inhalt und nach dem Prediger auf solide Weise. Neben liturgischen und poimenischen Ratschlägen bietet er Überlegungen zur Predigtpraxis „iuxta vulgare theutonicum" und ist so für die Geschichte der Predigtpraxis von größerer Bedeutung als für die Geschichte ihrer Theorie. Dungersheims Schrift enthält einen kurzen Schlußteil über den Predigthörer, der jetzt wieder Gegenstand theoretischer Aufmerksamkeit wird. Das Spätmittelalter kennt über diese theoretischen Erwägungen hinaus eine Fülle von Handbüchern, die Predigtmaterial aufbereiten.

Der -»Humanismus hat in seinen homiletischen Bemühungen weniger die Predigtpraxis im Auge als die Wiederbelebung der antiken Rhetorik. Entsprechend gering ist sein Einfluß auf die stürmische Entwicklung der Predigt in der Reformation. Neben -»Reuchlin ist hier vor allem -»Erasmus zu nennen. Sein eigentlich homiletisches Werk Ecclesiastes sive de ratione concionandi erscheint allerdings erst 1534, lange nach -»Melanchthons Bemühungen in dieser Richtung (De rhetorica, 1519; Institutiones rhetoricae, 1521), als die Reformation die Predigt bereits in den Mittelpunkt kirchlichen Handelns gestellt hatte. Auch Erasmus möchte die Aufgabe des Predigers hoch über die des Meßpriesters stellen und die Homiletik streng von der Rhetorik unterscheiden. Aber er folgt in der Einteilung seines Werks ebenso der antiken Rhetoriktradition (Quintilian) wie in seiner Auffassung von der Form der Predigt. Jedoch sieht Achelis wohl mit Recht das

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Homiletik

Unevangelische seiner Predigttheorie weniger in der Verwendung des Begriffsapparates der alten Rhetorik als im Kirchenverständnis: „Ist die Kirche Heilsanstalt..., so hat der Prediger die Stellung des heidnischen Rhetors zu seinem Publikum", nicht die des „Bruders zu seinen Brüdern" (Achelis, a. a. 0 . 1 0 2 ) . Wir können also Erasmus* materialreiche Arbeit nur mit Einschränkungen als ein Werk des Übergangs zur evangelischen Homiletik (Christlieb 284) ansehen. 2.2. Von der Reformation 2.2.1. Die

bis

Schleiermacher

Reformation

Mit der Reformation erfährt die Homiletik insofern eine neue Grundlegung, als die Predigt jetzt in den Mittelpunkt des christlichen Gottesdienstes gestellt und das kirchliche Amt als Predigtamt definiert wird. Dabei hat -»Luther selbst keine eigene homiletische Theorie im Zusammenhang entwickelt, sondern in erster Linie durch das Beispiel (Postillen) und durch die Aufstellung von Grundsätzen gewirkt. Seine verstreuten Äußerungen zur Homiletik hat -»Hirsch 1932 zusammengestellt (BoA VII,1-38). Daß sich daraus „leicht eine lutherische Homiletik zusammensetzen" ließe (Lentz 11,3), ist neuerdings mit Recht bezweifelt worden (D. Rössler, FS Jetter 202). Dennoch ergibt sich, nimmt man etwa die Vorreden zu den Postillen und zur Deutschen Bibel und andere Äußerungen hinzu 6 , ein verhältnismäßig deutliches Bild der Predigtauffassung Luthers, die für die Kirchen der Reformation größtenteils maßgebend geworden ist. Grundsätzlich gilt für ihn: Der Reichtum der göttlichen Gnade wirkt „erstlich durchs mundlich Wort, darin gepredigt wird Vergebung der Sunde in alle Welt, welchs ist das eigentliche Ampt des Evangelii" (BSLK 449). Der Vorrang des mündlichen Worts vor allen Gnadenmitteln ist für Luther in der besonderen Weise begründet, in der Gott sich den Menschen zuwendet, nämlich in der personhaften Begegnung mit Jesus Christus, der „selbst auch nichts geschrieben, sondern nur geredet (hat), und hat seine Lehre nicht,Schrift', sondern ,Evangelium', das ist: eine ,gute Botschaft' oder .Verkündigung', genannt, das nicht mit der Feder, sondern mit dem Munde betrieben werden sollte" (WA 10/1,17). Von Gottes worthafter Zuwendung her ist auch das Sakrament zu verstehen, so daß man nur unter dieser Voraussetzung von einer sakramentalen Bedeutung der Predigt bei Luther sprechen kann (vgl. O. Bayer 271 ff u.ö.). Gottes Wort wird als Gesetz und Evangelium wahrgenommen, die so von Luther „als Gegenstand christlicher Predigt nebeneinandergestellt" werden: „Das Gesetz solle niederschlagen, in die Verzweiflung stürzen, das Evangelium aufrichten, trösten" (Hirsch, Gesetz 49). Beide treffen den Menschen als ganzen, d. h. im Gewissen, wo er „die Erfahrung der Anfechtung und der Rettung aus ihr" (Wolf 79) macht. Es sind also keine „volkspädagogischen Rücksichten" (Hirsch, a . a . O . 51), die Luther zu dieser Predigtweise führen, sondern diese ergibt sich aus der Sache: „Tria praedicanda. Primo est deicienda conscientia, secundo erigenda, tertio resolvenda seu evolvenda ex his, quae ei dubia sunt, primo per legem, secundo per euangelium, tertio per expositionem illorum, quae est sententia et quid continetur in toto verbo Dei, etiam in exemplis, similitudinibus, primum ex scriptura, alia duo ex rebus, quas ipsi vidimus aut experti sumus" [Dreierlei soll man predigen. Zuerst soll man das Gewissen niederwerfen, zum zweiten es aufrichten, zum dritten es aus allem befreien oder herausführen, was ihm zweifelhaft ist. Das erste (geschieht) durchs Gesetz, das zweite durchs Evangelium, das dritte durch Darlegung alles dessen, was als Lehrbegriff im Worte Gottes insgesamt enthalten ist, ebenso auch durch Beispiele und Gleichnisse. Das erste (erg. schöpfe man) aus der Schrift, die andern beiden (nämlich: die Beispiele und Gleichnisse) aus dem, was wir selbst erlebt und erfahren haben] (BoA 7,33 = WA. T R 4,479). Luthers Predigtauffassung in ihrer Reifegestalt verleugnet nicht ihre Herkunft, sie wurzelt in einem kontinuierlichen Umgang mit dem Schriftzeugnis. Zwar liest Luther die Schrift nicht ohne Rückgriff auf die Tradition, aber die Beziehung auf seine Gewissenserfahrung verhilft ihm zu einer Zwiesprache mit dem Bibeltext, die die traditionelle Auslegung nach dem vierfachen Schrift-

Homiletik

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sinn hinter sich läßt. Während in der Tradition die einfache Textaussage „unter dem dichten Netz der Bedeutungen erstarrte" (Auerbach 54), entfaltet sich das Schriftzeugnis in Luthers Predigt zur lebendigen Ausgestaltung eines einzigen Grundgedankens: „Er hat jedem Texte etwas eigenes abzulauschen gewußt, und hat doch überall das Eine verkündet" (Hirsch, Predigtweise 9): Solus Christus praedicandus. So ist Luther zum Vorbild für diejenige Predigtweise geworden, die sich in der evangelischen Kirche durchgesetzt hat: die Textpredigt, die zwar nicht in der Form der Homilie ihre einzige Ausprägung findet, aber doch auch bei thematischer Bestimmtheit sich ständig ihres Rückbezuges auf den Bibeltext vergewissert. Zugleich ist sie zentral, d. h. immer Christuspredigt, und kunstlos, d. h. sie verzichtet auf scholastische Distinktion und rhetorischen Dekor. Später hat man Luthers Predigtart die „heroische" genannt und sich auf diese Weise scheu geweigert, von ihr zu lernen. Der Theoretiker der Predigt der lutherischen Reformation ist -»Melanchthon. Er konnte kaum auf eine eigene deutsche Predigtpraxis zurückgreifen und bemühte sich um die Verschmelzung der humanistischen Bildungstradition mit den Erfordernissen der evangelischen Predigerausbildung. Dabei stößt er auf die Schwierigkeit, daß das System der antiken bzw. humanistischen Rhetorik der neuen Predigtweise nicht gerecht werden konnte. Dennoch hält er die formale Schulung in Dialektik und Rhetorik für das Studium der Theologie für unerläßlich: Urteilsbildung und Ausdrucksvermögen ließen sich anders nicht gewinnen (Encomiort, 1523, Werke in Auswahl, hg. v. R. Stupperich 111,61). Hier ist Melanchthon ganz von der humanistischen Tradition, insbesondere auch von Rudolf Agricola (1444-1485) abhängig. Aufgabe der Predigt ist nach Melanchthon doctrina, aus der Schrift geschöpft und nicht aus Lehrsätzen abgeleitet. So tritt für ihn 1531 in den Elementorum rhetorices libri II (Endgestalt der seit 1519 immer wieder überarbeiteten De rhetorica libri III) für die Predigt das genus didascalicum neben die drei aristotelischen getiera dicendi (deliberativum, iudiciale, demonstrativum entsprechend ovfißovÄeoziKÖv, öixaviY.öv, ¿711ÖEIXTIXÖV). Später wird auch das genus iudiciale und das genus demonstrativum ausgeschieden: Menschenlob und Rechtsstreit geziemen dem christlichen Prediger nach Melanchthons Meinung nicht. An die Stelle dieser beiden genera treten das genus epitrepticum und paraeneticum als Belehrung über den Glauben und über die guten Werke (De offieiis concionatoris, 1535). Auch wenn Melanchthon die Auffassungen der klassischen Rhetorik im wesentlichen teilt, haben wir hier doch ein Beispiel für sein Bemühen, die Eigenart der christlichen Predigt zu bestimmen. Wie ernst es ihm damit war, zeigt auch der Unterricht der Visitatoren, 1528, wo er rügt, daß man zwar schon immer vom Glauben gepredigt habe, daß aber „doch nicht genugsam angezeigt wird, wie man zu dem glauben komen sol" (Werke 1,221 = WA 26,202). Der Volkspädagoge drängt hier auf die Bußpredigt, damit das ganze Evangelium (!) zu Wort komme und die christliche Freiheit nicht dem Mißbrauch ausgeliefert werde. Melanchthon hat mit seinem Drängen auf formale Schulung einen starken Einfluß auf die Predigtausbildung gehabt. Die Kritik, daß er damit den Grund gelegt habe „zum Aufkommen der thematischen, künstlich synthetischen Predigtform auch in der evangelischen Kirche" (Christlieb 285), ist nur teilweise berechtigt. Eigenartigerweise ist gegenüber Melanchthon derjenige, der „die Homiletik prinzipiell, ob auch nicht in durchgeführter Weise, aus den Fesseln der Rhetorik befreite und sie zu einer theologischen Disziplin erhob" (Achelis, Lehrbuch 11,104), bald in Vergessenheit geraten und eigentlich erst wieder gegen Ende des 19. Jh. in seiner Bedeutung für die Predigttheorie gewürdigt worden: Andreas —•Hyperius. Schian und Achelis, mit Abstand Steinmeyer sind seine „Wiederentdecker", obwohl insbesondere die lutherische Homiletik des 17. Jh. seine Schemata übernommen und ausgebaut hatte. Hyperius hat die Entstehung der Praktischen Theologie als wissenschaftliche Disziplin durch seine Wirksamkeit in Marburg und durch seine Schriften zur Studienreform befördert, besonders aber eine eigenständige evangelische Homiletik durch sein Werk De formandis concionibus sacris seu de interpretatione Scripturarum populari (1552, neu bearbeitet und stark vermehrt

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1562) begründet. Zwar war ihm die Bezeichnung noch fremd, aber er hat das von den Anfängen an unklare Empfinden für die Unterscheidung von Rhetorik und Homiletik mit Gründen zur Klarheit geführt: „dort das auditorium der Richter, hier congregatio credentium, dort Streitverhandlung, hier doctrina religionis, dort die Überredungskunst, hier der eine Zweck: das Heil der Seele und ihre Versöhnung mit G o t t " (Achelis, Hyperius 8). Weil die doctrina religionis allein auf der Heiligen Schrift beruht, sucht Hyperius nicht nur die Predigt als volkstümliche Schriftauslegung zu verstehen, sondern in seinem Sinn folgerichtig auch die genera dicendi aus der Schrift zu gewinnen. Er findet sie in II Tim 3,16 und Rom 15,4: Lehrpredigt (ötöaopakiKÖv, doctrina), Streitpredigt (¿Aey/tKÖv, redargutio), Moralpredigt (JtaiöevxiKÖv, institutio), Strafpredigt (¿Jtav0p9a>UK0v, correctio), Trostpredigt (napaKhjxiKÖv, consolatio). Dazu kommt noch ein genus mixtum. Weil Hyperius die alte Trias des Redezwecks (docere, delectare, flectere), beibehält, reduziert er 1562 auch die Redearten auf drei: yvcoaxiKÖv (Belehrung und Widerlegung von Irrtümern), npaxziKÖv (Besserung und Strafe), napaKkrjxiKÖv (Ermahnung und Trost). So entsprechen sie auch besser den christlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung, die er schon 1552 den Predigtweisen zugrundelegt. Während Hyperius die antiken officia oratoris (inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio) für den Prediger einfach übernimmt, legt er aber abweichend von der rhetorischen Tradition das entscheidende Gewicht auf die inventio, das Auffinden des Predigtstoffes. Dieser soll utilis (erbaulich), facilis (verständlich) und necessaria (einen wirklichen Notstand ansprechend) sein. Die Predigt selbst sei kurz, deutlich und richtig geordnet. 2.2.2. Orthodoxie,

Gegenreformation,

Pietismus

Indem Hyperius die Predigt der Schriftauslegung einordnet, hat er die Beziehung der Homiletik auf die Hermeneutik betont. Hier ist ihm vor allem -»Flacius mit seiner Clavis Scripturae Sacrae (1567), ihn vertiefend, gefolgt. Im übrigen hat ihn die altprotestantische -»Orthodoxie bald vergessen. Wenngleich sie seine intellcktualistischc und biblizistische Grundhaltung teilte, konnte sie sich weder mit seiner an -»Bucer orientierten Irenik noch mit seiner Einfachheit und seiner Freiheit vom Formalismus befreunden. Die nach Hyperius beginnende „Periode der orthodoxen Scholastik ist reich an homiletischen Lehrbüchern, aber arm an wirklichem Verständnis für das Wesen der evangelischen Predigt" 7 . „Es ist eine Entwicklung von rhetorischer Gebundenheit zu relativ homiletischer Selbständigkeit, aber nicht zu homiletischer Freiheit, sondern zu homiletischer, pedantisch gearteter Ordnung, von rhetorisch gearteter zu biblisch begründeter, bzw. gemildeter, Lehrhaftigkeit. Das Interesse der wissenschaftlichen Homiletik ist vorzugsweise formeller Art" (Achelis, Lehrbuch II, 107). Auf diesem Gebiet fallen die innerprotestantischen konfessionellen Unterschiede weniger ins Gewicht. Auch -»Zwingli und Leo Jud hatten nicht durch theoretische Darlegungen, sondern in erster Linie durch das Beispiel und organisatorische Leistungen (Prophezei in Zürich 1523) auf das Predigtwesen eingewirkt. Zwingiis Der Hirt ist als eine „Predigt an Prediger" (A. Niebergall, Leiturgia II, 280) weniger eine Homiletik als eine Pastoraltheologie. Auch -•Calvin, der noch stärker das pädagogische Element der Predigt betont und die lutherische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium dadurch wie durch sein Schriftverständnis einebnet, hat die homiletische Theorie kaum befruchtet. Die Prinzipienlehre indes hat das reformierte Bekenntnis insofern beeinflußt, als es die Wortverkündigung gegenüber der Sakramentsverwaltung noch stärker in den Mittelpunkt des Gottesdienstes stellte (Heidelberger Katechismus 65, BSRK 699), die Schriftbindung der Predigt rigoroser und schematischer auffaßte (Institutio 111,8,9) und schließlich die Parallelität von amtsgebundener Wortverkündigung und Geistmitteilung hervorhob. In diesen letzteren Zusammenhang gehört das später so wirkungsvoll gewordene Dictum Bullingers „praedicatio verbi Dei est verbum Dei" (Conf. Helv. post. 1,1562, BSRK 171). Es will nicht in erster Linie das Wesen der Predigt beschreiben, sondern die Spekulation auf die innere Verfassung des Predigers und auf ein „aliud Dei verbum vel fingendum vel coelitus esse expectandum" (ebd.) abwehren. Diese Auffas-

Homiletik

535

sung wird auch im Rahmen einer strengen Prädestinationslehre aufrechterhalten (vgl. Dordrechter Synode BSRK 843.852 f.858). Die Unergiebigkeit der orthodoxen Theologie für die Homiletik muß verwundern. Der Kanzelvortrag war immerhin bei beiden evangelischen Konfessionen in den Mittelpunkt der Theologenausbildung gerückt, allerdings konzentriert auf die Kontroverstheologie und die in ihren Dienst gestellte Schriftauslegung. Nicht Wecken und Nähren des Glaubens, sondern der Lehrstreit wird vorrangige Aufgabe der Predigt. Dazu hatte nicht nur der innerprotestantische Zwist, sondern auch die Auseinandersetzung mit der in der Gegenreformation wiedererstarkten römisch-katholischen Kirche beigetragen. Vor allem der Jesuitenorden nutzt auch die Kanzel als Kampfmittel, während im allgemeinen das Tridentinum die Sakramentsverwaltung als Mittelpunkt der kirchlichen Praxis bekräftigt (siehe z.B. DS 1600). Der Predigt wird eher ex negativo gedacht, „ut nemo ... sacratn Scripturam ad suos sensus contorquens, contra eum sensum, quem tenuit et tenet sancta mater Ecclesia ... aut etiam contra unanimem consensum Patrum ipsam Scripturam sacram interpretari audeat . . . " [daß niemand es wage, die Heilige Schrift auszulegen, indem er die Heilige Schrift nach seinem eigenen Sinn zurechtrückt gegen jenen Sinn, den die heilige Mutter Kirche festgehalten hat und (noch) festhält, oder gegen den einmütigen Konsens der Väter] (DS 1507). In diese Richtung weisen auch die Instruktionen und Empfehlungen an die Prediger (Schneyer nennt u.a. Jost Kammerer 1595 und Karl Borromäus 1582, Geschichte 235.249). Die katholische Barockpredigt ähnelt formal gesehen der protestantischen, lehnt sich aber noch stärker an die durch den Humanismus vermittelte antike Rhetorik an (Schneyer, Geschichte 270). Sie hat auch nie die zentrale Stellung im Gottesdienst erreicht oder theoretische Bemühungen ähnlichen Umfangs hervorgerufen wie in der evangelischen Kirche. Allerdings machen auch die evangelischen Theoretiker (zu nennen sind vor allem L. -»Osiander, J. -»Andreae, Aeg. -»Hunnius mit seiner Methodus concionandi, 1595) kaum den Versuch, den Ansatz der Reformation in der Praxis zu befestigen, erschöpfen sich vielmehr in einem methodischen Formalismus: „Die Darbietung eines Textes in der Predigt nach Art einer Homilie hatte schon lange der Lokalmethode weichen müssen, nach der es in der Predigt darauf ankommt, in dem Text die dogmatischen loci herauszuarbeiten. Aber auch diese Methode wird hintangesetzt, und den Sieg behält die synthetische Methode, die dem Prediger die Möglichkeit einräumt, den Text nach seinen Einsichten und Einfällen zu behandeln" 8 . Jedoch wird man beachten müssen, daß die Individualität des Predigers stark eingeschränkt war: zum einen durch den Perikopenzwang in den lutherischen Gebieten, zum andern durch „einen unendlich ausgebildeten Formalismus" (Schian, Streit 15). So finden sich in -»V. E. Löschers Edlen Andachtsfrüchten, 1702, für die Textauslegung 25 Methoden aufgeführt. Für die Textanwendung war das Schema des fünffachen Usus gebräuchlich, „also mit besonderer Behandlung der Lehre, der Widerlegung von Irrlehren, der Mahnung, der Strafung von Untugend und der Tröstung (Usus didascalicus, elenchticus, paedeuticus, epanorthoticus, consolatorius)" (Schian, Streit 21). Stellt man noch die stilistische Sitte der Emblematik in Rechnung, bei der „das Thema und häufig auch die einzelnen Teile unter lauter konkreten und oft sehr drastischen Sinnbildern und Vergleichungen dargestellt und durchgeführt wurden" (Schian, Geschichte 669), ist der scharfe Protest der Pietisten gegen die orthodoxe Homiletik verständlich. Allerdings wird man berücksichtigen müssen, daß die literarischen Zeugnisse auch damals besondere „Glanzstücke" vorführen und weniger die gängige Predigt wiedergeben. Aber wie dem auch sei, der pietistische Vorwurf, „daß die Predigten nicht im Herzen des Predigers geboren, sondern von ihm höchst kunstvoll gemacht, ja geradezu .geschneidert' wurden" (Schian, Streit 24f), war gerechtfertigt, auch wenn die Notwendigkeit lehrhafter Predigt nicht bestritten wird. So fordern -»Speners Pia desideria (bes. Kap. 6, vgl. auch die Theologischen Bedenken Bd. 3 u. 4) „eine andere Art zu predigen" (von Zezschwitz 334). Er lehnt die fünf Usus ab, da die ganze Predigt eine auf die konkrete Gemeinde bezogene Nutzanwendung enthalten müsse. Ohne Künstelei und Polemik soll die Predigt sich an den inneren Menschen wen-

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Homiletik

den und Glaube und Frucht des Lebens wirken. A . H . —»Francke hat in diesem Sinn weniger in theoretischen Erörterungen als praktisch-studienreformerisch gewirkt. Dabei stand er nicht allein; man denke nur an Ratke und Meyfart, welch letzterer mit seiner Teutscheti Rhetorica, 1634, für Jahrzehnte auf die Redekunst wirkte, was in der Homiletikgeschichte bisher unbeachtet geblieben ist. Theoretische Darstellungen im Geist des Pietismus bieten Joachim Lange (Oratoria sacra ab artis homileticae vanitate repurgata, 1707) und J . J . -»Rambach (Erläuterung der praecepta homiletica, posth. 1736), der Einfachheit und Texttreue fordert, den Gegensatz gegen die Orthodoxie nicht betont, stärker als seine pietistischen Mitstreiter Klarheit und Deutlichkeit der Predigt anmahnt. Wie Rambach hebt auch Lange die habilitas supernaturalis des Predigers hervor, wozu er auch die Gabe des Gebets zählt. Er fordert eine eingehende Schriftkenntnis (Skopus und Kontext sind bei der Auslegung zu beachten) und die Berücksichtigung der Umstände, in denen die Hörer leben. Vor allem die Härte seiner Forderung einer in der Bekehrung dokumentierten habilitas supernaturalis löste den „Streit um die Predigt des Impius" aus, als V. E. Löscher sich ihr mit der Behauptung der in der Ordination vermittelten Amtsgnade entgegenstellte. Auf beiden Seiten führte die Polemik zu Überspitzungen. Die dahinter stehenden berechtigten Anliegen (Wort Gottes als „objektives" Gnadenmittel einerseits, „subjektive" gewissensmäßige Verankerung der Predigt auch als pastoralethische Forderung an den Prediger andererseits) beschäftigen die Homiletik bis heute. Die pietistische Homiletik hat mehr anregend und befruchtend als wissenschaftlich durchbildend gewirkt: „Der Gesamteindruck ist doch der, daß die orthodoxe Phalanx sich nur langsam den berechtigten Sätzen der Pietisten erschlossen hat und d a ß sie, auch in Männern wie Neumann und Oporin, ja in einem dem pietistischen Kreis so nahestehenden Theologen wie Buddeus, etwas von der ihr eigenen Art immer zu behaupten gewußt h a t " (Schian, Streit 114). Praktische Orientierung, schlichtere Form, Erbauung als Ziel der Predigt, Rücksicht auf die besondere geistige und geistliche Verfassung der Hörer - erst die Aufklärung konnte einen Teil dieser pietistischen Forderungen gegen die Predigtweisc der Orthodoxie durchsetzen und damit auch auf diesem Gebiet ihre oft geleugnete Affinität zum Pietismus zeigen 9 . 2.2.3.

Aufklärung

Zu dieser Entwicklung in Deutschland hat nicht zuletzt der Einfluß des Auslandes beigetragen, vor allem Frankreichs, aber auch der Niederlande und Englands. Freilich gilt allgemein, was Achelis im Blick auf Großbritannien sagt: „Die Geschichte der Predigt hat dort fette Weide, die Geschichte der Homiletik weder dort noch in anderen evangelischen Kirchen des Auslandes" (Lehrbuch 11,114). Am wenigsten gilt dies für die Niederlande, wo allerdings die orthodoxe Scholastik mit ihrer Streitpredigt zu einer ähnlichen Herrschaft gelangte wie in Deutschland (Oosterzee 1,176-189). Bei den Voétianern (-»Voetius) findet sich die reformierte Spielart der synthetischen, bei den Coccejanem (-»Coccejus) eine durch die typologische Hermeneutik bestimmte und analytische Predigtweise. Unter dem Einfluß von -»Voetius erscheint 1645 mit Hoornbeeks Tractatus de ratione concionandi die „erste eigentliche ursprüngliche Homiletik auf niederländischem Bod e n " (Oosterzee 1,178). Van Til veröffentlicht 1688 seine einflußreiche Methodus concionandi im Gefolge von -»Coccejus. Der bedeutendste Vertreter dieser Schule ist der Exeget Vitringa, für die Homiletik wichtig seine Animadversiones ad methodum homiliarurn ecclesiasticarum (1721). Der unter pietistischem Einfluß (Labadie) stehende F.A. Lampe wirkt nach Deutschland (Bremen) hinein. Starken Einfluß gewinnt die französisch-reformierte Predigt durch die Réfugiés vor allem in den Niederlanden (Saurin) und in der Schweiz durch ihr Beispiel mehr als durch homiletische Abhandlungen. Hier ist nur P. Roques Pasteur évangélique (1723) zu nennen. Ähnliches gilt für die stark nach Deutschland hinüber wirkende Predigt in Großbritannien. Durch -»Mosheim ist Tillotson als Vorbild hier bekannt geworden und hat durch frühe Übersetzungen zur Gesundung der deutschen Predigt beigetragen, während

Homiletik

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sich das für die Homiletikgeschichte wichtige Directory for the Publique Worship ofGod der Westminster Synode von 1644 nur im Presbyterianismus durchgesetzt hat: „Der Abschnitt über die Predigt ist seiner Bedeutung nach thatsächlich eine vollständige, wenn auch knappe homiletische Abhandlung voll ebensoviel gesunden Menschenverstandes wie wahrer aufrichtiger Frömmigkeit" (Warfield 182). In der Predigttheorie wird eine pragmatisch verstandene Rhetorik mit der Homiletik verschmolzen. Durch Übersetzungen werden u. a. David Fordyce (The Art ofPreaching, 1745) und Hugh Blair (Lectures on rhetoric and belles-lettres, 1783) auch in Deutschland bekannt. Stärker beeinflußt die französische katholische Predigt den Predigtstil im Europa des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jh.. Sie ist keine Volkspredigt wie die des Abraham a Santa Clara, im Grunde auch keine streng auf das gottesdienstliche Leben bezogene Erscheinung, sondern gehört zur Kulturmission des französischen Absolutismus. „Ihre Meisterstücke werden von den Franzosen mit berechtigtem Stolz als integrierende Teile ihrer klassischen Nationalliteratur angeführt, aber auch weit mehr als klassisches Stilmuster, denn als christliche Erbauungsquelle gebraucht" (Schian, Geschichte 681). Die Predigtgeschichte pflegt hier auf das Dreigestirn -»Bossuet, Bourdaloue und Massillon hinzuweisen. Besonders der letzte ist durch Theremin als homiletisches Vorbild herausgestellt worden. Nur Bossuet hat seine homiletischen Grundsätze dargestellt (Panégyrique de Saint Paul). Eine Ausnahmeerscheinung bildet —»Fénelon, der für die Homiletikgeschichte von Wichtigkeit ist durch sein Jugendwerk Dialogues sur l'éloquence en général et celle de la chaire en particulier (1718 posthum). Fénelon geht auf die Predigttheorie der Kirchenväter zurück, Piatons Argumente gegen die sophistische Rhetorik macht er sich zu eigen. Im Sinne der Schule von Port Royal dringt er auf gedankliche Schärfe, ohne die „rhetorischen" Elemente der Redesituation zu verkennen. Grundvoraussetzung der Predigt ist für ihn die Glaubensgewißheit des Predigers. Im ganzen hat er in Deutschland (M. Claudius) stärker Beachtung gefunden als in Frankreich. Der englische und französische Einfluß wirkte vor allem in die Richtung des gedanklichen und des sprachlichen Stils und des „guten Geschmacks". Ph.H. Schüler stellt 1792 seine mehrbändige Predigtgeschichte geradezu unter diesen Gesichtspunkt. Hier lagen in der Tat die Schwächen der orthodoxen wie der pietistischen Predigt. Sie zu überwinden bemühten sich im Deutschland des 18. Jh. die sog. Neologen unter dem Einfluß der Leibniz-Wolffischen Philosophie. Ihr Wegbereiter ist Lorenz von -»Mosheim (1694-1755), ihre homiletischen Hauptvcrtretcr sind -•Spalding (1714-1804) und F. V. Reinhard (1753-1812), dessen Geständnisse seine Predigten und seine Bildung zum Prediger betreffend 1811 von Tzschirner in „Briefen" rezensiert wurden. Gegen Formalismus, Formverachtung und dogmatische wie fromm-innerliche Weitabgewandtheit verlangt Mosheim eine einfache, stilvolle und thematisch klare Predigt. (Vgl. die Vorreden und Beigaben zu den 6 Bänden Heilige Reden über richtige Wahrheiten der Lehre Jesu Christi, 1725 ff und die Anweisung erbaulich zu predigen, posth. 1763; hier finden sich auch die Anfänge einer wissenschaftlichen Predigtgeschichte.) Das Thema wird aus einer Schriftstelle gewonnen und thesenartig zugespitzt, durch Schrift- und Vernunftgründe gestützt abgehandelt, endlich der „Nutzen der Betrachtung" gezogen. Das alte Schema explicatio - applicatio wird so schlicht und ernst durchgeführt, wobei zwei Hauptregeln gelten: Deutlichkeit des Aufbaus, Gründlichkeit der Beweisführung. Das Ziel der Predigt ist die Erbauung, und zwar des Verstandes und des Willens, damit der endliche Willensentschluß (die Bekehrung) nicht auf undeutlichem Affekt, sondern auf Überzeugung beruhe. In diese Richtung arbeitet auch Gottscheds Ausführliche Redekunst (1728). Die damit eingeleitete Phase der sog. „philosophischen Predigt", die die Kanzel in den Dienst der „sittlichen Kulturaufgab e " (von Zezschwitz 373) stellt, wird durch -»Spalding in ihrer vorbildlichen Form verkörpert. Seine Predigtauffassung (Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung, 1772 anonym, zuerst Reinbek zugeschrieben, dem Verfasser des Grundriß einer Lehrart ordentlich und erbaulich zu predigen, nach dem Inhalte der Königlich Preußischen Cabinettsordre von 1740) ruht auf Semlers Akkomodationstheorie, wobei er „zur Geltung bringen" möchte, „ d a ß das Christliche als Erfüllung und Vollendung der in der ursprünglichen N a t u r des Menschen angelegten Bestimmung verstanden und gerechtfertigt werden m u ß " (Hirsch, Geschichte IV,24). Diesem Ziel soll das Predigtamt dienen. Seine „ N u t z b a r k e i t " (man darf diesen Ausdruck nicht utilitaristisch verstehen) wird darauf zurück-

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Homiletik

geführt, „daß eine durch bestimmte ethisch-religiöse Grundsätze und Überzeugungen verbundene Gesellschaft von Menschen auch eines Standes berufsmäßiger, von anderen Geschäften frei gestellter Lehrer bedarf, um die Fortpflanzung der ethisch-religiösen Wahrheiten und Erkenntnisse, die ihr gegeben sind, zu sichern, sonntägliche Versammlungen, Unterricht und Erziehung ordentlich und gewissenhaft durchzuführen und so jene heilsamen Wahrheiten fort und fort in die Herzen und Gemüter der Menschen hineinzubilden" (Hirsch, Geschichte IV,19).

Spaldings und auch Reinhards „Vorbildlichkeit" haben allerdings die „immer mehr überhand nehmende Verflachung der evangelischen Wahrheit im Kanzelbrauche" (von Zezschwitz 374) nicht auf die Dauer aufhalten können. Ähnliches gilt für -»Herder, der in seiner Frühzeit Hamanns Anregungen aufnimmt und die Bedeutung des individuellen geschichtlichen Geistes auch für die Schriftauslegung betont (Der Redner Gottes, 1765, Briefe das Studium der Theologie betreffend, 1780/81 anonym). Daß die Homiletik „eine ganz andere Beredsamkeit" erfordere, hat Herder 1766 festgestellt1 Aber weder er noch seine Mitstreiter waren die Männer, diese Forderung im Geiste einer neuen Epoche auch durchzusetzen. Dies war vielmehr -»Schlciermachcr vorbehalten. 2.3. Von Schleiermacher

bis zur

Gegenwart

2.3.1. Schleiermacher Die Bedeutung Schleiermachers für die Geschichte der Homiletik kann nicht aus den entsprechenden Abschnitten seiner Praktischen Theologie (SW 1. Abt., 13. Bd.) abgelesen werden. Er wirkt vielmehr indirekt stärker und grundlegender durch seine Auffassung der Praktischen Theologie im Rahmen des Systems der Wissenschaften sowie durch seine umfangreiche Predigttätigkeit, die auch ihren bedeutenden literarischen Niederschlag gefunden h a t " . Durch Schleiermacher erfährt die Homiletik zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine überlegte Einbettung in den Organismus der theologischen Wissenschaft. Danach bildet die Praktische Theologie als eine technische Disziplin, eine Verfahrenstheorie, insgesamt ein System von „Kunstregeln", mit deren Hilfe die von den beiden anderen theologischen Disziplinen, der philosophischen und der historischen, gestellten Aufgaben bewältigt werden können. Diese Auffassung, die eine Rückwirkung der Praxis auf die Theorie hier nicht ins Auge faßt, ist später von Alexander Schweizer und anderen korrigiert worden. Trotzdem bleibt Schleiermachers Sicht in Geltung, wonach die Homiletik nur Kunstregeln, d.h. die Grundsätze aufstellt, „deren Anwendung in die Verantwortung des Predigers gestellt ist" (Wintzer 16). Auf diese Weise ist die schöpferische Individualität des Predigers ebenso gewahrt wie die Freiheit der Predigt des Evangeliums. Die so gefaßte Aufgabe der Homiletik gewinnt ihre Kontur mit Hilfe eines neuen Verständnisses der Predigt. Die Predigt wird von Schleiermacher unter das Phänomen des Kultus subsumiert, dieser ganz als „darstellendes Handeln" verstanden. Mit diesem Begriff wehrt sich Schleiermacher sowohl gegen ein pädagogisches wie gegen ein theurgischliturgisches Mißverständnis der Predigt: Sie ist weder eine Lehrveranstaltung noch wirksames Ritual. „Nicht die Darlegung von Sachverhalten, sondern die Sprachwerdung eines religiösen Seinszustandes ist ihre eigentliche Aufgabe... Das durch Christus gestiftete neue Gesamtleben, das die Kirche durchdringt, findet in ihr eine Selbstdarstellung mit erneuernder und anregender Kraft" (Wintzer 18). Damit hat Schleiermacher auf seine Weise der reformatorischen Rechtfertigungslehre, Ekklesiologie und Worttheologie in der Homiletik einen durchaus neuen Ausdruck gegeben und sie zur Wirkung gebracht. Es bleibt freilich die Frage, ob daraus immer die richtigen Folgerungen gezogen worden sind. Wird die Predigt als „darstellendes Handeln" verstanden, so unterscheidet sie sich damit nach Schleiermachers Verständnis vom „wirksamen Handeln", zu dem er z.B. Kirchenzucht, Mission und Katechese rechnet (Christliche Sitte). Als eine späte Konsequenz dieser Sicht wird die Missionspredigt von der Gemeindepredigt scharf geschieden und aus der Homiletik vielfach ausgeklammert. Was sich in der Predigt darstellt, ist nämlich das in der Gemeinde idealiter vorhandene „Gesamtleben der Erlösung" (vgl. zu diesem Begriff vor allem die Glaubenslehre §§ 8 6 - 8 9 ) . Predigtzweck ist die Belebung des religiösen Bewußtseins, der ganze Kultus „eine Anstalt für die Circulation des religiösen Be-

Homiletik

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wußtseins" (Praktische Theologie 216), dem bloßen „ H i n b r ü t e n über religiöse Gegens t ä n d e " (a. a. O . 72) entgegengesetzt. In diesem Z u s a m m e n h a n g ist der Prediger „auf der einen Seite ein O r g a n seiner Kirche, auf der anderen Repräsentant seiner G e m e i n d e " (a. a. 0 . 2 0 3 ) . Das Verbindende ist die gemeinsame Beziehung aller auf die Schrift (a. a. O . 228). Auf diese Weise kann Schleiermacher das homiletische Verfahren ein dialogisches nennen: „Es ist ein Dialog mit seiner Schriftstelle, die er (der Prediger) fragt und die ihm antwortet, und mit seiner Gemeinde" (a. a. 0 . 2 4 8 ) . Die bekannte Trias Text - Prediger Gemeinde ist also hier nicht mechanisch aufgefaßt, sondern in ein lebendig-organisches Verhältnis gebracht. Dahinter wird die Homiletik nicht wieder zurückgehen können. An kritischen Einwänden gegen Schleiermacher hat es nicht gefehlt. Schon Trillhaas beargwöhnte Schleiermachers „natürliche Theologie", Wintzer merkt das Fehlen eines eschatologischen Ausblicks an (22). Den tiefsten Einwand erhebt E. -»Hirsch: Schleiermacher habe die Anfechtung des Glaubens nicht gekannt oder nicht kennen wollen (Christusglaube 108ff). Die Kritik trifft nicht nur den Prediger, sondern auch den homiletischen Theoretiker, macht dabei aber zugleich auf seine Stärken a u f m e r k s a m : „Schleiermachers Erlösungsglaube ist Bewußtsein von der seligen befreienden Gegenwart des Ewigen und Göttlichen mitten unter den Wirren, Leiden und Versuchungen dieses Erdenleb e n s " (a. a. 0 . 1 1 0 ) . Indem er diesen Glauben in der theologischen Wissenschaft wirksam werden läßt, hat Schleiermacher auf gänzlich unprätentiöse Weise einen N e u a n f a n g gesetzt, der seine Fruchtbarkeit spät, aber nachhaltig bewiesen hat. In der Homiletik wird seitdem fast jedes bewegende Problem seinen Bezugspunkt in Schleiermachers Gedankenwelt finden. 2.3.2 Vermittlungstheologie

und

Erweckungsbewegung

Die Überfülle homiletischer Entwürfe des 19. Jh. kann hier nur in einer schematischen Ubersicht skizziert werden. Das Hauptinteresse galt zunächst einer Systematisicrung und Weiterführung der Schleiermacher'schen Anregungen durch die sog. —•Vermittlungstheologie. Hier sind vor allem Alexander Schweizer (1808-1888) und Carl Immanuel - • N i t z s c h (1787-1868) die Wortführer. - • M a r h e i n e k e geriet mit seiner an Hegels Philosophie orientierten Prcdigtlehre zwischen die Fronten und hat hier k a u m Nachfolger gefunden. Stärker hat er durch seine systematischen Ansätze gewirkt, vor allem durch die G r ü n d u n g christlichen Denkens in einer „Vorentscheidung" (vgl. Hirsch, Geschichte V,370). Neuerdings hat sein Theologumenon von der „inklusiven Stellvertretung" großen Anklang gefunden. Im Gefolge Schleiermachers und gewissermaßen gegen seine konfessionelle Tradition entscheidet sich Schweizer vor der Frage, ob das Gebiet der Homiletik „mit Katechetik als Dienst am Wort oder mit Liturgik als Cultus zu begreifen sei" (Vorwort zur Homiletik, 1848), für das letztere und gegen Nitzsch. In strenger Systematik (hier bewußt von - • Palmer abweichend) und präziser Sprache, wenn auch allzu reflektiert, bestimmt Schweizer über Schleiermacher hinausgehend die Praktische Theologie als „das Wissen um die Art, wie die historisch aufgefaßte und speculativ begriffene Religion sich kirchlich zu verwirklichen hat" (a. a. 0 . 8 ) . Die kirchliche Verwirklichung vollzieht sich in drei Sphären, der kultischen, der pastoralen (seelsorgerlichen) und der halieutischen (katechetischen). Alle drei haben in der Homiletik ihren Ort, für die Schweizer eine „organische systematische Architektonik" (113) fordert. Er findet sie in der zum Vorbild gewordenen Dreiteilung: prinzipielle, materielle und formelle Homiletik. Dabei formt er ältere, an die klassische Rhetorik sich anschließende Einteilungen um, bemerkt aber, daß z. B. das alte Lehrstück von der inventio keinesfalls den Anforderungen gerecht wird, die an die materiale Homiletik zu stellen sind (113). Insgesamt nimmt er zur Rhetorik nicht die üblich gewordene ablehnende, sondern eine vermittelnde Stellung ein. Allerdings verneint er die formale Trennung von explicatio und applicatio. Denn Ziel (Zweck) der Predigt ist allgemein die „Erlösung und Heiligung der Zuhörer" (287), nicht ihre Belehrung. Daraus gewinnt jede Predigt ihr „Finalthema", das so auf Willen und Gemüt zielt, wie es schon vorher den Prediger ergriffen hat. Durch Verknüpfung mit dem aus dem Predigtstoff gewonnenen „Causalthema" entsteht das Thema der einzelnen Predigt. Predigtstoff ist für Schweizer die an der Schrift bewährte kirchliche Lehre, die für die Predigt immer Dogmatik und Moral zugleich ist (204): Eine reine Lehrpredigt lehnt Schweizer ebenso ab wie eine reine Moralpredigt. Modifiziert wird der Stoff objektiv durch das Bedürfnis der Gemeinde, subjektiv durch die Persönlichkeit des Predigers.

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Homiletik

Anders als Schweizer will Nitzsch, der ihn an Einfluß überragt, die Predigt nicht dem Kultus, sondern der „Didaktik" einordnen. Die Predigt ist ihm als „Dienst am Wort" „die fortgesetzte Verkündigung des Evangeliums zur Erbauung der Gemeinde des Herrn, eine Verkündigung des durch heilige Schrifttexte vermittelten Wortes Gottes, welches mit lebendiger Beziehung auf gegenwärtige Zustände und durch berufene Zeugen geschieht" (Praktische Theologie 11,47). Das Wort Gottes steht also der Gemeinde gegenüber, trägt ihr Erlösungsbewußtsein. Insofern will Nitzsch nicht zwischen Missions- und Gemeindepredigt streng trennen. Andererseits ist die Predigt aber auch Selbsterbauung der Gemeinde; nicht der Prediger an und für sich, sondern die ganze Gemeinde ist das „actuose Subjekt" (a. a. 0.1,110) wie der Praxis der Kirche, so auch der Predigt. Das Verhältnis von Wort Gottes und Schrift, von Schriftwort und Predigtzeugnis versteht Nitzsch in etwa nach dem Schema der Zweinaturenlehre: Göttliches und Menschliches vereinen sich. Das schließt für den Prediger das ernsthafte Bemühen um die Erfahrungswelt seiner Hörer ebenso ein wie die persönliche Überzeugung von der Wahrheit des christlichen Glaubens. Für die formale und materiale Homiletik schließt sich Nitzsch eng an Schleiermachers Gedanken der Kunstlehre an, auch was den engen Bezug zur tatsächlichen Predigtpraxis betrifft.

Trotz aller Unterschiede im einzelnen fallen aus dem zeitlichen Abstand heraus gesehen die homiletischen Aufstellungen Nitzschs und Schweizers zusammen mit ihrem starken Interesse an der Prinzipienfrage, an der Stringenz des Systems und mit ihrem Bemühen um Vermittlung zwischen christlichem Glauben, wissenschaftlichem Geist und Zeitkultur. Selbst der namhafteste Vertreter einer mehr konfessionell gebundenen Homiletik, Th. -»Harnack, macht hier keine Ausnahme. Auf Luther quellenmäßig zurückgehend, ordnet er die Predigt unter die „sakramentlichen Kultusakte" ein (Liturgik, bei Zöckler IV,419). Sie ist die an der Schrift sich normierende, das Schriftwort frei reproduzierende „Darreichung des Wortes": „ . . . auf ihren Kern reduziert, ist die Predigt eine Absolution, und darin ist auch ihr sakramentaler Charakter begründet" (ebd. 422). Die hörende Gemeinde ist dabei nicht rein passiv, sondern stellt sich in der Predigt auch dar: „Denn die christliche Gemeinde soll sich zu dem Schriftworte nicht nur als zu einem anzueignenden bekennen, sondern sich zugleich als eine solche darstellen, welche den wesentlichen Inhalt desselben sich bereits im Glauben angeeignet h a t " (ebd.). Dem entspricht, daß sich in der Predigt auch die Individualität des Predigers zeigt, die als eine Lebensgestalt des Glaubens verstanden wird. Aus alledem geht hervor, wie Schleiermachers praktisch-theologische Anregungen auf die Homiletik der führenden Vertreter der Vermittlungstheologie gewirkt haben. Bei ihnen allen steht dabei das systematische Interesse im Vordergrund, was sich in der besonders ausführlichen Behandlung der Prinzipienfragen ausdrückt. Dabei ist zu beachten, daß die Theologie in der ersten Hälfte des 19. Jh. noch nicht in eine Reihe von Disziplinen auseinandergefallen war, die untereinander nur noch losen Kontakt halten, sondern als eine organische Einheit verstanden wird. Mit ihrer Konzentration auf die Prinzipienfrage heben sich die Vermittlungstheologen nicht nur von mehr pastoraltheologisch Interessierten wie Palmer ab, sondern auch von den Nachzüglern einer älteren Form der Homiletik, die neben und nach Schleiermacher noch für geraume Zeit das Feld der Predigtpraxis behaupteten. Hier sind vor allem zu nennen H . A. Schott (1780-1835), F. Theremin (1780-1846) und A. Vinet (1797-1847). In A. Krauß (Lehrbuch der Homiletik, 1883) haben sie einen späten Nachfolger gefunden. Schott sieht die Homiletik als einen Sonderfall der Rhetorik, von ihr durch den Redeinhalt („ächte Religiosität und Sittlichkeit, welche die Bekenner Jesu der Theilnahme am Reiche Gottes fähig und würdig macht", 1,309f) und ihr Redeziel („daß m a n . . . den würksamen veredelnden und beruhigenden Einfluß der religiösen Uberzeugung und Hoffnung auf das ganze Leben erkennen und fühlen m u ß . . . " , 1,292f) unterschieden. Der Prediger ist also nicht in erster Linie Lehrer, sondern „Geistlicher". Der Grund liegt darin, „ d a ß das Verkündigen des Evangeliums, wenn auch die Lehre noch so sehr durch Wahrheit, die Form des Vortrags noch so sehr durch Deutlichkeit und Schönheit sich empfiehlt, doch seinen Zweck nicht so erreicht, wie er erreicht werden kann und soll, wenn der Zuhörer oder Leser nicht ein religiöses und sittliches Interesse an der Person des Redenden nehmen kann, und die verkündete Lehre in ihm selbst als etwas Lebendiges erblickt" (1,288 - Der vir bonus der antiken Rhetorik und der „fromme Prediger" des Pietismus sind hier vereint). Wie sehr Schott allerdings Wert auf den Inhalt der Predigt und ihre Form legt, zeigen die Bände II und III seines Hauptwerkes, die sich ausschließlich mit der inventio, der Anordnung, dem Stil und dem Vortrag

Homiletik

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befassen. Wie Schott nach seinem eigenen Urteil (1,412 Anm.) psychologisch vorgeht, so Theremin moralisch. Daß er damit „eine neue spezifische rhetorische Richtung" „eingeleitet" habe (Achelis 11,115), wird man indes nicht sagen können. Denn obwohl viel bewundert, hat sein Entwurf Die Beredsamkeit eine Tugend (1814, 21837) „keine Fortsetzung gefunden" (Grünberg 68). Theremin sieht die Rede als moralische Tat mit Zielrichtung auf den Willen des Hörers, nimmt also in gewisser Weise die Sprechakttheorie vorweg. Ihre innere Struktur ist der Dialog. Dabei setzt Theremin voraus, daß „Pflicht, Tugend und Glück" die von Natur gegebenen Willensmaximen sind, die die Predigt wie jede andere Rede auszusprechen habe. Das „positive Christentum" ist für ihn dabei die Basis. Wie Theremin mehr der praktisch-rhetorischen Seite der Homiletik zugewandt als der systematisch-prinzipiellen, hat —» y inet durch seine homiletischen Schriften weit über die Schweiz hinaus gewirkt: A. Rüegg (RE 3 20,680) schreibt ihm eine „der Bedeutung Schleiermachers vergleichbare Stellung" für den französischen Protestantismus zu. Auch in Deutschland waren seine postum veröffentlichten, aus Kollegien entstandenen praktisch-theologischen Schriften weithin geschätzt: Théologie pastorale ( 1850), dt. mit Kommentaren von H . G . Hasse 1852), Homilétique (1853, dt. von Schmid 1857), Histoire de la prédication parmi les Réformés de France au XVIIe siècle (1860). Weniger an System und Stringenz der Gedankenführung interessiert, bezeichnet Vinet die Predigt als Lehre (enseignement): „Sie ist Auslegung des Wortes Gottes, Auseinandersetzung der christlichen Wahrheiten und Anwendung dieser Wahrheiten auf unsere Gemeinde, dies alles vor versammelter Gemeinde selbst, und insofern öffentlich, als die Kirche, gegenüber der Welt, eine Jedermann offenstehende große Schule oder doch einer solchen vergleichbar ist" (Pastoral-Theologie 153f). Auch Kultus und Ritual sind ihm eine Form der Lehre. Weil das Christentum Überzeugung beansprucht, ist es „eine Religion, die sich ausspricht" (ebd. 155). Weil Christus selbst das Wort ist, ist die Predigt allerdings ein „Erzeugnis zweiter Hand", „ein Wort über ein Wort" (ebd.), aber eben doch auch „That, nicht eines Wortes Nachahmung" (156). Obwohl ihre Wirkung dem göttlichen Geheimnis der Verwerfung und des Heils unterworfen ist, verlangt sie gewissenhafte, verantwortliche Vorbereitung und Ausführung durch einen dazu Ausgebildeten. Dem gilt Vinets besondere Aufmerksamkeit. Ein Jahrhundert vor M. Doerne beklagt er die formale Eintönigkeit (181) der zeitgenössischen Predigt, warnt aber auch vor gewollter Unpopularität des Predigers, die letztlich nur Eitelkeit ist. Aber er vergißt nicht zu erinnern: „In der evangelischen Predigt liegt immer ein Keim von Impopularität, ein bitterer Vorgeschmack, der selbst zu Zeiten, wo die Rechtgläubigkeit beim Volke beliebt und Mode geworden - was gar wohl geschehen kann - , sich bemerklich macht" (190). In der Art Vinets, aber in strengerer Schriftbindung behandelt Christian -»Palmer (1811-1875) die Homiletik. „Predigen heißt: im Namen Gottes das Heil, das der Menschheit in Christi Person und Werk erschienen und für sie vorhanden ist, durch lebendiges Zeugniß zur Annahme darbieten" (Evangelische Homiletik 1). Das Heil liegt im Wort Gottes beschlossen, das allerdings nicht mit der Schrift identisch ist, sondern Offenbarung, letztlich „That Gottes in Christo" (68) ist. Das ist das ursprüngliche Wort, es gibt aber auch ein „fortgesetztes in der geisterzeugten Rede" (70). Diese besteht aber in ständigem Rückbezug auf den Ursprung, der in der inspirierten „biblische(n) Darstellung der Geschichte Jesu" (72) gegeben ist. Damit wird die Predigt zur praktischen Schriftauslegung, eine programmatische Zeitpredigt lehnt Palmer ab (Wintzer 96). Hier steht er, obwohl Vermittlungstheologe, in der Nachfolge eines pietistisch geprägten Biblizismus (Bengel, Hofacker). Einen breiten Raum nimmt in seiner Darstellung die Predigt als Teil des Kultus ein. So bildet die am Kirchenjahr und am Kasus orientierte „kirchliche Sitte" den umfangreichen dritten Teil seiner Homiletik. Da Palmer nicht in erster Linie die Theorie befördern, sondern dem Prediger praktische Hilfe bieten will, unterbricht er seine Darstellung immer wieder durch praktische Beispiele aus der Schriftauslegung und Predigtgeschichte. Nur in der außerdeutschen Homiletik findet sich eine ähnliche Darstellungsweise bei Ch. H. -»Spurgeon (1834-1892), dessen Ratschläge für Prediger (dt. v. Ohler 1896) allerdings mehr den Charakter von praktischen Winken für den Predigtdienst tragen. Sie haben vor allem durch ihre anschauliche und mitreißende Art weite Verbreitung gefunden (vgl. Thielicke, Vom geistlichen Reden. Begegnungen mit Spurgeon, 1961 4 1978). Straffer, aber ebenfalls mit vornehmlich praktischer Abzweckung ordnet Oosterzee seine Predigtlehre „für junge Theologen" (Praktische Theologie I, autorisierte dt. Ausgabe Heilbronn 1878). Nach Grundbestimmungen über das geistliche Amt folgt eine ausführliche geschichtliche Darstellung des Predigtwesens mit stärkerer Berücksichtigung des außerdeutschen Sprachraums, sodann die üblich gewordene dreigeteilte (prinzipielle, materielle, formelle) Homiletik. Dem didaktischen Ziel dienen weiterführende Fragen am Schluß jedes Paragraphen.

2.3.3 Wendung zum Realismus und die „moderne Predigt" Mit der zunehmenden Verselbständigung der Praktischen Theologie als Disziplin und vor allem mit den einschneidenden Veränderungen des kirchlichen Lebens in der zweiten Jahrhunderthälfte gewinnt auch die Homiletik ein neues Gesicht. Das Interesse an Prinzi-

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pienfragen nimmt ab, sie werden im wesentlichen den Dogmatikern überlassen. M a n wendet sich stärker der wissenschaftlichen Behandlung von Praxisproblemen, aber auch der historischen Forschung (—• Achelis, ->Drews) zu. Es hat sicher seine Berechtigung, wenn man diese Entwicklung schwindender Kraft und ideeller Unsicherheit zuschreibt (Birnbaum, Wandlungen 163), aber damit werden die Zusammenhänge nicht geklärt. Industrialisierung, Auswanderung und Binnenwanderung hatten die herkömmliche Ortsgemeinde in eine schwere Krise gestürzt ( - • Kirchenentfremdung); der Siegeszug von Naturwissenschaft und Technik veränderte das öffentliche Bewußtsein und das Weltbild breiter Massen. Die Wendung zur Geschichte ist so nicht nur als Haltsuchen zu erklären, sondern auch als Ausdruck der Relativierung aller Lebensverhältnisse. Das signalisiert auch die Neueinschätzung der Psychologie durch die Praktische Theologie. Die Homiletik hat zunächst recht hilflos auf diese Veränderungen reagiert. Davon zeugen z. B. die seinerzeit geachteten Werke von A. Krauß und H. Bassermann (vgl. den Überblick bei Häring 266-273). Besonders „Bassermanns Veröffentlichungen über den Predigtbegriff bilden gleichsam einen Knotenpunkt in der Geschichte der Homiletik" (Wintzer 61). Trotz seiner Einsicht in die krisenhaft veränderten Verhältnisse hält Bassermann auch nach seiner Abkehr vom Begriff der zweckfreien Kultuspredigt an überkommenen Schemata fest. Einen anderen, freilich unklar endenden Weg geht die damals aufkommende -»-Liturgische Bewegung in ihrer der Psychologie geöffneten Phase. Sie konstatiert das kommende Ende der „Vorherrschaft, ja Alleinherrschaft der Kanzelrede im evangelischen Gottesdienst" (J. Smend 28), vermag ihr als freiem, individuell geprägtem Wort aber letzten Endes keinen notwendigen Ort in der Kultusfeier zu geben. Z w a r entspricht sie „durchaus dem Wesen einer evangelischen Gemeindefeier" (a. a. O. 31), Smend fordert aber „die Beseitigung jeder pädagogischen Mission" (33) und will die „Bezeugung des Evangeliums im apologetischen, polemischen, missionarischen Interesse" (39) letztlich aus dem Gottesdienst verbannen und anderen Kommunikationsformen zuweisen. Die gottesdienstliche Predigt wird so zur „Betrachtung" (31). In dieser meditativ bestimmten Form ist sie dann insgesamt von der liturgischen Bewegung aufgefaßt worden (vgl. Birnbaum, Kultusproblem 11,117-134). Die liturgische Bewegung bezeichnet nur eine Linie des Verlangens nach Predigtreform, das zum homiletischen Hauptthema der Zeit um die Jahrhundertwende wird. Es fließt aus der Erkenntnis, daß die in Kirche und Gesellschaft eingetretenen Wandlungen eine Auflösung der kirchlichen Sitte mit sich gebracht haben und die Predigtpraxis angemessen darauf reagieren müsse. Man kann das Reformprogramm, das von allen theologischen und kirchlichen Gruppierungen in dieser oder jener Form mitgetragen wurde (Schian, Grundriß 11,222), auf das Schema reduzieren: Verdiesseitigung, Individualisierung, Differenzierung (vgl. dazu Wintzer 119ff). Daß die Predigt die Fühlung mit dem Hörer ihrer Zeit verloren habe, lautet durchgängig der Vorwurf. Darum das Verlangen nach „zeitgemäßer" Predigt (Th. Häring), ausgeführt als „indirektes Gespräch" mit dem Hörer (W. Wrede). Die psychologischen Bedingungen und die sozialen Zusammenhänge beanspruchen die Aufmerksamkeit (Fr. Niebergall, P. Drews). Der praktische Ethizismus A. -»Ritschls und die Erlebnishermeneutik W. -»Hertmanns, die indirekter, aber weiter wirkten, geben den systematisch-theologischen Rückhalt. Zugleich erlauben sie, die historisch-kritische und religionsgeschichtliche Exegese für die Predigt nutzbar zu machen, ohne sich dadurch allzusehr verunsichern zu lassen. Freilich haben sich die reformerischen Forderungen nur langsam und auch nur teilweise in der Predigtpraxis durchgesetzt, die noch lange die kirchlich gebundene Textpredigt in archaisch wirkender Sprache bevorzugte (A. Niebergall, Leiturgia 2,339 f). Als ihren Theoretiker kann man F.L. Steinmeyer (1811-1900) nennen. Seine Einseitigkeit (Alleingeltung der Textpredigt, Lehr- und Moralpredigt als die beiden Standardformen der Verkündigung) ist dann fortlaufend auch von gemäßigten Homiletikern wie M. Schian korrigiert worden.

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Eine Übergangsstellung nimmt P. Kleine« (1837-1920) ein, der vorsichtig den Ertrag der Homiletik seit Schleiermacher bewahrt, aber den Anforderungen der Zeit Rechnung zu tragen versucht. Die „christliche Persönlichkeit" ist ihm Ziel und Ausgangspunkt, aber er kennt die Krisensituation und denkt über ihre Ursachen nach. In seiner Homiletik (1907) verzichtet er auf eine ausführliche Entfaltung der Prinzipienlehre und begnügt sich mit einer Aufreihung von „Grund- und Vorfragen". Die Behandlung von Inhalt und Form nimmt in der Tradition gewordenen Einteilung unter den Bezeichnungen „Homiletische Stofflehre" und „Homiletische Formlehre" den meisten Raum ein. Jede einzelne Predigt soll nach Kleinen auf das Wort Gottes als Zentrum tendieren, das allerdings nicht mit der Schrift gleichgesetzt wird. Die Predigt ist zwar Textpredigt, wird dies aber auf dem Weg der „homiletischen Auslegung", die die historischen Ergebnisse der Exegese für die jeweilige Gegenwart fruchtbar macht. Insofern ist die Predigt auch „gemeindegemäß". Getragen wird der Predigtvorgang bei Prediger und Gemeinde durch das „persönliche Erleben". Hier scheint eine innere Verwandtschaft zu W. Herrmann auf, auf den Kleinert sich allerdings nicht beruft. Für die Formlehre übernimmt er den Schlciermacher'schen Begriff der Kunstlchrc und stellt fünf eigenständige Grundforderungen auf, die die Formlehre bestimmen: erstens Bestimmung der Form durch den Inhalt, zweitens Einheit durch Konzentration, drittens „Selbheit" (140) durch persönliche Aneignung, viertens „homiletische Keuschheit" (142) durch einfältige Echtheit, fünftens thematische Ganzheit: „Da würde die Idee der Predigt erfüllt sein, wo von keinem Satz, ja von keinem Wort gesagt werden könnte, daß es an seiner Stelle zufällig stehe und ebensogut auch fehlen oder sogar durch ein Besseres ersetzt sein könnte" (143). Bei alledem h a t Kleinert keine „ i d e e l l e " Predigtauffassung vertreten. S c h o n 1 8 8 0 bezeichnet er als G e g e n s t a n d der Praktischen T h e o l o g i e die empirische K i r c h e als k o n k r e t e G e m e i n d e und L a n d e s k i r c h e ( B i r n b a u m , S t r ö m u n g e n 1 2 2 f ) . Paul D r e w s hat dies später mit Entschiedenheit aufgegriffen und zur erneuten F o r d e r u n g n a c h spezieller (kasueller) Predigt zugespitzt ( D i e Predigt im 19. Jh., G i e ß e n 1 9 0 3 ) . D a m i t w e n d e t sich die A u f m e r k s a m k e i t besonders dem Predigthörer, seiner Interessen- und G e m ü t s l a g e , ja auch dem der K i r c h e Fernstehenden zu. E t h i k , religiöse V o l k s k u n d e und Psychologie werden als „ H i l f s w i s s e n s c h a f t e n " der H o m i l e t i k verstanden. Allerdings ist das R e s u l t a t n o c h recht pauschal: Unterscheidung von D o r f - und Stadtpredigt, ethische T h e m a t i k in A b k e h r von der h e r g e b r a c h t e n M o r a l p r e d i g t , soziale Predigt. In gewissem Sinn k a n n die H o m i l e t i k Friedrich Niebergalls als Z u s a m m e n f a s s u n g und A b s c h l u ß dieser von anderen wie O . B a u m g a r t e n und M . Schian mitgetragenen E n t w i c k l u n g verstanden werden. In Abkehr von Schleiermachers homiletischem Grundsatz sieht Niebergall die Homiletik wie die ganze Praktische Theologie als „Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf wissenschaftlicher Grundlage" (so der Untertitel seiner zweibändigen Praktischen Theologie, Tübingen 1918/1919). Ausgangspunkt bildet für ihn die Frage „Wie predigen wir dem modernen Menschen?" (Titel seiner dreibändigen Homiletik, im wesentlichen aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg, Tübingen 1902-1921). Als Ziel setzt er der Predigt die Metanoia („Umsinnung") und die Weckung und Stärkung des Glaubens. Das Mittel ist nicht die „Moralpaukerci" oder die Lehre von Glaubenswahrheiten, sondern das Angebot von Werten und Kräften. Damit soll die Predigt eine seelische Verfassung im Hörer erzeugen, die mit Seelenfrieden, Freude und Freiheit gekennzeichnet werden kann. Das, was Niebergall „kultische Gemeindeseelsorge" mit Hilfe „einer an die Allgemeinheit gerichteten Rede" genannt hat (111,215), umschreibt Wintzer treffsicher als „Gemeindeerziehung und Hilfe zur Lebensbewältigung - das sind die Leitgedanken von Niebergalls Predigtlehre" (173). Damit ist die Predigt aber kein „darstellendes" Handeln mehr, sondern ein „wirksames", freilich nicht in einem theurgischen, sondern höchst diesseitigen Sinn, jedoch nach Niebergall verankert in Jesus und seinem Evangelium, wo sich für ihn die Gedanken Gottes offenbaren. Obwohl nach dem 1. Weltkrieg abgeschlossen, gehört diese Predigtlehre doch noch in die Zeit vor diesem nicht nur das bürgerliche Christentum zerstörenden Einbruch. Niebergalls letztes Werk Die moderne Predigt (1929) atmet denn auch den Geist einer abgeklärten Resignation, die auf eine Breitenwirkung der Predigt nicht mehr zu hoffen wagt. Dennoch bleibt seine Warnung vor der Unmenschlichkeit der neueren Predigttheorie (Fezers) beachtenswert als Zeugnis einer liberalen Theologie, die leidenschaftlich um mehr Menschlichkeit gekämpft, den Kampf aber letztlich verloren hatte.

2.3.4 Homiletik und Wort-Gottes-Theologie D i e neue Predigttheorie w a r nicht ursprünglich a u f d e m B o d e n der P r a k t i s c h e n T h e o logie g e w a c h s e n , d e n n o c h a b e r in enger F ü h l u n g mit der kirchlichen P r a x i s entstanden.

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Der Ursprung der Theologie Karl -»Barths ist ohne die „Predigtnot" nicht zu denken. Es hat jedoch verhältnismäßig lange gedauert, bis die sog. -»Dialektische Theologie sich auf die Praktische Theologie auswirkte. Dabei hatten Barth selbst und auch viele seiner Weggenossen, auch wenn sie dann verschiedene Wege gingen, zur homiletischen Theoriebildung durchaus eigene Beiträge geliefert. Sie konzentrieren sich letztlich auf die Verneinung der Predigttheorie des theologischen Liberalismus. Darum setzen alle bei der Prinzipienfrage ein und vernachlässigen weitgehend das „ W i e " der Predigt gegenüber ihrem Sinn und ihrer Aufgabe. Dabei tritt „ein Hauptthema der modernen Homiletik, nämlich das Bemühen um Kommunikation mit dem Hörer", in den Hintergrund (Wintzer 214). Aufgabe der Predigt ist für die dialektische Theologie vielmehr „Verkündigung" ausschließlich des „Wortes Gottes". Damit stehe sie „zwischen Weihnachten und Advent" (K. Barth, Gemeindemäßigkeit; Hummel 168). Die ältere Homiletik bis hin zur „modernen Predigt" hätte dem vielleicht nicht widersprochen; aber sie hatte nicht genügend das damit aufgeworfene Grundproblem reflektiert: Was ist Wort Gottes und wie verhält es sich zum Menschenwort? Diese Frage wird nun im Bewußtsein des Gegensatzes von Zeit und Ewigkeit, also „eschatologisch" diskutiert, auf ein neues Verständnis der Offenbarung bezogen. Das Wort Gottes als Offenbarungswort, als Schriftwort und als Predigtwort bildet eine von Spannungen und Entsprechungen durchzogene Einheit und tritt als solche in Gegensatz zu allen der menschlichen Eigenmacht entsprungenen Worten. -»Thurneysen, dessen Beiträge zur Predigttheorie „als Entwurf einer prinzipiellen Homiletik angesehen werden können" (Wintzer 197), sieht den Prediger ganz als „Werkzeug" in diesem Offenbarungsgeschehen (Grundregeln, Z Z 11,1933,474), die Predigt als „ein Kerygma, ein Zeugnis nicht von uns selber, sondern von G o t t " (Aufgabe, Pastoralblätter 1921; Hummel 118). Darum „ m u ß jeden Sonntag alles und darum jeden Sonntag das gleiche gesagt werden" (ebd. 116). Wie jeder Mensch hat auch der Prediger keinerlei Verfügung über das Wort Gottes. Überhaupt wird in der Polemik gegen die liberale Theologie die „Unverfügbarkeit" stark strapaziert. Die Ansicht stammt letztlich wohl aus der reformierten Tradition. Weil die Predigt so letztlich zu einer unmöglichen Möglichkeit wird (vgl. Karl Barths Definitionsversuch in Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie: Das Wort Gottes u. die Theologie, 1924,158), wird das, was als Ermunterung für den Prediger gedacht war, zu seiner Einschüchterung. Aller eigenen Möglichkeiten beraubt, wird er auf die strikte Bindung an den Text verwiesen. Scheint damit die eigene Person des Predigers ausgeschaltet, so liegt dennoch auf ihm die Last, den Anspruch Gottes in seinem eigenen Hören auf das Schriftwort zu realisieren. Dementsprechend wird auch die Hörergemeinde als eine durch die Anrede Gottes erst zu konstituierende gesehen, ihre empirische Verfaßtheit wird Nebensache (Barth, Gemeindemäßigkeit, 1935). Bei alledem darf aber nicht vergessen werden, daß gerade bei Barth und Thurneysen die Theorie von ihrer eigenen Praxis immer wieder überholt wird. Wo Barth zu Predigern redet, wird der „Dienst am Wort Gottes" (ThExh 13,1934) „darin begründet, daß uns Erbarmen zuteil geworden ist" ( a . a . O . 9). Dadurch wird er „selbstverständlich" (ebd.), geschieht in Hoffnung ( a . a . O . 13, vgl. auch: Der Christ als Zeuge, T E H 12,1934). Anders als Barth und Thurneysen haben -»Gogarten und -»Bultmann stärker die anthropologische Situation berücksichtigt, allerdings als Grundsituation und nicht als (rein) empirisch bestimmte. Dabei steht zunächst für Gogarten das Ich-Du-Verhältnis, für Bultmann das Selbstverständnis im Vordergrund des Interesses. Aus der lutherischen Tradition kommend, betonen sie stärker die Idee der Begegnung, die sich bei Gogarten personal, beim späteren Bultmann im „Kerygma" konkretisiert. Daß die Konzentration auf Prinzipienfragen letztlich bei aller Hochschätzung der Predigt für das Gesamtgebiet der Theologie die spezifisch homiletischen Fragestellungen nicht weiterführt, läßt sich auch an der zwiespältigen Reaktion der „Dialektiker" auf Karl Fezers Studie Das Wort Gottes und die Predigt (1925) ablesen.

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Fezer hatte (etwas gewaltsam) versucht, das Schleiermacher'sche Grundschema vom wirksamen und darstellenden Handeln durch die Forderung nach der „theozentrischen" Predigt zu überwinden. Sowohl die erziehen wollende (pädagogisch-missionarische) Predigt wie die künstlerisch-darstellende weist er als anthropozentrisch zurück. Zwar möchte er die Predigt vom Gottesdienst her verstehen, dieser entspringt aber der durch das Wort gewährten Gemeinschaft mit Gott. Erst sie ermöglicht Dank und Anbetung (85). Zwar ließe sich die Gewährung der Gemeinschaft auch als „von Geist zu G e i s t " geschehend auffassen (83), jedoch bedingt der Gemeinschaftsgedanke nach Fezer eine „Versinnlichung". Diese findet er zunächst im Schriftwort. Um die Gemeinde vor der Anrede Gottes im Schriftwort „festzuhalten", ist die Predigt nötig als ein „Versuch, die unanschauliche Ewigkeit Gottes anschaulich zu machen" (93). Die Predigt wird für den Gottesdienst „unentbehrlich". „Denn nur der Prediger, als die lebendige leiblich-pneumatische Persönlichkeit, hat die Fähigkeit, zunächst im Schriftwort den darin uns nahekommenden lebendigen Gott zu schauen und dann zu erkennen, wo in der Geschichte, im Leben der Gemeinde, der Menschen der Gegenwart in gleicher Weise der lebendige Gott sichtbar wird wie im Schriftwort, und so zu der im Schriftwort vorliegenden Vetsinnlichung einer pneumatischen Wirklichkeit neue Versinnlichungen zu fügen, die dazu helfen wollen, daß die Hörer der Predigt vor genau dieselbe pneumatische Wirklichkeit hingeführt werden und vor ihr gemeinsam stillehalten" (93). Fezer steht der Predigtpraxis mit seiner Theorie näher als Barth, Gogarten und Thurneysen, es läßt sich aber denken, daß gerade sein Schlüsselbegriff „Versinnlichung" den Stein des Anstoßes liefern mußte. Bei aller Anerkennung im einzelnen ist Fezers Arbeit nicht als Ausdruck der dialektischen Theologie von dieser akzeptiert worden.

Die erste, für lange Zeit einzige Predigtlehre, die sich bei aller Selbständigkeit der dialektischen Theologie verdankt, ist die von Wolfgang Trillhaas (1935) gewesen. Gewesen allerdings auch in dem Sinne, als zunächst mit der dritten Auflage (1947) und dann entschieden mit der abschließenden fünften (1964) eine zunehmende Distanzierung von den Anfängen stattgefunden hat. Trillhaas* Einführung in die Predigtlehre (1974) hat dann zwar nicht einen vollständigen Bruch mit der dialektischen Theologie vollzogen, aber einer reichen phänomenologischen Erörterung der Predigtprobleme Raum gegeben. Allerdings ist schon in den Anfängen eine außerordentliche Nähe zur Praxis zu beobachten. Wenn Trillhaas zunächst der traditionellen Dreiteilung folgt, so ist der prinzipielle Teil knapp gehalten, eine „pastorale Homiletik" wird angefügt. In der Prinzipienlehre schließt Trillhaas sich der Wort-Gottes-Theologie an: „Die Predigt ist nur dann echte Predigt, wenn sie Gottes eigenes Wort sagen will" ('35). Das aber hängt weniger vom „guten Willen des Predigers" (ebd.) ab als von ihrem Inhalt. Dabei grenzt sich Trillhaas gegen einen „sturen Biblizismus" (36) ebenso ab wie gegen die Behauptung einer ungebrochenen Identität zwischen Wort Gottes und Menschenwort in der Predigt. Diese Linie wurde dann weiter ausgezogen und gegenüber einer tiefsinnigen Reflexion über das Wesen der Predigt auf die schlichte Tatsache des Predigtauftrages verwiesen ( 5 24). Freilich gilt: „Die Theologie des Wortes hat daher ihren Rang, daß Gott selber mit unserem Herzen sprechen will" (ebd.). Darin ist der Auftrag begründet und darin hat die Predigt ihre Autorität. Der relativen(i) Sicherung dieser Autorität dient die Bindung an Bibel, Bekenntnis und Amtspflicht und die theologische Bildung. Schon 1935 macht Trillhaas sich Gedanken über den Hörerkreis und erblickt dahinter die „Frage nach dem Anknüpfungspunkt" ( 1 47). 1964 sieht er den Streit zwischen Barth und Brunner über diese Frage als „überholt" an ( 5 36). Denn in der Predigt wird der Mensch als Geschöpf Gottes und in der christlichen Gemeinde als Getaufter angeredet, also als ein solcher, mit dem „Gott schon eine geheime oder auch offenkundige Geschichte gehabt hat" ( 5 34). Aus dieser Tatsache wird von Trillhaas 1964 die Predigt als Gesetzes- und Evangeliumspredigt begründet. Die Frage nach dem Hörer ist dabei eine Frage des Predigers nach sich selbst. Die materiale Homiletik steht unter dem Thema „Predigt und Text". „Nur schriftgemäße Predigt ist christliche Predigt" ('71, 5 57). Doch die Schrift wird 1964 anders als 1935 als Zeugnis von der Geschichte Gottes verstanden, nicht als autoritative „Botschaft". Mit Entschiedenheit wird die historisch-kritische Methode für die Textauslegung vertreten. Aber „Predigt ist nicht Exegese", sondern „das Ziel der Auslegung für die Predigt ist es, den Text als Evangelium zu vernehmen und dazu zu dienen, daß er sich selbst in das Leben der gegenwärtigen Menschen hinein auslegt" ( 5 66). Daß das „Christentum keine Buchre-

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ligion" (575) ist, wird später ausdrücklich betont. Nicht jeder Predigt muß ein Bibeltext vorangehen. In einem besonderen Kapitel über die Lehrpredigt wird vor allem die Bedeutung des -»Kirchenjahres als „eine sich übers Jahr hinüber erstreckende Begehung des Apostolikums" ( 4 112) für eine indirekt schriftgemäße Predigt herausgestellt. Einen zunehmend größeren Raum nimmt bei Trillhaas die formale Homiletik ein. Hier schlagen sich jahrzehntelange Erfahrungen des Predigers und Predigthörers nieder. Trillhaas fordert Deutlichkeit, Anschaulichkeit und Ordnung. Gewissenhaftigkeit und Fleiß sind darum vom Prediger zu verlangen, nicht mehr und nicht weniger, „ d a ß er sich nicht dem Verständnis durch Unklarheit, Trägheit und falsche Auslegung in den Weg stellt" ( 4 140). Eine Besonderheit der Trillhaas'schen Predigtlehre ist das Kapitel über die pastorale Homiletik, die mit dem Gedanken ernst macht, daß der Prediger zugleich Hirte einer Gemeinde mit einer seelsorgerlichen Aufgabe ist. So ist die Gemeindegemäßheit der Predigt „keine Frage der Technik", sondern der „Gesinnung des Seins" ('235, 5 152). Erst durch den Blick auf die Gemeinde kann die Predigt anschaulich werden, während sie ihre Stärke aus der Notwendigkeit ihrer Aussage und aus dem Gedanken gewinnt, der sie beherrscht ( 4 198f). Die Ausführlichkeit der Darstellung der Homiletik von Trillhaas ist dadurch gerechtfertigt, daß sie die erste Predigtlehre der neueren, der Wort-GottesTheologie und zugleich die letzte Homiletik „klassischer" Form ist. Zudem können an ihr die Stadien der Homiletikgeschichte von drei Jahrzehnten seit 1935 deutlich verfolgt werden. Daneben verblaßt H. Schreiners Die Verkündigung des Wortes Gottes (1936) durch eine etwas unsichere theologische Basis und durch ihren Versuch, die Konzentration auf die Predigt als Verarmung einer umfassenderen Verkündigung darzustellen, die letztlich in einem „Tatzeugnis" gipfelt. Freilich kann Schreiners Bemühen um Einheit von Predigt und Diakonie auch positiv gesehen werden: „Die Vorzüge dieser Homiletik bestehen in dem .Ubergreifen' vom Reden zum Handeln und in der Darbietung einer materialen Homiletik" (A. Niebergall, T h R 34,76).

Es ist bemerkenswert, daß neben Schreiner auch die beiden anderen Versuche, eine systematische Gesamtdarstellung der Homiletik zu geben, in einer gewissen Distanz zur „Theologie des Wortes Gottes" verharren: Sowohl Leonhard -»Fendt wie Otto Haendler gehen eigene Wege in Abstand zur herrschenden theologischen Thematik der Zeit. Die Ursache dafür mag darin liegen, daß die einseitige Betonung der Krise oder des Skandalon (Bultmann) letztlich kaum positive Ansätze für die kirchliche Praxis bietet: Aus der Verneinung aller menschlichen Möglichkeiten konnte nur eine „Ghettopredigt" (Schreiner) entstehen. L. Fendt stellt in seinem Grundriß der Praktischen Theologie (3 Bde., 1938) die Homiletik in die Lehre vom kirchlichen Amt. Dieses gliedert sich in ein Predigtamt und ein „Spende- und Feieramt"; aus diesen Amtsaufgaben werden Homiletik und Liturgik entwickelt. „Aber der Hauptgrund für die Entstehung unserer Predigt ist die Gestalt Jesu Christi gewesen" (1,84), genauer das „Didaktische" in ihr (97). Die Form der heutigen Predigt dagegen ist zufällig, historisch entstanden. Ihr Ziel ist die „Kirchenerbauung", ihr Inhalt die biblischen Aussagen in ihrer Gleichzeitigkeit, also die „Jesus-Christus-Tatsache" (99). Fendt hat 1949 eine gesonderte Homiletik veröffentlicht, die 1970 durch B. Klaus eine veränderte Neuauflage erlebte. Hier steht die „Reichgotteswirksamkeit Gottes" im Mittelpunkt. Für die Predigt bedeutet dies, den „Hauptskopus" des Textes als „Lebensentscheidung des Textes für mich und für die Gemeinde" herauszuarbeiten. Die „Homiletik" ist praxisnäher als der „Grundriß" (Beispiele für Textmeditation), konnte aber vor allem wegen ihrer eigenwilligen Diktion auf kein größeres Echo hoffen. Anders als Fendt (vgl. Grundriß 1,105) geht Haendler nicht vom Amt, sondern von der Person des Predigers aus. Er konstatiert geradezu die „Inkongruenz zwischen Person und Verkündigungsträger" (235). Mit Hilfe der Tiefenpsychologie vor allem C.G. -»•Jungs möchte er sie überwinden. Allerdings ist Haendlers Begründung terminologisch so undeutlich (Urwort, Urgründe der Seele), daß seine wertvolle Behandlung der persönlichkeitsgebundenen Predigtmeditation kaum genügend Aufmerksamkeit gefunden hat. Ihm den Vorwurf des „Psychologismus" zu machen (A. Niebergall, ThR 92), ist insofern unberechtigt, als Haendler zu einer Zeit auf Grundbedingungen der Predigt aufmerksam gemacht hat, die die Wort-Gottes-Theologie mit ihrem Unverfügbarkeitsdogma zu rasch zur Seite geschoben hatte.

Homiletik 2.3.5. Außerdeutsche

und katholische

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Entwicklung

Für den zuletzt dargestellten Zeitabschnitt fällt auf, wie wenig die im deutschen Protestantismus entwickelte Homiletik im Austausch mit dem Katholizismus und auch mit dem evangelischen Ausland gestanden hat. Der einzige außerdeutsche Theologe, der erheblich auf die dialektische Theologie eingewirkt hat, ist -»Kierkegaard gewesen. Allerdings wurde er in der Homiletik kaum zur Kenntnis genommen. Eine Ausnahme bildet H. Metzger und für den katholischen Bereich G. Schüepp. Aber erst Anna Paulsen hat auf die tiefer liegenden Anstöße hingewiesen, die von seiner Predigtauffassung hätten ausgehen können, wenn man sie wahrgenommen hätte. Daß die angelsächsische Homiletik in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen wurde, liegt sicher in der Art begründet, in der sie ihre Wirksamkeit entfaltete: Das Beispiel steht im Vordergrund, nicht die Theoriebildung. Die Entwicklung bis zur Jahrhundertwende in diesem Bereich hat M. Schian recht ausführlich dargestellt (RE 3 15,734-743; vgl. auch H. Häring 271 f). An Theoretikern sind allenfalls zu erwähnen Boyd Carpenter (Lectures on Preaching, 1895), H. E. Beecher (Yale Lectures on Preaching, 1872-74) und der Neutestamentier Ch.H. ->Dodd, der unmittelbar auf die Predigttheorie Bezug nahm ( T h e Apostolic Preaching and Its Developments, 1936). Als Prediger hat über die Sprachgrenzen hinaus gewirkt F.W. Robertson (1816—1853) neben dem schon erwähnten Ch. Spurgeon. Die „einzigartige Buntheit der homiletischen Erscheinungen" (Schian, a. a. 0 . 7 3 9 ) in Amerika hat sich seinerzeit nicht auf andere Weltteile ausgewirkt. Erweckungsprediger wie Moody sind auch in Europa bekannt geworden, allerdings ohne Einfluß auf die Predigttheorie geblieben. Auch die katholische Homiletik des 19. Jh. kann sich mit den evangelischen Bemühungen dieser Zeit nicht messen. Die Ansätze bei J. M. —»Sailer (Vertraute Reden an Jünglinge, 1804; Neue Beyträge zur Bildung des Geistlichen, l.Bd. 1809, 2. Bd. 1811, beide München) und J.B. -»Hirscher (1788-1865) blieben weitgehend ohne durchschlagenden Erfolg. Als Prediger trat besonders der aus der anglikanischen Kirche hervorgegangene J . H . —»Newman (1801-1891) hervor. Jedoch: „Die homiletische Bildung war meist dem Privatstudium der Priester überlassen" (V. Schurr, Pastoraltheologie 385). Auch N. Schieininger und J. Jungmann konnten die Predigt nicht ihres Vorfeldcharakters entkleiden, den sie bis in die Zeit nach dem II. Vatikanum im Verhältnis zum eucharistischen Gottesdienst einnahm. Als Meßhomilie verstanden, soll sie sich „formal, insbesondere hinsichtlich der Dauer, welche (nach der Römischen Synode von 1960) in der Regel 20 Min. nicht überschreiten soll, in den Rahmen der Meßfeier einfügen. Die Homilie ist nicht die einzige Art der Wortverkündigung; der großen thematischen Predigt und der katechetischen Predigt (Christenlehre) ist ein eigener Ort außerhalb der Messe, meist wohl am Abend, anzuweisen" (G. Podhrasky, Lexikon der Liturgie, Innsbruck 1967,140, Art. Homilie. Ein eigener Artikel „Predigt" fehlt in diesem „Uberblick für die Praxis"). Im Anschluß an das II. -»Vatikanum erlebt die katholische Homiletik z.Z. eine Erneuerung in enger Verbindung mit einer Besinnung auf das Wesen der Kirche. Durch „eine Theologie des Wortes und der Verkündigung" „wurden vor allem folgende Züge herausgearbeitet: die Heilsnotwendigkeit des Glaubens (DS 1532), der vom Hören kommt (Rom 10,17), sichert der Wortverkündigung den Primat unter den Wirkformen der Kirche; der Priester ist zuerst Verkünder, dann Liturg. Der Wortdienst im eigentlichen Sinn ist die autoritative Proklamation, Lobpreisung und Bezeugung der Heilstaten Gottes (vor allem des Pascha) durch die Kraft des Geistes zur Rettung des Menschen, zum Aufbau des ,Leibes Christi', im Hinblick auf die Weltvollendung in der Parusie des Herrn. Sie ist nicht bloß Rede über Gott, sondern Wort Gottes: In ihr spricht der erhöhte Herr selbst. Als Lobpreis Gottes ist sie Kultakt und deshalb auf die Eucharistie hingeordnet, die hinwiederum höchste Verkündigung ist (I Kor 11,20)" (V. Schurr, a.a.O. 386f; vgl. auch Birnbaum, Kultusproblem 1).

548 3. Predigtprobleme

Homiletik der

Gegenwart

„In einer neuesten Periode ringt die Verkündigung mit einer tiefen Problematik vom allgemeinen Zeitwandel her: Es steigt ein so neues Gesamtverständnis des Lebens herauf, daß eine fundamentale Veränderung eintritt in dem, was einleuchtet, Eindruck macht und Gewicht hat. Die Verkündigung als Sprachereignis rückt in die Mitte (.Weltlich' von Gott reden). Davon bedingt, schlägt die exegetische Krisis von heute zurück auf die Glaubensverkündigung. Auch soziologisch ist eine Reform nötig: Die amtliche Predigt, mit ihren viermal fünfzehn Minuten im Monat, kommt nicht an gegen ein intensiv und vielfältig profanes Weltgespräch. Man erkennt mehr und mehr die homiletische Funktion der Gemeinde: Das Wort lebt von der aktiv mitgehenden Gemeinde als Mitträgerin und Mitvollzieherin des Wortes" (V. Schurr, a . a . O . 387). Dies Urteil über die Situation der katholischen Predigt der Gegenwart gilt mutatis mutandis auch für die evangelische Homiletik. Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg wurde in Deutschland zunächst als „unerhörte Chance eines völligen Neuanfangs" (Schütz, Geschichte 221) verstanden, bald aber mußte eine „gedankenlose Restauration, die den Faden da anknüpfte, wo er 1933 abgerissen w a r " (ebd.), registriert werden. In der Tat fällt auf, daß die Homiletik als Praxistheorie ebenso verspätet sich dem „allgemeinen Zeitwandel" stellte, wie sie Jahrzehnte vorher nur zögernd auf den Neuanfang der dialektischen Theologie reagiert hatte. Karl Barths 1966 veröffentlichte Homiletik gibt den Erkenntnisstand vom Anfang der dreißiger Jahre wieder. In die gleiche Richtung weisen O. Weber, H. Urner und auch Hermann Diem. In Die Kirche und ihre Praxis („Theologie als kirchliche Wissenschaft", III, 1963) weist Diem zwar jede Sakramentalisierung und Klerikalisierung des Gottesdienstes zurück und will aus diesem Grund auch die Predigt nicht als Christusrepräsentation gelten lassen. Aber er stellt sie doch neben Taufe und Abendmahl als eine „Weise der Verkündigung", sie „hat sich zu halten an die Heilige Schrift als Urkunde für die Wahrheit des die Kirche begründenden Geschehens" (165). Die historisch-kritische Wissenschaft soll eine unreformatorische „Sakralisierung des Bibelwortes" verhindern (183, vgl. aber ders., Warum Textpredigt?, München 1939). Der Prediger soll dabei das „unsichere Schielen nach dem H ö r e r " (193) unterlassen und „gesunde und gesundmachende Lehre" bieten (198). Obwohl in charakteristischer Weise von Diem abweichend, gehört auch W. Uhsadel in die herkömmliche, apologetisch bestimmte Richtung der Homiletik. Er möchte die Predigt wieder enger als Teil des Gottesdienstes sehen, dabei die Rücksicht auf den sog. „modernen Menschen" fallenlassen. Neben die wissenschaftliche exegetische Bemühung tritt die unmittelbare Begegnung des erfahrenen Predigers mit seinem Text. Trotz seiner Betonung von Konkretheit, Weltbezug und Menschenkenntnis hat auch A. D. Müller „als ein stark systematischer Denker" (G. Kretzschmar) einen Predigtbegriff gebildet, der sich nicht grundsätzlich von dem der Wort-Gottes-Theologie abhebt. Uberhaupt wird der unbefangene Beobachter feststellen, daß selbst eine dezidierte Absage an diese Theologie, wie z. B. die Wingrens, letztlich in denselben Denkkategorien bleibt, die sie abzulehnen vermeint. Die Sicht der Predigt als Teil des kosmischen Kampfes Christi gegen den Satan, als „Gottesrede" neben und mit dem Bibelwort, die Ablehnung einer Situationsanalyse durch den Prediger, weil der Text selbst die Menschwerdung des Menschen betreibt und also die Grundsituation definiert — diese Aufstellungen Wingrens sind aus dem Abstand heraus kaum als Polemik gegen die dialektische Theologie wahrzunehmen. Es sind systematischtheologische Grundbestimmungen, die einer Geringschätzung und Verflachung der Predigt entgegengewirkt haben, aber doch an dem vorbeigehen, was W. Trillhaas die „wirkliche Predigt" genannt hat. Sie wird aber nun unter dem Druck einer zeitgerechten Praxis immer deutlicher zum Thema der gegenwärtigen Homiletik. Diesem Thema, das nun die Homiletik zu beherrschen beginnt, hatte nach Ansätzen bei A. D. Müller vor allem die hermeneutisch bestimmte Theologie (G. Ebeling, E. Fuchs) den Weg bereitet. Sie setzt nicht bei dem alten Lehrstück der sprachlichen Gestalt einer Rede an, sondern sieht die Sprachlichkeit überhaupt als anthropologisches Grunddatum

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und eigentliches Thema der Theologie: „Das Wort des Glaubens" (Ebeling) begegnet als Gesetz und Evangelium im Sprachhandeln Gottes, das auch die herkömmliche Unterscheidung von Wort und Sakrament nicht mehr zuläßt (vgl. Bd. 3 der „Dogmatik des christlichen Glaubens"). In der Homiletik geht es aber weniger um die dogmatische Bestimmung des „Verhältnisses zwischen ,Wort Gottes' und menschlicher Sprache" als um die „Möglichkeit gelingenden Sprechens und religiöser Kommunikation" und um die „große Entfernung, ja Entfremdung des modernen Selbstverständnisses von der biblischen Weltauslegung" (M. Kaempfert 5). Zuerst vom späten -»Bonhoeffer andeutungsweise wahrgenommen, wurde das Problem unter Aufnahme der früheren Untersuchungen von Ferdinand Ebner und M . —>Buber zum dialogischen Prinzip einer Lösung näher gebracht: „Aus der Tradition kommend, will nun aber das Wort Gottes die Wirklichkeit im gegenwärtigen Sprachgeschehen treffen, neu zur Sprache bringen und so selbst neu zur Sprache k o m m e n " (Ebeling, Wort Gottes 80). Dabei handelt es sich nicht um Modernisierung und Anpassung, vielmehr um die Ablösung des „Geredes" durch wirkliches „Sprachgeschehen" (ebd. 74). Müller-Schwefes dreibändige Homiletik (1967-1973) hat versucht, diese Überlegungen für die Predigtpraxis fruchtbar zu machen. Schon vorher begegnet in Friso Melzers eigentümlich Tiefenpsychologie und Sprachphilosophie verbindendem Werk eine Aufgeschlossenheit für die hier wahrgenommene Problematik. Sie reicht über den protestantischen Bereich und den deutschen Sprachraum weit hinaus: im Anschluß an den lange unbeachteten Ferdinand Ebner in der katholischen (B. Caspar, A. Grabner-Haider), unter dem Einfluß von L. -»Wittgenstein in der angelsächsischen Homiletik (vgl. Fritz Buri, Gott in Amerika, 2 Bde., Bern/Tübingen 1970/72; ders., Das Problem der Sprache in heutiger amerikanischer Theologie: Helmut Fischer, Sprachwissen für Theologen, Hamburg 1974). Von einer anderen Tradition her kommend und radikaler als die hermeneutische Theologie hat E. -»Hirsch die neue homiletische Problemstellung angepackt (Predigerfibel, Berlin 1964). Er nimmt seinen Ausgang beim Verhältnis des Christlichen zum Menschlichen, ein Zentrum des gesamten theologischen Schaffens E. Hirschs. Die Unterscheidung Luthers zwischen fides histórica und fides apprehensiva wird modifiziert: Die heutige Situation kennt keine fides histórica im Sinne eines Glaubens an allgemein anerkannte heilsgeschichtliche Tatsachen mehr. Damit gerät das Menschliche mit dem Christlichen in eine Spannung, die jeder Prediger innerlich durchhalten muß: „Gar zu schwer scheint es vielen, der Wahrhaftigkeit des heutigen Denkens die ganze Ehre zu geben, dem rational-zweckhaften Handeln in Technik und Gesellschaft das Ja, das man heimlich übt, offen zuzugestehen und dann doch Ewigkeitsglauben und Ewigkeitssinn durch gegenwartsnahe und vollmächtige Dolmetschung des Evangeliums zu wecken" (30 f). Echte Predigt als Dolmetschung ist insofern persönliche Predigt, die Meditation des Predigttextes rückt damit in den Vordergrund, der Hirsch einen eigenen ausführlichen Abschnitt widmet. Der Hörer gerät dadurch in den Blick, daß der Prediger seine eigene Betroffenheit durch das Evangelium gewissensmäßig reflektiert und so in der Predigt den Hörer zu einer ähnlichen Zwiesprache anregt. Die Predigerfibel bringt nach Textgruppen geordnet Meditationsbeispiele und steht so der Forderung nach Berücksichtigung der wirklichen Predigt näher als die bislang letzte ausführliche Homiletik auf evangelischer Seite, die Predigtlehre R. Bohrens (1971, 4 1980). Der Wort-Gottes-Theologie verpflichtet, geht Bohren durchaus eigene Wege in der Anlage und der Durchführung. „Im Gegensatz zu einem landläufigen Trend" (52) will Bohren wieder von Bullingers Satz ausgehen, der die Predigt und das Wort Gottes identifiziert und den Bohren für die „reformatorische Definition" (52) der Predigt hält. Damit nun aber kein „Rückzug auf das leere Wort" (ebd.) eintritt, möchte Bohren eine „Sprachlehre des Glaubens" (E. Fuchs) bieten. Dabei hat für ihn nicht die Empirie, sondern der Heilige Geist das erste und letzte Wort. In drei großen Durchgängen werden die Predigt (ihr „Woher" und ihre „Zeitformen"), der Prediger und der Hörer behandelt und dabei kaum ein die gegenwärtige Predigtpraxis berührendes Thema ausgelassen. Allerdings macht es der rhapsodische Stil schwer, ein eigentliches

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Zentrum zu entdecken, von dem aus Bohren seine Predigtlehre entfaltet. Sein Mißverständnis E. Langes (vgl. die Kontroverse R. Bohren - P. Krusche in WPKG) deutet darauf hin, daß er die Krise des „allgemeinen Zeitwandels" (V. Schurr) nicht in der ganzen Schärfe wahrgenommen hat, wie E. Hirsch sie als durchgreifende „Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit" oder E. Lange als „Herausforderung der Situation" beschrieben hatten. Mit der Forderung nach „zünftiger" Textauslegung (452) ist ihr nicht beizukommen. Diesen Totpunkt und die damit zusammenhängende Selbstüberforderung des Predigers zu überwinden, galt das Bemühen Ernst Langes und seines Kreises. Lange nimmt ein seit dem Vorstoß der Dialektischen Theologie beiseite geschobenes Problem auf, bietet aber nicht einfach eine Fortsetzung der „modernen Predigt" des Liberalismus. Die empirisch zu erhebenden Bedingungen der Predigt werden jetzt Gegenstand wissenschaftlicher Bemühung: „In dem nicht nur methodischen, sondern prinzipiellen Interesse am Hörer wird die Synthese von Evangelium, Prediger und Hörer, die seit Schleiermacher den Horizont der Predigttheorie bestimmt und die in der liberalen Predigttheorie nachdrücklich zur Geltung gebracht wurde, wieder zum Strukturprinzip der Homiletik" (W. Steck, Verfahren 41). Damit ist zugleich in neuer Weise das dialogische Prinzip für die Predigtpraxis bestimmend geworden. E. Lange faßt die Vorbereitung und Ausführung einer Predigt als Dialog zwischen textbestimmter und situationsbestimmter Arbeit. Der Prediger wird zum „Anwalt" sowohl des Textes gegenüber dem Hörer wie des Hörers gegenüber dem Text. Das Ziel ist, beide in einen selbständigen Dialog zu bringen. Daraus muß jedoch nicht auch formal eine Dialogpredigt entstehen. Im ganzen hat sie sich als unzweckmäßig erwiesen. Mit seiner an der Praxis orientierten Sicht hat Lange die Predigtlehre von der Dogmatik „losgekettet" (Trillhaas) und die Predigt als „Verständigungsbemühung" verstanden. Im wesentlichen ist diese Predigttheorie aber Anregung geblieben, und zwar nicht nur für die Homiletik, sondern auch für die weitere kirchliche Praxis. Vor allem begannen nun wissenschaftliche Bemühungen um die empirische Analyse des Predigtgeschehens (VELKD-Umfrage, Daiber, Dahm, van der Geest). Sie haben sich ihr bleibendes Rccht als wichtigstes Teilgebiet der Homiletik gegen Kritik wie gegen Verabsolutierungstendenzen gesichert. Nicht zuletzt auf Grund dieser Beobachtungen hat man versucht, das Predigtproblem von seinen Teilaspekten her anzugehen: „Konkret predigen" (Hirschler - das narrative Element der Predigt), „Persönlich predigen" (Denecke - die psychologisch erfaßte Persönlichkeit des Predigers), „Rhetorisch predigen" (G. Otto — kreatives Weiterdenken der Überlieferung im Dialog mit dem Hörer), „Biblisch predigen" (B. Dreher — Neuentdeckungen am Bibeltext), „Seelsorglich predigen" (Ch. Möller - das Heil des einzelnen als Predigtaufgabe). Die appellativ klingenden Titel machen darauf aufmerksam, daß es sich hier um Desiderate der Predigtpraxis handelt, die angemahnt werden. Das Predigtproblem selbst können und wollen die berechtigten Mahnungen freilich nicht lösen. Demgegenüber versteht sich die sog. „politische Predigt" eher als Programm, wurde jedoch als problematisch empfunden: Einmal ist der Öffentlichkeitsanspruch und -begriff der Politik ein anderer als der der Predigt, zum andern hat jede, auch die gewollt „unpolitische" Predigt eine politische Dimension. Dabei kann jedoch die Grenze nicht übersehen werden, die die Predigt von der politischen Agitation trennt: Das Evangelium will keine Fremdbestimmung des Hörers, es steht „zwischen Politik und Religion" und verhält sich kritisch zu diesen beiden (M. Josuttis, Predigt, München 1974). Auch wo sie in Gestalt der politischen Predigt auftritt, gelten also die von der Eigenart des Evangeliums her zu erhebenden Einwände gegen die Moralpredigt. In der katholischen Homiletik ist die Tendenz zur „wirklichen Predigt" zwar nicht unberücksichtigt geblieben, die eigentlichen Impulse für die gegenwärtige Belebung hat sie aber dem II. Vatikanum zu verdanken, besonders der neuen Fundierung der Wortverkündigung im Gesamtgeschehen des Gottesdienstes: Wortgottesdienst und Eucharistie-

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feier werden als ein „einziger Kultakt" angesehen (Liturgiekonstitution 56), die Predigt ist „ein Teil der liturgischen Handlung" (35) und hat als solche „einen hervorragenden Platz" im weit gefaßten „Dienst des Wortes" (Dei Verbum 24). Einen ersten umfassenden Überblick über die aus dem Konzil erwachsenen Bemühungen um die Predigt gibt im deutschen Sprachraum das Handbuch der Verkündigung (2 Bde., Freiburg-Basel-Wien 1970, hg. v. B. Dreher/N. Greinacher/F. Klostermann). Unter Mitwirkung evangelischer Theologen (Bastian, Uhsadel, Merkel) werden die aus der neueren Homiletik bekannten Themen wie das Sprachproblem, die Predigt als Kommunikation und als Verkündigung, die materiale Homiletik und die Person des Predigers behandelt. Im Unterschied zum evangelischen Verständnis versteht man die Predigt primär als Lehrmitteilung über „Heilswahrheit und Sittenlehre" (Dei Verbum 7), die letztlich der Obhut des bischöflichen Amtes anvertraut ist, aber auch die Mitwirkung der Laien zuläßt (Dekret über den Laienapostolat 10). Die vereinzelt daraus gefolgerte „rnissio homiletica" ist aber nicht verwirklicht worden. Die gottesdienstliche Predigt bleibt „amtliche" Verkündigung. Durch das Konzil ist ein besonderes Interesse an sog. „Kurzformeln des Glaubens" (K. Rahner) entstanden. Zunächst im Rahmen einer Darstellung der „Grundbotschaft" (K. Lehmann) abgehandelt, nehmen sie über ein Jahrzehnt später im Handbuch zur Predigt (hg. v. G. Schüepp, Zürich-Einsiedeln-Köln 1982) einen breiten Raum ein (L. Karrer). Sie sind naturgemäß abstrakter und distanzierter als die Predigt, in der „erklärt, ausgelegt, entfaltet, interpretiert und herausgefordert, ermahnt und protestiert, getröstet und beunruhigt, angeregt und ermutigt, bedacht und informiert, verkündet und aufgerüttelt wird etc." (a.a.O. 200). Die Zweipoligkeit von Glaubensformel und Predigt ist aber kein Problem der katholischen Homiletik allein. Zwar hatte besonders W. -»Herrmann vor jeder Formelhaftigkeit in der Artikulation des Glaubens gewarnt, aber neuerdings wird auch im evangelischen Bereich stärker Bedacht genommen auf „liturgisch verfestigte Wortfolgen", die einen „präsentativen Überhang" besitzen (W. Jetter, Symbol, 1965). So läßt sich auch hier sowohl in der katholischen wie in der evangelischen Homiletik eine Wendung hin zu „einer sich stärker an die Empirie haltenden, allgemein menschlichen und christlichcn Betrachtung des Predigtgcschehens" feststellen (Fr. Winter, ThLZ 109,71). Noch ausgeprägter findet sich dieser Zug zur Empirie und zur pragmatischen Behandlung der Predigttheorie in der angelsächsischen Homiletik. Auch systematisch aufgebaute Predigtlehren (wie z.B. R.R. Caemmerer, Preaching for the Church, St. Louis 1959, 2 1964) sind davon nicht ausgenommen. Nicht nur die Theorie, sondern auch die Technik der Predigt ist ihr Gegenstand. Caemmerer bezeichnet die Predigt als Gabe des Evangeliums, nicht als Reden über diese Gabe. Nach dem Schcma „goal, malady, means" gliedert sich für ihn sowohl die Predigtvorbereitung wie die -ausführung: Das Handlungsziel im Glaubens- und Lebensvollzug, seine Hemmung durch Sünde, Leid und Versagen, das Christusgeschehen als Mittel der Überwindung. Aus einer Fülle praktischer Anleitungen seien einige herausgegriffen, die sich mit besonders wichtigen Einzelproblemen beschäftigen: Fred Craddock empfiehlt die „induktive Predigt" an Stelle der kerygmatischen. Die Kommunikationsform wird das entscheidende Kriterium der Evangeliumspredigt: The medium is the message. Henry Mitchell stellt die „schwarze Predigtweise" im Gegensatz zur „weißen" vor, ohne sie allerdings zu verabsolutieren: Spontaneität und „Mündlichkeit", enger Kontakt mit der wirklich antwortenden Gemeinde, große Konkretheit und naiver Bibelgebrauch. Daß die Homiletik hier nicht zur religiösen Volkskunde wird, verdankt sie der strikten Gebundenheit an die Gemeinde und ihrer Identität bei aller rassischen und kulturellen Verschiedenheit: „Preaching which authentically speaks to the need of one person speaks to the needs of that person's ,race\ Ultimately this means the human race" (Henry H. Mitchell 142). Die „schwarze" Predigt will also nicht nur eine Seitenlinie der Homiletik aufzeigen, sondern zur Wiederbelebung der Predigt insgesamt beitragen. Sie wird nach Mitchell aus der Wiedergewinnung des „mündlichen Wortes" hervorgehen, auch in Distanz zur Medienpredigt. Die Wiederbelebung (recovery) „is

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actually a return to a,primitive' sophistication about how faith is shared, nourished, and refined. Transconscious communication is a matter of using the mouth-to-ear methods that planted folk faith in the first place. T h u s beliefs and trusts once transmitted by stories, until they were part of the deepest consciousness (usually misleadingly referred to as the unconscious), must be resurrected, pruned and improved, or replaced to provide better tales for today. T h e good news of the highest revelation of the Hebrew-Christian tradition must be given folk accessibility surpassing all paperbacks, comic books, movies or even TV, although it might employ all of these media" ( a . a . O . 162). Es ist deutlich, daß sowohl die narrative Predigt wie die Medienhomiletik ihren Platz in dieser Konzeption finden, ohne in ihr zu dominieren. Insbesondere die Benutzung elektronischer Medien ist in der amerikanischen Homiletik aufmerksam und kritisch beobachtet worden (Harvey Cox, Dennis Benson; vgl. H.W. Dannowski wp. 33,1979). Vor allem der Mangel an unmittelbarer Begegnung und an gemeindebildender Kraft ist als Hindernis für die elektronische Predigt erkannt worden, was durch ihren Masseneffekt nicht wettgemacht wird. Zusammenfassend läßt sich für die Predigtprobleme der Gegenwart festhalten: Es wird in der Regel nicht mehr eine geschlossene Systematik der Predigt gesucht oder aufgestellt, sondern die Homiletik löst sich in die Behandlung von Einzelproblemen auf. Das gilt auch für die vorläufig letzte zusammenfassende Darstellung im deutschen Sprachraum auf evangelischer Seite, für Fr. Winters Predigtlehre im Handbuch der Praktischen Theologie (Bd. II, Berlin 1974, 2 1979). Sie sieht die Predigt unter dem integrierenden Gesichtspunkt der „kirchlichen Zeugnisrede", hält sich dann aber doch an die Behandlung wichtiger Einzelfragen nach Maßgabe ihrer praktischen Bedeutung und entspricht so nur halb ihrer eigenen Forderung: „Angesichts heutiger Wissenschafts- und Bildungsansprüche ist die unbewußt sich fortpflanzende homiletische Lehre von Kanzel zu Kanzel, vom Meister zum Schüler durch Fragmentenweitergabe klärenden systematischen und wissenschaftlichen Reflexionen zu unterwerfen" ( a . a . O . 208). Für die gegenwärtige Reflexion steht im Vordergrund die Frage nach der „Kompetenz" im Blick auf den Prediger und die Frage nach der „Relevanz" im Blick auf die Predigt als Kommunikationsgeschehen. Antworten werden dabei nicht durch dogmatische Bestimmungen gesucht, sondern vorwiegend in der Empirie. Methodisch haben dabei die Sozialwissenschaften (Umfragen), die Psychologie (feed-Pack), die Informations- und Lerntheorie sowie die Sprachanalyse Vorrang. Ihr Verhältnis zueinander ist weitgehend ungeklärt; es herrscht ein theoretisch nicht fundierter Methodenpluralismus. Auffällig bleibt, daß in beiden großen Konfessionen die Gemeinde im Rahmen der empirischen Forschung nicht mehr als „aktuoses Subjekt" in den Blick kommt. Vielmehr erscheint sie als Gegenstand der Analyse oder Objekt der Informationsmethoden. Entsprechend oberflächlich bleiben die Auswirkungen der homiletischen Erkenntnisse auf die Predigtpraxis 1 2 . 4. Prinzipielle

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Die homiletische Prinzipienlehre kann die Predigt nicht selbst begründen wollen; vielmehr ist sie Reflexion des Grundes, des Gehaltes und der Bedingungen der Predigt. Die beiden letzten Reflexionsrichtungen führen, wenn sie ins einzelne gehen, auf die materiale und die formale Homiletik. Trotz der Einwendungen dagegen (Bohren, Predigtlehre 57) wird diese Einteilung hier bevorzugt. Auf diese Weise stellt sich am besten die Ubersicht her, weil auch die meisten neueren Predigtlehren sich an diesem Schema orientieren. 4.1. Der Grund der Predigt Die Tatsache, daß der christliche Glaube als einziger unter allen Religionsformen ausschließlich auf sprachliche Vermittlung angewiesen ist, sichert der Predigt einen einzigartigen Platz im christlichen Gottesdienst. Es geht im Christentum weder um das Festhalten an bestimmten Ritualen, auch nicht um Einübung und Ausübung bestimmter sittlicher Vorschriften oder um die Verwirklichung von Idealen, sondern letztlich allein

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um das Hören und Vertrauen auf das Wort Gottes. Aus diesem Grund hat Luther alle außerchristlichen Religionen unter Einschluß der alttestamentlichen unter den Begriff des Gesetzesdienstes zusammenfassen können. Unter den neueren Homiletikern hat besonders W. Trillhaas auf den damit gegebenen Sachverhalt hingewiesen, indem er auf die „Neuheit" aufmerksam macht, „die Neuheit einer anderen Welt, des ,Neuen Bundes' (II Kor 3,6), in der der Geist die beherrschende Macht ist... " (Einführung 25). Nach dem Zeugnis des christlichen Glaubens offenbart sich Gott in der Form der persönlichen Zuwendung, dogmatisch ausgedrückt, durch das fleischgewordene Wort, seinen Sohn Jesus Christus. Damit ist die einzig mögliche Weise vorgegeben, in der nach christlichem Verständnis Offenbarung, Glauben heischend, mitgeteilt (kommuniziert) werden kann: die Form der Sprache. Während der christliche Offenbarungsbegriff letzten Endes Gegenstand der Dogmatik ist, verhält es sich mit der seinem Wesen entsprechenden Vermittlungsweise anders. Sie ist als kirchliches Handeln zugleich Gegenstand der Praktischen Theologie. Diese bemüht sich mithin in Zusammenarbeit mit der Dogmatik und Exegese, den Grund der besonderen Vermittlungsweise aufzudecken. Zumindest seit der Reformation ist aufs Neue betont worden, daß es die Personalität der Offenbarung Gottes in Jesus Christus ist, die diese Vermittlungsweise durch die Sprache bedingt. Das gilt zunächst unabhängig von der jeweiligen Auffassung des Charakters der sprachlichen Vermittlung. Im Gefolge ->Schleiermachers hat man gern auf die Entsprechung von Wort und Geist hingewiesen: Gegenüber dem jüdischen und heidnischen Gottesdienst betont Schleiermacher, „daß im Christentum das Wort das Überwiegende ist, weil der christliche Gottesdienst ein geistiger ist und der Geist sich unmittelbar nur durch das Wort verständlich macht" (Praktische Theologie 80). Diesen Gedanken haben die Nachfolger Schleiermachers bis hin zu Paul Kleinert in immer neuen Variationen weitergeführt: „Im Wort liegt die Energie, mit der ein geistiger Inhalt sich Gestalt gibt und lebendig erhält, sich bezeugt und mitteilt, Gemeinschaft bildet. Das gilt für alle Gebiete geistigen Lebens; es gilt vorab auch für die Geistesreligion" (Kleinert, Homiletik 1). Später meinte man, Einwendungen gegen diese „anthropologische" oder „philosophische" Begründung machen zu sollen. W. Trillhaas hat so mit Recht davor gewarnt, die Rede als „einzige Form christlichen Zeugnisses" zu verstehen und wie vor ihm besonders H. Schreiner auf das Tatzeugnis aufmerksam gemacht. Aber er fügt hinzu: „Das Wort allein sagt mir, wie die Tat gemeint ist" (Predigtlehre4 37). Jedoch reicht ein Hinweis auf die deutende Funktion des Wortes ebensowenig aus wie die Berufung auf die Sprachlichkeit als einer anthropologischen Grundkonstante. Diese kann die Besonderheit des Christentums als einer auf das Wort gebauten Religion im Rahmen der allgemeinen Religionsphänomenologie nicht erklären; jene engt die Bedeutung des Wortes funktional ein und wird so der Breite und Tiefe des „Wortgeschehens" nicht gerecht. Karl -»Barths Versuch, diese Schwierigkeit durch die Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes zu beheben, hat in der Homiletik mannigfach Anklang gefunden, aber auch zu Verengungen geführt, z. B. zu einer unfreien Haltung des Predigers gegenüber seinem Text oder zu einer Bestreitung des Rechts der Themapredigt. So sehr diese Lehre also zur Selbstbesinnung der Dogmatik auf ihren Gegenstand beigetragen hat - für die Homiletik kann sie nicht als Grundlegung, sondern nur als heuristisches Prinzip fruchtbar werden, indem sie den Prediger ständig auf die spezifisch theologischen Bedingungen seines Tuns hinweist. Gegenüber den moderneren Versuchen, den Grund und damit das Wesen der Predigt im Wort Gottes zu reflektieren, verdient die Betonung des Wortcharakters der Offenbarung durch die Reformation den Vorzug. Sie deutet das Gesamt der Heilsvermittlung aus der Dialektik von Wort und Glaube (Hirsch, Ebeling) und ordnet dieser sowohl die Predigt wie die Sakramentsverwaltung unter (CA 5). Daß die Gnade den Menschen non vi, sed verbo mitgeteilt und insofern nicht „eingegossen" werde, sondern vertrauend geglaubt werden soll, bleibt der Ausgangspunkt auch für die praktisch-theologische Grundbestimmung der Predigt. Sie kann sich darum nicht der Aufgabe entziehen, zu prüfen, welcher Lehre vom Worte Gottes sie sich anschließen will.

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Mit dem Wortcharakter der Offenbarung, ihrer Personalität, ist nur die eine Seite des Grundes für die Stellung und Bedeutung der Predigt in der Praxis der Kirche erfaßt. Die andere Seite ist ihr Öffentlichkeitscharakter. Wenn die Bekenntnisse der Reformation betonen, daß niemand öffentlich predigen solle, er sei denn ordentlich von der Kirche dazu berufen (CA 14), so nehmen sie damit zunächst nur eine Rechtsbestimmung der römisch-katholischen Kirche auf und wehren sich gegen die Inanspruchnahme übergeordneter Autorität durch das religiöse Genie der sog. Schwärmer und Winkelprediger. Aber schon die Auseinandersetzung zwischen -»Pietismus und -»Orthodoxie um den frommen Prediger und die Amtsgnade zeigt, daß eine bloße Rechtsvorschrift das hinter dem Öffentlichkeitsanspruch der Predigt steckende Problem nicht lösen kann, sondern daß hier nach Wesen und Grund der Predigt gefragt ist. Sie ist eben nicht nur Gespräch oder Unterredung zwischen mehr oder weniger frommen Geistern, nicht nur „ m u t u u m colloquium fratrum" (BSLK 449), sondern zugleich gemeindestiftender Akt und Ausdruck gemeinsamer Uberzeugung der Gemeinde. Beides, Stiftung und Ausdruck, gibt es nur dort, wo das Evangelium „von den Dächern" (Mt 10,27 par.) öffentlich zu hören ist, also gepredigt wird. Der Prediger ist damit nicht im Alleinbesitz des Evangeliums, das er zu „verkünden" habe ohne Rücksicht auf die Folgen, sondern er hat einen „Sprengel" inne, „daran alle greifen" (WA 49,599, Luthers Torgauer Predigt vom 5.10.1544). Seine Predigt ist erst da Ausdruck des gemeinsamen Glaubens und wird erst da die Gemeinde Jesu Christi stiften, wo sie von dieser Gemeinde „beglaubigt" wird. Dadurch wird sie im theologischen Sinn „öffentlich". Die evangelisch verstandene Ordination zum Predigtamt ist institutionalisierter Ausdruck des glaubenden und betenden Vertrauens der Gemeinde zu einem bestimmten Prediger und seinem Dienst. Schleiermacher hat diesen Zusammenhang in seiner nicht immer glücklichen Wortwahl als „Circulation des religiösen Bewußtseins" (Praktische Theologie 216) bezeichnet. Wir sehen darin die unerläßliche Beziehung der Predigt auf die Kirche, auf das normativ verstandene Glaubensbewußtsein der Gemeinde. 4.2. Der Gehalt der Predigt Prinzipiell gesehen hängt der Gehalt der Predigt von ihrem Zweck bzw. Ziel ab. Im Gefolge Schleiermachers ist dieses selbst von dessen Kritikern als „Kirchenerbauung" verstanden worden. P. Kleinert hat darauf hingewiesen, daß bei dieser Zielangabe die Doppelschichtigkeit des Kirchenbegriffs berücksichtigt werden müsse. Endzweck aller kirchlichen Tätigkeit sei es, „in der erscheinenden Kirche die wahre aufzubauen" (Homiletik 11). Damit gewinnt der Predigtzweck neben seiner gottesdienstlichen auch eine seelsorgerliche Funktion (ebd., vgl. auch Trillhaas und Chr. Möller). Die wahre Kirche als congregatio vere credentium kann nicht allein vom Gemeinschaftsgedanken her verstanden werden; Kirchenerbauung ist nur durch die Erweckung des Glaubens im einzelnen möglich. Wenn die Kirche so als creatura verbi verstanden wird, muß als Predigtziel die Weckung des Glaubens vor die Kirchenerbauung gestellt werden (CA 5). Diese geht aus jener hervor. Erweckung und Erbauung waren auch die Predigtziele der pietistischen Homiletik. Dort erschienen sie aber unzulässig eingeengt auf den innerlichen Vorgang der Bekehrung und Wiedergeburt einerseits, auf die Darstellung einer Sondergemeinschaft andererseits. Beide den Gehalt der Predigt bestimmenden Predigtziele gelten sowohl für die Missions- wie für die Gemeindepredigt, da der Glaube immer in der Anfechtung steht und nie habituell wird, die Kirche somit immer eine werdende ist. Weckung des Glaubens und Erbauung der wahren Kirche ist nicht Ergebnis spezifisch menschlicher Tätigkeit, sondern vom Hören des Wortes Gottes im Geist abhängig, das somit letztlich den Gehalt der Predigt ausmacht. Damit kann dieser aber nicht schlicht textbestimmt sein; denn damit fiele der Unterschied der Predigt zur Lektion, zur bloßen Rezitation heiliger Texte weg. Dieser Unterschied besteht aber darin, daß die Predigt nur im Durchgang durch die Person des Predigers und in der Ausrichtung auf den jeweiligen Hörer praedicatio verbi Dei ist (vgl. Trillhaas, Einführung, Kap. VI und VII). In der

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Dreiheit von Text - Prediger - Hörer wiederholt sich die alte Trias der aristotelischen Rhetorik Redner - Rede — Auditorium in neuer Weise. Der Durchgang durch die Person des Predigers und die Ausrichtung auf den zeitgenössischen Hörer ist nicht einfach eine Formalbestimmung der Predigt, sondern berührt ihren Gehalt: Das damals (zur Entstehungszeit des Textes) Neue und das heute Treffende verschränken sich zum geistlich Notwendigen (Kierkegaards Theologumenon „Gleichzeitigkeit" bildet hier den Hintergrund; vgl. Fendt, Praktische Theologie 98 u. ö., Trillhaas, Predigtlehre 4 84). Die der alten Homiletik geläufige Teilung des Predigtaufbaus in explicatio und applicatio ist nur ein unzulänglicher Ausdruck dieses Sachverhalts. Es kommt eben auf die Verschränkung an. Außerdem hat die Predigt die Unterscheidung zwischen dem Wort Gottes und dem biblischen Text zu berücksichtigen. Die lutherische Reformation hat d a r u m anstatt vom Dienst am Worte Gottes lieber von der Predigt des Evangeliums gesprochen, die dem kirchlichen Amt aufgetragen sei. Evangeliumspredigt kann aber nur da vernommen werden, wo sie sich als solche von anderer Rede unterscheidet; sie ist nur im Verein mit der Gesetzespredigt, wenn auch im weitesten Sinn, möglich. Das Wort Gottes als Gesetz und als Evangelium in seiner Zuspitzung auf das heute Treffende ist also der Gehalt der Predigt. Als solcher ist es notwendig — heilsnotwendig (Hyperius, Trillhaas). Diese Notwendigkeit liegt auch aller sachgemäßen Predigtkritik zugrunde. Theologische Predigtkritik ist damit als geistlicher Vorgang zu unterscheiden von der empirischen Kritik, die gleichwohl ihren Nutzen behält (vgl. zu dieser Friedrich Winter: T h L Z 109). Theologische Predigtkritik kennt als Grundkriterien die Wirkung der Predigt in Richtung auf Glaubensweckung und Kirchenerbauung, die nur bedingt in meßbaren Größen erfaßt werden können. 4.3. Die Bedingungen

der Predigt

Sie sind im vorigen Abschnitt schon angesprochen worden. Gottesdienst und Seelsorge qualifizieren als „Rahmenbedingungen" der Predigt die schon in der alten Rhetorik genannte Trias der Bedingungsstruktur jeder Rede: Redner - Rede (Sache) - Hörer. Auch die Kommunikationstheorie wiederholt und verallgemeinert sie für jede denkbare Mitteilungssituation in der Sprache der Technik: Sender, Signal (Botschaft), Empfänger. Die Aufgabe der prinzipiellen Homiletik ist es, diese allgemeinen Bedingungen in ihrem speziellen, auf Glaubensweckung und Gemeindeaufbau zielenden, durch Gottesdienst und Seelsorge bestimmten Charakter herauszuarbeiten. Während die Einzelheiten der formalen Homiletik überlassen werden, sind hier doch zunächst die die Predigt bedingenden Faktoren und ihr Verhältnis zueinander theologisch zu klären. Theologische Klärung heißt nicht Verzicht auf die von Rhetorik und Kommunikationstheorie herausgearbeiteten Verstehensbedingungen. Vielmehr sollen diese auf die theologische Lehre vom Amt, vom Worte Gottes und vom Glauben bezogen werden. Stärker als sonst wird sich vor dieser Aufgabe der jeweilige theologische Standort bemerkbar machen und die Auffassung bestimmen. Nimmt man die Predigt von ihrem Entstehungsprozeß her in den Blick, so wird sich die Prinzipienlehre an dieser Stelle zunächst dem Prediger als der gleichsam ersten Bedingung der Predigt zuwenden. Ihn einfach als Herold (Keryx) zu sehen, ist Folge eines von der wirklichen Predigt abgehobenen Verkündigungsbegriffs - ein „ungeheurer Anspruch" (Trillhaas, Einführung 3), dem niemand genügen kann. Somit ist es nur hilfreich, den Prediger vorläufig als Dolmetscher zu kennzeichnen (Hirsch, Predigerfibel 3). Diese Auffassung verpflichtet den Prediger zur verstehenden Aufnahme des Gehaltes seiner Predigt einerseits, zur einfühlenden Weitergabe zum Hörer hin andererseits. Er wird sich dabei deutlich machen, d a ß die Aufnahmebedingungen des Hörers sich nicht grundsätzlich, wohl aber im Speziellen, von seinen eigenen unterscheiden. Der Prediger ist sein erster Hörer, aber nicht sein letzter. Z u m Aufnehmen und Weitergeben sind natürliche Gaben erforderlich, die aber ausgebildet werden müssen. Die Ausbildung erschöpft sich nicht im Erlernen einer Methode der Predigtvorbereitung, sondern hier greifen Lebenser-

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fahrung (Bildung) und Lebensführung (Ethos) entscheidend ein. Darauf weist Luthers Erinnerung an die Dreiheit oratio, meditatio, tentatio (vgl. WA 50,657-661). Die Ausbildung zum Prediger wird so eine pastoralethische Aufgabe. Auf diese Weise wird auch der spezielle Verstehenshorizont des Hörers wie die „geistige Situation der Zeit" in die Ausbildung einbezogen, ohne daß es zu einer eklektischen Vielwisserei kommt, die schon die antike Rhetorik verworfen hatte. Dem Predigthörer als eigenem Gegenstand methodischer Predigtvorbereitung hat insbesondere E. Lange erneut Aufmerksamkeit zugewandt, nachdem schon die liberale Predigttheorie vorgearbeitet hatte. Man wird hier die geistlichen Bedingungen von den anthropologischen, psychologischen und soziologischen unterscheiden müssen, allerdings ohne diese gegenüber jenen abzuwerten. Die Differenziertheit der Gemeinde (Bastian) wird durch den allen geltenden „Text" ebensowenig aufgehoben wie durch die alle umfangende gottesdienstliche oder missionarische Situation. An dieser Stelle muß sich die Dolmetscherfunktion des Predigers bewähren. Die unbestrittene Autorität des biblischen Textes gehört zu den Bedingungen der Predigt, kann aber weder dogmatisch noch kirchensoziologisch zureichend begründet werden. Daß das Christentum keine Buchreligion ist, muß an dieser Stelle neu bewußt gemacht werden. Der Text wird nur dann reden, wenn ihm die „richtigen" Fragen gestellt werden. Diese aber stellt nicht die wissenschaftliche Exegese allein, sondern auch der „naive" Hörer. Da er auch im Prediger selbst verborgen ist, gewinnt die sog. Predigtmeditation ihr besonderes Gewicht (M. Seitz). Der von Schleiermacher aufgestellte dialogische oder besser hermeneutische Charakter der Predigt (Gespräch des Predigers mit dem Text und mit der Gemeinde) gilt auch für die textlose Predigt. Diese braucht ebenso eine Legitimationsbasis, auf die sich Prediger und Gemeinde verständigt haben. Auch wenn man diese mit E. Lange als „christliche Überlieferung" faßt, wird man sie nicht ohne strenge Beachtung der biblischen Aussagen konstituieren können. Somit gewinnen diese eine indirekte Autorität, die nicht formal, sondern argumentativ (Kantzenbach) aufgefaßt werden muß. Dabei wird die Unterscheidung zwischen Text und Text deutlich gemacht werden müssen. Was „unser Text sagt", hat keine Beweiskraft, wenn es nicht im Rahmen des evangelischen Gesamtzeugnisses und im Zusammenhang mit dem Wahrheitsbewußtsein des Hörers gesehen wird. Die Bedingungen der Predigt, die in der prinzipiellen Homiletik verhandelt werden, sind also nur dann richtig erfaßt, wenn sie in ihrem gegenseitigen Verhältnis richtig bestimmt sind: Prediger, Hörer und das „Wort" im Text können nicht isoliert voneinander betrachtet und gewichtet werden. 5. Materiale

Homiletik

Trotz der gegen eine Trennung von Form und Inhalt vorgebrachten Bedenken ist eine materiale Homiletik als Besinnung auf den Predigtinhalt nötig, damit in der Predigt nicht Allotria, sondern das Evangelium getrieben werde. Dabei hat es die materiale Homiletik „nicht mit der Erfindung ihres Stoffs, sondern nur mit der Auffindung dessen zu tun, was als göttliches Wort und vom göttlichen Wort mitzuteilen ist" (Kleinert, Homiletik 41). In dieser Aufgabenstellung liegt noch kein absoluter Gegensatz zu der Lehre von der inventio der klassischen -*• Rhetorik. Auch die Gegenstände und Mittel der Rede im allgemeinen Sinn hängen ja vom status, also von dem ab, was „in Rede steht". Doch ist dem Prediger der „Stoff" nicht in gleicher Weise methodisch verfügbar wie dem Redner. Er wird ihn zwar allgemeinem Brauch zufolge in erster Linie in der Bibel suchen, aber das Verständnis der Bibel ist ein pneumatischer Prozeß, der nicht lückenlos durch die allgemeinen Verstehensregeln der Hermeneutik zu erfassen ist. Denn „Christus, nicht Religion überhaupt, viel weniger Wissenschaft oder Erfahrung überhaupt" macht den Inhalt der Predigt aus (Nitzsch, Dienst 67). Die altprotestantische Dogmatik hat dies in der Lehre von der Heiligen Schrift mit Hilfe der Inspirationslehre auszudrücken gesucht und das Wort Gottes und die Bibel für identisch erklärt. Die orthodoxe Schriftlehre ist aber selbst bereits ein Rückfall hinter die

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Erkenntnis Luthers, daß nur das apostolisch sei, „was Christum treibet" (WA DB 7,384). Wenn die homiletische Prinzipienlehre die Predigt als Christuspredigt bestimmt hat, so kann diese nicht unmittelbar Schriftpredigt sein. Christus als das Fleisch und damit auch Geschichte gewordene Wort Gottes ist ihr eigentlicher Inhalt. Damit tritt der Prediger in ein historisch-kritisches Verhältnis zur Schrift. Die Schrift wird als das Zeugnis vom Geschichte gewordenen Wort Gottes und seiner Wirkungen verstanden, nicht als unmittelbare Offenbarungsquelle. In diesem Sinn ist die Bibel aber einzigartig und unersetzbar: Jede Christuspredigt, die diesen Namen verdient, muß sich auf ihren Bezug zur Bibel behaften lassen. Dies nicht einfach aus dogmatischen Gründen, sondern auch aus solchen, die dem historischen Bewußtsein gemäß sind. M. a. W.: an der historisch-kritischen Schriftauslegung führt heute kein Weg zu einer verantwortbaren Christuspredigt vorbei. Aber auch vor der Entstehung eines Geschichtsbewußtseins im modernen Sinn hatte dieser Grundsatz implizit Geltung. Es muß hier nochmals daran erinnert werden, daß Christuspredigt nur in der Doppelaussage von Gesetz und Evangelium vernehmbar wird. Die Entfaltung dieser Erkenntnis ist Sache der Dogmatik, nicht der Homiletik. Letztere hat nur festzuhalten: „Der Predigtstoff ist Gesetz und Evangelium. Weil er im Prinzip Evangelium ist, muß er auch Gesetz sein. Das Evangelische im Charakter der Predigt liegt nicht darin, daß sie von einem Sollen nichts weiß, sondern darin, daß das Gesetz gepredigt werde in seiner inneren Beziehung zum Evangelium: als Bezeugung des Gotteswillens an uns, damit wir das Evangelium begehren und verstehen; und als Bezeugung des Gotteswillens in uns, damit wir des Evangeliums leben" (Kleinert, Homiletik 65). An diesen Grundsatz muß sich auch die Bußpredigt halten. Bleibt sie Gesetzespredigt oder stellt sie das Evangelium in einen gesetzlichen Zusammenhang, „richtet sie Zorn an" (Rom 4,15). In diesem Zusammenhang gewinnt die Frage nach der Predigt über alttestamentliche Texte ihre besondere Bedeutung. „Daß die im Neuen Testament und in der Kirchengeschichte jahrhundertelang üblichen Methoden einer allegorischen, unhistorisch typologischen Schriftbeweisargumentation uns heute versagt sind, sollte klar sein" (Winter II, 250). Aber auch die „Suche nach Analogien und Divergenzen" (ebd.) ist nur von begrenzter Tragkraft. Denn das Problem besteht vor allem darin, daß das Neue Testament das Alte in der Regel gegen dessen Selbstverständnis auslegt. Der Predigt erwächst daraus die Aufgabe, das historisch-kritisch erhobene Selbstverständnis des Alten Testaments dialektisch gegen das Evangelium zu stellen. Ein weitgehender Verzicht auf die alttestamentlichen Texte (Schleiermacher) kann die Predigt um ihre innere Lebendigkeit bringen; denn aufs Ganze gesehen ist das Alte Testament das erhabenste und menschlich packendste Zeugnis außerchristlicher Rcligionsgeschichte. Wer nicht in den Spiegel des Alten Testaments schaut, wird schwerlich den Bezugspunkt finden, den er zum wahren Verständnis des Evangeliums im Neuen Testament braucht. Als tiefes Bild menschlich-geschichtlicher Wirklichkeit in ihrer unlösbaren Gottesbeziehung aber kann das Alte Testament in historisch wahrhaftiger Auslegung jeder Zeit aus der Distanz heraus die notwendigen, illusionslosen Aufschlüsse über das eigene Gottesverhältnis geben. Daß „diese Illusionslosigkeit über den Menschen eine Folge der Kundmachung des lebendigen Gottes ist" (Trillhaas, Predigtlehre 4 100f), ist freilich eine Erkenntnis, die erst durch die Predigt des Evangeliums aus dem Neuen Testament gewonnen werden kann. Die Auslegung und Meditation des Alten Testaments folgt somit den gleichen Prinzipien wie die des Neuen: „Das Lesen und Auslegen der Bibel ist nur dann etwas andres als bloße Betätigung des Wissenstriebes, wenn es geschieht mit der gespannten Aufmerksamkeit auf das, was über Gott und das Herz in ihrer Begegnung miteinander von der Bibel gezeigt wird. Diese Aufmerksamkeit hat ihre Mitte in dem Willen, sich die aus der Vergangenheit zu uns kommenden Worte und Geschichten der Bibel in einer Besinnung auf das eigne Gottesverhältnis zu vergegenwärtigen" (Hirsch, Leitfaden $15A). Darin wird das pneumatische Element wirksam, das über die bloße Exegese hinaus zur Meditation führt. Die historisch-kritisch geschulte Meditation ersetzt dabei die früher „selbstverständliche Voraussetzung, daß die Worte und Geschichten dieses Buchs gegenwärtiges Wort Gottes an den Einzelnen sind, durch die Aufgabe, die Auslegung der Worte und Geschichten der Bibel in einer den Unterschied wahrenden menschlichen Gleichsetzung oder umgekehrt einer auf das Gleich-

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sein vor Gott zielenden menschlichen Entgegensetzung zu vollziehen. In der Spannung dieser Art von Auslegung wird der Blick für den tiefen Sinn der biblischen Worte und Geschichten geöffnet, ohne daß so wie bei altevangelischem Umgang mit der Bibel die auf Erbauung gehende Meditation sich der gehorsamen Beobachtung der Wirklichkeit entzieht" ( a . a . O . § 15B). Die alte Lehre von der Durchsichtigkeit, Selbstauslegung und Suffizienz der Schrift, wenn sie in dieser Weise mit Erkenntnis der historischen Wirklichkeit verbunden wird, gewinnt so eine neue dem Prediger heute helfende Wirkung. Voraussetzung ist jedoch der ständige, auch absichtslose Umgang mit der Bibel bei gleichzeitiger Erweiterung des Gesichtskreises in der menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit.

Auf diese Weise bildet sich eine Predigt heraus, die ihren Inhalt nicht ausschließlich aus der Auslegung des biblischen Textes bezieht, sondern aus seiner Beziehung auf die Situation der hörenden Gemeinde und des Predigers selbst. Daraus ist jedoch weder eine Wertung der kirchlichen Tradition als einer zweiten Offenbarungsquelle abzuleiten noch eine Alternative zwischen einer textgebundenen und einer situationsgeleiteten Predigt aufzustellen. Diese Alternative entsteht vielmehr durch einen verengten Situationsbegriff. Die Predigtsituation wird nicht einfach durch die Zeitumstände geschaffen. „Die einzelne Gemeinde bildet aber immer ein Glied der Kirche, sie steht durch ihre Glieder in einem unmittelbaren Verhältnis zu dem Volke, in dem sie besteht, wie zu dem natürlichen Verlauf der Dinge überhaupt und sie begreift in sich eine Summe von so und so gearteten Individuen. Nach allen drei Seiten hin üben diese Verhältnisse der Gemeinde einen bestimmenden Einfluß auf die Gedanken der Predigt" (Knoke 135). Die Predigtsituation ist also in erster Linie bestimmt durch die Gemeinde als Bekenntnisgemeinschaft, die den Zyklus des Kirchenjahres feiernd durchlebt (ebd.), sich also auch in einem ganz bestimmten liturgischen Sinnzusammenhang bewegt. Diesen hat die Predigt nicht nur bewußt zu machen, sondern auch mit der „Tagesordnung der Welt" als Bezugsrahmen für mögliche Glaubenserfahrungen in Beziehung zu setzen. „Die oft wiederholte Forderung, daß jede Predigt casuell sei, findet hierdurch ihre Erledigung. Die Beweglichkeit der Zustände und des Gemeindebewußtseins, wie sie sich in Zeitungen darstellt, ist etwas, dem die kirchliche Gemeinde sich nicht hinzugeben, sondern eher entgegenzusetzen hat. Richtiger ist, daß die Predigt stets neu sein solle, nämlich entweder neu und fortschreitend als Entwicklung des Schriftsinnes oder neu durch Beziehung, Ausführung, Anwendung des bereits Angeeigneten, und daran hat allerdings das Zeitverhältnis seinen Antheil" (Nitzsch, Dienst 91). Damit zeigt sich, daß auch die Unterscheidung von Lehr- und Moralpredigt ebenso verfehlt ist wie die Einteilung der Einzelpredigt in eine explicatio und eine applicatio. Eine „reine" Textauslegung, die nicht auf Herz und Gewissen zielt, sondern nur Vermittlung von Tatsachen- oder Formelwissen sein will, geht an der Grundaufgabe der Predigt vorbei, wie auch eine Handlungsanweisung, die von der befreienden Macht des Evangeliums nichts weiß. Vielmehr kommt es darauf an, den Lehrgehalt eines bestimmten Textes oder einer bestimmten Bekenntnisaussage so mit einer allgemein bedeutsamen oder nachvollziehbaren Lebenssituation zu „versprechen" (E. Lange), daß das Evangelium seine im Namen Jesu zum Handeln und Erleiden, zum Lob und zur Bitte entbindende Macht an Herz und Gewissen entfalten kann. Das gilt für die Sonntagspredigt ebenso wie für die Kasualansprache oder die Gelegenheitsrede. Die durch Umgang mit seiner Gemeinde und mit der geistigen Tradition seiner Kultur gewonnene Lebenserfahrung des Predigers hat am Gelingen dieses „Versprechens" erheblichen Anteil. Die Subjektivität des Predigers bekommt damit implizit ihre Bedeutung für den Predigtinhalt. Nicht in dem Sinn, daß der Prediger von sich selbst spricht oder seine Sätze möglichst häufig mit „Ich" beginnen läßt, sondern so, daß er als ein Beteiligter spricht, der das, was er sagt, auch sich selbst sagt. Daraus entsteht ein innerer Dialog, der ein Bemühen um „Anschauung" durch fremde Beispiele weitgehend überflüssig macht. „Predigen heißt, wenn es recht ist, auch dies, daß man in Gegenwart andrer eine verhüllte Zwiesprache mit Gott hörbar macht, welche im letzten Grund und Wesen höchsteigene persönliche Zwiesprache des Predigenden ist" (Hirsch, Predigerfibel 44). Auf diese Weise findet eine „Erlebnisübertragung" (a. a. O. 43) statt. Diese steht allerdings nicht in der

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Macht des Predigers, der auch nicht der Herr seines eigenen Glaubens ist. Er muß sich nur hüten, seine fromme Erfahrung als „nackte Tatsächlichkeit" (a. a. 0 . 4 4 ) darzustellen und damit die religiöse Scham zu verletzen. Auf andere Gefahren, die von der Person des Predigers her der Kommunikationsaufgabe der Predigt drohen, hat W. Trillhaas aufmerksam gemacht (Einführung 4 8 - 5 5 ) . Von diesen Grundbestimmungen her lassen sich eine Reihe von Einzelfragen der materialen Homiletik entfalten, die sich mit den Formproblemen der Predigtperikopen, den Methoden der thematischen Stoffindung, der Bestimmtheit durch Kirchenjahr und Frömmigkeit, den besonderen Inhaltsproblemen der Fest- oder der Kasualpredigt befassen (siehe dazu z.B. die präzise Behandlung bei P. Kleinen, Homiletik, 5 1 - 1 3 8 ) .

6. Formale

Homiletik

Auch wenn prinzipiell Form und Inhalt nicht getrennt behandelt werden können, ist eine formale Homiletik nötig, damit die Predigt in ihrem gottesdienstlichen Charakter erkennbar bleibt und nicht als Expektoration eines frommen Gemüts, als Rezitationsübung oder als Agitation zu bestimmtem Handeln erscheint. Die formale Homiletik wird also dafür sorgen, daß die Predigt einen erkennbaren, unverwechselbaren Gedanken habe und dieser wirksam mitgeteilt werde. Damit steht sie im besonderen vor der Aufgabe, ihr Verhältnis zur Rhetorik zu bestimmen. Schon die Geschichte der Homiletik zeigt, daß sich diese in einem ständigen Gespräch mit der -»Rhetorik befindet. Einerseits ist ja auch die Predigt eine Rede, andererseits hat sie ihre Besonderheit, die sie von allen anderen Reden unterscheidet. Nimmt man die zwiespältige Beurteilung der Rhetorik hinzu, wird der Versuch verständlich, die Predigtlehre davon abzusetzen. Indessen ist das in der Predigt mitzuteilende Evangelium aber „in die Worthaftigkeit eingegangen... und nimmt darum teil an allen Regeln und Gesetzen der Sprache, und das heißt dann an den Vernunftregeln, an welche Sprache gebunden ist" (Trillhaas, Einführung 75f). Eine rein formalistische Auffassung der Rhetorik, wonach sie die Kunst zu lehren habe, wie der Redner ganz abgesehen vom Wert der von ihm vertretenen Sache Macht über seine Hörer gewinne, scheidct dabei schon aus allgemein ethischen Gründen aus. Wenn die Rhetorik dagegen lehrt, wie eine in der Gemeinschaft vertretbare Sache in persönlicher Wahrhaftigkeit durch sprachliche Mittel kommuniziert wird, gelten ihre Regeln auch für die Homiletik. Der Unterschied macht sich da bemerkbar, wo die Natur der Sache und der Auftrag des Redenden etwas anderes fordert. Die Macht der Rhetorik ist also „identisch mit ihrer Verfügbarkeit" (W. Jens, MEL 20,98), ihre Grenze gegen die Homiletik ist zugleich „ihr verpflichtender Auftrag: Seelenführung im Horizont der Vernunft zu betreiben, um auf diese Weise als ein den verschiedenartigsten Disziplinen verfügbares Sozialisationsinstrument, Kunst und Wissenschaft in gesellschaftlicher Praxis zu realisieren" (a. a. 0 . 9 9 ) . Die Wiederbelebung der Rhetorik durch die strukturelle Sprachanalyse in Richtung auf eine allgemeine Texttheorie hat sich für die Homiletik noch kaum ausgewirkt (vgl. Dubois). Die klassische Rhetorik hat der Homiletik vor allem durch ihre Einteilung der Redetypen Schwierigkeiten bereitet: Die Predigt läßt sich kaum in das dreifache Schema der Gerichts-, politischen und Lobrede einfügen, da die Redesituation eine andere ist. Dagegen waren die Arbeitsschritte des Redners (inventio, dispositio, elocutio, actio) einigermaßen übertragbar. Uber die Invention ist bereits bei der materialen Homiletik das Nötige gesagt, die übrigen Schritte ergeben das Gliederungsschema der formalen Homiletik. Andere Gliederungsversuche (z. B. Fendt: Predigtarbeit zu Hause, Predigtarbeit auf der Kanzel) lehnen sich meist daran an. Drei brauchbare formale Grundforderungen an die Gestalt jeder Predigt hat K. Chr. F. Krause (Abriß der Ästhetik, 1837) aus der Kunstphilosophie abgeleitet. Sie wurden später von P. Kleinert (Homiletik 140 ff) übernommen: Einheit, Selbheit, Ganzheit. Danach soll jede Predigt einen durchgehenden Hauptgedanken haben, von einer deutlich ausgeprägten, aber „einfältigen" individuellen Gesamtauffassung getragen sein und die vorgenommene Sache vollständig, aber ohne Abschweifung darstellen. Weniger auf Systematisie-

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rung als auf Praxisnähe bedacht, fordert W. Trillhaas von der Predigt: Deutlichkeit, Anschauung, Ordnung und eine hörernahe Sprache. Der Verdacht, diesen Grundforderungen liege ein ausschließlich kognitives Predigtverständnis zugrunde, ist unbegründet; denn z.B. auch eine primär das Gefühl ansprechende oder eine narrative Predigtweise kann sich ihnen nicht entziehen, wenn sie nicht in Geschwätz ausarten soll. Hat sich der Prediger in der Meditation eine deutliche Vorstellung von der zu predigenden Sache verschafft, muß er über die Disposition des Stoffes entscheiden. Dabei geht es zunächst um die Alternative, ob er das Resultat seiner Arbeit vorstellen will oder die dahin führenden Arbeitsschritte selbst. Im ersten Fall entsteht eine Themapredigt, im zweiten eine sogenannte Homilie. Die reine Homilie, die von Satz zu Satz fortschreitend einem Textabschnitt entlanggeht, ist nicht praktikabel. Zumindest wird sie das Ganze einem Gliederungsschema unterwerfen, das einer thematischen Grundstruktur folgt und den Skopus des Textes erkennen läßt (vgl. z. B. Schleiermachers Homilien zum Johannesevangelium 1823ff). Andererseits ist eine reine Themapredigt, die keinerlei Bezug zu einem biblischen Text hat, zumindest im evangelischen Gottesdienst undenkbar; sie wird, wenn sie schon nicht Auslegung eines thematisch gegliederten Bibeltextes ist, mindestens das Thema selbst und seine Entfaltung auch biblisch begründen (vgl. Luthers Invocavitpredigten 1522, die ihr Thema einem konkreten Anlaß in der Gemeinde verdanken, oder seine Katechismuspredigten 1528, die dem Bedürfnis der Lehre dienen). Die Entscheidung zwischen einer Homilie und einer Themapredigt hängt nicht nur von der persönlichen Vorliebe des Predigers ab, sondern auch vom Charakter des Textes und den Rahmenbedingungen der Predigt. Es gibt Texte, deren eigene gedankliche Ordnung eine homilieartige Behandlung nahelegen, wie auch Reihenpredigten über ganze biblische Bücher eher Homilien erlauben als die an eine Perikopenordnung gebundene Predigt. Reihenpredigten über ein freies Thema hingegen sind selten (vgl. die „Themenstudien" I-IV, Stuttgart 1977-1980). Sie bergen die Gefahr in sich, die gottesdienstliche Predigt zum Teil einer Vorlesungsreihe werden zu lassen. Ein besonderes Problem der formalen Homiletik bilden Einleitung und Schluß einer Predigt. Hier gilt allgemein die Regel, alle Ablenkung von der wesentlichen Aussage der Predigt zu unterlassen. Die beliebte Manier, eine Predigt in einen Appell ausklingen zu lassen, führt leicht zur Gesetzlichkeit, die das Evangelium schließlich einer Bedingungsordnung unterwirft. Neben die Aufgabe einer rechten Anordnung des Predigtstoffs tritt die der sprachlichen Ausgestaltung. Hier, wo es um Anschauung und Stil geht, spielt die spezielle (künstlerische) Begabung des Predigers stark hinein. Trotzdem können auch hier Regeln aufgestellt werden, deren Beachtung die Lösung der Aufgabe erleichtert. Allgemein gilt (und die Predigtgeschichte zeigt es), daß die Schlichtheit des Ausdrucks den Vorzug vor aller Künstelei verdient. Anschauung gewinnt eine Predigt eher durch die geistige Durchdringung der Sache (Echtheit) als durch die Heranziehung von Fremdmaterial (Bilder, Beispiel, Geschichten). Der kreativen Freiheit des Predigers sollen keine künstlichen Grenzen gesetzt werden; aber er muß sich fragen, ob er die Treffsicherheit der Bibel erreicht oder mit seinen Bildern die Sache nicht eher verwirrt und entstellt. Emblematik und „BlümeIei" gehören der Vergangenheit an. Aber auch das in der Gegenwart besonders in der evangelikalen Predigt beliebte Bild oder Gleichnis aus der Welt der Technik verdirbt meist den personalen Charakter der evangelischen Botschaft. Dagegen ist das Ansprechen einer konkreten, vom Hörer nachvollziehbaren Lebenssituation zur Verdeutlichung einer abstrakt formulierten Aussage meist hilfreich (vgl. Hirschler zur Praxis, Ricceur/Jüngel zur Theorie der Anschauungsmittel). Im sprachlichen Stil der Predigt beweist sich die Verantwortung des Predigers vor der Worthaftigkeit der Offenbarung ebenso wie vor seiner Muttersprache. (Beides läßt sich letzten Endes nicht voneinander trennen; vgl. das Werk Friso Melzers.) Die Gefahren, die dem Prediger hier drohen, sind vor allem die Vulgarität (Jargon der Zeit) und die kirchliche Binnensprache (theologisches oder erbauliches Modewort). Daneben macht sich heu-

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te auch für das verlorengehende Sprachempfinden der Gemeinde der nivellierende Einfluß der Massenmedien geltend. Abhilfe schafft die Beschäftigung mit Literatur von Rang, mit dem Dialekt (plattdeutsche Predigt, black preaching) und mit der geprägten Sprache einiger (nicht aller) Gesangbuchlieder. Die Diskussion um die Sprache der Luther-Bibel hat die Grenzen der Anpassungsfähigkeit auch für die Predigtsprache neu abgesteckt. Dem Predigtvortrag wird neuerdings wieder mehr Gewicht beigemessen. Technische Hilfsmittel haben zu lange dem Irrtum Vorschub geleistet, die Verständigungsbemühung in der Predigt habe mit Akustik nichts zu tun. Die Objektivierungstendenz in der Verkündigung verbannte jedes Pathos, was sicher auch zu der von M . Doerne gerügten „gespenstischen Monotonie" der Predigt beigetragen hat. Hinzu kam das besonders in nördlichen Breiten gepflegte Mißtrauen gegen jede Gestikulation. Erst die Sprechakttheorie und die Neuentdeckung der „nonverbalen Kommunikation" hat diesem vernachlässigten Gebiet der Homiletik wieder mehr Aufmerksamkeit gesichert.

7. Rechtsfragen Rechtsfragen ergeben sich für die Homiletik im evangelischen Bereich vor allem aus dem Begriff der Predigt als öffentlicher Verkündigung (publica doctrina, CA 14). Der Gedanke des allgemeinen Priestertums schließt zwar das Recht und die Pflicht aller Getauften ein, das Evangelium zu bezeugen. Sie können aber nicht für sich in Anspruch nehmen, auch namens ihrer kirchlichen Gemeinschaft, also in öffentlicher Verantwortung zu sprechen. Dazu bedarf es einer Berufung (vocatio) durch die Gemeinde. Diese wird generell durch die Ordination, wo sie üblich ist, im Einzelfall durch die Amtsübertragung ausgesprochen. Sie hat als ihren wesentlichen Bestandteil das Predigtrecht (Söderblom). Von ihnen empfing er fruchtbare Anregungen, die er allerdings höchst kritisch verarbeitete. Dabei verband er theologische Gelehrsamkeit mit tiefer Religiosität, Kirchlichkeit und ungewöhnlicher spiritueller Begabung, die nicht zuletzt der von ihm lebenslang hochverehrte Abbé Henri Huvelin in ihm geweckt hatte. Wenn v. Hügel gleichwohl seinen theologisch-kirchlichen Standpunkt aus Überzeugung „ultramontan" nannte und - anders als die bedeutenden Vertreter des liberalen englischen Katholizismus, von Richard Simpson und Lord Acton bis zu Charlotte Lady Blennerhassett und Edmund Bishop - in der Annahme der dogmatischen Beschlüsse des Ersten Vatikanums (—»Vatikanum I) eine Frage innerer Konsequenz sah, so verstand er sich doch betont als „einen ultramontanen im alten und begrenzten (definite) Sinn des Wortes", keineswegs als Anhänger der seine Kirche damals beherrschenden neuscholastisch-aggressiven Partei (-»Ultramontanismus). Er meinte vielmehr einen Standpunkt der Mitte, einen „Ultramontanismus" einer vergangenen Epoche, wie ihn je auf ihre Weise F. —»Fenelon und Jean Mabillon ( 1 6 3 2 - 1 7 0 7 ; -»Mauriner) exemplarisch verwirklicht hatten. Vor allem Mabillon, „that saintly Benedictine", erschien ihm als die vollkommene Integration von Spiritualität und Theologie, Frömmigkeit und Gelehrsamkeit, kirchlicher Loyalität und kritischem Geist, römisch-katholischer Gesinnung und Liebe zur — historischen — Wahrheit.

Wie die Beschäftigung mit Fénelon v. Hügels Interesse an der Geschichte der christlichen Spiritualität und Mystik entzündete und ihn zur Abfassung seines opus magnum The Mystical Element of Religion as Studied in Saint Catherine ofGenoa and Her Friends (2 Bde., London 1908, 2 1923) inspirierte, so entdeckte er in J. Mabillon den leuchtenden

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Repräsentanten einer großen katholischen Wissenschaftstradition, deren vornehmstes Ziel er darin erblickte, den überlieferten christlichen Glauben in die je neue Zeit zu übersetzen bzw. für sie wieder und wieder neu zu durchdringen, und zwar in ehrlichem Dialog mit ihr und im Licht der fortschreitenden philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnis sowie unter Zuhilfenahme der von ihr dargebotenen besten methodischen Mittel. Diese Tradition wiederzubeleben, wurde ihm zu einem brennenden Anliegen. Es war dieses Anliegen, das v. Hügel (1893) mit Alfred —»Loisy zusammenführte. Denn Loisys vor allem durch die deutsche liberal-protestantische Bibelwissenschaft angeregte exegetische Forschungen erschienen v. Hügel als richtungweisende Bemühungen, historische Kritik für die katholische Exegese und damit für die katholische Theologie als solche fruchtbar zu machen. Auf Initiative v. Hügels, der hierin von Seiten des Bischofs von Fréjus und nachmaligen Erzbischofs von Albi, Eudoxe-Irénée Mignot (1842-1918), eines französischen Prälaten von singulärer geistiger Offenheit, maßgebliche Unterstützung erfuhr, kam es in der Folge zu einem losen Zusammenschluß einiger gleichgesinnter und um dieselben wissenschaftlich-theologischen Probleme ringender Gelehrter (Geistlicher und Laien) von freilich sehr individuellem Zuschnitt (Maurice Blondel, Lucien Laberthonnière, Joseph Turmel, Albert Houtin, Henri Bremond, George Tyrrell, E. ->Buonaiuti, Romolo Murri, Salvatore Minocchi, Giovanni Semeria). Sie setzten sich gemeinsam, wenn auch mit unterschiedlichem Engagement^ für das Bekanntwerden des exegetischen Werkes Loisys ein, zuletzt insbesondere für die Verbreitung seiner 1902 (erstmals) erschienenen Schrift L'Éfangile et l'Église, einer streng historisch-kritischen Untersuchung über die damals vor allem protestantischerseits heftig diskutierte Frage der Anfänge von Christentum und Kirche, die (so schien es) in eine glänzende Apologie der katholischen Kirche mündete - für v. Hügel überzeugendes Beispiel einer Verbindung von methodisch exakter historischer Kritik und bester katholischer Apologetik. Man hat diesen losen Zusammenschluß, dem weder eine Organisation noch ein Programm zugrunde lag - es sei denn die Suche nach tragfähigen Ansätzen für eine zeitgemäße Theologie - , wenig treffend als eine „Bewegung" charakterisiert und mit der erst 1907 (durch die Enzyklika Pascendi dominici gregis) kirchenamtlich eingeführten (präziser: erfundenen) Etikettierung „modernistisch" desavouiert. Tatsächlich blieb aber dieser Zusammenschluß Episode und deckte jedenfalls nicht im mindesten die ganze „Bandbreite" dessen ab, was 1907 als -»Modernismus verurteilt wurde. Das Engagement für Loisy begann, kaum in Gang gekommen, auch schon wieder zu enden, als dieser nach der Indizierung seines livre rouge (1903), verbittert und der dauernden Maßregelungen müde, bewußt die direkte Konfrontation mit dem kirchlichen Lehramt ansteuerte (vgl. T R E 6,89,26ff.42ff).

Bereits 1905 war die „Bewegung", soweit sie für etwas gestanden hatte, was v. Hügel zu verteidigen bereit war, zerbrochen. Er zog sich enttäuscht zurück: bestürzt über den nunmehr hart zutage tretenden „real scepticism" Loisys und mancher anderer Freunde, mehr noch über den Umstand, als „Colporteur und Vermittler" für eine Sache eingetreten zu sein, die sich auf Grund ihrer Entwicklung für ihn als entsetzlicher Irrtum enthüllt hatte. „Fanatismen, Doktrinarismen von links", nur dazu geeignet, die schon bestehenden „Fanatismen von rechts" um so kräftiger zu entfachen: dazu - so deutete er später Loisy gegenüber an (1910) - habe er die Hand nicht reichen wollen. Daß er diese und die folgenden Jahre, in welchen die „modernistische Krise" ihrem Höhepunkt zustrebte, ohne inneren Schaden überstand, führte er auf zwei in seinem Leben wirksame „Konstanten" zurück: auf seine tiefe Verwurzelung in einer großen spirituellen Tradition römischkatholischer Prägung (sanetity) und auf seinen aus intensiven (religions-) philosophischen Studien erwachsenen intellektuellen Standpunkt eines strengen philosophischen Realismus (realistn). Freilich, neben den Gewissensgründen hatten v. Hügel auch familiäre Rücksichten, dann die Furcht, selber der kirchlichen Zensur zu verfallen und dadurch das Erscheinen seines eben vollendeten Hauptwerks The Mystical Element of Religion zu gefährden, zur Distanz von seinen „modernistischen" Freunden bewogen, und je mehr er sich des Aus-

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m a ß e s seines Irrtums m i t ihnen b e w u ß t wurde, desto m e h r schreckte er vor seiner eigenen „ m o d e r n i s t i s c h e n " Vergangenheit - für ihn „ t h a t definitely closed period o r c r i s i s " — zurück. E r vermied f o r t a n , n o c h Fragen der kritischen E x e g e s e aufzugreifen, und wuchs — als A u t o r eines der profundesten Werke über mystische T h e o l o g i e — m e h r und m e h r in die R o l l e eines (vor allem bei anglikanischen Christen) geschätzten und verehrten spirituellen Beraters. D e n n o c h bedeutete dies in seinem Leben keinen B r u c h . Auch in der letzten L e b e n s p h a s e entsprach sein theologischer S t a n d p u n k t j e n e m , der ihn einst mit L o i s y z u s a m m e n g e f ü h r t hatte. E r hielt an seiner Auffassung von der Unverzichtbarkeit einer wissenschaftlichen, historisch begründeten, dialogfähigen T h e o l o g i e ebenso unbeirrt fest wie an seinen Vorstellungen über die Bedeutung der M y s t i k und der kirchlichen A u t o r i t ä t , und w i e ehedem v e r w a h r t e er sich gegen jeden Versuch der Gleichsetzung irgendeiner theologischen Schule m i t der K i r c h e b z w . dem römischen Katholizismus. U n d so sehr e r sich dagegen wehrte, „ e t i k e t t i e r t " zu werden, verstand er sich bis zuletzt als „ M o d e r n i s t " (v. Hügel an M a u d e Petre, 13. M ä r z 1918) - identifizierte er sich (ohne es allerdings persönlich zu realisieren) mit dem Grundanliegen eines - • L i b e r a l e n Katholizismus, d e m in W a h r h e i t die K a m p f a n s a g e der Enzyklika Pascendi gegolten hatte. Welch hohes Ansehen v. Hügel in der gebildeten Welt Englands sich erwarb, dokumentiert eindrucksvoll die Verleihung der Ehrendoktorwürden der Universitäten St. Andrews in Schottland (1914) und Oxford (1920) an ihn. Letztere Universität gewährte damit zutp ersten Mal seit der Reformation einem Katholiken diese Auszeichnung. Mit einer Auszeichnung besonderer Art beehrte ihn schließlich die Universität Edinburgh: Sie lud ihn ein, für die Studienjahre 1924/25 und 1925/26 die Gifford Lectures zu übernehmen. Doch mitten in der Vorbereitung dieser Vorlesungen, die der Thematik der Wirklichkeit Gottes und ihrer Erkennbarkeit in der menschlichen Erfahrung gewidmet sein sollten, starb v. Hügel am 27. Januar 1925 in London. Seine vollständig erhaltene Bibliothek - schon deshalb von hervorragendem Quellenwert, weil v. Hügel seine Bücher beim Studium mit Randglossen zu füllen pflegte - ist heute der Vniversity Library von St. Andrews einverleibt. 2.

Werk

Von Hügels „ m o d e r n i s t i s c h e s " E n g a g e m e n t und seine anschließende S e l b s t b e s c h r ä n k u n g a u f den - seiner persönlichen Neigung besonders entsprechenden - Bereich der Spiritualität, a b e r auch sein elitäres D e n k e n und seine komplizierte (auch von G e r m a n i s men durchsetzte englische) Ausdrucksweise, die seine Publikationen von A n f a n g an n u r einem kleinen Leserkreis zugänglich m a c h t e n , haben entscheidend dazu beigetragen, d a ß sein - nicht sehr umfangreiches, a b e r dafür sehr gehaltvolles — literarisches W e r k j a h r zehntelang weithin u n b e a c h t e t blieb. Im G r u n d e ist der L a i e v. Hügel als t h e o l o g i s c h e r D e n k e r erst durch neuere Forschungen entdeckt w o r d e n , im Z u g e der v o m Z w e i t e n V a t i k a n u m ( - » V a t i k a n u m II) bewirkten „ Ö f f n u n g " , die auch einer differenzierteren S i c h t des P h ä n o m e n s „ M o d e r n i s m u s " - b z w . dessen, w a s d a m i t k i r c h e n a m t l i c h g e m e i n t sein m o c h t e - B a h n b r a c h . D a b e i ist deutlich g e w o r d e n , d a ß das S c h w e r g e w i c h t des Interesses v. Hügels weniger a u f d e m G e b i e t der kritischen E x e g e s e lag, als a u f j e n e m der R e l i g i o n s philosophie, m a n k ö n n t e auch sagen: fundamentaltheologischer Überlegungen. Sein W e r k ist durchdrungen v o n dem (im besten Sinn des Wortes) apologetischen B e m ü h e n , den (vom Geist der A u f k l ä r u n g geprägten) m o d e r n e n M e n s c h e n wieder zur E r k e n n t n i s der R e a l i t ä t G o t t e s als seines transzendenten personalen G e g e n ü b e r s zu führen und M e t h o d e n für diese E r k e n n t n i s zu entwickeln ( - » A p o l o g e t i k II.3). In diesem B e m ü h e n spiegelt sich zugleich u n v e r k e n n b a r v. Hügels R i n g e n um die eigene „ k a t h o l i s c h e " Identität. Das Ziel, den Menschen zu bereiten, daß er die ihm verkündigte Botschaft des Christentums nicht nur wieder hören, sondern auch als mit seinen innersten Erwartungen und Sehnsüchten korrespondierend erkennen könne, bestimmt v. Hügel dazu, Anregungen der Immanenzapologetik (Blondel, Laberthonniere) aufnehmend, von einem anthropologischen Ansatz auszugehen, im Gegensatz zur -»Neuscholastik mit ihrer deduktiven Verfahrensweise wie zu einer den Menschen nur in seiner Gebrochenheit und Fremdheit gegenüber Gottes Wort begreifenden -»Dialektischen Theologie. Beginnend bei der Frage nach dem (konkret existierenden) Menschen, seiner Erkenntnisfähigkeit und den Möglichkeiten seiner Personwerdung sucht v. Hügel (ohne allerdings seine Erkenntnislehre

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zu systematisieren) den transzendentalen Charakter der subjektiv-menschlichen -»Erfahrung aufzuweisen: daß es dem Menschen nie genüge, nur Mensch zu sein, er vielmehr auf eine ihm begegnende, ihm widerfahrende personale Unendlichkeit zuinnerst angelegt sei (s. T R E 1 0 , 124,28ff). Diesen Aufweis aber, dem insbesondere seine Aufsätze Experience and Transcendence-(1903/06) gewidmet sind, konfrontiert er mit den Ergebnissen der historisch-biographischen Forschung, wie er sie in The Mystical Element of Religion vorlegt. Das genannte Werk, eine Biographie der Mystikerin Katharina von Genua (1447-1510), stellt sozusagen die Summe des theologischen Denkens v. Hügels dar. Nicht nur, daß er ein exemplarisches Beispiel moderner, kritischer -»Hagiographie liefert: Er bietet zugleich eine fundamentale Studie über das Wesen der -»Religion, die er durch drei selbständige, zueinander in Spannung stehende, stets gegenseitiger „Ausbalancierung" bedürfende Elemente konstituiert sieht: durch das historischinstitutionelle, das wissenschaftliche und das mystische Element (entsprechend der sinnlichen, intellektuellen und emotionalen Kraft als den drei Grundfunktionen menschlicher Existenz). Mit der biographischen Darstellung Katharinas von Genua, einer zwar von inneren Spannungen zerrissenen, nichtsdestoweniger von aktiver Kraft und weitem Geist erfüllten Heiligengestalt aus der vortridentinischen Zeit aber - deren Weite „die spezifisch nachtridentinische Form des Katholizismus mit ihrem beherrschenden Seminargeist, ihrem vorwiegend kontroversen Denken, ihrem Mißtrauen und ihrer Ängstlichkeit, wie unvermeidbar auch manches von all dem sein m a g " , bewußt unterdrückt habe (The Mystical Element I, XXI) — will v. Hügel aufzeigen, zu welcher Fülle des Religiösen, des Katholischen, es zurückzufinden gelte. Nicht Nachahmung der Heiligen als Vorbild ist der Zweck seiner Darstellung; vielmehr soll die Kraft der einzelnen Aspekte dieses Lebens den Betrachter in die Möglichkeit versetzen, die dargebotenen „Materialien", ausgehend von seinem eigenen Vorverständnis, zu einer neuen organischen, personalen Ganzheit zu assimilieren (1,86).

Weil lebendige, vermittelbare Religion nur auf dem Doppelfundament der in jedem Menschen angelegten religiösen Sehnsucht und der historisch konkreten, je einmaligen Erfüllung im Heiligen immer wieder von neuem gedeihen kann, muß nach v. Hügels Verständnis auch Theologie, soll sie ihre genuine Aufgabe nicht verfehlen, aus den durch historische Studien zu gewinnenden „Materialien" und dem aus der Fraglichkeit des Menschen sich ergebenden Vorverständnis, im hermeneutischen Zirkel von Vorverständnis und historischer Überprüfung, immer wieder neu konzipiert werden. Werke Vollst. Bibliogr. der gedr. Werke v. Hügels: Thomas Michael Loome, Liberal Catholicism, Reform Catholicism, Modernism. A contribution to a new orientation in modernist research, 1979 (TTS14), 209-217. Es werden deshalb hier lediglich aufgeführt: Experience and Transcendence (for private circulation only). Manuskript 1903, veröff.: Papers Read before the Synthetic Society, 1896-1908. For private circulation, hg. v. A.J. Balfour, London 1909, 425 - 4 4 3 . - Experience and Transcendence: T h e Dublin Review 138 (1906) 357-379. - The Mystical Element of Religion as Studied in Saint Catherine of Genoa and Her Friends, 2 Bde., London 1908 2 1923. - Eternal Life. A Study of its Implications and Applications, Edinburgh 1912 2 1913. - Essays and Adresses on the Philosophy of Religion, 2 Bde., London/New York 1921-1926. - The Reality of God and Religion and Agnosticism. Being the literary remains of Baron Friedrich v. Hügel, hg. v. E . G . Gardner, London 1931. Selected Letters 1896-1924, hg. u. eingel. v. B. Holland, London/Toronto/New York 1927 2 1931. - Letters from Baron v. Hügel to a Niece, hg. u. eingel. v. G. Greene, L o n d o n / N e w York 1928. - Paul Misner (Hg.), Friedrich v. Hügel, Nathan Söderblom, Friedrich Heiler. Briefwechsel 1909—1931, Paderborn 1981. - Weitere Hinweise auf veröff. u. unveröff. Briefe von u. an v. Hügel s.: Peter Neuner, Rel. Erfahrung u. gesch. Offenbarung. Friedrich v. Hügels Grundlegung der Theol., 1977 (BÖT15), 11 u. 13 f. Literatur (in

Auswahl)

Karl-Ernst Apfelbacher/Peter Neuner (Hg.), Ernst Troeltsch, Briefe an Friedrich v. Hügel 1901-1923, Paderborn 1974. - Lawrence F. Barmann, Baron Friedrich v. Hügel and the Modernist Crisis in England, Cambridge 1972. - Michael de la Bedoyere, T h e Life of Baron v. Hügel, London 1951.-Albert A. Cock, A Critical Examination of v. Hügel's Philosophy of Religion, London 1 9 5 3 . Arthur H . Dakin, Von Hügel and the Supernatural, London 1934. - Ulrike Dorda u. Helmut Dolezal, Art. Hügel, Freiherrn v.: NDB 9 (1972) 730-732. - Henry Dumoulin, Soichi Iwashita u. Friedrich v. Hügel: Hochl 45 (1952) 131 - 1 3 8 . - Richard S. Emrich, The Conception of the Church in the Writings and Life of the German-English Philosopher Baron Friedrich v. Hügel. A Contribution to the Socio-

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Hugenotten

logy of Religion, München 1939 (Aus der Welt christl. Frömmigkeit 14). — Gwendolen Greene, T w o Witnesses. A Personal Recollection of Hubert Parry and Friedrich v. Hügel, London 1930. — John J. Heaney, The Modernist Crisis. Von Hügel, London/Dublin/Melbourne 1969. - Friedrich Heiler, Art. Friedrich v. Hügel: R G G 2 2(1928) 1034f. - Ders., Friedrich v. Hügel: ders., Im Ringen um die Kirche. GAufs. u. Vortr., München 1 9 3 1 , 1 6 0 - 1 7 3 . - J a m e s J. Kelly, Friedrich von Hügel's Philosophy of Religion, 1983 (BEThL 62). - Michael Kerlin, Historical Religion in the Thought of Friedrich v. Hügel and George Tyrrell, Rom 1966. - Alfred Loisy, Mémoires pour servir à l'histoire religieuse de notre temps, 3 Bde., Paris 1 9 3 0 - 1 9 3 1 . - T h o m a s Michael Loome, The Enigma of Baron Friedrich v. Hügel - as Modernist: DR 91 (1973) 13 - 3 4 . 1 2 3 - 1 4 0 . 2 0 4 - 230. - Ders., „Die Trümmer des liberalen Katholizismus" in Großbritannien u. Deutschland am Ende des 19. Jh. (1893-1903): Die kirchenpolitische Grundlage der Mondernismuskontroverse (1903-1914): Martin Schmidt/Georg Schwaiger (Hg.), Kirchen u. Liberalismus im 19. Jh., 1976 (SThGG 19), 197-214. - Ders., Liberal Catholicism (s.o. Werke). - Maurice Nédoncelle, La pensée religieuse de Friedrich v. Hügel, Paris 1935; engl.: Baron Friedrich v. Hügel. A Study of His Life and Thought, London/New York/Toronto 1937. - Peter Neuner, Friedrich v. Hügels Bild v. der Kirche. Kirchenvorstellung im Modernismus u. moderne Kirchenreform: S t Z 9 7 (1972) 2 5 - 4 2 . - Ders., Friedrich v. Hügel, der „Laienbischof der Modernisten": Georg Schwaiger (Hg.), Aufbruch ins 20. Jh. Z u m Streit um Reformkatholizismus u. Modernismus, Göttingen 1976 (SThGG 23), 9 - 22. - Ders., Religion zwischen Kirche u. Mystik. Friedrich v. Hügel u. der Modernismus, F r a n k f u r t / M . 1977. - Ders., Rel. Erfahrung (s.o. Werke). M a u d e D. Petre, Autobiography and Life of George Tyrrell, 2 Bde., London 1912. - Dies., Modernism. Its Failure and Its Fruits, London 1918. - Dies., Friedrich v. Hügel. Personal Thoughts and Reminiscences: HibJ24 (1925) 7 7 - 8 7 . - Dies., George Tyrrell and Friedrich v. Hügel in Their Relation to Catholic Modernism: M C M 17 (1927) 143-154. - Dies., Von Hügel and Tyrrell. T h e Story of a Friendship, London 1937. - Karl Pfleger, Der ideale Modernist: Hochl. 75 (1964/65) 131-144. - Emile Poulat, Alfred Loisy. Sa vie - son œuvre, par Albert Houtin et Félix Sartiaux. Manuscript annoté et publié avec une Bibliographie Loisy et un Index Bio-Bibliographie, Paris 1960. - Maria Schlüter-Hermkes, Friedrich v. Hügel: Hochl. 22 (1924/25) 706-709. - Dies., Die geistige Gestalt Friedrich v. Hügels: ebd. 24/1 (1926/27) 5 2 - 6 3 . 197-214. - Dies., Ein Weltmann als Meister der Spiritualität: ebd. 43 (1951) 138-154. - Oskar Schroeder, Aufbruch u. Mißverständnis. Z u r Gesch. der reformkath. Bewegung, Graz/Wien/Köln 1969. - Jean Steinmann, Friedrich v. Hügel. Sa vie, son œuvre et ses amitiés, Paris 1962. - Manfred Weitlauff, „Modernismus" als Forschungsproblem. Ein Bericht: Z K G 9 3 (1982) 312-344. - Joseph P. Whelan, The Spirituality of Friedrich v. Hügel, London 1971.- Cornelia Zielinski, Der Begriff der Mystik in Baron Friedrich v. Hügels Werk „The Mystical Element of Religion". Darl. u. Kritik, Jena 1913.

Manfred Weitlauff

Hülsemann, Johann

-»Orthodoxie, Altlutherische

Hug, Johann Leonhard

-»Bibelwissenschaft, -»Einleitungswissenschaft

Hugenotten 1. Die Religionskriege 2. Die Geltungsdauer des Edikts von Nantes Edikts von Nantes (Quellen/Literatur/Monographien S. 627)

1. Die

3. Die Aufhebung des

Religionskriege

1.1. Das Wort „Hugenotten". Das Wort huguenot [Hugenotte] wurde zum ersten Mal 1560 bei der Verschwörung von Amboise zur Beschimpfung der Protestanten benutzt. Wie die Geusen in den -•Niederlanden machten sich die Protestanten diesen (und auch andere) Spottnamen als Ehrentitel zu eigen. Allein die Bezeichnung huguenot setzte sich allgemein durch und wurde selbst in staatlichen Dokumenten neben dem offiziellen Terminus „Vertreter der R.P.R." bzw. „der Religion prétendue réformée" [des sogenannten reformierten Glaubens] verwendet. Durch die Auswanderung der Hugenotten wurde sie überall dort verbreitet, wo heute noch Nachfahren der Flüchtlinge und somit auch Hugenottenvereine existieren. Huguenot war damals als Diminutiv des Vornamens Hugues [Hugo] bereits seit längerem gebräuchlich. Die etymologischen Erklärungsversuche reichen von den flämischen und niederdeutschen Formen von „Eidgenossen" über Huguet bzw. Hugon, den Werwolf des französischen Volksglaubens, bis zum Namen des Königs Hugo Capet (987-996). Die umfangreiche Literatur läßt keinen eindeutigen Schluß zu, doch am ehesten wird als Ursprung der seit 1520 bekannte Genfer Begriff eyguenot akzeptiert.

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Hugenotten

logy of Religion, München 1939 (Aus der Welt christl. Frömmigkeit 14). — Gwendolen Greene, T w o Witnesses. A Personal Recollection of Hubert Parry and Friedrich v. Hügel, London 1930. — John J. Heaney, The Modernist Crisis. Von Hügel, London/Dublin/Melbourne 1969. - Friedrich Heiler, Art. Friedrich v. Hügel: R G G 2 2(1928) 1034f. - Ders., Friedrich v. Hügel: ders., Im Ringen um die Kirche. GAufs. u. Vortr., München 1 9 3 1 , 1 6 0 - 1 7 3 . - J a m e s J. Kelly, Friedrich von Hügel's Philosophy of Religion, 1983 (BEThL 62). - Michael Kerlin, Historical Religion in the Thought of Friedrich v. Hügel and George Tyrrell, Rom 1966. - Alfred Loisy, Mémoires pour servir à l'histoire religieuse de notre temps, 3 Bde., Paris 1 9 3 0 - 1 9 3 1 . - T h o m a s Michael Loome, The Enigma of Baron Friedrich v. Hügel - as Modernist: DR 91 (1973) 13 - 3 4 . 1 2 3 - 1 4 0 . 2 0 4 - 230. - Ders., „Die Trümmer des liberalen Katholizismus" in Großbritannien u. Deutschland am Ende des 19. Jh. (1893-1903): Die kirchenpolitische Grundlage der Mondernismuskontroverse (1903-1914): Martin Schmidt/Georg Schwaiger (Hg.), Kirchen u. Liberalismus im 19. Jh., 1976 (SThGG 19), 197-214. - Ders., Liberal Catholicism (s.o. Werke). - Maurice Nédoncelle, La pensée religieuse de Friedrich v. Hügel, Paris 1935; engl.: Baron Friedrich v. Hügel. A Study of His Life and Thought, London/New York/Toronto 1937. - Peter Neuner, Friedrich v. Hügels Bild v. der Kirche. Kirchenvorstellung im Modernismus u. moderne Kirchenreform: S t Z 9 7 (1972) 2 5 - 4 2 . - Ders., Friedrich v. Hügel, der „Laienbischof der Modernisten": Georg Schwaiger (Hg.), Aufbruch ins 20. Jh. Z u m Streit um Reformkatholizismus u. Modernismus, Göttingen 1976 (SThGG 23), 9 - 22. - Ders., Religion zwischen Kirche u. Mystik. Friedrich v. Hügel u. der Modernismus, F r a n k f u r t / M . 1977. - Ders., Rel. Erfahrung (s.o. Werke). M a u d e D. Petre, Autobiography and Life of George Tyrrell, 2 Bde., London 1912. - Dies., Modernism. Its Failure and Its Fruits, London 1918. - Dies., Friedrich v. Hügel. Personal Thoughts and Reminiscences: HibJ24 (1925) 7 7 - 8 7 . - Dies., George Tyrrell and Friedrich v. Hügel in Their Relation to Catholic Modernism: M C M 17 (1927) 143-154. - Dies., Von Hügel and Tyrrell. T h e Story of a Friendship, London 1937. - Karl Pfleger, Der ideale Modernist: Hochl. 75 (1964/65) 131-144. - Emile Poulat, Alfred Loisy. Sa vie - son œuvre, par Albert Houtin et Félix Sartiaux. Manuscript annoté et publié avec une Bibliographie Loisy et un Index Bio-Bibliographie, Paris 1960. - Maria Schlüter-Hermkes, Friedrich v. Hügel: Hochl. 22 (1924/25) 706-709. - Dies., Die geistige Gestalt Friedrich v. Hügels: ebd. 24/1 (1926/27) 5 2 - 6 3 . 197-214. - Dies., Ein Weltmann als Meister der Spiritualität: ebd. 43 (1951) 138-154. - Oskar Schroeder, Aufbruch u. Mißverständnis. Z u r Gesch. der reformkath. Bewegung, Graz/Wien/Köln 1969. - Jean Steinmann, Friedrich v. Hügel. Sa vie, son œuvre et ses amitiés, Paris 1962. - Manfred Weitlauff, „Modernismus" als Forschungsproblem. Ein Bericht: Z K G 9 3 (1982) 312-344. - Joseph P. Whelan, The Spirituality of Friedrich v. Hügel, London 1971.- Cornelia Zielinski, Der Begriff der Mystik in Baron Friedrich v. Hügels Werk „The Mystical Element of Religion". Darl. u. Kritik, Jena 1913.

Manfred Weitlauff

Hülsemann, Johann

-»Orthodoxie, Altlutherische

Hug, Johann Leonhard

-»Bibelwissenschaft, -»Einleitungswissenschaft

Hugenotten 1. Die Religionskriege 2. Die Geltungsdauer des Edikts von Nantes Edikts von Nantes (Quellen/Literatur/Monographien S. 627)

1. Die

3. Die Aufhebung des

Religionskriege

1.1. Das Wort „Hugenotten". Das Wort huguenot [Hugenotte] wurde zum ersten Mal 1560 bei der Verschwörung von Amboise zur Beschimpfung der Protestanten benutzt. Wie die Geusen in den -•Niederlanden machten sich die Protestanten diesen (und auch andere) Spottnamen als Ehrentitel zu eigen. Allein die Bezeichnung huguenot setzte sich allgemein durch und wurde selbst in staatlichen Dokumenten neben dem offiziellen Terminus „Vertreter der R.P.R." bzw. „der Religion prétendue réformée" [des sogenannten reformierten Glaubens] verwendet. Durch die Auswanderung der Hugenotten wurde sie überall dort verbreitet, wo heute noch Nachfahren der Flüchtlinge und somit auch Hugenottenvereine existieren. Huguenot war damals als Diminutiv des Vornamens Hugues [Hugo] bereits seit längerem gebräuchlich. Die etymologischen Erklärungsversuche reichen von den flämischen und niederdeutschen Formen von „Eidgenossen" über Huguet bzw. Hugon, den Werwolf des französischen Volksglaubens, bis zum Namen des Königs Hugo Capet (987-996). Die umfangreiche Literatur läßt keinen eindeutigen Schluß zu, doch am ehesten wird als Ursprung der seit 1520 bekannte Genfer Begriff eyguenot akzeptiert.

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Manfred Weitlauff

Hülsemann, Johann

-»Orthodoxie, Altlutherische

Hug, Johann Leonhard

-»Bibelwissenschaft, -»Einleitungswissenschaft

Hugenotten 1. Die Religionskriege 2. Die Geltungsdauer des Edikts von Nantes Edikts von Nantes (Quellen/Literatur/Monographien S. 627)

1. Die

3. Die Aufhebung des

Religionskriege

1.1. Das Wort „Hugenotten". Das Wort huguenot [Hugenotte] wurde zum ersten Mal 1560 bei der Verschwörung von Amboise zur Beschimpfung der Protestanten benutzt. Wie die Geusen in den -•Niederlanden machten sich die Protestanten diesen (und auch andere) Spottnamen als Ehrentitel zu eigen. Allein die Bezeichnung huguenot setzte sich allgemein durch und wurde selbst in staatlichen Dokumenten neben dem offiziellen Terminus „Vertreter der R.P.R." bzw. „der Religion prétendue réformée" [des sogenannten reformierten Glaubens] verwendet. Durch die Auswanderung der Hugenotten wurde sie überall dort verbreitet, wo heute noch Nachfahren der Flüchtlinge und somit auch Hugenottenvereine existieren. Huguenot war damals als Diminutiv des Vornamens Hugues [Hugo] bereits seit längerem gebräuchlich. Die etymologischen Erklärungsversuche reichen von den flämischen und niederdeutschen Formen von „Eidgenossen" über Huguet bzw. Hugon, den Werwolf des französischen Volksglaubens, bis zum Namen des Königs Hugo Capet (987-996). Die umfangreiche Literatur läßt keinen eindeutigen Schluß zu, doch am ehesten wird als Ursprung der seit 1520 bekannte Genfer Begriff eyguenot akzeptiert.

Hugenotten

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1.2. Die Entstehung der reformierten Kirche und der protestantischen Partei. Die Verbreitung der Reformation setzte in -»Frankreich 1535 ein; ihre große Expansion begann jedoch erst um 1545 unter dem Einfluß und der Autorität -»Calvins. Die ersten örtlichen Gemeinden, die sogenannten Eglises plantées, entstanden als Zusammenschluß von einigen Gläubigen. Die sogenannten Eglises dressées hingegen wurden bereits mit Pfarrern und Ältesten eingerichtet, die zusammen ein Konsistorium bildeten. Solche Kirchen waren bald im ganzen Königreich verbreitet; doch die Protestanten blieben überall und stets eine Minderheit. Die Gemeinden rekrutierten sich aus allen Gesellschaftsschichten. Die Pfarrer versammelten sich zu Provinzialkonventen. An den Provinzialsynoden nahm je Konsistorium eine gleiche Anzahl von Abgeordneten (Pfarrern und Ältesten) teil. Diese Abgeordneten gehörten den höheren und gebildeten Schichten an; sie wurden durch Kooptation bestimmt. Das führte schon bald zu Schwierigkeiten (s. TRE 11,374,23ff). Für die Kirche ergab sich die Notwendigkeit einer Kirchenordnung und eines für alle verbindlichen Glaubensbekenntnisses. Aus diesem Grunde trat 1559 die erste Nationalsynode der reformierten Kirchen in Paris zusammen. Sie war Abschluß und Neubeginn zugleich. Die durch Provinzialsynoden, insbesondere durch die von Poitiers aus dem Jahre 1557, vorbereitete Nationalsynode verabschiedete eine Kirchenordnung, die in Einklang mit den Grundsätzen des Calvinismus ein von —»Bucer beeinflußtes presbyterial-synodales System vorsah. Das dem Genfer Glaubensbekenntnis sehr nahestehende Bekenntnis der reformierten Kirchen Frankreichs bestätigte die großen Prinzipien Calvins: Solus Deus, sola scriptura, sola fide sowie die doppelte -»Prädestination. Das Glaubensbekenntnis von 1559 wurde durch die Synode zu La Rochelle von 1571 bestätigt und heißt seither Confession de foi de la Rochelle (Confessio Gallica; s. TRE 13,421,31 ff). Die erste Nationalsynode setzte jeder Ungewißheit ein Ende und gab den Hugenotten dogmatische und kirchenrechtliche Regeln in die Hand, die bis zur Aufhebung des Edikts von Nantes unverändert Bestand hatten. Auch als politischer Akt war die Nationalsynode ein Anfang. Sie fand in der Zeit der grausamsten Verfolgungen unter der Herrschaft Heinrichs II. (1547-1559) statt. Nach einigen vorausgegangenen Demonstrationen in Paris brachte sie den Willen der protestantischen Prinzen und Adligen zum Ausdruck, an die Öffentlichkeit zu treten und sich vom Staat anerkennen zu lassen. So stand sie am Ursprung der damals entstandenen protestantischen Partei, die während der Religionskriege unter der Führung Ludwigs von Bourbon, des Prinzen Louis de Condé (1530-1569), und des Admirais Gaspard de Coligny (1517-1572) immer mehr Bedeutung gewann. Die Tatsache, daß die protestantische Gemeinschaft nun über eine Satzung verfügte, konnte die Fortführung der blutigen Verfolgung unter der Herrschaft Franz' II. (1559-1560) nicht verhindern, da dieser die Macht den hugenottenfeindlichen Guisen überließ. Die von den Anführern der Reformierten betriebene Verschwörung von Amboise (1560) wurde in einem Blutbad ertränkt. Der Ausbruch der Religionskriege wurde durch den Tod des Königs und die Regentschaft Katharinas von Medici, die zu jener Zeit der Reformation gewogen war, lediglich verzögert. Der wichtigste Versuch der Befriedung und Versöhnung war das Religionsgespräch von Poissy (1561), an dem sowohl katholische Theologen unter der Leitung des Kardinals von Lothringen als auch reformierte unter der Führung von Theodor -» Beza teilnahmen. Der Bruch wurde auf Grund des unterschiedlichen Abendmahlsverständnisses (-»Abendmahl) endgültig und führte sogar zu einer vorübergehenden, gegen die Reformierten gerichteten Annäherung zwischen Lutheranern und Katholiken. Indessen erließ die Regentin zusammen mit dem Kanzler Michel de l'Hospital (1507-1573) im Januar 1562 das Edikt von St. Germain, das ein Nebeneinander der beiden Konfessionen anordnete und den Protestanten Freiheiten gewährte, die sie später niemals mehr erlangen sollten. Die Zahl der Protestanten erreichte ihren höchsten Stand: rund ein Drittel der Bevölkerung. Der Ausbruch des ersten Religionskrieges war auf die Mißachtung dieses Edikts nach der Ermordung von Protestanten durch den Herzog François de Guise in Wassy (1.3.1562) zurückzuführen.

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1.3. Die Religionskriege unter den Valois. Die Religionskriege erklären sich zunächst aus der moralischen Unfähigkeit der Menschen des 16. Jh., eine Häresie zu tolerieren. Das Bedürfnis, der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen, gebot den Kampf gegen die Feinde Gottes. Doch es gab nicht nur religiöse Gründe. Die Beendigung des Krieges gegen Österreich war für den Adel und das Militär, die vom Sold und von der Beute lebten, eine Katastrophe. Die monarchische Zentralisierung der letzten fünfzig Jahre hatte wiederum die Feudalherren verärgert. Da es nun gegen das Ausland keinen Krieg mehr gab, wurde als Ersatz ein Bürgerkrieg geführt, der, weil er ein Bürgerkrieg war, besonders grausam und verheerend war. Bildersturm kam allerdings nur während des ersten Krieges vor. Der reformierte Glaube, die kirchliche und persönliche Disziplin, die erduldeten Leiden und die erlebten Gefahren trugen allesamt zur Formung eines neuen Persönlichkeitstyps, des Hugenotten, bei, der unter dem moralischen Zwang stand, mit überkommenen Traditionen von Kirche und Gesellschaft zu brechen, den von ihm praktizierten Glauben wirklich zu kennen, die Familie zu achten, die Arbeit zu lieben, Widerstandskämpfer und Zeuge zu sein. Den Frauen kam in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle zu, da sie, weniger gemäßigt und weniger vorsichtig als ihre Männer, diese bestärkten und zugleich ihre Kinder prägten. Zwischen 1562 und 1598 fanden acht Religionskriege statt; nur wenige der dazwischen liegenden Friedensschlüsse waren von einigem Bestand. Bis 1585 waren die Hugenotten meistens unterlegen, außer in den Kavalleriegefechten. Während die Katholiken -•Spanien zu Hilfe riefen, baten die Protestanten -»Elisabeth I., die Utrechter Union (-•Niederlande), den pfälzischen Kurfürsten sowie den Herzog von Zweibrücken um Beistand. Der erste, für die Hugenotten ungünstig verlaufene Religionskrieg (1562-1563) wurde durch das sehr restriktive Edikt von Amboise beendet. Evangelischer Gottesdienst war danach nur in einer Stadt jedes Regierungsbezirks und in den Häusern des hohen, der Krone unmittelbar lehnspflichtigen Adels mit eigener Gerichtsbarkeit gestattet. Der Protestantismus wurde feudalisiert. Mancher ist der Ansicht, daß die Expansion des Protestantismus mit diesem Edikt zum Stillstand gebracht wurde; andere meinen, der Rückgang habe erst später, nach einer Pause von etwa vier Jahren eingesetzt. Der zweite und der dritte Religionskrieg ( 1 5 6 7 - 1 5 7 0 ) wurden durch den Versuch der protestantischen Partei, den Staat zu erobern, sowie den Gegenangriff Katharinas von Medici provoziert. Die Hugenotten wurden bei Jarnac und Moncontour vernichtend geschlagen (1569). Doch durch eine ausgedehnte Reise durch den Westen und Süden Frankreichs sowie das Rhonetal gelang es Coligny, den Protestantismus in diesen Gebieten nachhaltig zu festigen; ihm war auch das vorteilhafte Friedensedikt von Saint-Germain-en-Laye (1570) zu verdanken, das den Hugenotten zum ersten Mal vier Städte als Sicherheitsplätze einräumte, wo sie allein herrschen konnten (La Rochelle, Cognac, La Charite-sur-Loire, Montauban). In der nun folgenden Periode des Friedens gewann Coligny im Rat des Königs immer größeren Einfluß. Er wirkte auf eine Beendigung der Bürgerkriege durch die Wiederaufnahme des Krieges gegen Spanien hin - eine in den Augen der Königinmutter völlig unsinnige Politik; so beschloß sie mit Zustimmung der Guisen, den Admiral ermorden zu lassen. Das Scheitern dieses Mordanschlags führte zu dem Entschluß, den gesamten, wegen der Hochzeit Heinrichs von Navarra mit der Schwester des Königs in Paris versammelten protestantischen Adel in der Bartholomäusnacht (23./24.8.1572) zu ermorden. Nur die Mitglieder des Hauses Bourbon wurden verschont, allerdings gefangengenommen. Das Volk von Paris, das seinen Haß auf die Protestanten schon früher kundgetan hatte, dehnte das Gemetzel immer weiter aus. Uberall dort, wo das Volk ungehemmt handeln konnte, wurden nun Massaker im Namen des Königs verübt. Die Folgen waren schwerwiegend. Die bis dahin loyalen Protestanten wurden plötzlich zu Feinden der Monarchie. Der Bruch mit dem Königtum war radikal. Die Aristokratie wurde für eine ganze Generation aus der Führung der protestantischen Partei eliminiert; ihre Stellen nahmen Pastoren und Vertreter des Landadels ein, die sich viel unversöhnlicher zeigten. Schließlich wurde in den von Hugenotten beherrschten Gebieten Südfrankreichs ein pro-

Hugenotten

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testantischer Staat aufgebaut, der von souveränen, nach dem Vorbild der Provinzial- und Generalstände gebildeten politischen Versammlungen regiert wurde; dahinter verbarg sich die Absicht, die Institutionen des Protestantismus den nationalen Institutionen anzupassen, ohne ihre Unabhängigkeit preiszugeben. Als letzte Konsequenz flammte der Krieg wieder auf. Weder im vierten noch im fünften, sechsten und siebten Religionskrieg (1572—1580) konnte eine Entscheidung herbeigeführt werden; doch gerade aus ihnen ging eine neue Führerpersönlichkeit hervor: Heinrich von Bourbon, König von Navarra, der 1575 vom Hof fliehen und zum Calvinismus zurückkehren konnte, nachdem er ihm 1572, um in der Bartholomäusnacht sein Leben zu retten, abgeschworen hatte. Bereits 1584 stand auf Grund des Salischen Gesetzes fest, d a ß er rechtmäßiger Erbe der französischen Krone werden würde. Die Protestanten wechselten daraufhin wieder ins Lager der Monarchisten über, während die in der von Spanien unterstützten Ligue versammelten Katholiken unter der Führung der Guisen sich gegen den damaligen König Heinrich III. (1574-1589) wandten. Dies trug erheblich zum Aufschwung der gemäßigten Gruppe der Politiques [Politiker] in Frankreich bei. Der achte Krieg (1585-1598) war zunächst durch den ersten großen Sieg der Hugenotten gekennzeichnet. Heinrich von Navarra schlug die königliche Armee bei Coutras (1587). Der von Heinrich von Guise bedrohte König Heinrich III. sah sich gezwungen, bei den Protestanten Zuflucht zu suchen, und nahm 1589 an der Seite Heinrichs von Navarra an der Belagerung von Paris teil. Dabei wurde er von einem ligistischen Mönch ermordet; Heinrich von Navarra, als neuer französischer König nunmehr Heinrich IV. (1589-1610), sah sich von einem Teil der royalistischen Katholiken und sogar der Hugenotten im Stich gelassen und hob die Belagerung auf. 1.4. Heinrich IV. und das Edikt von Nantes. Beim Regierungsantritt des neuen Königs war das Land in zwei feindliche Lager gespalten; Hugenotten und Ligisten standen sich wie zwei selbständig organisierte Staaten gegenüber, die der Autorität des Königs spotteten. Die katholischen Royalisten oder „Politiker" wollten im Gegensatz zu den Anhängern des Feudalismus und den Demagogen die Autorität des Königs im ganzen Land wiederherstellen. Dank seiner militärischen Begabung errang Heinrich IV. große Siege über die Ligue und Spanien: Arques (1589), Ivry (1590) und Fontaine-Française (1595); sein politisches Geschick brachte ihm die Unterordnung des Hugenottenstaates, die Anerkennung seitens der „Politiker" und die Versöhnung mit den besiegten Ligisten ein, die er durch Geld und Gunsterweise für sich einzunehmen wußte. Dazu trug auch sein 1593 politisch notwendig gewordener Ubertritt zum Katholizismus bei, zu dem ihm auch die Führer der Hugenotten, Sully und Philippe Duplessis-Mornay (1549-1623), geraten hatten. Doch der König mußte nun mit all denen ins Reine kommen, denen er seine Krone verdankte, die ihm den erneuten Ubertritt verübelten und Sicherheiten forderten. Die Verhandlungen zwischen den protestantischen Versammlungen von Nantes, Saumur und Loudun (1594-1598) sowie den Unterhändlern Heinrichs IV. gestalteten sich schwierig. Der König konnte die zur Einigkeit entschlossenen Hugenotten nicht entzweien und mußte daher mehr Zugeständnisse machen, als ihm lieb war. Ergebnis der Verhandlungen war das durch Nebenbestimmungen und zwei Nachträge ergänzte Edikt von Nantes (13.4.1598). Es gewährte Gewissensfreiheit sowie das Recht, private Gottesdienste auf den Sitzen der evangelischen Inhaber hoher Gerichtsbarkeit und öffentliche Gottesdienste an bestimmten Orten zu feiern, wo sie sogar subventioniert wurden. Die Hugenotten erhielten Zutritt zu allen Staatsämtern. Ihnen wurden militärische Garantien gewährt, darunter 150 an wichtigen Ubergängen wie Brücken und Furten gelegene Sicherheitsplätze vor allem im Westen, Süden sowie im Rhônetal, und sie erhielten rechtlichen Schutz.

Das Edikt von Nantes war nicht so liberal wie manch früheres Edikt, aber es wurde respektiert; es machte die Hugenotten zu einer im religiösen Bereich benachteiligten, politisch jedoch privilegierten Minderheit. Die politischen Versammlungen durften nämlich weiterhin stattfinden; ihre Forderungen wurden am Hof durch gewählte Vertreter

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Hugenotten

vorgebracht. Die Frage, ob das Edikt die Protestanten in ein Getto einschloß, das sie langfristig stigmatisierte, bleibt dabei offen. 2. Die Geltungsdauer

des Edikts von

Nantes

2.1. Die Hugenotten unter Heinrich IV. Der König hätte es gern gesehen, wenn seine Anhänger ebenfalls dem Protestantismus abgeschworen hätten, doch nur wenige taten es. Neben den „politisch" gesinnten Katholiken und der von ehemaligen Ligisten gebildeten „frommen Partei" (parti dévot) bestand weiterhin auch eine Hugenottenpartei. Heinrich IV. ließ allen finanzielle Unterstützung zukommen, wachte jedoch streng über die Einhaltung des Edikts. Katholiken und Hugenotten teilten sich die Ämter am Hof sowie in Regierung, Heer und Verwaltung. Beim wirtschaftlichen Wiederaufbau Frankreichs spielte Sully eine bedeutende Rolle, und er umgab sich mit Protestanten. Der König achtete stets darauf, daß Ämter in der staatlichen Verwaltung jeweils halbiert und mit einem Katholiken und einem Protestanten besetzt wurden, die sich gegenseitig überwachten. Er mußte lediglich einen reformierten Lehnsherrn, den Herzog von Bouillon, niederzwingen. Z w a r favorisierte er offen die katholischen Glaubensstreiter, doch seine auf protestantische Bündnisse in Deutschland und Holland gestützte Außenpolitik zwang ihn, die Hugenotten zu schonen und sich auf sie zu verlassen. So wurde seine Ermordung (1610) von diesen als Unglück und Bedrohung erlebt. 2.2. Der Untergang der protestantischen Partei. Zu Beginn der Herrschaft Ludwigs XIII. (1610-1643) ging die Einheit der protestantischen Partei verloren, die ihre Stärke ausgemacht und das Edikt von Nantes überhaupt ermöglicht hatte. Auf der einen Seite standen die, die in ihrem Glauben fest und dem Staat gegenüber loyal blieben, obwohl sie unter den fromm-katholischen und spanien-freundlichen Regierungen keine politische Rolle mehr spielen konnten: Sully und Duplessis-Mornay. Auf der anderen Seite die, die sich die Schwäche der Regentschaft Marias von Medici zunutze machen wollten, indem sie bald für den Hof wirkten und die Partei schwächten, bald gegen den Hof agierten. Zu diesen zählte der Herzog von Bouillon. Bürgertum und Volk verfolgten das Gebaren der Großen mit Mißtrauen. Als die neuen Religionskriege (1620-1629) ausbrachen, vermochten weder Aufstände noch Verteidigungskämpfe alle zu vereinen. Ludwig XIII. und der Connétable von Luynes, ein M a n n der katholischen Partei, begannen, den 1567 durch die Königin von Navarra, Johanna d'Albret, in Béarn verbotenen Katholizismus wiederaufzurichten. Heinrich IV. hatte nie gewagt, das Werk seiner Mutter zu zerstören. Daraufhin fand in La Rochelle (1621) eine illegale Versammlung statt; der Herzog von Rohan wurde - zusammen mit seinem Bruder Soubise - Anführer des Widerstandes. Die Protestanten des Südens schlössen sich nach dem Vorbild des beinahe unabhängigen Hugenottenstaates vom Ende des 16. Jh. zu einer föderativen Republik zusammen. Doch viele lehnten einen Aufstand gegen den König ab (Duplessis-Mornay). Nach vielen unentschiedenen, von Waffenstillstandsabkommen unterbrochenen Gefechten wurde der letzte, entscheidende Angriff gegen die Protestanten von Richelieu in der Umgebung von La Rochelle und im Süden durchgeführt. Trotz der Unterstützung Englands und ihres eigenen heroischen Widerstandes (1627-1628) mußte die ausgeblutete Stadt La Rochelle schließlich kapitulieren. Der Krieg verlagerte sich daraufhin in die Cévennes; nach der entsetzlichen Plünderung der protestantischen Stadt Privas bot Rohan in Alès Verhandlungen an (1629). Das war das Ende der protestantischen Partei; alle politischen und militärischen Bestimmungen des Edikts von Nantes wurden aufgehoben. Die religiösen und rechtlichen Klauseln wurden zwar bestätigt, doch ohne jede Sicherheitsleistung, so daß die Hugenotten von nun an der Willkür der Regierung ausgeliefert waren. O b Rohan durch den Neubeginn der Kriege zur Verteidigung des Glaubens das Ende der Partei beschleunigt oder aber angesichts einer katholischen Regierung, die die Vernichtung der Protestanten beschlossen hatte, die einzig mögliche Haltung einnahm, ist heute ebenso umstritten wie damals.

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Den Untergang des Protestantismus in Frankreich - sei es durch friedliche Rekatholisierung, sei es durch Gewalt - hätte sowohl der Staat als auch die Mehrheit des Volkes begrüßt; er wurde allerdings durch die auf protestantische Bündnisse gestützte Außenpolitik, die eine Schonung der Hugenotten auferlegte, verzögert. Die Hugenotten kamen auch in den Konflikten mit dem Papsttum gelegen, konnte Frankreich doch so mit einem Schisma drohen (—»Gallikanismus). Doch die gegen Protestanten gerichteten Zwischenfälle wurden nicht mehr geahndet; Gunsterweise wurden nur den konvertierten Adelsherren und Pfarrern sowie den Arminianern (-»•Arminius, Jacobus/Arminianismus) zuteil. Eine geheime Gesellschaft, die Compagnie du Saint-Sacrement, führte einen unerbittlichen Krieg gegen die Protestanten und die „libertins" (vgl. TRE 11,490,9f). Diese Gegenreformation wurde von Mazarin (1643-1661) nicht unterstützt; während seiner Regierung genossen die Hugenotten zum letzten Mal staatlichen Schutz. 2.3. Die Hugenotten des 17. Jh. Nach den Religionskriegen war der Protestantismus hauptsächlich in Südfrankreich konzentriert - neben einigen Überresten in anderen Landesteilen, vor allem in der Normandie und in Paris. Durch die Synodalverfassung waren die Protestanten in 16 Provinzen eingeteilt. Ihre Zahl wird auf 850000 bis 900000 geschätzt; das entspricht 4 % der Gesamtbevölkerung. Der Hofadel, der die Seele der protestantischen Partei gewesen war, begann nach 1630 zu konvertieren. Nur wenige weigerten sich: die Familien Bourbon-Malauze, La Force, Schömberg, Ruvigny und der Admirai Duquesne. Der Landadel war dem Protestantismus weitgehend treu geblieben; viele flüchteten sich in die Armee. Doch nun wurde das Bürgertum zum bestimmenden Element, was zum Teil die Abneigung der Aristokratie erklärt. Zunächst hatte das protestantische Bürgertum im Finanzwesen und in der Rechtssprechung dem König gedient; als es dann aus den öffentlichen Ämtern verbannt wurde, wandte es sich dem Handel und Gewerbe zu. Darauf war es von Sully vorbereitet worden, der unter Heinrich IV. die französische Wirtschaft gelenkt hatte und später von den Bankiers des Königs, Herwarth und Samuel Bernard, abgelöst wurde. Man muß gar nicht Max -+Weber bemühen: Der Ausschluß aus den öffentlichen Ämtern bietet Erklärung genug dafür, daß das protestantische Bürgertum in Frankreich sich der Geschäftstätigkeit zuwandte. Diesem Bürgertum und den größtenteils aus ihm hervorgegangenen Pfarrern ist es zu verdanken, daß der Protestantismus sich in den Städten so gut behaupten konnte wie bei den Bauern, deren Herren dem Protestantismus treu blieben. Die Hugenotten waren in der Literatur, Architektur sowie der bildenden Kunst zahlreich vertreten. Die Geistlichen wurden an -»Akademien ausgebildet. Die wichtigsten Akademien befanden sich in Nîmes (1561), Orthez, Montauban, Saumur und Sedan. Die protestantische Geistlichkeit hatte zwar ihre Schwächen, doch sie war dem römischen Klerus moralisch ebenbürtig und intellektuell sogar überlegen. 2.4. Die innere Kontroverse um die -»Rechtfertigung, Saumur. Die protestantischen Akademien waren calvinistisch und antiarminianisch. Die Akademie von Sedan sogar eindeutig gomaristisch. Den vier französischen Deputierten war zwar die Teilnahme an der -»Dordrechter Synode (1618-1619) untersagt worden; die Dordrechter Canones jedoch wurden von den französischen Synoden übernommen, obwohl sie vom König nicht ratifiziert worden waren. Die Akademie von Saumur war die einzige, die den dogmatischen Konsens brach. Ihr Gründer, Duplessis-Mornay, schwieg beharrlich zur Frage der doppelten Prädestination. Er strebte vor allem eine Einigung der als Minderheit lebenden Protestanten sowie einen Abbau der Spannungen zwischen Katholiken und Reformierten an. Er berief Professoren aller Richtungen nach Saumur, darunter auch Gomarus. Am einflußreichsten war der Schotte John Cameron (1580-1625), der die universale Liebe Gottes (—•Universalismus) mit der Prädestination in Einklang brachte und daher von den Holländern des Arminianismus verdächtigt wurde, obgleich er ihm feindlich gegenüberstand. Sein bedeutendster Schüler Moïse Amyraut (1596-1664) führte den Gedanken weiter. Er betrachtete das Heilsangebot Gottes als universal, meinte

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jedoch, die Gnade werde nur wenigen zuteil. Er könne dabei keine Unvereinbarkeit entdecken; der Supralapsarismus von Gomarus sei nicht calvinistisch. Friedrich Spanheim von Leiden, später auch André Rivet und Pierre Du Moulin warfen Amyraut Semipelagianismus (-»Pelagius/Pelagianischer Streit) und Arminianismus vor. Die Kontroverse führte zu keinem Ergebnis; Amyraut wurde von den Synoden wiederholt verurteilt, aber stets mit Nachsicht. Dem ungeduldig gewordenen und besorgten Herzog von La Trémouille gelang es schließlich, alle Stimmen zum Schweigen zu bringen. Jean Claude war eindeutig von Amyraut beeinflußt. O b er nun nach einem Mittelweg zwischen Gomarismus und Arminianismus suchte oder im Gegenteil den orthodoxen Standpunkt lediglich mit einer ungewöhnlichen Terminologie vertrat, bleibt offen. Die Schiller Amyrauts, die Prediger Pajon und D'Huisseau, waren dem Ökumenismus weit mehr verbunden. Pajon war zugegebenermaßen Semipelagianer. D'Huisseau, der in Saumur als Pfarrer wirkte, reduzierte als Cartesianer (-•Descartes) die ganze Lehre auf das -»Apostolische Glaubensbekenntnis als das für den Christen notwendige und ausreichende Minimum. Als Latitudinarier (-•Latitudinarismus) wurde er des Sozinianismus (-•Sozzini/Sozinianer) angeklagt und abgesetzt. Die Akademie von Saumur war durchaus nicht einmütig; doch man bemühte sich dort um eine Versöhnung unter den Christen, um eine Annäherung sowohl der Protestanten untereinander als auch zwischen der reformierten Kirche und dem -»Gallikanismus. Pajon, D'Huisseau, selbst Amyraut und die ganze Akademie wurden von den anderen Akademien sowie den Synoden ständig verdächtigt und sorgfältig ausgegrenzt. 2.5. Die antikatholische Kontroverse und die reformierte Apologetik, Pierre Du Moulin. Die Unionisten (Saumur, der Marschall von Turenne) waren stets in der Minderzahl. Der Bürgerkrieg wurde nun durch Streitschriften weitergeführt. Dabei wurde das Problem der Gnade ausgeklammert, da es sowohl Katholiken als auch Protestanten entzweite. Die Theologen des 17. Jh. waren Theologen der Kirche, von Duplessis-Mornay bis Jurieu. Die Auseinandersetzung bewegte sich um die Geschichte und die Heilige Schrift. Die reformierte Ekklesiologie vertrat die Ansicht, die wahre Kirche sei nur auf die Heilige Schrift gegründet, die den Willen Gottes zum Ausdruck bringe; sie sei eine Gemeinschaft der Menschen, die der Gnade teilhaftig und für das Heil prädestiniert seien. Sie sei zugleich göttlich und menschlich unvollkommen, eine Gemeinschaft der Heiligen und deren sichtbare gesellschaftliche Erscheinungsform. Der wichtigste Kontroverstheologe zu Beginn des 17. Jh. war Pierre Du Moulin (1568-1658). Nach Studien in England und Holland war er Pfarrer in Blois, später in Paris (1599—1620), wo er als Hausgeistlicher der Schwester Heinrichs IV. nach dem Béarn-Krieg (1620) geächtet wurde; 1621-1658 lehrte er dann als Professor in Sedan. Während seiner Aufenthalte am englischen Hof (1615, 1625) war er im Auftrag Jakobs I. der wichtigste Betreiber einer Union zwischen Anglikanern und Reformierten. Seine Kontroversen trug er sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf volkstümlicher Ebene aus. Pierre Du Moulin verkörperte die gesamte Geistlichkeit, und zwar sowohl auf Grund seiner Ekklesiologie (die wahre Kirche ist die reine, auf das Evangelium gegründete Kirche) und seines Gomarismus (er ließ der Mehrheit von Dordrecht [1619] schriftlich seine Unterstützung zukommen und bekämpfte Amyraut), als auch auf Grund seiner Bemühungen um die Seelsorge und seiner Ergebenheit gegenüber dem König. Zu den Apologeten zählten auch Ferry, Claude und Jurieu. Der schwächste Punkt der reformierten Kontroverstheologie betraf die Heilige Schrift, deren Autorität von den Katholiken durch eine sehr gewagte Textkritik (Widersprüche, Immoralität und Inkohärenz) untergraben wurde. Diese Kritik wurde von den Reformierten fast das ganze 17. Jh. hindurch als Sakrileg angeprangert. Erst mit P. -»Bayle hörten die Calvinisten auf, in der Bibel eine geradezu mathematische Wahrheit zu sehen. Vor dreißig Jahren herrschte die Ansicht vor, daß der durch das Edikt von Nantes in ein kulturelles und gesellschaftliches Getto eingeschlossene, durch die Kontroverse mit den Katholiken erschütterte und den inneren Streit über die Gnade geschwächte Protestantismus zum Zeitpunkt der Aufhebung des Edikts von Nantes bereits am Ende gewesen sei. Heute geht

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man eher davon aus, daß er, ganz im Gegenteil, einig, stark und sogar eroberungslustig gewesen ist (Übertritte zum Protestantismus gab es auch noch im Jahre 1635).

3. Die Aufhebung des Edikts von Nantes 3.1. Die politische Theologie. Schuld am geringen Widerstand der Hugenotten war nicht die Dogmatik, sondern die politische Theologie. Als Menschen ihrer Zeit waren die Geistlichen Anhänger des Absolutismus; für sie war der Herrscher, selbst der ungläubige Monarch, von Gott eingesetzt. Die Hugenotten gingen noch weiter; sie trieben einen wahren Kult mit Ludwig XIV. (1643-1715), der im übrigen ein Gegner des Papstes war. Sie hatten der Regel cuius regio, eius religio nichts hinzuzufügen, allenfalls die unsinnige Hoffnung, der König werde sich zum wahren Glauben bekehren. Doch für diesen König stellten sie - nach derselben Logik - Rebellen dar. Die Katholiken, die den Protestantismus besiegen wollten, betrachteten sie als verhaßte Republikaner wie die Holländer oder Genfer; sie waren ja Glaubensgenossen —•Cromwells. Ihre Ergebenheits- und Liebeserklärung für den König ließ keinerlei Widerstand von ihnen erwarten. Durch die ihn empörende Koe3.2. Die Verfolgung und das Edikt von Fontainebleau. xistenz zweier Religionen verärgert, mußte Ludwig XIV. — mehr als andere Herrscher — seine katholische Rechtgläubigkeit beweisen, da er seine Verständigung mit den Türken und seinen Konflikt mit dem Papsttum zu kompensieren hatte. Die Verfolgung war zunächst verdeckt; das Edikt von Nantes wurde restriktiv ausgelegt. Nach 1659 fand keine Nationalsynode mehr statt. Die Protestanten hatten zwar Zugang zu allen Ämtern, wurden jedoch nicht mehr ernannt. Die zum Katholizismus Übergetretenen erhielten Vergünstigungen und Steuervorteile. Später kam es dann zu Kinderraub und zum Ausschluß aus allen Ämtern, aus den medizinischen und juristischen Berufen, aus den Zünften und fast allen Handwerkszweigen. Die protestantischen Kirchen wurden systematisch zerstört, die Pfarrer gefangengenommen oder verbannt. Schließlich führte das seit 1681 verbreitete System der Dragonaden (doppelte Einquartierung von Dragonern mit Plünderungsrecht) zu massiven Übertritten; es wurde Oktober 1685 durch das Edikt von Fontainebleau sanktioniert, das das Edikt von Nantes aufhob und den Protestantismus verbot. 3.3. Das Schicksal der Hugenotten. Die „Refuge". Jurieu. Die Folgen der Aufhebung des Edikts von Nantes waren unvorhersehbar. Eine beachtliche Zahl von annähernd 200000 Auswanderern strömte in das protestantische Ausland, ungeachtet der damit verbundenen Gefahren: die „Refuge". Die Flüchtlinge aus dem Süden waren zahlreicher, proportional jedoch verließen mehr Menschen aus dem Norden das Land. Sie nahmen den Weg über das Meer oder über Genf, Zürich und das Rheintal. Frankfurt bildete zunächst das Hauptsammlungszentrum für die Flüchtenden; später verteilten sie sich von hier aus auf andere Länder (s. T R E 4,768,35ff). H e u t e arbeiten Hochschullehrer in F r a n k r e i c h , in der Bundesrepublik, in den Niederlanden und in der Schweiz gemeinsam an einem europäischen P r o j e k t , das mit Hilfe der I n f o r m a t i k eine Statistik erstellen will. Weitere Untersuchungen darüber finden in G r o ß b r i t a n n i e n statt. Von daher werden w i r genauere Kenntnisse über die Z a h l der Emigranten erhalten sowie über ihre geographische, soziale und berufliche H e r k u n f t , vor allem über die der H a n d w e r k e r .

Zunächst wurden die Hugenotten überall aufnahmebereit empfangen; doch mit der Zeit führte die schwere Belastung, die sie darstellten, oftmals zu ablehnenden Reaktionen, so wie es Immigranten immer und überall ergeht. Allerdings waren alle Staaten erfreut darüber, Verstärkung an Soldaten und Offizieren zu bekommen. Man schätzt die Zahl der Flüchtlinge, die nach Großbritannien gingen, auf etwa 40000; rund 10000 davon bevölkerten bald darauf Nordirland. Auf die amerikanischen Kolonien (vor allem auf Neuengland) entfielen etwa 2000 Flüchtlinge. Die Kolonie in London war sehr bedeutend, sowohl ihre „oberen Zehntausend" (aus den Kreisen der Diplomatie, Armee und Finanzwelt) als auch ihre Armen. Die Hugenotten gründeten bzw. entwickelten die Seidenweberei, das Bauwesen und das Kunsthandwerk. Von der

626

Hugenotten

zweiten Generation an integrierten sie sich, konvertierten häufig zum Anglikanismus und anglisierten manchmal ihre Namen aus Furcht vor französischen Invasionen. Viele begaben sich in die Schweiz, aber kaum mehr als 20000 etablierten sich auf Dauer in Genf, in dem preußischen Fürstentum Neuchätel und vor allem im Waadt. So bezeugen die Banque huguenote in Genf, die Goldschmiedekunst, die Uhrmacherei und die Schokoladenfabrikation ihren Erfolg. Die alemannische Schweiz war kaum mehr als eine Durchgangsstation in Richtung der Vereinigten niederländischen Provinzen und Deutschland. Der Fall Zürich ist exemplarisch: Die Hugenotten wurden zunächst herzlich aufgenommen, später jedoch waren sie kaum noch geduldet. Die Armen belasteten die Finanzen der Stadt, und die, die zu reich waren, wie z. B. die Lyoner Seidenhändler, die den internationalen Handel beherrschten, schadeten ihren Züricher Konkurrenten, deren Geschäfte bescheidenere Ausmaße hatten. Sie galten bald als untragbar. Von alters her bestanden Verbindungen zwischen dem protestantischen Frankreich und den Vereinigten niederländischen Provinzen. Die „wallonischen Kirchen" stammten aus der Zeit der ersten „Refuge" im 16. Jh. Die Beziehungen der calvinistischen Pfarrer untereinander waren eng. Der Zustrom von Flüchtlingen war hier am stärksten, aber viele zogen auch weiter. Die wirtschaftliche Erweiterung, die man sich erhofft hatte, führte nur zu mittelmäßigen Resultaten, aber der geistliche und intellektuelle Einfluß war beträchtlich, denn die angesehensten französischen Pfarrer waren dort: die Basnages, die Saurins, Jean Claude, Elie Benoist, Pierre -»Bayle, Pierre Jurieu u. a. Die internen Streitigkeiten des französischen Protestantismus wurden fortan in Holland ausgetragen; von dort aus wollte Jurieu die in Frankreich verbliebenen Reformierten führen. D e r a u s einer Pastorenfamilie s t a m m e n d e Pierre Jurieu ( 1 6 3 7 - 1 7 1 3 ) , ein Enkel Pierre Du M o u lins, h a t t e in S a u m u r u n d Sedan studiert. Er w a r P f a r r e r in Poitou u n d Professor in Sedan gewesen, bevor er 1681 emigrierte u n d die Pfarrstelle an der wallonischen Kirche in R o t t e r d a m ü b e r n a h m . Seit 1675 veröffentlichte er n a h e z u jedes J a h r eine theologische A b h a n d l u n g u n d w a r ein leidenschaftlicher G e g n e r des A r m i n i a n i s m u s . Von H o l l a n d a u s p r a n g e r t e er die Verfolgung der H u g e n o t t e n a n , beteiligte sich jedoch bis 1685 selbst an der Verehrung L u d w i g s XIV.; d a n a c h lehnte er die M o n a r c h i e grundsätzlich a b u n d rief als mystischer u n d a p o k a l y p t i s c h e r P r o p h e t zur Revolte auf. Er s a n d t e 68 geistliche Briefe n a c h Frankreich, spielte eine Rolle bei der Konstitution der gegen Frankreich gerichteten deutsch-spanischen Augsburger Allianz (1686) u n d b e m ü h t e sich u m eine Versöhnung zwischen L u t h e r a n e r n u n d Calvinisten. Er f ü h r t e einen aktiven Feldzug gegen Bayle, der sich von der Revolte nichts versprach u n d eher auf - » T o l e r a n z setzte. Sein ungestümes Verhalten trieb ihn in die Isolation, u n d gegen E n d e seines Lebens sah er sich zu seinem K u m m e r von Elias Saurin des Pelagianismus angeklagt.

In Holland veröffentlichte Bayle seine Hauptwerke. Wie überall waren auch in den Vereinigten niederländischen Provinzen Offiziere und Soldaten willkommen, aber die Armen wurden kaum geduldet und mußten sich entweder bald integrieren oder auswandern (nach England, Deutschland, Amerika, Südafrika). Die Bewunderung für Frankreich hatte manchmal auch negative Auswirkungen. So trug Daniel Marot dazu bei, daß die holländischen Maler sich von ihrer nationalen Tradition abwandten und zu einer blassen Imitation des versaillischen Pomps übergingen. Die Schwierigkeiten, auf die die Hugenotten in der Schweiz oder in Holland gestoßen waren, mußten sich in Deutschland wiederholen, wobei erschwerend hinzukam, daß der deutsche Protestantismus lutherischer Ausprägung war. Hier fanden sie allerdings anstelle eines städtischen Patriziats Fürsten vor, die es gern sahen, wie ihre vom -»Dreißigjährigen Krieg verwüsteten Länder sich wieder bevölkerten. Sie siedelten die Hugenotten in sogenannten Kolonien an, die von der Oberschicht und den Pfarrern geführt wurden; sie hatten ihre eigenen kirchlichen, schulischen und rechtlichen Institutionen. Deshalb war der Einfluß der Hugenotten auf Deutschland, obgleich er sich in Holland für kurze Zeit stärker bemerkbar gemacht hatte, auf die Dauer prägender in seinen Auswirkungen auf Staat und Gesellschaft. Die Flüchtlinge waren zahlreich vertreten (30000?) in der Landgrafschaft von Hessen-Kassel (s. TRE 15,269,6 ff) und in den Ländern der Hohenzollern

Hugenotten (Edikt

von

Potsdam

[8.11.1685]

des

brandenburgischen

627 Kurfürsten

Friedrich

Wil-

h e l m s I . ) ; sie b i l d e t e n k l e i n e , in s i c h a b g e s c h l o s s e n e G r u p p e n in F r a n k e n , H a m b u r g , in d e r Pfalz und Sachsen. Ü b e r a l l s p i e l t e n sie s e l b s t o d e r i h r e N a c h k o m m e n e i n e w i c h t i g e R o l l e a u f w i r t s c h a f t l i c h e m , m i l i t ä r i s c h e m , i n t e l l e k t u e l l e m u n d k ü n s t l e r i s c h e m G e b i e t , v o r a l l e m in B r a n d e n b u r g - P r e u ß e n (s. T R E 7 , 1 1 5 , 2 4 ff). M a n e r i n n e r e s i c h n u r a n N a m e n w i e N a u d é , A n c i l l o n , R e c l a m , Pesne, L a M o t t e - F o u q u e , F o n t a n e . Die Zweisprachigkeit der Aristokratie führte z u e i n e r k u l t u r e l l e n V e r m i s c h u n g , f ü r d i e F r i e d r i c h II. u n d sein B r u d e r H e i n r i c h d e u t l i c h e Beispiele sind. A b e r die - » F r a n z ö s i s c h e R e v o l u t i o n und die I n v a s i o n v o n 1 8 0 6 b e w i r k t e n z u s a m m e n mit d e m preußischen Patriotismus, d a ß die H u g e n o t t e n radikal mit ihrer Tradition brachen. Ihre Institutionen v e r s c h w a n d e n mit A u s n a h m e des Collège royal. N a c h der Einigung D e u t s c h l a n d s w ü r d i g t e B i s m a r c k die R o l l e , die die T r a d i t i o n d e r H u g e n o t t e n gespielt h a t t e , für die G e s t a l t u n g Preußens. Einige wenige Flüchtlinge gingen nach D ä n e m a r k , Schweden und sogar nach Rußland. Ein N e t z v o n internationalen Verbindungen h a t sich z w i s c h e n den F a m i l i e n gebild e t , d i e ü b e r d i e g a n z e W e l t v e r s t r e u t s i n d . D i e in F r a n k r e i c h v e r b l i e b e n e n P r o t e s t a n t e n e r h o l t e n sich w i e d e r u n d leisteten W i d e r s t a n d . D i e Religionsfreiheit w u r d e

1787—1789

wieder eingeführt. Quellen M o ï s e A m y r a u t , T r a i t é des religions c o n t r e c e u x qui les estiment toutes indifférentes, S a u m u r 1631. - Ders., Bref traité de la prédestination et de ses principales dépendances, S a u m u r 1634. - Louis A n d r é , Les sources de l'histoire de F r a n c e , X V l I e siècle, Paris 1932. - A n o n , Le Reveille M a t i n des F r a n ç a i s , o . O . u . J . [1572]. - Agrippa l'Aubigné, L'histoire universelle, M a i l l é 1 6 1 6 - 1 6 2 0 , G e n f 4 1 9 8 1 . - J e a n A y m o n , T o u s les Synodes n a t i o n a u x des Eglises réformées de F r a n c e , L a H a y e 1710. Elie Benoît, Histoire de l'Edit de N a n t e s , Delft 1 6 9 3 - 1 6 9 5 . - Pierre B e r n a r d , L'explication de l'Edit de N a n t e s avec les nouvelles o b s e r v a t i o n s . . . t o u c h a n t la religion prétendue r é f o r m é e , Paris 1683. T h é o d o r e de Bèze, Du droit des magistrats sur leurs sujets, o . O . 1574 (s. T R E 5 , 7 7 3 , 2 4 f ) - - D c r s . , Histoire ecclésiastique des églises réformées de France, G e n f 1580. - D e r s . , C o r r e s p o n d a n c e 1 5 3 9 - 1 5 6 7 , G e n f 1 9 6 0 - 1 9 7 6 . - H a n s Bots/Pierre Leroy (Ed.), C o r r e s p o n d a n c e intégrale d ' A n d r é Rivet et de Claude Sarrau ( 1 6 4 1 - 1 6 5 0 ) , Amsterdam 1 9 7 8 - 1 9 8 2 . - S t e p h a n u s J u n i u s Brutus, Vindic t e c o n t r a tyrannos, o. O . u. J . - J e a n C a m e r o n , Traité auquel sont e x a m i n e z les Prejugez de ceux de l'Eglise romaine contre la Religion r é f o r m é e , La Rochelle 1618. — J e a n C l a u d e , L a Défense de la R é f o r m a t i o n , contre le livre intitulé Préjugés légitimes contre les Calvinistes, Quevilly 1673. - Ders., Les plaintes des protestants cruellement opprimés dans le R o y a u m e de F r a n c e , Köln 1686. - F r a n k Delteil, L'enquête sur les documents c o n c e r n a n t les débuts de la R é f o r m a t i o n : B S H P F 105 (1959) 1 2 2 - 1 3 5 . - Pierre Du M o u l i n , A n t i c o t o n , o . O . 1610. - Ders., Bouclier de la foi, C h a r c n t o n 1618. D e r s . , A n a t o m e Arminianismi, Leiden 1619. - D e r s . , Nouveauté du papisme, Sedan 1 6 2 7 . - Paul Ferry, Le dernier désespoir de la tradition c o n t r e l'Ecriture, Sedan 1618. - H e n r i H a u s e r , Les Sources de l'Histoire de France X V I e siècle, Paris 1 9 1 2 / 1 9 1 5 . - François H o t m a n , F r a n c o G a l l i a , G e n f 1573. Isaac D ' H u i s s e a u , La discipline des Eglises réformées de France, G e n f 1666. — D e r s . , L a réunion du christianisme, S a u m u r 1670. - Philippe J o u t a r d (Hg.), J o u r n a u x c a m i s a r d s , Paris 1975. - Pierre J u r i e u , L a Vray système de l'Eglise et la véritable Analyse de la foy, D o r d r e c h t 1 6 8 6 . - Ders., L ' a c c o m p l i s s e m e n t des prophéties, R o t t e r d a m 1686. - D e r s . , Le Tableau du S o c i n i a n i s m e , L a H a y e 1690. - Emile Guillaume L é o n a r d , Bibliographie du protestantisme françois: R H 2 1 0 / 2 1 1 2 1 2 ( 1 9 5 3 / 1 9 5 4 ) 3 0 7 - 3 4 0 . 4 1 - 7 1 . 2 7 9 - 3 2 6 . - J e a n M e s t r e z a t , Traité de l'Eglise, G e n f 1649. - J e a n - B a p t i ste M o r e l l i , Traité de la Discipline et police chrestienne, Lyon 1562. - L é o n Pilatte (Ed.), Edits, déclarations et arrêts c o n c e r n a n t la réligion réformée 1 6 6 2 - 1 7 5 1 , Paris 1 8 8 5 . - Philippe du PlessisM o r n a y , Traité de l'Eglise, la R o c h e l l e 1600. - Les R é f o r m é s à la fin du X V I siècle. Relevés de d o c u m e n t s dans les fonds d'archives, Paris 1972. - André Rivet, Le C a t h o l i q u e o r t h o d o x e opposé au c a t h o l i q u e papiste, S a u m u r 1616. - D e r s . , Synopsis doctrinae de natura et gracia e x c e r p t a e x M o s i s Amyraldi, Amsterodami 1649. - G u i l l a u m e R i v e t , Vindiciae evangelicae de j u s t i f i c a t i o n e . . . , Amstelaedami 1648. - Edith T h o m a s , Les Sources de l'histoire du protestantisme a u x Archives nationales: B S H P F 9 6 (1949) 1 0 7 - 1 0 9 . - J a c o b i Augusti T h u a n i Historiarum sui temporis, Paris 1 6 0 4 , Frankfurt » 1 6 2 5 , L o n d o n »1733.

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Hugo von St. Viktor

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die Lit. des Refuge, Berlin 1959. - Paul Jacobs, Das hugenottische Bekenntnis: EvTh 19 (1959) 203—208. - Ph. Joutard/J. Estèbe/El. Labrousse/J. Lecuir, La Saint-Barthelemy ou les résonnances d'un massacre, Neuchâtel 1976. - Philippe Joutard, La légende des Camisards, Paris 1977. - Robert M . Kingdon, Geneva and the consolidation to the French Protestant Movement ( 1 5 5 9 - 1 5 9 8 ) : A contribution of History of Congregationalism, Presbyterianism and Calvinist Resistance Theory, 1967 ( T H R 92). - Frederick R. Knetsch, Pierre Jurieu, theoloog en politikus der Refuge, Kampen 1967. - Elisabeth Labrousse, Le Refuge hollandais, Bayle et Jurieu: Paris X V l I e siècle (1967) 7 5 - 9 3 . François Laplanche, L'Orthodoxie et prédication. L'œuvre d'Amyraut et la querelle de la grâce universelle, Paris 1965. - Jacques Le Brun, Les œuvres spirituelles de Pierre Jurieu: Travaux de linguistique et de littérature X I I I 2 , Strasbourg 1975,425 - 4 4 1 . - E . Merzeau, L'Académie protestante de Saumur, Alençon 1908. - Jürgen Moltmann, Prädestination u. Heilgesch. bei Moyse Amyraut: Z K G 65 (1953/54) 2 7 0 - 3 0 3 . - Richard Nürnberger, Die Politisierung des franz. Protestantismus, Tübingen 1948. - Jean Orcibal, Etat présent des recherches sur la répartition géographique des „Nouveaux-Catholiques" à la fin du XVIIe siècle, Paris 1948. - Raoul Patry, Philippe du PlessisMornay, un huguenot homme d'Etat ( 1 5 4 9 - 1 6 2 3 ) , Paris 1933. - Jacques Pineaux, La poésie des protestants de langue française 1 5 5 9 - 1 5 9 8 , Paris 1971. - Michel Reulos, L'organisation des Eglises réformées françaises et le synode de 1559: BSHPF 105 (1959) 9 - 2 4 . - Ders., Synodes, Assemblées politiques de Réformés français et théorie des Etats: Album Lousse 2, Louvain 1 9 6 3 , 9 7 - 1 1 1 . - Ders., L'Histoire de la discipline des Eglises réformées de France: La Storia del Diritto nel Quadro Delle Scienze Storiche, Florenz 1966, 5 3 3 - 5 4 4 . - Ders., Les sources du droit ecclésiastique des Eglises réformées en France aux XVIe et XVIIe siècles: Etudes de droit canonique dédiées à Gabriel L.e Bras, Paris 1965, 3 4 3 - 3 5 2 . - Ders., La Monocratie chez les Réformés français aux X V I e - X V I I e siècles: R S J B 22 (1969) 6 5 7 - 6 7 4 . - Willy Richard, Unters, zur Genesis der réf. Kirchenterminologie der Westschweiz u. Frankreich, Bern 1959. - Lucien Rimbault, Pierre Du Moulin, 1 5 6 8 - 1 6 5 8 , Paris 1966. - Nancy Lyman Roelker, Queen of Navarre Jeanne d'Albret 1 5 2 8 - 1 5 7 2 , Cambridge (USA) 1968; franz. v. Jeanne d'Albret, Paris 1979. - Lucien Romicr, Le royaume de Catherine de Médicis, Paris 1922. - Ders., Catholiques et huguenots à la cour de Charles I X , Paris 1924. - Klaus Scholder, Ursprünge u. Probleme der Bibelkritik im 17. Jh., München 1966. - Georges Scrr, Henri de Rohan, Paris 1946.1975. - Remi Snocks, L'argument de tradition dans la controverse eucharistique entre catholiques et réformés français au XVIIe siècle, Louvain 1951. - Alfred Soman, The Massacre of St Bartholomew, La Haye 1974. - Richard Stauffer, Moïse Amyraut. Un précurseur français de l'œcuménisme, Paris 1962. - Ders., L'affaire d'Huisscau. Une controverse protestante au sujet de la réunion des chrétiens ( 1 6 7 0 - 1 6 7 1 ) , 1969 (BSPHK 76). - Ders., Calvinism and the Univcrsities: Lectures from the University of Copenhagen Symposium, Leiden 19S 1 , 7 6 - 9 8 . - Otto Erich StrasserBertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, 1975 (KiG 3 . M 2). - Rudolf v. Thadden/Michelle Magdelaine (Hg.), Die Hugenotten 1 6 8 5 - 1 9 8 5 , München 1985 (Lit.). - Arie Thcodorus Van Deursen, Professions et métiers interdits, Groningen 1960. - Daniel Vidal, L'ablatif absolu. Théorie du prophétisme, Paris 1 9 7 7 . - D e r s . , Le malheur et le prophète 1 6 8 5 - 1 7 2 5 , Paris 1 9 8 3 . - B e r n a r d Vogler, Le rôle des Electeurs palatins dans les guerres de Religion en France 1 5 5 9 - 1 5 9 2 : CH 10 (1965) 5 1 - 2 5 . - Georges Weill, Les théories sur le pouvoir royal en France pendant les guerres de religion, Paris 1891. - Alice Wcmyss, Les protestants deu Mas-d'Azil 1 6 8 0 - 1 8 3 0 , Toulouse 1961. - Myriam Yardeni, La conscience nationale en France pendant les guerres de religion, Paris 1971. - Henri Zuber, Recherches sur l'activité politique et diplomatique de Henri de la T o u r . . . ( 1 5 7 3 - 1 6 2 3 ) , Diss. Paris Ecole des Chartes 1982.

Henri Dubief Hugo von St. Viktor 1. Leben

2. Schriften

3. Wirkung

(Werke/Literatur S. 634)

1. Leben Uber Hugos Herkunft gibt es unterschiedliche Meinungen. Er selbst sagt in seinem Didascalicon (III 19), er habe in sehr jungen Jahren seine Heimat verlassen. Die genaueren Zeugnisse aber, über die wir verfügen, gehen auseinander: Zum einen heißt es, er sei sächsischer Herkunft, zum anderen, er stamme aus Flandern, und einmal schließlich wird auch Lotharingien als seine Heimat genannt. Von sächsischer Herkunft spricht die Chronik Alberichs von Troisfontaines aus der M i n e des 13. Jh.: Dicunt eum natum fuisse de Saxonia (MGH.SS 23, 1874, 829 [Es heißt, er sei aus Sachsen gebürtig]). Das Nekrologium von St. Viktor, das uns in einer Handschrift des 14. J h . vorliegt, dessen

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die Lit. des Refuge, Berlin 1959. - Paul Jacobs, Das hugenottische Bekenntnis: EvTh 19 (1959) 203—208. - Ph. Joutard/J. Estèbe/El. Labrousse/J. Lecuir, La Saint-Barthelemy ou les résonnances d'un massacre, Neuchâtel 1976. - Philippe Joutard, La légende des Camisards, Paris 1977. - Robert M . Kingdon, Geneva and the consolidation to the French Protestant Movement ( 1 5 5 9 - 1 5 9 8 ) : A contribution of History of Congregationalism, Presbyterianism and Calvinist Resistance Theory, 1967 ( T H R 92). - Frederick R. Knetsch, Pierre Jurieu, theoloog en politikus der Refuge, Kampen 1967. - Elisabeth Labrousse, Le Refuge hollandais, Bayle et Jurieu: Paris X V l I e siècle (1967) 7 5 - 9 3 . François Laplanche, L'Orthodoxie et prédication. L'œuvre d'Amyraut et la querelle de la grâce universelle, Paris 1965. - Jacques Le Brun, Les œuvres spirituelles de Pierre Jurieu: Travaux de linguistique et de littérature X I I I 2 , Strasbourg 1975,425 - 4 4 1 . - E . Merzeau, L'Académie protestante de Saumur, Alençon 1908. - Jürgen Moltmann, Prädestination u. Heilgesch. bei Moyse Amyraut: Z K G 65 (1953/54) 2 7 0 - 3 0 3 . - Richard Nürnberger, Die Politisierung des franz. Protestantismus, Tübingen 1948. - Jean Orcibal, Etat présent des recherches sur la répartition géographique des „Nouveaux-Catholiques" à la fin du XVIIe siècle, Paris 1948. - Raoul Patry, Philippe du PlessisMornay, un huguenot homme d'Etat ( 1 5 4 9 - 1 6 2 3 ) , Paris 1933. - Jacques Pineaux, La poésie des protestants de langue française 1 5 5 9 - 1 5 9 8 , Paris 1971. - Michel Reulos, L'organisation des Eglises réformées françaises et le synode de 1559: BSHPF 105 (1959) 9 - 2 4 . - Ders., Synodes, Assemblées politiques de Réformés français et théorie des Etats: Album Lousse 2, Louvain 1 9 6 3 , 9 7 - 1 1 1 . - Ders., L'Histoire de la discipline des Eglises réformées de France: La Storia del Diritto nel Quadro Delle Scienze Storiche, Florenz 1966, 5 3 3 - 5 4 4 . - Ders., Les sources du droit ecclésiastique des Eglises réformées en France aux XVIe et XVIIe siècles: Etudes de droit canonique dédiées à Gabriel L.e Bras, Paris 1965, 3 4 3 - 3 5 2 . - Ders., La Monocratie chez les Réformés français aux X V I e - X V I I e siècles: R S J B 22 (1969) 6 5 7 - 6 7 4 . - Willy Richard, Unters, zur Genesis der réf. Kirchenterminologie der Westschweiz u. Frankreich, Bern 1959. - Lucien Rimbault, Pierre Du Moulin, 1 5 6 8 - 1 6 5 8 , Paris 1966. - Nancy Lyman Roelker, Queen of Navarre Jeanne d'Albret 1 5 2 8 - 1 5 7 2 , Cambridge (USA) 1968; franz. v. Jeanne d'Albret, Paris 1979. - Lucien Romicr, Le royaume de Catherine de Médicis, Paris 1922. - Ders., Catholiques et huguenots à la cour de Charles I X , Paris 1924. - Klaus Scholder, Ursprünge u. Probleme der Bibelkritik im 17. Jh., München 1966. - Georges Scrr, Henri de Rohan, Paris 1946.1975. - Remi Snocks, L'argument de tradition dans la controverse eucharistique entre catholiques et réformés français au XVIIe siècle, Louvain 1951. - Alfred Soman, The Massacre of St Bartholomew, La Haye 1974. - Richard Stauffer, Moïse Amyraut. Un précurseur français de l'œcuménisme, Paris 1962. - Ders., L'affaire d'Huisscau. Une controverse protestante au sujet de la réunion des chrétiens ( 1 6 7 0 - 1 6 7 1 ) , 1969 (BSPHK 76). - Ders., Calvinism and the Univcrsities: Lectures from the University of Copenhagen Symposium, Leiden 19S 1 , 7 6 - 9 8 . - Otto Erich StrasserBertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, 1975 (KiG 3 . M 2). - Rudolf v. Thadden/Michelle Magdelaine (Hg.), Die Hugenotten 1 6 8 5 - 1 9 8 5 , München 1985 (Lit.). - Arie Thcodorus Van Deursen, Professions et métiers interdits, Groningen 1960. - Daniel Vidal, L'ablatif absolu. Théorie du prophétisme, Paris 1 9 7 7 . - D e r s . , Le malheur et le prophète 1 6 8 5 - 1 7 2 5 , Paris 1 9 8 3 . - B e r n a r d Vogler, Le rôle des Electeurs palatins dans les guerres de Religion en France 1 5 5 9 - 1 5 9 2 : CH 10 (1965) 5 1 - 2 5 . - Georges Weill, Les théories sur le pouvoir royal en France pendant les guerres de religion, Paris 1891. - Alice Wcmyss, Les protestants deu Mas-d'Azil 1 6 8 0 - 1 8 3 0 , Toulouse 1961. - Myriam Yardeni, La conscience nationale en France pendant les guerres de religion, Paris 1971. - Henri Zuber, Recherches sur l'activité politique et diplomatique de Henri de la T o u r . . . ( 1 5 7 3 - 1 6 2 3 ) , Diss. Paris Ecole des Chartes 1982.

Henri Dubief Hugo von St. Viktor 1. Leben

2. Schriften

3. Wirkung

(Werke/Literatur S. 634)

1. Leben Uber Hugos Herkunft gibt es unterschiedliche Meinungen. Er selbst sagt in seinem Didascalicon (III 19), er habe in sehr jungen Jahren seine Heimat verlassen. Die genaueren Zeugnisse aber, über die wir verfügen, gehen auseinander: Zum einen heißt es, er sei sächsischer Herkunft, zum anderen, er stamme aus Flandern, und einmal schließlich wird auch Lotharingien als seine Heimat genannt. Von sächsischer Herkunft spricht die Chronik Alberichs von Troisfontaines aus der M i n e des 13. Jh.: Dicunt eum natum fuisse de Saxonia (MGH.SS 23, 1874, 829 [Es heißt, er sei aus Sachsen gebürtig]). Das Nekrologium von St. Viktor, das uns in einer Handschrift des 14. J h . vorliegt, dessen

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erste Redaktion aber zweifellos wesentlich älter ist, führt Hugo ohne Angaben über seine Heimat auf (Molinier 541), nennt jedoch noch einen weiteren Hugo, einen Onkel des Erstgenannten, der Archidiakon in Halberstadt gewesen und seinem Neffen nach St. Viktor gefolgt sei und dort sein Leben beschlossen habe (ebd. 558). Dazu scheint das Zeugnis der Widmungsvorrede von De arrha animae zu passen (PL 176,951 f, verbesserter Text bei Miethke 244 u. Ehlers 28), das an die Kanoniker von Hamersleben nördlich von Halberstadt gerichtet ist und in seiner persönlichen Färbung zu erkennen gibt, daß Hugo mehrere Angehörige dieses Konvents gekannt hat. Man hat daraus geschlossen, daß er dort gelebt und die Anfänge seiner Bildung erhalten hat. Verwiesen wird auch darauf, daß De virtute orandi einem domno et patri Th. (und nicht H., wie es PL 176,977 heißt) gewidmet ist und Hugo in einer in den Ausgaben übergangenen, aber von einigen Handschriften bezeugten Wendung der Vorrede dazu dieser Persönlichkeit die Seele seines Onkels anempfiehlt (Ehlers 2 8 - 3 0 ) . Der Widmungsempfänger könnte demnach der Hamerslebener Propst Thietmar (gest. 1138) sein und der erwähnte Onkel der Hugo nach Paris gefolgte Halberstädter Archidiakon. Nach späteren Darstellungen soll Hugo überdies zur Familie der Grafen von Blankenburg gehört haben und Neffe des Bischofs Reinhard von Halberstadt gewesen sein (Taylor), wie es unter Berufung auf Urkunden heißt, von denen jedoch bislang keine sich hat auffinden lassen, so daß diese genealogischen Zuordnungen unbeweisbar bleiben. Auf flandrische Herkunft dagegen weisen zwei Handschriften des 12. Jh. (Douai 361 u. 362) mit einer Notiz, nach der Hugo aus dem Gebiet von Ypern stammen soll: ex Iprensi territorio ortus. Um diese Vorstellung mit den Gegebenheiten der Widmungsvorrede von De arrha animae zu vereinbaren, ist entweder angenommen worden, eine Gruppe von Kanonikern aus Hamersleben habe sich eine Zeit lang in Paris niedergelassen und dort Beziehungen zu Hugo angeknüpft (Croydon 233.248), oder, Hugo sei zwar flämischer Herkunft gewesen, habe sich aber in Hamersleben aufgehalten, bevor er nach Paris kam (Baron 1969, 202). Von einer lotharingischen Heimat schließlich ist die Rede in der Robert von Torigny zugeschriebenen Schrift De immutatone ordinis monachorum, die auf die bald nach der Gründung des Stifts, zur Zeit des Abtes Gilduin in Sankt Viktor Eintretenden zu sprechen kommt und dabei Hugo die Hcrkunftsbezeichnung I.othariensis beilegt (PL 202,1313). Diesem Hinweis ist allerdings kaum Gewicht beigemessen worden. Man vermutet, Robert von Torigny habe möglicherweise Sachsen oder Flandern mit Lotharingien verwechselt, dessen Grenzen sehr unbestimmt waren.

Wir wissen daher wirklich nur, dai? Hugo schon als sehr junger Mann in -»Sankt Viktor nach 1114 eingetreten ist und von Abt Gilduin aufgenommen wurde. Gegründet hatte das Stift der Magister der Schule von Notre-Dame in Paris Wilhelm von Champeaux, der sich 1108 mit einigen Schülern in einer Sankt Viktor geweihten Einsiedelei am linken Seineufer niedergelassen hatte, um dort mit ihnen das Leben von Regularklerikern zu führen. Er hatte aber bald seine Lehrtätigkeit wieder aufgenommen und eine Schule eröffnet. Nachdem er 1113 Bischof von Châlons geworden war, erreichte er, daß Sankt Viktor als Regularkanonikerstift eingerichtet wurde, zu dessen Abt dann Gilduin gewählt wurde. Ob Hugo in der entstehenden Schule Unterricht erhalten hat, ist unbekannt. Sicher ist jedoch, daß er dort gelehrt hat. In einem von Bischoff entdeckten Brief berichtet einer seiner Schüler, daß er sich während der Vorlesungen Hugos über die Sakramente Aufzeichnungen gemacht und sie ihm dann vor der Ausarbeitung einer Zusammenfassung gezeigt habe. Als Lehrer kümmerte sich Hugo auch um die geistliche Bildung der jungen Religiösen. Z w a r ist die Zuschreibung der Expositio in regulam beati Augustini (PL 1 7 6 , 8 8 1 - 9 2 4 ) an ihn nicht aufrecht zu erhalten (Van den Eynde, Deux traités; Châtillon, Un commentaire), doch ist er Verfasser einer Schrift De institutione novitiorum (PL 1 7 6 , 9 2 5 - 9 5 2 ) , und De arca Noe morali (PL 1 7 6 , 6 1 7 - 6 8 0 ) enthält Hinweise auf geistliche Gespräche mit seinen Schülern. Darüber hinaus sind wir über sein Wirken nur schlecht unterrichtet. Trotz einiger anderslautender Quellenhinweise ist er anscheinend niemals Prior gewesen. Dagegen hat es Anlässe gegeben, die ihn auch aus dem Kloster herausgeführt haben. Eine im Nekrologium erwähnte Reise nach Marseille (Molinier 541) ist zwar in Zweifel gezogen worden, sicher ist indessen, daß er gegen 1125/30 einer Abtswahl im Kloster Morigny im Bistum Arras beigewohnt hat (Ehlers 34). Aus einem seiner Briefe (PL 176,1011) ist von einer Reise nach Mauriac im Bistum Clermont zu erfahren. Ein anderer an die Kanoniker von Lucca gerichteter Brief gibt zu verstehen, daß er auch nach Italien und möglicherweise nach R o m gekommen sei (Croydon 251; Baron: DSp 7,932), doch ist seine Echtheit angefochten worden (Schütz 6; Ehlers 34). Gestorben ist Hugo am 11. Februar 1141, wie es heißt, im Alter von 4 0 oder 4 2 Jahren. Der seinerzeitige Infirmar

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von Sankt Viktor, Osbert, hat einen bewegenden Bericht von seiner Sterbestunde aufgezeichnet (PL 175.CLXI-CLXIII). 2. Schriften Die einzige leicht zugängliche Gesamtausgabe ist die von Migne (PL 175-177). Sie ist im wesentlichen ein Abdruck der 1648 in Rouen erschienenen und bleibt völlig unzulänglich. Die Texte sind häufig lückenhaft, unechte oder in ihrer Zuschreibung zweifelhafte Schriften sind aufgenommen und auf der anderen Seite zweifelsfrei echte übergangen. Von einigen Schriften gibt es mittlerweile Neuausgaben, dazu Ausgaben bislang unedierter Werke. Die zuverlässigste und vollständigste Aufstellung der echten Schriften Hugos bringt Van den Eynde (Essai 14-34). Sie führt 250 Titel auf, von denen 171 den vornehmlich in Buch I der Miscellanea der alten Ausgaben (PL 177,469-588) abgedruckten Sententiae breviores entsprechen. Mehr summarische Zusammenstellungen finden sich bei Ehlers (186-202) und Goy. Im folgenden werden nur die wichtigsten der echten Schriften genannt. 2.1. Propädeutische Schriften. Nach der Chronologie von Van den Eynde (1960, 47—58) sind hier an erster Stelle die Practica geometriae, De grammatica und die Epitome Dindimi adphilosophiam aufzuführen, die zweifellos vor 1125 verfaßt sind. Die wichtigste Abhandlung auf diesem Gebiet indessen ist das etwas spätere Didascalicon de studio legendi. Dieses berühmte Werk ist eine in sechs Bücher gegliederte Gesamteinführung in das Studium der Disziplinen, die es auf dem Wege zur Einsicht zu handhaben gilt. Die drei ersten Bücher gelten den weltlichen Disziplinen und ihrem Studium. Sie bieten eine Einteilung der Wissenschaften, die von der des -»Boethius beeinflußt ist, jedoch bemerkenswerterweise neben der theoretischen und praktischen Philosophie und der Logik, die sämtliche Wissenschaften und die -»Artes liberales in sich schließen, der mechanica, der menschlichen Technik und Kunstfertigkeit, eine Stelle einräumt. Die drei weiteren Bücher behandeln die geheiligte Wissenschaft, die sacra pagina, die ihre Grundlage in der Heiligen Schrift und den Vätern findet. Hugo legt darin die Regeln dar, die es zu beachten gilt, um den Schriftsinn in seinen verschiedenen Stufen (-»Hermeneutik, -»Schriftauslegung) zu enthüllen (Smalley 83—106; de Lubac; Brinkmann). Er besteht zunächst nachdrücklich auf dem buchstäblichen oder historischen Sinn, dessen Erforschung bei ihm auch ein Interesse am hebräischen Text wachruft. Es folgt der allegorische Sinn als der theologische Schriftsinn schlechthin und schließlich der moralische oder tropologische. Erneut werden diese Auslegungsgrundsätze in De scripturis et scriptoribus sacris (PL 175,9-28), einer kurzen hermeneutischen Abhandlung, dargelegt. Diesen Schriften mag man noch ein fast zur Gänze unediertes Chronicon zur Seite stellen, dessen Vorrede De tribus maximis circumstanciis gestorum betitelt ist. Diese Arbeit belegt das Gewicht, das Hugo der Chronologie, der Geschichte und der Geographie für das Schriftstudium beimißt. 2.2. Exegetische Schriften. Die Heilige Schrift kommt allenthalben im Werk Hugos zur Geltung, einige seiner Arbeiten aber sind insonderheit ihrer Kommentierung gewidmet. In seinen Notulae in Pentateuchum, in librum ludicum et in libros Regum (PL 175,29-114), die vornehmlich auf den buchstäblichen oder historischen Sinn ausgerichtet sind, hat er die ersten Bücher der Bibel glossiert. Der historische als der erste Schriftsinn k o m m t ihm auch weiterhin niemals ganz aus dem Blick, auch nicht in den Kommentaren, die in erster Linie dem allegorischen oder moralischen Sinn nachgehen wie die Bemerkungen In quosdam Psalmos (PL 177,589-632), die Erläuterungen In canticum beatae Mariae (PL 175,413-422) und In orationem dominicam (ebd. 774-789), und selbst nicht in den bedeutsamen Homiliae in Ecclesiasten (PL 176,114-256), einem ausgesprochenen Zeugnis spiritueller Theologie. Zuweilen unternimmt Hugo es überdies auch, alle drei Stufen des Schriftsinnes systematisch zu ermitteln, insbesondere in seiner Schrift In Threnos Jeremiae (PL 175,255 -322). Außer einem halben Hundert von Sententiae breviores (Van den Eynde 1960, 17-19) ordnet man dem exegetischen Werk Hugos häufig auch

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noch seine Expositio in Hierarchiam coelestem sancti Dionysii (PL 175,923-1154) zu. Nicht ohne Zurückhaltung bedient er sich darin der Ubersetzung und Kommentierung des -»Dionysius Areopagita durch -»Johannes Scotus Eriugena und sucht zum wirklichen Denken des Areopagiten durchzustoßen, bei dem er die Grundlagen seiner eigenen Theologie des Symbols und des „Sakramentes" findet. Er legt aber auch „der Lehre des Dionys eine sehr persönliche Note" bei und „versieht alle wesentlichen Begriffe des dionysianischen Systems mit einem praktischen und affektiven Zug" (Roques [1958] 266; [1962] 363 f). 2.3. Systematische Schrif ten. Die bedeutsamste der dogmatischen Arbeiten Hugos ist seine Schrift De sacramentis christianae fidei (PL 176,173—618), Ertrag einer Auseinandersetzung, die den größten Teil seines Schaffens in Anspruch genommen hat. Ein erster Entwurf dazu liegt in den von seinem Schüler Laurentius zusammengestellten Sententiae de divinitate (ed. Piazzoni) vor. Zahlreiche Elemente dieser eindrucksvollen Gesamtschau scheinen aber auch in Hugos Bibelkommentaren auf, in seinen Briefen, in seinen mystisch-theologischen Schriften oder in Sententiae breviores. Auf der anderen Seite stellt De sacramentis aber auch eine geschlossene Einheit dar. Als Thema der Schrift weist der Titel die „Sakramente des Glaubens" aus, wobei „Sakramente" die sichtbaren Zeichen der unsichtbaren Wirklichkeiten sind, an denen sie teilhaben (Weisweiler, Sakrament; Schütz 2 4 4 - 2 4 6 ) . Es geht demnach um eine Gesamtdarstellung der Glaubensmysterien. Das sichtbare Universum, die Ereignisse der Gcschichte, die Gegebenheiten des menschlichen Daseins und des Geisteslebens sind gleichermaßen Symbole, in denen sich die darin beschlossene Sinnhaftigkeit, Harmonie und Schönheit zu erkennen gibt. Die wesentliche Originalität dieses Gesamtentwurfs liegt in seiner heilsgeschichtlichen Ausrichtung. Das All und der Mensch sind aus Gottes Hand hervorgegangen und bestimmt, in sie zurückzukehren. Hugo handelt daher der Reihe nach von der Schöpfung (opus creationis) und dem Sündenfall, dann von der „Wiederherstellung" (opus restaurationis), die in drei „Zeiten" zur Verwirklichung kommt, der Zeit der Natur, deren Kennzeichen die Stiftung der „Sakramente" des natürlichen Gesetzes ist, der Zeit des Gesetzes, mithin der Zeit der „Sakramente" des geschriebenen Gesetzes, und schließlich der Zeit der Gnade, und das heißt der Zeit des neuen Gesetzes, der Menschwerdung Christi, der Kirche und ihrer Einrichtungen und Beziehungen zu Geschichte und Gesellschaft und endlich des Endes aller Dinge und ihrer „Vollendung". 2.4. Geistliche Schriften. Alle Schriften Hugos berühren die Fragen einer gemäßen Lebensgestaltung des einzelnen und der Verinnerlichung der Mysterien des Glaubens. Viele größere oder kleinere Arbeiten aber handeln eingehender von der Bekehrung, dem Erlangen der Tugenden, dem Gebet oder der Versenkung. Die stärkste Wirkung ist dabei von der Schrift De arrha animae (PL 176,951-970) ausgegangen, von der Goy (277-329) über dreihundert Handschriften aufgeführt hat. Doch auch andere Schriften dieser Gattung wie De vanitate mundi (PL 176,703-739), De virtute orationis (ebd. 9 7 7 - 9 8 8 ) , De laude caritatis (ebd. 9 6 9 - 9 7 6 ) oder De meditatione (ebd. 9 9 3 - 9 9 8 ) haben ebenfalls weite Verbreitung gefunden. Gleiches läßt sich von einem halben Hundert von Sententiae breviores sagen (Van den Eynde, Essai, 2 7 - 2 9 ) , von denen einige geradezu selbständige kleine Schriften sind. Eine besondere Stellung kommt der Abhandlung De arca Noe tnorali (PL 176,617-680) und ihrem Gegenstück De arca Noe mystica (ebd. 6 8 1 - 7 0 7 ) zu. Die erste von ihnen entfaltet bereits in weit höherem Maße als die vorgenannten Arbeiten innerhalb des Fragehorizontes geistlicher Lebenspraxis eine Reihe der Themen, die dann in der zweifellos später entstandenen Schrift De sacramentis aufgegriffen werden. 2.5. Briefe. Von Hugos Briefen sind etwa zwanzig erhalten (Van den Eynde, Essai 3 0 - 3 3 ) . Ein großer Teil davon sind Begleitschreiben zu einigen seiner kleineren Schriften oder Antworten auf ihm von seinen Korrespondenten vorgelegte exegetische, systematische oder ethische Fragen. Häufig sind diese Briefpartner unbekannt. Unter denen, die sich noch ausmachen lassen, verdient der Lehrer an der Schule von Laon, Walter von

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Mortagne, Erwähnung, dem Hugo seine Schrift De sapientia animae Christi (PL 176,845-856, Widmungsvorrede hg. v. Ott 1937, 353 f) zugedacht hat. Ein Brief über die Taufe war an -»Bernhard von Clairvaux gerichtet, ist aber nurmehr aus dessen Antwortschreiben bekannt (Ep. 77, Sancti Bernardi Opera, ed. Leclercq/Rochais, 7, Rom 1974, 184-200). 2.6. Predigten. Es sind lediglich zehn sicher echte Predigten Hugos bekannt; sie sind unter den ihm zugeschriebenen Miscellanea veröffentlicht und bei Van den Eynde (Essai 33 f) aufgeführt. 3.

Wirkung

Die von H u g o ausgehende Wirkung ist beträchtlich, aber im einzelnen schwer auszugrenzen. Das von Goy erstellte Verzeichnis der Handschriften vermittelt einen Eindruck von der außerordentlichen Verbreitung, die seine Schriften vom 12. bis zum 16. Jh. gefunden haben. Versucht man mit anderen (Vernet 294-303; de Ghellinck 191-197; Baron, L'influence), die Art und Weise seines Einflusses zu präzisieren, so stellt man fest, daß er sich in erster Linie auf die Schule von St. Viktor auswirkte, die von Hugo in dreifacher Hinsicht, auf dem Gebiet der Exegese, der Theologie und der Spiritualität eine entscheidende Ausrichtung erhalten hat. Sein berühmtester Schüler ist -»Richard von Sankt Viktor. Seine Arbeitsweise und seine Gedanken aber sind im 12. Jh., wenn auch in zuweilen unterschiedlicher Weise, von den Viktorinern aufgenommen und umgesetzt worden, durch Andreas von Sankt Viktor (gest. 1175) etwa in der Exegese, durch Achard (Abt 1155-1161), Gottfried (gest. wahrscheinlich gegen Ende des 12. Jh.) und selbst Walter (gest. ca. 1180) von Sankt Viktor in der dogmatischen Theologie oder durch den herausragenden Dionysiuskommentator Thomas Gallus (gest. 1246). Sein Einfluß hat indessen weit über Sankt Viktor hinausgegriffen. Die Nachwirkung des D'tdascalicon bekundet sich vom 12. Jh. an in zahllosen Arbeiten nicht allein aus dem Bereich der Artcs liberales, sondern auch der Chronologie, der Geschichte und des Kirchenrechts. Am deutlichsten kommt Hugos Einfluß jedoch in der Theologie zur Geltung. Man hat ihm früh schon die Bezeichnung eines „neuen Augustinus" beigelegt. Stets wird er mit Hochachtung angeführt und nie ernstlich kritisiert, auch nicht von Seiten derer, die seine Auffassungen nicht zur Ganze teilen. Seine Theologie steht in einer geistigen Strömung, die stärker traditionsgebunden und weniger spekulativ ist als die, auf die man sich unter den Schülern von -»Abaelard und -»Gilbert Porreta beruft. Daher erschien sie als in besonderer Weise verläßlich. Die nachhaltige Wirkung von De sacramentis belegt das. Diese Summe hat, gewiß nicht ausschließlich, aber stets doch sichtbar, die Schriften der Mehrzahl der großen Grundlcger der -»Scholastik geprägt, insbesondere diejenigen des -»Petrus Lombardus. Liturgiker wie Kanonisten in Bologna und in -»Paris greifen beständig darauf zurück, und sie hat für die Ausarbeitung ihrer Abhandlungen über die -»Sakramente, insbesondere die Eucharistie (-»Abendmahl) und die -»Ehe, offenbar bestimmende Bedeutung gewonnen. Auch die Scholastiker des 13. Jh., vornehmlich innerhalb der -»Franziskanerschule, stehen unter dem Einfluß Hugos. Schon -»Alexander Halesius führt ihn häufig an. Vor allem aber ist es -»Bonaventura, den -»Dante in seinem Paradies (XII 133) neben Hugo stellt, der sich ihm am bereitwilligsten öffnet. Häufig spricht er lobend von ihm (Vernet 297), und das Didascalicon hat ihm die erste Anregung zu seiner Arbeit De reduetione artium ad theologiam gegeben. Zudem war er gut vertraut mit De sacramentis und hat daraus oft Gedankenführung und Thematik aufgegriffen. Die Dominikanerschule des frühen 13. Jh. hat mittelbar ihren Nutzen aus der von Hugo in die Wege geleiteten methodischen Erneuerung gezogen, und -»Albert d. Gr. ist von seinem Einfluß geprägt. Zurückhaltender ist - » T h o m a s von Aquin. Er anerkennt die „Lehrautorität" Hugos (S.th. 11-11,5,1 ad 1) und führt ihn wiederholt an, setzt sich aber mitunter von seinen Vorstellungen ab (ebd. u. III 66,1). In den folgenden Jahrhunderten hält die Bezeugung von Bewunderung und Hochachtung Hugo gegenüber an, und man greift auch auf seine Autorität zurück, etwa in der Auseinandersetzung mit -»Wyclif und den Hussiten

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Hugo von St. Viktor

(-•Hus/Hussiten) (Vernet 304), doch macht sich sein Einfluß auf die zunehmend spekulativer werdende Theologie weniger bemerkbar. Die nachhaltigsten Wirkungsspuren aber hat Hugo mit seinen Schriften zur geistlichen Lebenspraxis hinterlassen. Seit dem 12. Jh., von den Viktorinern und -»Zisterziensern angefangen, führen die Vertreter mystischer Theologie ihn an und öffnen sich den von ihm ausgehenden Anstößen. Im 13. Jh. pflegen alle geistlichen Gemeinschaften das Studium seiner nun bereits klassisch gewordenen Werke. Im 14. und 15. Jh. gewannen sie erneut Beliebtheit. Immer wieder schrieb man sie ab. Handschriftliche Ubersetzungen ins Dcutschc, Englische, Französische, Italienische und Niederländische kamen in Umlauf (Baron 1957, 238-240; Goy 503 - 5 0 4 ; Hardarson). Die Vertreter der flämischen Mystik, die Kanoniker von Windesheim (-»Devotio moderna) und die -»Brüder vom gemeinsamen Leben mit Gert -»Grote vorweg lasen und verbreiteten seine Schriften, und Gabriel -»Biel hat De laude caritatis ins Deutsche übersetzt (Elze). Seine Auswirkungen auf Johannes -»Gerson und -»Dionysius den Kartäuser sind des öfteren vermerkt worden, und Jan van Schonhoven führt ihn an, um -»Jan van Ruysbrock gegen seine Angreifer zu verteidigen. Später führen ihn dann wieder die ersten Gründer der spanischen Mystik wie Bernardin von Laredo und Francisco von Osuna an. Die Neuzeit dagegen hat sich dann bald anderen Einflüssen geöffnet. Doch die Gesamt- und Teilausgabcn, die vom Ende des 16. bis zur Mitte des 17. Jh. gedruckt wurden, die bis in die Gegenwart erscheinenden Ubersetzungen (Baron, Science et sagesse 231-242), die kritischen Ausgaben und zahlreiche Arbeiten, die Werk und Denken Hugos zum Thema haben, zeigen, daß seine Schriften immer noch lebendig sind. Werke O p e r a o m n i a , PL 1 7 5 - 1 7 7 . - C h r o n i c a . H g . v. G. Waitz, 1879 ( M G H . S S 2 4 , 8 8 - 9 7 , Teiled.). Soliloquium de a r r h a a n i m a e . De v a n i t a t c m u n d i . H g . v. Karl M ü l l e r , 1913 (KIT 123). - Epist. a d . G u a l t e r u m de M a u r i t a n i a . H g . v. L. O t t , 1937 ( B G P h M A 2 4 , 3 5 3 - 3 5 4 ) . - Didascalicon de studio legendi. H g . v. C . H . Buttimer, 1939 ( S M R L 1 0 ) . - D e t r i b u s m a x i m i s c i r c u m s t a n c i i s g e s t o r u m . H g . v. W . M . G r e e n : Spec. 18 (1943) 4 8 4 - 4 9 3 . - D e g r a m m a t i c a . H g . v . J . Lcclcrcq: A H D L 14 ( 1 9 4 3 - 1 9 4 5 ) 2 6 3 - 3 2 2 . - O n the S a c r a m e n t s of t h e Fa ich (De sacramentis), Übers, v. Roy J. Deferrari, 1951 ( T h e mediaeval Acad. of America Pubi. 58. C a m b r i d g e / M a s s . ) . - E g r e d i c t u r virga. H g . v. R. B a r o n : R A M 31 (1955) 269 - 2 7 1 . - O p e r a p r o p a e d e u t i c a . Practica g e o m e t r i a e , De g r a m m a t i c a , E p i t o m e D i n d i m i in p h i l o s o p h i a m . H g . v. R. B a r o n , 1966 (PMS 20). - J e r o m e Taylor (Übers.), T h e Didascalicon of H u g h of St. Victor, N e w York 1966. - Six opuscules spirituels. H g . mit franz. Übers, v. R. B a r o n , 1969 (SC 155). - 1 tre giorni dell'invisibili luce (De tribus diebus). L ' u n i o n e del c o r p o c dello spirito (De unione c o r p o r i s et spiritus). H g . m i t ital. Übers, v. V. Liccaro, 1972 (Collana di classici della filosofia cristiana, 6. Firenze). - De u n i o n e spiritus et corporis. H g . v. A. M . Piazzoni: S t M e d . 3. ser. 21 (1980) 8 6 1 - 8 8 8 . - Sententiae d e divinitate. H g . v. A . M . Piazzoni: St. M e d . 3. Ser. 23 (1982) 8 6 1 - 9 9 5 . - Descriptio m a p p e m u n d i . H g . v. P. G a u t i e r Dalché, Diss. m a s c h . Paris 1986. Zweifelhafte Werke: Epist. ad c a n o n i c o s Lucenscs. H g . v. F. E. C r o y d o n : J T h S 40 (1939) 2 5 0 - 252. - D e p o n d e r i b u s , Diffinitiones, M a p p a m u n d i . H g . v. R . Baron: C N L 16 ( 1956) 1 0 9 - 1 4 5 . Textes spirituels inédits. H g . v. R . B a r o n : M S R 43 (1956) 1 5 7 - 1 7 8 . - Epist. ad milites Templi. H g . v. C. Sclafert: R A M 34 (1958) 2 7 5 - 2 9 9 . - La c o n t e m p l a t i o n et ses espèces (De c o n t e m p l a t i o n e et eius speciebus). H g . mit franz. Übers, v. R . B a r o n , 1959 ( M C S 2). Literatur R o g e r B a r o n , L'influence de H u g u e s de S.-V.: R T h M 22 (1955) 5 6 - 7 1 . - Ders., Science et sagesse chez H u g u e s de S.-V., Paris 1957 (Lit.). - Ders., Art. H u g u e s de S.-V.: DSp 7 (1969) 901 - 9 3 9 (Lit.). B e r n h a r d Bischoff, Aus d e r Schule H u g o s v. St. V i k t o r : Aus der Geisteswelt des M A , 1935 (BGPhMA.S 3), 2 4 6 - 2 5 0 = ders., M a . Stud. II, Stuttgart 1 9 6 7 , 1 8 2 - 1 8 7 . - Fourier B o n n a r d , H i s t o ire de l ' a b b a y e royale et d e l ' o r d r e des c h a n o i n e s réguliers de S.-V. de Paris 1 ( 1 1 1 3 - 1 5 0 0 ) , Paris o. J. [1904]. - H e n n i g B r i n k m a n n , M a . H e r m e n e u t i k , T ü b i n g e n 1980. - Jean C h â t i l l o n , Les écoles de C h a r t r e s et d e S.-V.: La scuola n e l l ' O c c i d e n t e latino dell'alto medioevo, 1972 (SSAM 19,2), 7 9 5 - 8 3 9 . 8 5 3 - 8 5 7 (Lit.). - Ders., H u g u e s d e S.-V. critique d e J e a n Scot: J e a n Scot Erigène et la philosophie, Paris 1 9 7 7 , 4 1 5 - 4 3 1 . - Ders., Un c o m m e n t a i r e a n o n y m e de la Règle d e saint Augustin: Le C o d e x G u t a - S i n t r a m , m s . 37 d e la Bibl. d u G r a n d Séminaire de Strasbourg. H g . v. B. Weis, L u z e r n / S t r a ß b u r g 1983, 1 8 0 - 1 9 1 . - F. C r o y d o n , N o t e s o n the Life of H u g h of St. Victor: J T h S 40 (1939) 2 3 2 - 2 5 3 . - R. C . Dales, Discussions of the Eternity of the W o r l d during the first Half of T w e l f t h

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Century: Spec. 57 (1982) 4 9 5 - 5 0 8 . - Joachim Ehlers, Hugo v. St. Viktor. Stud, zum Geschichtsdenken u. zur Geschichtsschreibung des 12. J h , Wiesbaden 1973 (Frankfurter hist. Abh.7) (Lit.). M a n i n Elze, Ein Beitr. Gabriel Biels zur spätma. Erbauungslit.: Z K G 74 (1963) 2 6 5 - 2 8 1 . - Gillian Evans, Hugh of St. Victor on History and the Meaning of Things: StMon 25 (1983) 2 2 3 - 2 3 4 . - M . L. Fuehrer, T h e Principle of Similitude in Hugh of St. Victor's Theory of divine Illumination: ABenR 30 (1979) 8 0 - 9 2 . - R . Gerardi, Fede e sacramento in Ugo di S. Vittore: R T M 12 (1980) 2 3 1 - 2 5 2 . Joseph de Ghellinck, Le mouvement théologique du 1 2 e s , 1 1 9 4 8 (ML.H 10). - Luce Giard, Logique et système du savoir selon Hugues de S.-V: Thaïes 16 ( 1 9 7 9 - 1 9 8 1 ) 3 - 3 2 . - R. Goy, Die Überlieferung der Werke Hugos von St. Viktor, 1976 ( M G M A 14) (Lit.). - Gunnar Hardarson, Une version norroise du „Soliloquium de arrha animae" de Hugues de Saint-Victor. Edition critique, introduction et notes (thèse dactyl.), Paris I-Sorbonne 1984. - Johann Hofmeier, Die Trinitätslehre des Hugo v. St. Viktor, 1963 (MThS.S. 25). - P. Knauer, Hermeneutische Fundamentaltheol. Der Glaubenstraktat des Hugo v. St. Viktor. Testimonium veritati: F T S 7 (1971) 6 7 - 8 0 . - Dionysius Lasic, Hugonis de S. Victore theologia perfectiva, 1956 (StAns 7) (Lit.). - Vincenzo Liccaro, Studi sulla visione del mondo di Ugo di S. Vittore, Trieste 1969. - Henri de Lubac, Exégèse médiévale. I I / l , 1961 (Theol [P] 42), 2 8 7 - 3 5 9 . - L. Miccioli, Le „arti meccanice" nelle classificazioni delle scienze di Ugo di San Vittore e Domenico Gundisalvi: AFLF (B) 24 (1981) 7 3 - 1 0 1 . - Jürgen Miethke, Zur Herkunft Hugos v. St. Viktor: AKuG 54 (1972) 2 4 1 - 2 6 5 . - A u g u s t e Molinier, Les obituaires de la province de Sens, Paris, I 1902. - L. O. Nielsen, Theology and Philosophy in the Twelfth Century, 1982 (AThD 15), 1 9 3 - 2 1 3 . Ludwig Ott, Unters, zur theol. Brieflit. der Frühscholastik, 1937 (BGPhMA 34). - Ders., Hugo v. St. Viktor u. die Kirchenväter: D T 27 (1949) 1 8 0 - 2 0 0 . 2 9 3 - 3 3 2 . - Stephan Otto, Die Funktion des Bildbegriffes in der Theol. des 12. Jh., 1963 (BGPhMA 40,1), 1 0 7 - 1 4 2 . - René Roques, Connaissance de Dieu et théologie symbolique d'après l'„In Hierarchiam coelestem sancti Dionysii" de Hugues de S.-V.: RechPhil 3 - 4 (1958) 1 8 7 - 2 6 6 = Structures théologiques de la Gnose à Richard de SaintVictor, 1962 (BEHE.R 72), 2 9 4 - 3 6 4 . - Heinz Robert Schiette, Die Nichtigkeit der Welt. Der phil. Horizont des Hugo v. St. Viktor, München 1961. - Christian Schütz, Deus absconditus, Deus manifestus. Die Lehre Hugos v. St. Viktor über die Offenbarung Gottes, 1967 (StAns 57) (Lit.). Beryl Smalley, T h e Study of the Bible in the Middle Ages, Oxford 1940 2 1952, Nachdr. Notre Dame 1964 M 9 8 3 . - Jerome Taylor, T h e Origin and early Life of Hugh of St. Victor, 1957 ( T S H M E 5). Pierre Vallin, „ M e d i a n i c a " et „Philosophia" selon Hugues de S.-V.: RHSp 49 (1973) 2 5 7 - 288. Damien Van den Eynde, Deux traités faussement attribués à Hugues de S.-V.: FrS 19 (1959) 3 1 7 - 3 2 4 . - Ders., Essai sur la succession et la date des écrits de Hugues de S.-V., 1960 (SPAA 13). - André Vermeirre, La navigation d'après Hugues de S.-V.: G. H. Allard/S. Lusignan, Les arts mécaniques au moyen âge, Montréal/Paris 1982,51 - 6 1 . - Félix Vernet, Hugues de S.-V.: D T h C 7 (1922) 2 4 0 - 3 0 8 . Paul Vignaux, Jean de Ripa, Hugues de S.-V. et Jean Scot sur les théophanies: Jean Scot Erigène et la philosophie, Paris 1977, 433 - 439. - Heinrich Weisweiler, Die Arbeitsmethode Hugos v. St. Viktor: Scho. 24 (1949) 5 9 - 8 7 . 2 3 2 - 2 6 7 . - Ders., Sakrament als Symbol u. Teilhabe. Der Einfluß des Ps.Dionysiusaufdieallg. Sakranientlehre Hugos v. St. Viktor: Scho. 27 (1952) 3 2 1 - 3 4 3 . - H . Zeimentz, Ehe nach der Lehre der Frühscholastik. Ein moralgesch. Unters, zur Anthropologie u. Theol. der Ehe in der Schule Anselms v. Laon u. Wilhelms v. Champeaux bei Hugo v. St. Viktor, Walter v. Mortagne u. Petrus Lombardus, 1973 (MThSt. Hist. Abt. 1). - Grover A. Zinn, Book and Word. T h e victorine Background of Bonaventura's Use of Symbols: S. Bonaventura 1274—1974, Grottaferrata, II 1973, 1 4 3 - 1 6 9 . - D e r s . , T h e Influence of Hugh of St. Victor's „Chronicon" on the„Abbreviationeschronicorum" by Ralph of Diceto: Spec. 52 (1977) 38 - 6 1 .

Jean Châtillon Huizinga, Johart 1. Leben

(1872-1945)

2. Werk

3. Nachwirkung

(Werke/Literatur S. 638)

1. Leben Der niederländische Historiker Johan Huizinga wurde am 7 . 1 2 . 1 8 7 2 zu Groningen als Sohn des Physiologieprofessors Dirk Huizinga und seiner Ehefrau Jacoba Tonkens geboren. Er entstammte einer Groninger täuferischen Predigerfamilie; auch sein Vater war ursprünglich Zum Predigeramt bestimmt gewesen. Huizingas historisches Interesse wurde schon früh geweckt, doch dauerte es bis etwa zu seinem dreißigsten Lebensjahr, ehe er sich ganz der Geschichte widmete. In -»Groningen ( 1 8 9 1 - 1 8 9 5 ) und -»Leipzig (1896) studierteer orientalische Sprachen, und seine Dissertation von 1897 hatte ein Thema aus der altindischen Literaturgeschichte zum Gegenstand.

Huizinga

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Century: Spec. 57 (1982) 4 9 5 - 5 0 8 . - Joachim Ehlers, Hugo v. St. Viktor. Stud, zum Geschichtsdenken u. zur Geschichtsschreibung des 12. J h , Wiesbaden 1973 (Frankfurter hist. Abh.7) (Lit.). M a n i n Elze, Ein Beitr. Gabriel Biels zur spätma. Erbauungslit.: Z K G 74 (1963) 2 6 5 - 2 8 1 . - Gillian Evans, Hugh of St. Victor on History and the Meaning of Things: StMon 25 (1983) 2 2 3 - 2 3 4 . - M . L. Fuehrer, T h e Principle of Similitude in Hugh of St. Victor's Theory of divine Illumination: ABenR 30 (1979) 8 0 - 9 2 . - R . Gerardi, Fede e sacramento in Ugo di S. Vittore: R T M 12 (1980) 2 3 1 - 2 5 2 . Joseph de Ghellinck, Le mouvement théologique du 1 2 e s , 1 1 9 4 8 (ML.H 10). - Luce Giard, Logique et système du savoir selon Hugues de S.-V: Thaïes 16 ( 1 9 7 9 - 1 9 8 1 ) 3 - 3 2 . - R. Goy, Die Überlieferung der Werke Hugos von St. Viktor, 1976 ( M G M A 14) (Lit.). - Gunnar Hardarson, Une version norroise du „Soliloquium de arrha animae" de Hugues de Saint-Victor. Edition critique, introduction et notes (thèse dactyl.), Paris I-Sorbonne 1984. - Johann Hofmeier, Die Trinitätslehre des Hugo v. St. Viktor, 1963 (MThS.S. 25). - P. Knauer, Hermeneutische Fundamentaltheol. Der Glaubenstraktat des Hugo v. St. Viktor. Testimonium veritati: F T S 7 (1971) 6 7 - 8 0 . - Dionysius Lasic, Hugonis de S. Victore theologia perfectiva, 1956 (StAns 7) (Lit.). - Vincenzo Liccaro, Studi sulla visione del mondo di Ugo di S. Vittore, Trieste 1969. - Henri de Lubac, Exégèse médiévale. I I / l , 1961 (Theol [P] 42), 2 8 7 - 3 5 9 . - L. Miccioli, Le „arti meccanice" nelle classificazioni delle scienze di Ugo di San Vittore e Domenico Gundisalvi: AFLF (B) 24 (1981) 7 3 - 1 0 1 . - Jürgen Miethke, Zur Herkunft Hugos v. St. Viktor: AKuG 54 (1972) 2 4 1 - 2 6 5 . - A u g u s t e Molinier, Les obituaires de la province de Sens, Paris, I 1902. - L. O. Nielsen, Theology and Philosophy in the Twelfth Century, 1982 (AThD 15), 1 9 3 - 2 1 3 . Ludwig Ott, Unters, zur theol. Brieflit. der Frühscholastik, 1937 (BGPhMA 34). - Ders., Hugo v. St. Viktor u. die Kirchenväter: D T 27 (1949) 1 8 0 - 2 0 0 . 2 9 3 - 3 3 2 . - Stephan Otto, Die Funktion des Bildbegriffes in der Theol. des 12. Jh., 1963 (BGPhMA 40,1), 1 0 7 - 1 4 2 . - René Roques, Connaissance de Dieu et théologie symbolique d'après l'„In Hierarchiam coelestem sancti Dionysii" de Hugues de S.-V.: RechPhil 3 - 4 (1958) 1 8 7 - 2 6 6 = Structures théologiques de la Gnose à Richard de SaintVictor, 1962 (BEHE.R 72), 2 9 4 - 3 6 4 . - Heinz Robert Schiette, Die Nichtigkeit der Welt. Der phil. Horizont des Hugo v. St. Viktor, München 1961. - Christian Schütz, Deus absconditus, Deus manifestus. Die Lehre Hugos v. St. Viktor über die Offenbarung Gottes, 1967 (StAns 57) (Lit.). Beryl Smalley, T h e Study of the Bible in the Middle Ages, Oxford 1940 2 1952, Nachdr. Notre Dame 1964 M 9 8 3 . - Jerome Taylor, T h e Origin and early Life of Hugh of St. Victor, 1957 ( T S H M E 5). Pierre Vallin, „ M e d i a n i c a " et „Philosophia" selon Hugues de S.-V.: RHSp 49 (1973) 2 5 7 - 288. Damien Van den Eynde, Deux traités faussement attribués à Hugues de S.-V.: FrS 19 (1959) 3 1 7 - 3 2 4 . - Ders., Essai sur la succession et la date des écrits de Hugues de S.-V., 1960 (SPAA 13). - André Vermeirre, La navigation d'après Hugues de S.-V.: G. H. Allard/S. Lusignan, Les arts mécaniques au moyen âge, Montréal/Paris 1982,51 - 6 1 . - Félix Vernet, Hugues de S.-V.: D T h C 7 (1922) 2 4 0 - 3 0 8 . Paul Vignaux, Jean de Ripa, Hugues de S.-V. et Jean Scot sur les théophanies: Jean Scot Erigène et la philosophie, Paris 1977, 433 - 439. - Heinrich Weisweiler, Die Arbeitsmethode Hugos v. St. Viktor: Scho. 24 (1949) 5 9 - 8 7 . 2 3 2 - 2 6 7 . - Ders., Sakrament als Symbol u. Teilhabe. Der Einfluß des Ps.Dionysiusaufdieallg. Sakranientlehre Hugos v. St. Viktor: Scho. 27 (1952) 3 2 1 - 3 4 3 . - H . Zeimentz, Ehe nach der Lehre der Frühscholastik. Ein moralgesch. Unters, zur Anthropologie u. Theol. der Ehe in der Schule Anselms v. Laon u. Wilhelms v. Champeaux bei Hugo v. St. Viktor, Walter v. Mortagne u. Petrus Lombardus, 1973 (MThSt. Hist. Abt. 1). - Grover A. Zinn, Book and Word. T h e victorine Background of Bonaventura's Use of Symbols: S. Bonaventura 1274—1974, Grottaferrata, II 1973, 1 4 3 - 1 6 9 . - D e r s . , T h e Influence of Hugh of St. Victor's „Chronicon" on the„Abbreviationeschronicorum" by Ralph of Diceto: Spec. 52 (1977) 38 - 6 1 .

Jean Châtillon Huizinga, Johart 1. Leben

(1872-1945)

2. Werk

3. Nachwirkung

(Werke/Literatur S. 638)

1. Leben Der niederländische Historiker Johan Huizinga wurde am 7 . 1 2 . 1 8 7 2 zu Groningen als Sohn des Physiologieprofessors Dirk Huizinga und seiner Ehefrau Jacoba Tonkens geboren. Er entstammte einer Groninger täuferischen Predigerfamilie; auch sein Vater war ursprünglich Zum Predigeramt bestimmt gewesen. Huizingas historisches Interesse wurde schon früh geweckt, doch dauerte es bis etwa zu seinem dreißigsten Lebensjahr, ehe er sich ganz der Geschichte widmete. In -»Groningen ( 1 8 9 1 - 1 8 9 5 ) und -»Leipzig (1896) studierteer orientalische Sprachen, und seine Dissertation von 1897 hatte ein Thema aus der altindischen Literaturgeschichte zum Gegenstand.

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Während seiner Studienzeit geriet er unter den Einfluß des Ästhetizismus der neunziger Jahre, und zugleich wurde der Grund für zahlreiche Verbindungen gelegt, die er sein Leben lang zur Welt der bildenden Künstler, Schriftsteller und Kunstkritiker unterhalten hat. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, übernahm er 1897 eine Stelle als Geschichtslehrer in Haarlem, die er bis 1905 innehatte, seit 1903 neben einer Privatdozentur für altindische Literaturgeschichte in Amsterdam. In dieser Zeit vollzog sich seine Wendung von der Sprachwissenschaft zur Geschichte. Sie hing mit seinem wachsenden kulturgeschichtlichen Interesse zusammen, das zunächst noch auf die Welt des Orients gerichtet war, sich allmählich aber auf die des Westens, insbesondere des mittelalterlichen Westens verlagerte. Weil sein Talent zu großen Hoffnungen berechtigte, erhielt er 1905 den Lehrstuhl für Geschichte an der Universität Groningen. Durch eine Fülle von Veröffentlichungen bewies er in den Folgejahren sein fachliches Können. 1914 verlor er nach zwölfjähriger Ehe, aus der fünf Kinder hervorgegangen waren, seine Frau Mary Schorer. U m ü b e r diesen Verlust h i n w e g z u k o m m e n , siedelte er 1915 v o n G r o n i n g e n n a c h - » L e i d e n ü b e r , w o i h m d e r seinerzeit b e d e u t e n d s t e n i e d e r l ä n d i s c h e L e h r s t u h l f ü r G e schichte a n g e b o t e n w o r d e n w a r . D a s n e u e A m t h a t er bis 1940 a u s ü b e n k ö n n e n , d a s J a h r , in d e m die Universität Leiden d u r c h die d e u t s c h e B e s a t z u n g s m a c h t geschlossen w u r d e . Die Leidener Z e i t w u r d e z u m f r u c h t b a r s t e n A b s c h n i t t seines Lebens. In ihr e n t s t a n d e n die g r o ß e n k u l t u r g e s c h i c h t l i c h e n W e r k e , u n d n a c h u n d n a c h ist er in diesen J a h r e n a u c h als K u l t u r k r i t i k e r h e r v o r g e t r e t e n . Seine S c h a f f e n s k r a f t t r u g i h m in z u n e h m e n d e m M a ß e int e r n a t i o n a l e A n e r k e n n u n g ein. Sic ist a u ß e r in d e n vielerlei Ü b e r s e t z u n g e n seiner W e r k e a u c h in zahlreichen G a s t v o r l e s u n g e n im A u s l a n d s o w i e in d e r ihm v o n d e n U n i v e r s i t ä t e n O x f o r d u n d T ü b i n g e n verliehenen E h r e n d o k t o r w ü r d e z u m A u s d r u c k g e k o m m e n . 1937 h e i r a t e t e er A u g u s t e Schölvink. Diese Ehe, a u s d e r eine T o c h t e r h e r v o r g e g a n g e n ist, h a t i h m in d e r t u r b u l e n t e n Z e i t des a u f k o m m e n d e n F a s c h i s m u s u n d des z w e i t e n Weltkrieges viel G l ü c k g e g e b e n . W ä h r e n d des Krieges w u r d e er z u m O p f e r d e r v o n ihm b e k ä m p f t e n n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n Ideologie: Bei einer G e i s e l a k t i o n w u r d e er 1942 in e i n e m Lager in Sint Michielsgcstel i n h a f t i e r t . N a c h drei M o n a t e n w i e d e r in Freiheit gesetzt, w o l l t e er nicht nach Leiden z u r ü c k k e h r e n . Er ließ sich mit seiner Familie in D e Steeg in d e r P r o v i n z G e l d e r l a n d nieder, w o er a m 1. F e b r u a r 1945, k u r z v o r d e r Befreiung, v e r s t a r b . 2. Werk D a s Werk H u i z i n g a s besteht a u s einigen g r o ß e n A r b e i t e n u n d d a n e b e n z a h l r e i c h e n A u f s ä t z e n u n d V o r t r ä g e n , von d e n e n er viele n a c h t r ä g l i c h in s e l b s t ä n d i g e n S a m m c l b ä n d e n neu h e r a u s g e b r a c h t h a t . Die B ü c h e r u n d A b h a n d l u n g e n weisen eine b u n t e Fülle v o n T h e m e n a u f , d i e j e d o c h alle in Beziehung zu d e n drei H a u p t g e b i e t e n s t e h e n , in d e n e n sich H u i z i n g a als Publizist b e w e g t h a t : d e r G c s c h i c h t s t h e o r i e , d e r allgemeinen u n d d e r niederländischen K u l t u r g e s c h i c h t e u n d d e r K u l t u r k r i t i k . H u i z i n g a fesselten n i c h t eben F r a g e n rein t h e o r e t i s c h e r A r t ; als W i c h t i g s t e s galt i h m die „ d i r e k t e B e r ü h r u n g m i t d e n b l ü h e n d e n , b u n t e n Einzelheiten d e r V e r g a n g e n h e i t " ( G A I , 3 5 ) . Er h a t j e d o c h w i e d e r h o l t g e r a d e dieses s p o n t a n e Streben t h e o r e t i s c h g e r e c h t fertigt, e r s t m a l s in seiner Groninger Antrittsvorlesung (1905) u n d s p ä t e r v o r allem in Aufgaben der Kulturgeschichte (1929) u n d in d e n Santander-Vorlesungen (1937). U n t e r B e r u f u n g auf die d e u t s c h e n G e s c h i c h t s t h e o r e t i k e r W i n d e l b a n d , R i c k e r t u n d S i m m e l ( - • G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e ) setzte er sich in d e r e r w ä h n t e n A n t r i t t s v o r l e s u n g v o n zeitgenössischen B e s t r e b u n g e n a b , w e l c h e d i e e x a k t e M e t h o d e d e r N a t u r w i s s e n s c h a f t auf d i e G e s c h i c h t s f o r s c h u n g a n w e n d e n w o l l t e n . N a c h i h m sollte d e r H i s t o r i k e r anstelle v o n G e s e t z m ä ß i g k e i t e n d a s B e s o n d e r e u n d E i n m a l i g e in d e r V e r g a n g e n h e i t a u f s p ü r e n . Diese antipositivistische Einstellung h a t H u i z i n g a i m m e r w i e d e r verteidigt. In seinen zahlreichen A n a l y s e n d e r h i s t o r i s c h e n Begriffsbildung e r k e n n t er d e r E i n b i l d u n g s k r a f t eine w e sentliche F u n k t i o n zu. E r versteht sie als d a s V e r m ö g e n , d i e V e r g a n g e n h e i t neu zu gestalten u n d k o m p l e x e geschichtliche E r s c h e i n u n g e n in Bildern f e s t z u h a l t e n . In d e n s p ä t e r e n A b h a n d l u n g e n stellt er i m m e r a u c h d i e F r a g e , w e l c h e F u n k t i o n e n d i e Bilder d e r Vergangenheit im k u l t u r g e s c h i c h t l i c h e n P r o z e ß e r f ü l l e n . N a c h H u i z i n g a g e b e n sie dieser auf die Z u k u n f t gerichteten B e w e g u n g eine wesentliche A u s r i c h t u n g , eine O r i e n t i e r u n g . So f a n d

Huizinga

637

er schließlich zur Definition der G e s c h i c h t e als „ d e r geistigen F o r m , in der eine Kultur sich über ihre Vergangenheit R e c h e n s c h a f t g i b t " ( G A V I I , 102). D i e kulturhistorischen W e r k e umfassen weit auseinanderliegende Z e i t a b s c h n i t t e . D i e g r ö ß t e A u f m e r k s a m k e i t h a t Huizinga d e m - » M i t t e l a l t e r und der —»Renaissance gewidmet, d o c h seine Geschichte der Universität Groningen im 19. Jh. ( 1 9 1 4 ) , die Essays über Mensch und Masse in Amerika (1927) und seine B i o g r a p h i e des zeitgenössischen M a l e r s J a n Veth ( 1 9 2 7 ) zeigen, u m n u r einige Beispiele zu n e n n e n , d a ß a u c h die jüngere Kulturgeschichte g a n z in seinem Interessenbereich stand. M i t Vorliebe hat er den Aufstieg und N i e d e r g a n g von Kulturperioden b e s c h r i e b e n . A m treffendsten hat diese Vorliebe in seinem meistgelesenen Werk Herbst des Mittelalters (1919) ihren N i e d e r s c h l a g gefunden, in dem er „ w i e in einem G e m ä l d e " (F. H u g e n h o l t z ) das Bild der französischen und niederländischen Kultur des 15. J h . gezeichnet h a t . Der Titel Herfsttij der Middeleeuwen ist vollendeter Ausdruck der Grundeinsicht, aus der das Werk geschrieben ist und die sich bereits zehn Jahre früher bei Gelegenheit bestimmter kunsttheoretischer Auseinandersetzungen bei Huizinga ausgebildet hatte. Er widersetzte sich der Tendenz, das Kunstschaffen der Brüder van Eyck als Aufkommen einer „Nordischen Renaissance" (L. Courajod) zu deuten, und sah in ihm vielmehr die volle Entfaltung spätmittclalterlichen Geistes. Im Herbst wird die gesamte französisch-burgundische Kultur, auch die sie kennzeichnende -»Frömmigkeit, in dieser einen, an der Kunst der flämischen Meister gewonnenen Sicht betrachtet und gedeutet als „nicht Ankündigung des Kommenden, sondern als Absterben dessen, was dahingeht" (GA 1,39). So wurde das Werk zu einem Gegenstück von Jakob Burckhardts Kultur der Renaissance, und es war die unausgesprochene Absicht der Verfassers, erkennen zu lassen, daß die Kultur der burgundischcn Zeit wenig gemein hatte mit dem italienischen Quattrocento, wie es sein großer schweizer Vorgänger beschrieben hatte. Später hat er das von B u r c k h a r d t gezeichnete Bild der R e n a i s s a n c e noch retuschiert und versucht, deutlich werden zu lassen, d a ß sie keinen endgültigen Bruch mit d e m M i t t e l a l t e r herbeigeführt, vielmehr zu ihm in augenfälliger K o n t i n u i t ä t gestanden h a b e (Das Problem der Renaissance und Renaissance und Realismus, beides 1920). Sein Buch Erasmus (1924) bedeutete den H ö h e p u n k t der Renaissancestudien Huizingas. D a s M a t e rial dafür hat er vornehmlich dem e t w a zur gleichen Z e i t durch seine englischen Freunde R S . und H . M . Allen erschlossenen Briefwechsel des H u m a n i s t e n e n t n o m m e n . Huizinga hat dieses W e r k für einen g r o ß e n Leserkreis vorgesehen und - » E r a s m u s darin als einsame Erscheinung dargestellt, die in der sich vollziehenden G l a u b e n s s p a l t u n g ( - » R e f o r m a t i o n ) unschlüssig zwischen den Parteien stand und sich von der alten O r d n u n g abgewendet hatte, o h n e die neue a n n e h m e n zu k ö n n e n . H a t Huizinga in seinem Herbst den Auflösungsprozeß einer vergangenen Kultur beschrieben, so haben die nach 1930 entstandenen kritischen Schriften die allgemeine Z e r rüttung zum T h e m a , die er in seiner eigenen Z e i t b e o b a c h t e t e . Im Schatten von Morgen (1935) und Geschändete Welt (1943, postum 1945 erschienen) bilden gewissermaßen ein Diptychon. Die erste Schrift ist eine Diagnose der zeitgenössischen Krise, die zweite eine Betrachtung über die Aussichten auf eine bessere neue Welt. Beide Werke stehen zweifellos im Zeichen einer Bekämpfung der nationalsozialistischen Ideologie, doch Huizinga hat sie in viel allgemeinerer Absicht geschrieben. Er verstand diese Ideologie im Licht eines umfassenden Kulturverfalls, der sich seit dem letzten Viertel des 19. Jh. allenthalben in der westlichen Welt vollzogen habe, und setzte sich zum Ziel, die Symptome dieses Verfalls aufzuzeigen. An zahlreichen konkreten Beispielen legte er eine Reihe negativer Tendenzen in der jüngsten Geschichte der westlichen Kultur bloß wie eine allgemeine Schwächung des Urteilsvermögens, eine Verleugnung des Bildungsideals der Erkenntnis und eine Preisgabe von Sittlichkeit und Recht als selbstverständliche Normen. In den positiven Betrachtungen von Geschändete Welt macht er sich auch zum Fürsprecher einer religiösen Erneuerung, doch seinen Äußerungen dazu eignet die gleiche Unbestimmtheit, durch die nach Aussage von Zeugen aus seiner unmittelbaren Umgebung auch seine persönliche Glaubensüberzeugung gekennzeichnet war. Zwischen den beiden genannten kulturkritischen Abhandlungen und in engem Zusammenhang damit entstand Homo ludens (1938). Anhand der Begriffe Spiel und Ernst entwickelt Huizinga darin eine umfassende Kulturtheorie und erläutert sie mit einer Uberfülle linguistischen, historischen und anthropologischen Materials.

638 3.

Huizinga Nachwirkung

In der niederländischen Geschichtsschreibung w a r Huizinga stets eine umstrittene Gestalt, bewundert und kritisiert wegen seiner ungewohnten M e t h o d e der Geschichtsforschung, seines hochpersönlichen, nahezu literarischen Stils und des melancholischen Grundzugs seiner Zeitkritik. Den nachhaltigsten Einfluß hat er mit dem Werk ausgeübt, das er selbst als sein H a u p t w e r k angesehen hat, dem Herbst. Die darin erprobte Analyse von „Lebens- und D e n k f o r m e n " einer Gesellschaft in der Vergangenheit hat N a c h f o l g e gefunden und zum neuerlichen Interesse an der , , h i s t o i r e des mentalités" beigetragen. Außerhalb der Niederlande hat Huizingas Oeuvre nirgends so früh ein so großes Interesse gefunden wie im deutschen Sprachgebiet. Wegbereiter dafür w a r der Biograph und spätere Nachfolger Burckhardts in Basel, Werner Kaegi, einer der besten Kenner Huizingas, der auch viele seiner Werke übersetzt hat. Werke GA: Johan Huizinga, Verzamelde Werken. Hg. v. L. Brummel/W. R. Juynboll/Th. J . G . Locher. I Oud-Indië en Nederland, II Algemene Nederlandse geschiedenis, III—V Cultuurgeschiedenis, VI Biografié, VII Geschiedwetenschap - Hedendaagse cultuur, VIII Univcrsiteit, wetenschap en kunst, IX Bibliografie en registers, Haarlem 1948-1953. Dt. Sehr. u. Übers.: Herbst des MA. Stud. über Lebens- u. Geistesformen des 14. u. 15. Jh. in Frankreich u. in den Niederlanden. Übers, v. T. Wolff-Mönckeberg), textliche Angleichung u. Gesamtrevision v. Kurt Köster, Stuttgart 1924 1 1 1975. - Erasmus. Übers, v. Werner Kaegi, Basel 1928 8 1968. - Wege der Kulturgesch. Stud. Übers, v. Werner Kaegi, München 1930 2 1940. - Holländische Kultur des 17. Jh. Eine Skizze. Dt. v. Werner Kaegi. Fassung letzter Hand mit Fragmenten von 1932, Basel 1961. - Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen bei Alanus de Insulis: MNAW.L74 (1932) 8 9 - 1 9 8 . - D i e Mittlerstellung der Niederlande zwischen West- u. Mitteleuropa, Leipzig/Berlin 1933 (Grundfragen der internationalen Politik 5). - Burgund. Eine Krise des romanisch-germanischen Verhältnisses: H Z 148 (1933) 2 3 8 - 2 6 5 = Tübingen 1952 = Darmstadt 1967. Im Schatten von Morgen. Eine Diagnose des kulturellen Leidens unserer Zeit. Übers, v. Werner Kaegi, Bern 1935 7 1948. — Erasmus über Vaterland u. Nationen: Gcdenkschrift zum 400. Todestage des Erasmus v. Rotterdam, Basel 1936, 3 4 - 4 9 . - Gibt es Verwandlung?: Berliner Tageblatt 31. Mai 1936. — Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur. In Zusammenarb. m.d. Verf. übertr. v. Hans Nachod, Amsterdam 1939 1 1 1 9 8 1 . - I m Bann der Gesch. Betrachtungen u. Darstellungen. Ubers, v. Werner Kaegi u.a., Basel/Amsterdam 1942 2 1943.-Parerga. Reden u. Aufs. Hg. v. Werner Kaegi, Basel 1945. - Mein Weg zur Gesch. Letzte Reden u. Skizzen. Übers, v. Werner Kaegi, Basel 1947. - Geschändete Welt. Ubers, v. Werner Kaegi, Zürich 1948. - Das Problem der Renaissance. Renaissance u. Realismus. Übers, v. Werner Kaegi, Tübingen 1953, D a r m s t a d t 4 1 9 7 4 . Gesch. u. Kultur. GAufs. Hg. u. eingel. v. Kurt Köster, Stuttgart 1954. Literatur Carlo Antoni, Johann Huizinga: ders., From History to Sociology, London 1962, 1 8 5 - 2 0 6 . R . L . Colie, Johan Huizinga and the task of cultural history: AHR 69 (1964) 6 0 7 - 6 3 0 . - Geschiedschrijving in Nederland. Studies over de historiografie van de Nieuwe Tijd. Samengesteid door P.A.M. Geurts/A.E.M. Janssen, 2Bde., 's-Gravenhage 1981 (Lit.). - G . J . Heering, Johan Huizinga's religieuze gedachten, Lochern 1948. - Frederik W. N. Hugenholtz, Herfsttij der Middeleeuwen 1 9 1 9 - 1 9 6 9 : J . Huizinga, Herfsttij der Middeleeuwen, Haarlem " 1 9 6 9 , I X - X V I I I . Ders., Huizinga: Biografisch Woordenboek van Nederland 1 (1980) 2 5 6 - 2 6 2 . - J . Huizinga. Papers delivered to the Johan Huizinga conference, Groningen, 1 1 - 1 5 december 1972. Ed. by W . R . H . Koops/E. H. Kossman/Gees van der Plaat, The Hague 1973 = Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden 88 (1973) 1 4 4 - 3 6 4 . - Werner Kaegi, Johan Huizinga zum Gedächtnis, Bern 1945 = ders., Hist. Meditationen II, Zürich 1946, 9 - 4 2 . - Ders., Das hist. Werk Johan Huizingas: SBAG 4 (1946) 5 - 3 7 = ders., ebd., 2 4 5 - 2 8 6 . - Ders., Vom Begriff der Kulturgesch. Zum hundertsten Geburtstag Johan Huizingas, Leiden 1973 (Leidse voordrachten 53). - Kurt Köster, Johann Huizinga 1 8 7 2 - 1 9 4 5 , Oberursel 1947 (Lit.). - W . R . H . Koops, Johan Huizinga als Professor in Groningen 1 9 0 5 - 1 9 1 5 : Bibliothek-Buch-Gesch. FS Kurt Köster. Hg. v. G. Pflug u.a., Frankfurt a . M . 1977, 5 0 9 - 5 2 0 (Sonderveröff. der Dt. Bibliothek 5). - W.E. Krul, Johan Huizinga: A.H. Huussen/E.H. Kossman/H. Renner, Historici van de Twintigste Eeuw, Utrecht/Antwerpen 1981, 9 4 - 1 0 9 . - H . R . Weber, Geschichtsauffassung u. Weltanschauung Johan Huizingas, Diss. Mainz 1954. - Karl J . Weintraub, Huizinga: ders., Visions of culture, Chicago 1966, 2 0 8 - 2 4 6 . Eugène H o n é e

Humanismus/Humanismusforschung

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Humanismus/Humanismusforschung 1. Vorklärungen 1.1. Z u r Definition 1.2. R e n a i s s a n c e - H u m a n i s m u s 1.3. H a u p t p r o b l e m e neuerer F o r s c h u n g 2 . Italienischer H u m a n i s m u s 2 . 1 . D e r H u m a n i s m u s des T r e c e n t o 2.2. Die Verbreitung des H u m a n i s m u s 2 . 3 . Die Wiederbelebung des Griechentums 2 . 4 . Bürgerlicher H u manismus 2 . 5 . Bildung 2 . 6 . H u m a n i s m u s und G e s c h i c h t e 2.7. H u m a n i s m u s und Philosophie 3. E u r o p ä i s c h e r H u m a n i s m u s 3 . 1 . Deutscher H u m a n i s m u s 3 . 2 . Französischer H u m a n i s mus 3 . 3 . Spanischer H u m a n i s m u s 3 . 4 . Englischer H u m a n i s m u s 4 . H u m a n i s m u s und R e f o r mation 5 . Z u r Geschichte der H u m a n i s m u s f o r s c h u n g (Literatur S. 6 5 9 ) .

1.

Vorklärungen

1.1. Zur

Definition

Der Humanismus, die charakteristische Ausdrucksform des geistigen Lebens der Renaissance, entwickelte sich in Italien um die Mitte des 14. Jh. und blieb während der Reformationszeit und bis weit ins 17. Jh. hinein einflußreich. Den Begriff „Humanismus" oder umanesimo prägte 1808 der deutsche Pädagoge F. J . Niethammer; er benutzte ihn im Zusammenhang mit einer Erziehungsphilosophie, in der die klassischen Studien im Lehrplan bevorzugt wurden. Das Wort Humanismus als Bezeichnung einer historischen Bewegung und eines mit der Renaissance in Verbindung stehenden geistigen Phänomens verwendete erstmals Karl Hagen in einem 1 8 4 1 - 4 3 veröffentlichten Werk, ihm folgte 1859 Georg Voigt. Der Begriff ist vieldeutig und in verschiedenem Sinn gebraucht worden, um eine Anzahl Bewegungen, die eine stark anthropozentrische Komponente enthalten, zu beschreiben. In einer sehr weiten Bedeutung hat man ihn mit den rationalistischen und humanitären Gedanken, die in der Aufklärungszeit entwickelt wurden, verbunden. Im frühen 19. Jh. wurde er für den sogenannten zweiten Humanismus Wilhelm von -»Humboldts und seiner Zeitgenossen, für die Vernunft und Erfahrung der einzige Prüfstein der Wahrheit waren, verwendet. Er ist einerseits mit den indeterministischen Gedanken John Stuart Mills gleichgesetzt worden, andererseits haben ihn die marxistischen Sozialisten für den kommunistischen „progressiven Humanismus" in Anspruch genommen. Im 20. Jh. konnte man von einem „neuen" oder „dritten Humanismus" sprechen, der von Denkern wie Bertrand Russell und Corliss Lamont vertreten wird; er ist militant anthropozentrisch und nicht selten antireligiös. Der Begriff ist mit dem Versuch, eine nichttheistische, religiös-ethische Bewegung zu begründen, in Verbindung gebracht worden. Jean Paul Sartre u.a. haben die -»Existenzphilosophie als Humanismus verstanden. Schließlich ist der Begriff ohne Unterschied auf jede Art Hochschätzung menschlicher Werte angewandt worden und wird nicht selten mit einer humanitären Gesinnung verwechselt. Historisch gesehen ist der Humanismus jedoch am häufigsten mit den Gedanken und der literarischen Kultur der Renaissance in Verbindung gebracht worden. 1.2.

Renaissance-Humanismus

Der Renaissance-Humanismus ist ein komplexes Phänomen mit sehr unterschiedlichen geistigen Akzenten. Rund dreihundert Jahre umgreifender Veränderungen und Entwicklungen kennzeichnen ihn. Nach der klaren und genauen Definition von Paul Joachimsen war er eine hauptsächlich vom Literarischen und Philologischen ausgehende geistige Bewegung, die ihre Wurzeln in der begeisterten Hinwendung zur Antike und dem Wunsch nach ihrer Wiedergeburt hat. Diese Wiedergeburt der Antike — ein Gedanke, der das Wissen um das endgültige Vergangensein jener „besseren" Zeit voraussetzt, orientierte sich an zwei Gesichtspunkten, nämlich dem der Form, der hauptsächlich ästhetische, und dem der Norm, der darüber hinaus ethische Werte umfaßt. Dabei war der Humanismus nicht ausschließlich auf die Antike bezogen, jedoch wurde das klassische Altertum in einer bestimmten Weise betrachtet und mit der Gegenwart in Verbindung gebracht. Den Humanisten vermittelte die Antike nicht nur neue Denkweisen, neue Formen literarischen Ausdrucks und Engagements sowie Handlungsweisen, sondern auch neue Normen, die Brauchbarkeit und Rechtmäßigkeit von Gedanke, Wort und Tat bestimmten.

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Humanismus/Humanismusforschung

D a s Wort H u m a n i s m u s ist abgeleitet von der Bezeichnung studio humanitatis f ü r die freien Künste (—>Artes liberales) und geht im wesentlichen auf Cicero zurück, der im Redner oder Dichter den geeigneten Vermittler humanistischer Studien, der humaniora sah. Entsprechend ist ein Student der humanistischen Wissensgebiete in der Sprache des 15. Jh. ein humanista. Erst im 15. und frühen 16. Jh. wurde der Begriff „ H u m a n i s t " in Italien gebräuchlich und bezeichnete zunächst den öffentlichen oder privaten Lehrer der klassischen Literatur. In der zweiten Phase erhielt das Wort umfassendere und allgemeinere Bedeutung und bezeichnete den an der Antike Gebildeten und Studierten, der nicht unbedingt auch Lehrer sein mußte. Außerhalb Italiens tauchte die Bezeichnung humanista zuerst in Deutschland auf, z. B. im lateinischen Text der Epistolae Obscurorum Virorum von 1515. allerdings k o m m t erst gegen Ende des 18. Jh. auf. In Das deutsche Wort Humanismus Frankreich findet man es Mitte des 16. J h . bei Claude Gruget und Michel -»Montaigne. In die englische Sprache wurde es im späten 16. Jh. aus französischen und italienischen Quellen übernommen. Das Studium der freien Künste u m f a ß t e üblicherweise die fünf Fächer G r a m m a t i k , Rhetorik, Dichtung, Geschichte und Moralphilosophie. Obgleich der humanistische Studiengang mit dem der mittelalterlichen Kathedralschulen verwandt war, befaßte man sich weniger mit Dialektik und Logik, mit Naturwissenschaften und Metaphysik als die Scholastiker. In einem Brief an Niccolö Strozzi brachte der Florentiner Leonardo Bruni einen fast allen Humanisten gemeinsamen Gedanken zum Ausdruck, d a ß nämlich diese Studien vor allem dazu dienen sollten, den Menschen auszuzeichnen und zu vervollkommnen. In ihrem Unterricht führten die Humanisten den Beruf der mittelalterlichen dictatores weiter, die in der Kunstfertigkeit des Briefschreibens und der rechten Form zu schreiben und zu reden unterrichtet hatten. Die Renaissance des 12. Jh. war zunächst eine Angelegenheit der Kirche gewesen, mit den Kathedralschulen von Tours, Chartres, Laon, Orleans und Canterbury als Zentren. Das Studium der freien Künste wurde zur üblichen Ausbildung des kirchlichen Verwaltungsbeamten, der in der ständig wachsenden kirchlichen Hierarchie eingesetzt werden sollte. Im 13. Jh. bauten die Lehrer der ars dictaminis, der Briefschreibtechnik, die nicht nur f ü r kirchlichc, sondern auch f ü r städtische und fürstliche Kanzleibeamte von Nutzen war, Rhetorik und klassische Bildung weiter aus. Dantes Lehrer Brunetto Latini verfügte über eine hervorragende Kenntnis der lateinischen Klassiker und der Politik des Aristoteles. In dieser Tradition standen auch die H u m a n i s t e n der Renaissance des 14. und 15. Jh. Sie gingen jcdoch in ihrer Leidenschaft f ü r die Klassiker noch weiter als ihre Vorgänger und kultivierten die -»Rhetorik, die für sie als Führer zur Weisheit und deren Ausweis galt. Sie zitierten gerne Ciccros Ausspruch aus De Oratore: „Denn Beredsamkeit ist nichts anderes, als gedankenreich sich aussprechende Weisheit." Auch andere Benennungen wurden für die Humanisten üblich, wie z. B. O r a t o r , zumal nicht wenige einen Lehrstuhl für Rhetorik innehatten oder als Berater der R ä t e in den Städten und an Fürstenhöfen, als Dichter, Philosophen und sogar als vates, inspirierte Dichter-Propheten, auftraten. Als professionelle Redner und Lehrer der Klassiker k ä m p f t e n sie mit den Scholastikern um die Stellung ihrer Disziplin an den Universitäten und um eigene hochdotierte Lehrstühle. Vieles von dem, was als Streit zwischen Humanisten und Scholastikern bezeichnet worden ist, hatte eher mit solchen praktischen Dingen als mit Fragen der Wissenschaft zu tun. Denn den Humanisten schienen die dialektischen und theologischen Erörterungen der Scholastiker, gemessen an der Bildung, die ihnen vorschwebte, trivial und unbedeutend; ihnen ging es um den Menschen und das Leben der Gesellschaft und, darüber hinausgreifend, um die Stellung des M e n schen in Geschichte und N a t u r . Der H u m a n i s m u s wurde nicht nur von berufsmäßigen Lehrern, sondern auch von Gelehrten, Historikern, Moralisten, Staatsmännern und Klerikern, regulierten Geistlichen und Weltgeistlichen, gepflegt, die mit der aurea sapientia, der goldenen Weisheit der Philosophen und Schriftsteller der klassischen Zeit, der trocke-

Humanismus/Humanismusforschung

641

nen Dialektik der scholastischen Doktoren entgegentraten, besonders der damals herrschenden via moderna, den Ockhamisten als Vertretern einer nominalistischen oder terministischen Logik, wie sie bei physikalischen und mathematischen Problemen angewandt wurde. 1.3. Hauptprobleme

neuerer

Forschung

In den letzten Jahrzehnten standen in der Humanismusforschung folgende Probleme im Vordergrund: zunächst die Frage nach dem Ursprung des Humanismus. Verdankt er sich einer in Italien beheimateten klassischen Tradition, den Erinnerungen an die Größe Roms und dem Eindruck seiner architektonischen Denkmäler oder ist er - und wenn ja, wie weit - der französischen mittelalterlichen Tradition verpflichtet? -»Dante (1265-1321) kannte die lateinischen Klassiker, hat sein Hauptwerk aber in der Volkssprache abgefaßt. Francesco -»Petrarca hat im Familienkreis Cicero vorgelesen, dennoch sind seine Sonette in vielem der provengalischen Dichtung verpflichtet. Die Frage nach dem byzantinischen Einfluß und der Wiederbelebung griechischer Traditionen ist ebenfalls mit der nach dem Ursprung des Humanismus verknüpft. Ein zweites Problem stellt sich mit dem wirtschaftlichen Hintergrund des Humanismus. Die romantische Vorstellung, daß die Humanisten Wandervögel waren, die sich von ihrem Geist und mit der Feder ernährten, hat sich zerschlagen, denn nur Petrarca, Desiderius -»Erasmus und einige wenige andere haben als Schriftsteller gelebt und sind von Mäzenen, Erasmus von Druckern, unterstützt worden. Die meisten führenden italienischen Humanisten aber waren finanziell abgesichert. Sie stammten entweder aus wohlhabenden Familien oder hatten Stellungen als Notare und Leiter von Kanzleien inne und konnten sich ihres wohlerworbenen Wohlstandes erfreuen. Ihre soziale Funktion stand mit dem Aufstieg des Bürgertums in den Stadtstaaten im Zusammenhang; viele führende Humanisten kamen aus dieser Schicht. Die Verbindung von Humanismus und Beruf hatte sich zu Beginn des 15. Jh. in vier Formen institutionalisiert: im Staatsdienst und dem in den italienischen Staaten im Entstehen begriffenen diplomatischen Dienst, im Bildungsbereich als Universitätslehrer in den Fächcrn Dichtung, Rhetorik und Moralphilosophie, als Lehrer und Leiter kommunaler oder privater Schulen, in den kirchlichen und klösterlichen Zentren sowie in privaten Haushalten und an Fürstenhöfen. Ein drittes Problem ergibt sich mit der Stellung des Humanismus zur Religion. Einerseits gelten die Humanisten heute nicht mehr als Vorläufer der Reformatoren, andererseits gibt es eine Tendenz, das pagane Element im Humanismus unterzubewerten. Dabei gehen einige Forscher so weit, daß sie von dem „großen Priestertum der Laien bei den Humanisten" sprechen. Andere behaupten, daß gerade der Humanismus im wesentlichen orthodox und konservativ, die späte Scholastik dagegen rationalistisch, skeptisch und radikal war. Coluccio Salutati und viele andere Humanisten des frühen 15. Jh. hatten mit diesem Problemfeld zu tun. Er verteidigte in Briefen an seine Freunde die Kultur und die Dichtung Vergils, war aber ein durchaus gläubiger Christ. Die humanistische Geisteshaltung stand zur Religion und zum christlichen Glauben in einem viel komplizierteren Verhältnis, als es sich viele Historiker des 19. Jh. vorgestellt haben. Ein viertes Problem liegt in der Frage, wie sich die italienische Renaissance von der iro-keltischen, der karolingischen, der ottonischen und der Renaissance des 12. Jh. unterscheidet. Derzeit gibt es einen wachsenden Konsens darüber, d a ß der Unterschied nicht allein in der besseren Kenntnis einer größeren Zahl von lateinischen und besonders griechischen Klassikern zu sehen ist, sondern auch darin, daß die Humanisten des 14. und 15. Jh. den Abstand zur Antike stärker gespürt und einen Bruch der lebendigen kulturellen Kontinuität empfunden haben, der freilich keine völlige Entfremdung von der Tradition der unmittelbar vorangehenden mittelalterlichen Jahrhunderte bedeutete. Schließlich geht es um die Frage, in welchem M a ß e ein neuer Individualismus, der zu dem immer stärker werdenden bürgerlichen Charakter der wachsenden städtischen, kommerziellen Gesellschaft in Beziehung stand, bestimmend war. M a n behauptet, daß eine von Laien geprägte Mittelklasse-Gesellschaft mit der kirchlichen und feudalen

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Humanismus/Humanismusforschung

Hierarchie gebrochen habe und dadurch eine größere soziale Beweglichkeit und verstärkter Individualismus entstanden seien. Versuche, den Individualismus der Renaissance mit dem nominalistischen Partikularismus in Verbindung zu bringen und ihn vom thomistischen Realismus, in dem der Mensch als Vertreter einer Gruppe oder eines Typs galt, abzusetzen, haben sich weithin als unfruchtbar erwiesen. Die Humanisten bildeten mit ihrer Wiederherstellung antiker Formen und ihrer Bereitschaft, sich den klassischen Autoritäten und eigenen Modellen zu unterwerfen, eine durchaus eigene Gruppe. 2. Italienischer

Humanismus

2.1. Der Humanismus des Trecento Gegen Ende des 13. Jh. und zu Beginn des 14. Jh. entstand unter Führung von Juristen eine Art Protohumanismus, der sich zum Ziel setzte, Literatur und klassische Rhetorik zu pflegen. Im Norden Italiens werden Padua, Verona und Vicenza die Zentren, in der Toskana Arezzo und Florenz. Viele dieser Protohumanisten waren Studenten der ars dictaminis, Notare, Rechtsanwälte oder Richter. Einige standen aktiv im Staatsdienst, wie z.B. Lorati dei Lorati (1241-1309), Albertino Mussato (1261-1329) und Geremia da Montagnone (ca. 1 2 6 0 - 1 3 2 1 ) - a l l e in Padua - , der Florentiner Jurist Francesco da Barberino (1264-1348) und der in Florenz tätige advocatus communis Geri d'Arezzo (ca. 1270-ca. 1339). Sie alle eiferten klassischen Autoren nach, wenn sie Briefe, Gedichte, moralische Dialoge, Tragödien und Historien schrieben. 1321 erhielt Giovanni del Virgilio einen Lehrauftrag für lateinische Dichtung an der Universität Bologna. Giovanni Mansionario zog in seiner Historia imperialis verderbte klassische Texte heran und wies in seiner Adnotatio de duobus Plmiis nach, daß es zwei Autoren dieses Namens gab. Viele dieser aus dem Juristenstand kommenden Protohumanisten waren Laien, doch gab es auch in einigen kirchlichen Kreisen, wie z.B. beim Domkapitel in Verona und am päpstlichen Hof in Avignon, an dem sich 1312 Petrarcas Vater niedergelassen hatte, ein neu erwachsendes Interesse an den Klassikern. Petrarca konnte dort viele Freunde und Gönner für die antiken Klassiker interessieren. Unter ihnen Raymond Subrani, Giovanni Cavallini, den Dominikaner Nicholas Trevet sowie Kardinal Giovanni Colonna. Der Augustiner Dionigi da Borgo San Sepolcro schrieb Kommentare zu lateinischen Autoren, u. a. zu Valerius Maximus, und bildete die Verbindung zum Hof der Anjou in Neapel. Vor 1329 war er Lehrer an der Universität Paris gewesen. Ein anderer Freund Petrarcas, der Florentiner Roberto de' Bardi, war in Paris Professor und von 1336 bis 1349 Kanzler der Universität.

Francesco Petrarca (1304-1374), der „Vater des Humanismus", hat mit seiner reichen Begabung, seiner geistigen Beweglichkeit und Ausdrucksstärke dem frühen italienischliterarischen Humanismus den prägenden Charakter verliehen. Er selbst hielt seine historischen Studien über die Römer, De viris illustribus, sowie sein lateinisches Epos über Scipio, Africa, für seine bedeutendsten Werke. 1341 wurde er auf dem Kapitol in Rom zum Poeta laureatus gekrönt. In seinen Epistolae de rebus familiaribus et variae richtet er Briefe an die großen Toten der Antike, Livius, Vergil, Horaz und Cicero; sie zeigen, wie sehr er über das Problem der Zeit und der Stellung der eigenen Zeit im Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft nachdachte. Er pries die römischen Tugenden, weil er hoffte, daß es „angesichts der Leiden der Zeit" zu ihrer Erneuerung kommen könnte. In den Epistolae seniles, 14,1, erinnerte er an ein Gebot aus dem römischen Recht: „niemandem Leid anzutun, jedem das Seine zukommen zu lassen und ehrenhaft zu leben". Seine religiösen Gedanken entwickelte er in mehreren Abhandlungen, u. a. in De vita solitaria und in dem Secretum. In kunstvoll komponierten Dialogen mit dem hl. Augustinus erforschte er die Melancholie (accidiä) seiner eigenen Seele. In Aufstieg zum Mont Ventoux, in Le Familiari, kommen die Unklarheiten einer Position heraus, die sich antiken und christlichen Werten verpflichtet wußte. In De sui ipsius et multorum ignorantia schreibt er als Verteidiger einer christlichen Sicht des Menschen und der humanistischen Wertschätzung des einzelnen gegenüber gewissen Neu-Aristotelikern, die fälschlicherweise als Averroisten bezeichnet werden und deren Naturphilosophie ihm diese Werte zu untergraben schien. Er hat häufig solche Fragen berührt und einmal geäußert: „Wenn einer, der Cicero bewundert, als ein Cicero-Anhänger betrachtet wird, nun dann bin ich einer...

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Wenn wir aber über Religion nachdenken oder darauf zu sprechen kommen, also von der höchsten Wahrheit, der wahren Glückseligkeit und dem ewigen Heil, dann bin ich selbstverständlich kein Anhänger Ciceros oder Piatos, sondern bin ein Christ." Insgesamt gilt Petrarca als der Begründer einer neuen Kulturepoche. Im glänzenden Trecento steht neben Dante, dem vornehmsten Vertreter der mittelalterlichen literarischen Kultur, und Petrarca, dem Vater des Renaissance-Humanismus, als dritter der Freund Petrarcas, Giovanni Boccaccio (1313-1375). Sein Ruhm gründete vor allem auf dem Decatnerone, einer Sammlung von hundert Kurzgeschichten. Drei Knaben und sieben junge Mädchen fliehen vor der großen Pest des Jahres 1348 aus Florenz und finden in einem Landhaus Unterschlupf. Um sich in dieser ländlichen Abgeschiedenheit die Zeit zu vertreiben, erzählen sie sich täglich zehn Geschichten. Die Geschichten stammen aus alten Ritterromanen und fabliaux, aber Boccaccio spielt mit dem Material, spöttelt und zieht es ins Lächerliche. Seine italienischen Geschichten und novelle enthüllen eine zunehmende weltliche Sichtweite bei den Laien der Mittel- und Oberschicht der italienischen Städte. Bei der Suche nach Handschriften mit Texten aus der Antike gelangen Boccaccio einige hervorragende Funde: ein Text von Ausonius, einer von Martial, ein weniger bedeutendes Werk von Ovid und eine wichtige Auswahl aus Tacitus. Er selbst hat ein Handbuch über antike Geographie, ein Werk über berühmte Frauen (De claris mulieribus) und eines über die Schicksale großer Männer, zumeist Griechen und Römer, (De casibus virorum illustrium) verfaßt. Sein enzyklopädisches Werk De genealogia deorum, mit wörtlichen, moralischen und allegorischen Auslegungen und durchgehender Abhängigkeit von klassischen und mittelalterlichen Kompendien, blieb bis zum Erscheinen von L. G. Giraldis De deis gentium, Vincenzo Cartaris Le imagini degli dei und Natale Contis Mythologiae das wichtigste Handbuch der Mythologie. Im 4. Buch läßt er den Prometheus-Mythos in bezeichnend neuer Form wiedererstehen; der „zweite Prometheus" ist nämlich der gelehrte Mensch, weil „aus dem natürlichen Menschen durch Bildung der zivilisierte hervorgegangen ist, den Moral, Wissen und Tugenden auszeichnen, so daß also die Natur den Menschen hervorbringt, und ihn das Lernen dann neu gestaltet." 2.2. Die Verbreitung des

Humanismus

Wie sich an einer Kette von literati verfolgen läßt, hat sich der Humanismus Petrarcas über ganz Italien verbreitet. Weil Petrarca die letzten Jahre seines Lebens in Gebieten der Carraras verbrachte, war sein Einfluß in den Städten unter ihrer Herrschaft, wie Verona und Padua, groß. Giovanni Conversino da Ravenna (1343-1408), der 1392 Rhetorikprofessor an der Universität Padua und zweimal ihr Kanzler war, inspirierte mit seiner Leidenschaft für Cicero und mit seiner Bewunderung für Petrarca vor allem seine Schüler Poggio Bracciolini, Francesco Filelfo, Guarino da Verona und Vittorino da Feltre, die alle im Renaissance-Humanismus führend waren. 1408 eröffnete in Padua der Rhetorikprofessor und Autor der berühmten Orthographia, Gasparino da Barzizza (1359-1431), eine Humanistenschule. 1418 lud ihn Filippo Maria Visconti, der Dante und Petrarca, aber ebenso Ritterromane gelesen hatte, nach Mailand ein, um dort eine Lateinschule für Knaben zu eröffnen. Petrarcas Kopist Giovanni Malpaghini da Ravenna (1346—1417) unterrichtete in Norditalien und wurde gegen 1395 zum Professor der Rhetorik an die Universität Florenz berufen. In Florenz versammelte sich um den mit Petrarca korrespondierenden und mit ihm befreundeten Augustinermönch Luigi Marsigli (ca. 1330-1394) im Kloster Santo Spirito ein Kreis, der über die antiken Klassiker diskutierte. Ahnliches tat eine Gruppe von Laien, die sich in der Villa von Antonio degli Alberti traf. Palla Strozzi (1372-1402), der von Petrarca und Conversino beeinflußt war, hat die humanistischen Studien als Mäzen gefördert. Er spendete große Geldsummen für den Ausbau der studia, der Universität Florenz. Es gelang ihm, den griechischen Gelehrten Manuel Chrysoloras (ca. 1350-1415) als Lehrer für Florenz zu gewinnen. Außerdem gründete er im Kloster Santa Trinità die erste öffentliche Bibliothek von Florenz. Später wurde der aus Konstantinopel geflüchtete Grie-

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che Johannes Argyropoulos sein Griechischlehrer. Der Florentiner Kaufmann Niccolö Niccoli (1363-1437) besuchte die Vorlesungen von Luigi Marsiii und öffnete sein H a u s für die Studierenden der neuen Bildung. Er wurde ein Kenner der Antike, aber die Leistungen ihrer Autoren schüchterten ihn derart ein, daß er nie eigenes zu publizieren gewagt hat. Keiner war bei der Suche nach antiken Handschriften so erfolgreich wie Poggio Bracciolini (1380-1459). Er entdeckte in Cluny mehrere Reden Ciceros und fand in St. Gallen Quintilians Institutio oratoris; sie sind zusammen mit Ciceros De Oratore die sedes doctrinae für die Theorie der Rhetorik bei den Humanisten geworden. Auf einer weiteren Forschungsreise nach Einsiedeln, auf die Reichenau und nach St. Gallen fand er Abschriften von Werken des Ammianus Marcellinus und des Lucretius. In späteren Jahren entdeckte er darüber hinaus den Text des Vitruvius, neun neue Komödien des Plautus, die Briefe Plinius' des Jüngeren, einige kleinere Werke von Tacitus genauso wie dessen Agricola, die Dialoge und die Germania. In De varietate fortunae beschreibt Poggio die römischen Ruinen mit Blick auf ihren ästhetischen wie auch historischen Wert. Poggios großer Gegenspieler, Francesco Filelfo (1398-1481), hatte in Padua Latein und Rhetorik studiert und war 1417 als Lehrer der Philosophie und Rhetorik nach Venedig gerufen worden. Seine Bedeutung liegt nicht in eigenen Werken, sondern darin, daß er ein ständiger Anwalt des Humanismus war und bei der Einführung und der Ubersetzung griechischer Klassiker eine große Rolle gespielt hat. 2.3. Die Wiederbelebung

des

Griechentums

Zu Petrarcas Zeiten gab es in Sizilien und Süditalien, bekannt als Magna Graecia, viele griechische Siedlungen. Petrarcas Griechischlehrer Barlaam kam aus Kalabrien; Petrarca machte in dieser Sprache aber wenig Fortschritte. Boccaccio hatte 1360 den griechischen Gelehrten Leontius Pilatus als Lehrer nach Florenz holen können, der aber nur wenige Hörer fand. Auch der griechische Philologe Simon Atumano, der 1380-1381 in Rom unterrichtete, hatte nur einen Schüler. Die Italiener beschäftigten sich hauptsächlich mit der Wiederbelebung der römischen Antike und fanden wenig Zeit fürs Griechische. Dann aber suchte gegen Ende des 14. Jh. der von den osmanischen Türken bedrohte byzantinische Kaiser erneut Kontakt mit dem Westen. Die zwei kaiserlichen Gesandtschaften der Jahre 1374 und 1399 brachten jedoch keine Hilfe. Einige griechische Gelehrte hielten den Kontakt aufrecht, so z.B. Manuel Chrysoloras, der 1393 nach Venedig kam, nachdem er 1387 als Lektor der Klassiker in Florenz gewirkt hatte. Zusammen mit Manuel II. Palaeologus reiste er zwischen 1397 und 1399 durch Norditalien, nach Paris und London, konnte aber nirgends, außer in Florenz, ein größeres Interesse für seine Vorlesungen finden. Leonardo Bruni aber hatte dort bei ihm so gut Griechisch gelernt, daß er Plato, Aristoteles, Demosthenes, Plutarch und den hl. Basilius übersetzen konnte. 1438 erschien Johannes VIII. Palaeologus mit einem großen Gefolge in Italien, um vom Konzil in FerraraFlorenz (—•Basel-Ferrara-Florenz) Hilfe zu erbitten. Am 6. Juli 1439 wurde die Wiedervereinigung der Ost- und Westkirche bekanntgegeben, die militärische Hilfe blieb jedoch immer noch aus. Im Gefolge des Kaisers befand sich der griechische Platoniker und Jurist Gemistos Pletho (ca. 1355-ca. 1450). Er drängte bei Cosimo de'Medici auf die Errichtung einer Akademie für griechische Bildung und platonische Philosophie. Der Hauptunterhändler auf dem Konzil war der Metropolit von Nicäa, Johannes —»Bessarion (1403—1472), ein angesehener Platoniker. Er blieb im Westen; schon 1439 wurde ihm die Kardinalswürde verliehen. Wie Bessarion interessierte sich der Prior des Kamaldulenserkonvents von Santa Maria degli Angeli in Florenz, Ambrogio Traversari, für die Schriften der griechischen Kirchenväter. Gleichzeitig trugen zwei Handschriftensammler, Cyriaco de' Pizzicolli aus Ancona (ca. 1391-1457) und Giovanni Aurispa (1374-1450), Texte von Thukydides, Euripides, Sophokles und anderen griechischen Klassikern zusammen. Nachdem 1453 Konstantinopel gefallen war, flohen weitere griechische Gelehrte in den Westen,

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darunter Johannes Argyropoulos, Demetrius Calcondylas, Johannes und Konstantin Lascaris. Das förderte die Wiederbelebung der griechischen Antike, gab ihr einen neuen Impuls und den philosophischen Diskussionen eine breitere Basis. 2.4. Bürgerlicher

Humanismus

Im Mittelalter hatte Cicero hauptsächlich als Moralphilosoph gegolten. Seine Bewunderung der griechischen Kultur verlieh der Wiederbelebung der griechischen Antike den Charakter des rechtmäßig Notwendigen. Cicero war jedoch Staatsmann der römischen Republik und einer ihrer Verteidiger gewesen. Er regte die Humanisten dazu an, zugleich mit der vita studiosa die vita activa zu übernehmen und auszubilden. Die Gabe der Beredsamkeit war ja längst vor dem Ende des 14. Jh. während der Kanzlerschaft von Coluccio Salutati (1331-1406) und Leonardo Bruni Aretino (ca. 1370-1444) im Staatsdienst genutzt worden, jetzt aber, da Florenz von seinen Feinden ernsthaft bedroht war und für seine Freiheit und ums Überleben zu kämpfen hatte, erhielten solche Fähigkeiten erhöhte Bedeutung. Als Mailand und später Neapel die Stadt bedrohten, setzten die humanistischen Stadtkanzler ihre gesamten rhetorischen Möglichkeiten ein, um die Bürger zum Widerstand gegen die Tyrannen zu mobilisieren und sie in ihrer Verteidigungsbereitschaft für die Republik zu bestärken. Salutati hatte anfangs als Rechtsanwalt unbedeutende Posten bekleidet, war dann nach Rom gegangen, trat aber im Februar 1374 in florentinische Dienste und wurde ein Jahr später zum Kanzler gewählt. Dieses Amt behielt er 31 Jahre lang, bis zu seinem Tod. Er hatte auf die Außenpolitik der Stadt einen ebenso starken Einfluß wie auf innenpolitische Angelegenheiten, etwa den Widerstand während der Ciompi-Revolte im Jahre 1378. Salutatis offizielle Schriften und Korrespondenz brachten Florenz hohes Ansehen, so daß man in Florenz das Kanzleramt auch nach seinem Tode an Humanisten gab. Im Verlauf des 15. Jh. folgten dem Beispiel von Florenz die Städte Mailand, Venedig, Neapel, die päpstliche Kurie und viele kleinere signoriale Regierungen. Die Humanisten beherrschten nicht nur das klassische Latein, sie kannten sich auch in den Präzedenzfällen der römischen Geschichte und im römischen Recht aus und hatten zunehmend Einfluß auf Gönner, die literarische und künstlerische Projekte unterstützten. Salutati stand zwar nicht auf einer Stufe mit Pctrarca oder Boccaccio, hat aber literarische Werke wie De saeculo et religione, De nobilitate legum et medicinae, De tyranno, De laboribus Herculis verfaßt. Er war kein allzu beweglicher oder tiefschürfender Geist, rührte aber an Fragen, die in den folgenden Jahrzehnten diskutiert werden sollten. Weil die Toskana das Zentrum der Stadtstaaten war, blieb Florenz das ganze Jahrhundert hindurch bedroht. Aus dem Süden rückte König Ladislaus von Neapel heran, starb aber schon 1414, was für Florenz die Rettung bedeutete. Danach nahm Filippo Maria Visconti die alten Anstrengungen Mailands auf, um Florenz zu erobern. In vielen dieser kritischen Jahre war Leonardo Bruni Kanzler und führte sein Amt nach dem Vorbild Salutatis, der auch dessen Karriere gefördert hatte. Anders als Petrarca, der sich immer wieder ins kontemplative Leben zurückgezogen hatte, wandte Bruni die humanistische Bildung auf das soziale und politische Leben an. In seiner Laudatio florentinae urbis (1400) preist er die Freiheit der Republik, rühmt die Sicherheit der im Landesinnern gelegenen Stadt und ihre Anlage mit dem von vier konzentrischen Kreisen umgebenen Palazzo Vecchio in der Mitte. Er vergleicht Florenz mit dem antiken Athen oder Rom und spricht ihm größere Schönheit zu. In dem Dialog Ad petrum Histrum (1401), der offensichtlich von Plato inspiriert ist, entwickelte er seine Vorstellungen über die Erziehung, über den Wert der Bildung und die Kunst der Unterhaltung, sprach über die Größe Ciceros, über das umgreifende Wissen Varros und ähnliche Themen. Bruni hatte Livius, Polybius, Julius Caesar und Thukydides studiert und verwandte fast 30 Jahre auf seine Geschichte von Florenz (Historia florentini populi), in der die Freiheit das Hauptthema bildete. Wie die antiken Geschichtsschreiber verfaßte er für die Nachwelt die von ihm erlebte und gestaltete Geschichte, den Kerum suo tempore gestarum commentarius.

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Der bürgerliche Humanismus war mehr als nur die Ideologie eines kämpferischen Eintretens für die Republik; er wurde in einem allgemeineren Sinne als ein aktives, auf das allgemeine Wohl gerichtetes Leben verstanden. Zu Brunis Beisetzung in Santa Croce hielt die Leichenrede Gianozzo Manetti (1396-1459), der Autor der berühmten Abhandlung De dignitate et excellentia hominis. Darin antwortete Manetti auf die ihm von König Alfonso von Neapel gestellte Frage, worin die eigentliche Aufgabe des Menschen zu sehen sei: „Zu verstehen und zu handeln." An Konzentration des Denkens und der Bereitschaft zu gesellschaftlich-verantwortlichem Handeln übertraf niemand den großen Genius der Renaissance, Leon Battista Alberti (1404-1472), der ein wirklich „allseitig gebildeter Mensch" war. Als Architekt half er, den päpstlichen Palast für Nikolaus V. zu erneuern, schuf die Ornamente für den Trevi-Brunnen, baute die Kirche San Francesco in Rimini um, erbaute den Rucellai-Palast und entwarf die Fassade für Santa Maria Novella in Florenz. Seine berühmtesten Abhandlungen waren: De re architectura, Deila Pittura und Deila famiglia. Mit dem Satz „Der Mensch ist dazu geboren, dem Menschen zu dienen" formulierte er eine Maxime, die auch in den Schriften anderer Humanisten Ausdruck findet, so bei dem Autor von Deila vita civile, Matteo Palmieri (1406-1475), bei Carlo Marsuppini (1398—1453), der nach Bruniden Kanzlerposten in Florenz innehatte, und bei Benedetto Accolti (1415-1466), der nach Poggio das Kanzleramt in Florenz übernahm. In seinem Dialogus de praestantia virorum sui aevi behauptete er, daß die Männer seiner Zeit die der Antike überträfen. 2.5. Bildung Die Renaissance-Humanisten waren, was die Bildung des Menschen betrifft, im allgemeinen optimistisch und hatten zu seiner Rationalität, mindestens in den oberen Schichten der Gesellschaft, hohes Zutrauen. Im Mittelalter waren die freien Künste nur Grundlagenfächer für das eigentliche Studium der Theologie, der Jura und der Medizin gewesen. Jetzt, nachdem aus der Beschäftigung mit den artes liberales führende Männer mit umfassender Bildung, Charakter und Weitblick hervorgegangen waren, erkannte man ihren Eigenwert. Die humanistischen Erzieher werteten die Grammatik und Rhetorik gegenüber der Logik im engeren Sinne auf. Eine der einflußreichsten Abhandlungen über die Bildung war Pietro Paolo Vergerios (1370-1444) De ingenuis moribus, die über das einem freien Manne geziemende Verhalten handelte und in der Plato, Plutarch und Cicero ausgiebig herangezogen wurden. Vergerio hatte bei Conversino und Chrysoloras studiert, war mit Saltutati und Bruni befreundet und wirkte als Professor der Logik und Rhetorik in Florenz, Padua und Verona. Er hatte als Sekretär für das Lateinische eine Stellung bei Innozenz VII., Kardinal Zabarella und Kaiser Sigismund. Vergerio war davon überzeugt, daß von den freien Künsten das Geheimnis der wahren Freiheit vermittelt werde und daß sie dem Studierenden zur Entfaltung aller seiner individuellen Anlagen verhelfen können. An die erste Stelle rückte er das Studium der Geschichte, weil es für den Studierenden wie auch für den Staatsmann hilfreich sei, gefolgt von der Moralphilosophie und der Rhetorik. Die berühmtesten unter den großen humanistischen Erziehern, die die Bildungstheorie in die Praxis umsetzten, waren Vittorino da Feltre (1378-1446) und Guarino da Verona (1370-1460). 2.6. Humanismus

und

Geschichte

Von den humanistischen Erziehern wurde die Bedeutung der Geschichte hervorgehoben, besonders die der Antike und der eigenen Zeit. Das seit Petrarca zu beobachtende Bewußtsein für den zeitlichen Abstand zur Antike erzeugte bei ihnen ein vertieftes Geschichtsverständnis. In Geschichtsdarstellungen, angefangen von Leonardo Brunis Geschichte von Florenz bis zu Niccolo Machiavellis gleichnamigem Werk und Francesco Guiccardinis (1483—1540) Zeitgenössischer Geschichte Italiens, die den Zeitraum von 1492 bis 1534 umfaßt, kam zum Ausdruck, daß die Humanisten von den klassischen

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Geschichtsschreibern ein Gespür für zusammenhängende Darstellung, für literarischen Stil, für historische Kritik und eine Geschichtsbetrachtung erworben hatten, das sich von dem der mittelalterlichen Chronisten deutlich unterschied, eine pragmatisch ausgerichtete Geschichtsschreibung, bei der mit geschichtlichem Beispiel Moralphilosophie gelehrt wurde. Flavio Biondo (1389—1463) wurde der Begründer der modernen Archäologie. Er hatte als päpstlicher Sekretär ausgiebig Gelegenheit zum Studium der römischen Ruinen. In seinen beiden umfangreichen Werken Triumphales Rom und Wiedererstandenes Rom stützte er sich auf seine Kenntnisse der Topographie, der Monumente und archäologischen Funde und rekonstruierte daraus die politischen Institutionen und das Leben im alten Rom. In seiner Enzyklopädie Italia lllustrata gab er einen topographisch-historischen Überblick über ganz Italien seit der Antike. Einer der hervorragendsten kritischen Köpfe war Lorenzo Valla (1407-1457), der die geschichtsmächtige Wirkung der historischen Kritik unter Beweis stellte. Er war Philologe und Rhetoriker und schrieb die Abhandlung Elegantiae linguae latinae (1444), die im 15. Jh. größten Einfluß gewann. Sein Dialog De voluptate ac de vero bona brachte ihn unverdientermaßen in den Ruf, ein Epikuräer und antireligiöser Sensualist zu sein. Stets ein kritischer Geist, trug er in seiner Abhandlung De libero arbitrio die These vor, daß Prädestination und freier Wille nicht unvereinbar seien und daß göttliche Vorsehung und menschlicher freier Wille harmonisiert werden könnten (—•Wille, Willensfreiheit; -»Prädestination). Er glaubte nicht, daß der Mensch dazu fähig sei, zwischen natürlicher und übernatürlicher Welt rational die Brücke zu schlagen oder Vernunft und Offenbarung zu verbinden. In anderen Werken behandelte Valla Probleme, die in der Reformation eine große Bedeutung erlangen sollten. In seinen Annotationes zum Neuen Testament korrigierte er Fehler im Text der Vulgata und kritisierte Interpretationen einer immerhin so angesehenen Autorität wie der des Augustinus. In De professione religiosorum erklärte er, das mönchische Leben habe keinen höheren religiösen Wert als das christliche Leben eines Laien. In seinem Encomium über Thomas von Aquin übte er eine subtile Kritik an dessen Hochschätzung von Logik und Metaphysik für die Theologie und kritisierte gleichzeitig auch dessen lateinischen Stil, dem er den der Kirchenväter lobend gegenüberstellte. Das größte Aufsehen erregte er mit seinem Werk De falso credita et ementita Constantini donatione declamatio, worin die Authentizität des Dokuments, nach dem Konstantin bei der Verlegung der Reichshauptstadt nach Osten dem Papst Sylvester den Lateranpalast und italienische Provinzen geschenkt haben soll -»(Constitutum Constantini), bestritten wurde. 2.7. Humanismus

und

Philosophie

Um die Mitte des Quattrocento waren viele führende italienische Humanisten der Frühzeit bereits gestorben, so Bruni, Vergerio, Poggio, Vittorino, Manetti und Valla. Der Humanismus trat nun in eine neue Phase ein. Sie wird durch drei Entwicklungen gekennzeichnet: In vermehrtem Umfang verband sich klassische Bildung mit volkssprachlicher Literatur; seit Errichtung der ersten Druckerpresse im Jahre 1465 erfuhr der Buchdruck eine rasche Verbreitung; schließlich läßt ein neu aufkommendes Interesse an Metaphysik die relativ unkomplizierte Moralphilosophie der Humanisten zurücktreten. Man beschäftigt sich intensiv mit neuplatonischer (-* Neuplatonismus), neupythagoreischer, neuaristotelischer (-»Aristoteles, Aristotelismus), hermetischer und kabbalistischer (-»Kabbala) Philosophie und Theodizee. Die Verbindung von Humanismus und volkssprachlicher literarischer Produktion tritt am deutlichsten in den Schriften des Literaten Angelo Ambrogini (1454-1494) heraus, der als Politiker bekannt geworden ist und Kommentare zu griechischen und lateinischen Texten verfaßte, darüber hinaus aber herausragende Dichtungen auf lateinisch und in der Landessprache schuf. Ferner sind zu nennen der aus Neapel stammende Lyriker Giovanni Pantano (1426-1503) und Jacopo Sannazzaro (1456-1530), der in Arcadia die Schönhei-

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ten des ländlichen Lebens pries und in De partu virginis das Leben der Jungfrau in klassischen Metren beschrieb, schließlich Pietro Bembo (1470-1547) aus Venedig, der weitschweifig und blumig mit seinem Gli Asolani zum Exponenten des neuplatonischen Verständnisses der Liebe wurde. Die Verbreitung des Buchdrucks durch die Arbeit so gebildeter Verleger wie Aldus Manutius (1447-1515) aus Venedig vergrößerte den Kreis der Leser und auch den Einfluß des Humanismus. Einen damit zusammenhängenden kulturellen Fortschritt bedeutete es, daß nun Informationen in den großen öffentlichen Bibliotheken bereitgestellt wurden. Die bedeutendste und charakteristischste Form der Renaissancephilosophie war der —•Neuplatonismus. Er folgte auf den Aristotelismus der thomistischen scholastischen Philosophie des 13. Jh. (-»Thomas von Aquino, Thomismus) und auf das Interesse, das kurzzeitig und unmittelbar vorher in Florenz an der Moralphilosophie des Aristoteles bestanden hatte. 1457 war der aus Konstantinopel stammende Aristoteliker Johannes Argyropoulos an die Universität Florenz berufen worden. Die aristotelische Tradition in Florenz wurde von seinem Schüler Donato Acciaiuoli (1428-1478) und von Alamanno Rinuccini (1419-1499) fortgeführt. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gewann dann aber der Neuplatonismus die Vorherrschaft. Die Wiederbelebung einer steigenden Anzahl von Schriften griechischer Kirchenväter führte zu einer stärkeren Akzentuierung platonischer Tradition. Die drei bedeutendsten Philosophen der Renaissance waren -»Nikolaus von Kues (1401-1464), der viele Jahre in Rom verbrachte, Marsilio -»Ficino (1433-1499) und Giovanni -»Picodella Mirandola (1463-1494), ein Freund und Schüler von Ficino. Nikolaus von Kues' philosophisches Hauptanliegen war die Suche nach der Einheit, nach dem unendlichen Einen, das sich in der Vielzahl der endlichen Dinge individualisiert und enthüllt. Die Unterschiede und Antithesen aller endlichen Kreaturen treffen in der Unendlichkeit Gottes zusammen, als der coincidentia oppositorum. Ficino leitete die von Cosimo de'Medici begründete „Platonische Akademie". Er gab Schriften heraus und verfaßte eigene Werke, die in der späten Renaissancezcit die grundlegenden Texte der neuplatonischen Philosophie wurden. Er gab Plotins Enneaden und andere von dessen Werken heraus, ferner Schriften von -»Proclus, -»Porphyrius und noch nicht sicher identifizierte Texte von -»Dionysius Areopagita. Daneben übersetzte er eine Reihe von Schriften aus dem zweiten und dritten Jahrhundert aus dem Griechischen ins Lateinische, die dem mystischen Autor Hermes Trismegistos zugeschrieben werden und für das gnostische Denken jener Zeit typisch sind. Seine beiden bedeutendsten Werke sind De religione christiana und Theologia platónica. Als christlicher Prediger wollte er offenbar mit Hilfe des Neuplatonismus die der Antike zugewandten Zeitgenossen an den christlichen Glauben binden. Pico della Mirandola, ein junger wohlhabender Adliger, von Ficino inspiriert, hatte sich zum Ziel gesetzt, der Wahrheit, die nach seiner Uberzeugung dem Piatonismus, dem Aristotelismus, der Hermetik, dem Islam und der jüdischen Kabbala gemeinsam sein sollte, nachzuspüren. In Rom veröffentlichte er neunhundert Conclusiones, in denen das ganze Wissen zusammengefaßt war; sie sollten als Thesen für eine öffentliche Disputation dienen. In seiner rhetorischen Einleitung zu den Conclusiones, der Oratio de dignitate hominis, erklärt er, daß der -» Mensch nicht nur ein verbindendes Glied in der großen Kette der Lebewesen sei, sondern jener besondere Teil der Schöpfung, dem die Möglichkeit gegeben sei, zu den Engeln aufzusteigen, der aber auch, wenn er sich sinnlichen Gelüsten hingebe, auf die Ebene des Tieres hinabsinken könne. Obwohl der Neuplatonismus zu dieser Zeit vorherrschend war, fand auch der Neuaristotelismus seine Fürsprecher. Pietro Pomponazzi (1462-1525) verfaßte Werke wie De immortalitate animae und De fato, libero arbitrio, praedestinatione, Providentia Dei libri V. In ihnen führte er aus, daß die menschliche -»Seele nur eine Natur habe, deshalb absolut sterblich sei und nur unter bestimmten Aspekten unsterblich genannt werden könne. Die Unsterblichkeit sei nicht zu beweisen, müsse aber aufgrund der Autorität der

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Kirche akzeptiert werden. Im 16. Jh. setzten Bernardino Telesio und Francesco Patrizzi diese aristotelische Tradition fort. Giordano -»Bruno ist als Märtyrer der Renaissance bezeichnet worden, weil er wegen Ketzerei in Rom auf den Scheiterhaufen kam. Er führte in seiner Philosophie neuplatonische Gedanken des Nikolaus von Kues und die hermetische Tradition mit den in der Astronomie des Kopernikus liegenden Implikationen zusammen und gelangte damit an die Grenze des Pantheismus. Ebenso großen Einfluß wie auf die Philosophie hatte der Neuplatonismus auch auf Literatur und Kunst. 3. Europäischer

Humanismus

3.1. Deutscher Humanismus Im späten 15. und 16. Jh. vollzog sich zwischen Italien und Nordeuropa ein reger Austausch, der nicht nur Waren, sondern auch Personen und philosophische Konzeptionen umgriff. Aus Italien reisten Humanisten und Künstler als diplomatische Gesandte, als kirchliche Legaten, als Sekretäre für Fürstenhöfe und städtische Räte, als Universitätslehrer oder als Geschäftsleute in den Norden. In umgekehrter Richtung reisten vor allem Studenten der Jura und der Medizin und neben ihnen jene, die die italienische Bildung bewunderten und sich davon etwas anzueignen hofften. Die neue humanistische Kultur kam früher als in die anderen Länder Nordeuropas nach Deutschland. Zwischen dem Reich und Italien gab es enge politische Bindungen, der Handel blühte zwischen den italienischen Städten und den deutschen an Donau und Rhein, und die italienischen -•Universitäten zogen jährlich tausende deutscher Studenten in den Süden. In Bologna, Padua und Pavia gab es große und aktive deutsche „Nationen". Der Übergang vom wandernden Studenten zum umherstreifenden Humanisten war nicht schwer zu vollziehen. Den deutschen Humanismus charakterisiert ein starker kultureller Nationalismus und der Wunsch nach religiöser Klärung. In der zweiten Hälfte des 15. Jh. erscheinen erstmals führende Personen der neuen Bewegung: wandernde Poeten wie Peter Luder (ca. 1415-1474), humanistische Schullehrer wie Johannes Murmellius und Rudolf von Langen, scholastische Humanisten wie Conrad Summenhart und Paul Scriptoris, moralistische Kritiker der Gesellschaft und der Kirche wie Heinrich Bebel und Jacob Wimpfeling (1450-1528); letzterer warnte als Elsässer vor den Ubergriffen des französischen Königs und griff in seiner Schrift De integritate die Simonie und Konkubinenwirtschaft an. Wimpfelings Freunde, Sebastian -»Brant, Autor des Narrenschiffs, und der machtvolle Prediger Johann -»Geiler von Kaisersberg (1445—1510), waren ebenfalls an einer besseren Gesellschaft interessiert. Der Repräsentant dieser älteren Generation war zweifellos Rudolf Agricola (1444-1485), bekannt als der „deutsche Petrarca". Er war nach einem zehnjährigen Aufenthalt in Italien nach Deutschland zurückgekehrt und stand in Heidelberg einem Kreis junger Humanisten vor. Eher Rhetoriker als Philosoph, zog er Cicero dem Aristoteles vor. In De inventione dialectica (1479) stellte er für die rhetorische Theorie die Entdeckung vor das Urteil. Einer von Agricolas Schülern war der deutsche „Erzhumanist" Conrad Celtis (1459-1508), den Kaiser Friedrich III. 1487 zum Poeta laureatus erklärte. Zu seinem literarischen Werk gehören die Amores, eine Sammlung von Liebesgedichten, und die Oden. Heimgekehrt von einer Italienreise ermunterte er die Deutschen zum Wettstreit mit den Italienern. Er veröffentlichte die Werke der -»Hrotsvit von Gandersheim, die im 10. Jh. lebte, und das epische Gedicht Ligurinus, ein Loblied auf Kaiser Friedrich Barbarossa. Er organisierte die humanistischen Sodalitäten an Rhein und Donau, in Linz, Ingolstadt, Augsburg, Heidelberg und anderen Städten und verpflichtete ihre Mitglieder zu Beiträgen für seine Germania illustrata, für die ihm Biondos ltalia illustrata das Vorbild war; seine Norimberga wurde zu dem Beispiel für ein topographisch-historisches Werk. 1497 gründete er auf Einladung von Kaiser -»Maximilian I. an der Universität - • W i e n , wo er später auch starb, ein Dichter- und Mathematikerkolleg. Während es an den Universitäten zu einem Wettstreit der Humanisten um Ansehen

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und Positionen kam, konnte sich der Humanismus an den Höfen und in den Städten ausbreiten. Um 1520 hatte er an den kaiserlich Habsburger Höfen in Linz und Wien, aber auch an denen der Landesfürsten und der mächtigen Fürstbischöfe von Mainz, Trier und Köln Eingang gefunden. Die reichen süddeutschen Städte wurden zu Zentren humanistischer und künstlerischer Aktivitäten. Der Jurist Conrad Peutinger (1464-1547) förderte die klassische Bildung und war Ratgeber der Stadt Augsburg und Kaiser Maximilians. Der Historiker Johannes Aventinus (1477-1534) verfaßte die Annales Bayerns. Der Nürnberger Ratsherr Willibald Pirckheimer (1470-1528), der mit Celtis und Albrecht Dürer befreundet war, machte aus seinein Patrizierhaus ein Zentrum für humanistische Diskurse. Der bekannte Reuchlin-Streit rückte die strittigen Punkte zwischen Humanismus und Scholastik in ein scharfes Licht. Johannes -»Reuchlin (1455-1522) war Kanzler beim Herzog von Württemberg, später Professor in Ingolstadt und Tübingen und Verfasser einer hebräischen Grammatik mit Vokabular (1506). In seinen beiden Hauptwerken De verbo mirifico (1494) und De arte cabalistica (1517) hat er die jüdische mystische -•Kabbala zur Bestätigung des Christentums herangezogen. Als er einige hebräische Bücher gegen einen bösartigen Angriff von Johannes Pfefferkorn verteidigte, wurde er von gewissen Kölner scholastischen Doktoren angegriffen. Z u seiner Verteidigung veröffentlichten die jungen Humanisten Crotus Rubeanus (ca. 1480-1545) und Ulrich von - • H u t t e n (1488-1523) die Epistolae Obscurorum Virorum, eine beißende Satire über die „Obskurantisten", die die Bücherverbrenner unterstützen wollten. In Gotha versammelte sich um den Kanoniker Mutianus Rufus (1471 -1526) ein Kreis junger Humanisten von der Universität Erfurt, der die humanistische Bildung vorantreiben wollte. 3.2. Französischer Humanismus Die von der Antike bereicherte, neue Kultur setzte sich in Frankreich aufgrund des Hundertjährigen Krieges und des Streites mit Burgund nur mit Verzögerung durch. Frühere Forscher datierten das Einsetzen der französischen Renaissance auf den Zeitpunkt der Invasion Italiens durch Karl VIII. Dagegen ist man heute der Auffassung, daß sie sich schon lange vorher, seit dem avignonesischen Papsttum und den Kontakten zwischen der Provence und Italien angebahnt hat. In der ersten Hälfte des 15. Jh. waren der Kanzler Jean de Montreuil (1354-1418) und der große Prediger Nicolas de Clémange Bewunderer Ciceros und machten von der Rhetorik in ihren Ämtern Gebrauch. In der Regierungszeit -»Franz'1. gelangte die französische literarische Kultur zu hoher Blüte. Guillaume Budé (1468-1540) schrieb einen Kommentar zu den Pandekten oder Digesten, der Sammlung der Gesetze Justinians, veröffentlichte mit De asse eine Abhandlung über Münzen und verfaßte die Commentarii linguae graecae sowie 1535 das größere Werk De transitu hellenismi ad christianismum, das seinen Ruf als führenden Hellenisten begründete. Lefèvre d'Étaples (1455 -1536; -»Faber Stapulensis) hat humanistisch-philologische Prinzipien auf biblische Texte angewandt, so in dem 1509 veröffentlichten Psalterium quintuplex, in dem er fünf lateinische Textversionen nebeneinanderstellte, 1512 im Kommentar zu den Paulusbriefen und 1522 im Kommentar zu den vier Evangelien. Er hatte einen großen Einfluß auf -•Luther und auf die französischen Reformatoren wie Gerard Roussel, Guillaume -»Farel und Johannes -»Calvin. Zusammen mit anderen Humanisten wurde er in Meaux von Marguerite d'Angoulême, der Schwester Franz'I., die selbst literarisch tätig wurde, und von Bischof Guillaume -»Briçonnet gefördert und beschützt. François Rabelais (ca. 1495-1553) ist durch seine geistreiche und satirische Geschichte Gargantua und Pantagruel bekannt, in der er vor allem Gesellschaftskritik übt. Rabelais, der anfangs Franziskaner und Arzt war, ist seinen Kommentatoren immer wieder rätselhaft erschienen; sie haben ihn mal als skeptischen Freidenker, dann als verkappten Protestanten und in neuerer Zeit häufiger als einen Humanisten aus der Schule des Erasmus eingestuft. Als größter Literat aber gilt Michel de -»Montaigne (1533-1592), ein berühmter Essayist, Moralist, skeptischer Philosoph und Humanist.

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Humanismus

Auch wenn der spanische Humanismus manchmal fast ausschließlich mit der überragenden Persönlichkeit der spanischen Literatur, Miguel de Cervantes (1547-1616), dem Autor des Don Quixote, in Verbindung gebracht wird, haben doch viel früher schon der Humanismus des Erasmus und das Luthertum die spanische Kultur beeinflußt. Kardinal Francisco -»Ximénez de Cisneros (1436—1517) führte eine strenge Kirchenreform durch. Er gründete die Universität von Alcalá, an der er ein Dreisprachen-Kolleg für Latein, Griechisch und Hebräisch einrichtete. Ferner leitete er die Herausgabe der Complutenser Polyglotte, in der der hebräische, lateinische und griechische Text der Bibel nebeneinanderstanden. Der führende Humanist aber war Antonio de Nebrija (1441-1522), ein ausgezeichneter Latinist und Grammatiker des Kastilischen. In Salamanca bildete er eine ganze Generation spanischer Humanisten aus. 3.4. Englischer

Humanismus

Als im 15. Jh. der Humanismus in England Eingang fand, wurde er in das traditionelle scholastische Denken integriert und nicht als ein konkurrierender neuer Entwurf empfunden. Die meisten englischen Humanisten waren kirchliche Beamte, die ihre klassischen Studien aus Freude an der Sache betrieben. Im Laufe des Jahrhunderts kamen mehrere Italiener nach England, darunter Poggio, Polydore Vergil und fünf Bischöfe von Worcester. Herzog Humphrey von Gloucester, der Bruder König Heinrichs V., beschäftigte italienische Sekretäre und förderte die humanistischen Studien in -» Oxford. Der Bischof von Ely, William Grey, hatte bei Guarino studiert und war mit Poggio und Bessarion befreundet. Seit Thomas Linacre (ca. 1460-1524), William Grocyn (ca. 1466-1519) und William Latimer (ca. 1460-1543) wandte man sich in Oxford ernsthaft dem Studium der antiken Schriftsteller zu. Die drei bedeutendsten christlichen Humanisten der ersten Phase der englischen Renaissance, John Colet, Thomas -»Morus und -»Erasmus, waren alle von Grocyn unterrichtet worden. John Colet (ca. 1467-1519) hatte in Oxford studiert, in -»Cambridge seine Grade erworben. Er war mit Ficino in Kontakt gekommen und darüber Neuplatoniker geworden. Nach seiner Rückkehr aus Italien im Jahr 1496 begann er seine berühmte Vorlesungsreihe über den Brief des Paulus an die Römer. Er hob die Sündhaftigkeit des Menschen ebenso hervor wie sein Angewiesensein auf Gottes Gnade und Barmherzigkeit. Als Dean der St. Pauls Kathedrale in London gründete er nach dem Vorbild der humanistischen Schulen in Italien die Schule bei St. Paul. Colet gehörte zum Freundeskreis von Thomas Morus, der - ein ausgezeichneter Schriftsteller, wenn auch böser Polemiker - mit seiner Utopia das berühmteste Werk des englischen Humanismus geschrieben hat. Seine politische Karriere und auch seine von Heinrich VIII. befohlene Hinrichtung sind bedeutende Marksteine der englischen Geschichte. Unumstrittene Vorrangstellung unter den nordeuropäischen Humanisten aber genoß ohne Zweifel Desiderius Erasmus (1469-1536), der eine unerschütterliche Liebe zu den Schriftstellern der Antike mit der Hochachtung vor den Kirchenvätern verband. Seine berühmte Auseinandersetzung mit Luther über die Frage des freien Willens markiert für viele Gelehrte die Wasserscheide zwischen Humanismus und reformatorischer Theologie. 4. Humanismus und

Reformation

Luther"betrachtete die Renaissance gleichsam wie Johannes den Täufer, der den Beginn der Auferstehung des Evangeliums verkündigte. Er war der Auffassung, daß der Humanismus die Reformation möglich gemacht habe, denn für ihren Erfolg waren die Kenntnis der alten Sprachen, die kritische Behandlung der Quellen, der Angriff auf die kirchlichen Mißbräuche, der romantisch-kulturelle Nationalismus, der Kampf gegen Obskurantismus und Scholastik, die Ausbreitung des Buchdrucks und das Heer junger

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Humanismus/Humanismusforschung

Humanisten, die sich um die Sache des Evangeliums scharten, unabdingbar. Andererseits trugen die Reformatoren mit dazu bei, daß viele humanistische Werte und die freien Künste noch lange fortlebten, das Studium der Antike sich ausweitete und die klassische Bildung wuchs und an Einfluß zunahm. Zwischen der reformatorischen Theologie und den religiösen Vorstellungen der Antike und auch des christlichen Humanismus gab es im Bereich von Anthropologie und Soteriologie, in den Gegensätzen von Sünde, Gnade, Gesetz und Evangelium gewiß eine große Kluft. Aber für die Reformatoren war die höhere Kultur vom Glauben ebenso zu durchdringen, so daß sie sich in der Mehrzahl für die humanistische Bildung einsetzten. Sie reformierten die Lehrpläne an den Universitäten und errichteten neue Gymnasien, an denen humanistische Bildung und reformatorisches Bekenntnis gelehrt wurde. Sie erweiterten die Bildungsgrundlagen, indem sie eine umfassende Ausbildung, die für Jungen und Mädchen Pflicht sein sollte, forderten, den Lehrerberuf als eine erhabene, göttliche Berufung ansahen und schließlich für die neuen protestantischen Universitäten, für die Gymnasien und Lyzeen einen humanistischen Lehrplan auf der Grundlage der freien Künste forderten. In -»Wittenberg kam die Initiative zur Förderung der humaniora von Luther. Dort hatten seit der Gründung im Jahre 1502 Humanisten wie Martin Pollich aus Melierstadt und Nicolaus Marschalk gewirkt. Luther wurde durch sein enges Verhältnis zu Philipp -•Melanchthon (1497-1560), der ein Großneffe -»Reuchlins war, in seiner Liebe zu den antiken Schriftstellern und in seiner Bevorzugung des Humanismus gegenüber der Scholastik bestärkt. Dieser vielversprechende junge Humanist Melanchthon wurde Griechischprofessor an der Artistenfakultät und war Autor bedeutender Bekenntnisschriften und anderer theologischer Werke. Wie in Italien lag in der Ausbildung die Betonung auf Rhetorik, Geschichte, Dichtung und Moralphilosophie. Joachim Camerarius (1500-1574), einer der großen Polyhistoren des Jahrhunderts, hatte in Leipzig, Erfurt und Wittenberg studiert und unterrichtete Geschichte und Griechisch am Nürnberger Gymnasium. Er half 1530 Melanchthon beim Abfassen des -»Augsburger Bekenntnisses, leitete 1535 die Neuorganisation der Universität -»Tübingen und 1541 die der Universität -•Leipzig; hier verbrachte er die meiste Zeit seiner verbleibenden Jahre, ausgefüllt mit klassischen Studien. Andere protestantische Persönlichkeiten, die in der Förderung der humanistischen Bildung eine Schlüsselposition einnahmen, waren der Lehrer und Direktor des Straßburger Gymnasiums Johannes -»Sturm (1507-1589), der Historiker Johannes —»Sleidan (1506—1556), der die Reformation und die Regierungszeit Karls V. thematisierte, sowie später der irenische Theologe mit humanistischer Geschichtsauffassung Georg -»Calixt (1586-1656). Unter den vielen neulateinischen Dichtern sind Eobanus Hessus, Euricius Cordus, Laurentius Corvinus, Ursinus Velius, Georgius Logus, Joachim Vadianus, Nathan Chyträus und Nikodemus Frischlin zu nennen. Im 16. und 17. Jh. wurden das mittelalterliche Fastnachtspiel und das humanistische Drama als dramatische Form weiterentwickelt. Die Reformatoren schätzten den Wert des Dramas hoch ein, weil darin Dichtung, Rhetorik und Moralphilosophie eine Verbindung eingingen und weil es biblische und weltliche Geschichte sowie Parabeln als populäres Theater bot, aber auch als Schuldrama vor die Jugendlichen kam. Auch in der reformatorischen Schweiz, wo Ulrich -»Zwingli den Ton angab, leistete der Humanismus einen bedeutenden kulturellen Beitrag. In Genf gründete der junge französische Humanist Johannes -»Calvin die Akademie, aus der später die Genfer Universität (-»Genf) hervorgehen sollte. Calvin selbst gab ein Werk von Seneca heraus, war in den Klassikern belesen und schrieb ein ausgezeichnetes Französisch. Zur festlichen Eröffnung hielt der Griechischprofessor Theodor -»Beza eine berühmt gewordene Ansprache zur feierlichen Eröffnung der Akademie in Genf, in der er die freien Künste und die gelehrten Disziplinen lobte. Calvins Lehrer im Lateinischen, Mathurin Cordier, war ihm aus Frankreich ins Exil gefolgt. Er verbrachte den Rest seines Lebens in Genf und galt

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als Urbild eines evangelischen humanistischen Erziehers. Einer jener calvinistischen Erzieher, durch die das Genfer Ideal nach Frankreich, Schottland, England und in andere Länder, in die der Calvinismus Eingang gefunden hatte, gelangte, war Claude Baduel, der viele Jahre als humanistischer Professor und Reformator in Nimes wirkte. Die calvinistischen Akademien waren nach humanistischem Vorbild gestaltet. Die katholischen Reformer, besonders die Jesuiten, folgten einem ähnlichen Muster. In ihren höheren Schulen lag die Betonung auf Sprachen, Rhetorik, Geschichte und Moralphilosophie. Katholische Universitäten, wie -»Löwen, erhielten einen humanistischen Lehrplan. In katholischen wie in protestantischen Gebieten wurde die humanistische Kultur zur Norm und blieb auch über die Zeit der sogenannten Religionskriege hinweg bis hin zur Aufklärung ein wesentlicher Bestandteil des Erziehungssystems. 5. Zur Geschichte

der

Humanismusforschung

Die Forschung über den Humanismus ist mit dem Problem der historischen Periodisierung eng verknüpft worden. Bei den Renaissance-Humanisten, die das goldene Zeitalter der Antike bewunderten, herrschte ebenso wie bei den Reformatoren, die die Heilige Schrift in den Mittelpunkt stellten und die Reinheit der alten Kirche im Gegensatz zum Dunkel der Jahrhunderte unter päpstlicher Herrschaft empfanden, das Bewußtsein, in einem neuen Zeitalter zu leben. Im späten 17. Jh. verbreitete der lutherische Historiker Christoph Keller oder Cellarius, der an der Antike gebildet war, den Begriff medium aevum-, er gab dem Mittelalter, im Vergleich zur Antike und zur modernen Zeit, einen zweitrangigen historischen Status. Für Pierre Bayle (1647-1706), der das Dictionnaire historique et critique (1697) herausbrachte, war die Erneuerung der Vernunft in der Renaissance das Entscheidende, und die Aufklärung bildete die Fortsetzung der Renaissance. Die Rationalisten des 18. Jh., wie Voltaire, Condorcet, Gibbon und Robertson, standen dem Mittelalter oder dem „dunklen Zeitalter" zutiefst kritisch gegenüber. Die Romantiker, wie Johann Herder, Friedrich Schlegel, Wilhelm Wackenroder oder Adam Müller, versuchten, die mittelalterliche Zivilisation aus den lange geübten Vorwürfen des religiösen und moralischen Verfalls, der klerikalen Tyrannei und der feudalen Anarchie zu befreien. Im Zusammenhang mit dieser von der Aufklärung und der Romantik vorgetragenen Polemik ist die moderne Forschung über den Renaissance-Humanismus entstanden. Am einflußreichsten war Jacob Burckhardts Schrift Die Kultur der Renaissance in Italien: Ein Versuch (Basel 1860). Ihm zufolge bedeutet die Renaissance einen deutlichen Bruch mit dem Mittelalter und bezeichnet den Beginn der Moderne. Charakteristisch neuzeitlich an der Renaissance schienen ihm eine Politik, die sich nicht an die Ethik gebunden wußte, das Interesse an der menschlichen Persönlichkeit und der Welt der Natur wie auch am antiken Heidentum. Jules Michelet hatte in seiner Geschichte Frankreichs die Formulierung von der „Wiederentdeckung der Welt und des Menschen" geprägt. In diesem Sinne empfand Burckhardt als das grundlegende Charakteristikum dieses Zeitalters einen vor dem Hintergrund der Despotie sich entwickelnden egozentrischen -•Individualismus. Die politische Anarchie des 13. Jh. hatte die alte Ordnung zerstört und die traditionellen Werte unterminiert. Soziale Unsicherheit und Auflösung der Sittlichkeit waren die Folge, so daß Skrupellosigkeit und Gesetzlosigkeit sich durchsetzen konnten. Der Humanismus, der ja die Wiederbelebung der heidnischen Antike betonte, nahm an den Strömungen des Zeitalters teil und verstärkte sie, war allerdings nicht ihr Verursacher. Dennoch war er auf diese Weise mit der Moderne verbunden. Diese Analyse verband sich gut mit dem, was Georg Voigt in Die Wiederbelebung des classischen Alterthums, oder das erste Jahrhundert des Humanismus (Berlin 1859) ausgeführt hatte. Für Voigt war der Humanismus mit seiner Wiederbelebung der antiken Kultur ein Antagonismus zu den mittelalterlichen scholastischen Denk- und Ausdrucksweisen. Die Humanisten entwickelten einen neuen Sinn für Formen, eine kritische Methode und ein neues Selbstbewußtsein des Individuums; ihre Haltung gegenüber der

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Kunst, der Literatur und dem Leben war modern. Philippe Monier, der sehr stark von Voigt abhängig war, übertrug in Le Quattrocento (Paris 1901) diese Sicht des Humanismus nach Frankreich. John Addington Symonds, mit seiner eigenen Zeit unzufrieden, idealisierte in seinem siebenbändigen Werk Renaissance in Italy (London 1875-1886) die Renaissance: In ihr wurde die Freiheit neu geboren, die Menschheit hatte hier ein Bewußtsein von sich selbst und die Kraft zur Selbstbestimmung wiedererlangt, hatte die Schönheit der äußeren Welt neu entdeckt und war durch die Kunst auf die Schönheit des Körpers aufmerksam geworden; in den Wissenschaften waren die Vernunft und in der Religion das Gewissen wieder zum bestimmenden Zentrum geworden, im geistigen Leben erhielt die Kultur einen hohen Stellenwert und das Prinzip der politischen Freiheit setzte sich allenthalben durch. Ludwig Geiger interpretierte in Renaissance und Humanismus in Italien und Deutschland (Berlin 1882) den deutschen Humanismus im Burckhardtschen Sinne, zog Parallelen zwischen italienischen und deutschen Humanisten, indem er Agricola z.B. als den deutschen Petrarca rühmte. Obwohl diese Repräsentanten der Burckhardtschen Interpretation den Humanismus als eine neue Weltanschauung ansahen, entwickelte sich die Deutung des Humanismus gleichwohl in diese Richtung. Bei Voigt wird ganz konventionell Kulturgeschichte abgehandelt; Wilhelm Dilthey brachte dann eine neue Form der Geistesgeschichte, die dem wissenschaftlichen Positivismus des 19. Jh. entgegengesetzt war. In dem 1891/92 veröffentlichten berühmten Aufsatz Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jh. führte er aus, daß das aus christlichen, griechischen und römischen Elementen zusammengesetzte einheitliche Weltbild in der Renaissance auseinanderbrach. Die Humanisten zerstörten die transzendentale Weltsicht, der Piatonismus trug zur Entwicklung pantheistischer Strömungen bei, so daß das Gefühl aufkommen konnte, die letzten Wirklichkeiten des Lebens könnten innerhalb der Grenzen menschlicher Erfahrung und der Welt der Natur gefunden werden. Diese Ansicht ist im 20. Jh. durch historisch arbeitende Philosophen wie den Neukantianer Ernst Cassirer erweitert worden. In Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (Leipzig 1929), kreisend um die Philosophie des Nikolaus von Kues, führt Cassirer zur Weltanschauung des Zeitalters aus: Sie bestand in der Auffassung des physikalischen Universums als mathematisch bestimmt und objektiven Ursachen unterworfen, die begleitet war von einer Konzeption, nach der der Mensch kraft der Einheit von subjektiver Wahrnehmung und äußerer Welt einen einheitlichen Kosmos zu schaffen in der Lage ist. Giovanni Gentile behielt in Werken wie I problemi della scholastica e il pensiero italiano (Bari 1912), Studi sul Rinascimento (Florenz 1923) und La concezione umanistica del mondo, Nuova antologia (227 [1931] 303-317), den Standpunkt bei, daß der Humanismus mit der mittelalterlichen Jenseitigkeit zugunsten eines neuen Selbstbewußtseins und Selbstvertrauens, des Glaubens an die Würde des Menschen und der schöpferischen Kräfte im menschlichen Geist gebrochen und damit die Grundlage für die Immanenzphilosophie eines wissenschaftlichen Idealismus geschaffen habe. Diese allgemeine Sicht wurde ebenso von Guido de Ruppiero im dritten Teil seiner Storia della filosofia, mit dem Titel Rinascimento, Riforma et Controriforma (Bari 1930), sowie von Guiseppi Saitta in 11 pensiero italiano nell' umanesimo e nel rinascimento (Bologna 1949-1951) übernommen. So konnte sich Burckhardts Interpretation zur traditionellen Sicht des Humanismus entwickeln, der danach einen klaren Bruch mit dem mittelalterlichen, christlichen und scholastischen Denken zugunsten des Individualismus, neuer weltlicher Werte und einer modernen Sicht des Lebens vollzogen hat, was schließlich zum Liberalismus, kritischen Rationalismus, zu Diesseitigkeit und einer modernen wissenschaftlichen Betrachtung des Menschen und der Natur geführt hat. Eine Revision, ja eine völlige Zurückweisung der traditionellen Burckhardtschen Sicht kam von zwei Ansatzpunkten her: Einerseits wurden die Wurzeln weiter zurückverfolgt, andererseits kam es zu einer Neubewertung des Humanismus durch ein gründlicheres Studium der humanistischen Schriften. Die Mediävisten vertraten die Auffassung, daß die Burckhardtianer das wahre Wesen der mittelalterlichen Kultur nicht verstanden hätten,

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weil Bildung an der Antike in ihr stets einen bedeutenden Anteil gehabt habe und weil es vor der Renaissance mehrere „rettascences", so die irokeltische, die karolingische, die ottonische und die des 12. Jh. gegeben habe. Der Kunsthistoriker Heinrich Thode zum Beispiel behauptete in Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien (Berlin 1885), daß die charakteristischen Züge des Renaissancemenschen im Mittelalter wurzelten. Sie lägen in einem Komplex religiöser Impulse, die Franz von Assisi ein Jahrhundert vor Petrarca ausgelöst habe, nämlich in der Bedeutung der individuellen Erfahrung und der Nähe zur Natur. Der hl. Franz und die Franziskaner hätten viel zum Realismus in der Kunst Giottos und der Renaissancezeit beigetragen. In The Renaissance of the Twelfth Century (Cambridge, Mass. 1929) verwies Charles Homer Haskins auf die Errungenschaften, die man schon in jener Zeit in den klassischen Studien gemacht habe und hielt es daher für unangemessen, für die Renaissance von einer „Wiederbelebung" der Antike zu sprechen. Der neuthomistische Philosoph Etienne Gilson behauptete in Les idées et les lettres (Paris 1932) und in anderen Werken, daß alle Elemente des Renaissancehumanismus bereits in der scholastischen Philosophie anzutreffen seien. Heinrich Hermelink übernahm in Die religiösen Reformbestrebungen des deutschen Humanismus (Tübingen 1907) die These von Thode und behauptete, daß sich die italienische Renaissance aus mittelalterlichen religiösen Quellen, wie z.B. dem hl. Franziskus, Dante und der via antiqua des Thomismus herleite. Die Quellen für den deutschen Humanismus suchte er im wesentlichen im Norden. In ähnlicher Weise glaubte Konrad Burdach, der Vom Mittelalter zur Reformation. Forschungen zur Geschichte der deutschen Bildung, 6 Bde. (Berlin 1912-1939), Deutsche Renaissance. Betrachtung über unsere künftige Bildung (1916, rev. Ausg. Berlin 1920) und andere Werke herausbrachte, daß die Triebfeder der Renaissance die Erneuerung der menschlichen Seele war, die aus einem neuen Bewußtsein für religiöse, persönliche und nationale Wiedergeburt entsprang. Das die Renaissance ursächlich bestimmende Bewußtsein der Wiedergeburt sei in Italien im 13. Jh. unter dem Einfluß der Mystik der Franziskaner aufgekommen und von klassischen Traditionen nationaler Wiedergeburt, die man vom antiken Rom ererbt hatte, verstärkt worden. Durch Cola di Rienzi gelangte es an den deutschen Hof Karls IV. in Böhmen. Von dort habe dann die deutsche Renaissance mit Schriftstellern wie Johann von Neumarkt und Johannes von Saaz mit seinem Ackermann aus Böhmen ihren Ausgang genommen. In jüngerer Zeit hat P. Renucci in L'aventure de l'humanisme européen au moyen âge (Paris 1953) den Versuch gemacht, den Umfang der klassischen Bildung im Mittelalter zu dokumentieren. Von denen, die das Bild revidieren wollten, wurde darüber hinaus behauptet, daß der Renaissancehumanismus weder antichristlich noch heidnisch gewesen sei, und einige betonten, daß er auf einer Linie mit patristischen und mittelalterlichen humanistischen Gedanken lag, ganz im Gegensatz zu dem die Tradition verlassenden und vielleicht sogar unchristlichen aristotelischen Rationalismus der thomistischen Scholastik. Francesco Ogliati behauptete in L'anima dell'umanesimo e del Rinascimento (Mailand 1924), daß der Renaissancehumanismus im Grunde katholisch gewesen sei. Ernst Walser beschreibt in den Studien zur Weltanschauung der Renaissance (Basel 1920) und in den Gesammelten Studien zur Geistesgeschichte der Renaissance (Basel 1932) den Renaissancehumanismus als eine große Blüte christlicher Frömmigkeit. Den extremsten Standpunkt, daß nämlich der Humanismus von christlicher Wesensart und die Scholastik rationalistisch und geradezu unchristlich gewesen seien, vertrat Guiseppe Toffanin in Che cosa fu l'umanesimo (Florenz 1919) und in La religione degli umanisti (Bologna 1950). Für ihn war Humanismus mit katholischem Christentum gleichbedeutend und stand für eine universale, objektive und vernunftgemäße Ordnung, in politischer Hinsicht und durch den Gebrauch des Lateinischen von internationaler Prägung. Die Antithese dazu war nach Toffanin der Protestantismus, der durch Unglaube, Subjektivismus, Romantizismus, wissenschaftlichen Naturalismus und Individualismus gekennzeichnet sei. Douglas Bush The Renaissance and English Humanism (Toronto 1939) hob hervor, daß der mittelalterliche Humanismus fortbestanden habe und von christlichem Charakter gewesen sei.

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Von einer kleinen Anzahl von Historikern wird die Bedeutung des Renaissancehumanismus im Vergleich zu dem des 12. Jh. abgeschwächt, so z. B. von Johann Nordström in Moyen âge et Renaissance (Paris 1933). Einige Wissenschaftshistoriker haben sogar behauptet, die Humanisten hätten mit ihrer Bevorzugung der Literatur und ihrer Abhängigkeit von antiken Autoren die Entwicklung der Wissenschaften, die zur modernen Welt den wesentlichsten Beitrag leisteten, behindert. Einige sind der Auffassung, daß sich die Wissenschaft in der Renaissance aus den Werkstätten der Künstler und Kunsthandwerker und nicht an den Universitäten oder unter den Humanisten entwickelt habe. Die Forschung der jüngeren Zeit berücksichtigt stärker die Komplexität und den pluralistischen Charakter des Humanismus. Mit der Betonung der Sozial-, Wirtschaftsund Institutionengeschichte geht die Tendenz einher, die Bedeutung des Humanismus, ebenso wie die der Geistes- und Kulturgeschichte im allgemeinen, geringer zu veranschlagen. Ein genaueres Quellenstudium hat die Mannigfaltigkeit des Humanismus freigelegt; manche Aspekte dabei sind überraschend neu, andere grund-traditionell. Ludwig Pastor betont in der Einleitung zum ersten Band seiner Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters (16 Bde., Freiburg i. Br. 1886-1933), daß sich die mittelalterliche Religiosität zum Teil durch das Zeitalter des Humanismus hindurch fortgesetzt hat. Paul Joachimsen (Aus der Entwicklung des italienischen Humanismus: HZ 121 [1920] 189-233; Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes: DVfLG 8 [1930] 419-480) vollzog bedeutsame Unterscheidungen zwischen verschiedenen Typen humanistischen Denkens, dem moralischen, ästhetischen, politischen, hedonistischen und kritischen, und zeigte die aufeinanderfolgenden Entwicklungsphasen dessen auf, was man bis dahin im allgemeinen als eine einheitliche geistige Bewegung angesehen hatte. Pastor und Joachimsen haben die Haupttendenzen der Forschung des vergangenen halben Jahrhunderts schon angedeutet. Paul Oskar Kristeller, Ficino-Spezialist und bester Kenner der Literatur und der Quellen zum italienischen Humanismus, hat die Mannigfaltigkeit in der Erscheinung des Humanismus vor Augen geführt. In einer beeindruckenden Reihe von Artikeln und Büchern, darunter Renaissance Thought, the Classic Scholastic, and Humanist Strains (New York 1961), Eight Philosophers of the Italian Renaissance (Stanford 1964) und Renaissance Thought and its Sources (New York 1979), hat er die verschiedenen Spielarten des Humanismus herausgearbeitet. Nach ihm leitet sich der Humanismus von den studia humanitatis an den italienischen Universitäten ab, die eine Alternative zum scholastischen Lehrplan darstellten, bei dem die Betonung auf Logik, Naturphilosophie und Metaphysik lag. Als akademisches Lehrprogramm war sie mit einer Vielzahl philosophischer Positionen vereinbar und konnte in religiöser Hinsicht christlich, antichristlich oder nichtchristlich sein. Er bestätigt zwar die Rückbindung der humanistischen Rhetorik an die mittelalterliche Tradition, hebt aber auch den Beitrag des Humanismus zur Moderne hervor, den er durch den Fortschritt in der klassischen Bildung, in der Textkritik und der historischen Methode sowie durch seinen Einfluß auf Philosophie, Kunst und Literatur geleistet habe. In einer Festschrift für Kristeller (Itinerarium Italicum. The Profile of the Italian Renaissance in the Mirror of its European Transformations, hg. v. Heiko A. Oberman und Thomas A. Brady, Jr., Leiden 1975) werden die Implikationen, die sich aus seinen Gedanken für den Humanismus in den anderen Ländern ergeben, untersucht. B. L. Ullman erhärtet in vielen Schriften, die in den Studien über die italienische Renaissance (Rom 1955) zusammengefaßt wurden, die Thesen Kristellers. Er stimmt der Bedeutung des mittelalterlichen Klassizismus zu, weist aber auch darauf hin, daß in der Renaissance die Klassiker zur literarischen Norm und als solche anerkannt wurden. Unter den Humanismusforschern ragen Hans Baron, William Bouwsma, Eugenio Garin, Federico Chabod und Charles Trinkaus hervor. Hans Baron entwickelte in The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in the Age of Classicism and Tyranny (Princeton 1955; rev. Aufl. 1966), die Konzeption des bürgerlichen Humanismus. Die Humanisten seien in den Jahrzehnten vor und nach 1400,

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als die Republik Florenz von den Mailänder Tyrannen und später von Neapel bedroht wurde, als Patrioten aufgetreten und hätten die gesamte Bürgerschaft zur Teilnahme am öffentlichen Leben und an der Verteidigung der Freiheit aufgefordert. Dazu habe sie die Freiheit der römischen Republik inspiriert. Eine ähnliche Theorie entwickelte William J. Bouwsma in bezug auf den venetianischen Humanismus in Venice and the Defence of Republican Liberty. Renaissance Values in the Age of the Counter-Reformation (Berkeley und Los Angeles 1968). Eugenio Garin (L'umanesimo italiano: filosofia e vita civile nel rinascimento, Bari 1952) sieht den Humanismus als ein Spiegelbild des neuen, städtischen, bürgerlichen Lebens und der verschiedenen Interessen und Aktivitäten der städtischen Bevölkerung. Er betrachtet ihn als antischolastisch und pragmatisch und merkt an, daß er die Betonung auf Kenntnisse legte, die den größten Wert fürs private und bürgerliche Leben haben. Der Humanismus habe dazu beigetragen, daß eine kritischere Geisteshaltung, ein neuer Sinn für Geschichte, ein Interesse an gesellschaftlicher Reform und ein neues Interesse an der Natur entstand, alles Grundelemente der Moderne. Wie Baron und Garin hat Federico Chabod vor allem in seinen Machiavellistudien (vgl. etwa Machiavelli and the Renaissance, New York 1965) auf die Notwendigkeit einer Integration von kultureller und politischer Geschichte hingewiesen. Für ihn markiert der Humanismus einen bedeutenden Schub von mittelalterlichen zu modernen Anschauungen; die mittelalterliche Einheit der Erfahrung löst sich auf und Gott, Mensch und Natur werden zu voneinander unabhängigen Aspekten der Wirklichkeit. Die umfassendste und beeindruckendste neuere Studie zum Humanismus ist Charles Trinkaus' „In Our Image and Likeness". Humanity and Divinity in Italian Humanist Thought, 2 Bde. (Chicago 1970). Er führt aus, daß die Humanisten, die ihre professionellen Fähigkeiten nutzten und ihren leidenschaftlichen Interessen nachgingen, besser als die Theologen und Philosophen die weltlichen Aktivitäten und die Errungenschaften einer aufsteigenden neuen Welt in den Glauben und die Praxis des christlichen Erbes zu integrieren wußten. Die Humanisten hätten das Verständnis, das der christliche Laie vom Menschen und der menschlichen Bestimmung hatte, umgewandelt. Erwin Panofsky hat in vielen Studien humanistische Themen in der Kunst der Renaissance erforscht und Jean Seznec bringt in La survivance des dieux antiques (Neuausg., Paris 1980) am Beispiel von Literatur und Kunst eine klare Analyse, wie in der Renaissance die Einstellungen zur klassischen Mythologie gewechselt haben. Frühere Autoren, wie Heinrich Hermelink, Conrad Burdach, Albert Hyma u. a. haben für die nördliche Renaissance einheimische Quellen gesucht. Dagegen wird von der heutigen Forschung die Bedeutung des italienischen Ursprungs und Einflusses hervorgehoben, wobei dieser Zug nicht als Wiederanknüpfung an Burckhardt zu bezeichnen ist, weil der Gesamtzusammenhang viel komplexer ist, als dessen Ausführungen voraussetzten. Die älteren Autoritäten, wie z. B. Johannes Janssen (Geschichte des deutschen Volkes, Freiburg i. Br. 1897), Willy Andreas (Deutschland vor der Reformation. Eine Zeitwende, Stuttgart 1932), Arthur Tilley (The Dawn ofthe French Renaissance, Cambridge 1904) oder Lewis Einstein (The Italian Renaissance in England, London 1902), haben den nördlichen Humanismus als liberal, weltlich und der Moderne zugeneigt gewertet. Die jüngste Forschung ist der traditionellen Auffassung vom Humanismus entgegengetreten, hat die eigentümlichen Züge, die für den Humanismus des Nordens charakteristisch sind, hervorgehoben und ist den Unterschieden zum italienischen nachgegangen. Nach Franco Simone, Ii Rinascimento francese (Turin 1961), liegen die Wurzeln des französischen Humanismus in Avignon und der Provence, er komme aber zunehmend unter italienischen Einfluß und entwickelte dabei einen neuen Sinn für die Geschichte. Lucien Febvre (Le problème de l'incroyance au XVIe siècle. La religion de Rabelais; Paris 1942) glaubt, daß man Rabelais als einen christlichen Humanisten, einen Erasmianer, betrachten müsse, während Michael Screech in zwei kürzlich erschienenen Studien Rabelais als eine noch kompliziertere Persönlichkeit gezeichnet hat. In der Studie Montaigne's Discovery of Man. The Humanization of a Humanist (New York 1955) erwähnt Donald Frame, der

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angesehene Übersetzer und Herausgeber der Werke Montaignes, daß dieser den gemeinen Mann ebenso wie den gebildeten geschätzt habe. Quirinus Breen setzte in John Calvin, a Study in French Humanism (Chicago 1931) und Andre Bieler in The Social Humanism of Calvin (Richmond 1964) den französischen Reformator mit dem Humanismus in Beziehung. Die jüngste Geschichtsschreibung hebt beim deutschen Humanismus besonders zwei Themen hervor, den kulturellen Nationalismus und den Wunsch nach religiöser Klärung. Es gab mehrere bedeutsame Bemühungen, die versucht haben, das renaissance-humanistische Konzept in Deutschland und dessen Vergangenheit zu erklären, hervorragend unter ihnen das Werk von Paul Joachimsen, Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, VI (Leipzig und Berlin 1910). Hier wurde die Bedeutung der neuentdeckten mittelalterlichen Quellen, der historischen Schriften der deutschen Humanisten und verschiedener Mythen über die deutsche Vergangenheit erkannt. Einzelne Gesichtspunkte dieser Thematik sind u.a. von Friedrich Gotthelf, Erich Schmidt, Hans Tiedemann, Theobald Bieder, Hedwig Riess, Paul Hans Stemmermann, H. Dannenbauer, Ludwig Sponagel und Gerald Strauss behandelt worden. Besonders hervorzuheben ist die Monographie von Ulrich Paul, Studien zur Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, Berlin 1936 (HS 297), die den Einfluß, den Aeneas Sylvius, Pseudo-Berosus und der Hunibald des Trithemius auf die Humanisten in Deutschland hatten, untersucht. Eine neue, hervorragende Studie von Frank L. Borchardt, German Antiquity in Renaissance Myth (Baltimore und London 1971), geht weit über die älteren Werke hinaus und bringt die Frage auf den gegenwärtigen Stand der Forschung. Angefangen mit Paul Wernles Die Renaissance des Christentums im 16. Jahrhundert (Tübingen 1904) bis zu Lewis W. Spitz' The Religious Renaissance ofThe German Humanists (Cambridge/Mass. 1963) ist von der Forschung die religiöse Dimension des deutschen Humanismus beachtet worden. Wernle erkannte, daß die von Italien beherrschte Renaissance für Reformatoren wie Zwingli und Calvin höchst bedeutend war, und hielt die Renaissance und die Reformation für geistesverwandte Bewegungen. Obwohl die heutige Forschung den theologischen Unterschied zwischen Luthers Betonung des Evangeliums und dem christlichen Humanismus der nördlichen Humanisten erkennt, sieht sie im Humanismus einen wesentlichen Beitrag zum Erfolg der Reformation und ebenso, daß der Humanismus dank der positiven Einstellung der mit der Obrigkeit verbundenen Reformatoren über die Reformation hinaus hat weiter bestehen können. Repräsentative Studien bieten Maria Grossmann, Humanism in Wittenberg 1485—1517 (Nieuwkoop 1975), Reformation und Humanismus, hg. v. Martin Greschat und J.F. Gerhard Goeters (Witten 1969) und Xllle Colloque International de Tours. L'Humanisme Allemand (1480-1540) (München und Paris 1979). Heute geht die Tendenz dahin, die Verbindung zwischen Reformation und Humanismus von der Einengung auf die Luther-ErasmusDebatte über den freien Willen abzulösen, weil man den Humanismus als eine breite Bewegung betrachtet, die nicht so einfach auf ein Problem reduziert werden kann. Neue Aufmerksamkeit gewinnt dabei die Rolle Melanchthons. Die Forschungen über den englischen Humanismus sind weit über das alte Standardwerk von Frederic Seebohm, The Oxford Reformers: John Colet, Erasmus and Thomas More (rev. Ausg., London 1869) hinausgediehen. In Humanism in England dttring the Fifteenth Century (Oxford 1941) bestätigte Robert Weiss den italienischen Ursprung des englischen Humanismus, betonte aber, daß er im Kern stets mittelalterlich und religiös geblieben sei. C.S. Lewis (English Literature in the Sixteenth Century, Oxford 1954) und George B. Parks (The English Traveler to Italy: The Middle Ages to 1525, Stanford 1954) betonen den Einfluß des italienischen Humanismus. Werke wie Fritz Casparis Humanism and the Social Order in Tudor England (Chicago 1954) und Gordon Zeevelds Foundations of Tudor Policy (Cambridge/Mass. 1948) unterstreichen die enge Verbindung zwi-

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sehen dem englischen Humanismus und der politischen und sozialen Ordnung der Tudorzeit. Andere Werke, wie z. B. Lawrence V. Ryans Roger Ascham (Stanford 1963), weisen auf den Fortbestand des Humanismus von den „Oxforder Reformatoren" durchs 16. Jh. hindurch bis zum Zeitalter der Königin Elisabeth hin und verfolgen, wie er sich langsam außerhalb des Hofes in der Mittelklasse und der Gentry ausgebreitet hat. Literatur Historischer Hintergrund: Corrado Barbagallo, L'Età della Rinascenza e della Riforma (14541556), Turin 1936. - Edward Potts Cheyney, The Dawn of a New Era, 1250-1453, New York/ London 1936. - Henri Daniel-Rops, L'Église de la Renaissance et de la Réforme, 2 Bde., Paris 1955 (Les grandes études historiques). - Myron Piper Gilmore, The World of Humanism, 1453-1517, New York 1952. - Walter Goetz, Jacob Strieder, Alfred Dören u.a. (Bearb.), Das Zeitalter der Gotik u. 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Renaissance Humanism, Washington, D. C. 1973 (AHA pamphlets 401). - Karl Otto Conrady, Die Erforsch, der neulat. Lit. Probleme u. Aufgaben: Euphorion 49 (1955) 413 - 4 4 5 . - Karl H. Dannenfeldt (Hg.), The Renaissance. Basic Interprerations, Lexington/Mass. 2 1974 (Problems in European Civilization). — Wallace K. Ferguson, The Renaissance in Historical Thought. Five Centuries of Interpretation, Boston 1948. - Tinsley Heiton (Hg.), The Renaissance. A Reconsideration of the Theories and Interpretations of the Age, Madison/Wisc. 1961. - Harold Jantz, German Renaissance Literature: MLN 81 (1966) 398-436. - Paul Oskar Kristeller, Renaissanceforschung u. Altertumswiss. Forschungen u. Fortschritte 33 (1959) 363-369. - Bernd Moeller, Vom MA zur Neuzeit. Neue Meinungen u. Einsichten zu Renaissance u. Humanismus: VuF 21 (1976) 3 2 - 4 6 . - Dieter Wuttke, Dt. Germanistik u. Renaissance-Forschung. Ein Vortr. zur Forschungslage, Bad Homburg 1968 (República Literaria 3). Lewis W. Spitz Humanität 1. Der klassische Humanitätsbegriff bei Herder 2. Die im klassischen Humanitätsbegriff zusammengefaßten Traditionen 3. Wirkungsgeschichte 4. Leistungskraft und Problematik der Humanitätsidee (Quellen/Literatur S. 679)

1. Der klassische

Humanitätsbegriff

bei

Herder

Im Begriff „Humanität" faßt sich die Geschichtsphilosophie und Sozialethik des neuzeitlichen - vorwiegend protestantischen - europäischen Bürgertums zusammen, wie sie sich aus einer Reflexion auf die Stellung und Funktion des Menschen im System der geschaffenen Natur ergeben. Die klassische Exposition des Begriffs im deutschsprachigen Raum stammt von J. G. -»Herder ( A u c h eine Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1774; Ideen zur Philosophie der Menschheit, 1 7 8 4 - 1 7 9 1 ; Briefe zur Beförderung der Humanität, 1793-1797). Grundlegend für Herders Humanitätsidee ist sein Begriff der Stellung des Menschen im System der geschaffenen Natur: Dieses ist der von Wille und Vorsehung des Schöpfers getragene Inbegriff individueller (organischer) Kräfte, die auf verschiedenen Stufen der Organisation nach festen Gesetzen interagieren. Der Mensch ist aufgrund der Eigenart seiner Organisation — aufrechter Gang, manuelle Geschicklichkeit, Instinktfreiheit - und seiner Begabtheit mit Reflexivität das zur Selbstbestimmung fähige Abbild des Schöpfers. Mit dieser seiner Würde steht der Mensch aber nicht außerhalb, sondern innerhalb der Natur und unterliegt ihren Gesetzen: erstens dem Streben nach Selbsterhaltung in der Balance zwischen seinen artgemäßen Kräften und den Kräften seiner Umwelt; und zweitens dem Gesetz der Selbstvervollkommnung durch Selektion der dauerhaftesten Balanceformen. Wie alle Elemente im System der Natur kann also auch der Mensch nicht anders, als sich selbst Zweck zu sein, den er - in der seiner besonderen Konstitution entsprechenden Weise — verfolgt: nämlich im Modus einer Selbstbestimmung, die sich künstlicher Mittel bedient, welche durch Bildung (Übernahme und Fortschreibung von Traditionen der Sprache, des Rechts, der Technik und der Religion) erworben werden müssen. Diese - naturgesetzlich auf Selbsterhaltung und Selbstvervollkommnung tendierende — Existenz des Abbildes Gottes in der Natur bezeichnet Herder mit dem Begriff „Humanität" (SW, ed. B. Suphan, XIII, 154f; XVII, 137). Gerade weil der Ausdruck „Humanität" dieser komplexen Bedeutungsfülle fähig ist, zieht Herder ihn den in der zeitgenössischen Bildungssprache ebenfalls etablierten Ausdrücken „Menschheit", „Menschlichkeit", „Menschenrechte", „Menschenpflichten", „Menschenwürde", „Menschenliebe" vor (XVII, 137). So lassen sich wenigstens sechs Bedeutungsaspekte von „Humanität" unterscheiden: 1. „Humanität" bezeichnet den „Charakter" des menschlichen Geschlechts (XVII, 137f), seine Schwäche (XVII, 137), aber auch seine Hoheit und Würde als Ebenbild Gottes, also als Träger der die Welt gestaltenden Vernunft (XVII, 143); ferner die darin eingeschlossenen Fähigkeiten (zur Selbstbestimmung [XIII, 149] und zur mitempfindenden Anteilnahme an anderen [XIII, 155]) und die mit dieser Befähigung, vom Schöpfer selbst gesetzten natürlichen Pflichten und Rechte (XVII, 137-143). Kurz: „Humanität" bezeichnet das am Menschen, was ihn von der Tierheit („Brutalität": XVII, 138.154; XVIII, 294) unterscheidet. Und das ist umfassend seine Perfektibilität durch Bildung (XIII, 142ff; XVII, 122). - 2. „Humanität" bezeichnet daher zugleich die im Charakter des Menschen liegende „Bestimmung" des Menschen (XIII, 154ff), das höchste Ziel (XVII, 115 ff. 138.153), das im Leben des einzelnen und der Gattung zu verfolgen ist; also das Ideal einer „menschlichen Lebensweise" (XIII, 144), deren konkrete Form ist: die soziale Lebensführung von innerlich ausbalancierten, zur Vernunft und Billigkeit gebildeten einzelnen (XIII,

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Renaissance Humanism, Washington, D. C. 1973 (AHA pamphlets 401). - Karl Otto Conrady, Die Erforsch, der neulat. Lit. Probleme u. Aufgaben: Euphorion 49 (1955) 413 - 4 4 5 . - Karl H. Dannenfeldt (Hg.), The Renaissance. Basic Interprerations, Lexington/Mass. 2 1974 (Problems in European Civilization). — Wallace K. Ferguson, The Renaissance in Historical Thought. Five Centuries of Interpretation, Boston 1948. - Tinsley Heiton (Hg.), The Renaissance. A Reconsideration of the Theories and Interpretations of the Age, Madison/Wisc. 1961. - Harold Jantz, German Renaissance Literature: MLN 81 (1966) 398-436. - Paul Oskar Kristeller, Renaissanceforschung u. Altertumswiss. Forschungen u. Fortschritte 33 (1959) 363-369. - Bernd Moeller, Vom MA zur Neuzeit. Neue Meinungen u. Einsichten zu Renaissance u. Humanismus: VuF 21 (1976) 3 2 - 4 6 . - Dieter Wuttke, Dt. Germanistik u. Renaissance-Forschung. Ein Vortr. zur Forschungslage, Bad Homburg 1968 (República Literaria 3). Lewis W. Spitz Humanität 1. Der klassische Humanitätsbegriff bei Herder 2. Die im klassischen Humanitätsbegriff zusammengefaßten Traditionen 3. Wirkungsgeschichte 4. Leistungskraft und Problematik der Humanitätsidee (Quellen/Literatur S. 679)

1. Der klassische

Humanitätsbegriff

bei

Herder

Im Begriff „Humanität" faßt sich die Geschichtsphilosophie und Sozialethik des neuzeitlichen - vorwiegend protestantischen - europäischen Bürgertums zusammen, wie sie sich aus einer Reflexion auf die Stellung und Funktion des Menschen im System der geschaffenen Natur ergeben. Die klassische Exposition des Begriffs im deutschsprachigen Raum stammt von J. G. -»Herder ( A u c h eine Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1774; Ideen zur Philosophie der Menschheit, 1 7 8 4 - 1 7 9 1 ; Briefe zur Beförderung der Humanität, 1793-1797). Grundlegend für Herders Humanitätsidee ist sein Begriff der Stellung des Menschen im System der geschaffenen Natur: Dieses ist der von Wille und Vorsehung des Schöpfers getragene Inbegriff individueller (organischer) Kräfte, die auf verschiedenen Stufen der Organisation nach festen Gesetzen interagieren. Der Mensch ist aufgrund der Eigenart seiner Organisation — aufrechter Gang, manuelle Geschicklichkeit, Instinktfreiheit - und seiner Begabtheit mit Reflexivität das zur Selbstbestimmung fähige Abbild des Schöpfers. Mit dieser seiner Würde steht der Mensch aber nicht außerhalb, sondern innerhalb der Natur und unterliegt ihren Gesetzen: erstens dem Streben nach Selbsterhaltung in der Balance zwischen seinen artgemäßen Kräften und den Kräften seiner Umwelt; und zweitens dem Gesetz der Selbstvervollkommnung durch Selektion der dauerhaftesten Balanceformen. Wie alle Elemente im System der Natur kann also auch der Mensch nicht anders, als sich selbst Zweck zu sein, den er - in der seiner besonderen Konstitution entsprechenden Weise — verfolgt: nämlich im Modus einer Selbstbestimmung, die sich künstlicher Mittel bedient, welche durch Bildung (Übernahme und Fortschreibung von Traditionen der Sprache, des Rechts, der Technik und der Religion) erworben werden müssen. Diese - naturgesetzlich auf Selbsterhaltung und Selbstvervollkommnung tendierende — Existenz des Abbildes Gottes in der Natur bezeichnet Herder mit dem Begriff „Humanität" (SW, ed. B. Suphan, XIII, 154f; XVII, 137). Gerade weil der Ausdruck „Humanität" dieser komplexen Bedeutungsfülle fähig ist, zieht Herder ihn den in der zeitgenössischen Bildungssprache ebenfalls etablierten Ausdrücken „Menschheit", „Menschlichkeit", „Menschenrechte", „Menschenpflichten", „Menschenwürde", „Menschenliebe" vor (XVII, 137). So lassen sich wenigstens sechs Bedeutungsaspekte von „Humanität" unterscheiden: 1. „Humanität" bezeichnet den „Charakter" des menschlichen Geschlechts (XVII, 137f), seine Schwäche (XVII, 137), aber auch seine Hoheit und Würde als Ebenbild Gottes, also als Träger der die Welt gestaltenden Vernunft (XVII, 143); ferner die darin eingeschlossenen Fähigkeiten (zur Selbstbestimmung [XIII, 149] und zur mitempfindenden Anteilnahme an anderen [XIII, 155]) und die mit dieser Befähigung, vom Schöpfer selbst gesetzten natürlichen Pflichten und Rechte (XVII, 137-143). Kurz: „Humanität" bezeichnet das am Menschen, was ihn von der Tierheit („Brutalität": XVII, 138.154; XVIII, 294) unterscheidet. Und das ist umfassend seine Perfektibilität durch Bildung (XIII, 142ff; XVII, 122). - 2. „Humanität" bezeichnet daher zugleich die im Charakter des Menschen liegende „Bestimmung" des Menschen (XIII, 154ff), das höchste Ziel (XVII, 115 ff. 138.153), das im Leben des einzelnen und der Gattung zu verfolgen ist; also das Ideal einer „menschlichen Lebensweise" (XIII, 144), deren konkrete Form ist: die soziale Lebensführung von innerlich ausbalancierten, zur Vernunft und Billigkeit gebildeten einzelnen (XIII,

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Humanität

154-165.290-243; XVII, 119) in einer deshalb auch ihrerseits durch Vernunft und Billigkeit in allen Ständen und Geschäften ausbalancierten sozialen Ordnung (XIV, 150.230; XVII, 122), die als solche wiederum allen einzelnen die Vervollkommnung ihrer inneren Bildung als Vorbereitung auf ihre Vollendung im ewigen Leben (XIII, 189 ff. 194 ff) ermöglicht (Zweck aller sozialen Ordnung ist: die Erziehung der einzelnen zur Humanität (XVII, 115.116). - 3. Aber nicht nur Bestimmung und Ziel des menschlichen Lebens, sondern auch sein realer Verlauf muß als „Humanität" begriffen werden. Denn der rote Faden im Leben des einzelnen (XIII, 143-166) und in der Geschichte der Gattung (XIV, 250; XVII, 117.143-145; XVIII, 246ff.280ff) ist nichts anderes als Realisierung der Humanität durch Bildung zu ihr; nicht nur das Resultat des Gesamtprozesses, sondern auch jeder seiner einzelnen Momente kann und muß daher als eine Gestalt von „Humanität" angesprochen werden (z.B.: XIV, 143 ff). - 4. So ist jede Erfüllung der menschlichen Bildungspflicht, jeder Beitrag zur Bildung der Humanität selbst ein Akt der Humanität. Die Beförderung von Humanität ist selbst schon Humanität. Als Beiträge dazu kommen in Betracht: Die Verbesserung der physischen Situation des Menschen (XVII, 117), die Verbesserung seiner politischen Institutionen (XVII, 121 f) und - als Vorbereitung dazu (XVII, 107.129 ff) - die moralische Verbesserung des Menschen durch das Studium humanitatis (XVII, 143.354), das sich als Studium von geschichtlichen Exemplaren der Humanität vollzieht. Als solche kommen für Herder in Betracht: die Religion (XVII, 120f), Philosophie (XVII, 131.141.143.247ff), Poesie (XVII, 67.131.172f; XVIII, lff) und Kunst (XVII, 343-390) der Völker, vornehmlich der Griechen, das Studium des Lebens und Wirkens einzelner Beförderer der Humanität (XVII, 19.265ff) und schließlich die Geschichte der Völker (XIII, 131.149.252ff.258.438 ff) - und zwar ihre Ver/ass««gsgeschichte im umfassenden Sinne (z.B.: XIV, 90-143). - 5 . Ebenso fallen alle Resultate dieses pflichtgemäßen Bildungsstrebens unter den Begriff „Humanität". Als „Formen der Humanität" sind alle erreichten — nicht erst die vollkommenen - Gestalten des gebildeten Menschseins zu begreifen (z.B.: XVIII, 249f): „Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die Kunst unseres Geschlechts" (XVII, 138). - 6. Schließlich umfaßt der Begriff „Humanität" vor allem die reale Tugend einzelner Menschen, die von ihnen erworbene Kraft und Fähigkeit, jeweils an ihrem gesellschaftlichen Ort als Beförderer der Humanität zu wirken (z.B. XVII, 7.32.48.153.374).

2. Die im klassischen 2.1. Traditionen

Humanitätsbegriff

zusammengefaßten

aus Leben und Lehre der

Traditionen

Kirche

2.1.1. Erstens ist die Wirkungsgeschichte von Tit 3,4 zu nennen, wo von der xQ^otöilS und der egri/f und in der Verhältnisbestimmung von Sach- und Erkenntnisfundament des Glaubens überein. Mit Hunnius' Schüler Johannes Hülsemann geht dieser, von Hunnius' Lehrer Hutter und seinem Freund Balthasar Meisner vorbereitete, geniale Entwurf des,Schleiermacher der Orthodoxie', wenn auch begrifflich und sachlich z. T. anders gefaßt, 1640 in die lutherische Dogmatik ein. Nach Calov „wurde diese Schrift von Hunnius nach dem bisher gemeinsamen Urteil der Orthodoxie als grundlegend und gediegen anerkannt" (Ritsehl 309). Fast gleichzeitig veröffentlicht Hunnius eine für den Laien bestimmte Dogmatik: Kurtzer inhalt dessen, was ein christ von göttlichen und geistlichen dingen zu wissen und zu gleuben bedürfftig: aus Gottes wort gefasset (Wittenberg 1625; Vorwort Lübeck 21.3.1625). Die zweite Auflage erschien unter dem Titel: Epitome credendorum oder kurtzer inhalt christlicher lehre, so viel einem Christen darvon zu seiner seelen Seligkeit zu wissen und zu glauben hoch nötig und nutzlich ist, auß Gottes wort verfasset, Wittenberg 1627 (so am Schluß; Titelblatt: 1628). Das Buch erweist sich als durchschlagender, mehr als ein Jahrhundert überdauernder Erfolg. Die zahlreichen, diesen Titel z.T. geringfügig variierenden Auflagen bis zur letzten (Wittenberg 1738) und die Übersetzungen in mehrere Sprachen sind bisher nicht zuverlässig und vollständig erfaßt. Noch im 19. Jh. erscheint es unter dem Titel Gründliche und allgemein faßliche Darlegung der Glaubenslehre derev.-luth. Kirche, hg. v. Heinrich Brandt, Nördlingen 1844, 2 1850, 3 1870 (bearb. v. Friedrich Bauer). Zur Einschätzung sind wichtig die Urteile von Philipp Jakob Spener, Consilia et iudicia theologica latina 1 (Frankfurt 1709) 260b (24.3.1679) und 3 (ebd.) 441b (16.6.1682).

Hunnius, Nikolaus

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Veröffentlichung und Erfolg sind im Zusammenhang der Krise zu sehen, welche seit 1609 durch die kirchenkritische, der Integration der Reformation in den Alltag und die Lebenswelt der frühneuzeitlichen Gesellschaft eine Wiederholung der R e f o r m a t i o n abverlangende Bewegung des mystischen Spiritualismus ausgelöst wird. Dieser stellt Hun5 nius entgegen seine Christliche betrachtung der neweti Paracelsischen und Weigelianischen theology, Wittenberg 1622 (nach Danzig gerichtete Vorrede vom 1 6 . 1 . 1 6 2 2 ; Umarbeitung einer lateinischen Fassung vom 7 . 5 . 1 6 1 9 ; die früheste F o r m ist die Hunnius zuzuschreibende Vorrede vom 2 5 . 2 . 1 6 1 9 zur postumen Veröffentlichung von Hutters Loci communes theologici). 10

Hunnius wird noch heute bescheinigt, daß er sich mit dieser kenntnisreich und sachlich auseinandergesetzt hat (Wollgast). Den Rechtfertigungsglauben bewahrt er gegen die, angesichts einer auch ihn erschütternden Indifferenz (Heller 82.152f) so naheliegende Aushöhlung in Ethizismus. Hunnius ist aber offenbar wie anderen (Tholuck 96.98 f. 100.112) deutlich geworden, daß es an einer allgemeinverständlichen Glaubenslehre fehlte (vgl. Heller 84.155), die ihrerseits das Zentrum spiri15 tualistischer Theologie, die seit Calvin als unio mystica bezeichnete Vereinigung des Menschen mit Gott als forma fidei iustificantis (Balduin 1618) in sich aufnimmt, wie Hunnius das - neben Statius Buschers S.s. theologiae synopsis, Lüneburg 1625 - als erster tut.

M i t seinen weitergehenden praktischen Bemühungen in Lübeck, w o er sich ständig mit Spiritualisten auseinanderzusetzen hat, eine „öffentliche K a t e c h i s m u s s c h u l e . . . , zu 20 welcher Verrichtung ein besonderer Katechet zu bestellen w ä r e " (Heller 157), einzurichten, und mit seinem Vorschlag zur R e f o r m des Religionsunterrichtes a m Gymnasium ist Hunnius aber gescheitert. Unter den übrigen Schriften, die sich - mit Ausnahme der zahlreichen, zeitlich um das Reformationsjubiläum von 1617 und das Restitutionsedikt von 1629 gruppierten anti-römischen - an die beiden Hauptwerke anschließen und deren 25 Gedanken vielfach variieren, ist der Gustav (II.) Adolf von Schweden und J o h a n n Georg I. von Sachsen nahegelegte Plan der Errichtung einer .Konfessionskundlichen Akademie' hervorzuheben ( C o n s u l t a t i o oder wolmeinendes bedencken, ob und wie die evangelische lutherische kirchen die jetztschwebende religionsstreitigkeiten entweder friedlich beylegen oder durch christliche und bequeme mittel fortstellen und endigen mögen, Lü30 beck 1632, Vorwort 7 . 9 ) . Quellen und

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Literatur

Eine ausführliche, aber ergänzungsbedürftige Bibliographie der Werke von N. Hunnius findet sich bei Heller; Briefe von Hunnius in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg (s.u.). Wolf-Dieter Hauschild, KG Lübecks. Christentum u. Bürgertum in neun Jahrhunderten, Lübeck 1981,292.299.301-311. - Ludwig Heller, Nikolaus Hunnius. Sein Leben u. Wirken, Lübeck 1843. Ders./Johannes Kunze, Art. Nikolaus Hunnius: RE 3 8(1900) 4 5 9 - 4 6 2 . - M a x Keller-Hüschemenger, Das Problem der Fundamentalartikel bei Johannes Hülsemann in seinem theologiegesch. Zusammenhang, 1939 (BFChTh41,2) 100-109.131.134f. -Sebastian Meier, Oratiofunebris, qua vitam . . . Nicolai Hunnii... Lubecae 5. Octobris anno 1643 prosequi voluit...: Henning Witte(n), Memoriae theologorum nostri saeculi . . . renovatae 5 (Frankfurt 1674) 580-614. - Martin Moller, Cimbria literata 2 (1744) 376-389. - Heimo Reinitzer, Biblia deutsch. Luthers Bibelübers. u. ihre Tradition, Braunschweig 1983, 223 -225.281. - Otto Ritsehl, Dogmengesch. des Protestantismus, Göttingen IV 1927, 306-354 (unzulänglich). - Michael Sircks, Hirten-Schule. Das ist christl. predigt von dreyerley hirten . . . anno 1643 gehalten, wie Nicolaus Hunnius . . . in S. Marien kirchen begraben worden. Da hinzu gethan von seinem Leben . . . so viel man davon glaubwürdig haben können . . . , 1643 (Vorwort Lübeck 28.8.1643; eindringende persönl. Darst.). - Kaspar Heinrich Starck, Lubecae lutherano-evangelicae, das ist d e r . . . Stadt Lübeck kirchen-historie fünffter theil..., Hamburg 1724, 741-1112 (reich dokumentiert). - Robert Stupperich, Ev. Konzil. Forderungen u. Pläne luth. Theologen u. Politiker im 16. u. 17. Jh.: NZSTh3 (1961) 302-314. - Supellex epistolica Uffenbachii et Wolfiorum. Katalog der Uffenbach-Wolfschen Briefsammlung. Hg. u. bearb. v. Nilüfer Krüger. Erster Teilbd., Hamburg 1978,447f. - August Tholuck, Der Geist der luth. Theologen Wittenbergs im Verlaufe des 17. Jh., Hamburg/Gotha 1852,41.47.68 f.84f. - Valentin Weigel, Ausgew. Werke, hg. v. Siegfried Wollgast, Stuttgart u.a. 1978, 43.46.58-60.66.113. - Porträt: Kupferstich (nach dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Ölgemälde in der Marienkirche), bei Hauschild 333 u. bei Reinitzer 224. Theodor Mahlmann

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Hus/Hussiten

Hus/Hussiten 1. Voraussetzungen und Ausgangspositionen 2 . J a n ( J o h a n n e s ) Hus (um 1 3 7 1 - 1 4 1 5 ) und die Anfänge der hussitischen Bewegung 3 . Die Formierung der hussitischen Parteien ( 1 4 1 5 - 1 4 1 9 ) 4 . D i e hussitische R e v o l u t i o n und das Entstehen hussitischer Teilkirchen ( 1 4 1 9 - 1 4 3 7 ) 5. Das Hussitentum nach 1437 (Bibliographien/Literaturberichte/Quellen/Literatur S. 7 3 0 )

Aus dem Kreis der an der Wende vom 14. zum 15. Jh. an der Prager Universität gegen kirchliche Mißstände und für eine Reform der Kirche eintretenden Magister wuchs Jan Hus durch die von seinen Gegnern vor allem wegen seines Eintretens für -•Wyclif und seiner schonungslosen Predigt in Gang gesetzten Prozesse an der römischen Kurie und vor dem Konstanzer Konzil sowie insbesondere durch seinen Ketzertod auf dem Scheiterhaufen zu Konstanz (6.7.1415) in den Augen von Mit- und Nachwelt zum Verantwortlichen der im Sinn inquisitorischer Terminologie mit seinem Namen belegten Reformbewegung. Vier Jahre nach seinem Tod mündete diese in die hussitische Revolution ein (-•Revolution). Im Rahmen der großen europäischen Reformbewegungen und Revolutionen gelten hussitische Reformbewegung und hussitische Revolution als historische Anomalien: une réforme avant les réformes et une révolution avant les révolutions (Smahel, La révolution hussite 128). 1. Voraussetzungen

und

Ausgangspositionen

1.1. Krisenphänomene in Kirche und Gesellschaft Böhmens zu Ausgang des 14. Jh. Die neueren tschechischen und außertschechischen Forschungen über Hus und die Hussiten stimmen darin überein, daß die im letzten Viertel des 14. Jh. kulminierende, in den böhmischen Ländern (-*Böhmen und Mähren) in besonders ausgeprägter Form zutage tretende allgemeine Krise als Hauptvoraussetzung für die hussitische Bewegung und die hussitische Revolution zu bewerten ist. Gegenüber den einzelne Bereiche, vor allem den gesellschaftlichen und nationalen, einseitig überbetonenden Deutungen hat sich in den letzten Jahren auf breiter Ebene eine Auffassung durchgesetzt, die den religiösen und politischen Motivationen den ihnen gebührenden Platz einräumt. Zahlreiche Spezialstudien aus jüngerer Zeit haben vielfach zu neuen Einsichten geführt oder ältere Auffassungen revidiert. Dabei traten die Krisenphänomene und -symptôme in der zeitgenössischen böhmischen Kirche verstärkt in den Vordergrund des Interesses der Hussitismusforschung. Eine Reihe von Untersuchungen wies auf die überhöhte Zahl des Klerus und die dadurch bedingten Existenzschwierigkeiten sowie auf die teilweise extremen sozialen Spannungen innerhalb des Klerus hin. Von den Kirchenpatronaten lagen nur knapp 3 0 % in Händen der Kirche und mehr als 6 0 % in Händen des Adels (allein beim niederen Adel knapp 40%). Im europäischen Vergleich war die Abhängigkeit des niederen Klerus von den Patronen in Böhmen weit höher als z.B. in Deutschland oder England; willkürliche Entlassungen von Geistlichen waren häufig. „Aus der zahlreichen Schicht der .zornigen jungen' Kleriker und frustrierten Intellektuellen gingen Tribunen radikaler Reformen, strengen Puritanismus' und teils auch revolutionärer Veränderungen hervor" (Smahel, Krise 69). Der finanzielle Druck auf die kirchlichen Institutionen, die in den böhmischen Ländern nach neueren Schätzungen etwa ein Drittel des nutzbaren Bodens besaßen, wuchs mit den seit der Mitte des 14. Jh. beschleunigt anziehenden Abgaben an die päpstliche Kurie und an die königliche Kammer stetig an. Der Konflikt zwischen König Wenzel (1378-1419) und Erzbischof Johann von Jenstein (1378-1396), der u.a. zum Tod des Generalvikars Johann von Nepomuk führte (1393), verschärfte die Situation. Nach neuesten Quellenfunden bildete Böhmen seit Beginn des 14. Jh. ein Zentrum des Waldensertums (-»Waldenser). Durch die Einführung der -»Inquisition wuchs in der Folgezeit vor allem in den Städten die Rechtsunsicherheit, zugleich aber auch die Kampfbereitschaft nicht nur gegen das Glaubensgericht, sondern gegen kirchliche Institutionen überhaupt. Die von der marxistischen Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg favorisierten, z. T. allzu vereinfachenden Thesen von der Pauperisierung des niederen Adels und der Bereit-

Hus/Hussiten

711

schaft der städtischen Unterschichten zum Umsturz sind inzwischen durch differenzierte Betrachtungsweisen ersetzt. Eingehende Untersuchungen der Rolle des Hochadels und seiner Verbindungen zu den Reformkreisen haben die bisherigen Kenntnisse von der Bedeutung dieser sozialen Gruppe im vorhussitischen und hussitischen Böhmen verdeutlicht. 1.2. Emanzipationsbestrebungen der böhmischen Universitätsnation und Universalienstreit an der Prager Universität. An der Universität -»Prag wuchs mit dem Ansteigen des Anteils einheimischer Professoren und Studenten gegenüber den fremden die Forderung der Angehörigen der böhmischen Universitätsnation nach stärkerer Berücksichtigung bei Vergabe freiwerdender, bisher den drei nichtböhmischen Nationen vorbehaltener Kollegiaturen. Im Zuge der darüber ausgebrochenen Auseinandersetzungen kam es in den achtziger Jahren des 14. Jh. zum Exodus einer größeren Zahl deutscher Universitätsangehöriger vor allem nach Wien und Heidelberg. Mit der Intensivierung des Streits zwischen regnicolae und extranei trat an der Universität das bis dahin nur vereinzelt zu beobachtende tschechische Nationalbewußtsein stärker hervor. Die in den letzten Jahrzehnten des 14. Jh. an der Universität vorherrschende philosophische Richtung war der -••Nominalismus in der Form des Buridanismus. Die für die weitere Entwicklung wichtigen Ideen Wyclifs wurden in Prag vereinzelt zwar schon seit den siebziger Jahren des 14. Jh. bekannt und fanden seit dem Anwachsen der böhmischenglischen Beziehungen im Anschluß an die Heirat Annas, der Schwester König Wenzels, mit König Richard II. von England 1382 vermehrt Eingang, erlangten aber auf das Ganze gesehen zunächst weder bei den Universitätslehrern, noch in dem außerhalb der Universität in Prag bestehenden Reformkreis stärkere Resonanz. Der Abzug eines Teils der deutschen Nominalisten und das Vordringen des Augustinismus (-»Augustin/Augustinismus) bereitete dann den Boden für die seit Mitte der neunziger Jahre des 14. Jh. überwiegend unter den jüngeren tschechischen Magistern breit einsetzende Wyclifrezeption. Die in den sechziger Jahren des 14. J h . mit dem Wirken des 1.3. „Vorläufer des Hussitentums". Konrad von Waldhausen (gest. 1369) und Jan Milic von Kremsier (gest. 1373) einsetzende und durch ihre Nachfolger (Matthias von Janov [gest. 1393], Thomas Stitny von Stitne [gest. um 1405] u.a.) in ihrem Sinn fortgeführte Reformbewegung trug entscheidend zur Erweckung der Laien in der böhmischen Hauptstadt und zur Bildung jener Gemeinde bei, die wenige Jahre später zum Kern der hussitischen Reformbewegung wurde. Die durch ihre Predigt und ihr persönliches Vorbild wirkenden Reformer werden seit Frantisek Palacky (-»Böhmen und Mähren 1.7) als „Vorläufer des Hussitentums" bezeichnet. In jüngster Zeit werden der Reformkreis und die von ihm getragenen, den gleichzeitigen Frömmigkeitsbemühungen in den Niederlanden parallelen Bestrebungen zusammen mit der verinnerlichten Spiritualität in den böhmischen Klöstern vielfach als Böhmische Devotio moderna (-»Devotio moderna) bezeichnet. Der spezifische Charakter der Prager Reformbewegung erscheint dadurch nicht ausreichend charakterisiert. Der eschatologisch-spiritualistische Geist der Predigten des Jan Milic, des Vaters der böhmischen Reformation (F. Loskot 1911), sowie der Rückgriff auf die Heilige Schrift und die Forderung nach Rückkehr zur Urkirche des Matthias von Janov wurden für die weitere Entwicklung richtungsweisend. Ein auf Initiative von Jan Milic 1372 begründetes Neues Jerusalem, in dem fromme Frauen mit bekehrten Dirnen zusammenleben sollten und das zugleich als Predigerausbildungsstätte konzipiert war, zerfiel zwar schon bald nach seinem Tod, wirkte aber ideell in der Frauenpastoral der Reformbewegung nach. Noch größere Bedeutung hatte von Anfang an die 1391 von Schülern des Jan Milic gestiftete, ausdrücklich für die Volkspredigt in tschechischer Sprache bestimmte Kapelle der Unschuldigen Kinder von Bethlehem, kurz Bethlehemkapelle genannt, in der Prager Altstadt. Der zeitweilig als Prediger hier wirkende Zisterzienser Johannes Stekna (gest. wohl 1407) wurde von Hus als predicator eximius gerühmt. In zahlreichen Schriften suchte der in enger Verbindung zur Bethlehemgemeinde stehende Laie Thomas Stitny dem Volk eine Glaubens-, Sitten- und Ständelehre in tschechischer Sprache zu vermitteln. Er gilt als Schöpfer der tschechischen theologischen Terminologie. Das Weiterwirken seiner Schriften auf Hus, Petr -»Chelcicky (-»Böhmische Brüder) u.a. ist noch wenig erforscht. Die Reformbewegung der „Vorläufer des Hussitentums" war - auf das Ganze gesehen - vom kritischen Reformdenken einzelner geprägt; eine Reformpartei entstand erst im Zuge der Auseinandersetzungen um Wyclif und des Einsatzes für ihn.

712

Hus/Hussiten

2. Jan (Johannes) Hus (um 1371-1415) und die Anfänge der hussitischen

Bewegung

2.1. Hussens Herkunft und Universitätslaufbahn. Hus wurde um 1371 zu Husinec in Südböhmen in armen Verhältnissen geboren. Sein Vater Michael war wahrscheinlich Fuhrmann. Seine Mutter brachte ihm nahe, alles als von Gott geschickt anzunehmen (Amen, tak boh daj: M. J. Husi Sebrané spisy ceské I, ed. Erben 358). Seinem in der Prager Universitätsmatrikel seit 1393 belegten Herkunftsnamen lohannes de Hussynecz (Hussinecz) steht die später (erstmals 1398) von ihm selbst gebrauchte Kurzform lohannes Hus bzw. die ausführliche Namensform lohannes Hus de Hussynecz gegenüber. Er selbst und seine Gegner gebrauchten später oft Anspielungen auf die tschechische Bedeutung seines Namens {Hus/a = Gans). Nach dem Besuch der Pfarrschule im Husinec benachbarten Prachatitz bezog Hus um 1390 die Artistenfakultät an der Präger Universität und wurde an dieser Fakultät 1393 zum Bakkalar, 1396 zum Magister promoviert. Zu seinen Lehrern zählten hier u.a. Stephan von Kolin, dem er wahrscheinlich auch längere Zeit im Collegium Carolinum als famulus gedient hat, Johannes Stékna, und insbesondere der von ihm als logicus pocior gerühmte Stanislaus von Znaim. Hus rangierte bei den Prüfungen nicht auf den vorderen Plätzen, doch bestätigte ihm schon der Promotor von 1393 (Johannes von Hohenmaut) ausdrücklich Ausdauer im Studium. Als magister regens wurde Hus 1398 erstmals zum Examinator für die Bakkalariatsprüfungen bestellt. Aus den Jahren 1398/99 liegen seine beiden ersten Promotionsreden vor. Im Wintersemester 1401/02 war Hus Dekan der Artistenfakultät. Neben der dortigen Lehrtätigkeit begann Hus um 1398 mit dem Studium der Theologie. Anfang Juni oder am 18.12.1400 wurde er zum Priester geweiht. Im Frühjahr 1402 erlangte Hus das Rektorat der Bethlehemkapelle. 1404 wurde er von der Theologischen Fakultät als baccalarius Cursor aufgenommen. 1404/05 erklärte er die kanonischen Briefe, 1405/07 die Psalmen. 1407 wurde er baccalarius sententiarius, 1408 baccalarius formatus. Der Sentenzenkommentar von 1407/08 ist Hussens umfangreichstes Werk. Im Wintersemester 1409/10 bekleidete Hus das Amt des Rektors der Universität. Der mit seinen theologischen Studien angebahnte Weg zum Doktor der Theologie wurde durch die Ereignisse der Jahre 1411/12 abgebrochen. Im Januar 1411 fungierte Hus als Quodlibetar. Seine Einstellung zum Studium und zur Wahrheitsfindung hat Hus 1410 in seiner Defensio des Liber de Trinitate Wyclifs in bekenntnishafter Form zusammengefaßt: ...a primo studii mei tempore hoc michi statui pro régula, ut quocienscunque saniorem sentenciam in quacunque materia pereiperem, a priori sentencia gaudenter et humiliter declinarem sciens, quoniam illa, que seimus, sunt minima illorum, que ignoramus, ut ait Themistius [Von Beginn meiner Studienzeit an habe ich mir zur Regel gesetzt, daß ich, so oft ich, in welcher Sache auch immer, eine vernünftigere Meinung wahrnahm, in Freuden und Demut von der zuvor gehegten abging in dem Wissen, daß das, was wir wissen, gegenüber dem, was wir nicht wissen, überaus gering ist, wie Themistius sagt] (M.I. Hus, Opera omnia XXII, 42). 2.2. Der Wyclifstreit und die Entstehung der wyclifitischen Partei an der Prager Universität (um 1400-1407). Die für Hussens geistigen Werdegang entscheidende Auseinandersetzung mit dem Denken -»Wyclifs fiel in die Jahre um 1398, als sich auch seine Lehrer Stanislaus von Znaim, Stephan von Kolin und andere intensiv mit Wyclifs -»Realismus befaßten. Wahrscheinlich bereits um die Mitte der neunziger Jahre des 14. Jh. verfaßte Stanislaus seinen Tractatus de universalibus rebus. Vor 1397 entstand die möglicherweise von Stephan Pâlec verfaßte Expositio zum gleichen Thema. 1398 schrieb Hus mehrere Traktate Wyclifs mit eigener Hand für sich ab, darunter De ideis und De universalibus. Einer gleichfalls 1398 von ihm gefertigten Abschrift einer in Prag entstandenen anonymen Replicatio de universalibus, wahrscheinlich die älteste Polemik mit den universalia in essendo in Prag überhaupt, fügte Hus im Explicit ein eindeutiges Bekenntnis zu Wyclif bei (Smahel, Hus und Wyclif 126). Die antiwyclifitische Tendenz des jüngst von F. Smahel aufgefundenen Quodlibets des buridanistisch eingestellten Prager Magisters Johann Ar-

Hus/Hussiten

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sen von Langenfeld, das wahrscheinlich 1400 stattfand, m a c h t deutlich, d a ß die Formierung der in der Folgezeit gegeneinander agierenden Parteien bereits weit vorangeschritten war. Kurz nach der J a h r h u n d e r t w e n d e machte Hieronymus von Prag die theologischen Schriften Wyclifs, vor allem den Dialogus und den Trialogus, in Prag bekannt. Den zum überwiegenden Teil der jüngeren Generation angehörenden Verfechtern des extremen Wyclifschen Realismus (Stanislaus von Z n a i m , Stephan Pälec, H u s und Hieronymus von Prag) stand in den seit 1403 offen ausbrechenden Auseinandersetzungen ein großer Kreis gemäßigter Realisten aus allen vier Universitätsnationen gegenüber, wie sich vor allem den Quaestionen f ü r die Quodlibetdisputationen ablesen läßt. Die Präger Wyclifiten vertraten bezüglich der universalia in re einen M i t t e l w e g : . . . universale et suum singulare sunt idem essencialiter et differunt racione sive formaliter [das Allgemeine und sein Einzelnes sind wesenhaft dasselbe und unterscheiden sich d u r c h den Wesensbegriff bzw. formal] (Hus, Super IV Sent. I, dist. XXXIII, 3: Spisy II, ed. Flajshans 150). Die Disputationen um Wyclif mündeten schon bald in Auseinandersetzungen um theologische Konsequenzen und um die Anwendbarkeit der Wyclifschen Doktrin f ü r die Reformdiskussion ein. Die Bemühungen der Aktionsgruppe zielten dabei zugleich auf Ausweitung ihres Einflusses und schließlich auf die volle Beherrschung der Universität. Seit 1403 trat die Häresiefrage im Wyclifstreit zunehmend in den Vordergrund. Am 27.5.1403 verbot die Universitätsversammlung gegen den Widerstand vor allem des Stanislaus von Z n a i m mit Mehrheit die weitere Disputation der ihr von den Wyclifgegnern durch zwei Vertreter des Metropolitankapitels während der Vakanz des erzbischöflichen Stuhles vorgelegten 45 Wyclifartikel. Von diesen waren auf der Londoner Synode 1382 bereits zehn als häretisch und weitere 14 als irrig verurteilt w o r d e n ; die restlichen 21 hatte der schlesische Magister Johannes H ü b n e r O P zusammengestellt. Eine Reihe der vorgelegten Sätze stimmte in der z. T. stark verkürzten Form mit Wyclifs tatsächlichen Aussagen nicht überein, was u . a . H u s zu scharfcn Erwiderungen veranlaßte. Gerade wegen ihrer Kürze fanden die Sätze in der Folgezeit vielerorts rasch A u f n a h m e und Verbreitung. Von den als häretisch verurteilten Artikeln wurden vor allem jene über die Eucharistie zum Streitgegenstand. Stanislaus von Z n a i m , der sich im ersten Teil seines Traktats De corpore Christi (Herbst 1403) zur Konsubstantiation bekannte und damit der Remanenzlehre Wyclifs nahe stand, distanzierte sich nach Protesten mehrerer Kollegen und dem Eingreifen von Erzbischof Zbynek von H a s e n b u r g (1403-1411) in den späteren Teilen des Werkes (1405/06) ausdrücklich von Wyclif. Der zu dieser Zeit in Krakau wirkende Johannes Stekna sowie Andreas von Brod verfaßten antiremanentistische Traktate (1406 bzw. 1406/07). Hus schloß sich der Wyclifschen Remanenzlehre zu keinem Zeitpunkt an. Dagegen wurde diese von Jacobellus von Mies (gest. 1429) in seinem Traktat De remanentia (1406 oder 1407) nachdrücklich vertreten. Die Eucharistiefrage blieb in der Folgezeit ein Kernpunkt der Auseinandersetzungen u m den Hussitismus überhaupt. 2.3. Hus als Prediger und theologischer Gutachter. Verwendung der Volkssprache in der Verkündigung. H u s , der in den Auseinandersetzungen u m Wyclif längere Zeit im Hintergrund und damit außerhalb der direkten Angriffe der Wyclifgegner gestanden hatte, erlangte als Reformprediger rasch Ansehen und eine stetig wachsende Gemeinde f ü r sich. Er begann als Prediger 1401 bei St. Michael in der Prager Altstadt, wo er u.a. durch seine Parteinahme für König Wenzel gegen dessen Rivalen Ruprecht von der Pfalz einen ihm lange gewogenen Fürsprecher gewann. Seit 1402 predigte er als Rektor der Bethlehemkapelle im Geist des Jan Milic. Die Zahl der hier von ihm in rund zehnjähriger Tätigkeit gehaltenen Predigten wird auf über 3000 geschätzt. Die zeitlich frühesten daraus erwachsenen Sammlungen sind die Puncta (1401/03) und die Sonntagspostille Ad te levavi (1404/05). Erzbischof Zbynek beauftragte Hus mehrfach mit Universitätspredigten (1404ff) und Ansprachen auf den Prager Synoden (1405, 1407). Wie die vorausgehende Reformbewegung setzte sich auch Hus für die Verwendung der tschechischen Sprache in der Verkündigung ein. Neuerdings wieder in Frage gestellt wird Hussens Verfasserschaft an der herkömmlicherweise mit seinem Namen verbundenen, für die Vereinfachung und

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Hus/Hussiten

Vereinheitlichung der tschechischen Schriftsprache wichtigen Orthographia bohemica (um 1405/ 06). Seine tschechischen Schriften (1409ff) und vor allem die durch ihn vorgenommene Revision bereits vorliegender tschechischer Bibelübersetzungen zeugen von intensiver Beschäftigung mit der tschechischen Rechtschreibung und setzen mindestens die Kenntnis der Orthographia voraus. Im Gegensatz zur restriktiven kirchlichen Praxis in der Frage des volkssprachlichen Kirchenliedes setzte sich Hus für dessen Pflege an der Bethlehemkapelle ein und verfaßte bzw. redigierte selbst einige Lieder. Als Mitglied einer von Erzbischof Zbynek eingesetzten Theologenkommission zur Klärung der angeblichen Wilsnacker Blutwunder trug Hus wesentlich zur Entlarvung des an den Wallfahrern verübten Betrugs und zum Verbot weiterer Pilgerfahrten nach Wilsnack durch den Erzbischof bei (1405). In seinem dazu verfaßten Traktat De sangume Christi glorificato forderte Hus die Gläubigen auf, sich nicht so sehr an Zeichen und Wunder, als vielmehr an die Heilige Schrift zu halten. Seit 1406 setzte infolge des Wyclifstreites eine allmählich fortschreitende Entfremdung zwischen Hus und dem Erzbischof ein. Hussens Einsatz für den ohne Autorisierung predigenden Priester Nikolaus von Velenovice genannt Abraham (1407) trug zur Verschärfung der Differenzen bei. 1407/08 mehrten sich die Stimmen im Prager Klerus, die von Erzbischof Zbynek ein Predigtverbot für Hus forderten. 2.4. Das Eingreifen der römischen Kurie in den Wyclifstreit (1407/08). Der zuvor im wesentlichen auf die Prager Universität begrenzte Wyclifstreit beschäftigte seit dem Besuch des Nuntius Papst Gregors X I I . , Bischofs J a c o p o Arigoni Baillardi von Lodi, a m Prager H o f 1 4 0 7 sowie der durch Ludolf Meistermann vertretenen und durch die Heidelberger Universität unterstützten Anklage gegen die Wyclifiten auch die römische Kurie. Die Anklage belastete Stanislaus von Znaim in besonderer Weise. Gregor XII. übertrug den Fall Kardinal Francesco Uguccioni, der den Wyclifiten durch ein Mandat vom 20.4.1408 verbot, sich weiterhin zu Wyclifs Lehren zu bekennen, sie zur Abgabe der Wyclifschriften an die kirchlichen Behörden verpflichtete und Stanislaus aufforderte, sich binnen zwei Monaten vor ihm zu verantworten. Im Zuge der von Erzbischof Zbynek eingeleiteten Maßnahmen schwor der tschechische Magister Matthias von Knin am 14.5.1408 der Remanenzlehre ab. Eine auf Veranlassung des Erzbischofs zusammengetretene Versammlung der böhmischen Universitätsnation am 24.5.1408 wiederholte die Verurteilung der Sätze Wyclifs aus dem Jahr 1403, jedoch mit der geschickt formulierten Einschränkung, daß die Artikel nicht in ketzerischem, irrigem oder anstößigem Sinn gelehrt oder verteidigt werden dürften. Das Studium der Wyclifschriften durch Magister war damit nicht ausgeschlossen. Dagegen wurde Bakkalaren der Besitz und die Lektüre von Wyclifs Dialogus, Trialogus und De corpore Christi ausdrücklich verboten. Am 17.7.1408 befahl Erzbischof Zbynek auf der Prager Synode die Auslieferung aller Wyclifschriften. Ende 1408 leistete Stanislaus von Znaim einer erneuten Vorladung an die Kurie Folge, zusammen mit dem gleichfalls dorthin zitierten Stephan Palec. Auf Anordnung Kardinal Baldassare Cossas, des späteren Papstes Johannes XXIII., wurden die beiden in Bologna nahezu ein Jahr lang inhaftiert. Beide traten nach ihrer Rückkehr als Gegner Wyclifs auf. 2.5. Der Stimmenstreit an der Prager Universität 1409. Die Auswirkungen der allgemeinen politischen Verhältnisse und kirchenpolitischen Ereignisse beschleunigten die Frontbildung an der Universität. Seit Spätherbst 1408 w a r König Wenzel bereit, das geplante Pisaner Konzil ( - » P i s a , Konzil von) von B ö h m e n aus zu beschicken. W ä h r e n d sich die Magister der böhmischen N a t i o n für die Anerkennung des Pisaner P r o g r a m m s der Kardinäle entschieden, hielten die M a g i s t e r der drei anderen N a t i o n e n z u s a m m e n mit Erzbischof Zbynek an der römischen Obedienz fest. Auf der zu Anfang J a n u a r 1 4 0 9 unter Leitung des M a t t h i a s von Knin abgehaltenen Quodlibetdisputation bekannten sich die tschechischen M a g i s t e r in Anwesenheit einer französisch-brabantischen Gesandtschaft öffentlich zum Wyclifschen Realismus. Wenige T a g e später änderte König Wenzel mit dem Kuttenberger Dekret v o m 1 8 . 1 . 1 4 0 9 unter Berufung a u f den Stiftungsbrief der Universität und das darin angesprochene Pariser Vorbild die Mehrheitsverhältnisse an der Universität und r ä u m t e der einheimischen natio Bohemica fortan drei, den bisherigen drei ausländischen N a t i o n e n - nun kollektiv als deutsche N a t i o n bezeichnet - bei allen Verhandlungen in den Ratsgremien, in den Prüfungskommissionen und bei den Wahlen eine Stimme ein. Die d a d u r c h bewirkte Stärkung des Einflusses der Wyclifiten an der Universität wurde bald d a r a u f durch die Sezession von e t w a 7 0 0 - 8 0 0 deutschen M a g i stern und Studenten an andere Universitäten, insbesondere an die in diesem Z u s a m m e n hang zu -»Leipzig neu begründete, weiter erhöht. Die Wyclifgegner in und außerhalb Böhmens wiesen in der Folgezeit unablässig auf den Z u s a m m e n h a n g zwischen d e m Streit

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um die Universalien und dem Rückgang der Universität hin und bezeichneten die Sicht der Universalien im Sinne Wyclifs als Grund der Heterodoxie in Böhmen. Bei den Ereignissen um die Jahreswende 1408/09 nahmen Hieronymus von Prag und der Jurist Jan von Jesenice (gest. wahrscheinlich 1420) die führenden Positionen ein. Seit 1409/10 trat dann Hus stärker in den Vordergrund der Reformbewegung in Prag, während sich Hieronymus mehrfach längere Zeit außerhalb Böhmens für die Verbreitung und Verteidigung der Wyclifschen Ideen einsetzte (1410 in Buda und Wien, 1413/14 in Krakau, Litauen und Weißrußland) und Jan von Jesenice die Rolle des geschickt taktierenden Anwalts Hussens übernahm, die er bis zu dessen Tod innehatte. Die durch Hieronymus und Jan von Jesenice vorgetragenen Begründungen der nationalen tschechischen Belange hatten für die Ausbildung des hussitischen Selbstverständnisses und Sendungsbewußtseins zunehmende Bedeutung.

2.6. Die Verfahren gegen Hus und die Wyclifiten in Prag und Rom 1409-1411. Seit Sommer 1409 ergriff Erzbischof Zbynek verstärkt Maßnahmen gegen die Wyclifiten. Anfang September trat Zbynek von der Obedienz Gregors XII. zu der des Konzilspapstes Alexander V. über und unterrichtete diesen gleichzeitig unter Hinweis auf die Gefahr des Verlustes der kirchlichen Autorität und der Konfiskation von Kirchengut durch den König über die rasche Ausbreitung des Wyclifismus in Böhmen und Mähren. Hus mußte sich in einem Verhör vor dem erzbischöflichen Inquisitor Mauritius Rvacka wegen einer Reihe von Anschuldigungen aus den Reihen des Prager Klerus u.a. zur Frage der durch einen Priester im Stand der schweren Sünde gespendeten Sakramente und wegen seiner das Volk gegen den Klerus aufreizenden Predigten verantworten, konnte sich aber rechtfertigen. Die demonstrative Wahl Hussens zum Rektor der Universität durch die Mehrheit der Univcrsitätsversammlung bestätigte die ihm nach dem Widerruf des Stanislaus von Znaim von Seiten der Reformpartei zuerkannte Führungsposition. In seiner ersten Universitätspredigt als Rektor stellte Hus ausgehend von M t 20,4 Ite et vos in vineam tneam [Geht auch ihr in meinen Weinberg] die -»Kirche in Anlehnung an Wyclif als Gemeinschaft der Prädestinierten (-»Prädestination) in den Mittelpunkt seiner Darlegungen. Wenige Jahre später hat Hus dieses Kirchenkonzept in seinem Hauptwerk über die Kirche (1413) im einzelnen begründet. Die Gegner der Wyclifiten beantworteten die Vorgänge in Prag mit vermehrten Aktionen an der Kurie. Mit der Bulle vom 20.12.1409 (in Prag publiziert am 9.3.1410) ermächtigte Papst Alexander V. Erzbischof Zbynek zu entschiedenem Vorgehen gegen den Wyclifismus und forderte speziell ein Verbot der Predigt an nicht dafür vorgesehenen Plätzen. Zbynek setzte eine Kommission zur Prüfung der Wyclifschriften ein, auf deren Veranlassung die St. Veitssynode a m l 6 . 6 . 1 4 1 0 d i e Bücherauslieferung anordnete. In einem rasch verfaßten Traktat De libris hereticorum legendis (am 21.6.1410) widersprach Hus der Anordnung des Erzbischofs und betonte die Notwendigkeit der Kenntnis häretischer Bücher mit dem Hinweis auf die auch in ihnen enthaltene Wahrheit. Am 25.6.1410 richtete er zusammen mit der Reformpartei eine wohl von Johannes von Jesenice verfaßte Appellation gegen das Predigtverbot in der Bethlehemkapelle und die Bücherverbrennung an Alexanders V. Nachfolger Johannes XXIII. Ungeachtet der Proteste ließ Zbynek am 16.7.1410 etwa 200 Handschriften im erzbischöflichen Hof öffentlich verbrennen und verhängte drei Tage später die Exkommunikation über Hus und seine Anhänger, die an der Kurie durch den inzwischen mit der Hussache beauftragten Kardinal Odo Colonna, den späteren Papst Martin V., bestätigt wurde (25.8.1410), obwohl eine Versammlung von Theologen aus Bologna, Paris und Oxford in Bologna die Verbrennung nicht gebilligt hatte. Der Zitation an die Kurie durch Odo Colonna leistete Hus nicht Folge. An seiner Stelle begaben sich Jan von Jesenice, Markus von Königgrätz und Nikolaus von Stojcin zu seiner Verteidigung an die Kurie. Die vorgegebenen Verfahrensweisen des kanonischen Prozesses und die Verteidigungsstrategie des Jan von Jesenice bestimmten in der Folgezeit den kurialen Prozeß. In ihm vertrat Hus fortan stellvertretend für den Reformkreis dessen Anliegen und verteidigte dieses schließlich bis zum Preis des eigenen Lebens.

In Prag hatte Zbyneks Vorgehen im Sommer 1410 zu teilweise gewalttätigen Tumulten und zu einem starken Anwachsen der Zahl der Anhänger der Reformbewegung geführt. Hussens trotz Verbots fortgesetzte Predigttätigkeit fand ihren Niederschlag in den sog. Sermones in Bethlehem (1410/11), in denen sich Hus für eine wahre Christusnachfolge einsetzte. In einem kurzen Predigttraktat Dixit Martha ad Iesum ( 3 . 1 1 . 1 4 1 1 ) wandte er

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sich g e g e n d e n bei B e e r d i g u n g e n ü b l i c h e n P o m p u n d g e g e n M i ß d e u t u n g e n d e r L e h r e v o m - • F e g f e u e r , stellte a b e r dieses selbst n i c h t in F r a g e . Auf d e m v o n i h m geleiteten Q u o d l i b e t i m J a n u a r 1411 t r a t J a c o b e l l u s v o n M i e s m i t s c h a r f e n A n g r i f f e n g e g e n Z e r e m o n i e n u n d Bilder h e r v o r . In Rom forderte schon im März 1411 der Kuriale Offizial Dietrich von Niem in einem im Auftrag der Prokuratoren Zbyneks (an der Spitze Michael von Deutschbrod gen. Causis) erstellten Gutachten Contra damnatos Wiclefistas Präge einen Kreuzzug zur Ausrottung der Wyclifie in Böhmen. Im Fall der Häresie solle H u s eingekerkert, degradiert und dem weltlichen Arm übergeben werden. Als d i e V e r k ü n d i g u n g d e r p ä p s t l i c h e n E x k o m m u n i k a t i o n g e g e n H u s w e g e n d e s s e n Nichterscheinen vor d e r Kurie (15.3.1411), die E x k o m m u n i k a t i o n der königlichen Offiziale u n d R ä t e ( 1 5 . 5 . 1 4 1 1 ) u n d d i e V e r h ä n g u n g d e s I n t e r d i k t s ü b e r P r a g ( 1 2 . 6 . 1 4 1 1 ) w i r k u n g s l o s b l i e b e n , w a r Z b y n e k b e r e i t , d i e Beilegung d e s K o n f l i k t s in A b s p r a c h e m i t den M a g i s t e r n der Universität d e m König zu übertragen (3.7.1411). Für diesen w a r die E n t s c h e i d u n g ein w i c h t i g e r S c h r i t t a u f d e m W e g z u r E r l a n g u n g k i r c h e n h o h e i t l i c h e r R e c h te. D i e w e i t e r e n B e m ü h u n g e n d e s K ö n i g s u n d seines K r o n r a t s zielten d a r a u f a b , B ö h m e n f r e i v o n I r r l e h r e n e r s c h e i n e n zu lassen. 2.7. Der Ablaßstreit und die Anfänge des radikalen hussitischen Flügels. Hussens Appellation an Christus (1412). Als d e r P a s s a u e r D o m d e k a n W e n z e l T i e m v o n N i k o l s b u r g als B e a u f t r a g t e r J o h a n n e s X X I I I . seit E n d e M a i 1412 m i t Z u s t i m m u n g K ö n i g W e n zels u n d d e s n e u e n P r a g e r E r z b i s c h o f s A l b i k v o n U n i c o v ( 1 4 1 1 - 1 4 1 2 ) e i n e n v o m P a p s t i m K a m p f g e g e n K ö n i g L a d i s l a u s v o n N e a p e l als B e s c h ü t z c r G r e g o r s X I I . g e w ä h r t e n K r e u z z u g s a b l a ß in P r a g v e r k ü n d e t e , w a n d t e sich H u s v o n d e r Kanzel, in ö f f e n t l i c h e r D i s p u t a t i o n i m Collegium Carolinum ( 7 . 6 . 1 4 1 2 ) s o w i e in S t r e i t s c h r i f t e n gegen d e n I n h a l t d e r p ä p s t l i c h e n Bulle, w o b e i er i n s b e s o n d e r e g e g e n d i e K r i e g s e r k l ä r u n g d u r c h d e n P a p s t u n d gegen d e n s i m o n i s t i s c h e n M i ß b r a u c h d e r A b l ä s s e Stellung n a h m . D e r Streit u m d e n A b l a ß s t ö r t e d i e B e z i e h u n g e n z w i s c h e n H u s u n d d e m K ö n i g , d e r a n j e n e m finanziell beteiligt w a r , u n d f ü h r t e gleichzeitig z u m e n d g ü l t i g e n B r u c h z w i s c h e n H u s u n d d e n M a g i s t e r n S t e p h a n P a l e c u n d S t a n i s l a u s v o n Z n a i m , die m i t d e r M e h r z a h l d e r T h e o l o g e n bereit w a r e n , J o h a n n e s X X I I I . zu u n t e r s t ü t z e n . Auf einer Ende Juni 1412 durch König Wenzel nach Zebrak einberufenen Versammlung des Kronrats zur Schlichtung der Differenzen zwischen H u s und der Theologischen Fakultät setzten die Vertreter der letzteren eine erneute Verdammung der 45 Wyclifartikel sowie sieben weiterer Artikel von H u s durch. Trotz Hussens Fürsprache wurden am 11.7.1412 drei jüngere Männer, die den Ablaßpredigern widersprochen und den Ablaß einen Betrug genannt hatten, öffentlich hingerichtet. Sie wurden in der Reformbewegung sofort als Märtyrer verehrt. Auf einer fünf Tage später auf Initiative Wenzels in das Altstädter Rathaus einberufenen Versammlung der Universität und des Prager Klerus wiederholte der päpstliche Inquisitor Bischof Nikolaus von Nezero die früheren Verurteilungen der Wyclifartikel. Markus von Königgrätz und Prokop von Pilsen bestanden darauf, d a ß diese auch in akzeptablem Sinn ausgelegt werden könnten. Hus, der an diesem Tag nicht in Prag war, organisierte bald darauf zusammen mit Jacobellus von Mies und Friedrich von Eppingen (gest. 1412/13) eine längere Disputation über ausgewählte Wyclifartikel im Collegium Carolinum (Ende Juli/August 1412), die den Nachweis erbringen sollte, d a ß jene nicht häretisch oder irrig seien. Hussens Stellungnahmen galten den Artikeln über die Predigt im Fall der Exkommunikation, die nichtautorisierte Predigt, das Recht der weltlichen Gewalt auf Einzug von Temporalien, die Zehnten und die Folgen der Todsünden (Art. 13-16.18). Vor allem mit seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit Art. 15 Nullus est dominus civilis (M.I. Hus, Opera omnia XXII 2 0 5 - 232) entfernte sich Hus zwar nicht von theologischen, eindeutig aber von herkömmlichen gesellschaftspolitischen Auffassungen. Die in der Defensio articulorum Wyclifi in besonders deutlicher Weise zutage tretende Anwendung Wyclifscher Doktrin auf die praktische Politik ist der eigene Beitrag des hussitischen Denkens (Kejr, Z u r Entstehungsgeschichte 52); die Fragestellung nach der literarischen Abhängigkeit Hussens von Wyclif, die in der älteren Forschung seit Johann Loserths Buch Hus und Wiclif (1884 2 1925) eine geradezu dominierende Rolle gespielt hatte, ist inzwischen in den Hintergrund getreten. Die Stellungnahmen des Jacobellus von Mies und Friedrich von Eppingen betrafen die Exkommunikation und die Bereicherung des Klerus (Art. 11 bzw. 32).

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Mit der öffentlichen Verteidigung Wyclifscher Sätze leitete Hus selbst die letzte Phase seines Kampfes ein. Zusammen mit den an der Schwarzen Rose lehrenden deutschen Magistern Nikolaus und Peter von Dresden repräsentierten Jacobellus von Mies und Friedrich von Eppingen die seit 1412 deutlich hervortretende radikale Richtung innerhalb der Reformbewegung. Die antithetischen Tabule tiovt et veteris coloris des Nikolaus von Dresden spiegeln die erregte Stimmung des Jahres 1412 wider. Seit Sommer 1412 forcierten die Husgegner, insbesondere Michael de Causis und Mauritius Rvacka, den inzwischen Kardinal Pietro degli Stephaneschi übertragenen Prozeß in Rom. Dieser sprach über Hus wegen Nichterscheinens vor der Kurie die verschärfte Exkommunikation aus, die am 18.10.1412 auf der Prager Synode feierlich verkündet wurde. Am gleichen Tag appellierte Hus in ebenso feierlicher Form an Christus als gerechtesten Richter. Die Appellation läßt sich als Akt des Notrechts im Rahmen der auf die konkrete kirchenpolitische Situation ausgerichteten Ekklesiologie Hussens erklären. Er selbst rechtfertigte sie gegenüber den Anklägern auf dem Konstanzer Konzil als Gewissensentscheidung. 2.8. Hus im Exil (1412-1414). Der Traktat über die Kirche (1413). Wohl Anfang November 1412 verließ Hus unter dem Druck der Ereignisse Prag und lebte unter adeligem Schutz in rund zweijährigem Exil zunächst in der Nähe Prags, von wo er mehrfach zur Predigt und zu Verhandlungen zurückkehrte, seit April 1413 in Südböhmen - zuerst auf der Ziegenburg (Kozi Hrädek), seit Frühjahr 1414 in Sezimovo Üsti - und seit Juli 1414 auf Burg Krakovec bei Rakovnik in Westböhmen. Offenbar bereits im Exil schloß Hus am 10.11.1412 die zu seinen Hauptwerken zählende tschechische Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, der Zehn Gebote und des Vaterunsers (Vyklad velky) ab, die die wichtigsten Glaubensinhalte in sprachlich einfacher Form zusammenfaßte und wovon er selbst später noch zwei voneinander abweichende Kurzfassungen herstellte (Vyklad mensi, Vyklad krätky). Kap. 5 der Auslegung des Glaubensbekenntnisses enthält das berühmte, von Joh 8,32 ausgehende Bekenntnis Hussens zur Wahrheit, das gemeinhin als Schlüssel zu seiner überlegenen, schließlich den Tod nicht scheuenden Haltung gilt: Darum, frommer Christ, suche die Wahrheit, höre die Wahrheit, lerne die Wahrheit, liebe die Wahrheit, sprich die Wahrheit, halte die Wahrheit fest, verteidige die Wahrheit bis zum Tod, denn die Wahrheit befreit dich von der Sünde, vom Teufel, vom Tod der Seele und schließlich vom ewigen Tod (hier zit.: J. Hus, ed. Schamschula 95).

Eine von Jan von Jesenice initiierte Appellation Hussens an den zum Landgericht in Prag versammelten Hochadel mit der Bitte um Schutz für Hus und Wiederherstellung der Predigterlaubnis für ihn (kurz vor 14.12.1412) und eine umfangreiche Stellungnahme, die Jan von Jesenice vor der Universität für Hus abgab (18.12.1412), bewirkten, daß König Wenzel einer neuerlichen Beratung des Falles auf einer außerordentlichen Synode zustimmte. Diese tagte vom 6. bis 19.2. 1413. Hus ließ hier seine Conditiones concordiae vorlegen. Seine Gegner faßten ihre Position in einem Gutachten zusammen (Constlium doctorum facultatis theologiae studii Pragensis), in dem sie besonderen Nachdruck auf den Gehorsam gegenüber kirchlichen Autoritäten legten. Das Gutachten bildete Grundlage und Ziel des Angriffs für die in den folgenden Monaten geführten Auseinandersetzungen beider Parteien. Da die Synode nicht zum Erfolg geführt hatte, setzte König Wenzel im April 1413 eine Kommission unter Leitung des auf Seiten Hussens stehenden Universitätsrektors Christian von Prachatitz ein. Auch in den von dieser Kommission gemeinsam mit je vier Vertretern der Theologischen Fakultät (Palec, Stanislaus und Peter von Znaim, Johannes Eliae) und der Reformpartei (Jacobellus, Simon von Tisnov, Johannes von Jesenice und ein namentlich nicht genannter Magister) geführten Gesprächen, bei denen die Frage nach dem Kirchenbegriff im Vordergrund stand, kam keine Verständigung zustande.

Gemäß einer Vereinbarung für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen mußten die Theologieprofessoren Prag verlassen. Für die Reformpartei an der Universität bedeutete der Auszug ihrer Gegner den Höhepunkt ihres Einflusses auf die öffentliche Meinung.

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König Wenzel war nach den Mißerfolgen seiner Einigungsbemühungen zu einer weiteren Intervention zugunsten Hussens und der Reformbewegung nicht mehr bereit. Nach einem Ende Juni oder Anfang Juli 1413 wahrscheinlich an Christian von Prachatitz gerichteten Brief erklärte sich Hus in Überzeugung von der Wahrheit seiner Auffassungen selbst für den Fall, daß er vor dem Scheiterhaufen stünde, nicht bereit, das Cortsilium doctorum anzunehmen; es sei besser, gut zu sterben, als in Sünde zu leben (Novotny, Korespondence Nr. 63). Seit dem Weggang von Prag entfaltete Hus unter widrigen äußeren Umständen eine fieberhaft anmutende Tätigkeit als Prediger und Schriftsteller und war zugleich bemüht, durch zahlreiche Briefe seine Kontakte zur Bethlehemgemeinde und zu seinen Freunden zu festigen. Ein jüngst in Annaberg aufgefundener eigenhändiger Brief Hussens, geschrieben zwischen Dezember 1412 und Sommer 1413, enthält wichtige Aussagen über die Bethlehemgemeinde, insbesondere über die dort in Kommunität lebenden Frauen und Jungfrauen. Wahrscheinlich für die dazu gehörige Agnes Stitny, die Tochter des Thomas Stitny, schrieb Hus wohl bereits im Exil die Schrift Dcerka [Töchterlein] über die Erkenntnis des rechten Weges zur Seligkeit, nach M . Spinka „one of the best and most eloquent directories to devotional life" (John Hus 194). Der Zeitraum vom Spätherbst 1412 bis Spätherbst 1413 bildete den Höhepunkt seiner literarischen Aktivitäten. Ende November 1412 begann Hus die große tschechische Sonntagspostille (Vylozenie sv. Ctetiinedêlnich), die er am 27.10.1413 auf Kozi Hrädek beendete. Am 2.2.1413 schloß er in Prag den tschechischen Traktat über den Ämterkauf ab (O svatokupectvi), etwa Mitte Mai 1413 sein Hauptwerk über die Kirche (De ecclesiä), am 21.6.1413 die tschechische Fassung (O sesti bludiech) des vorausgehend in Latein niedergeschriebenen Traktats über die sechs Verirrungen (De sex erroribus). In diesen Werken hat Hus sein Reformprogramm in umfassender Weise dargelegt. Der Traktat über den Ämterkauf enthält Hussens schärfste Angriffe gegen Mißstände in der Kirche mit zahlreichen Bezügen auf die böhmischen Verhältnisse. Die an Wyclifs Traktat De simonia angelehnte Schrift ist nach H. Kaminsky ein „masterpiece of applied Wyclifism" (A History 94). Von Hussens Hauptwerk De ecclesiä entstand der erste Teil (cap. 1 - 1 0 ) noch bevor das Consilium doctorum bekannt geworden war. Der zweite, auf Kozi Hrädek niedergeschriebene Teil (cap. 11-23) bildet Hussens polemische Antwort auf jenes Consilium. Mit Wyclif ging H u s in De ecclesiä vom augustinischen Kirchenbegriff aus und definierte die Kirche als Gemeinschaft der Prädestinierten: Ecclesiä... sancta katholica, id est universalis, est omnium predestinatorum universitas, que est omnes predestinati présentes, preteriti et futuri [ d i e . . . heilige katholische, d . h . allgemeine Kirche ist die Gesamtheit aller Prädestinierten, nämlich aller gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Prädestinierten] (De ecclesiä, ed. Thomson 2). Gegenüber den Prädestinierten als dem mystischen Leib Christi (a. a. 0 . 7 ) bilden die von Gott Verworfenen (presciti) für Hus ein eigenes corpus diaboli (a. a. O . 40). Die presciti sind nicht wahrhaft de Christi ecclesiä (a. a. 0 . 2 5 ) ; . . . aliud est esse in ecclesiä vel esse partem vel membrum ecclesie [... es ist etwas anderes, in der Kirche oder Teil oder Glied der Kirche zu sein] (a. a. O. 35). Es gibt zwar viele, die als Häupter oder Glieder der Kirche gelten, die aber vor Gott Glieder des Teufels s i n d : . . . multi secundum famam seculi vocantur ecclesie capita vel membra, licet secundum dei prescienciam sunt membra dyaboli;... multi reputative eciam secundum presentem iusticiam dicuntur esse de ecclesiä sed non vere secundum predestinacionem ad gloriam [...viele werden nach Meinung der Welt Häupter oder Glieder der Kirche genannt, sind indessen nach Gottes Vorherwissen Glieder des Teufels;... viele auch gelten nach der gegenwärtigen Gerechtigkeit vermeintlich als zur Kirche gehörig, (sind) es aber tatsächlich nach der Prädestination zur Herrlichkeit nicht] (a. a. 0 . 3 9 ) . Neben der zur Glorie bestimmten Gemeinschaft der Prädestinierten gibt es für H u s die sichtbare, hierarchisch verfaßte Kirche, wie P. De Vooght (Obscurités, AKGB 2) gegenüber J. Kadlec (ThPQ 118, AKGB 2) nachdrücklich hervorgehoben hat: In mehr als der Hälfte des Traktats De ecclesiä setzt sich Hus mit der Schlüsselgewalt in der Kirche, der Stellung des Papstes, der Kardinäle und Bischöfe, den kirchlichen Strafen und im besonderen mit dem Gehorsam auseinander (cap. 10-23). Nicht Kardinalskollegium und Papst bilden f ü r Hus den Leib und das H a u p t der universalen Kirche, sondern die Gemeinschaft der Prädestinierten und Christus selbst ( a . a . O . 43). Dieser ist allein das Haupt der Kirche: Nullus papa est persona dignissima illius ecclesie katholice preter

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Christum, igitur nullus papa est caput ecclesie illius ecclesie katholice preter Christum [kein Papst ist in dieser katholischen Kirche Person von allerhöchster Würde außer Christus; also gibt es auch kein H a u p t dieser katholischen Kirche außer Christus] ( a . a . O . 107). Die von den Kanonisten zu seiner Zeit vertretene Auffassung von den zwei im Verhältnis der Unterordnung zueinander stehenden Häuptern - Christus als caput supremum und Petrus als Stellvertreter - schränkt Hus dahingehend ein, daß nur ein solcher römischer Papst Vikar Christi sein kann, der fidelis minister predestinatus ad gloriam capitis Ihesu Christi [getreuer, zur Herrlichkeit Jesu Christi erwählter Diener] ist ( a . a . O . 109). Hussens Ausführungen zum Gehorsam spiegeln seinen eigenen Kampf um die Reform gegen seine kirchlichen Oberen, den großen Konflikt seines Lebens (De Vooght, Jan H u s 90), wider; sie waren offensichtlich mitbestimmt durch die im Verlauf des Großen Schismas entwickelte Theorie des erlaubten Ungehorsams gegenüber dem Papst.

2.9. Hus in Konstanz 1414/15. Die Einberufung des Konstanzer Konzils (-»Konstanz, Konzil von) Ende 1413 leitete eine neue Phase der Auseinandersetzung um die Reformbewegung in Böhmen und des gegen diese geführten Prozesses ein. König Wenzel und sein 1410 zum deutschen König gewählter Halbbruder Sigmund strebten auf Grund der immer häufiger erhobenen Forderung nach Eingreifen des weltlichen Arms eine Behandlung der böhmischen Frage auf dem Konzil an, um den durch die Ketzerei erschütterten Ruf des Landes wiederherzustellen und sich selbst nicht des Vorwurfs der Ketzerbegünstigung auszusetzen. Seit Frühjahr 1414 hatte Sigmund mit Hus über sein Kommen nach Konstanz verhandeln lassen. Am 28.8.1414 erklärte sich Hus in öffentlichen Anschlägen bereit, sich vor Erzbischof Konrad von Vechta (1413-1421, gest. 1431), der unmittelbar bevorstehenden außerordentlichen Prager Synode und dem künftigen Konzil wegen der gegen ihn erhobenen Anklagen zu rechtfertigen. Der Zutritt zur Synode wurde ihm jedoch verwehrt. Jan von Jesenice verschaffte ihm daraufhin ein Zeugnis des Ketzerinquisitors Nicolaus Venceslai, daß kein Verfahren gegen ihn anhängig sei. Auch der Erzbischof erklärte, von keiner Irrlehre Hussens zu wissen, verlangte aber dessen Lösung aus dem päpstlichen Bann. Am 1.9.1414 teilte Hus König Sigmund seine Bereitschaft mit, unter der Voraussetzung sicheren Geleits in Frieden nach Konstanz zu kommen, sich dort einer Examinierung in öffentlicher Audienz zu unterziehen und gegebenenfalls auch für die Wahrheit der lex Christi zu sterben. Kurz vor Hussens Abreise verfaßte Jan von Jesenice, offenbar zusammen mit Hus selbst, den Ordo procedertdi, eine Zusammenfassung des bisherigen Prozeßverlaufs, der Hus in die Lage versetzen sollte, die Anklagen hinsichtlich seines bisherigen Verhaltens wirkungsvoll entkräften zu können. Hus selbst konzipierte in einem „excess of optimism" (Spinka, John Hus 226) drei Ansprachen, die er vor dem Konzil vorzutragen gedachte: De pace, De sufficientia legis Christi, De fidei suae elucidatione. Gleichfalls kurz vor seiner Abreise begann innerhalb der Reformpartei die Diskussion über die Spendung des Laienkelchs ( - • Abendmahlsfeier), der wenig später (Ende Oktober oder in der ersten Novemberhälfte 1414) entgegen ausdrücklichem Verbot der Prager Synode vom 18.10.1414 durch Jacobellus von Mies mit Unterstützung der Dresdener Magister und des Magisters Johannes von Jicin in Prag eingeführt wurde. Um seine Position nicht zu gefährden, äußerte sich Hus noch in Prag zurückhaltend zur Kelchfrage. Der Kelch wurde in Prag in kürzester Zeit zum einprägsamen Symbol der Reformbewegung und zum Kern der Gemeinde- und Gruppenbildung. Während der Reise nach Konstanz (10.10.-3.11.1414), auf der er unter (erst nachträglich in Konstanz eintreffendem) Geleit König Sigmunds stand, fand Hus in deutschen Städten freundliche Aufnahme, in Nürnberg auch Gelegenheit zu einer Disputation. Die Frage nach den über den königlichen Geleitbrief hinaus Hus von Sigmund als Bedingung für sein Erscheinen in Konstanz gewährten mündlichen Zusagen läßt sich auf Grund der bisher bekannt gewordenen Quellen nicht befriedigend beantworten. Schon wenige Wochen nach seiner Ankunft in der Konzilsstadt wurde Hus, noch vor dem Eintreffen Sigmunds und ohne dessen Wissen, auf ein Fluchtgerücht hin auf Veran-

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lassung der Kardinäle am 28.11.1414 inhaftiert, zunächst im Haus des Domkantors, seit 6.12.1414 im Kerker des Dominikanerklosters. Hussens Verhaftung brachte das von Johann von Jesenice entworfene Verteidigungskonzept zum Scheitern: Der freiwillig vor dem Konzil Erschienene, der sich in Freiheit verteidigen und das Prager Reformprogramm in öffentlicher Audienz verteidigen wollte, stand als Gefangener in einem Wiederaufnahmeverfahren eines bereits lange andauernden und nur mehrfach unterbrochenen Inquisitionsverfahrens vor Gericht. Im hussitischen Böhmen trug die Verhaftung König Sigmund den seither oft wiederholten Vorwurf des Geleitbruchs ein. Sigmund selbst hielt das Geleit solange nicht für gebrochen, als sich Hus noch erklären und abschwören konnte und seine Hartnäckigkeit noch nicht bewiesen war. Vergeblich setzte sich der böhmische und mährische Adel zusammen mit Johannes Cardinalis von Reichenstein, dem Gesandten der Prager Universität zum Konzil, und Johannes von Jesenice unter Hinweis auf die Geleitversprechen für Hussens Freilassung und Gewährung eines öffentlichen Gehörs ein. Eine am 4.12.1414 durch Papst Johannes XXIII. eingesetzte Untersuchungskommission (Johannes, Patriarch von Konstantinopel; Bernhard, Bischof von Cittä di Castello; Johann Borsnitz, Bischof von Lebus) verhörte Hus am 6.12.1414 über sein Verhältnis zu den 45 Artikeln Wyclifs. Noch im Dezember 1414 (wahrscheinlich um den 10.12.1414) schrieb Hus seine Responsiones nieder, worin er 30 Artikel zurückwies, den größeren Teil mit der eindeutigen Formel non teneo nec tenui [das ist und war nicht meine Auffassung], und gegenüber den restlichen z. T. erhebliche Vorbehalte anmerkte, sie in der vorgelegten Form als nicht durch Wyclif belegt erklärte oder sich nicht für eine eindeutige Antwort entschließen konnte. Auf der anderen Seite bekräftigte er jedoch seine Position zu jenen Artikeln, die er bereits 1412 in Prag verteidigt hatte. Die Flucht Papst Johannes XXIII. aus Konstanz (20.3.1415) leitete die letzte Phase des Verfahrens gegen Hus ein. Die O b h u t über ihn wurde von den Kardinälen dem Konstanzer Bischof übertragen (24.3.1415), der ihn auf seine Burg Gottlieben bringen ließ. Die letzten Wochen war Hus im Franziskanerkloster inhaftiert. Die mehrfach verschärften Haftbedingungen, Krankheit, Todesahnungen und die z.T. unwürdige Behandlung bei den Verhören setzten Hus schwersten psychischen Belastungen aus. Am 6.4.1415 wurde die Hussache der neu eingesetzten Glaubenskommission mit Kardinal -»Petrus von Ailly, Johannes -»Gerson und Kardinal Francesco Zabarella an der Spitze übertragen. Wenig bekannt ist über die Rolle der übrigen Mitglieder der Kommission (Bartholomaeus von Ebrach u.a.). Von den nach Konstanz gereisten Gegnern Hussens war sein früherer Freund Stephan Palec der theologisch bedeutendste, der Leitomischler Bischof Johannes von Bucca der entschiedenste (der Eiserne); dazu gehörten weiterhin Michael de Causis, der Kelchgegner Peter von Unicov OP und Mauritius Rvacka. Eine wichtige Vorentscheidung fiel am 4.5.1415 mit der Erneuerung der Verdammung Wyclifs. Die Interpellation der nach Konstanz gereisten böhmischen und polnischen Herren bei König Sigmund vom 31.5.1415 forderte, da Hus weder überführt noch verurteilt sei (non convictus, non condemnatus), seine Freilassung (Fontes rer. Bohem. VIII56). Die Feststellung, daß Hus nicht überführt sei, kehrt in den Stellungnahmen seiner Anhänger bis weit über seinen Tod hinaus in gleicher oder ähnlicher Form immer wieder. Vor allem auf Grund der im einzelnen nicht durchschaubaren Bemühungen König Sigmunds wurde Hus dreimal öffentlich verhört (5., 7. und 8.6.1415). Bezüglich der ihm hier und in nichtöffentlichen Verhören vorgelegten, vornehmlich aus seinem Traktat De ecclesia gezogenen Anklageartikeln verweigerte Hus jeden Widerruf, so sehr ihm die Richter einen solchen auch durch mehrfache Verminderung der Artikel nahelegten. Bald nach der am 15.6.1415 erfolgten Verurteilung des Laienkelchs durch das Konzil wandte sich Hus in einem Brief an den Bethlehemprediger Havlik am 21.6.1415 entschieden dagegen, daß das durch Christus und die Apostel eingesetzte Kelchsakrament durch menschliche Bosheit als Ketzerei verurteilt werde. In der XV. Generalsitzung des Konzils am 6.7.1415 wurde Hus als verstockter Ketzer

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zum Tod verurteilt. Der vorbereitete Beschluß über seine Absetzung und Einschließung zeigt, daß die Richter bis zuletzt mit der Möglichkeit des Widerrufs gerechnet hatten. Hus lehnte diesen ab, um die Reformbewegung nicht durch Zugeständnisse gegenüber dem Vorwurf der Häresie zu belasten, und faßte die Gründe der Widerrufsverweigerung unmittelbar vor seiner Degradation ein letztes Mal zusammen:... timeo hoc facere, ne sim metidax in conspectu domitti, et eciam ne conscienciam meam et dei veritatem offendam, cum numquam istos tenui articulos, qui contra me false testantur, sed pocius hiis oppositum scripsi, docui et predicavi, et eciam ideo, ne tantam multitudinem, cui predicavi, scandalisem, et eciam alios fideliter verbum dei predicantes [... ich scheue mich, das zu tun, um nicht angesichts des Herrn als Lügner dazustehen, sowie auch, um nicht mein Gewissen und Gottes Wahrheit zu verletzen, da ich die fälschlicherweise gegen mich angeführten Sätze niemals behauptet habe, vielmehr ihnen entgegen geschrieben, gelehrt und gepredigt habe, und auch deswegen, um nicht einer so großen Schar, der ich gepredigt habe, sowie anderen getreu das Wort Gottes Verkündigenden Ärgernis zu geben] (Font, rer. Bohem. VIII 118). Nach dem Scheitern der Prozeßstrategie des Jan von Jesenice „blieb nur mehr der Weg, die Lehrautorität des Konzils in Frage zu stellen und an ihrer Stelle die Forderung nach Belehrung aus der Schrift zu erheben. Für diese Forderung und damit für die moralische Integrität der Bewegung ist Hus in den Tod gegangen - ,non convictus et non confessus'" (Seibt, Die Zeit der Luxemburger 505 f). Das Todesurteil wurde im Anschluß an die Degradation vor der Stadt durch Verbrennen vollstreckt. Die Hussiten feierten den Hingerichteten als Märtyrer und hielten das Gedächtnis an ihn fest. In der bildenden Kunst reichte die Darstellung bis hin zur Apotheose des Märtyrers auf dem Scheiterhaufen im utraquistischen Leitmeritzer Kanzionale (1510/1514). Das Weiterwirken Hussens über seinen Tod hinaus hat Leopold von Ranke eindrucksvoll formuliert: „Erst, da Hus tot war, wurden seine Gedanken eigentlich lebendig" (Weltgeschichte IX, Leipzig 1888, 187). 3. Die Formierung der hussitischen Parteien

(1415-1419)

3.1. Das Konstanzer Konzil und die böhmische Ketzerei 1415/16. Sofort nach Hussens Verurteilung ergriff das Konstanzer Konzil neue Schritte zur Beseitigung der hussitischen Bewegung in Böhmen selbst. Am 31.8.1415 erteilte es Bischof Johann dem Eisernen weitgehende Vollmachten zur Bekämpfung der Ketzerei. Am 29.10.1415 publizierte Johann die Konstanzer Dekrete in Prag und stellte die Stadt unter -»Interdikt. Inzwischen hatte der seit dem 2.9.1415 unter Führung von Lacek von Kravar, Cenek von Wartenberg und Bocek von Kunstadt in Prag versammelte böhmische und mährische Adel einen gemeinsamen Protestbrief gegen Hussens Verbrennung an das Konzil gerichtet (5.9.1415), in dem die 452 Siegler diesem den Gehorsam aufkündigten und sich zur gemeinsamen Verteidigung des Reformwerkes verpflichteten. Der Protest war mit einer Appellation an den künftigen Papst und der Forderung nach Anerkennung der Prager Universität als höchsten Entscheidungsgremiums in Glaubensfragen verbunden. Das Konzil leitete Anfang des folgenden Jahres einen kanonischen Prozeß gegen die Beteiligten ein. Große Anstrengungen verwendete das Konzil im Prozeß gegen den seit dem 23.5.1414 in Konstanz inhaftierten Hieronymus von Prag. Er widerrief mehrfach seine bisherigen Überzeugungen, distanzierte sich aber schließlich von seinen Widerrufen und bekannte sich erneut zum Wyclifismus. Er starb nach einer Lobrede auf Hus am 30.5.1416 als rückfälliger Ketzer in Konstanz auf dem Scheiterhaufen. 3.2. Der gemäßigte Utraquismus. Im Zeichen des Kelchs verbreitete sich die hussitische Bewegung bei weitgehender königlicher Duldung und Förderung vor allem von Seiten des Adels rasch in Böhmen und fand auch in einzelnen Teilen Mährens Eingang. Das am 1.11.1415 über Prag verhängte Interdikt ermöglichte den utraquistischen Prie-

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stern, die verlassenen Kirchen zu übernehmen. Spätestens seit Februar 1416 waren alle Präger Kirchen mit Kelchpriestern besetzt. Ideologische Unterstützung fand die Kelchbewegung an der Universität. Seit 1415 nahm Jacobellus von Mies hier und in der Kelchbewegung die führende Position ein. Seine radikalen Auffassungen schwächten sich im Lauf der folgenden Jahre deutlich ab. Zur Verminderung des Einflusses der Universität richtete das Konzil mehrfach gezielte Angriffe gegen sie, die bis zum Plan einer Suspendierung reichten. Zugleich verstärkte das Konzil den Druck auf den Prager Hof. Im Lauf der Jahre 1416/17 verstärkten sich die zwischen Gemäßigten und Radikalen bestehenden Spannungen. Die dabei entstehenden beiden großen hussitischen Parteien waren auch in sich keineswegs homogen. Innerhalb des gemäßigten Utraquismus bildete der mit den Interessen des hussitischen Adels, vor allem des Hochadels, und mit der Universität eng verbundene Flügel die stärkste Gruppe. Angesichts des sich ausbreitenden Radikalismus trachtete der Adel nach Versöhnung mit der Kirche, wobei er den Laienkelch als minimales Zugeständnis forderte. Zusammen mit der Universität suchte er ein für alle Gruppen akzeptables Reformprogramm aufzustellen. Kernstück davon war die am 10.3.1417 in feierlicher Form verkündete Erklärung der Universität, welche die Spendung der Kommunion sub utraque als einen von Christus eingesetzten und in der Urkirche geübten Brauch sanktionierte. Die Universität trat damit als oberste Lehrautorität in Glaubensfragen im hussitischen Lager hervor. Die Deklaration nahm zwar Bezug auf das Konstanzer Kelchverbot, trat diesem aber nicht ausdrücklich entgegen. Mit der Deklaration verfügten die Utraquisten nun über eine rechtliche Grundlage ihres Ritus, die die Wirkungen des Konzilsdekrets aufhob. Die Erklärung machte den Weg frei für die von vielen Patronen bislang nur zögernd praktizierte Anstellung utraquistischer Priester. Die Anregung des Prager Pfingstlandtags von Anfang Juni 1417, die Frage des Laienkelchs erneut vor das Konzil zu bringen, scheiterte. Die dafür unter Leitung des Jan von Jesenice zusammengestellten und zunächst König Sigmund zugeleiteten Auctoritates pro cotnmunione sub utraque wurden von führenden Konzilstheologen abschlägig beantwortet (Johannes Gerson, Nikolaus von Dinkelsbühl, Johannes Rocca, Mauritius Rvacka). Trotz dieses Mißerfolgs bildeten die Bemühungen um Aufhebung des Laienkelchverbots fortan das Hauptziel hussitischer Diplomatie. Zur Wahrung der apostolischen Sukzession und Verhinderung des Wanderpredigertums nach waldensischem Vorbild zwang Cenek von Wartenberg den Weihbischof von Prag Hermann von Mindelheim OESA zur Weihe mehrerer Kelchpriester auf Burg Lipnice (6.3.1417). Der Versuch, die Reformbewegung auf diese Weise in feste Bahnen einzubinden, blieb ohne Erfolg. 3.3. Die radikale Richtung. Gegenüber der von der Mehrzahl der Universitätsmagister und dem Adel repräsentierten gemäßigten Richtung gewannen die radikalen Tendenzen zunehmend an Boden, in Prag insbesondere in der Neustadt, auf dem Land vor allem in Südböhmen (Sezimovo a.d. Luznice, Pisek), aber auch in Westböhmen (Pilsen) und Mähren (Olmütz), verschiedentlich eindeutig auf der Grundlage waldensischer Unterströmung. Seit 1416 kam es zu Plünderungen von Kirchengut und Ausschreitungen gegen Geistliche und Nonnen. Hussitenpriester feierten Gottesdienste außerhalb geweihter Räume. Radikal gesinnte Theologen setzten sich für den Ikonoklasmus ein, so Nikolaus von Dresden in seinem möglicherweise schon im Herbst 1415 entstandenen Traktat De imagittibus und Jacobellus von Mies in gemäßigterer Form in seiner gleichnamigen Positio vom 31.1.1417. Scharfe Angriffe galten der Heiligenverehrung und der Lehre vom Fegfeuer. Letztere wurde von Jacobellus verteidigt. Langwierige Auseinandersetzungen knüpften sich an die seit der zweiten Jahreshälfte 1416 von Jacobellus befürwortete Kommunion der Kleinkinder. Gegensätzliche Stellungnahmen verfaßten u.a. Jan von Jesenice, Simon von Tisnov und Peter Cendät. 3.4. Einigung zwischen den Parteien. Entstehen revolutionären

Selbstbewußtseins

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radikalen Kreisen 1418/19. Zwei Monate vor Beendigung des Konstanzer Konzils bestätigte Papst Martin V. am 22.2.1418 mit den Bullen Inter cunctas und In eminentis die zuvor durch das Konzil ausgesprochenen Verurteilungen Wyclifs und Hussens sowie des Kelches und leitete damit eine neue Kampagne gegen die böhmische Ketzerei ein, die für den Fall der Unbotmäßigkeit mit einem Kreuzzug drohte (20.3.1418). Die Bedrohung von außen bewirkte auf der darauffolgenden Wenzelstagsynode (28.9.1418) eine Einigung zwischen Gemäßigten und Radikalen über bislang strittige Fragen; vereinbart wurden u. a. die Kinderkommunion sub utraque und die Verwendung der Volkssprache bei Epistel und Evangelium. Die bald durch die Ereignisse überholte Einigung steht am Beginn einer langen Reihe auf das gleiche Ziel gerichteter Bemühungen unter den Hussiten. König Wenzel sah sich unter wachsendem Druck von seiten Roms und seines Bruders Sigmund schließlich zu rigorosen Einschränkungen der bislang in Prag und in den königlichen Städten geduldeten hussitischen Gottesdienste sowie zur Entfernung der Kelchpriester aus den meisten Prager Kirchen und Wiedereinsetzung der Kelchgegner veranlaßt. In der Prager Neustadt verkündete der frühere Prämonstratenser Jan Zelivsky (Johannes von Seelau [gest. 1422]) in einer Predigt am 19.4.1419, d a ß die Nacht des Antichrist bereits angebrochen sei, und erweckte im Frühjahr und Sommer 1419 die radikal gesinnten Gläubigen zu revolutionärem Selbstbewußtsein. Auf dem Land versammelten sich radikale Gruppen, vielfach unterstützt durch den niederen Adel, seit Frühjahr 1419 auf Hügeln in der Nähe der Städte zu Kelch- und Mahlfeiern. In eschatologischem Symbolismus (A. Molnär) benannten sie die Versammlungsstätten nach altund neutestamentlichen Plätzen der Offenbarung und messianischen Herrlichkeit (Tabor, Oreb, Beränek [ = Berg des Lammes] u. a.). Als Organisatoren der Bergwallfahrten traten u. a. der frühere Magister Johannes von Jicin, die Priester Vancek/Venek und Peter Kanis sowie der Glöckner Peter H r o m a d k a hervor. Besondere Bedeutung erlangte die Massenwallfahrt auf den Tabor (Burkovak) bei Bechyne am 22.7.1419. In Ostböhmen organisierte der Prediger Ambroz von Königgrätz Wallfahrten auf den Oreb bei Hohenbruck unweit Königgrätz.

4. Die hussitische Revolution und die Entstehung hussitischer (1419-1437)

Teilkirchen

4.1. Die Aktionsgruppen. An die Stelle der nicht nur in der marxistischen Hussitismusforschung längere Zeit vorherrschenden Konzentration auf den elitären radikalen (linken) Flügel der Revolution ist vor allem seit der Strukturanalyse der Revolution, speziell des gemäßigten Flügels, durch F. Seibt (1965) und die daran anknüpfende Diskussion eine Sicht der hussitischen Revolution getreten, die in der neuesten Forschung weithin akzeptiert und rezipiert ist. Das revolutionäre Geschehen spielte sich danach in einem komplizierten Gegen- und Miteinander religiös, politisch und sozial motivierter Aktivitäten und Strömungen unter dem gemeinsamen Vorzeichen des in der Glaubenssache begründeten Widerstandes gegen die alte Ordnung ab. Nach Seibt traten in der hussitischen Revolution fünf Aktionsgruppen mit mehr oder weniger deutlich faßbaren eigenen Programmen hervor: der Reformkreis im Magisterkollegium der Prager Universität, die Prager Nationalisten, „eine Führungseiite aus akademisch oder politisch gebildetem Bürgertum in der böhmischen Hauptstadt" (Hussitica 185), die kleinen Leute in den Städten, vor allem in der Prager Neustadt, die Bruderschaften von Tabor und Oreb sowie der Hochadel (a.a.O. 185f). Von letzterem neigte der mährische noch stärker als der böhmische der Revolution zu. Ihm gegenüber trat der niedere Adel zwar nicht als geschlossene Aktionsgruppe hervor, erlangte jedoch - wie neuere Forschungen an Einzelbeispielen gezeigt haben (Polivka) - durchaus politischen Einfluß. Darüber hinaus wurde die militärische Stoßkraft der Revolution, vor allem der Taboriten, in hohem Maß von Angehörigen des niederen Adels getragen (Nikolaus von Hus [gest. 1420], Jan Zizka von Trocnov [gest. 1424]). Alle Aktionsgruppen lehnten den nach ihrer Sicht für den Tod des Hus verantwortlichen Sigmund als König von Böhmen ab. Während die Taboriten und die kleinen Leute in der Prager Neustadt in Abkehr von der ständischen Gesellschaftsordnung zunächst kom-

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munistisch-republikanische Tendenzen vertraten, sich aber schon bald dem Anliegen der ständischen Sozialrevolution öffneten und städtisch-bürgerliche Organisationsformen übernahmen, zielte das Bemühen der gemäßigten Richtung von Anfang an auf eine Neuordnung der Ständegesellschaft. Der von Hochadel, Pragern und Magistern seit April 1420 verfochtene Plan, den böhmischen Thron dem König von Polen bzw. dessen Verweser zu übergeben, wurde bald auch von Zizka gebilligt. Demgegenüber wollten Nikolaus von Hus und andere Taboriten nur einen einheimischen Kandidaten als König akzeptieren. Der von den Pragern zu Beginn der Revolution erhobene Führungsanspruch wurde schon 1421 durch den Hochadel unterdrückt. Im Zug der hussitischen Revolution gewann dieser die Machtpriorität im Rahmen der böhmischen Ständegesellschaft eindeutig für sich und blieb für lange Zeit die bestimmende politische Kraft im Land. Zu den noch unbefriedigend gelösten Problemen der Geschichte der hussitischen Revolution gehört die Bauernfrage. Nach J. Kejr läßt sich bei den Bauern für den ganzen Revolutionsverlauf kein unzweifelhafter Beweis für einen Aufstand gegen ihre Obrigkeit finden (Zur Bauernfrage 76). 4.2. Aufschwung und Krise der Revolution. Die Vier Prager Artikel. Acht Tage nach der großen Taborwallfahrt vom 22.7.1419 brach am 30.7.1419 mit einer Serie demonstrativer Aktionen radikaler Hussiten unter Führung des Jan Zelivsky in der Präger Neustadt der offene Widerstand gegen König Wenzel, seine Erlasse und gegen die altkirchliche Partei insgesamt aus. Die Besetzung der Kirche St. Stephan mit anschließendem Kelchgottesdienst, die Störung einer Kelchprozession und die Verweigerung der Freilassung inhaftierter Kelchanhänger mündete im Fenstersturz von 13 erst kurz zuvor durch Wenzel eingesetzten, antihussitisch eingestellten tschechischen Ratsherren und Beamten durch die Radikalen (1. Prager Fenstersturz). Das Stadtregiment wurde vier gewählten Hauptleuten übertragen; die Einwohner wurden unter Strafandrohung unter die Waffen gerufen. Wenzels plötzlicher Tod (16.8.1419) nach einem Schlaganfall wurde schon von den Zeitgenossen mit dem seit dem Fenstersturz herrschenden Aufruhr in Verbindung gebracht. Die Gewaltakte radikaler Gruppen gegen Priester, Mönche und Nonnen wurden in der Folgezeit verschiedentlich durch nicht weniger grausame Akte königlicher Beamter und Soldaten beantwortet. Das Land „fiel auf weite Strecken in Anarchie, ehe sich die konservativen Lokalgewalten zu erholen oder neue Obrigkeiten aus einer Flut von Gewalttaten und Unschlüssigkeit zu festigen vermochten" (Seibt, Die Hussitenzeit 28). Seit Spätsommer 1419 dienten die Wallfahrten auf die Berge der Sammlung der revolutionären Kräfte aus Stadt und Land. Nikolaus von H u s bemühte sich um Koordinierung der Aktionen der Taboriten und der Radikalen in Prag. Zusammen mit den Radikalen aus Pilsen und Königgrätz traten sie seit Ende Oktober 1419 unter Führung des Nikolaus von H u s sowie des Jan Zizka von Trocnov in den Kampf um den Besitz der böhmischen Hauptstadt ein. Dem radikalen Flügel gegenüber waren die gemäßigten Utraquisten in Verständigung mit den altkirchlichen Ständen zunächst zu einem Bündnis mit der Königinwitwe und Regentin Sophie bereit. Unter bestimmendem Einfluß der Universitätsmagister und des Hochadels vereinbarten sie am 13.11.1419 einen bis zum 23.4.1420 befristeten Waffenstillstand, durch den einerseits die Einhaltung des Gesetzes Gottes, insbesondere aber der Kommunion sub utraque, verbürgt und auf der anderen Seite die Einstellung der Angriffe auf Kirchen und Klöster und des Ikonoklasmus garantiert werden sollte. Weder Zizka noch Nikolaus von Hus waren zum Anschluß an diese Vereinbarungen bereit. Unter Führung Zizkas, des Pilsener Predigers Wenzel Koranda d . J . (gest. um 1455) und anderer Priester wandten sich die Radikalen nun nach Westböhmen, w o sie sich im Anschluß an Jes 19,18 in adventistischer Hoffnung in fünf Städten sammelten und im Geist allgemeiner Gleichheit kommunistische Gemeinschaftsformen einführten. Für die nächsten Monate bildete Pilsen als Sonnenstadt ihr Zentrum. Unter dem Eindruck der im Januar und Februar 1420 durch König Sigmund auf dem Breslauer Reichstag angebahnten antihussitischen M a ß n a h m e n , insbesondere des Kreuzzugspatents vom 10.2.1420 und blutiger Ausschreitungen gegen Kelchanhänger unter dem königlichen Münzmeister Nikolaus Divoky von Jemniste in Kuttenberg, schlug der von der Idee des Pazifismus und der Rettung in auserwählten Städten getragene Adventismus um zu einem vom Gedanken der Gewalt und vom Willen zur Vergeltung an den Feinden des Gesetzes Gottes bestimmten sozialrevolutionä-

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ren -»Chiliasmus. Nach dem Ausbleiben der zwischen dem 10. und 14.2.1420 erwarteten Parusie eroberten die Taboriten kurz darauf am Aschermittwoch die Stadt Üsti an der Luznice, brannten diese wenige Wochen später nieder und errichteten an der Stelle der Burg Hradiste über der Luznice in strategisch vorteilhafter Lage das neue Tabor, das in den nächsten Jahren Zizka als Operationsbasis f ü r seine gefürchteten militärischen Aktionen diente.

Die Kreuzzugsbulle Papst Martins V. gegen die böhmischen Ketzer vom 1.3.1420 (in den Breslauer Kirchen am 17.3.1420 promulgiert) verschärfte die Situation und förderte zusammen mit den königlichen Maßnahmen das Zusammenrücken der hussitischen Aktionsgruppen. Hochadel und Prager verankerten ihre Entschlossenheit zum Widerstand gegen Sigmund in vier am 18. bzw. 20.4.1420 bekanntgegebenen Forderungen, den sog. Vier Prager Artikeln: Laienkelch, Predigtfreiheit, Priesterarmut und Wiederherstellung der böhmischen Nationalehre. Während sich das königliche Heer im Mai 1420 in Kuttenberg formierte, sammelten sich die hussitischen Kräfte aus dem ganzen Land in Prag und akzeptierten Ende Mai 1420 die Vier Artikel als gemeinsame religiöse Grundlage ihres Widerstandes. Auf Wunsch der Taboriten wurde am 27.5.1420 der letzte Artikel durch die Forderung nach Bestrafung der Todsünden, besonders der öffentlich bekannten, ersetzt. In diesem Inhalt bildeten die Vier Artikel in den folgenden Jahren das einigende Band der gemeinsamen hussitischen Aktionen bis hin zu den Konfessionsverhandlungen auf dem Basler Konzil (-»BaselFerrara-Florenz) und zugleich die Bekenntnisgrundlage der sich bildenden hussitischen Kirchen. Im einzelnen waren alle Artikel bereits früher als Forderungen von den hussitischen Magistern und Predigern als Voraussetzung der Rückkehr zur primitiva ecclesia erhoben und auch schon auf dem Konstanzer Konzil durch die Bulle Inter cunctas verurteilt worden. Die ideologisch-theologische Vorbereitung der Artikel ist noch nicht endgültig geklärt; es wird angenommen, d a ß der vor allem als Historiograph der hussitischen Revolution bekannte Laurentius von Brezovä maßgeblich an ihrer Ausarbeitung beteiligt war. Seit dem Frühjahr 1420 wurden sie allen wichtigen politischen Entscheidungen und Manifesten der Hussiten als Begründung beigefügt. In Prag und Tabor wurden im weiteren Verlauf einschränkende oder erläuternde Zusätze zu den Artikeln notwendig. Hatten die theologischen Auseinandersetzungen mit den Hussiten bisher im Zeichen des Kelches gestanden, so rückten jetzt die Vier Artikel zwar in den Vordergrund, die Kelchfrage bildete aber auch weiterhin den Kern der Diskussionen (so z.B. in dem wichtigen antihussitischen Traktat Debemus invicem diligere des Johannes Hoffmann von Schweidnitz aus den Jahren 1420/21).

Die hussitischen Magister an der Universität, die den Krieg zunächst nur zögernd gebilligt hatten, propagierten angesichts der akuten Bedrohung durch das Kreuzheer Sigmunds schließlich den gerechten bzw. verpflichtenden Krieg. Der Dekan der Prager Artistenfakultät Jan Pribram (gest. 1448) forderte in seinem wahrscheinlich für die Zusammenkunft am 27.5.1420 erstellten Gutachten De hello dazu auf, der Wahrheit wegen am Krieg zur Verteidigung des Landes teilzunehmen. Nach dem 28.6.1420 rückten Sigmund und sein Heer gegen Prag vor. Schon kurz nach Besetzung des Hradschin und des Vysehrad begannen die Hussiten mit der Verbreitung der Vier Artikel im königlichen Lager. Ein Angriff der Meißener auf den strategisch wichtigen Vitkov am 14.7.1420 wurde von Zizka abgeschlagen. Kurz darauf kamen auf Initiative des päpstlichen Legaten Ferdinand von Lugo Verhandlungen zwischen der u.a. durch Pietro Paolo Vergerio vertretenen altkirchlich-königlichen Partei und einer Abordnung der Prager unter Führung des Jan Pribram zustande, die trotz weitgehender Übereinstimmungen in den übrigen Punkten um den 25.7.1420 an der hussitischen Kelchforderung scheiterten. Mit der durch Erzbischof Konrad von Vechta vollzogenen Trotzkrönung Sigmunds zum böhmischen König (28.7.1420) verbaute sich dieser selbst den Weg zu weiteren Verhandlungen mit seinen Gegnern. Im November 1420 gelang den Pragern ohne wesentliche Unterstützung durch die Taboriten am Vysehrad ein militärischer Erfolg gegen das Heer Sigmunds, wodurch sich ihr Ansehen im hussitischen Lager beträchtlich steigerte. Unter ihrer Führung konstituierte sich im Frühjahr 1421 ein hussitischer Städtebund in Mittel- und Ostböhmen.

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Einen weiteren Prestigegewinn für den gemäßigten Flügel insgesamt bedeutete der am 21.4.1421 vollzogene Ubertritt Erzbischof Konrads von Vechta zu den Vier Artikeln. Damit blieb für die Utraquisten die von ihnen stets erstrebte Weihe ihrer Priester zunächst sichergestellt. Der Anfang Juni (3.-7.) 1421 in Tschaslau tagende Landtag, der das hussitische und nichthussitische Böhmen vereinigte, bestätigte die Anerkennung der Vier Prager Artikel als Landesgesetz, verwarf die Ansprüche Sigmunds auf den böhmischen Thron und beschloß die Bestellung von 20 Direktoren als Landesverweser (5 Barone, 4 Vertreter der Prager Städte, davon je zwei aus Alt- und Neustadt, 7 Angehörige des niederen Adels, darunter Zizka und Zbynek von Buchov als Vertreter Tabors, sowie 4 Vertreter der übrigen Städte) und schränkte die Rechte Erzbischof Konrads durch die Betrauung des Jan Zelivsky und des Jan Pribram mit Aufsichtsrechten über den Klerus ein. Der Tschaslauer Landtag bedeutete den Höhepunkt des Führungsanspruchs der Präger Städte, die im Protokoll vor dem Erzbischof und den Baronen figurierten. Nur 3 1/2 Wochen nach dem Landtag vereinigte Zelivsky in bewaffnetem Handstreich die beiden Prager Gemeinden und setzte neue, radikal gesinnte Ratsherren ein. An der von Erzbischof Konrad f ü r den 4.7.1421 einberufenen Generalsynode in Prag nahm entgegen den ursprünglichen Intentionen der katholische Klerus nicht teil. Die Vertreter des Klerus des radikalen Flügels (Jan Capek [gest. um 1445] u.a.) wandten sich gegen die Anerkennung Erzbischof Konrads als H a u p t des hussitischen Klerus. Konrad nahm an der Synode nicht teil, sondern übertrug das Präsidium an Jan Pribram und Prokop von Pilsen (gest. 1457). Diese kooptierten ihrerseits Jacobellus von Mies und Jan Zelivsky. Die Synode beriet in vier Sektionen (Prager, Königgrätzer, Saazer und Taboriten), wobei die unterschiedlichen Auffassungen über Lehre und Riten der einzelnen Gruppen besonders deutlich hervortraten.

Eine auf Initiative Zelivskys im Herbst 1421 durch die vereinigten Prager Gemeinden errichtete Militärdiktatur scheiterte am Widerstand der konservativen Kräfte; Zelivsky wurde am 9.3.1422 heimlich hingerichtet. Der Hochadel, der sich von Anfang an für die Kandidatur König Wladyslaws von Polen bzw. Witolds, des Großfürsten von Litauen, auf den böhmischen Thron eingesetzt hatte, trat — als diese mit Rücksicht auf die Kurie das Angebot für sich ablehnten — für den von Wladyslaw und Witold als Thronverweser vorgeschlagenen Sigmund Korybut, den Neffen Wladyslaws, ein. Korybuts Einzug in Prag (27.5.1422) beendete das republikanische Zwischenspiel in der Stadt. Korybut verpflichtete sich feierlich zum Bekenntnis und zur Verteidigung der Vier Artikel (Anfang August 1422). Als Folge des Ausgleichs zwischen König Sigmund und König Wladyslaw und der Zurückdrängung der prohussitischen Kräfte in Polen wurde Sigmund Korybut schon Ende 1422 von Wladyslaw und Witold aus Böhmen zurückgerufen. Die unter Priesterherrschaft stehenden Taboriten hatten schon im Sommer 1420 mit der Schaffung einer eigenen kirchlichen Ordnung begonnen. Unter Verzicht auf die apostolische Sukzession der Bischöfe wurde Nikolaus von Pilgram (gest. um 1459) zum Senior (Bischof) gewählt (Sept. 1420). Zu seinen Aufgaben gehört die Aufsicht über den taboritischen Klerus und die Verwaltung der gemeinsamen Kassen für die bedürftigen Brüder. Die von Gegnern zusammengestellten Listen taboritischer Artikel aus den Jahren 1420/21 enthalten neben dem wyclifitisch-hussitischen Lehrgut einen hohen Anteil chiliastischer, pikardistisch-freigeistiger und waldensischer Uberzeugungen. Der Ursprung der chiliastischen und pikardistischen Spekulationen wird mit dem Auftreten einer vor der Inquisition aus der Picardie geflüchteten Gruppe von -»Brüdern und Schwestern des freien Geistes in Verbindung gebracht, die 1418 in Prag Aufnahme gefunden hatten, doch spielten wohl auch lokale freigeistige Traditionen eine Rolle. Zwischen den einzelnen, sich vor allem durch die Einstellung zur Frage der Gewaltanwendung, zur Eucharistie und zu den Riten unterscheidenden Gruppen innerhalb der

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Bruderschaft von T a b o r bestanden von Anfang an Spannungen, die sich teilweise bis zum Willen zur Vernichtung der anderen Gruppe steigerten. Der extrem radikale Flügel des Taboritentums umfaßte die mit allen Mitteln für den erbarmungslosen Gebrauch der Waffen eintretenden, die Gegenwart Christi in der Eucharistie leugnenden Anhänger des chiliastisch gesinnten Wenzel Koranda und des J a n Capek, des mutmaßlichen Verfassers des berühmten Kriegschorals Ktoz jsü bozt bojovttici [Die da Gottes Streiter sind], sowie die Pikarden, die sich im Geistbesitz und im Zustand der Vollkommenheit glaubten und in der Eucharistie eine bloße Erinnerung an den Tod Christi sahen. Hauptträger pikardistischer Überzeugungen war Martinek Hüska gen. Loquis aus Mähren (gest. 1421). Eine Gruppe der Pikarden, darunter Peter Kanis, trat aus Überzeugung von der Freiheit von Ursprungssünde und Sündelosigkeit für die völlige sexuelle Ungebundenheit ein (Adamiten). Den extremen chiliastischen und pikardistischen Auffassungen stellten sich die theologischen Führer der gemäßigten taboritischen Gruppen mit Nachdruck entgegen. Die zahlenmäßig stärkste von ihnen, repräsentiert durch Nikolaus von Pilgram und Johannes von Saaz, einen Deutschen (Teutonicus), war entschieden reformwillig und stand in ihrer Eucharistieauffassung der Wyclifschen Remanenzlehre nahe. Einen noch gemäßigteren Kurs vertraten J a n Zizka sowie die Priester Johannes von Jicin und Prokop der Kahle (der G r o ß e , gest. 1434); sie standen den theologischen Auffassungen des Jacobellus von Mies auf Seiten der Utraquisten nahe. Eine Sonderstellung nahm der ursprünglich auch der taboritischen Bruderschaft angehörende Petr -»Chelcicky ein, der sich aber aus pazifistischer Uberzeugung bald von jener abwandte und in Chelcice eine neue Gemeinde nach urchristlichem Vorbild organisierte (-»Böhmische Brüder). Sein wahrscheinlich kurz vor Zusammentritt der Taboritensynode zu Pisek im Herbst 1420 verfaßter Traktat über den geistigen Kampf (O boji ducbovnim), der zum Leiden für den Glauben aufrief, trug zur Überwindung des Chiliasmus und der freigeistigen Überzeugungen in Tabor wesentlich bei.

M i t mehreren Exekutionen gegen die Pikarden und ihre Prediger, an denen vor allem J a n Zizka beteiligt war, fand die freigeistige Phase in der Entwicklung des Taboritentums 1421 ihr offizielles Ende; freigeistige Vorstellungen wirkten in einzelnen Gruppen vor allem in der Eucharistieauffassung auch noch weiterhin nach. Vergeblich bemühte sich König Sigmund, das Land unter seine Kontrolle zu bringen. Der zweite Kreuzzug 1421 endete mit einer Niederlage für ihn, der dritte 1422 wurde ergebnislos abgebrochen. Die zahlenmäßig starken Kreuzheere scheiterten an der militärischen Überlegenheit Zizkas, dessen Feldheere neue Kriegstechniken und -taktiken, insbesondere die Wagenburgen, anwendeten. Die Auseinandersetzungen über die weitere soziale und religiöse Ausrichtung Tabors veranlaßten Zizka, sich von diesem zu trennen und sich im Lauf des Jahres 1423 ein neues Aktionszentrum unter den Orebiten in Ostböhmen aufzubauen. Hier erließ Zizka noch im gleichen J a h r eine die Feldgemeinden nach ständischen Prinzipien gliedernde Kriegsordnung, die in der Folgezeit für das gesamte Kriegswesen in Mitteleuropa Bedeutung gewann. Zizka starb am 1 1 . 1 0 . 1424. Als Führer der in den folgenden Jahren politisch und militärisch zunehmend erstarkenden Bruderschaften der Taboriten und der Waisen, wie sich die Orebiten nach dem Tod Zizkas nannten, ragten Prokop der Kahle bzw. Prokop der Kleine (gest. um 1434) besonders hervor. Gegenüber den Bruderschaften suchte sich Sigmund Korybut, der sich seit Frühsommer 1424 auf Einladung der Prager gegen den Willen Wladyslaws und Witolds zum zweiten M a l in der böhmischen Hauptstadt aufhielt und nun den T h r o n für sich selbst zu gewinnen trachtete, mit Unterstützung der konservativen Kräfte zu behaupten. Z u r Durchsetzung seiner Ansprüche auf den böhmischen T h r o n war Sigmund Korybut zur Annäherung an die römische Kirche bereit, wie sie unter den Utraquisten auch von J a n Pfibram und den ihm nahestehenden Magistern angestrebt wurde, die jedoch von J a n Rokycana (gest. 1471) und seinem Kreis entschieden abgelehnt wurde. Korybut intervenierte im Herbst 1426 bei Papst Martin V., der seinerseits König Wladyslaw um Vermitt-

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lung für die Bemühungen Korybuts aufrief. Rokycana deckte in der Gründonnerstagspredigt 1427 die geheimen Pläne Korybuts auf, der daraufhin festgesetzt wurde und 1428 das Land verlassen mußte. Am 16.6. 1426 schlug ein vereinigtes hussitisches Heer unter Führung Korybuts ein vornehmlich sächsisches Aufgebot bei Aussig in die Flucht. Im Sommer 1426 übernahm Prokop der Kühne die Führung des Taboritenheeres, das zusammen mit dem Feldheer der Waisen in den herrlichen Heerfahrten (spanile jtzdy) über ein Jahrfünft lang die Nachbarländer überzog und dabei auch die Ostsee erreichte. Unter der Direktive Prokops des Kühnen „wurde die hussitische Bewegung nach nahezu acht Jahren innerböhmischer Auseinandersetzungen offensiv, um ihre Anerkennung vor der Christenheit zu erzwingen und um durch äußere militärische Erfolge die innere Zerrüttung zu überwinden" (Seibt, Die Zeit der Luxemburger 522). Auf böhmischem Boden erzielten die Feldheere die größten Erfolge gegen die Kreuzheere bei Mies (1427) und Taus (1431). Auf den Heerzügen und in an die Christenheit gerichteten Manifesten verbreiteten die Hussiten ihr Reformprogramm und gewannen dadurch auch außerhalb Böhmens eine in ihrer Größenordnung kaum abschätzbare Zahl von Anhängern. Besondere Hervorhebung verdienen die sich den Feldheeren anschließenden polnischen Kontingente. Noch unzureichend bekannt ist die Rolle des Priesters Friedrich von Straschnitz, eines der Hauptinitiatoren der taboritischen Bewegung in Mähren, der in der Offensivphase neben Prokop dem Kühnen und Peter Payne (gest. 1456), einem seit 1417 in Böhmen lebenden englischen Wyclifiten, zu den Schlüsselfiguren der Revolution zu rechnen ist. Da die bisher von Seiten der römischen Kirche mit den Hussiten geführten Glaubensgespräche (1420 in Prag und im gleichen Jahr an der Krakauer Universität) nicht zum Erfolg geführt hatten oder wie das für Ende 1423/Anfang 1424 unter Beteiligung von Magistern der Wiener Universität geplante Gespräch in Brünn überhaupt nicht zustande gekommen war, trat nun die Forderung nach einer audientia publica erneut in den Vordergrund. Ein Versuch Prokops des Kühnen, die Vier Artikel auf dem Preßburger Reichstag 1429 zur Diskussion zu stellen, scheiterte an der Unnachgiebigkeit König Sigmunds und den grundsätzlichen Bedenken seiner theologischen Berater. Erst nachdem auch die koordinierten Maßnahmen König Sigmunds und der deutschen Fürsten einerseits und der Kurie andererseits seit 1431 nicht zu einem Erfolg geführt hatten, zeigte sich nach der Niederlage des von Kardinal Cesarini angeführten Kreuzheeres bei Taus das Basler Konzil „um den Preis seines Prestiges gegenüber dem Papsttum" (Seibt, Die Zeit der Luxemburger 525) zu Gesprächen mit den Hussiten bereit. Nach langwierigen Vorverhandlungen traf die von Prokop dem Kühnen und Wilhelm Kostka von Postupitz, dem Hauptmann von Leitomischl, angeführte Gesandtschaft am 4.3.1433 in Basel ein. Als Theologen gehörten ihr Jan Rokycana, Peter Payne, Nikolaus von Pilgram sowie der Tschaslauer Pfarrer Ulrich von Znaim als Vertreter der Waisen an. Die Basler Verhandlungen mit den Hussiten, die zunächst lange kein Ergebnis brachten, wurden von einer Konzilsgesandtschaft in Prag zu Ende geführt und fanden schließlich auf der Grundlage der stark abgeschwächten Vier Artikel einen Abschluß in den Prager Kompaktaten vom 30.11.1433. Diese konzedierten den Hussiten von den ursprünglichen Forderungen nur mehr den Laienkelch unter der Voraussetzung, daß der spendende Priester die Kommunizierenden zuvor über die Präsenz Christi unter jeder der beiden Gestalten belehre. Die zur Annahme der Vereinbarungen nicht bereiten Radikalen (Waisen, Taboriten und die mit ihnen verbündete Prager Neustadt), die sich im hussitischen Lager zunehmend isoliert hatten, wurden am 30.5. 1434 von einer Koalition utraquistischer und katholischer Barone und Städte vernichtend geschlagen, wobei Prokop der Kühne den Tod fand. Erst jetzt wurden die Prager Kompaktaten auf dem Iglauer Landtag verkündet (5.7.1436) und ein halbes Jahr später auch durch das Konzil ratifiziert (15.1.1437, Basler Kompaktaten). Damit war der Weg zur allgemeinen Anerkennung Sigmunds als König von Böhmen frei (1436/37). Die letzten Anhänger offenen Widerstands (u.a. Jan Rohac

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von Duba) wurden hingerichtet. Die Kompaktaten schlössen den ausdrücklichen Verzicht auf Restitution der während der Revolution säkularisierten Kirchengüter ein. 5. Das Hussitentum

nach 1437

Die Kompaktaten wurden päpstlicherseits nicht anerkannt, blieben aber auch trotz ihrer ausdrücklichen Annullierung durch -» Pius II. 1462 Landesgesetz. Mit ihrer Ratifizierung begann sowohl in der römischen als auch in der utraquistischen Kirche eine lang andauernde Phase der Restauration. Die Utraquisten hatten nach dem Tod Erzbischof Konrads von Vechta (1431) Johannes Rokycana zum Erzbischof und Martin Lupac zum Suffraganbischof erwählt (1435), die jedoch in Rom nicht bestätigt wurden. Dem nach der Rückkehr aus dem Exil seit 1436/37 wieder in Prag residierenden katholischen Metropolitankapitel, das für lange Zeit auch die Administratoren für den unbesetzt bleibenden erzbischöflichen Stuhl stellte, stand seit 1437 ein utraquistisches Leitungsgremium gegenüber, das seinen Sitz bei der Marienkirche am Teyn erhielt und das später (1478) zum sog. Unteren Konsistorium umgebildet wurde. Die Teynkirche wurde als utraquistische Hauptkirche in großzügiger Weise ausgebaut. Rokycana und die Utraquisten hielten an der kanonischen Weihe der Priester und apostolischen Sukzession der Bischöfe fest und waren vielfältig bemüht, geweihte Priester an sich zu binden. Rokycanas Bemühungen, den Landesverweser und späteren König von Böhmen Georg von Podebrad (1444-1457, 1458-1471) zu Erweiterungen der Kompaktaten zu gewinnen, führten zu Georgs Exkommunikation (Ketzerkönig). Nach Rokycanas Tod wurde die utraquistische Kirche von Administratoren geleitet. Sie näherte sich in der Folgezeit der römischen Kirche weiter an und unterschied sich von dieser im wesentlichen nur mehr durch Kelch, Kinderkommunion und Verehrung des Hus. Die Taboriten gingen nach einer zugunsten der Utraquisten getroffenen Entscheidung des Kuttenberger Landtags (1444), der Eroberung Tabors durch König Georg, der Gefangennahme ihres Bischofs (1452) und Zerschlagung ihrer Organisation mit einem Teil ihrer bisherigen Mitglieder in einer waldensisch-taboritischen Union auf, die trotz ständiger Bedrohung durch die Inquisition vor allem im Exil in Deutschland den Aufbau einer neuen Kirche versuchte. Mit dem Gemeindeaufstand der Prager Utraquisten 1483, der sich vor allem gegen die mit dem katholischen Adel sympathisierenden Ratsmitglieder in den Prager Städten und gegen die Klöster richtete, erzwangen die utraquistischen Stände unter König Vladislav II. (1471-1516) die für lange Zeit gültige landesgesetzliche Anerkennung und Gleichberechtigung ihrer Konfession und setzten im Kuttenberger Religionsfrieden von 1485 einen zunächst auf 31 Jahre befristeten, aber noch vor Ablauf dieser Frist verlängerten Frieden auf der Basis der Kompaktaten durch, der erstmals in der europäischen Geschichte den Grundsatz der Konfessionsfreiheit auch für Untertanen beinhaltete. In den Frieden nicht eingeschlossen waren die Böhmischen Brüder. Seit den neunziger Jahren des 15. Jh. bildete sich unter den Utraquisten ein sich in seinen Forderungen auf die Kompaktaten beschränkender, der römischen Kirche in der Liturgie bis auf die tschechische Sprache annähernder, relativ schwacher und ein Verhandlungen mit Rom ablehnender, den verfolgten Böhmischen Brüdern mit zunehmender Sympathie begegnender, starker radikaler Flügel aus (sog. Alt- bzw. Neuutraquisten). Nach dem Übergreifen der Reformation Luthers auf Böhmen nahmen die Neuutraquisten mit jener zwar vielfache Kontakte auf, wahrten jedoch auf das Ganze gesehen ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Nach dem Regierungsantritt der Habsburger in Böhmen suchte König -»Ferdinand I. (1526-1564) in Anlehnung an kuriale Vorstellungen die Konfessionalisierung durch eine Union von Utraquisten und Katholiken zur Schaffung einer geschlossenen Front gegen Böhmische Brüder, Lutheraner und die sonstigen konfessionellen Gruppen zu überwinden, konnte dieses Ziel jedoch gegenüber Ständen und Neuutraquisten nicht durchsetzen. Seit den 1540er Jahren kam es zu zunehmen-

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den Spannungen zwischen Neuutraquisten und Brüdern. Als Antwort auf die unter -•Maximilian II. (1564-1576) wachsenden gegenreformatorischen Maßnahmen ergriffen die nichtkatholischen Stände Böhmens die Initiative zu einer gemeinsamen Bekenntnisschrift, um dadurch Bekenntnisfreiheit und die Möglichkeit zu rechtmäßiger Kirchenorganisation zu erreichen. 1575 legten sie die in wesentlichen Zügen durch den Prager Universitätsprofessor Paulus Pressius unter Mitwirkung von Theologen der einzelnen Bekenntnisse ausgearbeitete, aus diplomatischen Rücksichten eng an das -»Augsburger Bekenntnis angelehnte Confessio Bohemica Maximilian II. vor, der diese auf Intervention des päpstlichen Nuntius nur mündlich billigte. Die der Confessio Bohemica Zugewandten beriefen sich fortan auf sie, obgleich Maximilian II. sie nachträglich durch entgegenstehende, vor allem brüderfeindliche Mandate zu entwerten suchte. 1609 erzwangen die gemeinsam auftretenden utraquistisch-lutherisch-brüderischen Stände bei König Rudolf (1576-1611) den sog. Böhmischen Majestätsbrief, der allen Untertanen Gewissensfreiheit zugestand und den Ständen das Recht auf Errichtung von Kirchen und Schulen auf dem Land und freie Ausübung des Gottesdienstes gemäß der Confessio Bohemica von 1575 gewährte. König Matthias (1611-1618) bestätigte zwar den Majestätsbrief, suchte jedoch die darin gewährten Konzessionen wieder einzuschränken. Nach der Schlacht am Weißen Berg (-»Dreißigjähriger Krieg) symbolisierte die Beseitigung des Kelchs an der Fassade der Prager Teynkirche durch Jesuitenschüler 1623 den Sieg der katholischen Gegenreformation über den Utraquismus. Auch in der Folgezeit blieben Hus und hussitisches Denken vor allem unter den Tschechen in Prag und in Böhmen lebendig. Die Erinnerung an die Zeit des Hussitismus erlebte in der Zeit der Aufklärung und der nationalen Wiedergeburt eine neue Blüte, die sich nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie und der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik (-»Tschechoslowakei) noch steigerte. Eine bewußte Anknüpfung an die hussitischen Traditionen erfolgte in der 1920 begründeten romfreien Tschechoslowakischen Kirche, die 1971 den Namen Tschechoslowakische Hussitische Kirche annahm. Die in katholischen Kreisen außerhalb des Landes erkennbare Gesprächsbereitschaft über Hus und Fragen des Hussitismus - dokumentiert u.a. in der großen Husbiographie des belgischen Benediktiners Paul De Vooght (1960) und in dem auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (-»Vatikanum II) durch den Prager Erzbischof Josef Kardinal Beran vorgetragenen Schuldbekenntnis für das Verhalten der Kirche in der Hussache (20.9.1965) — hält weiterhin an. In der jüngeren evangelisch-hussitischen theologischen Forschung in der Tschechoslowakei wird der Hussitismus prononciert als Erste Reformation - im Gegensatz zur Zweiten (deutschen) Reformation bezeichnet und gewürdigt. Bibliographien/Literaturberichte Franz Machilek, Ergebnisse u. Aufgaben moderner Husforschung. Zu einer neuen Biographie des Johannes Hus: ZOF 22 (1973) 302-330. - Miloslava Melanovä/Michal Svatos, Bibliografie k dejinäm prazske univerzity do roku 1622, Prag 1979. - Ferdinand Seibt, Bohemica. Probleme u. Lit. seit 1945, 1970 (HZ.S 4). - JaroldK. Zeman, The Hussite Movement and the Reformation in Bohemia, Moravia and Slovakia (1350-1650). A Bibliographical Study Guide, Ann Arbor 1977. Spezialzeitschrift (mit ausführlichem Besprechungsteil): Husitsky Täbor 1 (1978) ff.

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Hus/Hussitcn

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Franz Machilek Husserl, Edmund

(1859-1938)

1. Leben 2. Ursprung der Phänomenologie 3. Die Entfaltung der Phänomenologie 4. Ausblick: Husserls Frage nach dem theologischen Prinzip 5. Die Wirkung der Phänomenologie (Werke/Literatur S. 740)

1. Leben Geboren am 8. April 1859 in Prossnitz (Mähren), besuchte er das Gymnasium in Ol-

Husserl

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na prazské univ. v dobë husitské, 1964 (CSAV SV 74/14). - Ders., Boj o stâtni formu v husitském revolucnim hnuti: Pravnêhistorické Studie 2 (1956) 1 3 0 - 1 7 5 . - Ders., Zur Bauernfrage im Hussitentum: Jb. für Gesch. des Feudalismus 7 (1983) 5 0 - 7 7 . - Ruth Kestenberg, Hussitentum u. Judentum: J b . der Gesch. der Juden in der csl. Republik 8 (1936) 1 - 2 5 . - John Klasen, Women and Religious Reform in Late Médiéval Bohemia: Renaissance and Reformation 5 (1981) 2 0 3 - 2 2 1 . - Anna Kolarovâ-Cisarovâ, Zena v hnuti husitském, Prag 1916. - Jaroslav Meznik, Die Entwicklung der hussitischen Städte vor der hussitischen Revolution: Folia diplomatica, Brünn, 1 1970, 2 2 7 - 2 3 8 . Noemi Rejchrtovâ, Dëtska otâzka v husitstvi: CSCH 28 (1980) 5 3 - 7 7 . -Frantisek Smahel, The Idea of the „Nation" in Hussite Bohemia: Historica 16 (1969) 143 - 2 4 7 ; 17 (1969) 9 3 - 1 9 7 = tschech. u.d.T. Idea nâroda v husitskych Cechâch, Ceské Budêjovice 1971 (Lit.).-Ders., Krise u. Revolution: Die Sozialfrage im vorhussitischen Böhmen: Europa 1400. Hg. v. Ferdinand Seibt/Winfried Eberhard, Stuttgart 1984, 6 5 - 8 1 . - Struktura feudälni spolecnosti na üzemi Ceskoslovenska a Polska, Prag 1984. Bildende Kunst, lkonoklasmus: Horst Bredekamp, Kunst als Medium sozialer Konflikte. Bilderkämpfe v. der Spätantike bis zur hussitischen Revolution, Frankfurt a . M . 1975. - William R. Cook, The Question of Images and the Hussite Movement in Prague: Cristianesimo nella storia 3 (1982) 3 2 9 - 3 4 2 . - Karel Chytil, Antichrist v naukâch a umêni stredovëku a husitské obrazné antithese, Prag 1918. - Zoroslava Drobnâ, Der Jenaer Codex. Eine hussitische Bildsatire vom Ende des MA, Prag 1970. - Josef Krâsa, Studie o rukopisech husitské doby: Umëni 22 (1974) 1 7 - 5 0 . - Ders., Der hussitische Biblizismus: Von der Macht der Bilder. Hg. v. Ernst Ullmann, Leipzig 1983, 5 4 - 5 9 . - Pavel Kropâcek, Malirstvi doby husitské, Prag 1946. - Jana Nechutovä, Nicolai de Dresda „De imaginibus": Sbornik praci fil. fak. Brnênské Univ. 15 (1970) 2 1 1 - 2 4 0 . — Jarmila Vackovä/Frantisek Smahel, Odezva husitskych Cech v evropském malirstvi 15. stol.: Umëni 30 (1982) 3 0 8 - 3 4 2 . Literatur, hussitisches Lied: Winfried Baumann, Die Lit. des MA in Böhmen, München/Wien 1978 (Lit.). - Zdenëk Nejedly, Dëjiny husitského zpëvu, 6 T., Prag 2 1 9 5 4 - 1 9 5 6 . - Bruno Stäblein, Hussiana: FS Walter Senn, 1975, 221-238. Hussitische Traditionen: Jiri Danhelka, Johannes Hus in der Tradition des tschechischen Volkes: Die Welt der Slaven 18 (1973) 3 8 - 5 3 . - Frantisek Graus, Lebendige Vergangenheit. Uberlieferung im MA u. in den Vorstellungen vom MA, Köln/Wien 1 9 7 5 , 3 0 7 - 3 3 8 . - G. Graf, Albert Hauck über Jan Hus. Zur Selbstkritik der Reformationshistoriographie: ZKG 83 (1972) 3 4 - 5 1 . — Arnost Kraus, Husitstvi v literature, zejména nëmecké, 3 T., Prag 1 9 1 7 - 1 9 2 4 . - Josef Macek, Jean Huss et les traditions hussites ( X V — X I X e siècles), Paris 1973. - Hermann Schmidt, Hus u. Hussitismus in der tschech. Literatur des X I X . und X X . Jh., München 1969 (Slav. Beitr. 36). - Ferdinand Seibt, Hus u. wir Deutschen: KO 13 (1970) 7 4 - 1 0 3 . - Rudolf Urban, Die Tschechoslowakische Hussitische Kirche, Marburg 1973. Aktuelle Fragen, Rehabilitierung des Hus: Paul De Vooght, Jean Huss à l'heure de marxisme-léninisme: R H E 57 (1962) 4 9 3 - 5 0 0 . - Ders., Jan Hus beim Symposium Hussianum Pragense (August 1965): T h P Q 114 (1966) 8 1 - 9 5 . - D e r s . Jean Huss à l'heure de l'œcuménisme: Irénikon 42 (1969) 293 - 3 1 3 . - Ders., Obscurités anciennes autour de Jean Huss: R H E 66(1971) 1 3 7 - 1 4 5 = A K G B 2 ( 1 9 7 1 ) 1 8 1 - 1 8 7 , - D e r s . , Jean Huss, aujourd'hui: Bohemia-Jb. 12 (1971) 3 4 - 5 2 . - Jaroslav Kadlec, Johannes Hus in neuem Licht?: ThPQ 118 (1970) 1 6 3 - 1 6 8 = AKGB 2 (1971) 1 7 3 - 1 8 0 . - Milan Machovec, Bude katolickâ cirkev rehabilitovat Jana Husa? Prag 1963. - Amedeo Molnâr, Hus v dobë ekumenismu: Kostnické jiskry 54 (1969) Nr. 41. Jaroslav V. Pole, Johannes Hus rehabilitieren? Eine Qaestio disputata: AHC 15 (1983) 3 0 7 - 3 2 1 . Erste und zweite Reformation: Josef Macek, Die böhmische u. die dt. radikale Reformation bis zum Jahre 1525: Z K G 85 (1974) 5 - 2 9 . - Amedeo Molnâr, Husovo misto v evropské reformaci: CSCH 14 (1966) 1 - 1 4 . — Ders., Der Platz des M . Johannes Hus in der europäischen Reformation: EvDia 54 (1984/85) 3 5 - 6 2 .

Franz Machilek Husserl, Edmund

(1859-1938)

1. Leben 2. Ursprung der Phänomenologie 3. Die Entfaltung der Phänomenologie 4. Ausblick: Husserls Frage nach dem theologischen Prinzip 5. Die Wirkung der Phänomenologie (Werke/Literatur S. 740)

1. Leben Geboren am 8. April 1859 in Prossnitz (Mähren), besuchte er das Gymnasium in Ol-

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Husserl

mütz und studierte Mathematik, Physik und Philosophie in Leipzig, Berlin und Wien (in Berlin bei Weierstrass - in Wien bei Brentano). 1882 promovierte er in Wien mit der Arbeit Beiträge zur Theorie der Variationsrechnung. Freundschaft verband ihn hier mit Masaryk. Nach der Habilitation bei Stumpf in Halle Über den Begriff der Zahl, 1887 (veröffentlicht in erweiterter Fassung Philosophie der Arithmetik, 1891) war er von 1887-1901 Privatdozent in Halle. 1900/01 erscheinen die Logischen Untersuchungen. 1901 wird er außerordentlicher Professor in Göttingen. 1913 erscheinen Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (Erstes Buch - Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie). 1916 wird er als Ordinarius an die Universität in Freiburg i. Br. berufen, w o er bis zu seiner Emeritierung 1928 lehrt. 1929 erscheint seine Formale und transzendentale Logik, 1936 ein Fragment der letzten Arbeit in der Zeitschrift Philosophia in Belgrad: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Am 27. April 1938 stirbt Husserl in Freiburg. 2. Der Ursprung der

Phänomenologie

Die erste Veröffentlichung Husserls Philosophie der Arithmetik stellt diese in den Kontext der neueren Logik. Auch die neuere Psychologie fragt nach dem Ursprung der Vorstellungen von Raum, Zeit, Zahl, Kontinuum. Die Ergebnisse dieser Forschung sind für die Metaphysik und Logik von Bedeutung. Husserl vollzieht ein Rückfragen nach dem Grundbegriff der Arithmetik - der Zahl. Wie kommt das Bewußtsein dazu, so etwas wie Zahl zu bilden? Die Zahlen sind das Ergebnis geistiger Schöpfungen. Voraussetzung ist die Tätigkeit des Verbindens. Um das Moment der Verbindung in seinem Verbindungscharakter zu erfassen, ist eine Reflexion auf den psychischen Akt erforderlich, durch welchen so etwas wie Verbindung zustande kommt. Beim Begriff der Vielheit achten wir bloß auf das Moment der Verbindung, wird dagegen auf die Glieder der Verbindung geachtet, gelangen wir zum Begriff der Zahl. Husserl hat später unter dem Einfluß der Kritik von Frege diesen Standpunkt als psychologistischen aufgegeben. Aber diese Phase ist für die Begründung der —•Phänomenologie doch entscheidend gewesen. Wir finden hier die Begriffe der Erzeugung, der Reflexion, das Aufweisen des Sinn-Ursprungs im Bewußtsein und der Beschreibung, die zu den phänomenologischen Termini der Konstitution, der Reduktion, der notwendigen Reflexion des Bewußtseins auf sich selbst, der phänomenologischen Deskription und der Wesensschau führen. Hier liegt auch der Keim dafür, daß Husserl Zeit seines Lebens die -»Psychologie als entscheidende Wissenschaft ansehen wird; allerdings nicht die traditionelle Psychologie, sondern in Anregung von Brentano die introspektive Psychologie, genauer gesagt die reine Psychologie. Das ist eine Psychologie, die von allen physisch-naturwissenschaftlichen Überlegungen absieht. Sie soll die apriorischen Strukturen des Seelenlebens erfassen, also die Strukturen, die notwendig zum Seelenleben gehören, und zwar in der Art der Wesenserkenntnis. Die seelischen Erlebnisse zeigen sich hierbei als intentionale. Die Psychologie hat zur Aufgabe, die verschiedenen Formen der Intentionalität zu erfassen, indem sie in der Reflexion nicht auf das in den Akten Gegebene achtet, sondern auf die Weise des Gegebenseins im Bewußtsein. Dabei wird deutlich, wie sich in diesen Akten Sinn konstituiert. Das Erfassen der Sinnkonstitution in den verschiedenen Bereichen ist ein Grundanliegen der Phänomenologie. 3. Die Entfaltung

der

Phänomenologie

Mit dem Übergang von den Untersuchungen über die Zahl zu den Logischen Untersuchungen geschieht die Begründung der Phänomenologie als Wesenswissenschaft. In einem Brief an Carl Stumpf (3.2.1880) erläutert Husserl, daß die Arithmetik nicht aus dem Anzahlbegriff hergeleitet werden kann. Er sieht nun in der Arithmetik ein System von Zeichen. Die arithmetica universalis besteht aus einem System konzentrischer Kreise. N u r die Zeichen der ersten Stufe sind independent, die der höheren sind von der tieferen und schließlich der untersten Stufe formal abhängig. Die arithmetica universalis wird

Husserl

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jetzt als ein Stück formaler -»Logik verstanden und diese als Kunst der Zeichen. In den 90er Jahren beschäftigt sich Husserl eingehend mit der zeitgenössischen Logik-Literatur. In den Logischen Untersuchungen stellt Husserl die logischen Grundbegriffe in Frage. Es geht ihm darum, ihren Ursprung und ihre Bedeutung zu kennzeichnen. In der rückblickenden Selbstinterpretation von 1925 sagt er: „Es handelte sich in den einzelnen Untersuchungen des zweiten Bandes um eine Rückwendung der Intuition auf die logischen Erlebnisse, die sich in uns, wenn wir denken, abspielen, die wir aber gerade dann nicht sehen, nicht im aufmerkenden Blick haben, wenn wir die Denktätigkeit in natürlich ursprünglicher Weise vollziehen. - Es galt, dieses verborgen sich abspielende Denkleben durch nachkommende Reflexion in den Griff zu bringen und sie in getreuen deskriptiven Begriffen zu fixieren; es galt ferner, das neu sich ergebende Problem zu lösen, nämlich verständlich zu machen, wie sich in der Leistung dieses inneren logischen Erlebens die Gestaltung all jener geistigen Gebilde vollzieht, die im aussagend urteilenden Denken hervortreten als mannigfach sich formende Begriffe, Urteile, Schlüsse usw. und die in den Grundbegriffen und Grundsätzen der Logik ihren generellen Ausdruck, ihre allgemeine objektiv geistige Prägung finden" (Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, 20).

Die Überwindung des Psychologismus, die seine erste Phase bestimmte, vollzog sich durch das Studium von Lotzes Logik und Bolzanos Wissenschafslehre. In Bolzanos Wissenschaftslehre erkennt er den Versuch der Darstellung der Logik als einer rein idealen Doktrin. „Wenn nun auch evident gemacht wurde, daß ideale Gegenstände, trotzdem sie zur Bildung im Bewußtsein kommen, ihr eigenes Sein, Ansichsein haben, so bestand hier doch eine große und nie ernstlich gesehene und in Angriff genommene A u f g a b e : . . . diese eigentümliche Korrelation zwischen idealen Gegenständen der rein logischen Sphäre und subjektiv psychischem Erleben als bildendem Tun zum Forschungsthema zu machen" (Phänomenologische Psychologie 26).

Diese Thematik wird während der gesamten Folgezeit das Schaffen Husserls bestimmen, und zwar unter dem Leitbegriff der Konstitution. Konstitution heißt nicht erschaffen des Gegenstandes, sondern ihn vorstellig machen vermittels des Sinnes. Nachdem Husserl in den Logischen Untersuchungen die idealen Gegenstände untersucht hatte, ist der nächste entscheidende Schritt, die Konstitutionsthematik auf andere Gegenstandsbereiche auszuweiten. Dabei wird dem Akt der Wahrnehmung eine zentrale Bedeutung zukommen. In den Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1905) zeigt sich das Bewußtsein im Prozeß der Zeitigung der -»Zeit als Selbstkonstitution. Diese Konstitution ermöglicht allererst die Konstitution aller anderen Gegenstände. In der großen Dingvorlesung von 1907 (Husserliana XVI) wird die Konstitution des Dinges in der Wahrnehmung zum Thema, sowie die Raum-Konstitution. Hier wird die phänomenologische Reduktion als Methode der Phänomenologie ausführlich entfaltet. Was geschieht in der Reduktion? Die Existenz der Welt wird in Klammern gesetzt, nicht weil an ihr gezweifelt wird, sondern um den Blick aus der Geradehin-Einstellung auf die Gegenstände zurückzubeugen auf die intentionalen Akte selbst, in denen sie erscheinen. Es kommt aber darauf an, beim Erfassen der intentionalen Erlebnisse als einzelner Akte nicht stehen zu bleiben, sondern die Wesensgesetzlichkeit dessen aufzuweisen, was zu einer Wahrnehmung überhaupt, einer Erinnerung, einem Wollen u. s. w. gehört. Im Absehen von der Faktizität und dem Herausfinden der Wesensgesetze wird die Reduktion zur eidetischen Reduktion. Hierbei empfiehlt Husserl die Methode der Variation; was sich z. B. in allen Akten der Wahrnehmung durchhält, gleichgültig worauf sie geht, gehört zu ihrem Wesen. In der transzendentalen Reduktion, die Husserl besonders in den zwanziger Jahren erforscht hat, wird zurückgefragt nach dem transzendentalen Bewußtsein und seinen Leistungen. Es ist das Letzte, hinter das nicht weiter zurückgefragt werden kann. Das jeweilige Beiwort zur Reduktion bezeichnet nicht das, was eingeklammert ist, sondern vielmehr das, wozu vermittels der Einklammerung hingeführt wird. Husserl wird dann später zusätzlich zur statischen Phänomenologie eine genetische fordern und entwerfen, durch die die Genesis des personalen Ich aufweisbar wird.

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Husserl

Husserls Leitwort „ Z u den Sachen selbst" ist als Kritik an einer spekulativen Metaphysik zu verstehen. Deswegen erhebt er die Forderung des anschaulichen Aufweisens dessen, was behauptet wird. „Am Prinzip aller Prinzipien: das jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ,Intuition' originär (...) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen" (Ideen I, 3. Aufl., 43f). Im Logos-Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft, dem Manifest-Charakter zukommt, will Husserl die Philosophie als apodiktische Wissenschaft neu begründen, die den Zusammenhang von Sein und Bewußtsein erfaßt, die Konstitution des Sinnes von Seiendem im Bewußtsein. Durch diese Forschung sollen dann auch die -»Wissenschaften zu ihrem Selbstverständnis gelangen. Die Konstitutionsanalysen für die verschiedenen Bereiche des Seienden (Regionen) hat Husserl in den Ideen II gegeben, die postum erschienen sind. Band III der Ideen sollte die Erste Philosophie enthalten, statt dessen gab Husserl wissenschaftstheoretische Untersuchungen. 1923/24 trug er die Erste Philosophie vor, aber im Zentrum steht die Theorie der Reduktionen des II. Teils, erst in den Cartesianischen Meditationen ( 1 9 2 9 - 1 9 3 2 ) gibt Husserl eine Art Erste Philosophie. Die Formale und transzendentale Logik (1929) zeigt die Grundintention Husserls sehr deutlich, wie alles Seiende letzten Endes in der Bewußtseinssubjektivität konstituiert ist (vgl. § 94) und wie deswegen die Bewußtseinskonstitution das grundlegende T h e m a der Phänomenologie ist. In der letzten, unvollendeten Arbeit Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana VI) lassen sich die Leitmotive von Husserls Denken deutlich aufweisen: die Auseinandersetzung mit den Wissenschaften, der Versuch der Abhebung der Philosophie von den Wissenschaften, das Streben nach einer apodiktischen Wahrheit, die Epoche in Anlehnung und Fortführung der Cartesianischen Zweifelsbetrachtung. Den Ausgangspunkt bildet die Frage, wie es dazu kommen konnte, daß die Wissenschaften trotz ihres eindrucksvollen Fortschritts beim Wissen vom Menschen versagt haben. Dazu ist eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Wissens notwendig. Das neuzeitliche Wissen spaltet sich in einen physikalischen Objektivismus und den transzendentalen Subjektivismus. Husserl vollzieht eine Wendung: Das apodiktische Wissen der Wissenschaften kann nicht als Vorbild dienen, im Rückfragen zu den Voraussetzungen gelangt die Phänomenologie zur -»Lebenswelt als dem tragenden Grund. Deswegen erhebt er nun die Forderung einer Ontologie der Lebenswelt, die aber von ihm selbst nur ansatzhaft durchgeführt wurde. Bei der Unterscheidung von doxa und episteme erkennt Husserl nun, daß die doxa nicht abgewertet werden darf, da sie das Ursprüngliche ist; denn sie ist die Sinnstiftung, auf die jegliche andere Sinnstiftung aufbaut, sie voraussetzend. Mit der Herausstellung der doxa verweist Husserl in den Bereich der vorprädikativen Erfahrung. Diese Erfahrung wird vom Logiker nicht gesehen, denn sie erfolgt in einer anonymen Sinnstiftung. Es genügt jedoch nicht, bei der Lebenswelt stehen zu bleiben, der Phänomenologe muß vielmehr fragen, wie von der Lebenswelt zur wissenschaftlichen Welt übergegangen wird und welche Wandlung die Lebenswelt dabei durchmacht. Diese Untersuchung geschieht in einer neuen episteme - der Phänomenologie. Mit der Krisis-Arbeit geschieht bei Husserl im Alter insofern eine Wandlung, als nun die Geschichtlichkeit für die Phänomenologie zentral wird. Sie war in den „ I d e e n " und auch den späteren Arbeiten nicht gesehen, da es Husserl darum ging, eine unwandelbare apodiktische Wahrheit zu erreichen. Nun fordert Husserl jedoch, daß durch die Ausbildung der Phänomenologie als der universalen Wissenschaft zugleich der Gang der Geschichte mitbestimmt wird. Die Geschichte ist begriffen als Zu-sich-selbst-kommen der Vernunft.

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Husserl 4. Ausblick: Husserls Frage nach dem theologischen

Prinzip

In Husserls riesigem Gedankenwerk ist die Gottesfrage, so weit es die Editionslage bisher sehen läßt, nirgendwo zusammenhängend untersucht. Gleichwohl lassen sich synoptisch die Ausschaltung der naiven Einstellung der positiven Religion und ein phänomenologischer Neuansatz der Frage nach dem theologischen Prinzip markieren. Transzendentale Phänomenologie ist Überwindung der Naivität des Lebens in allen ihren Formen - der Naivität des Alltags, der Wissenschaft und der positiven Religion durch die Übung der Epoche-Reduktion. „Können wir uns als Wissenschaftler damit beruhigen, daß Gott die Welt und ihre Menschen geschaffen h a t . . . ? Das mag in der Naivität, die zum Wesen der positiven Religion gehört, zweifellos Wahrheit sein und Wahrheit für immer bleiben... Für den Philosophen aber liegt darin . . . eine notwendige theoretische Frage, nämlich zu verstehen, wie das möglich ist" (Krisis 184). N u n führt eine transzendentale Phänomenologie das „Rätsel der Schöpfung wie das Gottes", wie alles, was für den Menschen sein kann, auf Bewußtseinsleistungen zurück. Das bedeutet, zugespitzt formuliert: Selbst Gott fällt der Reduktion zum Opfer. Der Titel von § 58 in Ideen I lautet programmatisch: Die Transzendenz Gottes ausgeschaltet. „Auch Gott ist für mich, was er ist, aus meiner eigenen Bewußtseinsleistung" (Formale und transzendentale Logik 221). Davon darf die Philosophie als Wissenschaft niemals wegsehen, auch nicht aus Angst vor einer vermeintlichen Blasphemie. Natürlich dürfte für Gott als einen Absoluten und Anderen gelten, was für das alter ego gilt, nämlich daß Bewußtseinsleistung keineswegs Erfindung dieser höchsten Transzendenz besagt. Wird aber die Transzendenz Gottes ausgeklammert, dann ist in eins damit ein problematisch zugelassener theologischer Standpunkt, etwa der Allmacht eines Schöpfergottes, hinfällig. Wiederum pointiert gesagt: Die Evidenzkraft phänomenologischer Wesensschau ist stärker als jede göttliche Macht. An der horizontmäßigen Verfassung des wahrgenommenen Seienden kann kein Gott rühren. „Prinzipiell bleibt immer ein Horizont bestimmbarer Unbestimmtheit, wir mögen in der Erfahrung noch so weit fortschreiten... Kein Gott kann daran etwas ändern, so wenig wie daran, daß 1 + 2 = 3 ist, oder daran, daß irgendeine sonstige Wesenswahrheit besteht" (Ideen 1,101). Darin liegt überdies eine kritische Verschärfung der Zurückhaltung, wie sie Kants Vernunftkritik gegenüber der logischen Möglichkeit eines intuitus originarius geübt hat. „Auch ein Gott kann es nicht machen, daß mundanes Sein ihm in absoluter Weise gegeben sei, und nicht als transzendent Erscheinendes (was ein Widerspruch wäre). Auch für ihn ist Weltwahrheit präsumtiv in infinitum" (Erste Philosophie II, 469). Was ein Widerspruch für den Menschen ist, ist auch ein Widerspruch für Gott. Daraus folgt im Hinblick auf die Bedingungen der Weltwahrnehmung überhaupt, daß es darin keinen Unterschied zwischen Mensch und Gott gibt. Auch eine absolute Erkenntnis kann erscheinendes Seiendes nicht anders als durch Erscheinungen haben und bleibt so an „Perspektive", „Orientierung", „Seitengegebenheit", „Abschattungen" gebunden. „Auch für Gott - als den Repräsentanten der absoluten Erkenntnis - ist so etwas wie Raumdingliches nur anschaubar durch Erscheinungen, in denen es perspektivisch' in mannigfaltigen Orientierungen gegeben ist" (Ideen 1,371). So ist eine spekulative Theologie radikal zurückgenommen. Entschränkt Hegel menschliche Erkenntnis zur absoluten, so beschränkt Husserl die absolute Erkenntnis auf die menschliche. Indessen darf nicht übersehen werden, d a ß „Ausschaltung" oder „Ausklammerung" nicht Beseitigung der ausgeschalteten Frage oder Eliminierung der ausgeklammerten Seinsregion bedeutet. Ausschaltung kann nur heißen: Außer-Kraft-Setzen des vermeintlich autonomen Seins zugunsten des zugehörigen Seinssinnes. Somit bleibt die Frage nach einem göttlichen Wesen bei aller „Ausschaltung der Transzendenz Gottes" legitim. Und vielleicht ist die Epoche sogar die Bedingung der Möglichkeit für eine streng philosophische Auseinandersetzung mit dem Problemfeld der Theologie. Die Ausschaltung der Transzendenz Gottes ist notwendig, sofern und solange positive Religion oder eine philo-

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Husserl

sophische Betrachtung für das wissenschaftliche Befragen „des Rätsels der Schöpfung wie das G o t t e s " maßgebend sein wollen, ohne zuvor durch die Epoche ihre ontologische Naivität abgestreift zu haben. Eine philosophisch ausgewiesene Frage nach der Existenz eines göttlichen Wesens entspringt dagegen aus der Faktizität des konstituierenden Lebens selbst. Husserl hat solchen Problemausblick angedeutet: Die Faktizität der konstituierenden Bewußtseinsleistungen ist dergestalt, daß in ihnen eine morphologisch geordnete Welt zustandekommt; denn im sich faktisch konstituierenden Leben zeigen sich Zusammenhang und Regelordnung. Insofern Intentionalität danach besagt, teleologisch ausgerichtet-sein-auf, wird die Teleologie - nach und trotz Nietzsche - von Grund auf rehabilitiert. Eben diese „wunderbare Teleologie" des konstituierenden Lebens gibt „Anlaß zur Frage nach dem Grunde dieser O r d n u n g " , nach einem „theologischen Prinzip" (Ideen 1,139.121) 5. Die Wirkung

der

Phänomenologie

Das von Husserl gegründete Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung ( 1 9 1 3 - 1 9 3 0 ) war der Sammelpunkt der deutschen Phänomenologen: Pfänder, Scheler, Geiger, Becker, Heidegger, Conrad-Martius, Spiegelberg, Landgrebe, Fink. Die phänomenologische Forschungsweise bestimmte bis 1930 zunehmend das deutsche Philosophieren. (Vgl. Bibliographie Herbert Spiegelberg, T h e phenomenological Movement, Den Haag 1960 = 3 1981.) Eine entscheidende Wirkung erfolgte auf die Philosophie Frankreichs - über -»Sartre, MerleauPonty und Ricoeur. In den Vereinigten Staaten haben besonders die emigrierten Husserl-Schüler und Anhänger zu einer Verbreitung der Phänomenologie geführt. 1940 gründete Marvin Farber in Buffalo die Zeitschrift Philosophy and Phenomenological Research. Die Phänomenologie hatte es nicht leicht, sich gegen die vorherrschende analytische Philosophie durchzusetzen. Durch das Wirken von Marvin Farber, Aron Gurwitsch, Alfred Schütz, Fritz Kaufmann, Herbert Spiegelberg ist ihr das aber gelungen. Zur jüngeren Generation sind Joseph Kockelmans und Lester Embree zu zählen. Nach dem zweiten Weltkrieg kam es auch in der Bundesrepublik zu einer Renaissance der Phänomenologie. Ludwig Landgrebe, der schon 1936 in Prag Erfahrung und Urteil herausgegeben hatte, ist hier an erster Stelle zu nennen, mit zahlreichen Veröffentlichungen zur phänomenologischen Thematik (vgl. Faktizität und Individuation. Studien zu den Grundfragen der Phänomenologie, Hamburg 1982). Gerhard Funke und Werner Marx müssen in diesem Zusammenhang auch genannt werden, da sie in ihrem Arbeiten durch die Phänomenologie bestimmt sind und sich für sie eingesetzt haben. Die neu gegründete Phänomenologische Gesellschaft gruppiert eine Reihe von jüngeren Forschern um die von Wolfgang Orth herausgegebenen Phänomenologischen Forschungen, Elisabeth Ströker, Otto Pöggeler, Klaus Held, Paul Janssen, Ulrich Claesges, Antonio Aguirre u.a. In Belgien hatte die Phänomenologie in A. De Waelhens einen international anerkannten Vertreter und in der jüngeren Generation in Sam Ijsseling, Jacques Taminiaux und Rudolf Boehm. In Holland müssen besonders Stefan Strasser und Theodor de Boer erwähnt werden. In Polen war Roman Ingarden der hervorragendste Vertreter, in der CSSR Jan Patocka. Das Husserl-Archiv in Löwen birgt den gesamten Nachlaß sowie die Bibliothek des Philosophen. Hier befindet sich auch die Leitung der kritischen Husserl-Ausgabe (s. Bibliographie). Zweigstellen des Husserl-Archivs gibt es an der Universität Köln, an der Sorbonne, in New York und in Freiburg i. Br. Unter Leitung des Husserl-Archivs erscheint auch die Serie Phaenomenologica (bis 1985 sind es 99 Bände). Werke Edmund Husserl GW, Den Haag: I Cartesianische Meditationen u. Pariser Vorträge. Hg. v. Stephan Strasser, 2 1973. - II Die Idee der Phänomenologie. Hg. v. Walter Biemel, 2 1973. - III Ideen zu einer reinen Phänomenologie u. phänomenologischen Phil. Erstes Buch Hg. v. Walter Biemel, 1950, Neuaufl. 1976, hg. v. Karl Schuhmann. - IV Ideen zu einer reinen Phänomenologie u. phänomenologischen Phil. Zweites Buch. Hg. v. Marly Biemel, 1952. - V Ideen zu einer reinen Phänomenologie u. phänomenologischen Phil. Drittes Buch, 2 1971. Hg. v. Marly Biemel. - VI Die Krisis der europ. Wiss. u. die transzendentale Phänomenologie. Hg. v. Walter Biemel, 2 1971. - VII Erste Phil. Erster Teil. Hg. v. Rudolf Boehm, 1956. - VIII Erste Phil. Zweiter Teil. Hg. v. Rudolf Boehm, 1959. - IX Phänomenologische Psychologie. Hg. v. Walter Biemel, 2 1968. - X Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Hg. v. Rudolf Boehm, 1966. - XI Analysen zur passiven Synthesis. Hg. v. Margot

Hut

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Fleischer, 1966. - XII Phil, der Arithmetik. Hg. v. Lothar Eley, 1970. - X I I I - X V Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Hg. v. Iso Kern, 1973 - XVI Ding u. Raum. Hg. v. Ulrich Claesges, 1973. XVII Formale u. transzendentale Logik. Hg. v. Paul Janssen, 1974. - XVIII Logische Untersuchungen I. Hg. v. Elmar Holenstein, 1975. - XIX Logische Untersuchungen II (im Druck). Hg. v. Ursula Panzer. - X X Studien zur Arithmetik u. Geometrie. Hg. v. Ingeborg Strohmeyer, 1983. - XXI Aufsätze u. Rezensionen (1890-1910). Hg. v. Bernhard Rang, 1979. - XXII Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung (1898/1925). Hg. v. Eduard Marbach, 1980. - Dokumente zum Leben Husserls: Husserl-Chronik. Hg. v. Karl Schuhmann, 1977. - Außerhalb der GA erschien: Erfahrung u. Urteil. Hg. v. Ludwig Landgrebe, Hamburg 4 1972. Literatur Antonio Aguirre, Die Phänomenologie Husserls im Licht ihrer gegenwärtigen Interpretation u. Kritik, 1982 (EdF 175). - Ders., Genetische Phänomenologie u. Reduktion, Den Haag 1970. - Gaston Berger, Le cogito dans la philosophie de Husserl, Paris 1947. - Walter Biemel, Husserls Encyclopaedia Britannica-Artikel u. Heideggers Anmerkungen dazu: TPh 12(1950) 246-280. - Ders., Die entscheidenden Phasen der Entfaltung v. Husserls Phil.: ZPhF 30 (1959) 187-213. - Ders., Reflexionen zur Lebensweltthematik: Phaenomenologie heute, FS L. Landgrebe, Den Haag 1972, 4 9 - 7 7 . - Rudolf Boehm, Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie, Den Haag, 11968, II 1981. - Theodor de Boer, The Development of Husserl's Thought, Den Haag 1978. - Ulrich Claesges, E. Husserls Theorie der Raumkonstitution, Den Haag 1964. - Alwin Diemer, Edmung Husserl, Meisenheim 1956. - Marvin Farber, The Foundation of phenomenology, Cambridge 1943. — Eugen Fink, Stud. zur Phänomenologie 1930-39, Den Haag 1966. - Ders., Nähe u. Distanz, Freiburg/München 1976. - Gerhard Funke, Zur transzendentalen Phänomenologie, Bonn 1957. - Ders., Phänomenologie-Metaphysik oder Methode?, Bonn 1972. - Aron Gurwitsch, Théorie du champ de la conscience, Paris 1957. Ders., Phenomenology and the Theory of Science, Evanston 1974 (hg. v. L. Embree). —Ders., The last work of Edmund Husserl: PPR 16/3 (1956) 380ff; 17/3 (1957) 370ff. - Ders., Problems of the LifeWorld. Phenomenology and Social Reality, Den Haag 1970. - Ders., Edmund Husserl's conception of phenomenological Psychology: RMetl9/4 (1965/66) 689-727. - Ders., Der Begriff des Bewußtseins bei Kant u. Husserl: KantSt. 55,4 (1964) 410-427. - Ders., Husserl's Theory of the Intentionality of Consciousness in Historical Perspective. Phenomenology and Existentialism, Baltimore 1967. - Klaus Held, Lebendige Gegenwart, Den Haag 1966. - Paul Janssen, Edmund Husserl, Freiburg/München 1976. — Ludwig Landgrebe, Phänomenologie u. Metaphysik, Hamburg 1949. — Ders., Der Weg der Phänomenologie. Das Problem einer usprünglichen Erfahrung, Gütersloh 1963. Ders., Faktizität u.Individuation, Hamburg 1982. - Werner Marx, Vernunft u. Lebenswelt, und Lebenswelt und Lebenswelten: ders., Vernunft u. Welt, Den Haag 1970, 45 - 7 7 . - Hermann Noack, Husserl, 1973 (WdF 40). - Paul Ricoeur, Husserl et le sens de l'histoire: RMM 54 (1949) 280-316. Ders., Analyses et problèmes dans Ideen II de Husserl: RMM 56 (1951) 357-394. - Ders., Méthode et tâches d'une phénoménologie de la volonté: Problèmes actuels de la phénoménologie, Paris 1952. — Jean Paul Sartre, La transcendance de l'ego: Rech. Phil. 6 (1936/37) 85-123. - Karl Schuhmann, Die Fundamentalbetrachtung der Phänomenologie, Den Haag 1971. - Ders., Reine Phänomenologie u. phänomenologische Phil., 2 Bde., Den Haag 1973. - Robert Sokolowski, The Formation of Husserl's Concept of Constitution, Den Haag 1964. - Elisabeth Ströker, Lebenswelt u. Wiss. in der Phil. Edmund Husserls (Sammelband), Frankfurt a. M. 1979. - Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl u. Heidegger, Berlin 1970. Publikationen zu Husserl u. der Phänomenologie: Phänomenologische Forschungen, Organ der Phänomenologischen Gesellschaft, hg. v. W. Orth, bis 1986 Bd. 1 - 1 9 . Bibliographien: Jan Patocka: RlPh 1,1939. - L. Eley: ZPhF 13 (1959). - G. Maschke/J. Kern: RlPh 7 1 - 7 2 (1965). - M. M. van de Pitte: AGPh 57 (1975). - D. Tiffeneau, Den Haag (in Vorbereitung). Walter Biemel Hut, Hans 1. Leben S. 746)

(ca.

1490-1527)

2. Theologie

3. Das Hutsche Täufertum

(Bibliographien/Quellen/Literatur

Die Unterschiede zwischen dem mitteldeutschen und dem oberdeutschen Täufertum (-•Täufer), die stets beobachtet worden waren, drohten durch die Historiographie der Täuferkirchen und ihre These vom alleinigen Ursprung des Täufertums in Zürich verdeckt zu werden. Erst die neuere Forschung, die den polygenetischen Ursprung der Bewegung nachwies, ließ erstmals das Täufertum Hans Huts in der ihm eigenen, von spätmittelalterlicher Mystik und Apokalyptik geprägten Gestalt heraustreten.

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Fleischer, 1966. - XII Phil, der Arithmetik. Hg. v. Lothar Eley, 1970. - X I I I - X V Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Hg. v. Iso Kern, 1973 - XVI Ding u. Raum. Hg. v. Ulrich Claesges, 1973. XVII Formale u. transzendentale Logik. Hg. v. Paul Janssen, 1974. - XVIII Logische Untersuchungen I. Hg. v. Elmar Holenstein, 1975. - XIX Logische Untersuchungen II (im Druck). Hg. v. Ursula Panzer. - X X Studien zur Arithmetik u. Geometrie. Hg. v. Ingeborg Strohmeyer, 1983. - XXI Aufsätze u. Rezensionen (1890-1910). Hg. v. Bernhard Rang, 1979. - XXII Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung (1898/1925). Hg. v. Eduard Marbach, 1980. - Dokumente zum Leben Husserls: Husserl-Chronik. Hg. v. Karl Schuhmann, 1977. - Außerhalb der GA erschien: Erfahrung u. Urteil. Hg. v. Ludwig Landgrebe, Hamburg 4 1972. Literatur Antonio Aguirre, Die Phänomenologie Husserls im Licht ihrer gegenwärtigen Interpretation u. Kritik, 1982 (EdF 175). - Ders., Genetische Phänomenologie u. Reduktion, Den Haag 1970. - Gaston Berger, Le cogito dans la philosophie de Husserl, Paris 1947. - Walter Biemel, Husserls Encyclopaedia Britannica-Artikel u. Heideggers Anmerkungen dazu: TPh 12(1950) 246-280. - Ders., Die entscheidenden Phasen der Entfaltung v. Husserls Phil.: ZPhF 30 (1959) 187-213. - Ders., Reflexionen zur Lebensweltthematik: Phaenomenologie heute, FS L. Landgrebe, Den Haag 1972, 4 9 - 7 7 . - Rudolf Boehm, Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie, Den Haag, 11968, II 1981. - Theodor de Boer, The Development of Husserl's Thought, Den Haag 1978. - Ulrich Claesges, E. Husserls Theorie der Raumkonstitution, Den Haag 1964. - Alwin Diemer, Edmung Husserl, Meisenheim 1956. - Marvin Farber, The Foundation of phenomenology, Cambridge 1943. — Eugen Fink, Stud. zur Phänomenologie 1930-39, Den Haag 1966. - Ders., Nähe u. Distanz, Freiburg/München 1976. - Gerhard Funke, Zur transzendentalen Phänomenologie, Bonn 1957. - Ders., Phänomenologie-Metaphysik oder Methode?, Bonn 1972. - Aron Gurwitsch, Théorie du champ de la conscience, Paris 1957. Ders., Phenomenology and the Theory of Science, Evanston 1974 (hg. v. L. Embree). —Ders., The last work of Edmund Husserl: PPR 16/3 (1956) 380ff; 17/3 (1957) 370ff. - Ders., Problems of the LifeWorld. Phenomenology and Social Reality, Den Haag 1970. - Ders., Edmund Husserl's conception of phenomenological Psychology: RMetl9/4 (1965/66) 689-727. - Ders., Der Begriff des Bewußtseins bei Kant u. Husserl: KantSt. 55,4 (1964) 410-427. - Ders., Husserl's Theory of the Intentionality of Consciousness in Historical Perspective. Phenomenology and Existentialism, Baltimore 1967. - Klaus Held, Lebendige Gegenwart, Den Haag 1966. - Paul Janssen, Edmund Husserl, Freiburg/München 1976. — Ludwig Landgrebe, Phänomenologie u. Metaphysik, Hamburg 1949. — Ders., Der Weg der Phänomenologie. Das Problem einer usprünglichen Erfahrung, Gütersloh 1963. Ders., Faktizität u.Individuation, Hamburg 1982. - Werner Marx, Vernunft u. Lebenswelt, und Lebenswelt und Lebenswelten: ders., Vernunft u. Welt, Den Haag 1970, 45 - 7 7 . - Hermann Noack, Husserl, 1973 (WdF 40). - Paul Ricoeur, Husserl et le sens de l'histoire: RMM 54 (1949) 280-316. Ders., Analyses et problèmes dans Ideen II de Husserl: RMM 56 (1951) 357-394. - Ders., Méthode et tâches d'une phénoménologie de la volonté: Problèmes actuels de la phénoménologie, Paris 1952. — Jean Paul Sartre, La transcendance de l'ego: Rech. Phil. 6 (1936/37) 85-123. - Karl Schuhmann, Die Fundamentalbetrachtung der Phänomenologie, Den Haag 1971. - Ders., Reine Phänomenologie u. phänomenologische Phil., 2 Bde., Den Haag 1973. - Robert Sokolowski, The Formation of Husserl's Concept of Constitution, Den Haag 1964. - Elisabeth Ströker, Lebenswelt u. Wiss. in der Phil. Edmund Husserls (Sammelband), Frankfurt a. M. 1979. - Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl u. Heidegger, Berlin 1970. Publikationen zu Husserl u. der Phänomenologie: Phänomenologische Forschungen, Organ der Phänomenologischen Gesellschaft, hg. v. W. Orth, bis 1986 Bd. 1 - 1 9 . Bibliographien: Jan Patocka: RlPh 1,1939. - L. Eley: ZPhF 13 (1959). - G. Maschke/J. Kern: RlPh 7 1 - 7 2 (1965). - M. M. van de Pitte: AGPh 57 (1975). - D. Tiffeneau, Den Haag (in Vorbereitung). Walter Biemel Hut, Hans 1. Leben S. 746)

(ca.

1490-1527)

2. Theologie

3. Das Hutsche Täufertum

(Bibliographien/Quellen/Literatur

Die Unterschiede zwischen dem mitteldeutschen und dem oberdeutschen Täufertum (-•Täufer), die stets beobachtet worden waren, drohten durch die Historiographie der Täuferkirchen und ihre These vom alleinigen Ursprung des Täufertums in Zürich verdeckt zu werden. Erst die neuere Forschung, die den polygenetischen Ursprung der Bewegung nachwies, ließ erstmals das Täufertum Hans Huts in der ihm eigenen, von spätmittelalterlicher Mystik und Apokalyptik geprägten Gestalt heraustreten.

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Hut

1. Leben Im letzten Jahrzehnt des 15. Jh. wurde H u t in dem zur Grafschaft Henneberg gehörenden Dorf Haina im Grabfeldgau geboren. Später lebte er als Kramer und Kirchner im 15 km nördlich gelegenen Bibra. Ab 1521/22 dürfte er als wandernder Buchführer zwischen Nürnberg und Wittenberg unter den Einfluß der „radikalen Reformation" gekommen sein. Nachhaltig wurde er vom mystischen -•Spiritualismus -»Karlstadts und -•Müntzers sowie von dessen Apokalyptik geprägt. Müntzer vertraute Hut das Manuskript der Ausgedrückten Entblößung an, das dieser im Herbst 1524 in Nürnberg zum Druck brachte. Spätestens damals traf H u t dort mit Hans -»Denck zusammen, ohne freilich tiefer von ihm beeinflußt zu werden. Aus der kritischen Stellung Karlstadts und Müntzers zur Säuglingstaufe zog H u t Ende 1524 die Konsequenz und verweigerte die Taufe seines dritten Kindes, was seine Ausweisung aus Bibra nach sich zog. Wieweit er als Mitglied des „Ewigen Bundes" Müntzers in den -»Bauernkrieg verwickelt war, ist unklar, doch hat er auf Seiten der Bauern an der Schlacht von Frankenhausen teilgenommen. Und noch nach der Niederlage deutete er den Bauern seiner Heimat den Aufstand im Sinne Müntzers als letztes Gericht der Frommen über die Gottlosen. Vor den Häschern der Obrigkeit konnte er sich nach dem Ende des Krieges - wohl in N ü r n b e r g - verbergen. In der nun folgenden Zeit gelang es ihm, sich über die seine spätere Lehre kennzeichnende Apokalyptik vom Bauernaufstand loszusagen. Eine Begegnung mit,Wiedertäufern' im sächsischen Weißenfels veranlaßte ihn, nach Augsburg zu ziehen. Da er nun in den Täufern jene wahrhaft Frommen fand, die die Bauern nicht gewesen waren, ließ er sich Pfingsten 1526 von Denck taufen. Damals dürfte er in Augsburg die Christliche Ordnung eines wahrhaftigen Christen, zu verantworten die Ankunft seines Glaubens, deren Verfasser Jörg Haug, Bauernprediger im nahe Bibra gelegenen Jüchsen, war, zum Druck gebracht haben. Noch im Sommer 1526 wird H u t mit seiner Mission begonnen haben. Das geschah, da er diejenigen „versiegeln" wollte, die das endzeitliche Gericht an Herren und Geistlichen vollziehen sollten, ganz im Geheimen, in abgelegenen Mühlen, Dörfern und kleinen Landstädten, vor allem in den Familien derer, die am Bauernkrieg beteiligt waren. In der Umgebung seines Heimatortes, in den Dörfern nordwestlich von Coburg, in der sächsischen Enklave Königsberg, in den Dörfern am Staffelstein und um Erlangen fand er hauptsächlich in bäuerlichen und Handwerkerkreisen seine Anhänger, gründete aber keine „Gemeinden". Schon seit Beginn des Jahres 1527 gingen die Obrigkeiten, die in alldem nur die Vorbereitung eines neuen Aufstandes sahen, mit äußerster Härte gegen die Hutschen Täufer vor. Zur gleichen Zeit bildete sich aus denen, die Hut während eines zehntägigen Aufenthalts im Frühjahr 1527 taufte, die erste Augsburger Täufergemeinde, in der sich schon bald Einflüsse des oberdeutschen Täufertums zeigten. Daß in Augsburg auch Kopien von Huts Schriften kursierten, zeigt sich in der Christlichen Unterrichtung, die damals ohne sein Wissen von Johann Landsperger in Augsburg publiziert wurde. Hut selbst wandte sich über Passau donauabwärts nach dem mährischen Nikolsburg (Mikulov). Doch konnte er die dortige, obrigkeitlich geschützte Täuferreformation Balthasar -»Hubmaiers so wenig akzeptieren wie dieser die apokalyptische Versiegelungstaufe Huts. Von den 52 Artikeln, in denen Hubmaier Huts Lehre im Ganzen zutreffend zusammenfaßte, sind nur ein Drittel aus den Nikolsburger Artikeln und Huts Urgichten zu rekonstruieren. Die darüber wohl im Mai 1527 gehaltene Disputation endete mit Huts Verhaftung und Flucht. Es war der erste Zusammenstoß zwischen dem schweizerischen und dem Hutschen Täufertum. H u t begab sich nach Wien, wo er Leonhard Schiemer taufte, und dann über Waldegg nach Melk. Wie hier so fand er auch in Steyr, Freistadt, Linz, Wels und Salzburg bei kurzen Aufenthalten schnell Anhänger. Wahrscheinlich wandte er sich vor allem an die, die von der reformatorischen Lehre schon erreicht und enttäuscht waren, scheint aber seine apokalyptischen Erwartungen nur noch Vertrauten eröffnet zu haben.

Hut

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Bei seiner Rückkehr nach Augsburg im August 1527 kam es auch hier zu Spannungen: Hut war nicht bereit, die Verwerfung von Eid und Kriegsdienst von den oberdeutschen Täufern als Zeichen der abgesonderten Gemeinde zu übernehmen, während diese an seiner Apokalyptik Anstoß nahmen. Hut mußte sich verpflichten, darüber nur auf ausdrücklichen Wunsch zu sprechen. Das belegt der Sendbrief, den er den in die Schweiz, an den Rhein, nach Österreich und Franken ausgesandten „Aposteln" mitgab und den Urbanus -»Rhegius später publizierte. Die große Zahl auswärtiger Täufer, die sich damals in Augsburg versammelten, alarmierte den Rat. Am 1 5 . 9 . 1 5 2 7 wurde Hut mit anderen verhaftet. M a n konfrontierte ihn mit den Aussagen seiner fränkischen Anhänger, den Nikolsburger und den Artikeln der Wiedertäufer. Schnell wurde man durch sein Missionsbüchlein auf seine Verbindung zu Müntzer und seine Apokalyptik aufmerksam. Korrespondenzen mit anderen Obrigkeiten bewiesen Huts führende Bedeutung. Nachdem dann durch Hans von Bibra auch seine Beteiligung am Bauernkrieg aufgedeckt war, konnte Hut nur noch mit dem Todesurteil rechnen. Bei einem Fluchtversuch zog er sich eine so schwere Rauchvergiftung zu, daß er am 6 . 1 2 . 1 5 2 7 starb. Noch über den Toten wurde das Urteil verlesen und der Leichnam verbrannt. 2.

Theologie

Als Quellen für die Theologie Huts sind in erster Linie seine Urgichten und Schriften, daneben die seiner Schüler, besonders Leonhard Schiemers und Hans Schlaffers, und Urgichte der Anhänger zu nennen. Allerdings sind die zuletzt genannten Gruppen nur äußerst umsichtig heranzuziehen, da bei ihnen stets mit nicht ausreichendem Verständnis Huts, mit unbewußter und bewußter Veränderung seiner Gedanken und in den Urgichten mit unzutreffender Protokollierung zu rechnen ist. Von seinen Schriften wurden die Christliche Unterrichtung, der Sendbrief und die Lieder O Herre Gott in deinem Reich und O allmächtiger Herre Gott im 16. Jh. gedruckt. Handschriftlich überliefert ist die Schrift Vom Geheimnis der Taufe, deren älteste Fassung in einem Traktat des Freistädter Täufers Jörg Schöferl vorliegen dürfte und die wahrscheinlich als erster Teil einer Auslegung von Huts .sieben Urteilen" gedacht war: 1. Bund Gottes, 2. Leib Christi, 3. Ende der Welt, 4. Wiederkunft Christi, 5. Auferstehung, 6. Reich Gottes, 7. Ewiges Urteil. Unterschiedlich überliefert sind auch sein .Katechismus' und eine biblische Sachkonkordanz. Von den in hutterischen Manuskriptbänden anonym überlieferten Schriften könnten eine katechismusartige und die .Auslegung der vier Tiere' (Evangelistensymbole) von Hut stammen, nicht aber Von der Genugtuung Christi, Von der Ehescheidung, Von zweierlei Gehorsam, Von Hören der falschen Propheten und Widerchristen, Von bösen Vorstehern und ebensowenig die Lieder Laßt uns von Herzen singen all und Der wahre Fels ward da geschlagen. Insgesamt stellt die Überlieferung der Schriften Huts vor so schwierige Probleme, daß eine kritische Edition dringend erforderlich ist (vgl. Seebaß, Müntzers Erbe, 1-161). Huts Hauptinteresse lag auf dem „Anfang eines recht christlichen Lebens" und, damit verbunden, auf der endzeitlichen Reinigung der Christenheit. An deren Verfall sind vor allem die Geistlichen und Herren schuld. Nur selten wendet sich Hut gegen die Vertreter und Lehrer der Alten Kirche, seine Polemik gilt den reformatorischen „Schriftgelehrten", die habgierig und leidensscheu mit der Monopolisierung der Schriftauslegung ein neues Papsttum aufrichten. M i t der Kindertaufe haben sie die „Ordnung G o t t e s " , nach der Lehre und Glaube der Taufe vorangehen müssen (Balthasar Hubmaier), zerstört. Und ihr „erdichteter G l a u b e " , der sich auf das stellvertretende Werk Christi verläßt, verhindert, daß die Menschen im wahren Glauben Christus gleichförmig werden. Die Herren aber tragen zum Verderben bei, weil sie nicht nach Dtn 1 7 , 1 - 6 die Sünder aus dem Volk entfernen. Darüber hinaus lehnte Hut die ganze auf Eigentum, Standesunterschieden und M a c h t basierende Gesellschaftsordnung ab. Deutlich ist diese Kritik von Müntzer bestimmt. M i t ihm hatte er im Bauernkrieg die endzeitliche Reinigung der Christenheit erwartet. Gleich ihm konnte er sich nach der Niederlage von den Bauern distanzieren, „dann sy haben das ir gesucht und nit Gottes e r e " (Seebaß, Müntzers Erbe 187). An seinen apokalyptischen Erwartungen hielt er mit neuer Berechnung fest. Da Müntzer und Heinrich Pfeiffer nach ihrer Hinrichtung nicht beerdigt worden waren, sah er in

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ihnen die beiden Zeugen aus Apk 11,3-9. Mit ihrer Hinrichtung beginnt die dreieinhalbjährige Leidenszeit, die H u t nach I Petr 4,17 als „Gericht am Haus Gottes" verstand. Da aber diese Zeit nach M t 24,22 verkürzt werden sollte, berechnete er nach M t 24,32 und umlaufenden Weissagungen das Ende für Sommer 1528. Dann würde nach einer vorangegangenen fünfmonatigen Leidenszeit (Apk 9,5), von der die Frommen verschont bleiben sollten (Mt 24,15 - 20), das Gericht an den Gottlosen vollzogen werden, auf das H u t die Drohungen aus Psalmen und Propheten bezog (Ps 149,5—9; Jer 48,10). Es ist daher verständlich, d a ß sich bei seinen Anhängern Aufstandspläne für Weihnachten 1527 und Frühjahr 1528 (Erfurt, Eßlingen) finden. Für die Zeit danach erwartete Hut ein Tausendjähriges Segensreich der Frommen, aber auch nach dessen Ende rechnete er nicht mit einem doppelten Ausgang der Heilsgeschichte. Vielmehr scheint er diesen mit der Apokatastasis so verbunden zu haben, daß er den ,Feuersee' von Apk 20,14 mit dem .verzehrenden Feuer des göttlichen Eifers' aus Dtn4,24 identifizierte. Gott selbst läutert als Feuer die Gottlosen, so d a ß er alles in allem ist (I Korl5,28).

In diesen apokalyptischen Rahmen zeichnete Hut, der wie Müntzer für die Endzeit mit einer unmittelbaren Geistbelehrung auch durch Träume und Visionen rechnete, die eigene Person und das eigene Werk ein. Müntzers Selbstverständnis erneuernd, verstand er sich nicht nur als Johannes der Täufer und Elia; überzeugt, seine Deutung der Endzeit einer Offenbarung zu verdanken, ließ er sich bei seinen Anhängern als der in Dtn 18,15 verheißene neue Prophet ankündigen. Vor allem aber verstand er sich als der in Dan 12,7 und E z 9 , l - 4 genannte „ M a n n in leinenen Kleidern", der wie die Engel in Apk 7,3 die Frommen an der Stirn „bezeichnen" sollte. H u t wiederholte daher nicht die Kindertaufe, sondern „zeichnete" und „versiegelte" mit nassem Finger durch ein Kreuz auf der Stirn diejenigen, die im Leid bewährt am kommenden Gericht teilnehmen sollten. Sicher wurde mit diesem Zeichen auch die Aufnahme in die Gemeinschaft der zerstreuten Frommen verbunden, aber dieser ekklesiologische Aspekt trat ganz zurück. Nach Huts von Müntzer übernommenem Verständnis besteht die eigentliche Sünde des Menschen in der Aufhebung der Schöpfungsordnung, daß der Mensch Gott dient und über die Kreaturen herrscht. Indem er sein Herz an die Kreaturen hängt, mißbraucht er sie und wird von ihnen abhängig. Das kann nur durch einen Leidensprozeß, der den Menschen von der Welt löst, rückgängig gemacht werden. Eben dieses ist - Hut führt damit Müntzersche Gedanken weiter - der Inhalt des „Evangeliums aller Kreatur", des Evangeliums, das nach Huts Verständnis von M k 16,15 und Kol 1,23 von allen Kreaturen gepredigt wird. Denn nur indem die Kreaturen die Bearbeitung durch den Menschen „erleiden", kommen sie an ihr schöpfungsgemäßes Ziel, dem Menschen zu dienen. In immer neuen Beispielen führt H u t seinen Hörern dies an der bäuerlichen Arbeit und der des Handwerkers vor Augen. Ebenso kann der Mensch nur durch inneres und äußeres Leid zu seinem Ziel, Gott zu dienen, kommen. An dieser Verkündigung kann ein erster, „unbewährter", „anfangender", aber geistgewirkter Glaube entstehen, aus dem heraus sich der Mensch zur Wassertaufe entschließt, sich „verwilligt", das Leid auf sich zu nehmen, nach den Geboten Gottes im Dekalog zu leben und sich der Gemeindezucht (Mt 18,15-18) zu unterwerfen. Steht H u t damit in der Tradition schweizerisch-oberdeutschen Täuferverständnisses, so zeigt sich in seiner Konzeption des ,Wesens' der Taufe wiederum Müntzers Einfluß. Denn mit diesem deutet er die Taufe mit Wasser, aber auch die Feuer- und Bluttaufe auf das Leiden, in das Gott selbst den Menschen hineinführt. Darin geschieht im rechtlichen Sinn die .Rechtfertigung' des Menschen, die dieser nur - den rechten Sabbat haltend — erdulden kann. Eben durch dieses Leid wird der Mensch in den durch die Evangelistensymbole bezeichneten Stadien (Inkarnation, Passion, Auferstehung und Himmelfahrt) Christus gleichförmig und ein Glied an seinem Leib. So entsteht der wahre, erfahrene Glaube. N u r wer, auf diese Weise zum Glauben gekommen, das innere Wort Gottes vernommen hat und von ihm nach Jer 31,31 und Joel 3,2 gelehrt wurde, hat den „Schlüssel Davids", der auch das äußere Wort der Schrift verstehen lehrt. Und der ist dann auch imstande, anderen die Schrift, das „versiegelte Buch", aufzuschließen. Denn sie dient eben in erster Linie als .Zeugnis' für den Heilsprozeß im Leiden und für die Apokalyptik. Im Blick auf das nahe Ende hat sich H u t nicht bemüht, Gemeinden der ,Heiligen' zu

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sammeln, ihnen feste Struktur, Ämter und Ordnungen, zu geben; obwohl sich derartiges entwickeln konnte. So wurde das Abendmahl als Symbol des leidenden Leibes Christi gefeiert, wobei bei der Deutung der Einsetzungsworte wie bei Müntzer aller Nachdruck auf das Zermahlen der Körner zum Mehl eines Brotes und das Zerquetschen der Beeren zum Trank eines Kelches gelegt wurde. Zwar drängte Hut auf Absonderung der Frommen von der ,Welt\ aber die sollte sich nicht an bestimmten Kennzeichen, sondern in einer besseren Erfüllung des höchsten Gebotes Gottes zeigen, dessen Konkretion er der neutestamentlichen Paränese entnahm. Auch die Gütergemeinschaft als deutlichstes Zeichen der Lösung von den Kreaturen hat er nicht gesetzlich gefordert, sondern für die Zukunft erwartet. Und ebenso verlangte er den Gehorsam gegen die Obrigkeit. Erst zum endzeitlichen Gericht im Sommer 1528 sollten die „leidenden Rächer" das Schwert aus der Scheide ziehen. Sie zu „bezeichnen" war Huts Lebensaufgabe. 3. Das Hutsche

Täufertum

Wie stark das Täufertum in den von Huts Mission erreichten Gebieten von ihm im Unterschied zum oberdeutschen geprägt wurde, arbeitete Seebaß (Müntzers Erbe 200-320) heraus. Demgegenüber richtete sich das Interesse Packulls (Mysticism 88-175) gerade auf die unterschiedliche Rezeption der Gedanken Huts. Tatsächlich läßt sich auch nur sehr bedingt von dem Hutschen Täufertum sprechen, weil damit verdeckt wird, daß dieses Täufertum von Anfang an eine höchst spannungsreiche, nach vielen Seiten hin im Übergang befindliche Bewegung war (Packull). Die Gründe d a f ü r liegen auf der Hand. H u t hielt sich meist nur so kurze Zeit an einem bestimmten O r t auf, daß eine dauerhafte Prägung seiner Anhänger kaum erreicht wurde. Um so leichter aber konnten andere Formen des Täufertums Einfluß gewinnen. Für Thüringen ist auf das durch Melchior Rink geprägte osthessische Täufertum zu verweisen. In Augsburg darf der Einfluß Dencks und der Schweizer Täufer nicht unterschätzt werden. In Mähren gab es von Anfang an Auseinandersetzungen mit dem Täufertum Hubmaiers, und außerdem wurde dieses Gebiet ebenso wie Österreich sehr schnell von der Mission der oberdeutschen Täufer erreicht. Darüber hinaus scheint schon H u t selbst sehr bald seine Apokalyptik nur noch dem Kreis der engeren Schüler anvertraut zu haben. Wenn sie aber zurücktrat, mußten sich jene Züge seiner Lehre verstärken, die eine Verbindung mit anderen Gruppen erleichterten: Der im I-eid sich vollziehende Heilsprozeß konnte zur Märtyrertheologie entwickelt oder mit ihr verbunden werden; das Verständnis der Taufe als äußeres Zeichen christlicher Bruderschaft und die geforderte Trennung von der Welt näherten sich dem Konzept der abgesonderten Gemeinschaft, selbst wenn deren Kennzeichen unterschiedlich bestimmt wurden.

Problematisch aber war Huts Apokalyptik in sich. Die seit Anfang 1527 einsetzende und sich intensivierende Verfolgung konnte zunächst als die Drangsal vor dem Ende verstanden werden. Als aber der Sommer 1528 das prophezeite Gericht über Geistliche und Herren nicht brachte, sagten sich die meisten von diesen Hoffnungen, manche vom Täufertum überhaupt, los. Das läßt sich an dem späteren Schwenckfelder Georg Schachner und dem fränkischen Täuferführer Georg Nespitzer beobachten. Andere bezogen die Hutschen Weissagungen auf eine in die Ferne gerückte Endzeit. Nur wenige Täufer um den Augsburger Augustin Bader entwickelten aufgrund von Visionen eine neue Form apokalyptischer Erwartung, in der man für 1530 mit einem Türkeneinfall rechnete. Kurz darauf sollte das messianische Reich unter Baders Sohn auf wunderbare Weise errichtet werden. Es kam anders. Die kleine Gruppe wurde entdeckt und Bader am 30.9.1530 hingerichtet. Wohl auf dem Hintergrund enttäuschter apokalyptischer Hoffnung und unter dem Druck obrigkeitlicher Verfolgung flüchtete sich auch ein Teil der mittelfränkischen Anhänger Huts in Visionen und Träume, wobei sie die Schrift ebenso wie die Wiedertaufe verwarfen, ihre Ehen auflösten und neue Verbindungen eingingen. Der Spuk dauerte knapp ein Jahr. Im Sommer 1531 wurde die Träumersekte von den Obrigkeiten blutig unterdrückt (Bauer 162-175). Das waren Ausnahmen. Die meisten der von Hut Getauften fanden den Weg in diese oder jene Form der „abgesonderten Gemeinde". Die Tendenz dazu läßt sich trotz der Kenntnis der Hutschen Apokalyptik schon bei Hans Schlaffer und Leonhard Schiemer in

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Österreich, ebenso bei Leonhard D o r f b r u n n e r in Bayern und bei J a k o b Dachser und H a n s Leupold in Augsburg beobachten. Ihnen ging es vor allem d a r u m , auf dem Weg des Leidens den Gehorsam des Menschen in der Erfüllung des Willens Gottes zu erreichen. Von einer solchen Konzeption, die Packull als „practical mystical t r a d i t i o n " bezeichnete (Mysticism 166), legte sich der Schritt zu den Gemeinden der oberdeutschen T ä u f e r nahe. Eine Art „ p r o t o h u t t e r i s c h e r " Form des T ä u f e r t u m s bildete sich unter Wolfgang Brandhuber in Oberösterreich und Tirol. Brandhuber wollte mindestens in den Häusern der Getauften die Gütergemeinschaft durchgeführt wissen. Hier ist der Ansatz jener Verbindung, die über Peter Riedemann und J a k o b H u t e r den Bogen vom Hutschen T ä u fertum zu den —»Hutterischen Brüdern schlägt, f ü r die die Gütergemeinschaft als Überwindung der Ursünde des Menschen zum Hauptkennzeichen der wahren Christen wurde. Doch mußte der Weg der von H u t beeinflußten T ä u f e r nicht unbedingt zu abgesonderten Gemeinden führen. Wo der mystische Spiritualismus, von Denck verstärkt, überwog, konnte dies auch zur Ablehnung aller Versuche führen, das w a h r h a f t Christliche an bestimmten Forderungen festmachen und in Gemeinschaft leben zu wollen. Die spiritualistische Tradition des Hutschen T ä u f e r t u m s findet sich daher nicht nur in den Kreisen u m Pilgram - » M a r p e c k . Die von H u t getauften Brüder Leonhard und Christoph Freisleben vollzogen neben anderen die Wendung vom T ä u f e r t u m zum individualistischen Spiritualismus, die bei Christoph schließlich zur alten Kirche zurückführte. So hat der frühe Tod H u t s einer klärenden und „konfessionalisierenden Ausprägung" des Hutschen T ä u f e r t u m s keinen R a u m gelassen, sondern dessen unterschiedliche Rezeptionsformen begünstigt. Auch w a r die alles bestimmende Apokalyptik H u t s so konzipiert, d a ß bei ihrer Geheimhaltung oder Enttäuschung ohne grundlegende Neuorientierung die Bewegung nicht auf Dauer zu stellen war. Und nicht zuletzt hat die in enger Zusammenarbeit betriebene Verfolgung durch die Obrigkeiten d a f ü r gesorgt, d a ß das Hutsche T ä u f e r t u m eine Episode in der Geschichte des „linken Flügels der R e f o r m a t i o n " blieb. Dabei ist es kein Zufall, d a ß H u t s Schriften vor allem bei den vom mystischen Spiritualismus geprägten täuferischen G r u p p e n tradiert wurden, im Marpeck-Kreis und bei den Hutterern. Denn dieser w a r neben der Apokalyptik das Hauptkennzeichen des Hutschen T ä u f e r t u m s . Bibliographien Hans Joachim Hillerbrand, Bibliogr. des Täufertums. 1520-1630, 1962 (QGT10.QFRG30). Ders., A Bibliogr. of Anabaptism, 1520-1630. A Sequel: 1962-1972, St. Louis 1975 (Sixteenth Century Bibliogr. 1).

Quellen Einekrit. Einf. in Huts Schriften findet sich bei Seebaß, Müntzers Erbe, s.u., 1 - 1 6 1 . - D i e älteste Chronik der Hutterischen Brüder, hg. v. A. J. F. Ziegelschmidt, Ithaca/N. Y. 1943. - Christian Meyer, Zur Gesch. der Wiedertäufer in Oberschwaben I. Die Anfänge des Wiedertäuferthums in Augsburg: Z H V S 1 (1874) 207-253. - Mitteilungen aus dem Antiquariate S. Calvary & Co., H. 1, Berlin 1870. Q G T III. Glaubenszeugnisse oberdt. Taufgesinnter, hg. v. Lydia Müller, Leipzig, 1 1938 (QFRG 20). - Q G T XI. Österreich, I. Teil, bearb. v. Grete Mecenseffy, 1964 (QFRG 31). - Q G T XIII. Österreich, II. Teil, bearb. v. Grete Mecenseffy, 1972 (QFRG 41). - QGWTI1. Markgraftum Brandenburg (Bayern I. Abt.), hg. v. Karl Schornbaum, 1934 (QFRG 16). - Friedrich Roth, Zur Gesch. der Wiedertäuferbewegung in Oberschwaben II. Zur Lebensgesch. Eitelhans Langenmantels v. Augsburg: ZHVS 27 (1900) 1 - 4 5 . - Ders., Zur Gesch. der Wiedertäuferbewegung in Oberschwaben III. Der Höhepunkt der wiedertäuferischen Bewegung in Augsburg u. ihr Niedergang im Jahr 1528: ZHVS28 (1901) 1 - 1 5 4 . - Die Sehr, der huterischen Täufergemeinschaften. Gesamtkat. ihrer Ms.bücher, ihrer Schreiber u. ihrer Lit. 1529-1667, zusammengestellt v. Robert Friedmann, unter Mitarbeit v. Adolf Mais, Wien 1965 (österreichische Akademie der Wiss. Phil.-Hist. Kl. Denkschr. 86). - Die Täuferbewegung in Thüringen von 1526-1584, hg. v. der thüringischen hist. Kommission, bearb. v. Paul Wappler, Jena 1913 (Beitr. zur neueren Gesch. Thüringens 2).

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Literatur Günther Bauer, Anfänge täuferischer Gemeindebildungen in Franken, 1966 (EKGB43). - ClausPeter Clasen, The Anabaptists in South and Central Germany, Switzerland and Austria. A Statistical Study: MennQR52 (1978) 5 - 3 8 . - Klaus Deppermann, Melchior Hoffman. Soziale Unruhen u. apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1979. — Ders./Werner O. Packull/James M. Stayer, From Monogenesis to Polygenesis. The Hist. Discussion of Anabaptist Origins: M e n n Q R 4 9 (1975) 83-122. - Günter Dippold, Täufer am Obermain: BHVB119 (1983) 77-98. - Richard van Dülmen, Müntzers Anhänger im oberdt. Täufertum: ZBLG39 (1979) 883-891. - Ders., Reformation als Revolution, München 1977. - Walter Elliger, Thomas Müntzer, Göttingen 1975. - Abraham Friesen/Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Thomas Müntzer, 1978 (WdF 491). - Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Alles gehört allen. Das Experiment der Gütergemeinschaft vom 16. Jh. bis heute, München 1984. - Ders., Die Täufer. Gesch. u. Deutung, München 1980. - Ders. (Hg.), Umstrittenes Täufertum. 1525-1575. Neue Forschungen, Göttingen 2 1977. - Hans Guderian, Die Täufer in Augsburg. Ihre Gesch. u. ihr Erbe, Pfaffenhofen 1984. - Terkel Hansen, Reformation, Revolution u. Täufertum — eine Einführung: Mühlhäuser Beitr. 3 (1980) 3 - 2 0 . — William Klassen, Covenant and Community. The Life, Writings and Hermeneutics of Pilgram Marpeck, Grand Rapids 1968. — Guenther List, Chiliastische Utopie u. radikale Reformation. Die Erneuerung der Idee v. tausendjährigen Reich im 16. Jh., München 1973 (Humanistische Bibliothek. Abh. u. Texte, Reihe 1/14). - Steven E. Ozment, Mysticism and Dissent. Religious Ideology and Social Protest in the 16 th Century, New Haven/London 1973. - Werner O. Packull, Art. Denck, Hans: T R E 8 (1981) 488-490 (Lit.). - Ders., Gottfried Seebaß on Hans Hut: A Discussion: M e n n Q R 4 9 (1975) 5 7 - 67. Ders., Mysticism and the Early South German-Austrian Anabaptist Movement. 1525-1531, 1977 (SAMH 19). - Ders., Some reflections on the state of Anabaptist history. The demise of a normative vision: SR 8 (1979) 313-323. - Calvin Augustine Pater, Karlstadt as the Father of the Baptist Movements. The Emergence of Lay Protestantism, Toronto 1984. - Hans-Dieter Plümper, Die Gütergemeinschaft bei den Täufern des 16. Jh., 1972 (GAB 6 2 ) . - H a n s Dieter Schmidt, Das Hutsche Täufertum: H J 9 1 (1971) 327-344. - Ders., Täufertum u. Obrigkeit in Nürnberg, Nürnberg 1972 (Schriftenr. des Stadtarchivs Nürnberg 10). - Reinhard Schwarz, Die apokalyptische Theol. Thomas Müntzers u. der Taboriten, 1977 (BHTh55). - Gottfried Seebaß, Bauernkrieg u. Täufertum in Franken: ZKG 85 (1974) 104-156. - Ders., Hans Denck: Fränkische Lebensbilder, hg. v. Gerhard Pfeiffer u. Alfred Wendehorst, Würzburg, VI 1975,107-129. - D e r s . , Hans Hut. Der leidende Rächer: Radikale Reformatoren. 21 biographische Skizzen v. Thomas Müntzer bis Paracelsus, hg. v. Hans-Jürgen Goertz, München 1978,44-50. - Ders., Müntzers Erbe. Werk, Leben u. Theol. des Hans Hut, theol. HabSchr. Erlangen 1972 (grundlegend, Lit.). — James Mentzer Stayer, Anabaptists and the Sword, Lawrence 2 1973. - Ders., Reflections and Retractions on 'Anabaptists and the Sword": M e n n Q R 5 1 (1977) 196-212. - James Mentzer Stayer/Werner O. Packull (Hg.), The Anabaptists and Thomas Müntzer, Dubuque, Iowa/Toronto, Ont. 1980. - Jean Runzo, Communal Discipline in the Early Anabaptist Communities of Switzerland, South and Central Germany, Austria, and Moravia, 1525-1550: MennQR 53 (1979) 7 8 - 7 9 . - Friedwart Uhland, Täufertum u. Obrigkeit in Augsburg im 16. Jh., phil. Diss. Tübingen 1972. - Christoph Windhorst, Täuferisches Taufverständnis, 1976 (SMRT 16). - Eike Wolgast, Thomas Müntzer. Ein Verstörer der Ungläubigen, Göttingen/Zürich 1981 (Persönlichkeit u. Gesch. 111/112) (Lit.). Gottfried Seebaß Hutten, Ulrich von

(1488-1S23)

1. Leben und Werk 2. Wirkung gen/Einzeluntersuchungen S. 751)

(Bibliographie/Werke/Biographien und Gesamtwürdigun-

1. Leben und Werk A m 21. April 1488 wurde Ulrich v. Hutten auf Burg Steckelberg (Rhön) geboren. Er entstammte einem reichsritterlichen Geschlecht, das v o n jeher in enger Beziehung zur benachbarten Reichsabtei Fulda stand. Ulrichs gleichnamiger Vater bestimmte im Familieninteresse seinen schwächlichen Erstgeborenen für die Fuldaer Prälatur. Im Frühjahr 1499 trat H u t t e n als Domizellar in die Fuldaer Stiftsschule ein; 1503 wurde er auf die Universität -»Erfurt geschickt, u m dort das vorgeschriebene biennium studii zu absolvieren. Er hat dort in Crotus Rubeanus den M e n t o r gefunden, d e m er in lebenslanger Freundschaft verbunden blieb. N a c h Beendigung des Bienniums im S o m m e r 1505 ist Hutten nicht mehr nach Fulda zurückgekehrt. Er ist also nicht aus d e m Kloster geflohen, sondern hat — zwar gegen den Willen des Vaters, aber mit G e n e h m i g u n g des Abtes - sein

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Literatur Günther Bauer, Anfänge täuferischer Gemeindebildungen in Franken, 1966 (EKGB43). - ClausPeter Clasen, The Anabaptists in South and Central Germany, Switzerland and Austria. A Statistical Study: MennQR52 (1978) 5 - 3 8 . - Klaus Deppermann, Melchior Hoffman. Soziale Unruhen u. apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1979. — Ders./Werner O. Packull/James M. Stayer, From Monogenesis to Polygenesis. The Hist. Discussion of Anabaptist Origins: M e n n Q R 4 9 (1975) 83-122. - Günter Dippold, Täufer am Obermain: BHVB119 (1983) 77-98. - Richard van Dülmen, Müntzers Anhänger im oberdt. Täufertum: ZBLG39 (1979) 883-891. - Ders., Reformation als Revolution, München 1977. - Walter Elliger, Thomas Müntzer, Göttingen 1975. - Abraham Friesen/Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Thomas Müntzer, 1978 (WdF 491). - Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Alles gehört allen. Das Experiment der Gütergemeinschaft vom 16. Jh. bis heute, München 1984. - Ders., Die Täufer. Gesch. u. Deutung, München 1980. - Ders. (Hg.), Umstrittenes Täufertum. 1525-1575. Neue Forschungen, Göttingen 2 1977. - Hans Guderian, Die Täufer in Augsburg. Ihre Gesch. u. ihr Erbe, Pfaffenhofen 1984. - Terkel Hansen, Reformation, Revolution u. Täufertum — eine Einführung: Mühlhäuser Beitr. 3 (1980) 3 - 2 0 . — William Klassen, Covenant and Community. The Life, Writings and Hermeneutics of Pilgram Marpeck, Grand Rapids 1968. — Guenther List, Chiliastische Utopie u. radikale Reformation. Die Erneuerung der Idee v. tausendjährigen Reich im 16. Jh., München 1973 (Humanistische Bibliothek. Abh. u. Texte, Reihe 1/14). - Steven E. Ozment, Mysticism and Dissent. Religious Ideology and Social Protest in the 16 th Century, New Haven/London 1973. - Werner O. Packull, Art. Denck, Hans: T R E 8 (1981) 488-490 (Lit.). - Ders., Gottfried Seebaß on Hans Hut: A Discussion: M e n n Q R 4 9 (1975) 5 7 - 67. Ders., Mysticism and the Early South German-Austrian Anabaptist Movement. 1525-1531, 1977 (SAMH 19). - Ders., Some reflections on the state of Anabaptist history. The demise of a normative vision: SR 8 (1979) 313-323. - Calvin Augustine Pater, Karlstadt as the Father of the Baptist Movements. The Emergence of Lay Protestantism, Toronto 1984. - Hans-Dieter Plümper, Die Gütergemeinschaft bei den Täufern des 16. Jh., 1972 (GAB 6 2 ) . - H a n s Dieter Schmidt, Das Hutsche Täufertum: H J 9 1 (1971) 327-344. - Ders., Täufertum u. Obrigkeit in Nürnberg, Nürnberg 1972 (Schriftenr. des Stadtarchivs Nürnberg 10). - Reinhard Schwarz, Die apokalyptische Theol. Thomas Müntzers u. der Taboriten, 1977 (BHTh55). - Gottfried Seebaß, Bauernkrieg u. Täufertum in Franken: ZKG 85 (1974) 104-156. - Ders., Hans Denck: Fränkische Lebensbilder, hg. v. Gerhard Pfeiffer u. Alfred Wendehorst, Würzburg, VI 1975,107-129. - D e r s . , Hans Hut. Der leidende Rächer: Radikale Reformatoren. 21 biographische Skizzen v. Thomas Müntzer bis Paracelsus, hg. v. Hans-Jürgen Goertz, München 1978,44-50. - Ders., Müntzers Erbe. Werk, Leben u. Theol. des Hans Hut, theol. HabSchr. Erlangen 1972 (grundlegend, Lit.). — James Mentzer Stayer, Anabaptists and the Sword, Lawrence 2 1973. - Ders., Reflections and Retractions on 'Anabaptists and the Sword": M e n n Q R 5 1 (1977) 196-212. - James Mentzer Stayer/Werner O. Packull (Hg.), The Anabaptists and Thomas Müntzer, Dubuque, Iowa/Toronto, Ont. 1980. - Jean Runzo, Communal Discipline in the Early Anabaptist Communities of Switzerland, South and Central Germany, Austria, and Moravia, 1525-1550: MennQR 53 (1979) 7 8 - 7 9 . - Friedwart Uhland, Täufertum u. Obrigkeit in Augsburg im 16. Jh., phil. Diss. Tübingen 1972. - Christoph Windhorst, Täuferisches Taufverständnis, 1976 (SMRT 16). - Eike Wolgast, Thomas Müntzer. Ein Verstörer der Ungläubigen, Göttingen/Zürich 1981 (Persönlichkeit u. Gesch. 111/112) (Lit.). Gottfried Seebaß Hutten, Ulrich von

(1488-1S23)

1. Leben und Werk 2. Wirkung gen/Einzeluntersuchungen S. 751)

(Bibliographie/Werke/Biographien und Gesamtwürdigun-

1. Leben und Werk A m 21. April 1488 wurde Ulrich v. Hutten auf Burg Steckelberg (Rhön) geboren. Er entstammte einem reichsritterlichen Geschlecht, das v o n jeher in enger Beziehung zur benachbarten Reichsabtei Fulda stand. Ulrichs gleichnamiger Vater bestimmte im Familieninteresse seinen schwächlichen Erstgeborenen für die Fuldaer Prälatur. Im Frühjahr 1499 trat H u t t e n als Domizellar in die Fuldaer Stiftsschule ein; 1503 wurde er auf die Universität -»Erfurt geschickt, u m dort das vorgeschriebene biennium studii zu absolvieren. Er hat dort in Crotus Rubeanus den M e n t o r gefunden, d e m er in lebenslanger Freundschaft verbunden blieb. N a c h Beendigung des Bienniums im S o m m e r 1505 ist Hutten nicht mehr nach Fulda zurückgekehrt. Er ist also nicht aus d e m Kloster geflohen, sondern hat — zwar gegen den Willen des Vaters, aber mit G e n e h m i g u n g des Abtes - sein

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Studium fortgesetzt. Mit einem kurzen Aufenthalt in Mainz beginnt Huttens zwölfjährige „Vagantenzeit". Als fahrender Scholar zieht er von Universität zu Universität (-»Köln, -•Erfurt, -»Frankfurt a.O., -»Leipzig, -»Greifswald, -»Wittenberg). In Frankfurt a . O . hat er 1506 den ersten akademischen Grad eines Baccalaureus Artium erworben. Bald 5 darauf zog er sich, vermutlich in Leipzig, die unheilbare Krankheit (morbus Gallicus) zu, die sein künftiges Leben beschatten sollte. Aus dem Rechtsstreit mit der Greifswalder Familie Lötz ist Huttens erste größere Versdichtung (Querelae contra Lossios, 1510) entstanden, die zusammen mit der 1511 verfaßten Ars versificatoria seinen Ruf als lateinischer Dichter begründet hat. 10 Vom Ruhm der Celtis-Schule (-»Humanismus/Humanismusforschung) angezogen, reiste Hutten 1511 nach -»Wien, wo er sich vier Monate bei -»Vadian aufgehalten hat. Sein dort entstandener, noch ganz vom Reichspatriotismus des oberrheinischen Humanistenkreises getragener Mahnruf an Kaiser Maximilian war Huttens erster Vorstoß in die Tagespolitik, das im gleichen Jahr erschienene Lehrgedicht 'Warum die Deutschen gegenis über der Vorzeit noch nicht entartet sind seine erste, „wenn auch noch etwas verdeckte kulturkritische Schrift" (Grimm).

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Auf Wunsch des Vaters brach Hutten im Frühjahr 1512 zum Rechtsstudium nach Italien auf. Zunächst in Pavia, dann in Bologna hat er bei berühmten Rechtslehrern gehört, gleichzeitig aber Unterricht im Griechischen genommen. Um seinen Unterhalt zu bestreiten, mußte er schließlich sein Studium abbrechen und in den kaiserlichen Kriegsdienst treten. Nach Beendigung der Feindseligkeiten zwischen der Heiligen Liga und den Franzosen kehrte Hutten in die Heimat zurück (Februar 1514). Im Gesamtablauf seines bewegten Lebens ist Huttens erste Italienfahrt nur Episode geblieben. Ihr literarischer Ertrag - 120 in verschiedenen Versmaßen gehaltene Epigramme - enthält den Widerhall des selbsterlebten Kriegsgeschehens. Aus seinen Epigrammen spricht das nationale Pathos des „ghibellinischen" Bekenntnisses zu Kaiser und Reich, jedoch noch nicht der leidenschaftliche Antirom-Affekt, der sich später damit verbindet. Auch in den Epigrammen wird das Thema angeschlagen, das sich durch Huttens gesamtes Schriftwerk zieht: das blinde Walten „der großen Göttin des Humanismus, der Fortuna" (Seidlmayer). Eine unerwartete Wendung des Glücksrads der Fortuna hat Hutten in Deutschland ein neues, vielversprechendes Betätigungsfeld verschafft. Durch Vermittlung seines Vetters Frowin v. Hutten und des kurbrandenburgischen Diplomaten Eitelwolf vom Stein trat Hutten in Verbindung zu Albrecht V.Brandenburg (-»Albrecht von Mainz), seit 1514 Erzbischof von Magdeburg. Als dieser im gleichen Jahre zum Erzbischof und Kurfürsten von Mainz erhoben wurde, pries Hutten dieses Ereignis mit dem berühmt gewordenen Panegyricus in laudem Alberti Archiepiscopi (1515). Der gefeierte Fürst gewährte Hutten die finanziellen Mittel, sein Rechtsstudium in Italien abzuschließen und sich so für den Mainzer Hofdienst zu qualifizieren. In Mainz trifft Hutten 1514 zum erstenmal mit -»Erasmus zusammen und empfindet diese Begegnung als die wichtigste seines Lebens. Er bewundert in Erasmus nicht nur den großen Philologen und Humanisten — er erblickt in ihm auch seinen Retter aus dem „Nichts" der radikalen Skepsis, die aus Huttens meistgelesener Dichtung, dem Nemo, spricht. Als „Niemand" in der Welt und als „Nichts" in der eigenen Familie hat Hutten sich selbst gesehen, als er 1515 die Vorrede zu seinem Gedicht herausgab, das vollständig erst 1518 erschien. Diese Vorrede ist das erste gedruckte Zeugnis seiner Verehrung für Erasmus, aber auch der Hoffnung auf neue sinnvolle Lebensgestaltung, die die Bekanntschaft mit diesem in ihm weckt.

Bevor Hutten zum zweitenmal nach Italien ging, sah er sich auf zwei verschiedenen 50 Kampffeldern zu publizistischer Aktion herausgefordert. Wegen einer Ehebruchsaffäre hatte Herzog Ulrich v. Württemberg seinen Hofmeister Hans von Hutten, einen Vetter Ulrichs, erschlagen (1515). Um diese Schmach zu rächen, macht sich Hutten zum Wortführer der gesamten Sippe. In fünf aufeinanderfolgenden „catilinarischen" Reden

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(1515-1519) erhebt er Anklage gegen den „schwäbischen Tyrannen". Sein Angriff richtet sich nicht nur gegen den Herzog als Einzelperson. Was er in ihm zu treffen sucht, ist der vordringende Fürstenstaat als Ganzes. Verfassungspolitische Forderungen nach Beschränkung der Fürstengewalt und Stärkung des Kaisertums verbinden sich hier mft spezifisch ritterlichen Anliegen. So gesehen sind die Reden In Ulricum Wirttembergensem bereits „Präludien zur reichsritterschaftlichen Bewegung Sickingens" (Press). Z u r gleichen Zeit hat sich Hutten in den großen Streit geworfen, an dem der deutsche Humanismus in allen seinen Richtungen beteiligt war: die literarische Fehde gegen die Kölner Dominikaner für Johannes -»Reuchlin. Hatte Hutten an der ersten Folge der Epistolae obscurorum virorum nur mitgearbeitet, so war die zweite ganz durch seinen Geist und Stil geprägt. Sie ist nicht zufällig auf der zweiten Italienreise entstanden, zu der Hutten im Spätherbst 1515 aufgebrochen war. Ihren eigentlichen Zweck *- den Abschluß des Rechtsstudiums - hat auch diese Reise nicht erfüllt. Um so bedeutsamer war sie für die Vertiefung von Huttens politischen Grundüberzeugungen und seiner Geschichtsanschauung. Das Schauspiel des verweltlichten Renaissancepapsttums (-»Leo X.) entflammt in ihm den krankhaften Romhaß. Seine notwendige Ergänzung ist ein Wunschbild der verlorenen deutschen Freiheit. Ihr leuchtendes Symbol wird die zum Nationalhelden umgedeutete Gestalt des Arminius. In Rom lernt er die Anttalen des Tacitus kennen, die hier 1515 zum erstenmal im Druck erschienen waren. Hatte ihm die Germania das Idealbild ursprünglicher deutscher Sittenreinheit vermittelt, so begegnet ihm in den Annalen Arminius als erster Deutscher in historisch faßbarer Gestalt. Im Zeichen des taciteischen Germanentums kämpft Hutten gegen die „Romanisten" in Kirche und Recht. Die Schrift des Laurentius Valla über die Konstantinische Schenkung (-»Constitutum Constantini), die er auf der Heimreise 1517 in Bologna zu Gesicht bekommt, lehrt hin, daß die weltliche Macht der Päpste auf Fälschung beruht. In der von Hutten 1518 veranstalteten Neuausgabe hat später Luther die Schrift kennengelernt. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland war Hutten längst kein „ N i e m a n d " mehr, sondern ein weithin bekannter und anerkannter Autor. Auf Betreiben Konrad Peutingers wurde Hutten am 12. Juli 1517 in Augsburg von -»Maximilian I. zum poeta laureatus gekrönt. Die Dichterkrönung galt als vollwertiger Ersatz für den in Italien nicht erlangten Doktor-Grad. Im September 1517 wurde Hutten von Erzbischof Albrecht als H o f r a t in Dienst genommen. Im Winter 1517/18 in diplomatischer Mission an den französischen Hof entsandt, traf er in Paris mit den führenden Köpfen des französischen Humanismus (Guillaume -•Bude, Lefevre d'Etaples [-»Faber Stapulensis]) zusammen. Im Gefolge seines Dienstherrn nahm er 1518 am Reichstag in Augsburg, 1519 an der Kaiserwahl in Frankfurt teil (-•Karl V.). Daneben beschäftigte ihn der Handel mit Ulrich von Württemberg, gegen den er 1519 mit dem Schwäbischen Bund zu Felde zog. Bei dieser Gelegenheit lernt er Franz von Sickingen kennen, in dem er den neuen Arminius gefunden zu haben glaubt. Im Hofdienst konnte Hutten auf die Dauer ebenso wenig Befriedigung finden, wie in der Geborgenheit humanistischen Gelehrtendaseins, denn beides widerstritt seiner kämpferischen, nach außen gerichteten Natur. Er suchte die politische Auseinandersetzung und bezeichnete sie in dem berühmten Brief an Pirckheimer vom 18. Oktober 1518 als sein beherrschendes Ziel. Im autobiographischen Rückblick erscheinen ihm seine zwölf Wanderjahre wie ein „Vorspiel" des eigentlichen Lebens, für das ihm nur fünf Jahre beschieden sein sollten und das er unter die trotzige Devise „Jacta est alea. Ich hab's gewagt" stellen wird. Im August 1519 unter Fortzahlung seiner Bezüge aus dem Hofdienst entlassen und von der Rücksicht auf seinen Dienstherrn entbunden, richtet er von Mainz aus einen publizistischen Großangriff von unerhörter demagogischer Heftigkeit gegen Rom und den von ihm abhängigen Klerus. Er bedient sich dabei meist der von Lukian übernommenen Kunstform des Dialogs (Vadiscus sive Trias Romana). Mit seiner radikalen Kampfansage an Rom war Huttens Lage kritisch geworden. Als dem Verfasser von Schmähschriften

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gegen den Heiligen Stuhl drohte ihm ein kirchliches Strafverfahren. Nachdem ein von Sickingen inspirierter Versuch, am Brüsseler Hof von Erzherzog Ferdinand (-»Ferdinand I.), dem Bruder des Kaisers, Verwendung zu finden, gescheitert war, verließ er im August 1520 fluchtartig Mainz. Er begibt sich in den Schutz Franz v. Sickingens, der ihm auf der Ebernburg b. Kreuznach („Herberge der Gerechtigkeit") Asyl gewährt (September 1520 bis August 1521). Von hier aus schleudert Hutten eine Fülle von Flugschriften ins Land in Vers und in Prosa, aber fast immer im volkstümlichen Deutsch. War er schon als lateinischer Schriftsteller „der meist gedruckte und meist gelesene deutsche H u m a n i s t " (Grimm), so erreicht mit seinen deutschen Kampf- und Mahnrufen Huttens Breitenwirkung eine neue Dimension, wird er zu einem meinungsbildenden Faktor im Reich. Schon ihr zeitliches Zusammentreffen hat Huttens anti-römische Agitation und die öffentliche Diskussion der Luthersache (-»Luther) in Berührung gebracht. Hutten hatte Luthers Hervortreten zunächst kaum beachtet. Im Ablaßstreit sah er nur das übliche „Mönchsgezänk", in der Auseinandersetzung um Luthers Thesen „einen neuen Reuchlinstreit gigantischen Ausmaßes" (Press). Er bewunderte wohl M u t und Standhaftigkeit des frommen Mönches, aber der religiöse Kern von Luthers Anliegen blieb ihm verborgen. Wenn Hutten offen für Luther Partei ergriff, so doch in erster Linie deshalb, weil er in ihm ein eloquentes Sprachrohr des eigenen nationalpolitischen Reformverlangens erblickte. In Luthers Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation mochte er die eigenen Grundgedanken und Absichten wiedererkennen, so wie umgekehrt Luthers Schrift in Wortwahl und Sprachstil an Hutten erinnert. Daß in der Bulle Exsurge Domine vom 15. Juli 1520 unter den vom Bann bedrohten Anhängern Luthers auch Hutten genannt war, machte ihn zum Schicksalsgefährten des Wittenberger Theologen. Wie dieser erhebt auch Hutten in seinen Klageschriften immer wieder die Forderung nach rechtlichem Gehör durch ein unabhängiges Schiedsgericht. Ihr Briefwechsel (fünf lateinische Briefe Huttens, Luthers Antworten sind nicht erhalten) fällt denn auch in die Zeit, zu der die reichsrechtliche Behandlung der Luthersache in ihre entscheidende Phase tritt (Juni 1520-April 1521). Die Verhandlungen des Wormser Reichstages (-»Reichstage der Reformationszeit) hat Hutten von der nahe gelegenen Ebernburg aus aufmerksam verfolgt und wiederholt publizistisch auf sie einzuwirken versucht. Die Herausgabe einer auf der Ebernburg entdeckten Schrift aus der Zeit des Basler Konzils (Concilia, wie man die halten sol [ -* BaselFerrara-Florenz]) läßt vermuten, d a ß er die Entscheidung der Luthersache durch ein Konzil für möglich hielt und damit, wie so viele seiner Zeitgenossen, eine Position vertrat, über die Luthers theologische Entwicklung schon hinweggeschritten war. Als möglicher Führer einer nationalen Oppositionsbewegung von der Kurie mehr gefürchtet als Luther selbst, als Schützling des mächtigen, für den Kaiser damals unentbehrlichen Condottiere Sickingen bekommt Hutten während des Wormser Reichstages politisches Gewicht. Die kaiserliche Diplomatie sucht sich seiner zu versichern und nimmt mit ihm und Sickingen auf der Ebernburg Verhandlungen auf (6./7. April 1521), die schnell zu einem Ergebnis führen. Alle gegen Hutten von kirchlicher Seite eingeleiteten Maßnahmen werden sistiert. Er selbst tritt gegen ein Jahresgehalt in kaiserliche Dienste. Das Ergebnis der Ebernburger Verhandlungen wurde durch das —• Wormser Edikt entwertet. Enttäuscht und empört kündigt Hutten dem Kaiser den Dienst auf, trennt sich von Sickingen und geht in den Untergrund. Auf eigene Faust führt er einen „Pfaffenkrieg" im Raubritterstil. Im Herbst 1521 nähert er sich wieder Sickingen, der sich zum Feldzug gegen Kurtrier (-»Trier) rüstet. Als entscheidenden Schlag gegen „kirchliche Tyrannis", ja, als Vorstufe einer Reichsreform hat Hutten die „Trierer Fehde" begrüßt. Ihr klägliches Ende bedeutete den Zusammenbruch der ritterlichen Revolutionspartei, aber auch aller Hoffnungen und Pläne Huttens. Nach der Niederlage Sickingens im Kampf gegen die überlegene Fürstenmacht im Herbst 1522 war Hutten schutzlos geworden. In all seinen Unternehmungen gescheitert, von der Reichsacht bedroht, ein todkranker und gehetzter

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M a n n , flieht er über Mülhausen und Schlettstadt nach Basel (November 1522). Vergeblich hat er d o r t bei Erasmus Einlaß begehrt. Die heftige Expostulatio, die er gegen den einstigen Freund und Förderer richtete, w a r seine letzte gedruckte Schrift. Um der Verfolgung zu entgehen, die ihm auf Reichsboden drohte, zog sich H u t t e n in die innere Schweiz zurück, w o ihm Zwingli auf der Insel Ufenau im Zürichsee bei dem heilkundigen Pfarrer J o h a n n e s Klarer eine Zuflucht bot. Hier ist er, einsam und mittellos, a m 29. August 1523 seiner Krankheit erlegen. 2.

Wirkung

Nicht so sehr der literarische R a n g seiner Schriften, als vielmehr der nationale Gehalt seines Wollens und Kämpfens hat von jeher das Interesse der Nachwelt auf H u t t e n gelenkt. Vom „Sturm und D r a n g " wiederentdeckt, von H e r d e r gepriesen, von der R o m a n tik unter die Heroen der deutschen Vergangenheit eingereiht, erhält H u t t e n s historische Gestalt um die Mitte des 19. J h . einen besonderen Gegenwartsbezug. Im Lichte des nationalen Einheitsgedankens mochte er als der große Herold erscheinen, der schon im 16. Jh. forderte, was sich im 19. erfüllen sollte: geistige und politische Freiheit in einem neuen Reich. In der berühmten Huttenbiographie von David Friedrich Strauss (1858) hat die liberal-protestantische „ H u t t e n l e g e n d e " ein eindrucks- und wirkungsvolles Denkmal gefunden. Die notwendige Korrektur dieses glänzenden Bildes hat zu einem anderen Extrem der Huttenauffassung geführt. Sie hat die dunklen Flecken in H u t t e n s C h a r a k t e r scharf beleuchtet, das anarchische Element seiner N a t u r hervorgekehrt, ihn zum moralisch haltlosen Vagabunden gestempelt (von katholischer Seite vor allem J. Janssen, von protestantischer später P. Kalkoff). Die moderne Forschung hat die Unzulänglichkeit der einseitig nationalpolitischen oder moralischen Bewertung H u t t e n s längst e r k a n n t und den Blick auf die überpersönlichen Grundgegebenheiten seines Lebens und Kämpfens gelenkt: die sozialständische Welt des eques Germanus, der er entstammt, die reichsadlige Tradition, die in seinen Reformplänen nachwirkt, den (schwer durchschaubarcn) Z u s a m m e n h a n g zwischen humanistischer F o r m u n g und patriotischer Färbung seiner Gedankenwelt. Sie hat das Huttenbild von der konfessionellen Obermalung befreit, die schon die lutherische O r t h o d o x i e des 16. Jh. darüber gebreitet hatte. Es darf heute als sicher gelten, d a ß der „religiös kühle M a n n " (Grimm) nur in sehr äußerlicher und situationsbedingter Verbindung zu Luther und seinem reformatorischen Anliegen stand. Bibliographie BDG 9157-9301. 47021-47043a. 55286-55308.

Werke Ulrici Hutteni Equitis Germani Opera, ed. Eduardus Böcking, 7 Bde., Leipzig 1859-1869, Neudr. Aalen 1963. - Ulrich von Huttens Dt. Schriften, hg. v. Siegfried Szamatölski, Straßburg 1891. -Epistolae Obscurorum Virorum, hg. v. Aloys Börner, II Text, Heidelberg 1924, Neudr. (Bd. I u. II in 1 Bd.) Aalen 1978.

Biographien u. Gesamtwürdigungen Heinrich Grimm, Ulrich v. Hutten. Wille u. Schicksal, Göttingen 1971. - Ders., Ulrich v. Hutten: NDB 10 (1974) 99-102. - Hajo Holborn, Ulrich v.Hutten, Leipzig 1929; (Das wiss. Weltbild) = Ulrich v. Hutten and the German Reformation, New Häven 1937 (Yale Historical Publications 11; erw. Ausg. übers, v. Ronald H. Bainton); dt. Übers. Göttingen 1968. - Richard Newald, Ulrich v. Hutten: ders., Probleme u. Gestalten des dt. Humanismus, Berlin 1963,280-325. - Volker Press, Ulrich v. Hutten. Reichsritter u. Humanist 1488-1523: NA 85 (1974) 7 1 - 8 6 . - Franz Schnabel, Deutschlands gesch. Quellen u. Darst. in der Neuzeit. I Das Zeitalter der Reformation, Leipzig 1931,67-72.314-317. - Ernst Schubert, Ulrich v. Hutten 1488-1523: Alfred Wendehorst/ Gerhard Pfeiffer (Hg.), Fränkische Lebensbilder 9, Neustadt/Aisch 1980, 93-123. - Michael Seidlmayer, Ulrich v. Hutten: ders., Wege u. Wandlungen des Humanismus. Stud. zu seinen politischen, ethischen, rel. Problemen, hg. v. Hans Barion, Göttingen 1965, 197-214.

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Hutterische Brüder

Einzeluntersuchungen Delio Cantimori, Ulrico v. Hutten ed i rapporti tra Rinascimento e Riforma, 1930 (ASNSP 30 Fase. 2). - Paul Held, Ulrich v. Hutten. Seine religiös-geistige Auseinandersetzung mit Katholizismus, Humanismus, Reformation, 1928 (SVRG 46/144). - Werner Kaegi, Hutten u. Erasmus: H V 22 5 (1924/25) 2 0 0 - 2 7 8 . 4 6 1 - 5 1 4 . - Paul Kalkoff, Ulrich v. Hutten u. die Reformation. Eine krit. Gesch. seiner wichtigsten Lebenszeit u. die Entscheidungsjahre der Reformation ( 1 5 1 7 - 1 5 2 3 ) , 1920 ( Q F R G 4). - Ders., Huttens Vagantenzeit u. Untergang, Weimar 1925. - Hans Gustav Keller, Hutten u. Zwingli, Aarau 1952. - Wilhelm Kreutz, Die Deutschen u. Ulrich v. Hutten. Rezeption v. Autor u. Werk seit dem 16. J h . , München 1984 (Veröff. d. Hist. Inst, der Univ. Mannheim 8). - Ders., Ulrich v. 10 Hutten in der franz. u. angloamerik. Lit. Ein Beitr. zur Rezeptionsgesch. des dt. Humanismus u. der luth. Reformation: Francia 11 (1983) 6 1 4 - 6 3 9 . - Fritz Walser, Die politische Entwicklung Ulrich v. Huttens während der Entscheidungsjahre der Reformation, 1928 (HZ.B 14).

Stephan Skalweit Hutter, Leonhard

-»Orthodoxie, Lutherische

15 Hutterische Brüder 1. Ubersicht 2. Entstehung 3. Geschichte, Organisation und geistiges Leben im 16. J h . 4. Vertreibung, Auflösung und Neugründung 5. Gegenwärtige Lage (Bibliographie/Quellen/ Literatur S. 755)

1.

Übersicht

20

Die nach ihrem bedeutendsten Führer und Organisator Jakob Hutter genannten Hutterischen Brüder sind aus der Täuferbewegung der Reformationszeit hervorgegangen, unterscheiden sich von den andern Täufern durch die Art ihrer Gütergemeinschaft und gehören neben den Schweizer Brüdern und den Mennoniten zu den drei Täufergruppen, welche bis heute überlebt haben (-»Täufer, -»Menno Simons/Mennoniten). Sie wohnen 25 in Nordamerika auf über 310 Bruderhöfen mit einer Bevölkerung von über 32000 und sind für Wissenschaftler wie auch Geistesverwandte Gegenstand unterschiedlichster Interessen geworden. 2.

Entstehimg

Der Gedanke der Gütergemeinschaft ist in der Reformationszeit von Humanisten, 30 Theologen und Revolutionären vorgetragen worden (-»Eigentum VI.2). Bei den Täufern findet er sich in verschiedenen Formen von Anfang an. Die Schweizer Täufer, die von -»Zwingli gelernt hatten, Eigentum nach göttlichem Recht als angemaßten Besitz zu werten, übernahmen den Gedanken als apostolisches Ideal aus Act 2; 4 f , während der von Thomas -»Müntzer geprägte Hans -»Hut und seine oberdeutschen Anhänger ihn 35 aus ihrer mystisch-endzeitlichen Geringschätzung des Kreatürlichen herleiteten (Gelassenheit). In der Praxis erlaubten die schweren Verfolgungen jedoch nur, daß man einander mit allem Vermögen beistand. Mancher wohlhabende Täufer verkaufte deshalb sein Hab und Gut. Eine auf der Grundlage der Gütergemeinschaft organisierte Gemeinde gab es aber erst seit dem Frühjahr 1528 in Austerlitz (Slavkov) in Mähren. 40 Unter der Führung von Jakob Widemann und Philip Jäger sonderten sich im Winter 1527/28 in Nikolsburg (Mikulov) eine Anzahl Täufer von der dort obrigkeitlich anerkannten Täufergemeinde ab, weil sie keinen Kriegsdienst leisten und keine Kriegssteuer zahlen wollten. Sie trafen sich s|att in der Kirche in den Häusern, nahmen täuferische Flüchtlinge fürsorgend auf und teilten ihr Gut mit ihnen. Als sie am 22. März 1528 selbst 45 ausgewiesen wurden und in Not gerieten, legten sie unterwegs ihre Habe zusammen und begannen in Austerlitz die erste Gütergemeinschaft. Es dauerte eine Reihe von Jahren, bis aus den Anfängen eine feste Ordnung erwachsen war. Entscheidenden Einfluß hatte dabei der Südtiroler Jakob Hutter (meist Hueter oder Huetter, heute auch Huter), der sich 1529 mit der Gemeinde in Austerlitz „vereinigte". Er 50 stammte aus Moos bei Bruneck und hatte 1528/29 die führende Stellung unter den Tiroler Täufern gewonnen. Nach seinem Besuch bei den „Gemeinschaftern" in Austerlitz kehrte

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Hutterische Brüder

Einzeluntersuchungen Delio Cantimori, Ulrico v. Hutten ed i rapporti tra Rinascimento e Riforma, 1930 (ASNSP 30 Fase. 2). - Paul Held, Ulrich v. Hutten. Seine religiös-geistige Auseinandersetzung mit Katholizismus, Humanismus, Reformation, 1928 (SVRG 46/144). - Werner Kaegi, Hutten u. Erasmus: H V 22 5 (1924/25) 2 0 0 - 2 7 8 . 4 6 1 - 5 1 4 . - Paul Kalkoff, Ulrich v. Hutten u. die Reformation. Eine krit. Gesch. seiner wichtigsten Lebenszeit u. die Entscheidungsjahre der Reformation ( 1 5 1 7 - 1 5 2 3 ) , 1920 ( Q F R G 4). - Ders., Huttens Vagantenzeit u. Untergang, Weimar 1925. - Hans Gustav Keller, Hutten u. Zwingli, Aarau 1952. - Wilhelm Kreutz, Die Deutschen u. Ulrich v. Hutten. Rezeption v. Autor u. Werk seit dem 16. J h . , München 1984 (Veröff. d. Hist. Inst, der Univ. Mannheim 8). - Ders., Ulrich v. 10 Hutten in der franz. u. angloamerik. Lit. Ein Beitr. zur Rezeptionsgesch. des dt. Humanismus u. der luth. Reformation: Francia 11 (1983) 6 1 4 - 6 3 9 . - Fritz Walser, Die politische Entwicklung Ulrich v. Huttens während der Entscheidungsjahre der Reformation, 1928 (HZ.B 14).

Stephan Skalweit Hutter, Leonhard

-»Orthodoxie, Lutherische

15 Hutterische Brüder 1. Ubersicht 2. Entstehung 3. Geschichte, Organisation und geistiges Leben im 16. J h . 4. Vertreibung, Auflösung und Neugründung 5. Gegenwärtige Lage (Bibliographie/Quellen/ Literatur S. 755)

1.

Übersicht

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Die nach ihrem bedeutendsten Führer und Organisator Jakob Hutter genannten Hutterischen Brüder sind aus der Täuferbewegung der Reformationszeit hervorgegangen, unterscheiden sich von den andern Täufern durch die Art ihrer Gütergemeinschaft und gehören neben den Schweizer Brüdern und den Mennoniten zu den drei Täufergruppen, welche bis heute überlebt haben (-»Täufer, -»Menno Simons/Mennoniten). Sie wohnen 25 in Nordamerika auf über 310 Bruderhöfen mit einer Bevölkerung von über 32000 und sind für Wissenschaftler wie auch Geistesverwandte Gegenstand unterschiedlichster Interessen geworden. 2.

Entstehimg

Der Gedanke der Gütergemeinschaft ist in der Reformationszeit von Humanisten, 30 Theologen und Revolutionären vorgetragen worden (-»Eigentum VI.2). Bei den Täufern findet er sich in verschiedenen Formen von Anfang an. Die Schweizer Täufer, die von -»Zwingli gelernt hatten, Eigentum nach göttlichem Recht als angemaßten Besitz zu werten, übernahmen den Gedanken als apostolisches Ideal aus Act 2; 4 f , während der von Thomas -»Müntzer geprägte Hans -»Hut und seine oberdeutschen Anhänger ihn 35 aus ihrer mystisch-endzeitlichen Geringschätzung des Kreatürlichen herleiteten (Gelassenheit). In der Praxis erlaubten die schweren Verfolgungen jedoch nur, daß man einander mit allem Vermögen beistand. Mancher wohlhabende Täufer verkaufte deshalb sein Hab und Gut. Eine auf der Grundlage der Gütergemeinschaft organisierte Gemeinde gab es aber erst seit dem Frühjahr 1528 in Austerlitz (Slavkov) in Mähren. 40 Unter der Führung von Jakob Widemann und Philip Jäger sonderten sich im Winter 1527/28 in Nikolsburg (Mikulov) eine Anzahl Täufer von der dort obrigkeitlich anerkannten Täufergemeinde ab, weil sie keinen Kriegsdienst leisten und keine Kriegssteuer zahlen wollten. Sie trafen sich s|att in der Kirche in den Häusern, nahmen täuferische Flüchtlinge fürsorgend auf und teilten ihr Gut mit ihnen. Als sie am 22. März 1528 selbst 45 ausgewiesen wurden und in Not gerieten, legten sie unterwegs ihre Habe zusammen und begannen in Austerlitz die erste Gütergemeinschaft. Es dauerte eine Reihe von Jahren, bis aus den Anfängen eine feste Ordnung erwachsen war. Entscheidenden Einfluß hatte dabei der Südtiroler Jakob Hutter (meist Hueter oder Huetter, heute auch Huter), der sich 1529 mit der Gemeinde in Austerlitz „vereinigte". Er 50 stammte aus Moos bei Bruneck und hatte 1528/29 die führende Stellung unter den Tiroler Täufern gewonnen. Nach seinem Besuch bei den „Gemeinschaftern" in Austerlitz kehrte

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Hutterische Brüder

Einzeluntersuchungen Delio Cantimori, Ulrico v. Hutten ed i rapporti tra Rinascimento e Riforma, 1930 (ASNSP 30 Fase. 2). - Paul Held, Ulrich v. Hutten. Seine religiös-geistige Auseinandersetzung mit Katholizismus, Humanismus, Reformation, 1928 (SVRG 46/144). - Werner Kaegi, Hutten u. Erasmus: H V 22 5 (1924/25) 2 0 0 - 2 7 8 . 4 6 1 - 5 1 4 . - Paul Kalkoff, Ulrich v. Hutten u. die Reformation. Eine krit. Gesch. seiner wichtigsten Lebenszeit u. die Entscheidungsjahre der Reformation ( 1 5 1 7 - 1 5 2 3 ) , 1920 ( Q F R G 4). - Ders., Huttens Vagantenzeit u. Untergang, Weimar 1925. - Hans Gustav Keller, Hutten u. Zwingli, Aarau 1952. - Wilhelm Kreutz, Die Deutschen u. Ulrich v. Hutten. Rezeption v. Autor u. Werk seit dem 16. J h . , München 1984 (Veröff. d. Hist. Inst, der Univ. Mannheim 8). - Ders., Ulrich v. 10 Hutten in der franz. u. angloamerik. Lit. Ein Beitr. zur Rezeptionsgesch. des dt. Humanismus u. der luth. Reformation: Francia 11 (1983) 6 1 4 - 6 3 9 . - Fritz Walser, Die politische Entwicklung Ulrich v. Huttens während der Entscheidungsjahre der Reformation, 1928 (HZ.B 14).

Stephan Skalweit Hutter, Leonhard

-»Orthodoxie, Lutherische

15 Hutterische Brüder 1. Ubersicht 2. Entstehung 3. Geschichte, Organisation und geistiges Leben im 16. J h . 4. Vertreibung, Auflösung und Neugründung 5. Gegenwärtige Lage (Bibliographie/Quellen/ Literatur S. 755)

1.

Übersicht

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Die nach ihrem bedeutendsten Führer und Organisator Jakob Hutter genannten Hutterischen Brüder sind aus der Täuferbewegung der Reformationszeit hervorgegangen, unterscheiden sich von den andern Täufern durch die Art ihrer Gütergemeinschaft und gehören neben den Schweizer Brüdern und den Mennoniten zu den drei Täufergruppen, welche bis heute überlebt haben (-»Täufer, -»Menno Simons/Mennoniten). Sie wohnen 25 in Nordamerika auf über 310 Bruderhöfen mit einer Bevölkerung von über 32000 und sind für Wissenschaftler wie auch Geistesverwandte Gegenstand unterschiedlichster Interessen geworden. 2.

Entstehimg

Der Gedanke der Gütergemeinschaft ist in der Reformationszeit von Humanisten, 30 Theologen und Revolutionären vorgetragen worden (-»Eigentum VI.2). Bei den Täufern findet er sich in verschiedenen Formen von Anfang an. Die Schweizer Täufer, die von -»Zwingli gelernt hatten, Eigentum nach göttlichem Recht als angemaßten Besitz zu werten, übernahmen den Gedanken als apostolisches Ideal aus Act 2; 4 f , während der von Thomas -»Müntzer geprägte Hans -»Hut und seine oberdeutschen Anhänger ihn 35 aus ihrer mystisch-endzeitlichen Geringschätzung des Kreatürlichen herleiteten (Gelassenheit). In der Praxis erlaubten die schweren Verfolgungen jedoch nur, daß man einander mit allem Vermögen beistand. Mancher wohlhabende Täufer verkaufte deshalb sein Hab und Gut. Eine auf der Grundlage der Gütergemeinschaft organisierte Gemeinde gab es aber erst seit dem Frühjahr 1528 in Austerlitz (Slavkov) in Mähren. 40 Unter der Führung von Jakob Widemann und Philip Jäger sonderten sich im Winter 1527/28 in Nikolsburg (Mikulov) eine Anzahl Täufer von der dort obrigkeitlich anerkannten Täufergemeinde ab, weil sie keinen Kriegsdienst leisten und keine Kriegssteuer zahlen wollten. Sie trafen sich s|att in der Kirche in den Häusern, nahmen täuferische Flüchtlinge fürsorgend auf und teilten ihr Gut mit ihnen. Als sie am 22. März 1528 selbst 45 ausgewiesen wurden und in Not gerieten, legten sie unterwegs ihre Habe zusammen und begannen in Austerlitz die erste Gütergemeinschaft. Es dauerte eine Reihe von Jahren, bis aus den Anfängen eine feste Ordnung erwachsen war. Entscheidenden Einfluß hatte dabei der Südtiroler Jakob Hutter (meist Hueter oder Huetter, heute auch Huter), der sich 1529 mit der Gemeinde in Austerlitz „vereinigte". Er 50 stammte aus Moos bei Bruneck und hatte 1528/29 die führende Stellung unter den Tiroler Täufern gewonnen. Nach seinem Besuch bei den „Gemeinschaftern" in Austerlitz kehrte

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er wieder nach Tirol zurück, wo die Mission der Täufer zugleich mit der heftigsten Täuferverfolgung ihren Höhepunkt erreichte, und schickte eine Täufergruppe nach der andern zu den Geschwistern in Mähren. Während der folgenden Jahre wurde er immer wieder dorthin gerufen, um in zahlreichen Streitigkeiten Entscheidungen zu fällen, was freilich durchweg zu Spaltungen und Neugründungen führte. Als er im November 1533 schließlich die Leitung der Gemeinde in Auspitz (Hustopece) übernahm, gab es vier konkurrierende Gütergemeinschaften: die Austerlitzer, die Philipper, die Gabrieler und die hueterisch gmain. Allein die Hutterischen Brüder überdauerten. Als Ursachen für die Entstehung der Gütergemeinschaft sind neben geistesgeschichtlichen Faktoren soziologische und politische zu nennen. Die Notsituation der Flüchtlinge in Nikolsburg und der von dort vertriebenen Täufer übte einen starken Druck aus. Auch in Tirol, woher die meisten Täufer in Mähren stammten, hatte die politisch-wirtschaftliche Konkurrenz zwischen dem Erzbischof von Brixen und der Regierung in Innsbruck eine Atmosphäre geschaffen, in der eine religiös begründete Veränderung auch der wirtschaftlichen Bedingungen ersehnt wurde. Der Versuch des Tiroler Bauernkriegführers Michael Gaismair, diese Veränderung herbeizuführen, war 1525/26 gescheitert. Die Bußpredigt Jakob Hutters und sein Angebot einer christlich-gesellschaftlichen Alternative in Mähren entsprachen solchen Erwartungen in anderer Weise. Einzelheiten über seinen Anteil an der Organisation der Gütergemeinschaft sind uns nicht überliefert. Aber die spätere Tradition anerkannte ihn als den maßgebenden Gründer der Gemeinschaft, obgleich er nur anderthalb Jahre ungestört in Auspitz wirken konnte. Schon im Mai 1535 wurde seine Gemeinde — man stand unter dem Eindruck der Berichte über das Täuferreich in Münster — aus Mähren ausgewiesen. Er selbst geriet ein halbes Jahr später bei neuer Missionstätigkeit in Südtirol in Gefangenschaft und wurde am 25. Februar 1536 in Innsbruck lebendig verbrannt. Noch im gleichen Jahr begannen seine Anhänger mit der Neugründung von Gütergemeinschaften in Mähren. 3. Geschichte, Organisation und geistiges Leben im 16. Jh. Die hutterischen Gemeinden, die ab 1536 in Mähren wieder Fuß faßten, konnten sich auf Grund des Wohlwollens des Adels und trotz der scharfen Mandate des Königs (-»Ferdinand I.) rasch entwickeln. Nur 1546 bis 1549, während und nach dem -»Schmalkaldischen Krieg, gab es wieder Verfolgungen. Bis dahin hatten sich 31 Gemeinden mit einer Bevölkerung von 5000 Täufern gebildet. Ab 1550 wuchs sowohl die Zahl wie auch der Wohlstand weiter, so daß während der „goldenen Jahre" (1565-1592) etwa 15000 bis 20000 in ungefähr 70 Gemeinden lebten. Organisatorisch waren sie einem Bischof unterstellt, der zusammen mit den etwa 35 „Dienern des Wortes" und den 70 „Dienern der Notdurft" (Geschäftsführern der einzelnen Gemeinden) ein keineswegs demokratisches Regiment führte. Innerhalb einer Gemeinde war nicht nur das private Eigentum aufgehoben, sondern auch die Familie; denn die Kinder wurden von Geburt an gemeinsam und mit Absicht getrennt von den Eltern erzogen. Die Frauen waren im Kindergarten und im Haushalt tätig, die Männer arbeiteten in der Landwirtschaft und (überwiegend) in einem der 36 Handwerke. Für alle Tätigkeiten entwickelte man Ordnungen, über deren Einhaltung je ein „Fürgestellter" wachte. Zahlreiche Glieder der Gemeinschaft arbeiteten im Dienst der Adligen und brachten dadurch nicht nur Geld, sondern auch die Wertschätzung ein, die für das Bleiben im gelobten Land nötig war. Das geistige Leben spiegelt sich in einer Fülle von Traktaten, Bekenntnissen, Briefen, Liedern, liturgischen und exegetischen Schriften, Predigten und im Geschichtbuch wider. Hervorzuheben sind die (Große) Rechenschaft von Peter Riedemann (1540) und das sog. Artikelbuch von Peter Walpot (1577). Wenn bei Walpot die Gütergemeinschaft noch abgeleitet wird aus der „wahren Gelassenheit", klingt damit zwar die durch Hans Hut eingebrachte mystische Denkweise Müntzers durch. Aber von der bei Hut so drängenden Naherwartung ist nichts mehr zu spüren. Hatte man sich anfangs vor den Wehen der

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Hutterische Brüder

Endzeit in den Schutz der Gemeinde gerettet, war man jetzt auf Dauer abseits der Welt eingerichtet. Die so perfekt durchorganisierte Gütergemeinschaft mutet an wie ein Versuch, die Utopia (-»Utopien/Utopisten) des T h o m a s - » M o r u s zu verwirklichen. Die Isolierung freilich gelang nicht ganz. M a n war wirtschaftlich noch auf die Welt angewiesen, und die Welt konnte die himmlische Enklave auf die Dauer auch nicht dulden. Das merkten besonders die Missionare, die man vor allem im letzten Drittel des Jh. in alle Welt schickte. Sie brachten zwar eine reiche Ernte ein, mußten aber auch mit Gefängnis und Tod dafür bezahlen. Das Kreuz war unvermeidlich geblieben. 4. Vertreibung,

Auflösung

und

Neugründung

Die Türkenkriege und die religiösen Machtkämpfe, die mit dem Dreißigjährigen Krieg apokalyptische Ausmaße annahmen, rissen von 1593 an die Hutterer aus ihrem Frieden. Als 1622 die schon stark dezimierten Bruderhöfe in Mähren aufgelöst wurden, wagte man einen Neuanfang in der Slowakei, hatte aber unter bedrückenden Umständen nur noch eine Galgenfrist. Andreas Ehrenpreis, von 1639 bis zu seinem Tod 1661 Bischof, versuchte, durch umsichtige Pflege der beachtlichen schriftlichen Überlieferung den Verfall aufzuhalten, konnte aber nicht verhindern, daß 1685 die Gütergemeinschaft aufgegeben wurde. Wohl hielt man noch als Gemeinde zusammen, doch standen die Familien jetzt ungeschützt unter dem Bekehrungsdruck der Jesuiten und waren nach weiteren 80 Jahren zwangsweise assimiliert. Als „ H a b a n e r " hatte man sie in der Slowakei bezeichnet. Der Name hat sie überlebt, indem er sich mit der von den Huttercrn ausgeübten FayenceKunst, der Habaner-Keramik verband. Daß damit die Geschichte der Hutterischen Brüder nicht zu Ende war, bewirkte die kleine Gruppe, die 1621 nach Siebenbürgen ausgewandert war und 1695 ebenfalls die Gütergemeinschaft aufgegeben hatte. 1756 lernten sie ein paar Lutheraner aus Kärnten kennen, die wegen ihres Glaubens nach Siebenbürgen zwangsverschickt waren und solchen Anteil an der Lehre der Hutterer nahmen, daß sie darauf drangen, die Gütergemeinschaft wieder einzuführen. Kaum hatte man das getan (1762), begann die Verfolgung von neuem. Uber die Walachei gelangten sie in die Ukraine (1770), wo sie während der 104 Jahre ihres Aufenthalts nacheinander an vier Orten lebten, davon 40 Jahre ohne Gütergemeinschaft (1819-1859). Die Einführung der Wehrpflicht veranlaßte sie, 1874 nach Nordamerika auszuwandern und in South Dakota ihren ersten Bruderhof dort zu gründen. 5. Gegenwärtige

Lage

Lebten 1880 in Nordamerika 443 Hutterer auf 5 Bruderhöfen, so gibt es heute über 32000 auf über 310 Höfen, fast alle in den Prairieprovinzen von Kanada sowie in South Dakota und Montana (USA). Das Wachstum ist nicht mehr von Mission, sondern von der Kinderzahl bestimmt. Die drei Gruppen (Schmiedeleut, Dariusleut, Lehrerleut) sind in der Denkweise, in Gebräuchen und im Aufbau der Gütergemeinschaft fast gleich. Rechtlich gilt jede der drei als Kirchenkonferenz, zusammengenommen sind sie die „Hutterische Kirche", vertreten durch einen Vorstand aus je drei Beauftragten, ö k o n o m i s c h e Grundlage ist die Landwirtschaft, die mit modernster Technik betrieben wird. Das starke Wachstum, das immer neue Landkäufe nötig macht, hat gelegentlich zu Spannungen mit der Umgebung geführt, zeitweise auch zur Beschränkung von Landerwerb. Ähnliche Spannungen gab es in den USA schon 1917/18 durch die Kriegsdienstverweigerung, die bis heute zu den festen Glaubenskonsequenzen der Hutterer gehört. Auf den Bruderhöfen leben durchschnittlich 90 Personen, von denen 49% unter 15 Jahre alt sind. Tatsächlich aber steigt die Personenzahl eines Hofes von etwa 60 bei der Gründung auf bis zu 160 bei der nächsten Teilung. Die Leitung hat ein Bruderrat mit dem Prediger an der Spitze, gewählt von den getauften Männern. Frauen ordnen sich in allem unter. Kinder bleiben bei ihren Eltern, sind aber Teil der Gemeinschaft. Ihre Erziehung in der Deutschen, der Englischen und der Sonntagsschule ist ganz auf die Integration in das

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Gemeinschaftsleben ausgerichtet. Die tägliche Arbeit ist wie die geistliche E r b a u u n g a n alten (Lese-)Predigten und Liedern Vorbereitung a u f das ewige Leben. Rege Beziehungen zur Außenwelt sind schon aus wirtschaftlichen Gründen notwendig, werden aber so eingeschränkt, d a ß die eigenen Wertvorstellungen nicht ins Wanken geraten. Z u gleichgesinnten Gruppen hat es mehrere M a l e Beziehungen gegeben. Beachtenswert sind die vier Bruderhöfe aus der Tradition Eberhard Arnolds, die sich zeitweise den Dariusleuten, seit 1 9 7 4 den Schmiedeleuten angeschlossen haben und sich seitdem Hutterian Society of Brothers nennen (-»Sozialismus, -»Religiöse Sozialisten). Jüngeren D a t u m s ist der Eindruck, den hutterisches Gedankengut auf japanische Christen g e m a c h t hat. Bibliographie Hans J . Hillerbrand, Bibliographie des Täufertums 1 5 2 0 - 1 6 3 0 , 1 9 6 2 ( Q G T 10 = Q F R G 30). Ders., A bibliography of Anabaptism 1 5 2 0 - 1 6 3 0 . A sequel: 1 9 6 2 - 1 9 7 4 , St. Louis 1975 (Sixteenth Century Bibliography 1). - Nelson P. Springer/A. J . Klassen, Mennonite Bibliography 1631-1961, 2 Bde., Scottdale 1977. Quellen Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, hg. v. Andreas Johannes Friedrich Zieglschmid, Ithaca 1943. - Andreas Erenpreiß, Brüderliche Gemeinschaft. Anno 1652, hg. v. den Hutterischen Brüdern, Cayley 1975. - Robert Friedmann, Die Schriften der Hutterischen Täufergemeinschaften. Gesamtkatalog... 1 5 2 9 - 1 6 6 7 , 1 9 6 5 (DÖAW.PH 86). - Glaubenszeugnisse oberdt. Taufgesinnter, I, hg. v. Lydia Müller, 1938; II, hg. v. Robert Friedmann, 1967 ( Q G T 3 u. 12 = Q F R G 20 u. 34). - Die Lieder der Hutterischen Brüdern in Kanada, Cayley 4 1974. — Adolf Mais, Gefängnis u. Tod der in Wien hingerichteten Wiedertäufer in ihren Briefen u. Liedern: J b . des Vereins f. Gesch. der Stadt Wien 19/20 (1963/64) 8 7 - 1 8 2 . - Peter Ridemann (Hg.), Rechenschaft unserer Religion, Lehre u. Glaubens, Cayley 3 1974. - Gottfried Seebaß, A Recently Discovered Hutterite Codex of 1573: MennQR 48 (1974) 2 5 5 - 2 6 4 . - Johannes Waldner, Das Klein-Geschichtsbuch der Hutterischen Brüder, hg. v. Andreas Johannes Friedrich Zieglschmid, Philadelphia 1947. Literatur Erich Buchinger, Die Gesch. der Kärntner Hutterischen Brüder in Siebenbürgen u. in der Walachei (1755-1770), in Rußland u. Amerika, Klagenfurt 1982, auch: Carin.I. 172 (1982) 145 - 3 0 4 . Bertha W. Clark, Die Hutterischen Gemeinschaften, Leipzig 1929. — Claus-Peter Clasen, Anabaptism. A Social History, 1 5 2 5 - 1 6 1 8 , Ithaca 1972. - Hans Fischer, Jakob Huter. Leben, Froemmigkeit, Briefe, 1956 (MennHS 4). - David Flint, The Hutterites. A study in prejudice, Toronto 1975. Leonard Gross, Jakob Huter: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Radikale Reformatoren. 21 biographische Skizzen, München 1978, 1 3 7 - 1 4 5 . - Ders., The Golden Years of the Hutterites. 1565-1578, 1980 (SAMH 23) (Lit.). - Joshua Hofer, Japanese Hutterites, Elie [1981]. - Michael Holzach, Das vergessene Volk. Ein Jahr bei den dt. Hutterem in Canada, Hamburg 1980. - Irvin B. Horst, De hulp van Nederlandse Doopsgezinden aan de Hutterse Broeders in Slowakije in de 17e en 18e eeuw: Doopsgezinde Bijdragen, nieuwe reeks 8 (1982) 3 3 - 4 7 . - John A. Hostetier, Hutterite Society, Baltimore 1980 (Lit.). — Die Hutterischen Täufer. Gesch. Hintergrund u. handwerkliche Leistung, hg. v. Ingolf Bauer/ Christa Zimmermann, München/Weierhof 1985. - Frantisek Kalesny, Habäni na Slovensku, Bratislava 1981 (Die Habaner in der Slovakei). - Imre Katona, A habän kerämia Magyarorszagon, Budapest 1976 (Die Habaner-Keramik in Ungarn). - Bernd G. Längin, Die Hutterer, Hamburg/ Zürich 1986. - Johann Loserth, Der Communismus der mährischen Wiedertäufer im 16. u. 17. Jh.: AÖG 81 (1894) 1 3 5 - 3 2 2 . - Christoph Möhl, Die Herren v. Liechtenstein u. die Wiedertäufer in Mähren: Jb. des hist. Vereins f. das Fürstentum Liechtenstein 77 (1977) 1 1 9 - 1 7 1 . - Werner O. Packull, „A Hutterite Book of Medieval Origin" Revisited: MennQR 56 (1982) 1 4 7 - 1 6 8 . - HansDieter Plumper, Die Gütergemeinschaft bei den Täufern des 16. J h . , 1972 (GAB 62). - Kurt Rein, Rel. Minderheiten als Sprachgemeinschaftsmodelle. Dt. Sprachinseln täuferischen Ursprungs in den Vereinigten Staaten v. Amerika, Wiesbaden 1977 (Zs. f. Dialektologie u. Linguistik, Beih., NF 1 5 ) . - J e a n Runzo, Hutterite Communal Discipline, 1529-1565: ARG 71 (1980) 1 6 0 - 1 7 9 . - John Ryan, The Agriculture Economy of Manitoba Hutterite Colonies, Toronto 1977 (The Carlton Library 101). Herfried W. Scheer, Stud. zum Wortschatz der Mundart der Hutterischen Brüder (Diss. Montreal 1972), Ottawa 1979. - Donovan E. Smucker, The Sociology of Canadian Mennonites, Hutterites and Amish. A Bibliography with Annotations, Waterloo 1977. - James M . Stayer, Neue Modelle eines gemeinsamen Lebens. Gütergemeinschaft im Täufertum: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Alles gehört

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Hymnen I

allen. Das Experiment Gütergemeinschaft vom 16. Jh. bis heute, München 1984, 2 1 - 4 9 . - Gary J. Waltner, The educational system of the Hutterian Anabaptists and their Schulordnungen of the 16th and 17th centuries, Vermillion 1975. — Rudolf Wolkan, Die Hutterer, österreichische Wiedertäufer u. Kommunisten in Amerika, Nieuwkoop 1965. - J . K . Zeman, Historical Topography of Moravian Anabaptism: M e n n Q R 40 (1966) 266-278; 41 (1967) 4 0 - 7 8 . 1 1 6 - 1 6 0 . - Ders., T h e Anabaptists and the Czech Brethren in Moravia 1525-1628, T h e Hague 1969 (Studies in European History 20).

Heinold Fast Hymnen I. Westliche Kirche II. Orthodoxe Kirche

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I. Westliche Kirche 1. Die Anfänge 2. Der ambrosianische Hymnus 3. Die spanische Tradition 4. Italien ( 5 . - 6 . Jh.) 5. Gallien ( 4 . - 6 . Jh.) 6. Irland und das angelsächsische England 7. Die karolingische Renaissance 8. Die deutschen Klöster 9. Tropen und Sequenzen 10. Italien (11. Jh.) 11. Frankreich (11.-12. Jh.) 12. Abaelard 13. Adam von St. Viktor 14. T h o m a s von Aquin und die Franziskaner (Quellen/Literatur S. 762)

1. Die Anfänge Hymnen, laus Dei in cántico, wie Augustin sagt, sind seit den Zeiten der Apostel fester Bestandteil des christlichen Gemeindegottesdienstes (Mk 14,26; Mt 26,30); die Paulusbriefe (Kol l,15ff; I Tim 6,15f) und das Lukasevangelium (1,46ff; 1,68ff; 2,29f) bieten frühzeitig Beispiele. Außerhalb der jüdischen Gemeinden findet man Zeugnisse über die Hymnendichtung der ersten drei Jahrhunderte hauptsächlich in den Schriften der griechischen Kirchenväter, besonders bei -»Clemens von Alexandrien und Methodius; die Schriftsteller des späten vierten Jahrhunderts, wie -»Gregor von Nazianz und -»Synesius, konnten auf eine ziemlich lange Tradition griechischer Hymnendichtung zurückgreifen (vgl. Eusebius, h.e. 5,28,5). -•Tertullian (Apol. 39,18) und -»Cyprian (ad Donat. 16) geben Hinweise auf die liturgische Praxis des Westens. Das Gloria in excelsis (s.W. Stapelmann, Der Hymnus Angelicus, Heidelberg 1948) ist der älteste Hymnus in lateinischer Sprache, den wir kennen. Vor Ambrosius, dem großen Wegbereiter der lateinischen Hymnendichtung, hatte schon -»Hilarius von Poitiers in Gallien einen Liber hymnorum zusammengestellt, von dem noch drei Fragmente erhalten sind (ed. A. Feder, CSEL 65, 209 ff und AHMA 1,1 ff; vgl. Bulst 31 ff; M. Pellegrino: VigChr 1 [1947] 201-226). Bei zweien handelt es sich um Hymnen, die in ihren Versanfängen dem Alphabet (Abecedarius) folgen, der eine von ihnen ist im Elykoneus/Asklepiadeus, andere in jambischen Senaren abgefaßt, der dritte besteht aus trochäischen Tetrametern. Sie wurden als antiarianische Polemik nach der Rückkehr des Hilarius aus der Verbannung in der Provinz Asia geschrieben (um 360). -»Marius Victorinus, der sich vom Neuplatonismus zum Christentum bekehrt hatte, wurde in Italien zu einem Vorläufer des Ambrosius, seine drei Hymnen über die Trinität sind freilich eher psalmodische Prosa als Dichtung. -»Nicetas von Remesiana war Zeitgenosse des Ambrosius; möglicherweise ist er der Verfasser des Te Deum (s. E. Kähler, Studien zum Te Deum, Göttingen 1958). Die Vorläufer und Zeitgenossen des Ambrosius schrieben entweder in klassischen Versmaßen oder benutzten Prosa ohne regelmäßigen akzentuierten Rhythmus;-» Augustin entwickelte diese freie Prosa in seinem Psalm gegen die Donatisten (Text C. Lambot: RBen 47 [1935] 312-330), den er in sechzehnsilbigen Versen schrieb. 2. Der ambrosianische

Hymnus

Neu war, daß -»Ambrosius secundum morem orientalium partium (Augustin, Conf. 9,7,15) Hymnen für den Wechselgesang zwischen Chor und Gemeinde verfaßte, die aus

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Hymnen I

allen. Das Experiment Gütergemeinschaft vom 16. Jh. bis heute, München 1984, 2 1 - 4 9 . - Gary J. Waltner, The educational system of the Hutterian Anabaptists and their Schulordnungen of the 16th and 17th centuries, Vermillion 1975. — Rudolf Wolkan, Die Hutterer, österreichische Wiedertäufer u. Kommunisten in Amerika, Nieuwkoop 1965. - J . K . Zeman, Historical Topography of Moravian Anabaptism: M e n n Q R 40 (1966) 266-278; 41 (1967) 4 0 - 7 8 . 1 1 6 - 1 6 0 . - Ders., T h e Anabaptists and the Czech Brethren in Moravia 1525-1628, T h e Hague 1969 (Studies in European History 20).

Heinold Fast Hymnen I. Westliche Kirche II. Orthodoxe Kirche

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I. Westliche Kirche 1. Die Anfänge 2. Der ambrosianische Hymnus 3. Die spanische Tradition 4. Italien ( 5 . - 6 . Jh.) 5. Gallien ( 4 . - 6 . Jh.) 6. Irland und das angelsächsische England 7. Die karolingische Renaissance 8. Die deutschen Klöster 9. Tropen und Sequenzen 10. Italien (11. Jh.) 11. Frankreich (11.-12. Jh.) 12. Abaelard 13. Adam von St. Viktor 14. T h o m a s von Aquin und die Franziskaner (Quellen/Literatur S. 762)

1. Die Anfänge Hymnen, laus Dei in cántico, wie Augustin sagt, sind seit den Zeiten der Apostel fester Bestandteil des christlichen Gemeindegottesdienstes (Mk 14,26; Mt 26,30); die Paulusbriefe (Kol l,15ff; I Tim 6,15f) und das Lukasevangelium (1,46ff; 1,68ff; 2,29f) bieten frühzeitig Beispiele. Außerhalb der jüdischen Gemeinden findet man Zeugnisse über die Hymnendichtung der ersten drei Jahrhunderte hauptsächlich in den Schriften der griechischen Kirchenväter, besonders bei -»Clemens von Alexandrien und Methodius; die Schriftsteller des späten vierten Jahrhunderts, wie -»Gregor von Nazianz und -»Synesius, konnten auf eine ziemlich lange Tradition griechischer Hymnendichtung zurückgreifen (vgl. Eusebius, h.e. 5,28,5). -•Tertullian (Apol. 39,18) und -»Cyprian (ad Donat. 16) geben Hinweise auf die liturgische Praxis des Westens. Das Gloria in excelsis (s.W. Stapelmann, Der Hymnus Angelicus, Heidelberg 1948) ist der älteste Hymnus in lateinischer Sprache, den wir kennen. Vor Ambrosius, dem großen Wegbereiter der lateinischen Hymnendichtung, hatte schon -»Hilarius von Poitiers in Gallien einen Liber hymnorum zusammengestellt, von dem noch drei Fragmente erhalten sind (ed. A. Feder, CSEL 65, 209 ff und AHMA 1,1 ff; vgl. Bulst 31 ff; M. Pellegrino: VigChr 1 [1947] 201-226). Bei zweien handelt es sich um Hymnen, die in ihren Versanfängen dem Alphabet (Abecedarius) folgen, der eine von ihnen ist im Elykoneus/Asklepiadeus, andere in jambischen Senaren abgefaßt, der dritte besteht aus trochäischen Tetrametern. Sie wurden als antiarianische Polemik nach der Rückkehr des Hilarius aus der Verbannung in der Provinz Asia geschrieben (um 360). -»Marius Victorinus, der sich vom Neuplatonismus zum Christentum bekehrt hatte, wurde in Italien zu einem Vorläufer des Ambrosius, seine drei Hymnen über die Trinität sind freilich eher psalmodische Prosa als Dichtung. -»Nicetas von Remesiana war Zeitgenosse des Ambrosius; möglicherweise ist er der Verfasser des Te Deum (s. E. Kähler, Studien zum Te Deum, Göttingen 1958). Die Vorläufer und Zeitgenossen des Ambrosius schrieben entweder in klassischen Versmaßen oder benutzten Prosa ohne regelmäßigen akzentuierten Rhythmus;-» Augustin entwickelte diese freie Prosa in seinem Psalm gegen die Donatisten (Text C. Lambot: RBen 47 [1935] 312-330), den er in sechzehnsilbigen Versen schrieb. 2. Der ambrosianische

Hymnus

Neu war, daß -»Ambrosius secundum morem orientalium partium (Augustin, Conf. 9,7,15) Hymnen für den Wechselgesang zwischen Chor und Gemeinde verfaßte, die aus

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acht vierzeiligen Strophen in jambischen Dimetern mit geringem Hiatus (oder einer Eli-sion) oder ohne wiederkehrenden Reim bestanden. Ihr Erfolg war so groß, daß sie über ein Jahrtausend immer wieder von unbekannten Dichtern nachgeahmt wurden, so daß es erwiesenermaßen schwer ist, zwischen Hymnen des Ambrosius und denen der späteren ambrosianischen Tradition zu unterscheiden. Von etwa vierzig Hymnen, die in der Mailänder Liturgie verwendet wurden, sind zwischen zehn und vierzehn Ambrosius zugeschrieben worden; vier von ihnen sind durch Augustin bezeugt (Aeterne rerum conditor, Deus creator omnium, Ititende qui regis Israel, lam surgit hora tertia). Die arianischen Kämpfe waren der Anlaß auch für diese Hymnen, deren Inhalt biblische und dogmatische Themen sind. Sie zeichnen sich aus durch „a rocklike firmness, the old Roman Stoicism transmuted into that nobler Christian courage which at length overcame the world" (Trench 88; s. a. Dreves, Aurelius Ambrosius; Bulst 39ff; Simonetti; Bolisani; Sesini). Das ambrosianische Hymnarium bildet die Grundlage für den Cursus des -»Benedikt von Nursia (vgl. Blume, Cursus). 3. Die spanische

Tradition

Das Neue, das Ambrosius mit seiner Hymnendichtung eingeführt hatte, erwies sich sofort als erfolgreich, insofern -»Prudentius, einer der bedeutendsten christlichen lateinischen Dichter, diese Form übernahm und damit ihre Bedeutung unterstrich. In der Hälfte der Hymnen des Uber Cathemerinon und in einigen des Liber Peristephanon wetteiferte er mit Ambrosius im Gebrauch des jambischen Dimeters; die übrigen schrieb er in verschiedenen anderen Versmaßen. Die Hymnen des Prudentius wären unverändert für den liturgischen Gebrauch zu literarisch und auch zu lang gewesen, doch wurden Teile von ihnen für das alte spanische Hymnarium bearbeitet und für die eigenständige mozarabische Liturgie, die während des 11. Jh. in Blüte stand. (Uber Prudentius s. die Ausgabe von M.P. Cunningham, CChr. SL126,1966,dort auch Lic.; über die mozarabische Hymnologie s. A H M A 27 und Szöverffy, Iberian Hymnody, dort auch Lit.) 4. Italien (5.-6.

Jh.)

In Italien führte im 5. Jh. Sedulius die ambrosianische Tradition fort. Er hat das lange Carmen paschale geschrieben, dessen Hymnus A solis ortus cardine ein Abecedarius ist, der aus dreiundzwanzig gereimten Strophen besteht (Text in A H M A 50; ein Ausschnitt von sieben Strophen findet sich im römischen Brevier). Ihm folgte im frühen 6. Jh. —»Ennodius, dessen zwölf noch vorhandene Gedichte (Text a. a. O.) den ersten vollständigen Marienhymnus und Texte zur Feier von Heiligentagen und kirchlichen Festen enthalten. Der bedeutendste italienische Hymnendichter des 6. Jh. war jedoch -»Venantius Fortunatus, der, um 535 bei Ravenna geboren, sich nach einer Pilgerfahrt zum Grabe des hl. - » M a r t i n von Tours im Gallien des Merowingerreiches niederließ und Bischof von Poitiers wurde. Von den sieben Hymnen, als deren Verfasser er in A H M A 50 gilt (auch Leo/Krusch, M G H . AA 4), sind mit Sicherheit vier von ihm, und zwar Fange lingua in Trochäen und Vexilla regis in Jamben - beide hat er als Jubelgesänge anläßlich der Ankunft der Reliquien des hl. Kreuzes in Poitiers gedichtet - , Crux benedicta nitet und Tempore florígero, das die Ostertaufe besingt, schrieb er in elegischen Paarversen. In diesen Hymnen stellt Venantius Fortunatus die paulinischen Antithesen - alter und neuer Adam, die Bäume von Eden und Golgatha, Tod und Auferstehung - in der ganzen Kraft biblischer Symbolik dar: Das Kreuz ist der Baum, der Frucht trägt; Christus ist der Weinstock; das Opfer ist zugleich der Erlöser. Diese Gedichte gingen in das römische Brevier ein und wurden zu einem wesentlichen Bestandteil der Liturgie der Karwoche (vgl. Szovérffy, Prolegomena und Venantius Fortunatus). 5. Gallien (4 -6. Jh.) Schon vor Venantius blühte in Gallien, besonders in Aquitanien, während des späten 4. und 5. Jh. eine inzwischen verchristlichte, lebendige lateinische Kultur. Ausonius (ca.

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310-395) schrieb zu besonderen Gelegenheiten literarische Hymnen (s. die Ausgabe v. A. Pastorino, Turin 1971, im Blick auf sein orthodoxes Bekenntnis zur Trinität und seine Versus paschales), und sein Schüler -»Paulinus von Nola verfaßte Psalmenparaphrasen und sammelte später einen Uber hymnorum, der heute verloren ist (Gennadius, Vir. III. 49; Hymnen CSEL 30, ed. W. v. Härtel, 7 - 9 ) . -»Cäsarius, Bischof von Arles, und sein zweiter Nachfolger Aurelianus (546-551) verfaßten eine Nonnenregel, in der Hymnen des Ambrosius sowie solche unbekannter Dichter enthalten sind (aufgeführt bei Blume, Cursus 37 und Bulst 91 ff; vgl. J. Angles, S. Cesare d'Arles et le chant des hymnes: MaisonDieu 92 [1967] 73ff). 6. Irland und das angelsächsische England Das Christentum war über Gallien und Britannien nach -»Irland gelangt; das Antiphonar von Bangor (gesammelt in Bangor zwischen 680 und 690, hg. v. F.E. Warren, Henry Bradshaw Society, London 1893-95) und der Uber Hymnorum (hg. v. J.H. Bernard/R. Atkinson, Henry Bradshaw Society, London 1898; auch in AHMA 51) des 11. Jh. bezeugen die Entwicklung der dortigen Hymnendichtung. Der älteste irische Hymnus, den wir kennen, Audite omnes amantes Deum, ist ein Panegyricus auf den hl. Patrick (-»Patricius); als Verfasser gilt sein Schüler Secundinus (Sechnall, 5. Jh.). Dieses Gedicht zeigt schon im großen Ganzen jene Züge, die für die irischen Hymnen charakteristisch sind, nämlich Versanfänge, die dem Alphabet folgen und ein trochäisches Metrum, das Alliterationen und Assonanzen ermöglicht. Genau dies gilt für Altus prosator, der Überlieferung nach von -»Columba von Iona zum Lobe der Dreifaltigkeit verfaßt; der Hymnus ist ein Abecedarius in schweren Trochäen, regelmäßigen Reimen und hin und wieder mit irischer Diktion. Eine genaue Betrachtung der irischen Hymnensammlungen erlaubt folgende allgemeine Charakterisierung: Die hervorstechenden Züge dieser Gedichte sind alphabetische Versanfänge, eindrucksvoller Reim, Rhythmus auf Grund abgezählter Silben, Alliterationen und eine sonderbar anmutende hisperische Latinität, mit gelegentlich auftauchenden hebräischen und griechischen Wörtern. Der irische Uber hymnorum, eine Sammlung, die eher aus antiquarischen als aus liturgischen Motiven abgefaßt wurde, ist Hymnus für Hymnus mit Einführung (Autor, Herkunft), Bibeltext, Glossen und liturgischen Zuordnungen versehen. Die angelsächsischen Hymnendichter sind stark von der irischen Tradition beeinflußt; die bedeutendsten unter ihnen sind Aethelwald, ein Schüler Aldhelms von Malmesbury (ca. 640-709), und -»Beda Venerabiiis. Beda verfaßte einen Uber hymnorum diverso metro sitze rhythmo (Hist. Eccl. V, 24). In AHMA 50 finden sich 16 seiner Hymnen, von ihnen sind die meisten in jambischen Dimetern geschrieben (s.W. Bulst, Bedae opera rhythmica: ZDA 89 [1958/59] 83-91), doch beherrschte Beda auch andere Metren meisterhaft; so ist der schönste seiner Hymnen, der Abecedarius Alma deus trinitas (Hist. Eccl. IV, 20) zur Ehre der hl. Aethelthryd in elegischen Paarversen geschrieben und epanaleptisch aufgebaut, d. h. die erste Hälfte des Hexameters wird in der zweiten Hälfte des Pentameters wiederholt - diese Form geht auf Ovid zurück und wurde seit der Karolingerzeit häufig von den Hymnenschreibern angewendet; ein anderes Gedicht, De die iudicii, ein bedeutender Vorläufer des Dies irae, hat er in Hexametern geschrieben. -»Alkuin von York setzte die gelehrte angelsächsische Tradition fort, aber der Niedergang des Mönchtums in der Folgezeit verhinderte bis ins 10. Jh. eine weitere Entwicklung der Hymnendichtung in England, als Wulfstan von Winchester (gest. 990) eine größere Anzahl Hymnen und Sequenzen zu Ehren englischer Heiliger schrieb (Texte in AHMA 37.40.48.49.51). 7. Die Karolingische

Renaissance

Alkuin spielte als Vermittler des Lateinischen während der -»karolingischen Renaissance eine führende Rolle, aber seine zehn von Dümmler gesammelten Hymnen (MGH. PL I, auch in AHMA 50 - außer der akrostichischen Dichtung Crux decus es mundi)

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zeichnen sich eher durch Gelehrsamkeit als durch dichterischen Schwung aus. Paulus Diaconus (ca. 720-799) werden in AHMA 50 drei Stücke zugeschrieben, von denen Ut queant laxis resonare (ein Hymnus in sapphischer Strophe zur Ehre Johannes des Täufers) für eine der besten Hymnen der frühen Karolingerzeit gehalten wird, doch ist nicht gesichert, daß Paulus der Verfasser war. Paulinus von Aquileja (vor 7 5 0 - 802), dem Dreyes in AHMA 50 neun Hymnen zuweist, war ein gelehrter Theologe, dessen Dichtungen eine in die Tiefe gehende Meditation der Heiligen Schrift und eine gute Kenntnis des Prudentius zeigen. Norberg (91 f) schreibt ihm die berühmte, für Gründonnerstag geschriebene Caritashymne, Ubi Caritas et amor, zu - doch muß auch das reine Vermutung bleiben. Zusammen mit Paulinus überragt Theodulf von Orleans (750/60-821) die meisten Hytnnendichter der Karolingerzeit; von den vier schönen Hymnen, die ihm in AHMA 50 zugeschrieben werden, war Gloria laus et honor der traditionelle Prozessionsgesang an Palmsonntag. Ganz allgemein gilt, daß in der Karolingerzeit als durchgängiger Zug die Weiterentwicklung klassischer Leitbilder und Maßstäbe zu erkennen ist; es spiegelt sich darin die zunehmende Bedeutung der klassischen Autoren bei der Erziehung des Klerus. 8. Die deutschen

Klöster

Die karolingische Bildungsreform hatte eine deutlich erkennbare Wirkung auf die deutschen Klöster. ->Hrabanus Maurus, Schüler Alkuins von Tours und später Abt von Fulda sowie Erzbischof von Mainz, war ein fruchtbarer Dichter - vorausgesetzt, die siebenundzwanzig Hymnen, als deren Verfasser er in AHMA 50 gilt, wären alle von ihm; Strecker und andere bezweifeln das allerdings. Raby spricht von seiner „strengen und einfältigen Frömmigkeit", die „kaum einen Funken poetischen Gefühls" verrate; nach diesem Urteil ist auch die Überlieferung zweifelhaft, Hrabanus sei der Verfasser von Veni creator spiritus, jenes Hymnus, der zur Weihe von Bischöfen und Herrschern gesungen wurde, obwohl er in diese Zeit gehört. Walahfrid Strabo (808/9-849) von der Reichenau, ein Schüler Hrabans, hatte eine größere dichterische Begabung. Seine elf Hymnen in AHMA 50 lassen ein umfassendes Verständnis für die klassische und christliche Dichtung erkennen. -»Gottschalk der Sachse — der heterodoxe Theologe — war, wie sein Freund Walahfrid, von beeindruckender Gelehrsamkeit; ihm werden in AHMA 50 nur sechs Hymnen zugeschrieben, doch haben Strecker/Schumann (MGH. PL 6,1,86 ff) seine Verfasserschaft für zehn weitere nachgewiesen. Gottschalk klagt in ihnen aufs heftigste über die Schuld des Menschen und freut sich zugleich der Hoffnung auf die göttliche Gnade. Ein anderer Schüler Hrabans war Lupus von Ferneres (ca. 805 — nach 862). Er hat zwei Hymnen zu Ehren des hl. Wigbert geschrieben (AHMA 23,292f). 9. Tropen und Sequenzen Noch berühmter als Fulda war das Benediktinerstift St. Gallen, wo Ratpert (gest. nach 884), Hartmann der Jüngere (gest. 924) und Waldram (10. Jh.) höchst bemerkenswerte Hymnen schrieben (AHMA 50) und wo der Versus (Prozessionsgesang mit Refrain), die Susceptula regum (Hymnus zur Begrüßung eines neuen Herrschers), die Sequenz und der Tropus eine bedeutende Entwicklung erfuhren. Der Tropus war ursprünglich eine Glosse auf Introitus, Kyrie, Graduale, Offertorium und Herrenmahl. Der älteste noch vorhandene Tropus stammt aus der Mitte des 10. Jh. aus dem Kloster St. Martial in Limoges; er beginnt in Prosa und entwickelt dann allmählich Reim und Assonanz. Ganz ähnlich wie der Tropus entstand auch die Sequenz aus dem Meßgesang, und zwar wurde am Ende des Graduale das Schluß-a des eben gesungenen Alleluja in eine Choralmelodie übergeleitet, die man Jubilus nannte. Ursprünglich war der Begriff Sequenz nur ein Synonym zu Jubilus, später wurde allerdings das verlängerte Schluß-a durch einen eigenen Text ersetzt, den man Prose oder Sequenz nannte; die poetische Form entwickelte sich im Laufe der Zeit aus einer anfangs unrhythmisierten Prosa. W. von den Steinen (Die Anfänge) hat nachgewiesen, daß Sequenz und Tropus etwa 830, vielleicht auch ein wenig später, in Frankreich entstanden sind, eine Generation bevor Notker Balbulus (ca. 840-912) sie in

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mehr poetischer Gestaltung in St. Gallen einführte. Notker beschreibt in der Vorrede zu seinem Liber hymnorttm, wie ein Mönch aus Jumieges, der St. Gallen besuchte, ein Antiphonar mitbrachte, in dem die Wörter ziemlich grob unter dem Jubilus standen, und er, Notker, sei dadurch angeregt, aber auch von seinem Lehrer Iso aufgefordert worden, die Sequenz Psallat ecclesia für eine Kirchweihe zu dichten. In seiner wichtigen Arbeit über die Leistung Notkers (Notker der Dichter) hat W. von den Steinen vierzig Sequenzen herangezogen und mit Kommentaren versehen. Während die französischen Sequenzen eher unorganisch und nicht ausgefeilt sind, ist die deutsche Form, die von Notker geschaffen wurde, besser stilisiert und in gepflegterem Latein — auf der Suche nach Rhythmus und Reim löste sich diese Dichtung von den Fesseln der Allelujamelodie. Zwei weitere Sammlungen des späten neunten Jahrhunderts aus Verona und St. Emmeram in Regensburg bestätigen das Bild, das wir von der Frühzeit der Sequenzendichtung haben. St. Gallen ist demnach grundlegend für die Entwicklung dieser Dichtung; mit Wipo (gest. nach 1046), dem Victimae paschalt zugeschrieben wird, Gottschalk von Aachen (11. Jh.), der als Verfasser von 23 Sequenzen in AHMA 50 gilt, und Hermann von Reichenau (Herimannus contractus, 1013-1054), der die berühmten Antiphonen Alma redemptoris mater und Salve regina, aber auch Sequenzen gedichtet hat, gelangt die Sequenzdichtung auf eine mittlere Höhe, um ihren Gipfel im 12. Jh. mit den berühmten victorinischen Sequenzen zu erreichen. 10. Italien (11. Jh.) Das 11. Jh. zeugt von einer Blüte der italienischen Hymnendichtung auf dem Monte Cassino, wo Alberich (11. Jh.) und der begabte Alphanus von Salerno (1015/20-1085) die wichtigsten Gestalten sind. Letzterer schrieb zu Ehren einzelner Heiliger mehr als dreißig Hymnen; sie sind gesammelt bei A. Lentini (BISI 69 [1957] 213-242). Der bedeutendste Hymnendichter des 11. Jh. ist freilich -»Petrus Damiani, der in AHMA als Verfasser von nicht weniger als 65 Dichtungen gilt. Die meisten davon wurden zu Ehren der Jungfrau Maria oder für Festtage des Kirchenjahres geschrieben. Der größte Teil dieser Hymnen wurde bemerkenswerterweise in rhythmischen gereimten Strophen geschrieben; das übrige in qualitativen Metren ist nicht so gelungen, weil R Damianis rhetorisches Pathos mehr für akzentuierte Verse geeignet ist - das läßt sich sehr gut an O quam dira, einer bewegten Schilderung der Höllenqualen, und an Degloria Paradist erkennen. (Über Petrus Damiani s. A. Wilmart: RBen 41 [1929] 342-357; O. J. Blum, St. Peter Damian, Washington 1947.) 11. Frankreich (11.-12.

Jh.)

Das 11. und 12. Jh. hindurch brachten die Domschulen und Klöster in Frankreich eine Fülle sehr schöner Hymnen hervor. Fulbert von Chartres (ca. 960-1028),der Erneuerer des christlichen wissenschaftlichen Lebens, schrieb seine Hymnen eher aus literarischem als aus liturgischem Interesse; von den zwölfen, als deren Verfasser er in AHMA 50 genannt wird, stammen mit Sicherheit nur drei von ihm (s.F. Behrends, The Letters and Poems of Fulbert of Chartres, Oxford 1976), die anderen wurden jedoch in seiner Schule (-»Chartres) angefertigt. Weitere wichtige Gestalten sind Marbod von Rennes (ca. 1035-1123), dessen Cum recordor das Thema von Dies irae vorwegnimmt, Balderich von Bourgeuil (1046-1130), Guido von Bazoches (gest. 1203), dessen Sequenzen und Hymnen seine bemerkenswerte Fertigkeit in der Kunst des Reimens erkennen lassen (AHMA 50), Petrus Venerabiiis (ca. 1092-1156), dessen Stücke in klassischen Metren etwas hölzern wirken, während seine gereimten Hymnen gelungen sind (s. AHMA 48); weiter zu nennen sind -»Bernhard von Clairvaux, der allerdings Dulcis Jesu memoria nicht geschrieben hat, und -»Stephan Langton, dem die „goldene Sequenz" Veni sancte Spiritus zugeschrieben wird. 12. Abaelard -»Abaelard ist unter den Hymnendichtern des 12. Jh. das ursprünglichste und kraft-

Hymnen I

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vollste Talent. Auf Bitten Heloisens und ihrer Klostergemeinschaft schrieb er in seinem Paralcletenoratorium Hymnen für den gesamten Jahreskreis, den Hymnarius Paraklitensis (hg.v. J. Szöverffy, 2 Bde., Albany/N.Y. 1975). Dieser Hymnarius besteht aus drei Teilen: Hymrti nocturnales et diurni (29 Hymnen für die täglichen Stundengottesdienste), Hymni festorum (47 Hymnen für die großen Feste) und Hymni sanctorum (57 Hymnen für Heiligentage). Obwohl diese Dichtungen bekannte Motive und Verfahren aufnehmen (z. B. die typologische Deutung von Vorbildern des Alten Testaments, gelehrte Erläuterungen des mehrfachen Schriftsinnes, geistvolle Zitation inzwischen klassischer Hymnen), finden sich eindrucksvolle originäre Elemente in Inhalt und Stil, die vom Leser sehr genaue Beachtung und Überlegung verlangen. Abaelard schrieb auch noch eine Reihe von Planctus oder Klagen über bestimmte Themen des Alten Testaments, wie z.B. den Tod der Tochter Jephtas (vgl. die Ausgabe von W. Meyer, Erlangen 1890 und G. Vecchi, Modena 1951). 13. Adam von St. Viktor Eine andere herausragende Gestalt zur Zeit Abaelards war Adam von St. Viktor (ca. 1110-1192), der bedeutendste Schöpfer von Sequenzen. Gewiß hatten schon gegen Ende des 11. Jh. manche Sequenzen jene Vollendung im Technischen erreicht, die wir von den Arbeiten Adams kennen, nämlich eine vollkommene Entsprechung von Wortakzent und Versgewicht, regelmäßige Zäsur, konsequenten Doppelsilbenreim und die Verbindung von acht- und siebensilbigen Strophen. In AHMA 54 sind 45 Sequenzen aus den frühesten viktorinischen Gradualen ausgewählt und wegen ihrer Formvollendung Adam zugeschrieben worden; das allein vermag freilich nichts über die Verfasserschaft Adams auszusagen, doch steht soviel fest, daß diese Hymnen in der Abtei St. Viktor entstanden sind. Salve mater salvatoris, die bekannteste der Sequenzen, die ihm zugeschrieben werden, zeigt sowohl die Popularität des Marienthemas als auch die Vorliebe für kunstvolle Symbolik, die zu einem Kennzeichen der viktorinischen Sequenz wurde. Ein anderer Augustiner, Alexander Neckham (1157-1217), zeigt in seinen Sequenzen, die er über Maria und Maria Magdalena schreibt, genau diese Vorliebe für Mystik und Allegorie, und -»Philipp der Kanzler dichtete ebenso vorzügliche Hymnen über dieselben Themen (Neckhams Gedichte in AHMA 48, Philipps in AHMA 52). 14. Thomas von Aquin und die Franziskaner Auf Grund des Beitrags, den die neuen Orden leisteten, erreicht die lateinische Hymnendichtung im 13. Jh. ihren absoluten Höhepunkt. -»Thomas von Aquin, der bekanntlich Dominikaner war, dichtete auf Befehl Papst Urbans IV. ein Officium de Corpore Christi zum Fronleichnamsfest. In der Sequenz Lauda Sion salvatorem, dem Vesperhymnus Pange lingua gloriosi und dem Hymnus für die Laudes Verbum supernum bringt Thomas die Lehre von der Gegenwart Christi im Abendmahl in sehr schöne gereimte Verse; dieselbe Lehre hatte er mehr formal in seiner Summa Theologiae (III, q. 75-77) abgehandelt. Es dürfte auch ziemlich sicher sein, daß er den Hymnus Adoro te devote (s. F. J. E. Raby, The Date and Authorship of the Poem Adoro te devote: Speculum 20 [1945] 236-238) verfaßt hat. Einige andere bedeutende Hymnen, die gegen Ende des Jahrhunderts geschrieben wurden, sind von den Dichtungen des Aquinaten beeinflußt. Im Gegensatz zu der disziplinierten philosophischen Dichtung des hl. Thomas sind die Beiträge der franziskanischen Hymnenschreiber eher individuell und realistisch, sie konzentrieren sich besonders auf Passion und Kreuzigung Christi. Thomas von Celano (ca. 1190— ca. 1260), der Biograph des Franziskus, ist nach weitverbreiteter Meinung der Verfasser der majestätischsten aller mittelalterlichen Sequenzen, des Dies irae. In ihr wird über das Jüngste Gericht nachgedacht und die schreckliche Gerechtigkeit des Vaters dem sanften Mitleiden des Sohnes gegenübergestellt. Dieses Gedicht verdankt dem Responsorium der Totenmesse viel, dem Libera me, aber auch früheren dichterischen Behandlungen des Themas, angefangen von Beda. Der Scholastiker und Zeitgenosse des hl. Tho-

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m a s , der Franziskaner - » B o n a v e n t u r a , schrieb acht H y m n e n über die Verehrung des hl. Kreuzes (s. A H M A 5 0 ) , dazu gehört a u c h das schöne Gedicht Recordare sanetae crucis, obwohl es m a n c h m a l J a c o p o n e d a Todi zugeschrieben wird. J a c o p o n e d a Todi ( 1 2 2 8 / 3 0 - 1 3 0 6 ) ist ähnlich berühmt wie T h o m a s von C e l a n o , weil m a n vermutet, daß er die bekannte Sequenz Stabat mater geschrieben hat. T h o m a s v. Aquin, T h o m a s v. Celano und J a c o p o n e da Todi halten den Gipfel der H y m n e n d i c h t u n g , s o d a ß mit ihnen dieser Überblick schließen kann. Quellen AHMA. - U. Chevalier, Repertorium Hymnologicum, 6 Bde., Löwen/Brüssel 1892-1920. - F. J . Mone, Hymni Latini Medii Aevi, 3 Bde., Freiburg i. Br. 1 8 5 3 - 1 8 5 5 . - Joseph Szôvérffy, Repertorium Hymnologicum Novum, I. Introduction and alphabetic listing of the most important references. 1. Rei. Dichtung als Kulturphänomen u. Kulturleistung, Leiden 1983. Literatur Christoph Albrecht, Einf. in die Hymnologie, Göttingen 1973. - Clemens Blume, Der Cursus S. Benedicti Nursini u. die liturg. Hymne des 6 . - 9 . Jh., Leipzig 1908. - Walter Bulst, Hymni Latini Antiquissimi L X X V Psalmi III, Heidelberg 1956. - Ettore Bolisani, L'innologia Christiana antica. S. Ambrogio e i suoi imitatori, Padua 1963. - Guido Maria Dreves, Aurelius Ambrosius, Vater des Kirchengesanges, Freiburg i. Br. 1893 = Amsterdam 1968.-Hermann Eberhardt, Art. Hymnendichter: LThK 2 5 (1960) 5 5 9 - 5 6 5 . - Jacques Fontaine, L'apport de la tradition poétique romaine à la formation de l'hymnodie latine chrétienne: R E L 5 2 (1974) 3 1 8 - 3 5 5 . - J . Handschin, Trope, Sequence and Conductus: Oxford History of Music 2 2 (1954) 1 2 8 - 1 7 4 . - Henry Leclercq, Hymnographie dans l'église latine: DACL 6/2 (1925) 2 9 0 1 - 2 9 2 8 . - James Mearns, Early Latin Hymnaries, Cambridge 1913. - Ruth Ellis Messenger, The Medieval Latin Hymn, Washington 1953. - Dag Norberg, La poesie latine rythmique, Stockholm 1954. - Michele Pellegrino, Innologia cristiana latina, Turin 1964. - Frederic James Edward Raby, A History of Christian-Latin Poetry, Oxford 2 1953. - Ugo Sesini, Poesia e musica nella latinità cristiana dal III al X secolo, Turin 1949. - Manlio Simonetti, Innologia ambrosiana, Rom 1956. - B. Stäblein, Der lat. Hymnus: M G G 6 (1957) 9 9 3 - 1 0 1 8 . Wolfram von den Steinen, Die Anfänge der Sequenzdichtung: ZSKG 40 (1946) 1 9 0 - 2 1 2 . 2 4 8 - 2 6 8 ; 41 (1947) 1 9 - 4 8 . 1 2 2 - 1 6 2 . - Ders., Notker der Dichter u. seine geistige Welt, 2 Bde., Bern 1948. - Joseph Szôvérffy, Annalen der lat. Hymnendichtung, 2 Bde., Berlin 1964/65. - Ders., Venantius Fortunatus and the earliest Hymns of the Holy Cross: Classical Folia 20 (1966) 1 0 7 - 1 2 2 . - Ders., Prolegomena to a History of the Holy Cross hymns: Traditio 22 (1966) 1 - 4 2 . - Ders., A Mirror of Medieval Culture. Saint Peter Hymns of the Middle Ages, New Haven/Conn. 1965. — Ders., Iberian Hymnody, Albany/N.Y. 1971. - Birgitta Thorsberg, Etudes sur l'hymnologie mozarabe, Stockholm 1962. Richard Chevenix Trench, Sacred Latin Poetry, London 3 1874. - Peter Wagner, Introduction to the Gregorian Melodies, London 1907; dt.: Einf. in die gregorianischen Melodien, Hildesheim 1962. A. S. Walpole, Early Latin Hymns, Cambridge 1922. Patrick Gerard Walsh

II. O r t h o d o x e Kirche 1. Allgemeine Begriffe 2. Gattungen der Kirchendichtung 3. Hymnensammlungen 4. Die alten Ubersetzungen der byzantinischen Hymnensammlungen 5. Hymnendichtung in den nationalen orthodoxen Kirchen 6. Kommentare und Druckausgaben 7. Elemente einer theologischen Würdigung der Hymnen (Hilfsmittel/Literatur S. 769) 1. Allgemeine

Begriffe

N a c h d e m bereits in der Frühkirche H y m n e n neben Psalmen als Bestandteil des Gottesdienstes verfaßt und gesungen wurden, entwickelte sich in der griechischen Kirche ab dem 4 . - 5 . J h . bis in die G e g e n w a r t eine rege hymnographische Tätigkeit, die der o r t h o d o x e n Liturgie einen ihr eigenen unverkennbaren C h a r a k t e r verlieh. Die Quellen der byzantinischen H y m n o g r a p h i e sind vielfältig. Aus der Heiligen Schrift, vor allem aus den Psalmen, schöpfen viele H y m n e n in F o r m von ausgedehnten wörtlichen Zitaten (z. B. D o x a s t i k o n des Kumulas a m dritten Samstag nach Ostern P e R 140: J o h 5,7—8) oder von poetischen P a r a p h r a s e n (z. B. H i r m o i aus den biblischen Oden,

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Anabathmoi aus den Psalmi graduum). Die Verbindung zwischen Hymnographie und Homiletik offenbart sich auf der anderen Seite aus den noch nicht genügend erforschten Fällen, in denen Hymnen aus Lobreden auf Märtyrer oder auf Herrenfeste unmittelbar entlehnen (z. B. das Stieberon martyrikon im 1. Ton IlavEXxprifioi päpxvpEQ, vpäg oö/ tj yrj xaiixpvy/EV PaR 62 aus der Homilie des Basilius v. Caesarea in quadraginta martyres BHG 1205: PG 31,524 C, oder der Hirmos XpiaxÖQ yevväTai MR II 662 aus der gleich beginnenden Homilie des Gregorius v. Nyssa auf die Geburt Christi BHG 1921: PG36, 312-333). Entsprechend dem heortologischen Inhalt des byzantinischen -»Kirchenjahres nimmt es nicht wunder, daß Hymnographen auch auf apokryphe Schriften wie z. B. das Protevangelium Jacobi für das Fest des Tempelgangs Mariä am 21. November zurückgriffen. Da Offizien für Heilige zusammen mit der in der Kirche zu verlesenden Vita nicht selten von ein und demselben Verfasser anläßlich der Heiligsprechung bzw. der Einführung des Heiligen in den offiziellen Kult geschrieben wurden (-• Heiligen Verehrung), entnehmen die Hymnen biographische Angaben aus dem hagiographischen Text. Im Gegensatz zur lateinischen oder syrischen Hymnographie weisen die byzantinischen Hymnen bis auf wenige Ausnahmen kein festes Versmaß auf. In der Forschung des vorigen Jh. (Pitra, Christ, Grimme, W. Meyer/Speyer) wurde der ausschließliche akzentuierende Charakter der Kirchendichtung erkannt. Die Hymnen, die oft als Kunstprosa betrachtet werden, sind von der Melodie untrennbar, die durch Wiederholung von Tonformeln, gleichen Kadenzen u. ä. die Struktur des Textes verdeutlicht. Lediglich die Kaiser Konstantinos VII. Porphyrogennetos (905 -959) zugeschriebenen 11 Exaposteilaria sind im beliebtesten mittelbyzantinischen Vermaß, in 15-silbigen „politischen" Versen, abgefaßt. 2. Gattungen der

Kirchendichtung

Da die Hymnen sich durch Versmaß nicht unterscheiden, wird das umfangreiche Repertoire nach der Funktion und der Zusammensetzung im Gottesdienst eingeteilt. Diesem Einteilungsprinzip entsprechen übrigens die alten handschriftlichen Hymnensammlungen bis zum 11. Jh., die Hymnen nach Gattungen und nicht wie in den heutigen liturgischen Büchern nach dem Ablauf der Gottesdienste bieten. Eine besondere Stellung nehmen jene Hymnen ein, die aus der frühchristlichen Zeit stammen (