Vergleichende Strafrechtswissenschaft: Frankfurter Festschrift für Andrzej J. Szwarc zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428527052, 9783428127054

Diese Festschrift, die Andrzej J. Szwarc zur Vollendung seines 70. Lebensjahres im Zusammenwirken mit vielen Kolleginnen

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German Pages 804 Year 2009

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Vergleichende Strafrechtswissenschaft: Frankfurter Festschrift für Andrzej J. Szwarc zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428527052, 9783428127054

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Schriften zum Strafrecht Heft 206

Vergleichende Strafrechtswissenschaft Frankfurter Festschrift für Andrzej J. Szwarc zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Jan C. Joerden, Uwe Scheffler, Arndt Sinn und Gerhard Wolf

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

JAN C. JOERDEN / UWE SCHEFFLER / ARNDT SINN / GERHARD WOLF (Hg.)

Vergleichende Strafrechtswissenschaft

Schriften zum Strafrecht Heft 206

Vergleichende Strafrechtswissenschaft Frankfurter Festschrift für Andrzej J. Szwarc zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Jan C. Joerden, Uwe Scheffler, Arndt Sinn und Gerhard Wolf

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Haniel Stiftung, Duisburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: werksatz · Büro für Typografie und Buchgestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-12705-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Festschrift, die wir Andrzej J.Szwarc zur Vollendung seines 70. Lebensjahres im Zusammenwirken mit vielen Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland darbringen, ist Ausdruck der Hochachtung vor der wissenschaftlichen und völkerverständigenden Leistung des Jubilars und unserer großen Dankbarkeit für sein Wirken bei der Entwicklung und dem Ausbau der Zusammenarbeit zwischen der Adam-Mickiewicz-Universität Pozna´n und der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Die folgende kurze Zusammenfassung seiner vita kann nur die wichtigsten Eckpunkte seiner Tätigkeit, seiner weitsichtigen Knüpfung von Kontakten und der daraus entstandenen gedeihlichen, ja freundschaftlichen Zusammenarbeit mit uns Frankfurter Kollegen wiedergeben: Andrzej J.Szwarc wurde am 25.5.1939 in Koło (Polen) geboren. Nach dem Schulbesuch in Wolsztyn, Sobowidz, Pelplin und Tczew studierte er von 1956 bis 1961 Rechtswissenschaften an der Juristischen Fakultät der Adam-MickiewiczUniversität zu Pozna´n. Sein Studium schloss er 1961 mit dem Magister-legumExamen ab, und zwar mit einer Magisterarbeit zu dem Thema: „Die Hehlerei im Lichte der Artikel 160 und 161 des Strafgesetzbuchs von 1932“. Von 1961 bis 1964 war Szwarc wissenschaftlicher Assistent an der Juristischen Fakultät der Adam-Mickiewicz-Universität und nahm daneben von 1962 bis 1964 an einem Referendariat für Richter (aplikacja sa˛dowa) am Bezirksgericht in Pozna´n teil, das er 1964 mit dem Richterexamen abschloss. Von 1964 bis 1970 war Szwarc als Senior-Assistent wiederum an der Adam-Mickiewicz-Universität tätig und repräsentierte dort die Assistentenschaft der Juristischen Fakultät von 1967 bis 1970 im Fakultätsrat. Im Jahre 1970 wurde Szwarc zum Dr.iur. (doktor nauk prawnych) der Juristischen Fakultät der Adam-Mickiewicz-Universität promoviert mit einer Dissertation zu dem Thema: „Einwilligung des Verletzten als Grundlage für die Freistellung von strafrechtlicher Verantwortlichkeit bei Sportunfällen“. Für diese Dissertation wurde ihm im Jahre 1976 der Forschungspreis des Ministers für Wissenschaft, Hochschulwesen und Technik verliehen. Von 1970 bis 1978 war Szwarc wissenschaftlicher Assistent (adjunkt) an der Posener Universität und erhielt im Jahre 1977 den akademischen Titel eines Dr.iur. habil. (doktor habilitowany) an der Juristischen Fakultät der Adam-Mickiewicz-Universität zu Pozna´n auf der Grundlage einer Habilitationsschrift zu dem Thema: „Strafrechtliche Funktionen von Sportregeln“. Im Jahre 1977 wurde Szwarc das bronzene Verdienstkreuz der Volks-

VI

Vorwort

republik Polen verliehen. Im Jahr darauf wurde er mit einem Forschungspreis für seine Habilitationsschrift vom Wissenschaftsminister ausgezeichnet. Von 1978 bis 1991 war Szwarc als Assistenzprofessor (docent) an der Posener Universität beschäftigt. Im Jahre 1982 wurde ihm das goldene Verdienstkreuz der Volksrepublik Polen verliehen. 1983 war Szwarc als Gastprofessor an der Freien Universität Berlin und dann im Wintersemester 1985/86 an der RuhrUniversität Bochum. Von 1986 bis 1987 war er Mitglied des Akademischen Senats der Posener Universität. 1989 wurde er Generalsekretär der „Polnischen Humboldt Gesellschaft“ und blieb dies bis 1998. Im Jahre 1990 gründete Szwarc die „Polnische Gesellschaft für Sportrecht“ und ist seitdem ihr Präsident. Im Sommersemester 1991 war er Gastprofessor an der Universität Bayreuth. Er hatte von 1991 bis 1993 das Amt eines außerordentlichen Professors (profesor nadzwyczajny) an der Universität zu Pozna´n inne und erhielt im Jahre 1993 den Titel eines ordentlichen Professors (profesor zwyczajny) verliehen. 1994 erhielt er das Verdienstkreuz für Bildung der Republik Polen. Seit 1994 übt Szwarc zudem das Amt eines ordentlichen Professors an der Sportuniversität (Akademia Wychowania Fizycznego) in Pozna´n aus. Ebenfalls seit dem Jahre 1994 ist Szwarc Gastprofessor an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) im Rahmen der deutsch-polnischen Juristenausbildung. Weiterhin ist er seit 1994 Mitglied (von 1994 bis 2002 auch als Präsident) des Schiedsgerichts für Sportangelegenheiten des Polnischen Olympischen Komitees. Seit 1998 hat Szwarc die Position eines ordentlichen Professors an der Juristischen Fakultät der Adam-Mickiewicz-Universität zu Pozna´n inne. Seit 2002 ist er zudem Leiter des Lehrstuhls für Strafrecht daselbst und war von 2002 bis 2008 Dekan der Juristischen Fakultät. Im Jahre 2003 wurde Szwarc das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Seit 2007 ist er Mitglied des Komitees für Rechtswissenschaften bei der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Komitet Nauk Prawnych Polskiej Akademii Nauk) in Warszawa und Richter des Staatsgerichtshofes der Republik Polen (Trybunał Stanu Rzeczypospolitej Polskiej). Im Jahre 2008 wurde ihm die Ehrendoktorwürde (Dr.iur. h.c.) der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) verliehen. Seit 2008 ist Szwarc zudem Mitglied der sog. Gemischten Kommission der Viadrina und der Posener Universität, die sich mit der Organisation von Forschung und Lehre am Collegium Polonicum in Słubice befasst. Neben den hier erwähnten Auszeichnungen hat Andrzej J.Szwarc eine Fülle weiterer Auszeichnungen und Ehrungen aus dem In- und Ausland erfahren. Er ist in den Herausgebergremien mehrerer juristischer Zeitschriften sowie Mitglied vieler wissenschaftlicher Gremien und Gesellschaften. Schon früh hat sich Szwarc dem internationalen Austausch gewidmet. Er hat dabei Vorlesungen und Vorträge in Österreich, Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Ita-

Vorwort

VII

lien, Japan, den Niederlanden, Spanien, Schweden, Taiwan und der Tschechischen Republik gehalten und sich als Gastprofessor im Ausland engagiert. Außerdem war und ist Szwarc einer der Initiatoren und Veranstalter der deutsch-polnischjapanischen Strafrechtslehrertreffen, die in Zusammenarbeit mit der Alexander von Humboldt-Stiftung ausgerichtet werden. Über seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema des Strafrechts, der Strafrechtsvergleichung, des Sportrechts und des Medizinrechts informiert das im Anhang zu dieser Festschrift abgedruckte Schriftenverzeichnis im Einzelnen. Besondere Verdienste hat sich Szwarc durch seine ausdauernde Mitwirkung an der deutsch-polnischen Juristenausbildung an der Europa-Universität Viadrina und dem Collegium Polonicum in Słubice, einer Gemeinschaftseinrichtung der Adam-Mickiewicz-Universität zu Pozna´n und der Viadrina, erworben. Seit 1994 hat Szwarc dieses grenzüberschreitende und Grenzen überwindende Projekt der beiden Universitäten in Frankfurt (Oder) und Pozna´n maßgebend mitgestaltet und damit vielen Studierenden aus Polen und Deutschland eine berufliche Perspektive in einem zusammenwachsenden Europa eröffnet. Darüber hinaus war und ist Szwarc Mitveranstalter vieler wissenschaftlicher Konferenzen in Zusammenarbeit mit der Juristischen Fakultät der Viadrina, insbesondere im Kontext des Strafrechts – so etwa der auf seine Initiative zurückgehenden Tagungsreihe „Kriminalität im Grenzgebiet“ (1996 –2003), der im Jahre 2005 an der EuropaUniversität Viadrina und im Collegium Polonicum durchgeführten Tagung der deutschsprachigen Strafrechtslehrer zu dem Rahmenthema „Transnationale Grundlagen des Strafrechts“ sowie der Tagung „Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen“ in Pozna´n (2006). Das engagierte Wirken von Andrzej Szwarc hat in beispielhafter Weise internationale Verbindungen und wissenschaftliche wie persönliche Verbundenheiten geschaffen, die es weiterzuentwickeln gilt. Wir sagen aber erst einmal ganz einfach: „Serdecznie dzie˛kujemy Andrzejowi Szwarcowi! – Herzlichen Dank, Andrzej Szwarc!“ Frankfurt (Oder), im März 2009

Jan C. Joerden Uwe Scheffler Arndt Sinn Gerhard Wolf

Tabula Gratulatoria Andrzej J. Szwarc zum 25. Mai 2009 Wilfried Bottke, Augsburg

Henryk Olszewski, Pozna´n

Gerhard Dannecker, Heidelberg

Harro Otto, Bayreuth

Joanna Długosz, Frankfurt (Oder)

Justyn Piskorski, Pozna´n

Albin Eser, Freiburg i. Br.

Angelika Pitsela, Thessaloniki

Wolfgang Frisch, Freiburg i. Br.

Emil W. Pływaczewski, Białystok

Jacek Giezek, Wrocław

Holm Putzke, Bochum

Karl Heinz Gössel, München

Claus Roxin, München

Michael Heghmanns, Münster

Uwe Scheffler, Frankfurt (Oder)

Rolf Dietrich Herzberg, Bochum

Roland Schmitz, Bayreuth

Hans Joachim Hirsch, Köln

Kurt Schmoller, Salzburg

Gudrun Hochmayr, Salzburg

Hans-Ludwig Schreiber, Hannover

Piotr Hofma´nski, Kraków Makoto Ida, Tokyo

Friedrich-Christian Schroeder, Regensburg

Michał Jakowczyk, Frankfurt (Oder)

Bernd Schünemann, München

Jan C. Joerden, Frankfurt (Oder)

Lorenz Schulz, München

Tomasz Kaczmarek, Wrocław

Arndt Sinn, Osnabrück

Piotr Kardas, Kraków Magdalena Ke˛dzior, Rzeszów

Dionysios Spinellis, Kifissia

Leszek Kubicki, Warszawa

Anne Franziska Streng, Heidelberg

Witold Kulesza, Łód´z

Klaus Vieweg, Erlangen

Maciej Małolepszy, Frankfurt (Oder)

Stanisław Walto´s, Kraków

Andrzej Marek, Toru´n

Roland Wittmann, Berlin

Dieter Martiny, Frankfurt (Oder)

Gerhard Wolf, Frankfurt (Oder)

Kamila Matthies, Frankfurt (Oder)

Sławomira Wronkowska, Pozna´n

Vincenzo Militello, Palermo

Keiichi Yamanaka, Osaka

Igor B. Nestoruk, Pozna´n

Andrzej Zoll, Kraków

Gerhard Sprenger, Berlin

Inhaltsverzeichnis I. Zu den Grundlagen des Rechts Makoto Ida Methodik der Rechtsfindung – insbesondere im japanischen Strafrecht . . . . . . . .

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Maciej Małolepszy Dimensionen der Rechtsvergleichung – Traditionalität und Modernität der Rechtssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Henryk Olszewski Die altpolnische Ideologie der goldenen Freiheit und ihre Nachwirkung im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Harro Otto Zur Problematik eines interkulturellen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Justyn Piskorski Subsidiaritätsprinzip im Gemeinschaftsrecht als Voraussetzung für die Kriminalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Claus Roxin Grundlagen des polnischen Strafgesetzbuches im deutsch-polnischen Vergleich . 79 Uwe Scheffler und Kamila Matthies Die Ostgrenze der EU – Von der Freiheit, ihren Opfern und einer Zugfahrt . . . . . 91 Bernd Schünemann Ein Kampf ums europäische Strafrecht – Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . 109 Gerhard Sprenger Vom Mythos im Recht. Gedanken zu einer These Leszek Kołakowskis . . . . . . . . 125 Roland Wittmann Der staatliche Strafanspruch und die neueren Ergebnisse der Hirnforschung . . . . 147 Sławomira Wronkowska Regeln der korrekten Rechtssetzung in der Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichtshofes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

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Inhaltsverzeichnis II. Zum Allgemeinen Teil des Strafrechts

Karl Heinz Gössel Normtheoretische Überlegungen zur Strafbarkeit unvollendet gebliebener Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Rolf Dietrich Herzberg und Holm Putzke Straflose Vorbereitung oder strafbarer Versuch? Zur Eingrenzung von §22 StGB und Art. 13 §1 K.k. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Gudrun Hochmayr Wert- und Schadensqualifikationen versus Regelbeispiele. Eine vergleichende Untersuchung des polnischen, deutschen und österreichischen StGB . . . . . . . . . . 235 Tomasz Kaczmarek Normativer Status der Umstände, die die Rechtswidrigkeit der Tat im polnischen Strafrecht „ausschließen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Friedrich-Christian Schroeder Grundsätzliche Angriffe gegen die Lehre von der objektiven Zurechnung . . . . . . 273 Keiichi Yamanaka Die Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte – Betrachtungen zur Fahrlässigkeitsdogmatik anhand der japanischen Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 III. Zum Besonderen Teil des Strafrechts Wilfried Bottke Exhibitionistische Handlungen und Erregung öffentlichen Ärgernisses . . . . . . . . 297 Michael Heghmanns Computersabotage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Witold Kulesza Auschwitz-Lüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Vincenzo Militello The Palermo U.N. Convention. A Global Challenge against Transnational Organised Crime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Roland Schmitz Vorteilsannahme durch Abgeordnete – internationale Verpflichtungen und nationale Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

Inhaltsverzeichnis

XIII

Kurt Schmoller Schutz des „öffentlichen Friedens im Ausland“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Lorenz Schulz Apokryphe Kriminalisierung und das Milderungsgebot. Das Beispiel des §34 AWG n.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Arndt Sinn Der Schutz der internationalen Rechtspflege durch das nationale Strafrecht am Beispiel der Aussagedelikte (§§153ff. StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Gerhard Wolf und Michał Jakowczyk Der Tatbestand des Amtsmißbrauchs im polnischen Strafgesetzbuch – ein mögliches Vorbild für eine entsprechende deutsche Bestimmung?! . . . . . . . . . . . . . . . . 433 IV. Zum Medizinstrafrecht Gerhard Dannecker und Anne Franziska Streng Der „Nikolaus-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts und seine Bedeutung für das Medizinstrafrecht und die Rationierung bei Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Joanna Długosz und Jan C. Joerden Zur mutmaßlichen Einwilligung bei medizinischen Eingriffen. Zugleich eine Besprechung des Urteils des polnischen Obersten Gerichts in Strafsachen vom 27. November 2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Albin Eser Das „Einwilligungsprinzip“: ein ausreichendes Konzept gegenüber den Herausforderungen des Genom-Zeitalters? – Eine Gedankenskizze . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Wolfgang Frisch Die strafrechtliche AIDS-Diskussion: Bilanz und neue empirische Entwicklungen 495 Leszek Kubicki Rechtliche Aspekte des Kaiserschnitts auf ausdrücklichen Wunsch der Patientin vor dem Hintergrund der polnischen Gesetzeslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Hans-Ludwig Schreiber Tod und Recht: Hirntod und Verfügungsrecht über das Leben . . . . . . . . . . . . . . . 531

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Inhaltsverzeichnis V. Zum Sportstrafrecht

Jacek Giezek Einige Bemerkungen über das erlaubte Risiko und Sorgfaltspflichtverletzungen im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 Hans Joachim Hirsch Zu strafrechtlichen Fragen des Sportrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 Piotr Kardas Das erlaubte Sportrisiko – ein außergesetzlicher Rechtfertigungsgrund (Konträrtypus) oder ein Element zur Präzisierung der Rechtswidrigkeitsebene? . . . . . . . . 585 Magdalena Ke˛dzior und Klaus Vieweg Sportschiedsgerichtsbarkeit in Polen und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 Andrzej Zoll Verursachung eines Verkehrsunfalls beim Autorennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 VI. Zum Jugendstrafrecht Andrzej Marek Die neuesten Entwürfe zur Verschärfung des Jugendstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . 635 Angelika Pitsela Die Bedeutung internationaler Mindeststandard-Regelungen für den Umgang mit delinquenten Jugendlichen in Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 VII. Zum Strafprozessrecht Piotr Hofma´nski Die Zukunft der europäischen Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 Emil W. Pływaczewski Das polnische Kronzeugengesetz in Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 Dionysios Spinellis Die (geplante) Europäische Beweisanordnung (aus der Sicht des griechischen Rechts) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 Stanisław Walto´s „Schauspiel“ im Gericht – Reflexionen aus polnischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 713

Inhaltsverzeichnis

XV

VIII. Zum Zivil- und Wettbewerbsrecht Dieter Martiny Zur Entwicklung des deutsch-polnischen Rechtsverkehrs in Zivilsachen . . . . . . . 723 Igor B. Nestoruk Zivil- und strafrechtliche Aspekte des wettbewerbsrechtlichen Nachahmungsschutzes in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 Verzeichnis der Veröffentlichungen von Andrzej J. Szwarc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 Autoren- und Herausgeberverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783

I. Zu den Grundlagen des Rechts

Methodik der Rechtsfindung – insbesondere im japanischen Strafrecht * Makoto Ida I. Zur Einleitung Seit Friedrich Carl von Savigny spricht man von verschiedenen Elementen der Gesetzesauslegung. 1 Auch in Japan unterscheidet man üblicherweise zwischen der grammatischen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegung des Gesetzes. In diesem Beitrag, der dem Jubilar mit herzlichen Glückwünschen zu seinem 70. Geburtstag dargebracht sei, werde ich diesem auch in unserem Lande gültigen Kanon entsprechend verschiedene Elemente der Rechtsfindung durchgehen. Ich beginne mit dem „Wortlaut des Gesetzes“. II. Wortlaut des Gesetzes 1. Stellenwert des Wortlauts Vergleicht man den praktischen Rechtsfindungsprozess in Deutschland und in Japan, so kann man mehrere Unterschiede konstatieren. Einer der markantesten Unterschiede liegt in einer flexibleren Handhabung des geschriebenen Gesetzestextes durch die japanische Rechtspraxis. Die japanischen Praktiker nehmen manchmal den Wortlaut des Gesetzes nicht so ernst wie die deutschen. Oder genauer ausgedrückt, messen die Japaner der Bindung an den Gesetzeswortlaut im Vergleich zu den Deutschen nicht einen so hohen Stellenwert unter den verschiedenen Anforderungen zu, die an die Rechtsfindung gestellt werden.

* Dieser Beitrag basiert auf Vorträgen, die ich im Wintersemester 2007/08 in Saarbrücken, Erlangen, Trier, Düsseldorf, Basel und Stuttgart gehalten habe. Das Manuskript ist während eines Forschungsaufenthaltes entstanden, den mir die Alexander von HumboldtStiftung ermöglicht hat. An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei ihr und meinem hochgeschätzten Kollegen und Freund Franz Streng bedanken, der mich in sein Institut aufgenommen hat und mir immer mit Rat und Tat beigestanden ist. 1 Vgl. nur Bernd Rüthers, Rechtstheorie, 3. Aufl. 2007, S. 402 ff.; Reinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl. 2006, S. 42 ff.

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Makoto Ida

2. Drei Beispiele Es liegt nahe, dass ich den Lesern einige Beispiele aus dem Gebiet des Strafrechts vorstelle. Obwohl man sich im Strafrecht über die Grenze des Gesetzeswortlauts aus prinzipiellen Gründen nicht hinwegsetzen darf, 2 kommt es häufig vor, dass die japanischen Richter eine analogieverdächtige Auslegung vornehmen. Anders gesprochen: sie gelangen selten unter Berufung auf das Analogieverbot zum Ergebnis eines Freispruchs. Ich möchte mich hier nur auf drei Beispiele beschränken, obwohl die Liste beliebig verlängert werden könnte. Das erste Beispiel betrifft den Elektrizitätsdiebstahl: Das japanische Reichsgericht subsumierte in einem Urteil von 1903 die Elektrizität unter das Wort „Sache“ und bestrafte den Angeklagten, der elektrische Energie von einem Anderen entwendet hatte, wegen Diebstahls. 3 Das Urteil wurde genau zu der Zeit gefällt, zu der der deutsche Gesetzgeber bei diesem Problem tätig wurde und auf dem Wege einer Gesetzesänderung die hier vorliegende Strafbarkeitslücke beseitigte, nachdem das deutsche Reichsgericht die Subsumtion der Elektrizität unter den Begriff der Sache verweigert hatte. 4 Das japanische Reichsgericht argumentierte folgendermaßen: Das Objekt des Diebstahls müsse etwas sein, das „weggenommen“ werden kann. Damit man es wegnehmen kann, müsse das Objekt zwei Merkmale, nämlich Aufbewahrbarkeit und Transportfähigkeit, aufweisen. Da bei der Elektrizität die beiden Merkmale vorhanden seien, stelle sie eine Sache im Sinne des Diebstahlsparagraphen dar. Hier geht es um eine an sich tadellose logische Argumentation. Man schenkte nur dem Gesetzeswortlaut zu wenig Beachtung. Das zweite Beispiel entnehme ich dem Urkundenstrafrecht: Der japanische Oberste Gerichtshof (OGH) bejahte im Jahre 1976 – im Gegensatz zur bundesdeutschen Rechtsprechung – die Strafbarkeit der Herstellung einer nur scheinbar originalgetreuen Fotokopie einer amtlichen Urkunde als Urkundenfälschung. 5 Der OGH berief sich dabei auf eine teleologische Auslegung. Die Fotokopie einer originalen amtlichen Urkunde stellt – diesem Urteil des OGH zufolge – ihrerseits insofern eine amtliche Urkunde dar, als sie eine dem Original vergleichbare soziale Funktion als ein Beweismittel hat. 6 2 Auch in Japan gilt das Gesetzlichkeitsprinzip als ein Verfassungsgrundsatz (Art. 31, 39 jap. Verfassung). 3 Urteil v. 21. 5. 1903. 4 RGSt 29, 111; 32, 165. 5 Urteil v. 30. 4. 1976. 6 Der OGH erkannte sogar im Jahre 1983 die Urkundenqualität eines Datenspeichers an, auf den bestimmte Daten elektro-magnetisch gespeichert wurden. Wer falsche Daten auf Magnetdisketten der PKW-Meldestelle hatte speichern lassen, sei wegen mittelbarer Falschbeurkundung strafbar (Beschluss v. 24. 11. 1983). Es würde die Leser jetzt wohl nicht mehr überraschen, dass der OGH in einer Entscheidung aus dem Jahre 1991 die Fälschung der elektro-magnetisch gespeicherten Daten einer Telefonkarte unter den Tatbestand der Wertpapierfälschung subsumierte (Beschluss v. 5. 4. 1991).

Methodik der Rechtsfindung

5

Bei dem dritten Beispiel geht es um den strafrechtlichen Lebensschutz. In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde durch in Fabrikabwässern enthaltene Quecksilberverbindungen eine schwere Umweltvergiftung, MinamataKrankheit genannt, verursacht. In der Folgezeit waren viele Kinder schwerkrank geboren worden und später an dieser Krankheit, die eine sukzessiv beeinträchtigende Wirkung entfaltete, gestorben. Der OGH befasste sich mit der Frage, ob diese pränatale Verletzung der Leibesfrucht, die erst nach der Geburt allmählich den Tod bewirkte, als fahrlässige Tötung eines Menschen bestraft werden kann. Er bejahte dies in einer Entscheidung aus dem Jahre 1988. 7 Auch dies steht im diametralen Gegensatz zur korrespondierenden Stellungnahme des deutschen BGH. 8 Dem üblichen Einwand gegen die bejahende Auffassung, man könne von der „Verletzung eines menschlichen Körpers“ erst dann reden, wenn zum Tatzeitpunkt, nicht nur eine Leibesfrucht, sondern ein Mensch existiert habe, wollte der OGH damit begegnen, dass hier durch die Tat durchaus in den Teil eines Menschen, nämlich der Mutter, eingegriffen wurde. Dieser verletzte Mensch, oder genauer gesagt: dieser verletzte Teil eines Menschen, könne als identisch mit dem später geborenen, verletzten Opfer angesehen werden. 3. Zwischenfazit und Hintergründe Die obigen Beispiele haben wohl gezeigt, dass auch die japanische Judikatur sich durchaus um eine logische Argumentation und eine rationale Begründung des Ergebnisses bemüht, aber die japanischen Juristen mit dem Gesetzeswortlaut flexibel umgehen und für sie die Bindung der Justiz an die Wortlautgrenze nur einen relativen Wert neben anderen Werten zu besitzen scheint. Wenn japanische Juristen das Ergebnis der Straflosigkeit als ungerecht empfinden, dann zögern sie nicht, auch über die Grenze des Wortlauts hinauszugehen. Warum die Japaner in den Wortlaut des Gesetzes kein unbedingtes Vertrauen setzen können, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Man kann einerseits der Meinung sein, dass die Rezeption des europäischen Rechts und des Rechtsstaatsgedankens in Japan eine zu kurze Geschichte habe, um wirklich Wurzeln schlagen zu können. Man mag andererseits eine gewisse Parallele zu einer auch alltäglich zu beobachtenden Tatsache ziehen, dass die Japaner überhaupt dem geschriebenen oder auch dem gesprochenen Wort keine entscheidende Bedeutung zumessen. Eine schweigende Verständigung ist die höchste Tugend im interpersonalen Umgang in Japan. An dieser Stelle kann ich den Lesern noch ein etwas anderes Beispiel für eine flexible Handhabung der Gesetzessprache präsentieren: Hier handelt es sich um 7 8

Beschluss v. 29. 2. 1988. BGHSt 31, 348.

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das Bestimmtheitsgebot, dem auch die Lehre und die Judikatur in Japan Verfassungsrang einräumen. Der OGH befasste sich in einer Entscheidung aus dem Jahre 1985 (Urteil v. 23. 10. 1985) mit der Frage, ob die durch eine Präfektur erlassene Strafvorschrift, 9 die lautet, „Wer an einem Jugendlichen oder an einer Jugendlichen unter 18 Jahren eine unzüchtige Handlung vornimmt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren bestraft“, wegen ihrer Uferlosigkeit und Unbestimmtheit für verfassungswidrig erklärt werden muss. Es ist klar, dass man diese unzüchtigen Handlungen nicht mit dem Geschlechtsverkehr oder anderen sexuellen Handlungen gleichsetzen kann, zumal in Japan Mädchen ab 16 Jahren und Jungen ab 18 Jahren heiraten dürfen. Der OGH vermied es aber, dieses offensichtlich unbestimmte Strafgesetz für verfassungswidrig zu erklären, und versuchte seine Verfassungskonformität durch eine einschränkende Auslegung zu retten: Danach sind der Geschlechtsverkehr oder andere sexuelle Handlungen mit einem Jugendlichen oder mit einer Jugendlichen u. a. dann Unzucht, wenn solche Handlungen ausschließlich zur Befriedigung des Geschlechtstriebs – praktisch ohne Liebe – durchgeführt werden. Man kann sich leicht vorstellen, dass die Polizei und die Staatsanwaltschaft in Japan über diese verfassungskonforme Auslegung nicht glücklich sind. III. Wille des Gesetzgebers Auch wenn es mit dem eben Festgestellten in Widerspruch zu stehen scheint, so weichen doch die japanischen Richter vom klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers nur selten ab. In aller Regel handhaben die japanischen Richter die Gesetze nur dann flexibel, wenn sie mit einer durch den Gesetzgeber nicht vorhergesehenen Fallgestaltung konfrontiert werden. 10 Allerdings ist das Gewicht des Willens des historischen Gesetzgebers nach dem Entstehungsalter des betreffenden Gesetzes unterschiedlich zu beurteilen: Bei der Auslegung der Vorschriften des japanischen StGB, das im Jahre 1907 entstanden ist, 11 fragt man heute nicht mehr nach der Intention des Gesetzgebers. Das liegt daran, dass sich seit dem Entstehen unseres StGB die Wertvorstellungen und die tatsächlichen Verhältnisse 9 In Japan ist jede Präfektur ermächtigt, die Strafgesetze zu erlassen, deren Strafdrohung Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahre beinhaltet. Und fast alle Präfekturen haben solche Strafvorschriften erlassen, die unzüchtige Handlungen an Jugendlichen unter 18 Jahren unter Strafe stellen. 10 Eine den Gesetzeswortlaut korrigierende Auslegung findet nur im Ausnahmefall statt. Eines der wenigen Beispiele ist das strafrechtliche Urteil des OGH v. 26. 3. 1965. Diese Entscheidung hat bei der Bestrafung der juristischen Person, die in Japan in vielen Sondergesetzen im Bereich des Verwaltungs- und auch des Kriminalstrafrechts vorgesehen ist, eine im Gesetz nicht erwähnte Exkulpationsmöglichkeit eingeräumt, obwohl der Gesetzgeber hier offensichtlich eine Strafbarkeit ohne Verschulden festschreiben wollte. 11 Zum japanischen StGB von 1907 siehe Makoto Ida, Die heutige japanische Diskussion über das Straftatsystem, 1991, S. 21 ff. m.w. N.

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bezüglich der Regelungsobjekte stark gewandelt haben und deshalb die Bewertung und die Entscheidung des Gesetzgebers ihre Bindungswirkung für die heutigen Richter schwerlich beanspruchen können. Bei den älteren Strafgesetzen – wie den Vorschriften des StGB – gewinnt heute deshalb die teleologische Auslegung eindeutig die Oberhand. Was das japanische StGB von 1907 betrifft, kommt als Besonderheit hinzu, dass die Intention des Gesetzgebers nur schwer zu ermitteln ist. Unser StGB ist allem Anschein nach auf die Weise entstanden, dass der Gesetzgeber ausführlich und umfassend die damals geltenden Strafgesetzbücher und die ihm zugänglichen StGB-Entwürfe der europäischen Länder studierte und jeweils die als am besten passend erscheinende Vorschrift auswählte. So nahm er bei der Bildung des Notstandsparagraphen das finnische und das schweizerische StGB zum Vorbild. Die Vorschriften über den Versuch standen bekanntlich unter französischem Einfluss, wobei unser Gesetzgeber bei der Übersetzung des Schlüsselbegriffs „commencement d’exécution“ (Anfang der Ausführung) große Schwierigkeiten hatte. Ein wichtiger Teil der Regelung der Tateinheit kam aus Spanien. In der Systematisierung der gesamten Vorschriften des Allgemeinen Teils ist der starke Einfluss des deutschen Rechts zu spüren. Meines Erachtens ist das japanische StGB von 1907 eine bewundernswerte gesetzgeberische Leistung, aber was genau unser Gesetzgeber unter diesen Paragraphen verstand, ist ungewiss und kann deshalb nicht als Maßstab für die Auslegung herangezogen werden. Im zivilrechtlichen Bereich wird aber dem Willen des historischen Gesetzgebers als einem Auslegungselement durchaus Beachtung geschenkt. Einige Autoren treten sogar für eine stärkere Bindung an die Interessenbewertung und -abwägungsentscheidung des Gesetzgebers ein: Der Gesetzgeber habe bei seiner Arbeit eine bestimmte Interessenlage vorgefunden und unter Bewertung und Abwägung der kollidierenden Interessen schließlich eine Entscheidung in Form einer Gesetzesvorschrift getroffen. Diese Interessenbewertung und -abwägungsentscheidung des Gesetzgebers sei bindend für den Richter, solange er keine nachweisbar andere Interessenlage vorfindet. – Diese juristische Methode wurde durch Philipp Heck inspiriert und wird bis heute insbesondere von den Zivilrechtskollegen der Keio Universität, der ich angehöre, geteilt. Aber diese stark auf den Willen des historischen Gesetzgebers abstellende Auslegungsmethode hat sich in der Wissenschaft nicht durchsetzen können. IV. Methodenstreit in der japanischen Rechtswissenschaft 1. Referat von Kurusu Das allgemein geteilte Gefühl, dass man bei der Gesetzesauslegung über kein objektives Kriterium verfüge und allein die subjektiven Werturteile des Rechtsanwenders ausschlaggebend seien, hat in Japan in den 50er und auch 60er Jahren des 20. Jahrhunderts eine große, fachübergreifende Diskussion über die Methode der

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Gesetzesauslegung und den wesentlichen Charakter der positiven Rechtswissenschaft ausgelöst. Als Hintergrund ist hinzuweisen auf die verbreitete Unzufriedenheit damit, dass die japanische Regierung damals den Artikel 9 der japanischen Verfassung, der den Angriffskrieg und die Wehrmacht gänzlich abgeschafft hat, ziemlich beliebig und opportun – jedenfalls aus der Sicht des Juristen – auslegte. Der unmittelbare Anlass war aber das Referat von Saburo Kurusu, das 1953 auf der Vollversammlung der japanischen Gesellschaft für Privatrecht gehalten wurde. Der ehemalige Zivilrechtsprofessor an der staatlichen Universität zu Tokyo bemängelte in diesem sehr emotionsgeladenen Vortrag an der damaligen Rechtswissenschaft, dass sie im Grunde nur die beschönigte Äußerung subjektiver, beliebiger Werturteile oder einer politischen Ideologie sei. Er erblickte das Wesen der „lächerlichen“ und „sterilen“ Arbeit der Gesetzesauslegung – unter Berufung auf die Schriften von Julius von Kirchmann, Hans Kelsen und Gustav Radbruch – darin, dass der Auslegende zwischen mehreren Auslegungsalternativen durch sein subjektives Werturteil entscheide. Die Juristen seien so überheblich, dass sie ihre persönlichen Werturteile mit dem Prädikat der Objektivität versähen und verträten. Sie seien aber zugleich so feige und unverantwortlich, dass sie ihre subjektiven Werturteile hinter dem Schleier des nur angeblich objektiven Sinns des Gesetzestextes verdeckten und nicht bereit seien, die Verantwortung für die Gesetzesauslegung zu übernehmen. 2. Drei Hauptprobleme Durch dieses Referat, das heute Jun’ichi Murakami, ein bekannter Rechtstheoretiker, als eine „Vorwegnahme der postmodernen Rechtslehre“ hoch bewertet, wurde eine lang andauernde, nicht nur auf den Bereich des Zivilrechts beschränkte Diskussion entfacht. Dabei standen drei Fragestellungen im Vordergrund: 1.) Ob die positive Rechtswissenschaft des Namens der „Wissenschaft“ würdig ist, 2.) worin die Objektivität der Gesetzesauslegung, wenn sie nicht auf die Äußerung subjektiver Werturteile hinauslaufen will, zu sehen ist und 3.) welche Verantwortlichkeit die Juristen bei ihrer Arbeit übernehmen sollen. 3. Szientistisches Verständnis der Rechtswissenschaft Ein einflussreicher Zivilrechtler und Rechtssoziologe in der Nachkriegszeit, Takeyoshi Kawashima, entwickelte seit der Mitte der 50er Jahre ein szientistisches Verständnis der Rechtswissenschaft. Danach sind auch Werturteile gar nicht von beliebiger, subjektiver Natur; sie sind dann objektiv richtig, wenn sie durch die Mehrheit der Bevölkerung tatsächlich getragen sind. Welche Werturteile in der jeweiligen Gesellschaft objektiv richtig seien, könne man durch die Beobachtung des Denkens und des Handelns der dort lebenden Menschen empirisch ermitteln. Der Rechtsanwender müsse aber nicht nur eine objektiv richtige Falllösung finden, sondern auch sein Ergebnis schlüssig begründen und rechtfertigen. Die

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Begründung und Rechtfertigung des Ergebnisses seien methodisch von der inhaltlichen Richtigkeit der Rechtsfindung streng zu unterscheiden. Sie geschehe erst, nachdem man bereits das richtige Ergebnis gefunden habe, und diene erstens dazu, die Prozessbeteiligten von der Richtigkeit des Ergebnisses zu überzeugen, und zweitens dazu, eine gleichmäßige Rechtsanwendung zu gewährleisten. Es gehe hier nicht mehr um Wissenschaft, sondern um Kunst oder Technik, was aber nicht bedeute, dass das weniger wichtig wäre. 4. Interessenabwägungstheorie In den 60er Jahren entwickelten die damals repräsentativen Zivilrechtswissenschaftler ein neues methodisches Konzept, das als die „Interessenabwägungstheorie“ bezeichnet wurde. Auf diese Richtung hatten die sogenannte Freirechtsschule in Deutschland und der amerikanische Rechtsrealismus, insbesondere Jerome Frank, einen starken Einfluss. Von besonderer Bedeutung war auch der Aufstieg des Fachs „Rechtssoziologie“ in der Nachkriegszeit. Die Vertreter der Interessenabwägungstheorie erkannten die unumgängliche Relativität der Werturteile an, die jede Rechtsfindung prägen, aber sie suchten diese Werturteile zu verobjektivieren. Sie gingen einerseits davon aus, dass das Gesetz bloß einen mehr oder minder breiten Auslegungsspielraum abstecke, innerhalb dessen mehrere Auslegungsvorschläge genauso gut vertretbar seien. Eine Auslegungsalternative auszuwählen, heiße eine durch Werturteile geprägte, politische Entscheidung im Kleinen zu treffen. Der Rechtsanwender müsse deshalb die Verantwortung für die Konsequenzen eines Auslegungsvorschlags selbst tragen und dürfe sie nicht dem Gesetz oder dem Gesetzgeber zuschieben. Kawashima habe recht, indem er argumentierte, dass das Finden der richtigen Falllösung von seiner nachträglichen Begründung und Rechtfertigung methodisch zu unterscheiden sei. Die Befürworter der Interessenabwägungstheorie suchten andererseits die unvermeidbar relativen Werturteile, die jede Rechtsfindung prägen, dadurch zu verobjektivieren, dass man die gesellschaftlichen und faktischen Gegebenheiten, beim zivilrechtlichen Streit vornehmlich die kollidierenden Interessen der Parteien, die den Werturteilen zugrunde liegen, mit empirischen Mitteln erforsche und die Gesetzesauslegung durch die auf Fakten basierenden Abwägungen kollidierender Interessen untermauere. Vereinfacht gesagt verfährt man nach dieser Auffassung folgendermaßen: Wenn man mit einem Fall konfrontiert ist, lässt man die Gesetze zunächst ganz beiseite und ermittelt mit empirischer Methode die jeweiligen Interessen des Klägers und des Beklagten. Dann wägt man diese kollidierenden Interessen gegeneinander ab und kommt zu dem Ergebnis, wie etwa „der Kläger soll gewinnen“. Erst dann zieht man die Gesetze heran, interpretiert sie auf das vorher gewonnene Ergebnis hin und sammelt die Gründe, die für diese Interpretation sprechen usw. Diese Lehrmeinung wurde bis in die 70er Jahre hinein stark vertreten und wird heute mitunter sogar als das damals herrschende Methodenkonzept bezeichnet.

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5. Funktionaler Grundansatz im Strafrecht Auch die Methodik der Strafrechtswissenschaft war seit den 70er Jahren stark durch den Empirismus geprägt und die „funktionale Betrachtungsweise“ wurde damals ein Modewort. Man glaubte, ein tragfähiges Fundament der Strafrechtswissenschaft in den kriminalpolitischen Überlegungen, insbesondere in den empirisch zu ermittelnden Präventionsbedürfnissen gefunden zu haben, und wollte sie direkt bei der Gesetzesauslegung berücksichtigen. Es liege nur ein gradueller Unterschied zwischen Gesetzgebung und Gesetzesauslegung, was ihre schöpferische Tätigkeit angeht. Es sei eine Frage der Zweckmäßigkeit, ob man den Gesetzgeber oder den Richter rechtsschöpfend tätig werden lässt. 6. Niedergang des Empirismus und Renaissance des Vergeltungsgedankens Diese Euphorie für die Empirie hat in den 80er Jahren deutlich nüchterneren Überlegungen Platz gemacht. Der Interessenabwägungstheorie wurde zum Vorwurf gemacht, dass sie die Rechtsanwendung mit einer politischen Entscheidung gleichsetze, indem sie nackte, prinzipienlose Interessenabwägungen, die von reichlich komplexer Natur und mit einer generalklauselartigen Unbestimmtheit behaftet seien, in den Vordergrund stelle und damit dem Richter einen Freibrief gebe. Sie unterschätze außerdem die Begründung und die Rechtfertigung des Ergebnisses, indem sie diese als etwas Zweitrangiges und nur noch Nachträglich-Gegebenes betrachte. Man sprach hier von einem Psychologismus, denn die Vertreter der Interessenabwägungstheorie erachteten den tatsächlichen psychischen Prozess, der den Rechtsanwender zum jeweiligen Ergebnis gelangen lässt, als entscheidend und verlangten von dem Rechtsanwender, seine subjektiven Beweggründe offenzulegen. Das Gleiche gilt auch für den funktionalen Grundansatz im Strafrecht: Da bezüglich der sozialen Funktion des Strafrechts keine empirisch gesicherte Aussage gemacht werden kann, würde das Postulat, Rechtsentscheidungen immer an ihren konkreten sozialen Folgen im Einzelfall zu messen, wegen der fehlenden Informationsmöglichkeit, eine Überforderung für den Richter bedeuten und damit eine Gefahr für die Rechtssicherheit mit sich bringen. 12 Das war so in den 80er Jahren, in denen die funktionalistische Grundansicht im Strafrecht in Japan ihren Einfluss eingebüßt hatte. Ich möchte hier einen kleinen 12 Vor allem ist zum Strafrecht zu bemerken, dass in unserer von nacktem utilitaristischem Denken geprägten Zeit auch der Gesetzgeber, der eigentlich für eine Folgenorientierung besser ausgestattet ist als der Richter, unter dem Einfluss der vornehmlich durch die Medien repräsentierten öffentlichen Meinung zu einer Überbetonung der strafrechtlichen Kriminalitätskontrolle neigt. Ob der Richter vor diesen Gefahren, die sich aus den utilitaristischen und auch stark populistischen Tendenzen ergeben, besser geschützt ist als der Gesetzgeber, ist zu bezweifeln.

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Exkurs über die spätere Entwicklung des japanischen Strafrechts einfügen. Seit damals tritt in der Gesetzgebung und Gerichtspraxis in Japan immer mehr die Tendenz eines Punitivismus hervor, der zur Sicherung der gesellschaftlichen Ordnung in verstärkterem Maße als bisher eine schwerere Strafe einsetzen will. Diese Tendenz kann man mit dem Stichwort „Renaissance des Vergeltungsgedankens“ kennzeichnen. Ein Stimmungswechsel ist insbesondere in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ganz deutlich sprürbar geworden. Das traditionelle Justizwesen wurde von Medien und Politikern scharf kritisiert, weil es die Interessen der Verbrechensopfer nur wenig berücksichtige. Es war überall davon die Rede, dass die Strafjuristen nur an die Rechte und Interessen der Straftäter, nicht aber an die der Opfer dächten. Diese kritischen Stimmen haben die gerichtliche Strafzumessung beeinflusst und dazu beigetragen, das Strafniveau zu erhöhen. Sie haben darüber hinaus ihren Niederschlag in mehreren Reformgesetzen gefunden. Das wichtigste davon war das Strafrechtsänderungsgesetz von 2004. Der Gesetzgeber führte mit ihm einen starken Eingriff in die Strafrahmen des StGB durch: Die Obergrenze der zeitigen Freiheitsstrafe wurde generell von bisher 15 auf 20 Jahre, bei der Strafverschärfung wie bei der Realkonkurrenz von bisher 20 auf 30 Jahre heraufgesetzt. Beispielsweise wird die Körperverletzung mit Todesfolge jetzt mit Zuchthausstrafe bis zu 20 Jahren bestraft. Wenn der Täter zwei solche Taten in Realkonkurrenz begeht, beträgt nunmehr die Höchststrafe Zuchthausstrafe von 30 Jahren. Der Hintergrund dieser Reform war der Umstand, dass eine Aufsehen erregende Zunahme von Vermögens- und vor allem Gewaltkriminalität in den 90er Jahren das Kriminalitätsproblem in der Öffentlichkeit als bedrohlich empfinden ließ. Inzwischen hat es sich aber erwiesen, dass dieses Phänomen, verursacht durch den wirtschaftlichen Niedergang, nur zeitweiliger Natur war. Zudem weisen schwerste Delikte wie die vorsätzliche Tötung nach wie vor stabile Zahlen auf. Bei der vorsätzlichen Tötung lässt sich in den letzten 50 Jahren sogar eine deutlich abnehmende Tendenz feststellen. Einen klaren Kontrast dazu bildet der Umstand, dass bei den Tötungsdelikten durch den Richter tendenziell immer schwerere Strafen verhängt werden. Eine besonders punitivistische Tendenz hat sich sowohl bei der richterlichen Strafzumessung als auch bei der Gesetzgebung bezüglich der fahrlässigen Tötung im Straßenverkehr gezeigt. Man hat konstatiert, dass in der jetzigen Praxis das nicht besänftigte Verlustgefühl der Hinterbliebenen des Opfers einen ganz entscheidenden Strafzumessungsfaktor darstellt. Der Gesetzgeber hat die Erhöhung des Strafzumessungsniveaus zum Anlass genommen, eine neue Strafvorschrift in das StGB einzuführen, nach der der Täter beim verkehrsgefährdenden Autofahren – z. B. Fahren unter starkem Alkoholeinfluss – zu einer Zuchthausstrafe bis zu 20 Jahren zu verurteilen ist, wenn dadurch der Tod eines Menschen verursacht wurde. Andererseits aber nahm die Zahl der Opfer, die durch Verkehrsunfälle getötet wurden, seit Anfang der 90er Jahre kontinuierlich stark ab. Hier finden

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wir ein weiteres Beispiel dafür, dass trotz einer stabilen oder sogar rückläufigen Kriminalitätslage eine immer härtere Sanktionierung gefordert wird. Es lässt sich vermuten, dass der neue Punitivismus, der heute die Gesetzgebung und die Gerichtspraxis in Japan dominiert, seinen Hintergrund in der Änderung der Gesellschaftsstruktur und des Bürgerbewusstseins hat. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich der Mechanismus der kriminalpolitischen Entscheidungsbildung durch den Staat inzwischen stark geändert hat. Die Forderungen nach Berücksichtigung der Interessen der Verbrechensopfer und des strafrechtlichen Schutzes der bürgerlichen Sicherheit von Seiten der Bürger richten sich – oft verstärkt durch die Massenmedien – an die Staatsorgane, die ihrerseits genötigt sind, diesen Ansprüchen zu genügen. Das hat zur Folge, dass die staatliche Willensbildung im Bereich der Kriminalpolitik durch einen nicht mit Fachwissen ausgestatteten Personenkreis beherrscht wird. Charakteristisch ist hier die Entweder-Oder-Denkweise; gegen Kriminalität wird gleich das Allheilmittel gesucht. Die Fachleute verlieren an Einfluss, weil sie für das Kriminalitätsproblem wohl komplizierte Abwägungsgesichtspunkte darlegen, aber keine schlagkräftigen Worte finden können, wie das von der Gesellschaft erwartet wird. Nicht nur in Sachen Kriminalität, sondern bei allen politisch wichtigen Entscheidungen durch den Staat verstärken sich heute populistische Tendenzen. Die Öffentlichkeitssphäre, die früher durch die Fachleute (mit)getragen wurde, scheint sich verdünnt und auf die ganze Gesellschaft erweitert zu haben. Der neue Punitivismus kann als Ausdruck eines Angstgefühls interpretiert werden, unter dem die Menschen in der modernen Gesellschaft leiden. Wer mit dem wirklichkeitsnah dargestellten, aber die gesamte Wirklichkeit keineswegs exakt abbildenden Kriminalitätsbericht durch die Medien konfrontiert wird, fühlt sich unter Assoziation der allgemeinen Lockerung der Verhaltensregulierung und der Relativierung der Wertmaßstäbe unsicher. Die modernen Menschen trachten danach, dieses Angstgefühl mit einer verstärkten Bereitschaft zu strengerer Bestrafung auszugleichen. Das allgemeine Angst- bzw. Unsicherheitsgefühl hat in der sozialen Wirklichkeit eine andere Wurzel: Die an Komplexität gesteigerte, hoch industrialisierte und technisierte Gesellschaft ist für das Individuum eine große „Black Box“ und damit ein unheimliches, menschlicher Kontrolle kaum zugängliches Wesen geworden. Das ganze Sozialsystem ist vom blinden Vertrauen der Personen untereinander und von unzähligen, an sich fragilen technischen Einrichtungen abhängig. Auch das an sich als Bagatelle erscheinende Vergehen einer Einzelperson kann eine Katastrophe zur Folge haben. Erinnert sei z. B. an Betriebsunfälle, Lebensmittelvergiftung, Umweltverschmutzung, Verkehrsunfälle usw. Der Umfang des für die Einzelperson konkret voraussehbaren Kausalgeschehens wird immer enger. Man weiß nicht, was im nächsten Moment geschehen kann. Zunehmend ist es auf Grund dieser Gesellschaftsentwicklung nötig, Ansätze der Gefahr frühzeitig als solche zu erkennen und zu beseitigen. Für das Strafrecht stellt sich deshalb

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die Aufgabe, mit der Vorverlegung der Strafbarkeit an dieser Gefahrenabwehr mitzuwirken. Der rationalistische Gedanke, dass man auch das künftige Geschehen voraussehen, auf diese Voraussicht vertrauen und damit die Welt in die Hand bekommen kann, hat seine Überzeugungskraft verloren. Weil sich die beim Handeln zu verarbeitenden Informationen explosiv vermehrt haben und nicht alle Informationen – auch nicht die wichtigsten darunter – gesammelt werden können, ist man gezwungen, immer auf Grund ungenügender Informationen zu handeln, und dabei entsteht ein Gefühl der Unsicherheit. Für die handelnde Person stellt sich die Welt als ein dunkler Tunnel dar, in dem man nur tastend vorwärts kommen kann. Mit dem Niedergang des Empirismus in der japanischen Rechtswissenschaft korrelierte der Aufstieg des Irrationalismus, der sich für die empirischen Beweise über die Strafwirkung und die Abwägung von Nutzen und Schaden gar nicht interessiert. Punitivistische Forderungen der Bürger können über die Medien und die Staatsorgane Konsequenzen bei der Gerichtspraxis und der Gesetzgebung hervorrufen, ohne dass sie vorher einer wissenschaftlichen Prüfung unterzogen werden. Die Strafrechtswissenschaftler drohen durch diesen Mechanismus ihren Einfluss auf die Praxis zu verlieren. V. Leistungsfähigkeit der Systematik 1. Prozedurale Rechtstheorie Die Interessenabwägungstheorie trennte die Rechtsfindung als die eigentliche Aufgabe des Rechtsanwenders von der erst nachträglich gegebenen Begründung und Rechtfertigung des Endergebnisses. Die Vertreter dieser Theorie erachteten die letztere als eine zweitrangige, technische Frage. Nachdem die Begeisterung für die Interessenabwägungstheorie abgeklungen war, gewann seit den 80er Jahren die Auffassung die Oberhand, dass die zwei Seiten des Rechtsfindungsprozesses, d. h. die Entscheidung unter den möglichen Auslegungsalternativen und ihre Begründung, gar nicht zu trennen seien und die Garantie für die inhaltlich richtige Rechtsfindung sogar auf ihrer prozeduralen Seite, d. h. in der Begündung und der Argumentation, zu suchen sei. Das Richtigkeitskriterium der Rechtsfindung könne nur die Plausibilität der Argumente sein, die im Diskurs konsenserzielend vorgebracht werden. Diese prozedurale Rechtstheorie wurde entwickelt unter dem Einfluss einer in der anglo-amerikanischen und europäischen Rechtstheorie vertretenen Richtung, wie sie etwa in den Büchern von Stephen Toulmin, Chaim Perelman, Theodor Viehweg und Robert Alexy zu finden war. Dieser Richtung müsste man darin rechtgeben, dass das Richtigkeitskriterium für die Rechtsfindung nicht außerhalb, sondern in der juristischen Argumentation und damit in der Begründung der Auslegungsalternative zu suchen ist. Es scheint mir aber zugleich, dass diese prozedurale Rechtstheorie – jedenfalls in Japan – auf

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der Ebene eines abstrakten Methodenkonzepts blieb und für die positive Rechtswissenschaft kaum etwas Neues und Positives hervorbrachte. Die Regeln, die sie für den konsenserzielend durchzuführenden Diskurs aufstellte, waren mehr oder weniger Selbstverständlichkeiten und liefen auf etwas hinaus, was auch bisher als stillschweigend vorausgesetzt wurde. 2. Zweifel am Systemdenken Was diese Richtung insbesondere im Bereich der Strafrechtswissenschaft bewirkte, war sogar von destruktiver Art. Ryuichi Hirano, ehemaliger Strafrechtsprofessor der staatlichen Universität zu Tokyo, unser einflussreichster Strafrechtler des 20. Jahrhunderts, übte, inspiriert durch die Schriften Thomas Würtenbergers und Theodor Viehwegs, bereits seit den 70er Jahren am traditionellen Systemdenken im Strafrecht eindringliche Kritik. Hirano schrieb: Das Systemdenken verstellt nicht nur den unmittelbaren Zugang zum eigentlichen Problem, sondern verhindert auch das Zustandekommen des Diskurses und erschwert so die Konsensbildung. Wenn der Rechtsanwender seine Problemlösung begrifflich-deduktiv von einem vorher errichteten System ableite und nur „systematische Argumente“ entwickele, so besitze seine Argumentation keine Plausibilität für denjenigen, der von einem anderen System ausgeht. Hier sei höchstens ein Theorienstreit zwischen den verschiedenen Systemen auf abstrakter Ebene möglich, bei dem aber jenes Ausgangsproblem aus den Augen verloren werde. Hirano forderte deshalb, dass das Systemdenken Platz für das Problemdenken mache. Was Hirano damals bei seiner Kritik am Systemdenken meinte, kann man aus heutiger Sicht viel klarer verstehen als damals. Auf die Systematik gänzlich zu verzichten, kann auch Hirano unmöglich im Sinn gehabt haben. Das Systemdenken, wie ich es verstehe, geht davon aus, dass eine Falllösung nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern generalisierbar sein muss. 13 Der zu entscheidende Fall muss im Zusammenhang mit gleich oder ähnlich gelagerten Fällen geprüft und es muss eine Lösung gefunden werden, die mit den Lösungen sämtlicher, mehr oder weniger relevanter Fälle konsistent oder wenigstens verträglich ist. Die Systematik kann durch diese Stimmigkeitskontrolle den Kreis möglicher Lösungsalternativen verkleinern und damit die strafrechtlichen Werturteile rationalisieren. Das Systemdenken dient kraft seiner Generalisierung und Abstrahierung den Geboten der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit. 14

13 Hierzu und zum Folgenden siehe Makoto Ida, „Welche neuen praxisrelevanten Ergebnisse bringen die gegenwärtig zum materiellen Strafrecht diskutierten neuen systematischen Konzepte?“, in: Hans Joachim Hirsch (Hrsg.), Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften?, 2001, S. 138 ff. 14 Kurt Seelmann, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 2007, S. 90 weist darauf hin, dass die Generalisierbarkeit der Rechtsentscheidung auch mit der „Freiheitsoptimierung“ eng verbunden ist.

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3. Lehre und Praxis Hier trennen sich aber die Wege. Man kann heute Hirano so verstehen, dass er damals für den japanischen Richter das Wort führte. Nach dem Selbstverständnis des japanischen Richters ist seine Arbeit streng auf den konkreten Fall bezogen. Generalisierbare, allgemeine Regeln aufzustellen, sei die Aufgabe des Gesetzgebers, nicht des Richters. Diese feste Überzeugung des japanischen Richters spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass in der vom Gericht herausgegebenen Entscheidungssammlung zu jeder Entscheidung sehr ausführlich der ihr zugrunde gelegte Sachverhalt geschildert wird. Wenn ich etwas simplifizieren darf, kann ich das wie folgt charakterisieren: Die Rechtswissenschaftler suchen auf einem höheren Abstraktionsniveau nach den Lösungsprinzipien, die bei allen theoretisch denkbaren Fällen zu widerspruchsfreien Resultaten führen können. Die Einzellfallgerechtigkeit dürfe nur innerhalb dieses systematischen Rahmens Bedeutung haben. Demgegenüber sagen die japanischen Praktiker, die Einzelfallgerechtigkeit habe den absoluten Vorrang. Man dürfe zwar nicht auf eine ad-hoc-Lösung verfallen. Gleiche Fälle müssten auch gleich gelöst werden. Aber den Kreis der gleichen Fälle müsse man eng ziehen. Wie und mit welchen Prinzipien man die vom vorliegenden zu unterscheidenden Fälle lösen soll, sei nicht wichtig. Die auf die Einzelfallgerechtigkeit abstellende und faktenbezogene Betrachtungsweise der japanischen Praktiker hat sich ursprünglich unter dem Einfluss der Theorien von Eugen Ehrlich und den anglo-amerikanischen Rechtsdenkern, die u. a. Izutaro Suehiro, Zivilrechtler und Rechtssoziologe, bereits seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts in die Methodendiskussion eingeführt hatte, gebildet. Man sollte nicht außer acht lassen, dass das anglo-amerikanische Rechtsdenken schon sehr früh, nämlich bereits vor dem Zweiten Weltkrieg, einen starken Einfluss insbesondere auf die Denkweise der japanischen Richter ausgeübt hat. Es ist deshalb gar nicht zutreffend, dass das anglo-amerikanische Recht in Japan erst ab der Nachkriegszeit eine große Bedeutung erlangt hätte. Es scheint, dass diese Denkweise der japanischen Praktiker durch die Kritik am Systemdenken durch Hirano und auch die neuere prozedurale Rechtstheorie nur noch unterstützt und gestärkt worden ist. Stellen wir uns vor, dass ein japanisches Gericht über einen Fall A zu entscheiden hat, so berücksichtigt der Richter zwar den nächst verwandten Fall B mit und versucht, innerhalb des erlaubten Auslegungsspielraums ein Lösungsprinzip X zu finden, das für den Fall A und den Fall B gilt. Die Wissenschaftler konstruieren demgegenüber ein Netzwerk von Fällen, das nicht nur die Fälle A und B, sondern auch die dem Fall A weniger verwandten, aber relevanten Fälle C und auch D mit enthält, und schlagen ein anderes Lösungsprinzip Y vor. Es kommt häufig vor, dass die Wissenschaft und die Justiz auf diese Weise zu einer andersartigen Lösung desselben Falles gelangen.

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4. Beispiel 1: Objektive Erfolgszurechnung Als ein praktisches Beispiel hierfür kann die strafrechtliche Problematik der Kausalität oder der objektiven Erfolgszurechnung dienen. In der japanischen Lehre herrscht seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts die von der deutschen Doktrin übernommene Adäquanztheorie. Sie besagt, dass bei einem inadäquaten Kausalverlauf die rechtliche Kausalität zu verneinen sei. Diese Theorie ist so konzipiert, dass mit einer einzigen Formel sämtliche Zurechnungsfälle zu behandeln und auch einer Lösung zuzuführen sind. Der OGH zögerte demgegenüber lange, diese Lehre zu übernehmen und erteilte ihr schliesslich in einer Entscheidung von 1990 (Beschluss v. 20. 11. 1990) eine deutliche Absage. Es ging hier um den folgenden Sachverhalt: Der Täter schlug mehrere Male so stark auf den Kopf des Opfers ein, dass dieses eine absolut tödliche Hirnblutung erlitt. Daraufhin ließ der Täter das Opfer auf einem Lagerplatz liegen. Einige Zeit später kam ein völlig unbeteiligter Mensch vorbei und schlug einige Male mit einer Holzstange auf den Kopf des sich im Sterben befindenden Opfers ein, was möglicherweise den Tod durch die Hirnblutung etwas beschleunigt haben kann. 15 Der OGH hat hier die rechtliche Kausalität bejaht und den Täter wegen Körperverletzung mit Todesfolge bestraft. In der Tat ist hier der Kausalverlauf inadäquat, aber die Verneinung der Erfolgszurechnung ist offenbar fehl am Platz. Die japanischen Strafrechtler wurden durch diese Entscheidung zur Revision des eigenen Standpunkts gezwungen. Der OGH beurteilt seit dieser Entscheidung den jeweiligen Zurechnungsfall kasuistisch und liefert zu jedem Fall eine streng fallbezogene Begründung. Das Beispiel zeigt, dass hier die Strafrechtswissenschaft deshalb gescheitert ist, weil sie zu hoch angesetzt hat und sogleich eine allumfassende Theorie, die in der Lage sein sollte, sämtliche möglichen Fälle behandeln und lösen zu können, aufstellen wollte. Diese Art von allumfassenden Theorien mag didaktisch nützlich sein, aber die japanische Praxis interessiert sich nicht dafür. 5. Beispiel 2: Das japanische Organtransplantationsgesetz Diese Art von Skepsis gegenüber der Systematik oder ihre Ignorierung zeigt sich in krasser Form im japanischen Organtransplantationsgesetz von 1997. Das Gesetz setzt eine allgemeine Anerkennung des Hirntodkonzepts nicht voraus. 16 Das Hirntodkonzept, das im Hirntod den Verlust der Menschqualität im juristischen Sinne sehen will, hat sich als ein allgemeines Todeskonzept bei uns bisher nicht durchsetzen können, wobei der auch bei uns bekannte Erlanger-Baby-Fall eine Rolle gespielt hat. Da der japanische Gesetzgeber trotzdem die Organentnahme aus Hirntoten für rechtmäßig erklären wollte, hat er sich für eine einzigartige vermittelnde Lösung entschieden: Der herkömmliche Todesbegriff, d. h. der Herz15

Zu diesem Fall vgl. auch Seiji Saito, in: FS für Claus Roxin, 2001, S. 261 ff. Zum japanischen Organtransplantationsgesetz ausführlich Makoto Ida, in: FS für Udo Jesionek, 2002, S. 339 ff. 16

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Kreislauf-Tod, ist durch dieses Gesetz nicht angetastet worden. Nur wird uns, den potentiellen Organspendern, daneben ein vorverlegter Tod im Zeitpunkt der Feststellung des Hirntodes zur Wahl gestellt. Wir Japaner sind damit das einzige Volk auf der Welt geworden, das zwischen zwei Todesarten, nämlich Herztod und Hirntod, selber wählen darf. Die systematische Ungereimtheit dieser Lösung stört die Japaner wenig. Sie wollten sie hinnehmen, um zu vermeiden, dass die hirntote Person generell für tot erklärt wird. 6. Das japanische Recht als Flickenteppich Es scheint, dass ein Änderungsprozess des japanischen Rechts bereits in vollem Gange ist. Unser Recht entwickelt sich jetzt zu einem Flickenteppich, wobei man versucht, den einzelnen Fällen und Problemen – unter flexibler Anpassung an die Änderungen der Gesellschaft – jeweils als sachgemäß erscheinende Lösungen zu geben, aber dabei ihre systematischen Zusammenhänge immer weniger beachtet. 17 Diesem Wandel entspricht es, dass die Japaner mehr und mehr – statt des deutschen – das amerikanische Recht zum Vorbild nehmen. Symptomatisch dafür ist, dass man kürzlich, vor vier Jahren, das System der Juristenausbildung nach dem amerikanischen Modell umgestaltet hat. Wir haben nämlich unter Beibehaltung der juristischen Fakultäten deutscher Art die Law Schools als graduate schools amerikanischer Art eingeführt. Das heißt jetzt, dass wir in ganz Japan neben den etwa 90 juristischen Fakultäten zugleich etwa 60 Law Schools besitzen. VI. Schlussbetrachtung Ich komme zur Schlussbetrachtung. In dieser Studie habe ich verschiedene Elemente der Rechtsfindung, angefangen vom Wortlaut des Gesetzes über den Willen des Gesetzgebers, die Interessenabwägung und die kriminalpolitischen Überlegungen bis zur Systematik, Revue passieren lassen. Es hat sich dabei herausgestellt, dass jedes dieser Elemente mit Skepsis betrachtet werden muss, so dass insgesamt die Rechtsfindung sich auf einem ganz unsicheren Boden zu bewegen scheint. Andererseits sollte man sich hüten, die Dinge zu abstrakt zu betrachten. Im konkreten Fall tritt doch das jeweilige Element mit einer unterschiedlichen Stärke auf. Philipp Heck unterschied zwischen dem Begriffskern und dem Begriffshof. Ryuichi Nagao, japanischer Rechtsphilosoph, hat das Begriffspaar mit der Spitze und dem Fuß des Bergs Fuji umschrieben. Je klarer der Sachverhalt im Kern 17 Hierzu vgl. Makoto Ida, „Was bringt die sog. Internationalisierung des Strafrechts? – Eine Problembetrachtung aus japanischer Perspektive“, in: Junichi Murakami / Hans-Peter Marutschke / Karl Riesenhuber (Hrsg.), Globalisierung und Recht – Beiträge Japans und Deutschlands zu einer internationalen Rechtsordnung im 21. Jahrhundert, 2007, S. 227 f.

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des gesetzlichen Begriffs gefasst ist, d. h., wenn wir an der Spitze des Bergs Fuji sind, desto geringeres Gewicht kommt sonstigen Auslegungselementen zu. Im Bereich des Begriffshofs, wenn wir am Fuß des Berges sind, muss man sich auf teleologische Überlegungen berufen. In der Tat kommt es bei der Rechtsfindung sehr auf die Stärke des jeweiligen Elements an. Als Strafrechtsdogmatiker, der sich tagtäglich mit konkreten strafrechtlichen Fragen befasst, bin ich davon überzeugt, dass die Rationalität der Werturteile nur in der juristischen Argumentation und durch die Abwägung der vorgebrachten Argumente garantiert werden kann. Dabei muss man auch die zeitliche oder geschichtliche Dimension mitberücksichtigen: Wir Juristen haben nach langer Übung der Diskussion für den jeweiligen Problemkreis Maßstäbe entwickelt, nach denen die Gewichte der einzelnen Argumente beurteilt werden können. Diese Diskussionssphäre samt ihren geschichtlich herausgebildeten Maßstäben möchte ich Rechtskultur nennen. Die Werturteile, die hier mitwirken, können nicht mehr von rein subjektiver Natur sein. Sie müssen vielfache Filter passieren und werden dadurch kultiviert und objektiviert. Abschließend kann man deshalb das berühmte Wort von Friedrich Nietzsche 18 etwas modifizieren und sagen: „Einer hat immer Unrecht, aber mit zweien und auch mit der Zeit beginnt die Wahrheit.“

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Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch, Nr. 260.

Dimensionen der Rechtsvergleichung – Traditionalität und Modernität der Rechtssysteme * Maciej Małolepszy I. Obwohl die Rechtsvergleichung bisher weder ein hinreichendes theoretisches Gerüst noch ein entsprechendes methodisches Instrumentarium entwickelt hat, 1 überwiegt in der methodischen Literatur die Auffassung, dass in der heutigen Rechtsvergleichung dem funktionalistischen Ansatz der Vorrang zukommt. 2 Danach untersucht man die Rechtssysteme unter dem Blickwinkel, wie sie ein bestimmtes Problem gelöst haben. 3 Dieser Ansatz ist ohne Zweifel sehr wichtig und wird auch in Zukunft sicherlich noch viele fruchtbare Ergebnisse hervorbringen. Er lässt jedoch eine sehr wichtige Dimension der Rechtsvergleichung außer Acht, die in der Zeit der Europäisierung (Vereinheitlichung) der Rechtssysteme ständig an Bedeutung gewinnt, 4 und zwar den Aspekt der Offenheit der Rechtssysteme für neue Rechtsideen. Der vorliegende Beitrag will diesen Gedanken näher entwickeln, denn es scheint, dass die Rechtssysteme der EU-Staaten einen unterschiedlichen Grad an Offenheit im Hinblick auf neue Rechtsideen aufweisen. Dies kann für die Vereinheitlichung der Rechtssysteme der EU-Staaten erhebliche Konsequenzen haben und sollten jedenfalls durch den europäischen Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt werden. Es scheint zudem, dass dieses Phänomen sowohl in der deutschen als auch in der polnischen strafrechtlichen Literatur bisher nicht vertieft wurde, was die Hoffnung des Verfassers dieses Aufsatzes begründet, dass diese Thematik auf das Interesse des Jubilars stoßen wird. * Der vorliegende Beitrag stellt die erweiterte Fassung des Vortrages dar, den der Verfasser aus Anlass der Verleihung des Joachim-Georg-Darjes-Preises am 4. Juni 2008 in Frankfurt (Oder) gehalten hat. 1 W.Perron, Sind die nationalen Grenzen des Strafrechts überwindbar? Überlegungen zu den strukturellen Voraussetzungen der Angleichung und Vereinheitlichung unterschiedlicher Strafrechtssysteme, ZStW 109, S. 287 m.w.N. 2 H.Jung, Grundfragen der Strafrechtsvergleichung, Juristische Schulung 1998, Heft 1, S. 2. 3 Ebenda, S. 2. 4 B. Hecker behauptet sogar, dass sich die Strafrechtssysteme der europäischen Staaten in einem regelrechten „Europäisierungssog“ befinden. B.Hecker, Europäisches Strafrecht, 2. Auflage, 2007, S. 3.

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II. Zunächst müssen einige Begriffe geklärt werden. Unter dem Begriff „Offenheit“ kann die Bereitschaft von Rechtssystemen zur Übernahme von Rechtsideen aus anderen Rechtskulturen bzw. aus anderen Ländern verstanden werden. Dabei lassen sich zwei Pole unterscheiden: Auf der einen Seite kann man die Rechtssysteme verorten, die relativ schnell und in weitem Umfang neue Rechtsideen inkorporieren, und auf der anderen Seite stehen die Rechtssysteme, die sich nur mit großem Zögern neuen rechtlichen Strömungen anschließen. Diese beiden Pole, die man als „Modernität“ und „Traditionalität“ bezeichnen kann, markieren somit einen Maßstab, mit dessen Hilfe sich die Bereitschaft eines Rechtssystems zur Absorption neuer Rechtsideen feststellen lässt. Um Missverständnisse zu vermeiden, soll betont werden, dass die Bezeichnungen „Modernität“ und „Traditionalität“ keine wertenden Elemente enthalten. Das moderne Rechtssystem, als ein Rechtssystem, das relativ schnell neue Rechtsideen übernimmt, kann nicht als das notwendig bessere im Vergleich zum traditionellen Rechtssystem bezeichnet werden. Ganz im Gegenteil, es lassen sich in den traditionellen Rechtsordnungen durchaus viele Vorteile auffinden, worauf hier aber nicht näher eingegangen werden kann. Um diese abstrakten Begriffe auf eine praktische Ebene zu bringen, soll im Folgenden anhand des polnischen und des deutschen Strafrechts gezeigt werden, wie diese beiden Rechtsordnungen vier unterschiedliche Rechtsideen absorbiert haben. Als Beispiele wurden vier Rechtsideen gewählt, die im juristischen Diskurs gewöhnlich unter den folgenden Begriffen behandelt werden: 1. Probation 2. Plea bargaining 3. Community service 4. Electronic monitoring Auf eine ausführliche Definition der genannten Begriffe muss hier verzichtet werden. Um jedoch Missverständnisse zu vermeiden, ist es erforderlich, einen Grundriss dieser Rechtsideen zu skizzieren. Der Idee der Probation, die in England und in den USA entwickelt wurde, 5 liegt die Auffassung zugrunde, dass der Täter auf der Grundlage einer positiven Prognose eine Probezeit verdient, in der er sich unter Aufsicht eines zuständigen Organs bewähren soll. 6 Die strafrechtlichen Konsequenzen einer Straftat hängen damit grundsätzlich davon ab, ob der Täter in der Probezeit weitere Straftaten begeht oder nicht. Diese Idee liegt heute z.B. dem Rechtsinstitut der Strafaussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung zugrunde. 5

A.Marek, Prawo karne, 6. Auflage, 2005, S. 292. Ausführliche Definitionen der Idee der Probation siehe bei: A.Bałandynowicz, Probacja. Resocjalizacja z udziałem społecze´nstwa, 2006, S. 21 –22. 6

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Die Idee des plea bargaining, die auch aus der USA stammt, ist vor allem durch die Urteilsabsprachen zwischen den Beteiligten in einem Strafprozess bekannt. In der amerikanischen Variante 7 schlägt dabei der Staatsanwalt im Austausch für ein Geständnis eine geringere Bestrafung vor, als an sich im Gerichtsverfahren zu erwarten ist. Wenn der Angeklagte den Vorschlag annimmt, bekennt er sich vor dem Richter als schuldig. Dieser bestimmt dann das Strafmaß, das meist mit dem Vorschlag des Staatsanwalts übereinstimmt. Die Idee des community service, die auch als eine Alternative zu der Freiheitsstrafe betrachtet werden kann, geht von der Annahme aus, dass Täter in der Form vielfältiger Arbeitsleistungen für die Gesellschaft (Gemeinde) ihre strafrechtliche Schuld abarbeiten können. Der englische community service wurde durch den Criminal Justice Act 1972 in das englische Rechtssystem eingeführt. Es ist als selbstständige Hauptstrafe für alle Taten gedacht, die mit Freiheitsstrafe geahndet werden können. 8 Er wird seit 1975 in ganz England und Wales angewandt. 9 Der Verurteilte leistet während seiner Freizeit zwischen 40 und 240 Stunden unentgeltlicher Arbeit, wobei seine Einwilligung hierzu erforderlich ist. 10 Auch das electronic monitoring, also der Einsatz der elektronischen Geräte in der Strafrechtspflege, wurde zunächst in den USA entwickelt. 11 Dabei geht es vor allem um die Kontrolle von Straftätern mit Hilfe einer elektronischen Fuß- oder Handfessel, die die Straftäter in Freiheit tragen müssen, um stets ihren Aufenthaltsort ermitteln zu können. Durch den Einsatz dieser Geräte steigert sich die Effektivität der Kontrolle, so dass Täter in Freiheit bleiben können, die ohne Einsatz dieser Geräte eine Freiheitsstrafe verbüßen müssten. Im Folgenden soll die Absorption dieser Rechtsideen durch die deutsche und die polnische Rechtsordnung skizziert werden. 1. Probation Der Gedanke der Probation wurde in beiden Rechtsordnungen zu verschiedener Zeit und in unterschiedlichem Umfang rezipiert. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass sich das deutsche Strafrecht mit dem Gedanken der Probation nur recht zögernd angefreundet hat. 12 Die Zurückhaltung gegenüber der Probation 7 Siehe dazu ausführlich S.Steinborn, Porozumienia w polskim procesie karnym, 2005, S. 61ff. 8 G.Kaiser, Kriminologie, 3. Auflage, 1996, S. 1037. 9 Ebenda. 10 Ebenda. 11 D.Siedlecki, Elektroniczne monitorowanie przeste˛pców – nowoczesna alternatywa pozbawienia wolno´sci, 2005, S. 3ff. 12 R.Maurach / K.H.Gössel / H.Zipf, Strafrecht AT 2, §65 I RN7.

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ist insbesondere im Hinblick auf die Einführung der Bewährungsstrafe in das StGB sichtbar. Während in Polen schon der Strafkodex von 1932 dem Richter das Instrument der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung an die Hand gab, wurde dieses Rechtsinstitut in Deutschland erst im Jahre 1953 mit dem 3.StrÄndG in das StGB eingeführt, also 20 Jahre später. 13 Nicht einmal die Kraft der soziologischen Schule in Deutschland und die Entschlossenheit des berühmten Strafrechtlers von Liszt sowie aller Befürworter der bedingten Freiheitsstrafe reichten aus, um die zahlreichen Projekte einer Einführung des neuen Rechtsinstitutes in das StGB Realität werden zu lassen. 14 Die Entwicklung ging den Umweg über das Begnadigungsrecht 15, d.h. die Einzelstaaten in Deutschland erließen Verordnungen über die bedingte Begnadigung, was als erste Probe einer Einführung der Strafaussetzung in der deutschen Praxis angesehen werden kann. Von der Zurückhaltung der deutschen Rechtsordnung gegenüber der Probation zeugt nicht nur der späte Zeitpunkt der Einführung der Bewährungsstrafe in das StGB. Auch in ihrem Umfang wiesen die deutschen Vorschriften im Vergleich zu den polnischen Regelungen eine vorsichtigere Haltung gegenüber der Strafaussetzung auf, wobei allerdings zu beachten ist, dass seit dem Inkrafttreten des 1. StrRG von 1969 die deutschen Regelungen in einigen Punkten strafaussetzungsfördernder sind als die Vorschriften der polnischen Kodizes. 16 Die Skepsis gegenüber der Bewährungsstrafe in Deutschland ging vor allem von dem herrschenden Strafkonzept aus. Ist die These richtig, dass sich der Gedanke der Probation erst dann in die Praxis umsetzen lässt, wenn die Idee der Strafe als Vergeltung zugunsten der Konzeption einer zweckmäßigen Strafe an Bedeutung verloren hat, 17 so würde daraus folgen, dass die Idee einer vergeltenden Strafe im deutschen Strafrechtssystem (im Vergleich mit der Entwicklung der polnischen Rechtsordnung) gegenüber dem Gedanken der präventiven Strafzwecke länger den Vorrang behielt. 18 In der Tat war die Anzahl der Gegner der bedingten 13 Siehe dazu insbesondere M.Małolepszy, Geldstrafe und bedingte Freiheitsstrafe nach deutschem und polnischem Recht. Rechtshistorische Entwicklung und gegenwärtige Rechtslage im Vergleich, 2007, S. 205ff. 14 Zur Geschichte der Entwürfe siehe: M. Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel, 2002. 15 G. Gribbohm in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 11. Auflage, vor §56 RN 2. 16 Siehe dazu insbesondere M.Małolepszy, a.a.O. (ob. Fn. 13), S. 205ff. 17 So z.B. B. Wróblewski, Penologja-socjologja kar, 1926, S. 262; K.Buchała, Prawo karne materialne, 1980, S. 612; T. Kaczmarek, Rezension eines Buches von Skupi´nski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, PiP 1/1994, S. 90; A. Kordik, Warunkowe zawieszenie wykonania kary w systemie s´ rodków probacyjnych i jego efektywno´sc´ , 1998, S. 37; A.Zoll, in: A.Zoll (Red.), Kodeks karny, Cze˛´sc´ ogólna, Komentarz, 2. Auflage, Art. 69 RN 6. 18 Siehe dazu: K. Buchała, in: K.Buchała / W.Wolter (Hrsg.), Wykład prawa karnego na podstawie kodeksu karnego z 1969, S. 180; K.Buchała, Prawo karne materialne, S. 612.

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Verurteilung in Deutschland beachtlich. Kirchenheim, Wach und Appelius werden am häufigsten erwähnt. Ihre Auffassung, dass die bedingte Verurteilung einer der Grundregeln des Strafrechts widerspricht, und zwar, dass der Schuld die Strafe folgen müsse, war schon von von Liszt vehement bekämpft worden. Die Zurückhaltung gegenüber der Bewährungsstrafe blieb nicht ohne Folgen für die Sanktionierungspraxis. So ist es kein Zufall, dass die Geldstrafe in Deutschland heute überwiegt; dagegen stellen die polnischen Gerichte die Bewährungsstrafe in den Vordergrund. Der Anteil der Geldstrafen beläuft sich in Deutschland seit mehreren Jahrzehnten auf ungefähr 80% aller Verurteilungen. 19 Dagegen beträgt der Anteil der bedingten Freiheitsstrafen an allen Verurteilungen in Polen bisher fast 60%. 20 Die Unterschiede in den absoluten Zahlen zwischen der deutschen und der polnischen Praxis sind so beachtlich, dass man von zwei voneinander abweichenden Strafkulturen sprechen kann. Die deutsche Strafkultur kann dabei als „pekuniäre Strafkultur“ bezeichnet werden, die polnische als „Bewährungsstrafkultur“. 21 Diese Unterschiede können gerade darauf zurück geführt werden, dass die Skepsis gegenüber der Bewährungsstrafe in Deutschland zur Förderung der Geldstrafe auf gesetzlicher Ebene führte. 2. Plea bargaining Die deutsche Rechtsordnung zeigte Skepsis nicht nur gegenüber der Idee der Probation, sondern sie blieb und bleibt weiterhin skeptisch auch gegenüber einem anderen Gedanken aus der angelsächsischen Welt, der im juristischen Diskurs unter dem Begriff plea bargaining fungiert. Bisher kennt die deutsche StPO keine Vorschriften, die den Prozess des Zustandekommens von Urteilsabsprachen regeln würden. Auch in der Literatur wird die Idee nachdrücklich kritisiert. 22 Insbesondere hebt man die Gefahr der folgenden Rechtsverletzungen hervor: • • • • • •

des Mündlichkeitsprinzips und des Öffentlichkeitsprinzips der Aufklärungspflicht des Grundsatzes des fairen Verfahrens der Vorschrift über die Befangenheit der Richter des Schuldprinzips des Gleichheitsgebots. 23 19

M.Małolepszy, a.a.O. (ob. Fn. 13), S. 24. Ebenda, S. 24; im Jahre 2006 verhängten die Gerichte 272.653 Freiheitsstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Rocznik statystyczny, 2007, S. 181. 21 Zur Europäisierung der polnischen Strafpolitik siehe M.Małolepszy, Europäisierung der polnischen Strafpolitik, in: J.C. Joerden / A.J. Szwarc (Hrsg.), Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen, 2007, S. 191ff. 22 Insbesondere B.Schünemann, Gutachten B zum Deutschen Juristentag 1990, These 3.3, S. 171. 23 H.-H.Kühne, Strafprozessrecht, 6. Auflage, 2003, S. 388 –389. 20

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Diese Bedenken seitens der Literatur besagen jedoch nicht, dass es in der Praxis nicht zu Verhandlungen zwischen den Parteien während des Strafprozesses käme. 24 Man schätzt sogar, dass es sehr oft zu Urteilsabsprachen kommt. 25 Trotzdem bleibt bis heute der deutsche Gesetzgeber untätig und erlässt keine Regelungen, die den Prozess des Aushandelns steuern würden, obwohl der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofes den Gesetzgeber schon mit folgenden Worten zur Aktivität aufgefordert hat: „Der Große Senat für Strafsachen appelliert an den Gesetzgeber, die Zulässigkeit und, bejahendenfalls, die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen von Urteilsabsprachen gesetzlich zu regeln. Es ist primär Aufgabe des Gesetzgebers, die grundsätzlichen Fragen der Gestaltung des Strafverfahrens und damit auch die Rechtsregeln, denen die Urteilsabsprache unterworfen sein soll, festzulegen. Dabei kommt ihm – auch von Verfassungs wegen – ein beachtlicher Spielraum zu (BVerfGE 57, 250, 275f.).“ 26

Obwohl der Bundesgerichtshof die Kompetenz des Gesetzgebers im Bereich der Zulassung von Urteilsabsprachen grundsätzlich anerkennt, hat er angesichts der Untätigkeit des Gesetzgebers in dieser Hinsicht in mehreren Entscheidungen 27 die Grundsätze für Verhandlungen zwischen den Beteiligten eines Strafverfahrens etabliert, um auf diese Weise dieser – aus deutscher Sicht fragwürdigen – Praxis rechtsstaatliche Konturen zu geben. 28 Die Urteilsabsprachen erfolgen somit in der deutschen Rechtsordnung auf der Grundlage höchstrichterlicher Entscheidungen und nicht auf der Grundlage ausdrücklicher Vorschriften. Demgegenüber hatte der polnische Gesetzgeber keine Bedenken gegen Absprachen in einem Strafprozess. So hat er in dem neuen KPK von 1997 die Verständigung zwischen den Beteiligten sowohl im Vorverfahren als auch im Hauptverfahren zugelassen. 29 Nach der ursprünglichen Fassung des Art. 335 §1 des polnischen KPK von 1997 konnte der Staatsanwalt schon im Vorverfahren mit Zustimmung des Angeklagten einen Antrag auf Verurteilung des Angeklagten 24

Vgl. O.Ranft, Strafprozessrecht, 3. Auflage, 2005, S. 409. B.Schünemann, Zur Entstehung des deutschen „plea bargaining“, in: S.Lorenz / A.Trunk / H.Eidenmüller / Ch.Wendehorst / J.Adolff (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich zum 70. Geburtstag, 2005, S. 1177ff. 26 BGH 50, 93. 27 BGH NJW 1989, 2270; BGHSt 38,102; BGHSt 43, 195. 28 Am Rande ist anzumerken, dass die Aktivität des BGH in dieser Hinsicht einen interessanten Fall von judicial activism darstellt. Die Literatur zu dieser Problematik ist heute umfangreich: Siehe dazu: Ch. Wolfe, Judicial activism, 1991; R.O. Graef, Judicial activism in civil proceedings, 1996; S.Harwood, Judicial activism, 1996; F.P. Lewis, The context of judicial activism, 1999; A.Valk, Judicial activism, 2003; M.Kirby, Judicial activism, 2004; R.Leishman, Against judicial activism, 2006; K.Roosevelt, The myth of judicial activism, 2006; B.Dickson, Judicial activism in common law supreme courts, 2007. 29 Der polnische Gesetzgeber orientierte sich dabei mehr an der italienischen Rechtsordnung als an den amerikanischen Vorbildern. 25

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wegen eines ihm vorgeworfenen Vergehens stellen, das mit einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als 5 Jahren bedroht ist. Dazu mussten allerdings zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Die Umstände der Begehung der Straftat dürfen keine tatsachenbezogenen Zweifel zulassen und das Verhalten des Angeklagten muss darauf hindeuten, dass die Ziele des Verfahrens trotz Nichtdurchführung der Verhandlung erreicht werden können. Im Jahre 2003 30 ist der Gesetzgeber sogar noch einen Schritt weiter gegangen, indem er die Verständigung auch bei einem Vergehen zugelassen hat, das mit einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als 10 Jahren bedroht ist. Demzufolge können Vergehen wie z.B. der minder schwere Fall des Totschlags (Art. 148 §4 KK), die schwere Körperverletzung (Art. 156 §1 KK) und der räuberische Diebstahl (Art. 281 KK) auch im Zuge der Verständigung zwischen dem Angeklagten und der Staatsanwaltschaft erledigt werden. Ferner hat der Gesetzgeber in der Reform von 2003 noch eine weitere Vergünstigung für den Angeklagten vorgesehen, die dieses Mal die Strafaussetzung betrifft. So kann nach Art. 343 §2 des polnischen KPK n.F. eine fünfjährige Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden; ohne Verständigung wäre das unmöglich, weil nach Art. 69 des polnischen KK nur eine Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Entscheidet sich also der Angeklagte für die Verständigung, kann er in Freiheit bleiben, was in einem Verfahren ohne Verständigung nicht möglich wäre. Im Hauptverfahren muss dagegen der Angeklagte die Initiative ergreifen. Er kann gemäß Art. 387 §1 KPK bis zum Zeitpunkt der Beendigung der ersten Vernehmung in der Hauptverhandlung einen Antrag auf Erlass eines Urteils und die Verhängung einer bestimmten Strafe oder Strafmaßnahme ohne Durchführung des Beweisverfahrens stellen. Diesen Antrag kann der Angeklagte in jedem Verfahren stellen, sofern ihm die Begehung eines Vergehens vorgeworfen wurde. Das Gericht kann dem Antrag stattgeben, wenn der Staatsanwalt und der Geschädigte keinen Widerspruch erheben und wenn die Umstände der Begehung der Straftat keine tatsachenbezogenen Zweifel erwecken sowie die Ziele des Verfahrens erfüllt werden, obwohl das Verfahren nicht vollständig durchgeführt wird. Die Förderung von Verständigungen im Strafverfahren durch den Gesetzgeber ist somit offensichtlich. Daher kann es nicht verwundern, dass sie in der Praxis in weitem Umfang zur Anwendung kommen. 31 Auch seitens der strafrechtlichen Literatur in Polen werden die Verständigungen im Strafverfahren grundsätzlich befürwortet. 32 30 Ustawa z dnia 10 stycznia 2003 r. o zmianie ustawy – Kodeks poste˛powania karnego, ustawy – Przepisy wprowadzaja˛ce Kodeks poste˛powania karnego, ustawy o s´wiadku koronnym oraz ustawy o ochronie informacji niejawnych (Dz.U. 03.17.155). 31 Im Jahre 2005 wurde das Strafverfahren auf der Grundlage von Art. 335 KPK und Art. 343 KPK gegenüber 192.001 Personen erledigt; T.Grzegorczyk / J.Tylman, Polskie poste˛powanie karne, 6. Auflage, 2007, S. 731.

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Natürlich kann man dem entgegenhalten, dass das deutsche Strafrecht auch ein Rechtsinstitut kennt, das den Urteilsabsprachen, wie sie in der polnischen Rechtsordnung geregelt sind, ähnlich ist, und zwar §153a StPO, der die Einstellung des Verfahrens bei Erfüllung von Auflagen zulässt. Diese Vorschrift wird in der deutschen Literatur sogar als „erster Schritt zur Anerkennung von Absprachen im Strafverfahren“ 33 betrachtet. In der Tat ist §153a StPO in seiner Struktur den bereits angesprochenen Art. 335 und 387 des polnischen KPK sehr ähnlich. Man muss jedoch auf einige fundamentale Unterschiede hinweisen. Zunächst ist hervorzuheben, dass §153a StPO die Einstellung des Verfahrens vorsieht, während Art. 355 und 387 des polnischen KPK die Verurteilung betreffen. Weiterhin ist zu beachten, dass §153a StPO in seiner ursprünglichen Fassung aus dem Jahre 1975 nur für Bagatellkriminalität vorgesehen war. Dies lässt sich etwa der amtlichen Begründung zur Einführung der Bestimmung entnehmen: „Die vorgeschlagene Bestimmung eröffnet die Möglichkeit, die Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit von der Erfüllung bestimmter Auflagen und Weisungen abhängig zu machen. Sie soll im Bereich der Einstellung wegen Geringfügigkeit die Voraussetzung schaffen, kleinere Strafverfahren rasch und zweckmäßig ohne Schuldspruch und Hauptverhandlung auch dann zu erledigen, wenn nicht von vornherein auf jede Sanktion verzichtet werden kann. Sie ermöglicht damit der Staatsanwaltschaft und den Gerichten, sich mit der mittleren und schweren Kriminalität intensiver zu befassen.“ 34

Der Anwendungsbereich des §153a StPO wurde erst durch das sog. Rechtspflegeentlastungsgesetz aus dem Jahre 1993 35 erweitert. Während bis dahin die Einstellung nur „bei geringer Schuld“ möglich war, können Strafverfahren seitdem schon dann eingestellt werden, „wenn die Schwere der Schuld nicht entgegensteht“. 36 Nach herrschender Meinung darf es sich dabei um eine Schuld im mittleren Bereich handeln, also ist §153a StPO nur dann anwendbar, wenn im gerichtlichen Verfahren lediglich mit einer Geldstrafe zu rechnen wäre. 37 Obwohl der Anwendungsbereich des §153a StPO im Jahre 1993 erweitert wurde, dominiert in den typischen Anwendungsfällen noch immer die Bagatelldelinquenz. 38 Typische Anwendungsfälle sind nicht allzu schwer wiegende Eigentums- und Vermögensdelikte, die keine Antragsdelikte mehr sind, leichte 32

S.Walto´s, Proces karny. Zarys systemu, 8. Auflage, 2005, S. 292ff.; Prawo karne procesowe – cze˛´sc´ ogólna, J.Grajewski (Red.), 2007, S. 93; T.Grzegorczyk / J.Tylman, Polskie poste˛powanie karne, 6. Auflage, 2007, S. 731. 33 So G.Wolf / M.Jakowczyk, Einstellung des Verfahrens aus sachlichrechtlichen Gründen?, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, Band 7, 2003, S. 213. 34 BR-Drucks 208/72, S. 73. 35 BGBl. 1993 I, S. 50. 36 So G.Wolf / M.Jakowczyk, a.a.O. (ob. Fn. 33), S. 213. 37 L.Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 51. Auflage, 2008, §153a RN 7. 38 W.Beulke, in: Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Großkommentar, P.Rieß (Hrsg.), 25. Auflage, 2004, §153a RN 30.

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und mittelschwere Verkehrsstraftaten und die Verletzung der Unterhaltspflicht. 39 Nur im Bereich der Wirtschaftskriminalität deuten empirische Erkenntnisse darauf hin, dass das normative Anwendungsmerkmal des zu beseitigenden öffentlichen Interesses teilweise durch das Merkmal der „Verfahrenskomplexität“ überlagert wird. 40 Man muss jedoch auch noch einen dritten wichtigen Unterschied hervorheben. Während §153a StPO nur die Möglichkeit von Auflagen für den Beschuldigten vorsieht, können im Zuge der Anwendung der Art. 335 und 387 des polnischen KPK auch Strafen, sogar Freiheitsstrafen, verhängt werden. Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass §153a StPO sich schon in seiner Funktion von den Vorschriften der Art. 335 und 387 des polnischen KPK unterscheidet und jedenfalls nicht mit ihnen gleichgesetzt werden kann. 3. Community service Trotz zahlreicher Gesetzentwürfe ist es in Deutschland, 41 im Gegensatz zu der Entwicklung in anderen europäischen Nachbarländern, bislang auch nicht gelungen, das Rechtsfolgensystem des Strafgesetzbuchs um eine selbstständige Arbeitssanktion zu erweitern. Auch in dieser Hinsicht zeigt das deutsche Rechtssystem deutliche Vorsicht. Trotz wiederholter Forderungen und Vorschläge aus Literatur und Praxis 42 bleibt der deutsche Gesetzgeber untätig. Die dafür angeführten Gründe sind vielfältig: Die praktische Undurchführbarkeit einer selbstständi39

L.Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 51. Auflage, 2008, §153a RN 8. W.Beulke, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Großkommentar, P.Rieß (Hrsg.), 25. Auflage, 2004, §153a RN 30. 41 Hier ist insbesondere §52 AE-StGB zu erwähnen, der die gemeinnützige Arbeit als Alternativsanktion zur Freiheitsstrafe vorsah. Diese Regelung konnte sich jedoch in der Reformdiskussion nicht durchsetzen. 42 Diskussionsentwurf des BMJ, in: Zwischenbericht 06/1999, Anlagenband Fach 6; Gesetzesentwurf des Bundesrates (BR-Drs. 82/98); Referentenentwurf des BMJ vom 8.12.2000; Gesetzesentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 15/2725); H.-J.Albrecht, Die gemeinnützige Arbeit auf dem Weg zur eigenständigen Sanktion? Entwicklung, Stand, Perspektiven, ZRP 1998, S. 283; G.Bemmann, Für eine Dienstleistungsstrafe, in: Festschrift für Friedrich Schaffstein, Grünwald / Miehe / Rudolphi / Schreiber (Hrsg.), 1975, S. 213; E.Bendel, Grundfragen der Einführung der gemeinnützigen Arbeit als selbstständige strafrechtliche Sanktion, in: Abschlussbericht der Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems, 2000, S. 104ff.; G.Blau, Die gemeinnützige Arbeit als Beispiel für einen grundlegenden Wandel des Sanktionswesens, in: Gedächtnisschrift für H.Kaufmann, Hirsch / Kaiser / Marquardt (Hrsg.), 1986, S. 200; D.Dölling, Die Weiterentwicklung der Sanktionen ohne Freiheitsentzug im deutschen Strafrecht, ZStW 104 (1992), S. 282; H.H. Jescheck, Neue Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik in rechtsvergleichender Sicht, ZStW 98 (1986), S. 26; H.Jung, Sanktionensysteme und Menschenrechte, 1992, S. 165ff.; H.Schöch, Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug?, in: Verhandlungen des 59. Deutschen Juristentages, Band I 40

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gen Sanktion, der hohe Kostenaufwand, die Verschärfung arbeitsmarkpolitischer Probleme, fehlender Sanktionscharakter und die Befürchtung der Verdrängung der Geldstrafe werden am häufigsten erwähnt. 43 Auf dem Hintergrund des vorliegenden Beitrages lässt sich zu diesen Gründen noch ein weiterer Grund hinzufügen, der bisher unbeachtet war, und zwar die die Vorsicht des deutschen Gesetzgebers gegenüber neuen Rechtsinstituten. Die Arbeitssanktion ist deshalb in Deutschland nur im Zusammenhang mit anderen Sanktionen normiert und nimmt in die Rechtswirklichkeit nur eine untergeordnete Stellung ein. 44 Die Arbeit kommt nur als Alternative zur Ersatzfreiheitsstrafe im Rahmen der Vollstreckung der Geldstrafe zur Anwendung (Art. 293 EGStGB), wobei eine einheitliche Regelung für das ganze Land fehlt. 45 Die Landesregierungen sind ermächtigt, durch Rechtsverordnung Regelungen über die Möglichkeit der Tilgung der Geldstrafe in Form der gemeinnützigen Arbeit zu treffen, was bedeutet, dass eine Verschiedenartigkeit der Tilgungsregelungen in dieser Hinsicht vorliegt. Diese Rechtslage ähnelt der Situation als die Bewährungsstrafe in den Begnadigungsregelungen der Bundesländer bis 1953 geregelt war. Ferner besteht de lege lata die Möglichkeit der Einsetzung der Arbeit in Form der Weisung gem. §10 Abs. 1 Nr. 4 JGG bzw. i.V.m. §§23 Abs. 1, 27, 99 JGG im Jugendstrafrecht und als Nebenanordnungen im Erwachsenenstrafrecht in Form der Bewährungsauflage gem. §56b Abs. 2 Nr. 3 bzw. i.V.m. §§57 Abs. 1, 3, 59a Abs. 2 StGB. Auch kommt die Arbeit im Bereich der Bagatellkriminalität als Auflage gem. §153a Abs. 1 Nr. 3 StPO in Betracht. 46 Aus dieser Zusammenstellung geht hervor, dass das deutsche Strafsystem mit der Arbeit als Sanktionsform gleichsam experimentiert, wobei sie nur als Tilgungsform der uneinbringlichen Geldstrafe oder als zusätzliche Sanktion im Rahmen anderer Rechtsinstitute zur Anwendung kommt. Insbesondere wird im Schrifttum der gemeinnützigen Arbeit als Alternative zur Ersatzfreiheitsstrafe in ihrer derzeitigen Erprobungsphase eine Art Pilotfunktion für die Einführung der gemeinnützigen Arbeit als selbstständige Sanktion beigemessen. 47 (Gutachten), Teil C, 1992, S. 96ff.; U.Schneider, Gemeinnützige Arbeit als „Zwischensanktion“, MschrKrim 2001, S. 273ff.; F.Streng, Modernes Sanktionenrecht?, ZStW 111 (1999), S. 839; F.Zieschang, Das Sanktionensystem in der Reform des französischen Strafrechts im Vergleich mit dem deutschen Strafrecht, 1992, S. 371ff. 43 F.Speis, Gemeinnützige Arbeit als selbstständige Hauptstrafe im Erwachsenenstrafrecht, 2008, S. 7. 44 Ebenda, S. 7. 45 Siehe dazu: M.Małolepszy, Geldstrafe und bedingte Freiheitsstrafe nach deutschem und polnischem Recht. Rechtshistorische Entwicklung und gegenwärtige Rechtslage im Vergleich, 2007, S. 93ff. 46 G.Kaiser, Kriminologie, 3. Auflage, 1996, S. 1037. 47 H.Jung, Fortentwicklung des strafrechtlichen Sanktionssystems, JuS 1986, 741 –745; G.Kaiser, Kriminologie, 3. Auflage, 1996, S. 1037.

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Demgegenüber hat der polnische Gesetzgeber eine selbstständige Arbeitssanktion in das Sanktionensystem schon im Jahre 1950 mit dem Erlass des Gesetzes von 19. April 1950 über die Sicherung der sozialistischen Arbeitsdisziplin 48 eingeführt. Das Vorbild für diese Strafe wurde der russischen Rechtsordnung entnommen. 49 Auch das Gesetz von 15. Dezember 1951 über strafadministrative Rechtsprechung 50 sah eine selbstständige Arbeitssanktion vor, die die Freiheitsstrafe ersetzen sollte. Das moderne Konzept der Arbeitsstrafe, das nunmehr im polnischen Strafrechtssystem gilt, entwickelte jedoch der KK von 1969. Die heute geltenden Regelungen des KK von 1997 knüpfen insoweit an die vorangehenden Regelungen des KK von 1969 an. Im Folgenden soll die Freiheitsbeschränkungsstrafe (so heißt die Arbeitssanktion im KK von 1997) in ihren wesentlichen Elementen skizziert werden. Die Freiheitsbeschränkungsstrafe (im Folgenden: FBS) gehört neben der Geldstrafe und den drei Formen der Freiheitsstrafe zu den Hauptstrafen des KK von 1997. Die FBS ist eine zeitige Strafe. Gemäß Art. 34 KK von 1997 beträgt ihre Dauer mindestens einen Monat und höchstens 12 Monate, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt. Der Inhalt der FBS besteht aus drei Pflichten, die ex lege gelten, wenn diese Strafe verhängt wird. Während der Vollstreckung der Freiheitsbeschränkungsstrafe 1. „darf der Verurteilte seinen ständigen Aufenthaltsort nicht ohne gerichtliche Genehmigung wechseln, 2. ist der Verurteilte verpflichtet, der ihm zugewiesenen Arbeit nachzugehen, 3. obliegt dem Verurteilten die Pflicht, Auskünfte über den Verlauf der Strafvollstreckung zu erteilen.“ 51 Die Arbeit besteht gemäß Art. 35 §1 KK in der Leistung der vom Gericht zugewiesenen, unentgeltlichen überwachten Arbeit für soziale Zwecke im Umfang von 20 bis 40 Stunden pro Monat. Als geeignete Arbeitsorte kommen ein Arbeitsbetrieb, eine Institution des Gesundheitswesens, eine Sozialfürsorgestation oder eine Organisation oder eine Institution, die karitative Hilfe leistet, in Betracht. Auch kann die Arbeit zu Gunsten der lokalen Gemeinschaft geleistet werden. Der Ort, die Zeit und die Art oder Weise der Arbeitspflicht werden vom Gericht gemäß Art. 35 §3 KK bestimmt. Eine Sonderregelung sieht Art. 35 §2 KK für die Verurteilten vor, die in einem Arbeitsverhältnis stehen. Dementsprechend kann das Gericht gegenüber diesen Verurteilten anstelle der Arbeitspflicht eine Kürzung ihrer Arbeitsbezüge um 10 bis 25% zu Gunsten der Staatskasse oder für einen 48 Ustawa z 19 kwietnia 1950 o zabezpieczeniu socjalistycznej dyscypliny pracy. Dz. U. 50.20.168. 49 R.Gie˛tkowski, Kara ograniczenia wolno´sci w polskim prawie karnym, 2007, S. 16. 50 Ustawa z dnia 15 grudnia 1951 r. o orzecznictwie karno-administracyjnym. Dz.U. 51.66.454. 51 In der Übersetzung von E.Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998.

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vom Gericht zu bestimmenden sozialen Zweck anordnen. Nach dieser Anordnung darf der Verurteilte das Arbeitsverhältnis nicht ohne gerichtliche Genehmigung auflösen. In der Praxis machen die Gerichte von dieser Möglichkeit jedoch keinen Gebrauch, denn in 99% der Fälle leisten die Verurteilten im Rahmen der FBS die unentgeltliche Arbeit für soziale Zwecke tatsächlich ab. 52 Gegenwärtig hat die polnische Regierung einen Reformentwurf des KK vorbereitet, der unter anderem die Erweiterung des Anwendungsbereichs der FBS vorsieht. 53 Aus dieser Zusammenstellung geht hervor, dass der polnische Gesetzgeber hinsichtlich der Einführung der selbstständigen Arbeitssanktion in die eigene Rechtsordnung wesentlich zügiger als der deutsche Gesetzgeber gewirkt hat. 4. Electronic monitoring Auch beim Einsatz elektronischer Geräte in der Strafrechtspflege scheint der deutsche Gesetzgeber sehr vorsichtig vorzugehen. Der elektronische Hausarrest, so wie er in den USA angewandt wird, wurde in Deutschland von Anfang an erheblich kritisiert. 54 Nach Haverkamp hat kaum eine andere Sanktions- oder Vollzugsalternative in Deutschland dergestalt gegensätzliche und unversöhnliche Stellungnahmen wie der elektronisch überwachte Hausarrest hervorgerufen. 55 Zunächst wird hervorgehoben, dass eine unverschlossene Haustüre eine ständige Versuchung darstelle und den psychischen Druck verstärke. 56 Erheblichere Bedenken bestehen jedoch vor allem aus verfassungsrechtlicher Perspektive. Der elektronische Hausarrest stelle einen Eingriff in die Privatsphäre, ein Einfallstor für legale Möglichkeiten der elektronischen Totalüberwachung und Ausforschung dar, so dass die Einführung des electronic monitoring nach Kaiser in der Bundesrepublik eher nicht in Betracht komme. 57 In der Tat blieb der Gesetzgeber insoweit bisher untätig. Wie dies schon bei der Probation und der Arbeit im Rahmen der Geldstrafenvollstreckung der Fall war, überlässt der Gesetzgeber die Erprobungsaufgabe den Bundesländern. 52

R.Gie˛tkowski, Kara ograniczenia wolno´sci w polskim prawie karnym, 2007, S. 30. Reformentwurf vom 16. Oktober 2008. www.ms.gov.pl 54 So G.Kaiser, Kriminologie, 3. Auflage, 1996, S. 1040 unter Verweis auf T.Weigend, Privatgefängnisse, Hausarrest und andere Neuheiten. Antworten auf die Krise des amerikanischen Strafvollzugs, BewHi 36(1989), S. 239 – 301; ders., Sanktionen ohne Freiheitsentzug, GA 139 (1992), S. 345 –367; H.Schöch, Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug?, Gutachten C zum 59. DJT Hannover 1992, 1992, S. 101. 55 R.Haverkamp, Elektronisch überwachter Hausarrestvollzug. Ein Zukunftsmodell für den Anstaltsvollzug, 2002, S. 164. 56 G.Kaiser, Kriminologie, 3. Auflage, 1996, S. 1040. 57 Ebenda. 53

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So hat das Hessische Ministerium der Justiz seit Mai 2000 die Möglichkeit geschaffen, im Rahmen eines Modellversuchs unter bestimmten Voraussetzungen eine elektronische Überwachung anzuordnen. 58 Im Rahmen dieses Projektes besteht die Möglichkeit, elektronische Überwachung einzusetzen als: • Weisung bei einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe bzw. als Weitere Weisung zur Vermeidung eines Bewährungswiderrufs (§§56c, 56f StGB) • Maßnahme bei der Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls (§116 StPO) • Weisung bei einem Gnadenentscheid (§19 Hessische Gnadenordnung) • Weisung bei einer Strafrestaussetzung zur Bewährung • Weisung innerhalb der Führungsaufsicht (§§68ff. StGB). 59 Die überwachten Personen sind während der Überwachungszeit zum Tragen eines Senders verpflichtet. Ein Wochenplan legt fest, zu welchen Zeiten sich der Proband in seiner Wohnung aufhalten muss. Ein Empfangsgerät in der Wohnung des Probanden informiert den Zentralrechner der Hessischen Zentrale für Datenverarbeitung darüber, ob sich der Proband zu Hause befindet oder abwesend ist. 60 Demgegenüber hatte der polnische Gesetzgeber keine Bedenken gegenüber der Einführung der elektronischen Geräte in das polnisches Justizvollzugssystem und erließ schon im Jahre 2007 das Gesetz über die Vollstreckung der Freiheitsstrafe außerhalb der Justizvollzugsanstalt im System der elektronischen Überwachung 61, das für den Verurteilten die Möglichkeit der Verbüßung einer Freiheitsstrafe nach der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen auch am Wohnort vorsieht, wobei der Verurteilte zum Tragen der elektronischen Fuß- oder Handfessel verpflichtet ist. Drei Kategorien von Verurteilten können ihre Freiheitsstrafe am Wohnort verbüßen: Zum einen die Verurteilten, die bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen zu einer höchstens sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, zum anderen die Strafgefangenen, die zu einer Freiheitsstrafe von höchstens einem Jahr verurteilt wurden, wenn der Rest der Freiheitsstrafe nicht höher als sechs Monate ist, und zum dritten die Verurteilten, die ihre Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen (Art. 6 Abs. 1, 2 und Art. 7 des Gesetzes von 2007). Bekommt ein Verurteilter eine Vergünstigung in Gestalt einer Verbüßung der Freiheitsstrafe außerhalb der 58

M.Mayer, Modellprojekt Elektronische Fußfessel, 2002, S. 1. Ebenda, S. 1. 60 Ebenda, S. 2. 61 Ustawa z dnia 7 wrze´snia 2007o wykonywaniu kary pozbawienia wolno´sci poza zakładem karnym w systemie dozoru elektronicznego, Dz. U. 07.191.1366. Ursprünglich sollte das Gesetz von 2007 am 1.7.2008 in Kraft treten. Angesichts der organisatorischen Schwierigkeiten wurde das Inkrafttreten des Gesetzes auf der Grundlage des Gesetzes vom 30.5.2008 (Ustawa z dnia 30 maja 2008 r. o zmianie ustawy o wykonywaniu kary pozbawienia wolno´sci poza zakładem karnym w systemie dozoru elektronicznego, Dz. U. 08.113.719) auf den 1.9.2009 verschoben. 59

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Justizvollzugsanstalt im System der elektronischen Überwachung muss er unter anderem gemäß Art. 8 des Gesetzes von 2007 an dem vom Gericht festgesetzten Wohnort bleiben, es sei denn, dass die entsprechenden Vorschriften etwas anderes bestimmen. Ferner ist der Verurteilte zum Tragen einer elektronischen Fuß- oder Handfessel verpflichtet. Gemäß Art. 10 des Gesetzes von 2007 kann das Gericht dem Verurteilten gestatten, zu bestimmten Zeiten den Wohnort zu verlassen, um z.B. zur Arbeit zu gehen. Die Aufsicht über den Verurteilten übt der Bewährungshelfer aus. Falls der Verurteilte in der Zeit der Vollstreckung der Freiheitsstrafe außerhalb der Justizvollzugsanstalt im System der elektronischen Überwachung eine Straftat begeht, muss das Gericht die Vergünstigung widerrufen (Art. 28 Abs. 1 des Gesetzes von 2007) und demzufolge muss der Verurteilte zur Justizvollzugsanstalt zurückkehren. Aus dieser Zusammenstellung geht klar hervor, dass der deutsche Gesetzgeber auch hinsichtlich des Einsatzes elektronischer Geräte im Bereich der Strafvollstreckung im Vergleich zu dem polnischen Gesetzgeber vorsichtiger ist. Was in Deutschland noch in der Erprobungsphase ist, wird in Polen bald im ganzen Land angewendet. III. Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus der Zusammenstellung der genannten Rechtsinstitute ziehen? Lässt sich eindeutig sagen, dass das deutsche Strafrecht traditioneller ist als die polnische Rechtsordnung? Diese Frage kann nicht einfach mit einem „Ja“ oder einem „Nein“ beantwortet werden. Jedenfalls kann es nicht als Zufall angesehen werden, dass die oben dargestellten Rechtsideen in die polnische Rechtsordnung im Vergleich zur deutschen Rechtsordnung entweder früher oder in einem größeren Ausmaß eingeführt wurden. Um vertretbare Schlussfolgerungen zu ziehen, muss man differenzieren und dabei drei Ebenen unterscheiden: eine gesetzliche Ebene (a), eine praktische Ebene (b) und eine dogmatische Ebene (c). Dies sei abschließend kurz skizziert: a) Im Hinblick auf die Einführung neuer gesetzlicher Regelungen scheint der deutsche Gesetzgeber traditioneller als der polnische Gesetzgeber zu sein. Dafür spricht die wesentlich spätere Einführung der Regelungen zur Bewährungsstrafe in das deutsche StGB, das Untätigbleiben des deutschen Gesetzgebers im Hinblick auf eine Regelung von Urteilsabsprachen in der deutschen StPO, im Hinblick auf eine selbstständige Arbeitssanktion sowie im Hinblick auf den Einsatz elektronischer Geräte bei der Strafvollstreckung. Der polnische Gesetzgeber hat die Bewährungsstrafe schon im Jahre 1932 in das polnische StGB und die Urteilsabsprachen in die polnischen StPO von 1997 eingeführt. Die selbstständige Arbeitssanktion sah schon das Strafgesetzbuch von 1969 vor. Den Einsatz elektronischer Geräte bei der Strafvollstreckung regelt das Gesetz vom 7.9.2007.

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b) Dieser Unterschied hinsichtlich der Aktivität des Gesetzgebers bleibt nicht ohne Folgen auf die praktische Rechtsanwendung. Dies lässt sich besonders im Bereich der Anwendung der Bewährungsstrafe zeigen. Während die polnischen Gerichte jährlich mehr als 270.000 Bewährungsstrafen verhängen, beläuft sich die Anzahl dieser Strafen in Deutschland auf ungefähr 90.000. c) Auch lassen sich auf der dogmatischen Ebene erhebliche Unterschiede in der Rezeption der angesprochenen Rechtsideen feststellen. Insbesondere betrifft dies die Urteilsabsprachen und den Einsatz elektronischer Geräte bei der Strafvollstreckung. Während in Teilen der deutschen Literatur erhebliche Bedenken gegenüber den Urteilsabsprachen und dem Einsatz elektronischer Geräte bei der Strafvollstreckung geäußert werden, scheinen in der polnischen Literatur diese Rechtsinstitute eher akzeptiert zu sein. Eine ähnliche Situation war in der Vergangenheit auch hinsichtlich der Bewährungsstrafe festzustellen. Der vorliegende Beitrag soll mit einigen Fragen abgeschlossen werden, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Diese Fragen drängen sich nach der Zusammenstellung der genannten Unterschiede auf und sollten im Rahmen weiterer wissenschaftlicher Projekte zu Europäisierung des Strafrechts berücksichtigt werden. Zunächst ist danach zu fragen, welche Bedeutung die genannten Unterschiede der beiden Rechtsordnungen bei der Aufnahme neuer Entwicklungen des Rechts für die Europäisierung des deutschen und des polnischen Rechtssystems haben können. Hier kommen die neuen Rechtsideen aus Brüssel und müssen angesichts der eingegangenen Verpflichtungen beider Länder in ihren Rechtssystemen umgesetzt werden. Werden sie jedoch in ähnlicher Weise umgesetzt? Welche Bedeutung wird für diesen Prozess die Traditionalität des deutschen Gesetzgebers haben? Oder spielt diese Eigenschaft der deutschen Rechtskultur keine Rolle in der Zeit einer europäischen Rechtsvereinheitlichung?

Die altpolnische Ideologie der goldenen Freiheit und ihre Nachwirkung im 19. und 20. Jahrhundert Henryk Olszewski I. „Es gibt kein Wort, das mehr Ansehen hätte und die Menschen auf so mannigfache Art und Weise ansprechen würde, wie das Wort Freiheit“ 1. In diesem Satz, den man in dem monumentalen Werk Vom Geist der Gesetze lesen kann, ist sowohl die Kraft der Freiheit als auch die Vielheit der Bedeutungen, die man ihr zuschreiben kann, enthalten. Alle, die über rudimentäre Kenntnisse der Geschichte Polens verfügen, müssen diesem Urteil von Montesquieu zustimmen. Ich werde versuchen, die Idee der Freiheit zu analysieren, die das Denken der Polen in der alten Adelsrepublik beherrschte, um dann die Kontroversen, die sie im 19. und 20. Jahrhundert verursachte, unter die Lupe zu nehmen. Die Idee der Freiheit hat ihren Ursprung in den polnischen Schicksalen, in der diskontinuierlichen und fluktuierenden Geschichte Polens, die abwechselnd von Höhe- und Tiefpunkten gekennzeichnet war, in der dem goldenen Zeitalter im 16. Jahrhundert das langsame Siechtum im 17. Jahrhundert und in der Sachsen-Periode folgte, der ReformZeit am Ende des 18. Jahrhunderts die Zeit der Teilungen, der Wiedergeburt des polnischen Staates die Tragödie des Zweiten Weltkrieges und – nach dem Schreckgespenst des Totalitarismus – die Revolution von 1989. Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit erregten in jeder dieser Epochen die Gemüter der Eliten. In jeder Epoche versuchte man, sich auf adelige Traditionen, auf das adelige Polen zu besinnen, dessen Symbol die Freiheit war, eine Freiheit, die goldwert war, die goldene Freiheit. Freiheit symbolisierte etwas, was Polen verteidigten, worum sie kämpften bzw. was sie ablehnten und exorzierten. Freiheit war ein Kultgegenstand und zugleich ein Fluch und Symbol negativer Tradition. Sie verkörperte polnische Untugenden und war die Hauptverantwortliche für anarchische Eigenschaften des polnischen Nationalcharakters.

1 K. Monteskiusz, O duchu praw (Vom Geist der Gesetze). Übersetzt von T. Boy˙Zele´nski, Ke˛ty 1997, S. 134.

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II. Die Blütezeit der Ideologie der Freiheit fiel in jene 300 Jahre vor dem Untergang der Republik Beider Nationen. Sie entstand in den glorreichen Zeiten, nachdem die patrimoniale Monarchie sich in einen Ständestaat verwandelt hatte, und der zahlreiche polnische Adel, der Privilegien besaß, welche ihm eine beispiellos hohe gesellschaftliche und politische Position gab, sich mit dem Staat identifizierte, der seine Sonderrechte schützte. Die Republik war in den Augen ihrer adeligen Bürger ein Land der Freiheit. Freiheit ist ihre Herrin und Königin – die Herrscherin im Palast, in dem alles aufbewahrt wird, was dem Adel und dem Staat wert ist. Es war selbstverständlich, dass sie eine gemeinsame Errungenschaft des Standes von Wohlgeborenen und Freien darstellte. „Freiheit ist das Herz im Körper der Republik, die ja nicht in den Beinen der plebei arbitrii, wie einst in anderen Nationen, aber in der Brust, d. h. in dem adeligen Stand selbst die Verfassung begründete“. 2 Man verzieh der Freiheit ihre Schwächen, indem man sie als das „verwöhnte Kind einer freien Nation“ bezeichnete. Sie rangierte an der Spitze aller anerkannten Werte, sie war Synonym von Tugend und Glück, drückte die Kraft der Brüderlichkeit und Beachtung der Menschenrechte aus. Sie verkörperte darüber hinaus Gleichheit und Gerechtigkeit. In der reichhaltigen Ikonographie, politischen Literatur sowie der parlamentarischen und gerichtlichen Rhetorik wurde sie als ein Geschenk der Vorsehung, ein Lächeln der Fortuna, eine natürliche Vollendung der langen und glorreichen Vergangenheit bezeichnet. Man begann zwar in der Zeit des Verfalls in ihren Entartungen Ursachen der Destruktion zu sehen und – nach dem Untergang des Staates – sie allgemein als einen Fluch der Polen zu betrachten, aber solange die Adelsrepublik existierte, war die Meinung vorherrschend, dass Freiheit ein Prachtstück der Nation und des Staates, ein Symbol der Einheit und ein Integrationsfaktor sei. 3 Die Bedeutung der Freiheit als eines Grundelements der Einheit resultiert sowohl aus der kultivierten Tradition als auch aus den Entwicklungstendenzen an der Schwelle der Neuzeit. Tradition spielte eine konstitutive Rolle, war wichtig, wenn nicht sogar unentbehrlich, weil sie dem Begriff der Freiheit eine republikanische und allgemeinständische Dimension gab. Noch wichtiger aber war, dass sie zum integrierenden Subjekt erst dann wurde, als die wichtigsten Institutionen der stolzen, mit der Zeit wirklich bedrohten und letztendlich verfallenden Republik diese Rolle nicht mehr spielen konnten. Dies geschah, als erstens der Monarch, dessen Charisma im Laufe der Zeit verblasste, nicht mehr oder kaum noch ein 2 J. De˛bi´nski, Ró˙zne mowy publiczne, sejmikowe i sejmowe miane (Verschiedene öffentliche Reden, die in Land- und Reichstagen gehalten wurden), Cze˛stochowa 1727, S. 47. 3 Vgl. H. Olszewski, Doktryna złotej wolno´sci i spory o jej spu´scizne˛ (Die goldene Freiheit und Kontroversen um ihre Erbschaft), in: „Pa´nstwo i Prawo“ 600, 2001, Nr. 2, S. 3 – 17.

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Integrationsfaktor der Gesellschaft in dem Staat sein konnte. Zweitens, als die Rolle des integrierenden Subjekts von keinem anderen, der zunächst dynamischen, dann aber immer schwächeren Organe, wie der schlecht funktionierenden Verwaltung, einer verkümmernden Selbstverwaltung und einer ineffektiven Justiz gespielt werden konnte. Und drittens, als das allgemein-polnische Parlament – der Sejm walny – immer mehr an Bedeutung als ein Forum für die Wahrung der gemeinschaftlichen Interessen verlor. Der empfundenen Schwäche und Bedrohung stellte man immer häufiger das Bild eines Landes entgegen, welches – wenn auch durch einen intakten Staatsapparat geschwächt – sich doch durch blühende Freiheit auszeichnet. Dieses so imaginierte Land braucht fremde Muster nicht nachzuahmen; es empfindet Ekel vor den Reichtümern anderer Nationen, die in „goldenen Käfigen“ wie Sklaven leben, ohne in den Genuss der wahren Freiheit zu kommen. Nur die Freiheit der Alten konnte den Adel beeindrucken, weil er sie mit dem Mitbestimmungsrecht in öffentlichen Angelegenheiten assoziierte. Aber die adelige Freiheit bedeutet nicht nur Partizipation; sie ist auch eine Keimform der subjektiven Rechte, die sowohl dem ganzen Stand, als auch allen seinen Mitgliedern gebühren. Das kann man zwar kaum für eine einfache Präfiguration der Lösungen halten, welche der westliche Liberalismus vorschlug, aber es war doch Individualismus, manchmal sogar – wie z. B. in der Auslegung des Prinzips von neminem captivabimus nisi iure victum, des Prinzips der Einstimmigkeit bzw. der freien Königs-Wahl – ein extremer Liberalismus. 4 Die adelige Freiheit war letzten Endes ein eigenständiges Dasein; sie war nicht nur ein ideologischer, sondern auch ein übergeordneter Wert, ein Lebensstil und eine Weltanschauung. Liber esse ist meine Fähigkeit – betonte in der bekannten Enzyklopädie der Regierungszeit der Wettiner in Polen ihr Verfasser Benedykt Chmielowski 5. Diese Freiheit baute ihr Fundament auf Privilegien, aber lange ging sie den öffentlichen Pflichten nach. Eine freiheitliche Ordnung ist zu schützen, weil sie ein gemeinsames Gut des ganzen adeligen Standes ist; Freiheit ist eine Aufforderung zum ritterlichen heroischen Leben. Ihre Prinzipien waren nicht streng bestimmt, sie ließen Spontaneität zu, verlangten Pflichtbewusstsein und Vernunft. Auch wenn die Freiheit „golden“ geworden ist, war sie noch keine Aufforderung zur Anarchie. Ihre Entartung – sagen wir es noch einmal – kam allmählich, mit der Vertiefung der allgemeinen Krise des Staates, zustande. Versuchen wir nun zu zeigen, wie – durch die Freiheit vermittelt – allgemeine Vorstellungen von der Rolle und Funktion der wichtigsten Institutionen in der Adelsrepublik entstanden, sich verfestigten und veränderten.

4 Zur Partizipationsfreiheit und der liberalen Freiheit vgl. J. Baszkiewicz, Francja nowo˙zytna. Szkice z historii wieków XVII-XX (Das neuzeitliche Frankreich. Skizzen aus dem 17. bis 20. Jahrhundert). Wydawnictwo Pozna´nskie, Pozna´n 2002, S. 60 f. 5 B. Chmielowski, Nowe Ateny albo Akademia wszelkiej sciencyi pełna (Neues Athen oder die Akademie mit allerlei Wissen gefüllt), Cze˛stochowa 1745, Bd. 4, S. 464.

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III. Die Erörterung der freiheitlichen Ideologie, ihrer Anatomie, ist keine leichte Aufgabe; sie bedarf einer guten Kenntnis des Quellenmaterials, wie auch der entsprechenden Perspektive. Ich mache mir diese Aufgabe leichter, indem ich – auf Grund der von mir zusammengefassten chaotischen und meistens verstreuten Aussagen der leidenschaftlichen Anhänger der Freiheit im 16., 17. und 18. Jahrhundert – Inhalte und mögliche Interpretationen jener Prinzipien kurz umreiße, die von dem Adel meistens als Bestandteile dieser Ideologie wahrgenommen wurden. Zu diesen Prinzipien gehörten: die Vertraulichkeit innerhalb des Adelsstandes, die Theorie der Mischverfassung mit dem Prinzip der Einstimmigkeit, Landsturm und freier Königswahl, die Idee der Gerechtigkeit, der Kult der adligen Ebenbürtigkeit und des Eigentums, schließlich der Imperativ der Verteidigung des Katholizismus und das Postulat der territorialen Einheit des Staates. Eine so umrissene Anatomie der Freiheit scheint aufschlussreich und in den weiteren Forschungen brauchbar zu sein. 1. Beginnen wir mit einigen Reflexionen über das Vertrauen (Gemeinschaftsgefühl, komitywa), das das Profil des Adels bestimmte und seinen ständischen Zusammenhalt zum Ausdruck brachte. Das Freiheitsbewusstsein verstärkte sich mit der Schwächung der patrimonialen Monarchie; es reifte und wurde tiefer im Kampf mit dem König und der monarchischen Idee. Die Nutznießer der Freiheit waren alle Mitglieder des Adelsstandes, welcher so zahlreich wie nirgends und sich seiner Stärke bewusst war. Sie hatte ihr Fundament in den Privilegien, die formal subjektive Rechte darstellten, zielte auf die einzelnen Mitglieder des Adelsstandes und war zugleich Eigentum der ganzen adeligen Gemeinschaft. Sie war also durch und durch individualistisch und gleichzeitig kollektivistisch, weil sie alle verband. Die komitywa (communitas nobilium) war, mit anderen Worten, eine ökonomische Kategorie, sie war juristisch definierbar und stellte einen ideologischen Wert dar. 6 Gerade dies verhalf dem Vertrauensprinzip entscheidend zum Durchbruch. Der Adelstitel garantierte bekanntlich jedem Adligen persönliche Freiheit, das Recht auf aktive Teilnahme an den Landtagen, auf die Bekleidung von Ämtern, auf Ankauf der Landgüter und – seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts – auf die Teilnahme an der Königswahl. Dem König wurde eine ehrenvolle Herkunft zugeschrieben, indem man seinen Mut und die Hingabe dem gemeinschaftlichen Wohl gegenüber bestätigte. Das Vertrauen war das natürlichste Produkt der Freiheit und in vielem sogar ihr Synonym. Es bezeugte die Wohlgeborenheit und verkörperte zugleich gute Eigenschaften des Herzens und des Gemüts. Lange Jahre galt es als eine Verpflichtung zum treuen Dienst am Staat (dem eigenen Staat), war Gegenstand eines authentischen Stolzes, der 6 Mehr dazu in: H. Olszewski, Uwagi o własno´sci w ideologii demokracji szlacheckiej (Bemerkungem zum Eigentum in der Ideologie der Adelsdemokratie), in: „Czasopismo Prawno-Historyczne“ LVI, 2004, H. 1 (im Druck).

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während der Beratungen der Staatsorgane, in den parlamentarischen Diskussionen zum Ausdruck kam, sich in dem Ideenstreit in ein Symbol verwandelte, in der Literatur und Kunst präsent war und auch in der Privatkorrespondenz eine Spur hinterließ. Stanisław Leszczy´nski, der zweifache Monarch, schrieb in seiner Schrift über den allerhöchsten Rang der freien Stimme wie folgend: „Alle Tugenden und Talente sind uns von Geburt an gegeben, niemand in der Welt kann sich bezüglich der Privilegien mit dem Adel vergleichen (...), denn es ist sicher, dass nichts in Europa und sogar in der ganzen Welt mit der Kondition des polnischen Adligen sich messen kann.“ 7 Das Familienwappen konnte zwar ökonomische und kulturelle Unterschiede innerhalb des Adelsstandes nicht ausgleichen, hatte aber verbindende Momente: Der ritterlich-rustikale Ethos, der „ethnogenetische Mythos“ 8, reale Vorteile aus der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, Gleichheit vor dem Recht und persönliches Sicherheitsgefühl erwiesen sich immer als stärker. Man bemühte sich sehr intensiv fast bis zum Niedergang der Adelsrepublik darum, dass der Großadel die Vertrauensgemeinschaft nicht verlässt und keinen eigenen Stand bildet. Gleichzeitig verteidigte man mit voller Kraft die Transparenz der Prozeduren einer Erhebung in den Adelsstand. Das soll später die Verwandlung des Adels in eine neue liberal gesinnte Herrschaftselite erschwert haben, aber so lange die Adelsrepublik existierte, war die Vertrauensgemeinschaft, welche auch eine „dem Edelmann eigene Denkweise“ begünstigte, ein reales Gegengewicht gegen die exzentrischen Tendenzen, gegen alles, was im Staat desintegrierend und anarchisierend wirkte. 2. Weniger überzeugend präsentiert sich der integrative Charakter der freiheitlichen Parolen in Bezug auf die Staatsordnung. Von Anfang an stießen hier aufeinander und ergänzten sich zwei Konstruktionen, die mit unterschiedlicher Intensität die Ideologie der Freiheit beeinflussten. Einerseits zeigte ihre Geltungskraft die Tradition mit ihrem Potential der Zufriedenheit mit den im Laufe der Jahrhunderte erworbenen Rechten und mit den Vorstellungen des Adels von ihren ritterlichen Tugenden und Verdiensten, die durch das Schalten und Walten im Staat belohnt werden mussten. Andererseits wurde ein Bild des Monarchen kreiert, der diese Freiheit ständig bedroht. „Denn es gibt keinen [Monarchen], der an die Verletzung unserer Rechte und Freiheiten nicht denken würde“. Beide Konstruktionen hatten einen gemeinsamen Punkt in dem Lob der Mischregierung. Das ganze 16. und 17. Jahrhundert hindurch war die Theorie der Mischverfassung eine „offizielle“ Staatsdoktrin, in der die Verbindung der Freiheit mit den Prinzipien der ständischen Demokratie erfolgte. Alle theoretischen Kontroversen, alle Erörterungen, welcher von den drei im Reichstag vertretenen politischen 7 S. Leszczy´nski, Głos wolny wolno´sc´ ubezpieczaja˛cy (Die freie Stimme als Garant der Freiheit), in: J. Lechicka, Rola dziejowa Stanisława Leszczy´nskiego oraz wybór jego pism (Die geschichtliche Rolle Stanisław Leszczynskis und die Auswahl seiner Schriften), Toru´n 1957, S. 37. 8 J. Jedlicki, Klejnot i bariery społeczne (Die Wappen und die sozialen Barrieren), S. 79.

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Ständen die Souveränität beschützt, hatten diese Theorie als Grundlage 9. Sie war natürlich nicht zeitimmun und berücksichtigte die bestehenden Umstände. Der Rahmen des politischen Systems war sowohl im 16. Jahrhundert, d. h. in der Regierungszeit der letzten Jagiellonen, als auch später bekanntlich durch das Prinzip rex cum senatu et legatis provincialibus determiniert, was – vereinfachend gesagt – bedeutete, dass der Wille des Königs, den die Senatoren durch Rat und die Abgeordneten durch ihre Zustimmung unterstützten, immer noch der Wille des Staates war. Später dagegen wurde das Kräfteverhältnis im Sejm durch eine andere Formel bestimmt. Diese Formel heißt nuntii terrestres cum rege et senatu, d. h. – wie wir bei Orzechowski lesen – polnisches Rittertum mit dem Kronenrat. 10 Der Weg zur Einsicht, dass die Republik eine Adelsrepublik, ein Staat der Freiheit und ein politisches System für jedes Mitglied des Adelsstandes sei, war von hier aus gar nicht lang. Beweise dafür liefern die Idee der freien Königswahl, das Prinzip des allgemeinen Aufgebots und der Musterung, die Idee des Sejms zu Pferde und das Prinzip der Verträglichkeit, welches bekanntlich von den Ideen pars sanior und Zustimmung aller, die den Verhandlungscharakter der Beratungen bestimmten, zur freien Stimme und liberum rumpo führte, das den Abbruch der Parlamentsberatungen zum Rang eines patriotischen Aktes und zur Verkörperung der Staatsräson erhob. Es sei hier zum wiederholten Mal gesagt, dass die Akzeptierung der politischen Ordnung in der Adelsrepublik sehr lange – bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts hinein – kein Lob der Regierungslosigkeit bedeutete. Im Gegenteil, der Kult der Freiheit war mit der Verantwortung für den Staat, dem Ausbau der territorialen Selbstverwaltung und – zumindest bis zur Hälfte des 17. Jahrhunderts – mit dem Pluralismus der Bekenntnisse und der religiösen Toleranz verbunden. Erst die schmerzhafte Krise der Staatsstrukturen, begleitet von einem tiefen Verfall politischer Kultur, zeigte nicht nur die praktische, sondern auch die doktrinäre Dominanz des Voluntarismus. 3. Ähnlich müsste auch das Verhältnis des Adels zum Problem der Legalität gesehen werden, dieses Adels, der in den staatsbezogenen Diskussionen eine wichtige, obgleich sich im Laufe der Zeit verändernde Rolle spielte. Man hat schon viel über den adeligen Legalismus geschrieben. Es ist naheliegend – und ich habe diese Vermutung mehrmals geäußert –, dass man in der Adelsrepublik den Keim des Rechtsstaates sieht. Wenn man Parlamentsordnungen z. B. in der Zeitperiode der Exekution von Rechten studiert, die Landtagsbeschlüsse (lauda) und Instruktionen für Landtagsabgeordnete, die zugleich Sejmabgeordnete waren, durchblättert oder Schriften politischer Schriftsteller der Renaissancezeit 9 Vgl. H. Olszewski, „Königliche Republik“. Die Idee der Mischverfassung in Polen während der frühen Neuzeit, in: Geisteswissenschaftliche Dimensionen der Politik. Festschrift für Alois Riklin. Hrsg. von R. Kley und S. Möckli, Bern / Stuttgart / Wien 2000, S. 163 –182. 10 Die beste Bearbeitung ist immer noch die Abhandlung von K. Grzybowski, Teoria reprezentacji epoki Odrodzenia (Theorie der Vertretung im Polen der Renaissance-Epoche), Warszawa 1959, S. 91 f.

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wie: Przyłuski, Ostroróg, Modrzewski, Wolan, Sienicki, Warszewicki oder Starowolski liest, drängt sich geradezu die Überzeugung auf, dass die dynamische Konstruktion der Mischverfassung den rechtlich legitimierten politischen Kampf ermöglichte, einfach deshalb, weil der Adel die rechtskonforme Regierung für die beste Sicherung seiner privilegierten Position im Staat hielt 11. Es sei daran erinnert, dass durch das ganze 16. Jahrhundert der rechtliche Grundsatz galt, dass die Sejmabgeordneten die ganze Republik vertreten und nicht nur den Willen des eigenen Landtags vollstrecken. Man muss bedenken, dass die Articuli Henriciani eine Art des Grundgesetzes waren, welches den Keim des modernen Konstitutionalismus, also der Hierarchie von Normen bildete, die sich zu einem Rechtssystem zusammenfügten. Erwähnenswert ist auch die Tatsache, dass es mehrere Versuche gab, den Grundsatz konstitutioneller Verantwortlichkeit der Minister durchzusetzen. Als eine Garantie für die Beachtung der Rechtsordnung wurde der Articulus de non praestanda oboedientia betrachtet, also das Recht auf Widerstand. Ein effektives Funktionieren des Staatsapparates war nicht nur mit der Vormachtstellung der Adelsrepublik verbunden, sondern resultierte auch aus dem hohen Niveau politischer und rechtlicher Kultur der adeligen Eliten. Ihre Aktivität förderte Wissen und Bildung, sowie die Beachtung des Rechts. Freiheit bedeutet u. a. freies Handeln im Rahmen des Gesetzes, auch des Naturrechts. Adelige Privilegien hatten die Geltungskraft des Gesetzes und waren durch das höhere Gesetz abgesichert. Der Adel kannte das Recht gar nicht schlecht; in den adeligen Häusern gab es verschiedene Sammlungen von Rechtsvorschriften, man war mit Rechtsgewohnheiten vertraut und wusste sie praktisch auszunutzen. Der Ruhm der Gewalttäter, die sich nichts aus Gerichtsurteilen machen, war lange ein negativer und verwerflicher Ruhm. Die Verachtung des Rechts kam erst später, mit dem ökonomischen Zusammenbruch, den gesellschaftlichen Krisen und der Rückständigkeit der politischen Ordnung. Die Rechtskultur und Gesetzmäßigkeit wurden durch die Kultur leerer Phrasen über Polen als dem Bollwerk des Christentums, über eine Freiheit, die keine Grenzen mehr kennt und ohne Verantwortlichkeit für den Staat ist, ersetzt. Die Reformzeit unter der Herrschaft von Stanisław August Poniatowski, in der ein großes Chaos und permanenter Ausnahmezustand herrschten, war zu kurz, um schnelle und dauerhafte Veränderungen erwarten zu können. 4. Ich gehe nun zu dem vielleicht wichtigsten Motiv und Bestandteil der Freiheitsideologie über. Es handelt sich um Gleichheit und Eigentum, deren Zusammenhang in der Ideologie der Freiheit nur mit größter Mühe erarbeitet werden konnte. Dieses Problem präsentierte sich anders in den Diskussionen im Zeitalter der Exekutionsbewegung und anders in der Herrschaftsperiode von Stanisław August Poniatowski, als man – den Herausforderungen der Zeit die Stirn 11 H. Olszewski, Polska droga do pa´nstwa prawa. Refleksje o kulturze prawnej (Der polnische Weg zum Rechtsstaat. Bemerkungen zur Rechtskultur), in: „Studia Prawnicze“ 151, 2002, S. 25 f.

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bietend – einen Versuch unternehmen wollte, die traditionell begriffenen Ideen der Gleichheit und des Eigentums um Postulate des sich langsam an das Adelsvolk anschließenden Bürgertums zu erweitern. Dies sollte in der Zeit geschehen, in der die Akzeptanz für die entstehende Marktwirtschaft immer größere Chancen hatte, sich in der Ideologie der Adelsdemokratie durchzusetzen. Gleichheit hatte für die Freiheit eine fundamentale Bedeutung. Die sich verändernden Eigentumsverhältnisse brachten de facto dieses Verhältnis ins Wanken. Die wachsende Zahl der Nichtbesitzer bedrohte den Adelsstand und stellte das Prinzip der Gleichheit im öffentlichen Leben in Frage. Dieses Prinzip lautete: ein Nichtbesitzer muss jemandem dienen; der Dienende verliert die Freiheit und kann folglich die Verantwortung für das Schicksal des Vaterlandes nicht übernehmen. Der Hintergrund der Kämpfe um die Exekution der alten und guten, guten weil alten Rechte, wäre natürlich unlesbar, wenn wir die Mobilität des mittleren Adels, seinen Glauben an die Schaffung einer in der Gleichheit und konfessionellen Toleranz begründeten Demokratie, seine Sehnsucht nach der Gesetzmäßigkeit und die Entschlossenheit in der Vollstreckung der ihm gebührenden Rechte und Güter wegdenken würden. Im Zuge der in der Renaissancezeit geführten Diskussion formulierte Modrzewski die Idee der Nobilitierung durch Verdienste und Wissen, also eines nichterblichen und für die Vertreter anderer Stände zugänglichen Adelsstandes. Die Vertreter der Exekutionsbewegung zweifelten nicht daran, dass im Staat, in dem die formale Demokratie gewonnen hat, Regierung und Sicherheit mit Hilfe der Einkommen aus dem Eigentum der Republik zu finanzieren sind. Sie sollten durch Steuerzahlungen niedrigerer Stände und Bevölkerungsgruppen, vor allem der Bürger und Juden, ergänzt werden. Der Adel verdächtigte den König – bekanntlich nicht ohne Grund – der Begünstigung der Oligarchie und der Absicht, die rechtliche Gleichheit des Adelsstandes brechen zu wollen. Dadurch erklären sich die in der politischen Literatur häufig formulierten Postulate, diejenigen Formen des Eigentums abzuschaffen, die man dank bezahlter Protektion und politischer Erpressung erwerben konnte. Auch das heftige Vorgehen gegen „besondere“ Rechte, die weiter gingen als allgemeine Privilegien des ganzen Adels (daher die ständige Bekämpfung der Annahme von fremden Orden und Titeln), ist verständlich. Obwohl das Programm der Exekukutionsbewegung nicht erfolgreich realisiert wurde, festigte es in der Doktrin die Überzeugung, dass das Adels„volk“, welches mit der Gesellschaft des Königreichs identisch ist, die herrschende Kraft im Staat bildet. Doch die Gleichheit der Grundbesitzer war nicht nach „unten“ gerichtet; die Sorge um die Reinheit des Adelsstandes fand ihren Ausdruck in der Verdammung „der Wappenkrämer“, die sich in ihn durch die Hintertür hineinschlichen. Kurzum, das „Goldene Zeitalter“ war in der Doktrin die Zeit aller adligen Landbesitzer. Sie bildeten praktisch den Körper der Adelsrepublik. Die Idee von Kasper Siemek, die übrigens vom Anfang des nächsten Jahrhunderts stammt, dass das Eigentum des ganzen Adels gleich sei, war ein Totengeläut für das gegen Magnaten gerichtete Programm der Exekutionsbewegung 12.

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Im 17. Jahrhundert hat sich die Situation verändert. Die traditionelle Vorstellung der Freiheit wurde durch schwerwiegende Entwicklungen neuen Gefahren ausgesetzt. Die wachsende Bedeutung der Magnatencliquen begleiteten der (auch kulturelle) Verfall des mittleren Adels und ein rasanter Zuwachs des landlosen, „arbeitslosen“ Adels, der weder durch die Magnatenhöfe, noch durch das Heer, die Verwaltung oder die Justiz absorbiert werden konnte. Seine Reihen vermehrten die sogenannten „Exulanten“, diejenigen also, die nach den territorialen Verlusten im Osten Zuflucht im restlichen Staat suchten. Es ist bezeichnend, dass die Doktrin auf die neue soziale Schichtung gar nicht reagierte. Im Gegenteil, man betonte immer stärker das Gleichheitsprinzip. Aequalitas war eine fiktive Figur, aber eben deshalb wuchs ihre Attraktivität proportional zum Wachstum des großen Grundbesitzes und dem Bedeutungszuwachs der Oligarchie. Gleichheit wurde als ein immer wiederkehrendes Postulat in den Verfassungen und lauda festgeschrieben. Sie wurde in der Symbolik der Sejmberatungen begründet; ihre Ausdrucksform war der „Kreis“, in dem sich die Militärs berieten, die Grußformeln, Hoftitel usw. Gleichheit galt als ein Kernstück der Freiheit. In den 20er Jahren des 18. Jahrhun˙ derts protestierte man heftig gegen den Kauf der Landgüter in Saybusch (Zywiec) durch Königin Konstanze von Österreich, denn man sah in diesem Geschäft einen Staatsstreich, welcher in den Schriften von Kallimach hätte auftauchen können. Bezeichnend ist die Reaktion der Sejmabgeordneten auf den Begriff „der kleinere Adel“, der in dem Herdsteuergesetz von 1690 für das Großfürstentum Litauen verwendet wurde. Die empörten Abgeordneten protestierten so lange, bis der Sejm 1699 die Aufhebung des Wortes contra aequalitatem verabschiedete und dabei feststellte, in aequalitate gibt es weder kleine noch große 13. Den Magnaten präsentierte man nicht als einen sehr reichen Großgrundbesitzer, sondern als einen Adligen, der besonders tief die Freiheit liebt, als einen menschlichen, großherzigen und klugen „Bruder“. Der an Besessenheit grenzende Kult der Gleichheit machte die Ausschließung des besitzlosen Adels aus den Landtagen unmöglich. In der Regierungsperiode von Stanisław August Poniatowski musste sich diese Situation verändern. Neue Tendenzen in der Wirtschaft sowie neue Konfigurationen in der Politik, die hier alle nicht genannt werden können, bedurften eines endgültigen Abschieds von der geschlossenen Gesellschaft und der Bodenständigkeit als dem Gesetz ihrer Schichtung. Die Vertrauensgemeinschaft zerfiel unter dem Druck der Umstände. Der Adel brauchte eine „Umstrukturierung“, frisches Blut, kapitalstarke Leute und zugleich Distanzierung von der „gewappneten Masse“. Der Kampf um die Sanierung des Adelsstandes und damit um eine Reform des Staates und eine neue Gestaltung der adligen Demokratie dauerte durch die ganze Regierungszeit von Stanisław August Poniatowski und hatte einen kompli12

K. Siemek, Lacum seu de Republicae recte instituende dialogus, Cracovie 1635, S. 74 f. 13 Volumina Legum V, S. 807; VI, S. 77.

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zierten, nicht immer durchschaubaren Verlauf. Seine Spuren finden wir sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Doktrin. Die Verbindung des Adelstitels mit der Gemeinnützigkeit und die Erhebung des Reichtums in den Rang einer Tugend waren keine Seltenheit mehr. Auf dem Vierjährigen Sejm (1788 –1792), der bekanntlich auf die altbewährte Rhetorik nicht verzichtete, sprach man öfters über „Eignung“, „Verdienst“ und „Talent“ als Voraussetzungen für den Adelstitel. Gleichzeitig aber lehnte man sowohl die Idee, dass man sich Bürgerrechte kaufen könnte, als auch die Einführung der Vermögensklassen sensu stricto entschieden ab. Die Vermögensklassen wurden nur dort eingeführt, wo sie die benachteiligende Art des Besitzes ausgleichen sollten. Die Sejmbeschlüsse waren – wie das überzeugend Jerzy Jedlicki 14 zeigt – ein Versuch, den Adelsstand durch die Aufnahme der auserwählten Individuen „von unten“ zu retten. Es ging allerdings nicht darum, die soziale Schichtung des Adels in den Besitzunterschieden zu begründen. Radikaler war wohl nur Hugo Kołła˛taj, der augenscheinlich einzige Pole in jenen Zeiten, der eine klare Vorstellung von der Sanierung der sozialen und politischen Strukturen der Adelsrepublik hatte. Auch er meinte allerdings, dass der Weg zum Privileg der Freiheit durch den Erwerb des Adelstitels und durch die Überlassung der Kontrolle aller notwendigen Prozeduren an den Adel führt. Es war offenbar noch zu früh für eine automatische Verknüpfung des Landbesitzes mit dem städtischen Eigentum. Dies scheint die These vieler Forscher zu bestätigen, dass die Doktrin der Demokratie mit ihren Begriffen der Gleichheit und des Eigentums als Bestandteilen der Freiheit sich mühevoll den Weg zum Liberalismus bahnte und dass die polnischen Lösungsvorschläge aus den letzten Jahren der Existenz der Adelsrepublik weit von dem entfernt waren, was man in manchen westlichen Ländern wie den Niederlanden oder England praktizierte. 5. Überlegenswert wären noch die Position des Glaubens in der Idee der goldenen Freiheit sowie der Imperativ der territorialen Integrität der Adelsrepublik, welcher sich eben aus dem Glauben herleitete. Der Fragenkomplex wurde übrigens mehrmals, vor allem von Janusz Tazbir, untersucht. Diese Erkenntnisse zu prüfen und zu entwickeln wäre kein leichtes Unterfangen. Die religiöse Doktrin des Adels war ein verbindendes Element, sowohl in den Zeiten, in denen sie – mit der Idee der konfessionellen Toleranz verknüpft – Polen als ein Land sehen ließ, welches nach außen offen ist und den Verfolgten Zuflucht bietet, als auch später, als sie in der Gegenreformationszeit mit dem ostentativen Katholizismus kokettierte, dem – so die adeligen Autoren – der Staat seine einzigartige politische Ordnung verdankte. Der Katholizismus wurde in der Adelsrepublik für eine ähnliche Bedingung der Freiheit gehalten wie das Vertrauensprinzip, die Theorie der Mischregierung und die Idee der Ständegleichheit. Er ermöglichte sowohl die Verteidigung der Gemeinschaft, als auch die Mystifizierung ihrer Schwäche. Nach dem Sieg der Gegenreformation vertrug sich der Katholizismus sehr gut mit der Ideologie der 14

J. Jedlicki, Klejnot ...(wie Fn. 8), S. 183 f.

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sarmatischen Adelsrepublik als eines Landes, welches unter besonderem Schutz der Vorsehung bleibt. Der Kult der Freiheit gewann dadurch eine sakrale und demzufolge irrationale Dimension. Dazu trugen u. a. Kriege bei, die Polen mit den nichtkatholischen Nachbarn führte, die steigende Xenophobie und die Ausbildung des Feindbildes, in dem der Andersgläubige eo ipso zum Feind der Freiheit wurde. Die Kultur des Sarmatismus, deren wichtiger Bestandteil bekanntlich der Katholizismus war, isolierte objektiv die Adelsrepublik auf dem Kontinent. IV. Diese Überlegungen wären mit einer zumindest vorläufigen Konklusion zu schließen. Diese Konklusion fällt allerdings ziemlich banal aus: Freiheitsparolen waren eine Art Klammer, die die adelige Demokratie zusammenhielt und ohne die die Adelsrepublik nicht existieren konnte. Diese Parolen beinhalteten Motive, die den Adel als politische Klasse in den Staat integrierten, und zwar sowohl in den stabilen als auch in den krisenhaften Zeiten. Im zweiten Fall waren sie außerordentlich gefährlich, weil sie die Regierung schwächten, die moralische Krise vertieften und den Weg zur Anarchie öffneten. Summa summarum: der Begriff der Freiheit war der beständigste und dauerhafteste Bestandteil der alten Adelsrepublik. Er war eine Verbindung von verführerischen Konstruktionen, in denen das staatsorientierte Denken mit dem Lob der ritterlichen und landadeligen Traditionen ausgeglichen wurde. In diesem Begriff vereinten sich – durch Konfrontation und Ergänzung – konträre ethische Haltungen: ein ausschweifender Individualismus und archaischer Kollektivismus, Eigennutz und wahrer Patriotismus, Aristokratismus und die Idee der ständischen Demokratie. Verständlich also, dass der Begriff der Freiheit, dem man so viele Bedeutungen zuschrieb, immer wieder als Gegenstand der Diskussionen und Auseinandersetzungen der Polen zurückkehrt. V. Überreste der adeligen Ideologie waren in allen wichtigen Auseinandersetzungen spürbar, die im Lande und im Exil seit dem späten 18. Jahrhundert ausgetragen wurden. Das Verhältnis zur adeligen Tradition bildete einen Rahmen für die große Debatte über die Ursachen des Verlusts der Souveränität; es spielte eine Rolle auch in den Diskussionen über die Wege zur Wiedererlangung der Staatlichkeit durch die sich modernisierende Nation; es war ein notwendiger Bestandteil der Auseinandersetzungen um die Grenzen des Kompromisses mit den Teilungsmächten. Eine so starke Vorherrschaft der adeligen Tradition, der Reflexion über die Rolle des Landadels und der Problematik des Nationalbewusstseins im Denken der Polen, insbesondere in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist leicht erklärbar. Ihre Ursache ist in dem neuerlichen Verlust der Unabhängigkeit zu sehen. Ein

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Patriot war man, wenn man sich mit diesem Verlust nicht abfinden konnte 15. Aber warum ist die Republik zugrunde gegangen? – diese Frage tauchte immer wieder auf. Ging sie unter, weil es für freie Nationen keinen Platz mehr gab im Europa der Heiligen Allianz und des Despotismus? Oder sind wir zugrunde gegangen, weil wir einen schwachen Staat, schlecht funktionierende Institutionen hatten und keinen richtigen Gebrauch von der Freiheit zu machen wussten? Die Diagnosen von Cesar Phyrrus de Varille und Stanisław Staszic, dass die Katastrophe die „Herren“ verursacht haben 16, dass sie eine unvermeidliche Folge von deren „Hochmut und Verrat“ war 17, waren in der romantischen Epoche kaum hörbar. Schon deshalb, weil viele Romantiker glaubten, dass die nationale Geschichte auch dann ihre Kontinuität bewahrt, wenn der Staat nicht existiert; dennoch war die Sprache der Romantiker eine Sprache der Verschwörung 18 (Konrad Wallenrod, Kordian, Konrad) und ein Aufruf zur Insurrektion. Das Nationalepos Pan Tadeusz sowie die Werke von Henryk Rzewuski, Ignacy Chod´zko, Władysław Syrokomla und Wincenty Pol beinhalten deutlich erkennbare Elemente der Apologie des adligen Polens 19. Diese Vorstellung der Vergangenheit hat zwar während des Novemberaufstandes von 1830/31, der die Lebendigkeit der rebellischen Traditionen der Adelsrepublik zeigte, an Geltungskraft verloren, so dass der Dichter Maurycy Mochnacki urteilte, dass der Aufstand die Chance der Diktatur des Volkes zunichte machte. Dennoch aber musste die Konfrontation der Vorstellungen des Adels, der sich als die einzige Quelle jeder Herrschaft sah, mit dem Absolutismus der Teilungsmächte, die ihr Herrschaftsrecht von Gott herleiteten, zur Entstehung einer explosiven Mischung und zu tiefen Meinungsunterschieden zwischen den Polen führen. Sie ließ auch – insbesondere im Exil – einen „Höllenzank“ um die Vergangenheit ausbrechen, der ja auch wichtig war im Hinblick auf die Begründung der durch die Umstände bedingten politischen Programme. Wir wissen sehr gut, wie tief diese Umstände die polnische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts geprägt haben. Einige Forscher formulierten die These, dass alte adelige Schwächen sich in der Zeit der Unfreiheit in bürgerliche Tugenden verwandelten 20. Diese Meinung 15 S. Kieniewicz, Rozwój polskiej s´wiadomo´sci narodowej w XIX w. (Die Entwicklung des polnischen Nationalbewußtseins im 19. Jahrhundert), in: Historyk a s´wiadomo´sc´ narodowa (Der Historiker und das nationale Bewusstsein), Warszawa 1982, S. 60 f. 16 S. Staszic, Przestrogi dla Polski (Ermahnungen für Polen), [Warszawa] 1790, S. 40. 17 Cyt za. I. Stasiewicz-Jasiukowa, Człowiek i obywatel w pi´smiennictwie naukowym i podre˛cznikach polskiego o´swiecenia (Der Mensch und Bürger im wissenschaftlichen Schrifttum und in den Lehrbüchern der polnischen Aufklärung), Wrocław i in. 1979, S. 65. 18 M. Janion, Siła fatalna czy błogosławie´nstwo? (Verhängnisvolle Stärke oder der Segen Gottes), in: „Polityka“ 15 VI 1974; vgl. auch A. Walicki, Patriotyzm i sens historii (Patriotismus und der Sinn der Geschichte), in: „Polityka“ 19 XI 1988. 19 Vgl. J. Tazbir, Kamienie milowe polskiej s´wiadomo´sci (Meilensteine des polnischen Bewusstseins), in: „Polityka“ 31 XII 1988. 20 Ders., Po˙zegnanie z XX wiekiem (Der Abschied vom 20. Jahrhundert), Warszawa 1999, S. 28 f.

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implizierte einigermaßen eine andere: dass wir für die Großherzigkeit unserer Ahnen sühnen, dass Europa uns seine Schulden zurückzahlen soll (für die Schlacht bei Tannenberg / Grunwald, für das Bollwerk und für den Entsatz von Wien). Jan Paweł Woronicz hat das schön in folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: „Polen badete für Europa in seinem Blut, und Europa, welches hinter polnischem Rücken sicher war, meisterte sein Licht und seine Vorteile“ 21. Andere Autoren griffen die unvernünftige und realitätsferne romantische Idee des Freiheitskampfes an. Szujski verglich die Konspiration vor dem Aufstand 1863 (liberum conspiro) mit dem altpolnischen liberum veto 22, während Michał Bobrzy´nski, den die Idee einer starken Macht faszinierte, in den anachronistischen Institutionen der Adelsrepublik die Grundvoraussetzung für Anarchie und Verfall sehen wollte. In seinem Geschichtswerk Abriß der Geschichte Polens [Dzieje Polski w zarysie] schrieb er Folgendes: „Nur bei uns mangelte es an jener genesenden Kraft, es mangelte an einer Regierung, die im entscheidenden Moment die zerrütteten Kräfte um sich versammeln und ihnen eine einheitliche Richtung geben würde. Wir hatten keine Regierung und das ist der erste und einzige Grund, warum wir zugrunde gegangen sind“ 23. Der Autor setzte voraus, dass die Freiheit, welche Eigenschaften des individuellen Rechts hat und als subjektives Recht beachtet wurde, mit dem Herrschaftsprinzip verbunden werden soll und kann. „Die wahre Freiheit beruht darauf, dass jeder Bürger in den Grenzen des Gesetzes sich frei bewegen, denken und handeln kann, und dass man mit Hilfe einer guten Regierung in diese Richtung gehen kann. Diese Freiheit kannte Polen im 17. Jahrhundert gar nicht mehr; seine berühmte goldene Freiheit war die schwerste Sklaverei.“ 24 Besonders schädlich war im Urteil von Bobrzy´nski die Institution der Konföderation, die für ihn ein Synonym der Anarchie war. Auseinandersetzungen um die Vergangenheit, und damit um die Rolle der goldenen Freiheit, begleiteten auch Reflexionen über die Veränderungen der nationalen Substanz. Auf ihrem Hintergrund wurden die adeligen Traditionen allmählich zu 21 Vgl. J. Jedlicki, Jakiej cywilizacji Polacy potrzebuja˛? (Welche Zivilisation brauchen die Polen?), Warszawa 1988, S. 64 u. a. In der vom Autor zitierten Rede von Kazimierz Brodzi´nski, Über die Nationalität der Polen [O narodowo´sci Polaków], die er anlässlich des 40. Jahrestages der Verabschiedung der Verfassung vom 3. Mai hielt, kann man lesen, dass Polen ein „moralischer Gläubiger Europas, ein Apostel der Ethik von Selbstaufopferung ist in der Welt, in der die Politik des Egoismus und der Gewalt vorherrscht.“ (S. 64). 22 J. Szujski, Dumania samotna˛ godzina˛ IV. Dwa zboczenia (Nachdenken in einer einsamen Stunde IV. Zwei Abweichungen), in: „Hasło“ Nr. 85, 1965; S. Salmonowicz, Polski wiek XX. Studia i szkice (Das polnische 19. Jahrhundert. Studien und Skizzen), Włocławek 2000, S. 26. 23 M. Bobrzy´nski, Dzieje Polski w zarysie (Abriss der polnischen Geschichte). Bearbeitung und Einleitung von M. H. Serejski und A.F. Grabski, „Klasycy historiografii polskiej“, Warszawa 1974, S. 400. 24 ´ urodzeni czyli o do´swiadczeniu historyczEbenda, S. 404. Vgl. auch J. Jedlicki, Zle nym. Scripta i postscripta (Die schlecht Geborenen über die Erfahrung mit historischen Experimenten), Londyn-Warszawa 1993, S. 125 f.

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nationalen Denkmälern und die alten Sarmaten verwandelten sich in moderne Polen. Die altpolnische Idee der „Adelsnation“, also auch die Idee der Verteidigung adeliger Freiheiten, wurde zum Grundsatz der Verteidigung nationaler Unabhängigkeit. Republikanische Traditionen wurden dabei nicht aufgegeben. Einige Autoren, u. a. Maurycy Mochnacki, erklärten, dass gerade diese Traditionen nach dem Verfall des Staates entschieden zum Weiterbestehen des Organismus der Nation beigetragen haben, indem sie in ihr den Geist der Auflehnung gegen die Fremdherrschaft stärkten. Weniger wichtig ist die Tatsache, dass der Glaube an den republikanischen Geist manchmal eine extreme Form annahm (z. B. als Michał Grabowski verkündete, dass dieser Geist sich besonders stark in den Wettiner-Zeiten 25 manifestierte und Henryk Rzewuski gar nicht weit entfernt von dieser Meinung war). Viel bedeutender war dagegen der Umstand, dass an die republikanische Tradition die Anhänger von Joachim Lelewel anknüpften. Lelewel vertrat – wie bekannt – die Meinung, dass das Prinzip der Souveränität der adeligen Nation eine Keimform der Souveränität des Volkes darstellt. Selbst Edward Dembowski, der ein kritisches Verhältnis zur Vergangenheit hatte und solche Apologeten des Adels wie Rzewuski oder Grabowski bekämpfte, wollte in der adeligen Allherrschaft zum Wohl der Gemeinschaft [gminowładztwo] ein Überbleibsel der alten Allherrschaft des Volkes sehen, die in seinem Urteil Polen positiv unter den anderen Ländern auszeichnete. 26 Die Gebundenheit an die adeligen Traditionen des Republikanismus waren also nicht nur „ein Relikt der Vergangenheit, welches den Nationalcharakter der Polen negativ prägte“ – sondern auch – so Andrzej Walicki 27 – „eine lebendige Tradition, die im Stande war, den Zeitanforderungen gerecht zu werden und der modernen demokratischen Idee der Vorherrschaft des Volkes und der Selbstbestimmung der Nation den Weg frei zu machen.“ Dadurch konnte man auch die heikle Frage nach dem Wesen und den Umrissen der adeligen Freiheit vermeiden. Der Mythos der goldenen Freiheit kam viel schwächer zum Ausdruck in den Aussagen weniger polnischer Liberalen des 19. Jahrhunderts. Obwohl er mit dem Anarchismus, Egoismus, der Vetternwirtschaft und dem Größenwahn der Eliten assoziiert wurde, ist er doch nicht völlig verschwunden. Dieser Mythos korrespondierte mit der Vorstellung der Adelsrepublik als eines Landes der Individuen, welche Rechte hatten, um die man woanders erst kämpfte. Bezeichnende Worte ´ ˛tochowski gesagt: „Würde man aus den Taten des alten hat dazu Aleksander Swie Adels Missbräuche und Kastenalleinherrschaft ausschließen, so bliebe das, was 25 M. Inglot, Narodowo´sc´ i literatura w polskiej krytyce literackiej okresu romantyzmu (Nationalität und Literatur in der polnischen literarischen Kritik der Romantik), in: Idee i koncepcje narodu w polskiej my´sli politycznej (Ideen und Konzeptionen der Nation in der polnischen politischen Literatur), hrsg. von A. Walicki, Warszawa 1977, S. 71 –72. 26 A. Walicki, Słowo wste˛pne (Einleitung), in: Idee i koncepcje narodu (Ideen und Konzeptionen ... wie in Fn. 25), S. 10. 27 Ebenda., S. 11.

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das herrliche Werk von Mill Über die Freiheit enthält.“ 28 Die adelige Idee der Freiheit bot sich demzufolge sowohl allen denen, die von der Wiedererlangung der Freiheit schwärmten, als auch den Anhängern der organischen Arbeit an. VI. Einen anderen Charakter hatten die Auseinandersetzungen um das Ausmaß und den Charakter des adeligen Erbes, die 1918 im wiedergeborenen Polen ausgetragen wurden. Für die Zweite Republik, die zur Definierung ihrer in der Vergangenheit wurzelnden Identität gezwungen wurde, hatten die Fragen nach der Genealogie und Kontinuität der nationalen Idee fundamentale Bedeutung. Denn die Polen fragten nicht danach, ob Polen ein wiedergeborener oder ein neuer Staat ist (die so formulierte künstliche Frage, die man gelegentlich in den 1970er Jahren stellte, konnte der wissenschaftlichen Kritik nicht standhalten 29). Polen ist Polonia Restituta – lautete die Parole; diese Vorstellung ließ natürlich die Frage nach den Werten stellen, welche man von der Adelsrepublik erbte. Die Einsicht, dass die Adelsrepublik der liberalste Staat in Europa war, setzte die Frage nach den Ursachen des Verfalls, d. h., ob die Teilungen aus den Tugenden und Untugenden des Adels resultierten, nicht außer Kraft. Sie ließ unser Bild als Wühler, bei denen Anarchie eine genetische Veranlagung ist, nicht entkräften. Der politische Kontext dieser Konstruktionen war seit langem sichtbar. Sie dienten zum politischen Kampf, der in der nach den Teilungen wiedergeborenen Republik andauerte. Die Opposition warf gern dem Regierungslager von Piłsudski vor, dass es seine Wurzeln in der Magnaten- und adeligen Vergangenheit suche, während die Anhänger von Piłsudski ihre politischen Gegner ebenso gerne, was meistens mit den Angriffen auf den damaligen Parlamentarismus zusammenhing, mit den Wühlern verglichen, welche demagogische Formeln der goldenen Freiheit zu ihrem Nutzen ausschlachten 30. VII. Auch die Volksrepublik Polen wollte auf die Identitätssuche in der Vergangenheit und auf eine andere als eine linksradikale Legitimierung nicht verzichten. 28 Zit. nach Z. Ogonowski, Filozofia polityczna w Polsce XVII wieku i tradycje demokracji europejskiej (Politische Philosophie im Polen des 17. Jahrhunderts und die Traditionen der europäischen Demokratie), Warszawa 1992, S. 25. 29 Vgl. K. Dembski, Polonia Restituta – kontynuacja czy pa´nstwo nowe? (Polonia Restituta oder ein neuer Staat?), in: „Czasopismo Prawno-Historyczne“ XXVIU, 1977, H. 1, S. 167 –192 und die Polemik von S. Krukowski, Polska odrodzona czy pa´nstwo nowe? (Ein kontinuierlicher oder ein neuer Staat?): „Czasopismo Prawno-Historyczne“ XXIV, 1977, H. 1, S. 105 – 130. 30 Vgl. dazu J. Tazbir, Polska na zakre˛tach dziejów (Polen in den Wendungen der Geschichte), Warszawa 1997, S. 108.

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Die Konstruktion der Wiederkehr Polens auf die „uralten Gebiete der Piasten“, die übrigens reich an politischen Implikationen war, lasse ich beiseite, weil sie für unsere Fragestellung von geringerer Bedeutung ist. Ich möchte in diesem Zusammenhang eher auf den riesengroßen Erfolg der Ausstellung Das Selbstbildnis der Polen (Polaków portret własny) hinweisen, die 1979 in Krakau von Marek Rostworowski organisiert wurde. Erinnerungswert ist auch die heftige Diskussion um sie, in der es – nicht zum ersten Mal – um den Nationalcharakter der Polen ging 31. Der wohl interessanteste Versuch, das adelige Polen in den Stammbaum der Volksrepublik Polen einzumontieren, war das Buch von Edmund Osma´nczyk über die Republik der Polen, dessen erste Auflage 1977 erschien 32. Gewiss, nur wenige können sich noch an die Beweisführung von Osma´nczyk erinnern. Der Verfasser schrieb: „Da die Adelsrepublik die Formation der zahlreichsten Generationen der Polen war, muss sie es gewesen sein, die uns am stärksten geprägt hat“. Die Republik der Polen, also die Volksrepublik Polen, sei ein Staat, in dem „die adeligen und postadeligen Traditionen zur Blüte gelangten, die man in früheren Epochen nicht kannte und die zum ersten Mal die ganze Nation erfassten“. 33 Dieser Staat hat – so Osma´nczyk – alle postadeligen Tugenden und Gebrechen geerbt und anders konnte es nicht sein. Das Phänomen der goldenen Freiheit beruhte darauf, dass die Nation sich die Kulturgüter aneignete, die durch Jahrhunderte durch den Adel geschaffen und später durch die ihm entstammende Intelligenz übernommen wurden. Einige Aktivisten der demokratischen Fraktion der Großen Emigration träumten davon – setzte Osma´nczyk seine Ausführungen fort –, dass das polnische Volk „sich adeln“, d. h. sich auf das Niveau des Adels erheben würde. Der Autor verleugnete nicht solche Nachteile des Adels wie Selbstherrlichkeit, Wühlerei, Missbrauch der Freiheit und Xenophobie, aber er betonte zugleich, dass sie durch einen „ausschweifenden freiheitlichen Individualismus und durch die Verknüpfung der Idee einer starken Regierung mit der Berücksichtigung jeder individuellen Meinung der Bürger“ neutralisiert wurden. Die ein bisschen waghalsigen Thesen von Osma´nczyk fanden keine Zustimmung. Seine Opponenten, zu denen die Mitglieder der schon existierenden antikommunistischen Opposition gehörten, bemerkten ironisch, dass man „viele adelige Eigenschaften der Arbeiterklasse in der Volksrepublik Polen zuschreiben könnte“. Demzufolge brauche man nicht lange zu warten, bis „das adelige Wesen sich mit der höchsten Qualität, d. h. mit dem sozialistischen Polentum verschmelzen würde“ 34. 31 Äußerungen von A. Gieysztor, M. Rostworowski und J. Topolski in: Polaków portret własny (Das Selbstbildnis der Polen). Praca zbiorowa pod red. M. Rostworowskiego, Warszawa 1983, Bd. I. 32 E. Osma´nczyk, Rzeczpospolita Polaków (Die Rzeczpospolita der Polen), Warszawa 1977. 33 Ebenda, S. 125. Der Autor hielt „für das gefährlichste Gebrechen der jungen Volksgemeinschaft“ die „Neigung mancher volkstümlicher Würdenträger von unterschiedlichem Rang zur Selbstherrlichkeit“ (S. 128).

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Nichtsdestotrotz hat Osma´nczyk ein Problem angesprochen, welches nach 1989 seine große Wirksamkeit zeigte, nämlich das Problem des polnischen Liberalismus. Die Dritte Republik, die den Weg des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Liberalismus betrat, musste selbstverständlich nach der Herkunft dieser Doktrin in Polen fragen. Hervorragende Forscher setzten sich mit dieser Frage auseinander und beurteilten dabei ihre Beeinflussung durch den Mythos der goldenen adeligen Freiheit. In diesem Zusammenhang muss man vor allem die vorzüglichen Studien von Andrzej Walicki und Jerzy Szacki nennen, die nach den Ursachen der „Misere“ des Liberalismus in Polen fragten. Walicki betont stark den Antiindividualismus der Doktrin der goldenen Freiheit 35. In seinem Urteil bedeutete sie vielmehr die Teilnahme an der kollektiven Souveränität als den Schutz der individuellen Rechte. Dieser Autor wollte im liberum veto weniger ein Zeugnis des überschäumenden Individualismus des polnischen Adels als vielmehr das „Ethos eines archaischen Kollektivismus“, also des Partizipationsgefühls, sehen. Ideologische Legitimierung der adeligen goldenen Freiheit – schrieb Walicki – besteht im Glauben an die gemeinsame Herkunft der Mitglieder eines Gesellschaftsstandes (und auch an die gemeinsame Herkunft der Rechte innerhalb dieses Standes), und nicht etwa in der Überzeugung, dass bestimmte Rechte einem Stand als dem Kollektiv von Individuen gebühren. Auch Jerzy Szacki beurteilt den adeligen „Liberalismus“ als höchst ineffizient. Dieser Forscher weist jede Einbettung der goldenen Freiheit in den „liberalen Kontext“ zurück 36. Es gibt eine scharfe Trennungslinie zwischen der Kontinuität der freiheitlichen Tradition und der Kontinuität der liberalen Tradition. Die stereotype Vorstellung Polens als eines Landes der Individualisten entkräftet keineswegs die These, dass der Liberalismus bei uns keinen richtigen Nährboden hatte. Indem man von der Freiheit sprach – betont Szacki – meinte man eher die Abschaffung ständischer Privilegien als die Berechtigung des Bürgers als Individuum. Im 19. Jahrhundert ging es eher um die Wiedererlangung des Staates als um seine Einrichtung. Szacki erinnert an die Abneigung, die Mochnacki Benjamin Constant und jedem „Doktrinarismus“ gegenüber fühlte und kommt zu der Einsicht, dass die adeligen Privilegien kaum als Präfigurationen der westlichen Lösungen taugen können 37. Die Polen neigten eher zum Nationalismus als zum Liberalismus, und die Tatsache, dass aus der goldenen Freiheit letztendlich die Überzeugung von der notwendigen Stärkung des Staates hervorwuchs, bedarf – so Szacki – der Erinnerung, dass der Reformgedanke in Polen auftauchte, nachdem man „im Westen 34 T. Łepkowski, Przeszło´sc´ minion a i tera´zniejsza (Die vergangene und die gegenwärtige Vergangenheit), Warszawa 1980, S. 210 – 212. 35 A. Walicki, Trzy patriotyzmy (Drei Patriotismen), in: „Res Publica“, Warszawa 1991, S. 20 f. 36 J. Szacki, Liberalizm po komunizmie (Der Liberalismus nach dem Kommunismus), Warszawa 1994, S. 56 f. 37 Ebenda, S. 66 – 67.

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schon allgemein mit der Einschränkung der Kompetenzen des Staates den Bürgern gegenüber, und kurz danach mit ihrem Schutz vor der Tyrannei der Mehrheit begonnen hatte“ 38. Diesen Standpunkt vertreten auch jüngere Forscher, wie z. B. Rett R. Ludwikowski 39, der über die Unvollkommenheit des polnischen Liberalismus schreibt, sowie Ryszard Skarzy´nski 40, der behauptet, der Liberalismus in Polen sei wegen der hierzulande dominierenden intellektuellen Strömungen, der vorherrschenden Religion, der politischen Ordnung und der nationalen Eigenschaften nie möglich gewesen. Die Enttäuschung, mit der man auf die „Misere“ des polnischen Liberalismus reagiert, resultiert vielleicht einigermaßen aus der Enttäuschung wegen der Misserfolge bei der Suche nach der moralischen Ordnung und aus der überraschend langsamen Aufgabe der Haltungen, die ein großer Teil der Gesellschaft in den Zeiten des realen Sozialismus einnahm und auch heute glaubt, dass der demokratische Staat diese Erwartungen erfüllt, die noch vor kurzem vergeblich an den kommunistischen Staat adressiert wurden 41. Andererseits kann man nicht die Tatsache übersehen, dass in unserem Zeitalter, in dem der Pragmatismus immer stärker wird, doch die Nostalgie nach den demokratischen Traditionen der alten Adelsrepublik als eines „Staates ohne Scheiterhaufen“, des Synonyms von Antitotalitarismus und des Inbegriffs der Freiheit, die an sich goldwert sein kann, gar nicht nachlässt. Die Beobachter der modernen polnischen Gesellschaft deuten auf die zunehmende Nachfrage nach Wappenbüchern, auf die Renaissance des großadligen Lebensstils, auf die Nachfrage nach der adeligen Folklore, auf glänzende Karrieren der Mitglieder alter Aristokratie in der Diplomatie und auf Kino- und Fernseherfolge großer Nationalepen, die die Adelsrepublik verklären. Das alles lässt die Frage stellen, ob wir richtig im Buch der Geschichte lesen, insbesondere ob wir richtig die Ideologie der adeligen Freiheit verstehen, die fast drei Jahrhunderte lang die „Nation“ mit dem Staat integrierte. In der reichen „jenseitigen Existenz“ dieser Ideologie herrschen auf der einen Seite Tendenzen vor, sie mit solchen nationalen Schwächen wie Wühlerei, Eigennutz, Missachtung der Regierung, verächtlichem Verhältnis zum Recht und anarchischen Neigungen zu identifizieren, während sie auf der anderen Seite als Aneinanderreihung bürgerlicher Tugenden gilt, die würdig seien, erinnert, gepflegt und entwickelt zu werden.

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Ebenda, S. 65. R. R. Ludwikowski, Continuity and Change in Poland. Conservatism in Polish Political Thought, Washington 1991, passim. 40 R. Skarzy´nski, Czy liberalizm był w Polsce w ogóle mo˙zliwy? (War der Liberalismus in Polen überhaupt möglich?), in: Tradycje liberalne w Polsce, Warszawa 1993, S. 15 f. 41 J. Szacki, Indywidualizm i kolektywizm w polskiej s´wiadomo´sci politycznej (Individualismus und Kollektivismus im polnischen politischen Bewusstsein), in: „Przegla˛d Zachodni“ LIII, 1997, Nr. 4, S. 15 – 22. 39

Zur Problematik eines interkulturellen Strafrechts Harro Otto I. Ansatzpunkte zur Begründung eines interkulturellen Strafrechts Bereits in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat Andrzej J. Szwarc, der sehr verehrte Jubilar, sich eingehend rechtsvergleichend mit strafrechtlichen Regelungen des Sportrechts beschäftigt und aufgezeigt, dass hier durchaus vergleichbare Problemstellungen eine Rechtsangleichung begünstigen würden. Gleichwohl ist dieser Weg im Sportrecht nicht weiter verfolgt worden. Nicht, weil die Analyse der Problemsituation unrichtig gewesen wäre, sondern weil das Sportrecht nicht in das Zentrum rechtspolitischer Reformbestrebungen gelangte. – Anders verlief die Entwicklung im Europäischen Wirtschaftsstrafrecht. Das Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union, das im Auftrag des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission Mitte 2000 in endgültiger Fassung veröffentlicht wurde, und die von Tiedemann vorgelegten „Europa-Delikte“, die auf die Harmonisierung des Wirtschaftsstrafrechts in der Europäischen Union zielen 1, sind erste große Schritte auf dem Weg zu einem europäischen Strafrecht, dessen Geburt Tiedemann nur noch als eine Frage der Zeit ansieht. 2 Allerdings zeigt sich hier bereits in der bisherigen Schwerpunktsetzung: Wirtschaft und Umwelt, Organisierte Kriminalität, Terrorismus, Drogen- und Menschenhandel, dass es um die Harmonisierung von Straftatbeständen geht, die schon im nationalen Bereich vergleichbare Problemstellung in vergleichbarer Weise regeln. Es geht letztlich von vorneherein um den Schutz gemeinsamer übernationaler Interessen. Diese national übergreifende Interessengleichheit ist aber kein allgemeines Merkmal strafrechtlicher Tatbestände. Große Teile des Strafrechts sind in hohem Maße national und kulturell gebunden. In diesen Bereichen wird das Strafrecht weithin als Ausdruck nationaler Souveränität und Tradition sowie gewachsenen Wertbewusstseins verstanden, seine Angleichung an andere Standards dementsprechend als Verlust eigener Identität erlebt. Problematischer aber ist – und diese Frage knüpft 1 Vgl. Delmas-Marty (Hrsg.), Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union, 1998; Huber (Hrsg.), Das Corpus Juris als Grundlage eines Europäischen Strafrechts, 2000; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union, 2002; dazu auch Hecker, JA 2007, 561 ff; Sieber, GedS für Schlüchter, 2002, S. 107 ff. 2 Tiedemann, ZStW 116 (2004), 945 ff, 957.

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an vielfältige Diskussionen mit dem Jubilar an und setzt sie gleichsam fort –, ob und wieweit diese Isolierung der gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung noch gerecht wird und ob sie weiter verteidigt werden kann? Eine klare Antwort auf diese Frage hat Höffe in einer aus einer „Thomas-vonAquin-Vorlesung über Mitbürger- und Staatsbürgerverantwortung“ heraus entstandenen Untersuchung 3 gegeben. Er kann in der nationalen Isolierung des Strafrechts nur noch einen historischen Sachverhalt erkennen, dem er die These entgegensetzt, dass das Strafrecht das unverzichtbare Element einer menschenrechtsverpflichteten Selbstorganisation der Gesellschaft darstellt. In dieser Funktion: als Schutzschild der Menschenrechte und Ausdruck der Verbundenheit der Gesellschaft mit den Opfern von Menschenrechtsverletzungen – was es den möglichen Tätern an Freiheit nimmt, gibt es den potentiellen Opfern an Vertrauen zurück – hat es Anspruch auf interkulturelle Gültigkeit. 4 – Der Begründung dieser These nähert er sich mit der Frage, ob eine interkulturelle Strafbefugnis zu den Verbindlichkeiten gehört, auf die die Menschen einen Anspruch gegeneinander haben; ist eine derartige Strafbefugnis rechtsmoralisch legitim? 5 Nach einer Differenzierung dieser Frage in unterschiedliche Stufen und Facetten entwickelt Höffe sodann sechs – historisch unterschiedlich aktuelle – Antwortmuster 6, wie der große Fremde, der aus einer andersartigen Rechtskultur kommt, behandelt werden kann: als Barbar, als Gleicher unter Gleichen, als Fremder, für den ein interkulturelles Recht gilt, d. h. Rechtsgrundsätze, die den verschiedenen Völkern vertraut sind, als Adressat von Rechtsnormen, die sich an den Menschen als Rechtsperson schlechthin richten, als Rechtsperson, der bestimmte, föderalistisch bedingte rechtliche Eigenarten zugestanden werden, oder als Person, für die ihr Herkunftsrecht gilt. Die Relevanz der verschiedenen Betrachtungsweisen weist Höffe 7 am Beispielsfall eines Senegalesen auf, der mit den Eltern eines ebenfalls aus dem Senegal stammenden minderjährigen Mädchens verabredet, dieses nach Deutschland mitzunehmen und es in seinem Haushalt zu betreuen. Nach einiger Zeit übte er mit der damals Sechzehnjährigen Geschlechtsverkehr aus. – Ein Verhalten, das nach § 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB in Deutschland als sexueller Missbrauch einer Schutzbefohlenen strafbar ist, im Senegal hingegen zu den herrschenden kollektiven Üblichkeiten gehören soll. Mit der Lösung dieses Falles leitet Höffe zur Beantwortung der Ausgangsfragen und der Begründung seiner Grundthese über. Er konstatiert, dass der Schutz min3 4 5 6 7

Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, 1999. Höffe, (ob. Fn. 3), S. 8. Höffe, (ob. Fn. 3), S. 11. Höffe, (ob. Fn. 3), S. 20. Höffe, (ob. Fn. 3), S. 31 ff.

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derjähriger Frauen nicht den Deutschen oder den Einheimischen diene, auch nicht der Bewahrung einer europäischen bzw. westlichen Kultur. Er diene der Gesamtheit aller Rechtsgenossen, den Ausländern nicht weniger als den Inländern. Auch gehe es nicht um ein Freiheitsrecht, das zwar im Westen praktiziert werde, gegen das aber andere Kulturen skeptisch seien: die sexuelle Freiheit des Jugendlichen, vielmehr stehe etwas in stärkerem Sinn Elementares und Allgemeinmenschliches auf dem Spiel. Jene für die Ausbildung eines selbständigen und selbstverantwortlichen Erwachsenen so wichtige Ungestörtheit in der sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen solle nicht beeinträchtigt werden. Ein derartiger Schutz habe ersichtlich eine menschenrechtliche Dignität. 8 In der menschenrechtlichen Dignität erkennt Höffe sodann den verpflichtenden Anknüpfungspunkt für ein interkulturelles Strafrecht: Nicht schlechthin, aber soweit sich die strafrechtlichen Delikte mit allgemeinmenschlichen, des näheren mit menschenrechtlichen Argumenten begründen lassen, sei eine kulturübergreifende Strafbefugnis, ein interkulturelles Strafrecht, zweifellos gegeben: „Der Grund liegt nicht in der Anmaßung einer Rechtsordnung, Fremde zu unterwerfen. Er liegt auch nicht im Willen, dem Fremden ein Privileg, nämlich vom Strafrecht freigestellt zu werden, zu verweigern. Schließlich liegt der Grund nicht primär in dem (gewiss berechtigten) Interesse einer Gesellschaft an Selbstschutz, sondern darin, dass es, strafrechtlich gesehen, den wirklich großen Fremden gar nicht gibt: Rechtskulturen, die so grundsätzlich anders sind, dass sie die menschenrechtlich begründbaren Delikte gar nicht kennen, sind schwer zu finden; eher dehnt man den Umfang der Strafbefugnis aus. Und wenn es jenen großen Fremden doch geben sollte, der die menschenrechtlich begründbaren Delikte nicht kennt, kann man von ihm, sofern er in die Fremde geht, die Anerkennung der entsprechenden Delikte, eben weil sie menschenrechtlich begründbar sind, verlangen. Das interkulturelle Strafrecht bekräftigt damit eine Faustregel interkultureller Rechtsdiskurse: Das, wofür wir uns nachdrücklich einsetzen, finden wir in anderen Kulturen auch; insbesondere über das, worüber wir uns empören, empören sich die Menschen anderswo ebenfalls.“ 9 Als hier relevante Delikte nennt Höffe Sklaverei, Menschenhandel, Handel mit Rauschgiften, Folter, sexuelle Verstümmelung und Menschenopfer einerseits, Terrorismus, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen andererseits. II. Interkulturelles Strafrecht – Realität oder Hoffnung? Die weit- und tiefgreifenden Überlegungen Höffes regen nicht nur zum Nachdenken an. Seine optimistische Einschätzung der Situation reißt den Leser mit 8 9

Höffe, (ob. Fn. 3), S. 106. Höffe, (ob. Fn. 3), S. 107 f.

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und macht ihm Mut, auf dem eingeschlagenen Weg fortzuschreiten. Dennoch besteht die Gefahr, dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren, weil Realität und erwünschte Situation doch weiter voneinander entfernt sind, als Höffe meint. In seinem der Studie Höffes beigefügten Kommentar hat Hassemer dargelegt 10, dass er die optimistische Einschätzung Höffes nicht zu teilen vermag, dass es den großen Fremden gar nicht gibt. Er verweist auf die nationalen Divergenzen z. B. bei der Beurteilung von Abtreibung und Euthanasie sowie auf die internationalen Differenzen bei der Bewertung von Selbstverteidigungs- und Nothilfekriegen, Wucher, Herstellung von Minen, Kinderarbeit, Todesstrafe u. a. – Diese Skepsis ist durchaus nicht unbegründet. Auch wenn Menschenrechte abstrakt weithin anerkannt werden, so ist ihre konkrete Durchsetzung, wie bereits der Konsens über ihren sachlichen Inhalt, nach wie vor lückenhaft, wenig gesichert und vage. In der Verbindlichkeit im konkreten Fall, nicht in ihrer abstrakten Anerkennung liegt ihre Problematik. Das hat sich seit dem Beginn der „Menschenrechtsdiskussion“ nicht geändert. Alle Verfassungsentwürfe der Französischen Revolution stellten die Menschenrechte heraus. Sie bildeten gleichsam die gemeinsame Grundlage derer, die eine Verfassung anstrebten, aber sie wurden jeweils anders verstanden. So ist es nur scheinbar ein Widerspruch, dass im Februar 1794, auf dem Höhepunkt des Terrors in Frankreich, die Negersklaverei in den französischen Kolonien unter Berufung auf unveräußerliche Menschenrechte aufgehoben wurde. So dramatisch ist die heutige Situation nicht. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die menschenrechtlichen Grundlagen keineswegs so kulturübergreifend akzeptiert sind, wie es nötig wäre. Das erweist sich in besonderer Weise an dem von Höffe als Beispielsfall gewählten Schutz Minderjähriger. III. Interkulturelle Angleichung von Strafrechtsnormen und Opferschutz Der Schutz Minderjähriger dient in der Tat nicht den Deutschen oder den Einheimischen, auch nicht der Bewahrung einer europäischen bzw. westlichen Kultur. Darin liegt jedoch nicht das interkulturelle Problem. Dieses wird vielmehr in der Frage erkennbar, mit welchem Alter dieser Schutz beginnen bzw. enden soll. Hier werden nicht nur in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Antworten gegeben, sondern schon im gleichen Kulturkreis. Dabei geht es nicht um geringfügige – Beurteilungsspielräume ausschöpfende – Verschiebungen von Altersund Schutzgrenzen, sondern um gravierende, kulturbedingte Unterschiede in den Auffassungen über die altersbedingten Möglichkeiten eigenverantwortlicher Entscheidungen und auf der anderen Seite um den Schutz vor Entscheidungen, die nicht als eigenverantwortlich akzeptiert werden. Damit versagt auch die Methode 10

Hassemer, Vielfalt und Wandel, in: Höffe (ob. Fn. 3), S. 157 ff, 172.

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wertender Rechtsvergleichung, die gleichsam von einer kulturellen Überschneidungssituation ausgeht und eine kulturelle Zwischenposition konstituiert, die die Möglichkeit von Vernetzung eröffnet und Voraussetzung einer Kooperation wird. 11 Die Idee, dass die Beteiligten in der kulturellen Überschneidungssituation die Standards der jeweils anderen lernen, um daraus eine gemeinsame Orientierung zu schaffen 12, führt hier nicht weiter, die Suche nach einem dritten Weg in die Sackgasse. Zwar hat der EuGH methodisch an die Situation kultureller Zwischenpositionen angeknüpft, als er bei der Herausarbeitung rechtsstaatlicher Prozessgrundsätze auf die in den mitgliedstaatlichen Rechtordnungen vorhandenen Rechtsgrundsätze zurückgriff. Aus vorhandenen Gemeinsamkeiten – Recht auf faires Verfahren, Recht auf effektiven Rechtsschutz, Grundsätze der Rechtssicherheit, der Rechtsklarheit und des rechtlichen Gehörs – ließen sich übergreifende Rechtsgrundsätze herleiten. – Im materiellen Recht aber versagt die Methode. Es zeigt sich, dass die Gegensätze so nicht zu überbrücken sind. Weil es hier z. B. um das grundsätzliche Bild vom Kind und vom Erwachsenen geht, ist dieser Problematik nicht durch großzügige Nutzung von Strafmilderungsgründen oder Möglichkeiten der Einstellung des Verfahrens zu begegnen. Die strafrechtlich mildere Beurteilung des Verhaltens der Fremden geht an der Opfersituation vorbei und führt unmittelbar zu der Frage, warum den möglichen einheimischen Opfern durch schärfere Bestrafung Einheimischer ein weiter gehender Schutz gewährt wird als den fremden Opfern, bzw. wenn ein Einheimischer Opfer der Straftat geworden ist, warum möglichen Opfern vor Fremden ein geringerer Schutz gewährt wird als vor einheimischen Tätern. – Das steht auch – nicht nur bezogen auf das englische Recht – der Realisierung des Vorschlags des Erzbischofs von Canterbury zwingend entgegen, Aspekte des islamischen Gesetzes in das heimische Rechtswesen einzugliedern, weil ein „universales, auf der Aufklärung basierendes System die mögliche Folge der Gettoisierung und quasi Entrechtung einer Minderheit auf Kosten des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Kreativität erwägen muss“. Die hier tragende Vorstellung einer pluralen Gerichtsbarkeit und eines „rechtlichen Marktes“, auf dem der rechtlich Verpflichtete die Möglichkeit hat, sich für das eine oder das andere System zu entscheiden, würde den Gleichheitssatz nicht nur auf der Täterseite tangieren 13, sondern auf der Opferseite nicht mehr akzeptabel verletzen. 1. Mord aus niedrigen Beweggründen Eindrucksvoll Ausdruck gefunden hat die Täter-Opfer-Problematik in der Entwicklung der Rechtsprechung des BGH zum Mordmerkmal der „niedrigen Beweg11 Eingehend zu diesem Konzept: Wierlacher, Interkulturalität, in: FS für Steinmetz, 1999, S. 166 ff. 12 Dazu Wierlacher, (ob. Fn. 11), S. 170. – Zur anders gelagerten Problematik der Europäisierung der nationalen Staatsrechtslehren und Verwaltungsgerichte vgl. Häberle, Der europäische Jurist, 2002, S. 20 ff. 13 Dazu Gina Thomas, Glaubensmarkt des Rechts, in: FAZ v. 11. 2. 2008, Nr. 35, S. 34.

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gründe“. Denn in Fällen von Blutrache und der Reaktion auf Verhaltensweisen, die von Ausländern im Gegensatz zu Inländern als schwere Ehrverletzung empfunden wurden, stellte sich unausweichlich die Frage, ob und wieweit abweichende sozio-kulturelle Wertvorstellungen des Täters die Bewertung seines Verhaltens als niedrig im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB beeinflussen können. a) Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist ein Beweggrund als niedrig zu beurteilen, wenn er nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe steht, mithin in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag als verwerflich und deshalb als besonders verachtenswert erscheint. 14 Ob dieser Sachverhalt vorliegt, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung zu beurteilen, die die Umstände der Tat, die Lebensverhältnisse und die Persönlichkeit des Täters einschließt. 15 – Im Rahmen dieser Gesamtwürdigung finden auch fremdkulturelle Vorstellungen und Anschauungen ihren Platz. Strittig aber ist der Rang, der diesen Wertungen und Vorstellungen zukommt. b) Zunächst hat der BGH die fremdkulturellen Wertvorstellungen bei der Würdigung der subjektiven Seite der Täterpersönlichkeit und den diese prägenden Vorstellungen und Anschauungen berücksichtigt. 16 Der 5. Strafsenat führte aus: „Der BGH hat wiederholt entschieden, daß Persönlichkeitsmängel bei der sittlichen Bewertung einer Tat u. U. zu berücksichtigen sind. Gilt das in gewissem Umfang schon für ‚psychopathische Persönlichkeiten‘ ..., so ist dieser Grundsatz erst recht dann anzuwenden, wenn Ausländer in – von den unseren abweichenden – Anschauungen und Vorstellungen ihrer Heimat befangen sind, von denen sie sich zur Tatzeit noch nicht lösen konnten“. 17 Der 4. Strafsenat bestätigte, dass Persönlichkeitsmängel die Wertungsfähigkeit eines Täters aufheben könnten, gelte insbesondere bei einem Ausländer, der „sich noch im Studium der kulturellen Anpassung und damit in einem Zustand interkultureller Spannung befand, der es nicht ... ausschließen lässt, dass er im Augenblick der Tat .... in sizilianische Denkweisen zurückgefallen ist und deshalb das besonders Verwerfliche ... seines Handelns nicht erkannt hat“. 18 c) Im Jahre 1979 trat aber eine grundsätzliche Wandlung in der Rechtsprechung des BGH ein, indem die fremdkulturellen Wertvorstellungen und Anschauungen zum objektiven Maßstab erhoben werden, an dem die Niedrigkeit des Beweggrundes zu messen sei. – Gleich bleibt zunächst der Anknüpfungspunkt: „Ob ein Beweggrund niedrig ist (§ 211 II StGB), also nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe steht, muss aufgrund einer Gesamtwürdigung beurteilt werden, 14 15 16 17 18

Vgl. BGHSt 3, 132 f; BGH NJW 2006, 1008, 1011. Dazu BGH GA 1974, 370; BGH NJW 1980, 537; BGH NJW 2006, 1008, 1011. Vgl. dazu auch Nehm, FS für Eser, 2005, S. 421 f; Saliger, StV 2003, 22. BGH GA 1967, 244. BGH bei Holtz, MDR 1977, 809.

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die die Umstände Tat, die Lebensverhältnisse und die Persönlichkeiten der Täter einschließt.“ 19 Der Maßstab, an dem die Beurteilung in der Gesamtwürdigung vorzunehmen ist, wird sodann aber neu definiert, indem der Gesamtwürdigung vorgegeben wird: „Dabei können die besonderen Anschauungen und Wertvorstellungen, denen die Täter wegen ihrer Bindung an eine fremde Kultur verhaftet sind, nicht außer Betracht bleiben.“ 20 – Ausdrücklich verworfen wird sodann die deutsche Rechts- und Kulturordnung als relevanter Maßstab: „Das Tötungsmotiv der Angeklagten mag zwar nach den in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Wertungen unverständlich und missbilligenswert sein. Daraus folgt aber ... nicht notwendig, dass das allgemeiner sittlicher Wertung verpflichtete Urteil ein solches Verhalten als besonders verwerflich, ja verächtlich bewerten muss. Der ... Gesichtspunkt, dass allgemeine sittliche Wertmaßstäbe anzulegen sind, schließt es nicht aus, dass die individuellen Bedingungen der Tat, zu denen die Bindung des Täters an die besonderen Ehrvorstellungen seines Lebenskreises gehören können, in die Bewertung einbezogen werden und den Ausschlag dafür geben, dass die Beweggründe nicht als niedrig erscheinen.“ 21 Eine Anpassung an die in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Rechts- und Wertvorstellungen wird den Tätern, die im konkreten Fall unter dem Erwartungsdruck ihrer Familie handelten, nicht einmal zugemutet: „Daß den Angeklagten die Strafwürdigkeit ihres Tuns nach deutschem und nach türkischem Recht bekannt war, vermag für sich allein die Annahme eines niedrigen Beweggrunds nicht zu begründen; auch im deutschen Kulturkreis hat es Fälle gegeben, in denen die rechtliche Bewertung und die soziale Verhaltenserwartung auseinander fielen. Für die Entscheidung darüber, ob ihre Beweggründe niedrig waren, kommt es nicht darauf an, ob die beiden türkischen Angeklagten bei ihrem langjährigen Aufenthalt in Deutschland Gelegenheit hatten, sich mit den hier herrschenden Wertvorstellungen vertraut zu machen; entscheidend sind ihre tatsächlichen Beweggründe.“ 22 – Dieser Rechtsprechung des 5. Strafsenats schlossen sich in den nachfolgenden Jahren der 1., 3. und 4. Strafsenat an. 23 d) Die grundsätzliche Abkehr von dieser Rechtsprechung leitete der 2. Strafsenat im Jahre 1994 ein. Er befand: „Der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes ist den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu entnehmen, vor deren Gericht sich der Angeklagte zu verantworten hat, und nicht den Anschauungen einer Volksgruppe, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt (...). Tötung aus Blutrache, bei der sich der Täter seiner ‚persönlichen Ehre und Familienehre‘ wegen gleichsam 19

BGH NJW 1980, 537. BGH NJW 1980, 537. 21 BGH NJW 1980, 537. 22 BGH NJW 1980, 537. 23 Vgl. BGH StV 1981, 399; BGH NJW 1983, 55; BGH StV 1994, 182; BGH StV 1997, 565, 566; dazu auch Saliger, StV 2003, 23, Fn. 8. 20

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als Vollstrecker eines von ihm und seiner Familie gefällten Todesurteils über die Rechtsordnung und einen anderen Menschen erhebt, ist als besonders verwerflich und sozial rücksichtslos anzusehen. Besonders in einer Rechtsgemeinschaft, die das Lebensrecht des Menschen so hoch einschätzt, dass sie es auch einem Täter nicht aberkennt, der denkbar schwerste verbrecherische Schuld auf sich geladen hat, ist Tötung aus dem Motiv der Blutrache in der Regel in höchstem Maße verwerflich und begründet die Annahme niedriger Beweggründe.“ 24 Im Hinblick auf die subjektive Tatseite legt der BGH dar, dass eine Verurteilung wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen allerdings dann nicht in Betracht komme, „wenn dem Täter bei der Tat die Umstände nicht bewusst waren, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, oder wenn es ihm nicht möglich war, seine gefühlsmäßigen Regungen, die sein Handeln bestimmen, gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern.“ 25 Unmittelbar knüpft der 2. Strafsenat sodann an die ursprüngliche Rechtsprechung des BGH zu diesem Themenkreis an, und führt aus: „Wurde der einem fremden Kulturkreis – der Blutrache duldet oder gar fordert – entstammende Täter noch derart stark von den Wertvorstellungen und Anschauungen seiner Heimat beherrscht, dass er sich von ihnen zur Tatzeit aufgrund seiner Persönlichkeit und der gesamten Lebensumstände nicht lösen konnte, dann kann ausnahmsweise auch bei einer Tötung aus Blutrache eine Verurteilung lediglich wegen Totschlags in Betracht kommen.“ 26 Diese Situation präzisierte der 2. Strafsenat später dahin, dass der Täter zwar die rechtliche Bewertung der Handlungsantriebe als niedrig nicht vorzunehmen oder nachzuvollziehen brauche. „Er muss aber zu einer zutreffenden Wertung in der Lage sein; seine Fähigkeit dazu kann etwa bei einem ausländischen Täter, der den in seiner Heimat gelebten Anschauungen derart intensiv verhaftet ist, dass er deswegen die in Deutschland gültigen abweichenden sozialethischen Bewertungen seines Motivs nicht in sich aufnehmen und daher auch nicht nachvollziehen kann, fehlen.“ 27 e) Mit der Gleichstellung des in fremdkulturellen Wertvorstellungen verhafteten Ausländers, dem es nicht möglich ist, die Wertungen der deutschen Rechtsgemeinschaft nachzuvollziehen, mit dem Täter, dem diese Fähigkeit aufgrund eines Persönlichkeitsmangels fehlt, wird letztlich entscheidend auf das Vorliegen oder Fehlen der Möglichkeit einer Wertung abgestellt, wie sie aus § 17 StGB bekannt ist. Allerdings ist dann auch hier zu berücksichtigen, wie lange und in welchem Umfang der Täter Gelegenheit hatte, sich mit den in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Wertvorstellungen vertraut zu machen. 28 24

BGH NJW 1995, 602 f. BGH NJW 1995, 602, 603. 26 BGH NJW 1995, 602, 603. 27 BGH NJW 2004, 1466, 1467. 28 Dazu auch BGH NStZ 2002, 369, 370; BGH NJW 2004, 1466, 1468; BGH NJW 2006, 1008; Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, § 211 Rdn. 29; Heine, Tötung aus „niedrigen Beweg25

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f) Der Rechtsprechung des 2. Strafsenats 29 haben sich der 1. 30 und der 5. Strafsenat 31 angeschlossen, und auch in der Literatur wird diese Problemsicht geteilt. 32 Doch auch die Auffassung, dass fremdkulturelle Anschauungen und Wertvorstellungen ausländischer Täter schon bei der sozialethischen Beurteilung eines Beweggrundes zu berücksichtigen sind, wird weiter vertreten. 33 Geltend gemacht wird, die Niedrigkeit eines Beweggrundes setze soziale Rücksichtslosigkeit voraus. An dieser fehle es aber, solange der Täter in Bindung an ein – sei es auch fremdes – Normensystem handele. Der Schutz der deutschen Normenordnung dürfe nicht verabsolutiert werden, denn ein so allgemeines Rechtsgut wie der Bestand einer bestimmten Kultur scheide als strafrechtlich zu schützendes Rechtsgut aus. 34 Zu beachten sei auch, dass man den Täter für die Normen seiner heimatlichen Sozialordnung und der sie prägenden Weltanschauung nicht verantwortlich machen könne. 35 Diese Argumentation wird jedoch der Problematik nicht gerecht, denn es geht hier nicht schlechthin um den Schutz des Bestandes einer bestimmten Kulturordnung, sondern um den Schutz des Rechtsguts Leben, das vor einer Zerstörung aus nichtigem Beweggrund bewahrt werden soll. Die hier maßgeblichen Bewertungsmaßstäbe sind aber nicht – je nach Herkunft und Anschauungen des Täters – austauschbar, sondern die für alle Bürger der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen, rechtlich anerkannten Wertmaßstäbe. Denn unabhängig von der immer noch recht pathetischen Definition der Heimtücke, geht es in der Sache um die Beurteilung, ob zwischen dem Anlass der Tat und ihren Folgen ein unerträgliches Missverhältnis besteht. 36 – Dieses Missverhältnis aber ist nach den in gründen“, 1988, S. 275; Nehm, FS für Eser, S. 426 ff; Neumann, NK, Bd. 2, 2. Aufl. 2005, § 211 Rdn. 30; Otto, Jura 2003, 617; Saliger, StV 2003, 25; Schneider, MüKo, Bd. 3, 2003, § 211 Rdn. 94 f. 29 Vgl. noch BGH NStZ-RR 2007, 86, 87. 30 BGH 1 StR 122/01, Beschl. v. 24. 4. 2001. 31 BGH NStZ 2002, 369; BGH NJW 2006, 1008; Fischer, StGB, § 211 Rdn. 29. – Der in der Öffentlichkeit viel diskutierte Fall Hatun Sürücü gibt in der rechtlichen Würdigung für die hier relevante Problematik keine Argumente, da der Freispruch des LG – nach Auffassung des BGH – auf einer fehlerhaften Beweiswürdigung beruhte und das Urteil deshalb aufzuheben war; BGH 5 StR 31/07, Urteil v. 28. 8. 2007. 32 Vgl. Fischer, StGB, § 211 Rdn. 29; Geilen, JK StGB, § 211/5; Jähnke, LK, 11. Aufl. 1992 ff, § 211 Rdn. 37; Jakobs, ZStW 2006 (118), 835; Krey / Heinrich, Strafrecht, B. T. 1, 13. Aufl. 2005, § 1 Rdn. 31; Kudlich / Tepe, GA 2008, 100 ff; Küper, JZ 2006, 610; Momsen, NStZ 2003, 238; Nehm, FS für Eser, S. 426; Otto, JK 03, StGB § 211/39; ders., JK 05, StGB § 211/42; Schneider, MüKo, § 211 Rdn. 94. 33 Fabricius, StV 1996, 210; Köhler, JZ 1980, 240; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht, B. T. 1, 9. Aufl. 2003, § 2 Rdn. 37; Neumann, NK, § 211 Rdn. 30; Saliger, StV 2003, 22. 34 Fabricius, StV 1996, 210. 35 Neumann, NK, § 211 Rdn. 30. 36 Dazu Otto, Grundkurs Strafrecht, B. T., 7. Aufl. 2005, § 4 Rdn. 13.

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der Rechtsgemeinschaft anerkannten Bewertungsmaßstäben festzustellen, nicht aber nach Maßstäben, die außerhalb der Rechtsgemeinschaft gelten, wenn der Lebensschutz noch allgemein verbindlich gewährleistet und nicht – je nach Täter – im Schutzniveau gesenkt werden soll. – Damit wird der Täter auch nicht für die Normen seiner heimatlichen Sozialordnung und die sie prägende Weltanschauung verantwortlich gemacht, da die Frage, den Anforderungen der Rechtsordnung genügen zu können, durchaus individuell bestimmt wird. g) Zutreffend ist zwar, dass in der Person des Täters, der die Wertungen der deutschen Rechtsordnung kennt, ein Konflikt zwischen dem gewussten staatlichen Befehl und einem konfligierenden sozial-moralischen Befehl vorliegt 37, der strukturell durchaus einem Gewissenskonflikt entspricht. – Offensichtlich ist das z. B. bei Angehörigen der jesidischen Kulturgemeinschaft in Deutschland, deren Leben wesentlich bestimmt wird durch engste familiäre Bindungen und archaische Traditionen, in denen auch Blutrache nach wie vor lebendig ist. 38 Doch auch das begründet keinen Vorrang des sozial-moralischen Befehls. Zwar hat das BVerfG dem Gewissen den Rang einer absoluten ethischen Instanz zugewiesen, indem es das Gewissen als Rechtsbegriff akzeptierte und als ein real erfahrbares Phänomen definierte, dessen Forderungen, Mahnungen und Wahrungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens seien. 39 Die Begründung dieser Ausnahmesituation: ein „wie immer begründbares, jedenfalls aber“ real erfahrbares Phänomen 40, verweist jedoch nicht auf rationale Grundlagen, sondern auf dunkle Überzeugungen hin. Verkannt wird dabei nämlich, dass das Gewissen keineswegs eine untrügliche Quelle der Wahrheit ist und dass der Gewissenskonflikt letztlich ein Sozialisationsproblem darstellt. Gewissenskonflikte beruhen auf dem möglichen Konflikt, der in einer Rechtsgesellschaft als verbindlich anerkannten Normenbefehle mit Normenbefehlen, die in einem Normensystem außerhalb oder neben dem der Rechtsgesellschaft begründet sind. 41 – Ob und wieweit eine Rechtsgesellschaft bereit ist, diese Normen als verbindlich anzuerkennen, entscheidet aber diese Rechtsgesellschaft selbst, indem sie u. U. – bei der Divergenz kultureller Wertvorstellungen – den Schutz der eigenen Wertvorstellungen zurücknimmt. Ein grundsätzlicher Vorrang fremd-kultureller Wertvorstellungen ist damit aber nicht zu begründen. Weil es im konkreten Fall um Grenzen und Möglichkeiten des Schutzes des Rechtsguts Leben geht, handelt es sich nicht nur um die rechtliche Verallgemeinerung sozialethischer Anschauungen in einer für Fremde offenen Gesellschaft mit der Konsequenz, dass eine sozialethisch-rechtliche Allgemeinheit widerspruchsfreier Verhaltensbestimmungen nur im Sinne eines gemeinsamen 37

Dazu Fabricius, StV 1996, 211. Instruktiv wird diese Situation geschildert in: Rohnstock / Pasch, „Mein Leben im Schatten der Blutrache“. – Die Geschichte der Gülnaz Beyaz –, 2008. 39 BVerfGE 12, 45, 54. 40 BVerfGE 12, 45, 54. 41 Im Einzelnen dazu Otto, FS für Schmitt Glaeser, 2003, S. 35 ff. 38

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‚sozialethischen Minimums‘ (‚elementarer Sittlichkeit‘) gebildet werden“ 42 könne. Hier hätte die Einigung auf das sozialethische Minimum die Nivellierung des strafrechtlichen Lebensschutzes zur Folge, nur weil andere Rechts- und sonstige Gemeinschaften diesen Schutz anders sehen. Das kann die Rechtsgesellschaft aber nicht tolerieren. Es ist daher nicht Anpassung, sondern Abgrenzung nötig, natürlich nach kritischer Analyse des eigenen Standpunkts. Zu beachten ist dabei auch, dass es sich nicht um ein singuläres Problem der Definition eines einzelnen Mordmerkmals handelt. Die Problematik erweist sich gerade im Hinblick auf den strafrechtlichen Rechtsgüterschutz als grundsätzliche und ist dementsprechend keineswegs eine allein deutsche Problematik, wie durchaus international erörterte Fälle 43 zeigen. 2. Der Schutz von Ehefrauen und Minderjährigen Ein Saudi-Araber, der in den Vereinigten Staaten lebte, war zu seiner Verwunderung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, weil er seine Ehefrau geschlagen hatte. Es war ihm, so hieß es in der saudischen Presse, niemals in den Sinn gekommen, dass etwas, das er als eine Lektion für seine Ehefrau begriff, ihn in einem fremden Land ins Gefängnis bringen könnte. Erst nach einigen Tagen hinter Gittern sah er ein, dass er sich den gesellschaftlichen Normen seines Gastlandes anzupassen hatte. Er gelobte, seine Ehefrau künftig nicht mehr zu schlagen. Das Gericht sah unter diesen Umständen von der Verhängung einer Gefängnisstrafe ab. Zwei Irakern, offenbar Flüchtlinge, die ebenfalls Anpassungsprobleme in den Vereinigten Staaten hatten, ist eine Gefängnisstrafe dagegen nicht erspart geblieben, wie eine saudi-arabische Zeitung meldete. Der eine hatte seine dreizehn Jahre alte Tochter mit einem seiner Freunde verheiratet, offenbar gegen den Willen des Mädchens. Die Polizei griff ein, als die junge Frau gegenüber Schulkameradinnen weinend ihr Schicksal beklagte. Ihr Vater und ihr Ehemann wurden verhaftet, vor Gericht gestellt und zu Freiheitsstrafen verurteilt: der Vater, weil er seine minderjährige Tochter in eine Ehe gezwungen hatte, und der Ehemann wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen. Ein saudi-arabischer Kommentator der Fälle wies mit Recht darauf hin, dass ein arabischer Vater schockiert sei, wenn er Waffen schwingende Polizisten an seiner Wohnungstür vorfinde, neugierige Nachbarn ihre Köpfe aus den Fenstern streckten und er eines Verbrechens bezichtigt werde, weil er seinem ungehorsamen Sohn eine Tracht Prügel verabreicht habe. Körperliche Strafen seien im Westen ganz allgemein nicht akzeptabel, „selbst wenn sie im besten Interesse des Kindes sind“, während eine solche Züchtigung in der arabischen Gesellschaft oft Bestandteil 42 43

S. 12.

Köhler, JZ 1980, 240. Dazu der Bericht: „Andere Länder, andere Sitten“, in: FAZ v. 16. 8. 1999, Nr. 188,

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der Erziehung sei. Die Ehefrau zu schlagen sei gewiss ein unerwünschter Brauch, die arabische Gesellschaft greife jedoch nicht ein in die Behandlung einer Frau durch ihren Ehemann, so lange er sie nicht töte oder ihr schwere Verletzungen zufüge. Demgegenüber sehe die westliche Gesellschaft ein solches Verhalten als ein sehr schweres Vergehen an, ein Täter werde bestraft, als ob er ein Räuber oder Mörder sei. Dass eine Änderung dieser Beurteilung und damit eine Absenkung des Schutzniveaus hier weitgehend auf Unverständnis unter Juristen wie Nichtjuristen stößt, zeigt die Diskussion und vehemente Ablehnung des „Verfahrensvorschlags“ einer Frankfurter Richterin in einem Scheidungsverfahren im Frühjahr 2007. In diesem Verfahren ging es um die Scheidung einer aus Marokko stammenden Deutschen von ihrem gleichfalls aus Marokko stammenden deutschen Ehemann. Nach der Trennung der Eheleute im Mai 2006 wurde der Frau aufgrund des Gewaltschutzgesetzes die Ehewohnung zugewiesen, da sie von ihrem Mann schwer misshandelt worden war. Als er die Frau mit dem Tode bedrohte, beantragte sie Prozesskostenhilfe für ein Scheidungsverfahren, da sie die sofortige Scheidung begehrte. Diese ist nach dem Gesetz allerdings nur möglich, solange die Eheleute noch nicht ein Jahr voneinander getrennt leben, wenn die Fortsetzung der Ehe „eine unzumutbare Härte“ darstellt. Auf diesen Antrag hin signalisierte die Richterin der scheidungswilligen Klägerin in einem Schreiben, dass sie den Antrag voraussichtlich ablehnen werde, da das Hauptverfahren, d. h. der Scheidungsantrag, keine Aussicht auf Erfolg habe. Ein Härtefall liege nicht vor, denn die Klägerin habe die Wohnung und das Sorgerecht für die Kinder, ihr Ehemann werde mit einer Kontaktsperre auf Distanz gehalten, und die Ausübung des Züchtigungsrechts begründe keine unzumutbare Härte gemäß § 1565 BGB. 44 In der öffentlichen Diskussion ist der Fall als „unfassbar“, „empörend“ und „bezeichnend für die Neurose der Deutschen, tolerant sein zu müssen“, bezeichnet worden. 45 Das mag hier dahinstehen. Es zeigt sich aber in der derzeitigen Debatte über die Gewaltbereitschaft Jugendlicher mit Migrationshintergrund, dass – neben anderen Versäumnissen der sozialen Integration – die Akzeptanz familiärer Gewalt ein wesentlicher Faktor für das Fehlschlagen der sozialen Integration darstellt. Die Problematik wurde in einem Artikel in der FAZ auf den Punkt gebracht. Dort heißt es: „... Denn die prügelnden Väter türkischer oder arabischer Straftäter spielen in dem nun klarer werdenden Bild von verfehlter Kindheit und Jugend fast nie eine Rolle. Doch regelmäßige schwere Züchtigung mit Fäusten und Geräten sind in diesem Milieu keine Seltenheit. Eine deutsche Familie hätte längst Sanktionen zu befürchten. Wer diese Mittel bei Migranten, aus welchen Gründen auch immer, nicht anwendet, befördert die bisherige Spirale der Gewalt. Vor allem aber versagt 44

Im Einzelnen zum Sachverhalt: FAZ v. 22. 3. 2007, Nr. 69, S. 9, 35; FAZ v. 23. 3. 2007, Nr. 70, S. 3. 45 Dazu WaS v. 25. 3. 2007, Nr. 12, S. 7.

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er Zehntausenden Kindern den Schutz, den ihnen das Gesetz zusichert.“ 46 – Genau diesen Schutz würde ein Rückzug auf ein „sozialethisches Minimum“ gefährden, wenn nicht beseitigen. – Gerade dann, wenn man im strafrechtlichen Schutz Minderjähriger und der Ehefrauen eine menschenrechtliche Dimension erkennt, darf nicht verkannt werden, dass ein interkultureller Konsens nicht besteht, wenn es um eine Antwort auf die Frage nach der Weite und der konkreten Ausgestaltung dieses Schutzes geht. IV. Möglichkeiten und Grenzen eines interkulturellen Strafrechts Die Zahl der Beispiele, die Skepsis gegenüber einem interkulturell verbindlichen Strafrecht begründen, ließe sich ohne weiteres vermehren. Die Soziologin Necla Kelek berichtet, dass der Verein „Hatun und Can“ in Berlin innerhalb eines einzigen Jahres 127 Frauen, Mädchen und Männern geholfen habe, vor Zwangsheirat, sexuellem Missbrauch, Familienrache und Bevormundung zu fliehen. 47 Ohne diese Bemühungen wäre die Situation noch trostloser, denn allein in den letzten 12 Jahren wurden in Deutschland mehr als 40 Frauen bei „Ehrenmorden“ oder vergleichbaren Fällen getötet. 48 Gleichwohl würde damit wiederum auch nur ein schiefes Bild gemalt. Die Tatsache, dass 120 Staaten sich einig zeigten darin, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen als Verbrechen zu brandmarken, gibt der optimistischen Einschätzung der Situation durch Höffe nämlich durchaus eine Legitimation. Hier finden sich interkulturelle Ansätze zu einem interkulturellen Strafrecht, weil sie auf den Konsens einer kulturübergreifenden Staatengemeinschaft gegründet sind. Gelingt auf dieser Basis die Sicherung elementarer Menschenrechte auch durch das Strafrecht, so könnte dieses der Ausgangspunkt einer interkulturellen Gemeinschaft werden. Voraussetzung aber ist die übergreifende Akzeptanz der elementaren Menschenrechte als verbindende Idee. Hier aber liegen erhebliche Probleme, deren Bedeutung und Konsequenzen realistisch eingeschätzt und berücksichtigt werden müssen. Denn die Anerkennung der Menschenrechte beruht auf der Idee der Gleichheit der Menschen, denen als Person Würde zukommt, die auf Willensfreiheit und Verstand basiert. Selbstbewusstsein und Fähigkeit zur Gestaltung der Umwelt kraft eigener Vernunft sowie Gleichheit als Träger den Menschenwürde kennzeichnen die Person. – Losgelöst von einem christlich religiösen Verständnis der Würdekonzeption gründen diese und die Anerkennung aller Menschen als Gleiche Kraft der gleichen Würde des Anderen in der Vernunft. Diese Basis ist aber keine unerschütterliche und im Einzelnen nicht in Frage stellbare Grundlage sozialer Gemeinschaft. Vernunft allein ist 46 47 48

Regina Mönch: Hinschauen ist nicht gefährlich, in: FAZ v. 11. 1. 2008, Nr. 9, S. 33. Necla Kelek, Gehorsam und Erziehung zur Gewalt, in: FAZ v. 9. 2. 2008, Nr. 34, S. 33. Vgl. FAZ v. 19. 5. 2008, Nr. 115, S. 9.

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keine Garantie sozialen Zusammenhalts kraft einer einheitsstiftenden Verbundenheit. Wo immer Interessengegensätze auftreten, bieten sich unterschiedliche – aus der Sicht der Beteiligten – durchaus vernünftige Strategien der Berücksichtigung und Überwindung dieser Gegensätze. Der unverzichtbare Rechtsstatus des Menschen, der in seiner Würde gründet, wird normativ modifiziert und unterschiedlich interpretiert. 49 Bereits der nationale Streit über Grenzen und Möglichkeit des Embryonenschutzes gibt ein Bild der hier möglichen divergierenden Auffassungen, das sich letztlich in der Diskussion über Inhalt, Weite und Grenzen einzelner Menschenrechte wiederfindet. Ein allgemeiner Konsens über die nationalen Grenzen hinaus ist hier auf absehbare Zeit illusorisch. Das aber sollte durchaus kein Hindernis für die allgemeine Anerkennung und den Schutz elementarer Menschenrechte sein, weil die Entwicklung eines interkulturellen Strafrechts nicht über die Entwicklung starrer Regeln erfolgen kann, sondern durch Auswahl und Anerkennung von Prinzipien und der Schaffung von Mindeststandards, die deshalb konsensfähig sind, weil sie menschenrechtlichen Verbürgungen entsprechen. Auch wenn der damit umfasste Bereich im Hinblick auf Zahl und Möglichkeiten von Menschenrechtsverletzungen noch eng ist, so stellt das Programm doch einen weiter weisenden Anfang dar. Die Grundidee eines menschenrechtsschützenden interkulturellen Strafrechts trägt die geplanten Regelungen: Der Mensch wird als eigener Wert, als Person anerkannt und geschützt. Dass dieser Schutz über den umfassten Bereich hinaus – kulturell bedingt – unterschiedlich weit reicht, ist demgegenüber von sekundären Bedeutung. Hier zeigt sich nämlich, dass Interkulturalität gerade nicht die Auflösung kultureller Verschiedenheiten in ein Allgemeines bedeuten kann, sondern die Akzeptanz eines universell gültigen Konzepts, das zugleich die Wahrung historischer Besonderheiten in einzelnen Kulturkreisen ermöglicht. 50 Das hat die Konsequenz, dass abweichende, nationale strafrechtliche Regelungen in einzelnen Bereichen durchaus akzeptabel und auch gegenüber Fremden verbindlich sind. Hier geht es nicht um die Besonderheiten einzelner Nationen, sondern um die Beachtung und Berücksichtigung kultureller Besonderheiten, deren Existenz nicht auf Überraschungseffekte zielt, sondern die selbstverständlich ist. Bei dem universell gültigen Konzept geht es hingegen um die Frage nach dem ethischen Minimum einer Rechtsordnung, mit dessen Verlust auch der Nachweis von Menschenrechten zur leeren Floskel wird. Die sich abzeichnende Möglichkeit gleichsam wertfreier internationaler Normen des Wirtschaftsstrafrechts widerspricht dem nicht, sondern bestätigt den Befund: Der Schutz von Vermögenswerten im Wirtschaftsverkehr ist ein Anliegen aller, die am Wirtschaftsverkehr teilnehmen. Aber die Wirtschaft ist nur ein Teilbereich des kulturellen Sektors, Vermögenswert nur ein Wert unter anderen, wobei sich über den Rang dieses Wertes durchaus streiten lässt. 49 50

Eingehender dazu Otto, JZ 2005, 477 ff. Dazu Wierlacher, (ob. Fn. 11), S. 160.

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Dem hier notwendigen Prozess interkulturellen Verständnisses und Austauschs stehen daher erhebliche Hindernisse entgegen, wenn als verbindlicher Wert nur noch ein Preis anerkannt wird. Die Banalisierung des Kulturbegriffs, die Melvin Lasky ausgemacht hat 51 weist in diese Richtung. Er beklagt, dass der Kulturbegriff zu einem globalen Zauberwort geworden ist, und seine Feststellung, dass er bei der Lektüre von Zeitungen in einem kurzen Zeitraum 57 verschiedene Spielarten von Kultur entdeckte, bis hin zur „Kultur der Geldgeilheit“, bestätigen die Ferne dieses Begriffs von seiner menschenrechtlichen Dimension. In dieser Situation den Wertewandel oder -verlust zu beklagen und auf eine „Umwertung“ zu hoffen, führt jedoch nicht weiter. Der Versuch, andere Kulturen zu verstehen, ist der richtige Ausgangspunkt. Von diesem Ausgangspunkt aber sind nicht nur „die Fremden“ ein erhebliches Stück entfernt, wie der sog. Karikaturenstreit – ausgelöst durch die Veröffentlichung verunglimpfender Karikaturen des Propheten Mohammed in der dänischen Zeitung „Jyllands-Posten“ am 30. September 2005 – deutlich gemacht hat. Ausgangspunkt der Veröffentlichung der Karikaturen war eine kurz zuvor entbrannte Debatte über die Selbstzensur der Presse aus Angst vor radikalen Islamisten. 52 Der Autor Kare Bluitgen hatte einem Journalisten erzählt, er habe vor, ein Kinderbuch über den Propheten Mohammed zu schreiben, finde aber keinen Zeichner, der bereit sei, es zu illustrieren – aus Angst. Das veranlasste den Kulturchef der „Jyllands-Posten“, 40 Karikaturisten aufzufordern, den Propheten Mohammed so zu zeichnen, wie sie ihn sähen. 12 Zeichner lieferten Karikaturen. In den Tagen darauf gab es Proteste aus muslimischen Gemeinden, da sich einzelne Mitglieder durch einige der Karikaturen in ihrem religiösen Bekenntnis diffamiert sahen. In der folgenden Auseinandersetzung wurden einerseits Kunstund Meinungsfreiheit, andererseits die Achtung des religiösen Glaubens anderer gegenübergestellt. Zu einem Konsens über die Grenzen der Kunst- und Meinungsfreiheit gegenüber der Diffamierung anderer in ihrer Glaubensüberzeugung kam es aber nicht, gleichwohl schienen sich die Gemüter zu beruhigen. Die Ruhe war aber nur eine scheinbare. In Wirklichkeit formierte sich ein radikaler Widerstand, nachdem fünf Imane beschlossen hatten, den Protest über die dänischen Grenzen, vor allem in die islamische Welt zu tragen. Unter Ergänzung der abgedruckten Karikaturen um diffamierende Darstellungen des Propheten Mohammed, die mit den Karikaturen überhaupt nichts zu tun hatten, wurde der Protest hinausgetragen und fand extremen Widerhall, nachdem der Fernsehprediger Yussef al Qaradawi am 3. Februar 2006 im Sender Al Dschazira zum weltumspannenden Protest aufgerufen hatte. Wenige Tage später wurden dänische Botschaften in 51

Lasky, Die Banalisierung des Kulturbegriffs, in: Marten, Orwell, Köstler und all die anderen. – Melvin J. Lasky und „Der Monat“ –, 1999, S. 155 ff. 52 Zum Sachverhalt: Michael Hanfeld, in: FAZ v. 13. 2. 2008, Nr. 37, S. 36.

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Damaskus, Beirut und Teheran angezündet bzw. mit Brandbomben angegriffen. Bei Ausschreitungen in Nigeria, Libyen und Pakistan kamen Dutzende Menschen zu Tode, die Karikaturisten wurden mit dem Tode bedroht und ein Mordgeld von einer Million Dollar wurde ausgesetzt. In den Monaten danach schien Ruhe einzukehren und die Gelegenheit zu einem Dialog genutzt zu werden. – Auch diese Ruhe erwies sich aber nur als scheinbar. Am 12. Februar 2008 nahm die dänische Polizei drei Personen fest, die mit der Vorbereitung beschäftigt waren, den Karikaturisten Kurt Westergaard – er hatte das Haupt des Propheten als Bombe mit brennender Lunte dargestellt und war wiederholt mit dem Tode bedroht worden – zu ermorden. 53 – Das ist kein Klima, in dem ein interkultureller Dialog gedeihen kann. Im Gegenteil, es macht ihn unmöglich. V. Grundlagen eines interkulturellen Dialogs und eines interkulturellen Strafrechts Der Versuch, fremde Kulturen zu verstehen, geht über den Gewinn neuer Kenntnisse erheblich hinaus. Denn wenn dieses Verständnis nicht nur vordergründig oberflächlich bleibt, führt es zurück zur Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und zur Begründung sowie zum Bewusstsein kultureller Verantwortung. Es begründet damit die Voraussetzung für den interkulturellen Dialog, denn wer ethische Maßstäbe, Grundsätze und Haltung begründen und vermitteln will, muss eine eigene Position haben, für die er eintritt, die er zur Diskussion stellt und – wenn nötig – auch verteidigt. Wer nicht für die Achtung einer eigenen Position werben kann, verdient Missachtung. Er kann im interkulturellen Dialog nichts bieten. Er steht damit genauso verlassen da wie derjenige, der nicht bereit ist, das Andere in seiner Legitimität anzuerkennen, als Gleichberechtigtes zu respektieren und zu achten. Die gemeinsame Achtung kultureller Positionen ist aber auch die interkulturell akzeptable Basis für ein Strafrecht. Für dieses gilt in interkultureller Hinsicht aber durchaus, dass dort, wo die Widersprüche zwischen den Kulturen überwiegen, Abgrenzungen notwendig bleiben. „Sie sollten nur in dem Maße abgebaut werden, wie zuvor neue Gegenseitigkeiten aufgebaut worden sind.“ 54

53 54

Dazu FAZ v. 13. 2. 2008, Nr. 37, S. 1. Theisen, in: MUT 2008, 44, 58.

Subsidiaritätsprinzip im Gemeinschaftsrecht als Voraussetzung für die Kriminalisierung Justyn Piskorski I. Subsidiaritätsprinzip Zusammen mit der Erweiterung der gesetzgebenden Kompetenz der EU auf das Strafrecht wurde es notwendig, auf dieses auch die in der EU geltenden grundlegenden Rechtsvorschriften anzuwenden. Eine dieser Vorschriften mit äußerst kompliziertem Charakter ist eben das Subsidiaritätsprinzip des EU-Rechts. Unter dem Begriff der Subsidiarität des Rechts versteht man im Allgemeinen die Begrenzung der legislativen Kompetenzen nur auf den Bereich des gesellschaftlichen Lebens, in dem die Gewalt einer höheren Stufe nicht in die Aufgaben eingreifen darf, die von der Gewalt einer niedrigeren Stufe oder anderen Gesellschaftsorganisationen realisiert werden können. Die grundsätzliche Idee für die Konstruktion dieses Prinzips ist die Überzeugung, dass die Verantwortung für öffentliche Angelegenheiten diejenigen Träger übernehmen sollen, die dem Bürger am nächsten sind. Das Subsidiaritätsprinzip setzt ein gewisses Schema der Realisierung der Kompetenzen der staatlichen Gewalt durch die Berücksichtigung des Vorrangs der gesellschaftlichen Träger voraus. Erst die Unwirksamkeit der sozialen Institutionen berechtigt den Staat dazu, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen 1. Sicherlich aus diesem Grunde wird dieses Prinzip am häufigsten bei der Festlegung der Zuständigkeiten der Selbstverwaltungsorgane angewendet (vgl. European Charter of Local Selfgovernment). Die Subsidiarität ist also Idee eines Kompromisses zwischen dem aufklärerischen Gedanken, der die Anwendung einer gewissen Sozialtechnik zulässt, und der natürlichen Beschränkung des staatlichen Eingriffs in das gesellschaftliche Leben 2. Wenn man nämlich beweisen kann, dass gewisse Regeln durch die Gemeinschaft 1 Millon-Delsol, Zasada subsydiarno´sci – zało˙zenia, historia oraz problemy współczesne (Subsidiaritätsprinzip – Voraussetzungen, Geschichte und zeitgenössische Probleme), in: Milczarek (Hrsg.), Subsydiarno´sc´ (Subsidiarität), Warszawa 1996, S. 42. 2 Siehe auch Lity´nski, O´swieceniowe korzenie dzisiejszych zasad prawa karnego i cywilnego (Aufklärerische Wurzeln der heutigen Grundsätze des Straf- und Bürgerrechts), in: Martysz, Matan, Tobor (Hrsg.), Zasady prawa (Rechtsgrundsätze), Bydgoszcz 2007, S. 85ff.

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festgelegt wurden und beachtet werden, verliert der rationale Gesetzgeber die Begründung für die Bildung neuer Regelungen auf diesem Gebiet. Und umgekehrt: die fehlende Realisierung bestimmter Haltungen legitimiert den Gesetzgeber zu deren Regelung. Das Subsidiaritätsprinzip erfüllt also zwei wesentliche Funktionen: die Beschränkung der gesetzgebenden Gewalt und die Legitimierung ihrer Maßnahmen 3. Diese sehr unterschiedlichen Funktionen des Subsidiaritätsprinzips sind dafür verantwortlich, dass es einen äußerst dynamischen Charakter hat 4. Dieses auf die soziale Lehre der Kirche zurückgehende Prinzip (welches in der Enzyklika Quadragesimo Anno 5 von Papst Pius XI. formuliert wurde) wurde als Verfassungsgrundsatz durch mehrere Staaten anerkannt und in den Rechtsakten der EU 6 zum Ausdruck gebracht. Eingeführt wurde das Prinzip als fundamentaler Grundsatz der EU (manchmal wurde auch hervorgehoben, dass er eine Phase der Föderalisierung der EU darstellt 7) im Artikel 5 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft 8 („(...). Im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip ergreift die Gemeinschaft Maßnahmen nur dann und nur in einem solchen Umfang, in dem die Ziele der vorgeschlagenen Maßnahmen durch die Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und wo es im Hinblick auf den Umfang oder die Wirkungen der vorgeschlagenen Maßnahmen möglich ist, sie auf der Gemeinschaftsebene besser zu erreichen“) sowie im Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union („(...) Die Union erreicht ihre Ziele (...) unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips“). Diesem Prinzip wurden zahlreiche weitere Dokumente der gemeinschaftlichen Institutionen (Europäisches Parlament, Europäischer Rat, Europarat) gewidmet. 3 Siehe auch Fischer, An American Looks at the European Union, European Law Journal, Vol. 12, No. 2, March 2006, S. 228. 4 Czapli´nski, in: Barcz, Prawo Unii Europejskiej, Zagadnienia systemowe (Rechts der Europäischen Union, Systemfragen), Warszawa 2003, S. 77. 5 Obwohl in der Literatur oft hervorgehoben wird, dass das Subsidiaritätsprinzip ein Grundsatz war, der die Zusammenarbeit der calvinistischen Gemeinschaften im 17. Jahrhundert organisierte. Vgl. Flynn, Reformed Subsidiarity in the Constitution for Europe, Maastricht 2005, S. 5. 6 Siehe Banaszak, Porównawcze prawo konstytucyjne współczesnych pa´nstw demokratycznych (Vergleichendes Verfassungsrecht der zeitgenössischen demokratischen Staaten), Warszawa 2007, S. 496 ff; Witkowska, Zasady funkcjonowania Unii Europejskiej (Regeln für die Funktion der Europäischen Union), Warszawa 2008, S. 173. 7 McCahery / Vermeuln, Does the European Company Prevent the ‚Delaware Effect‘?, European Law Journal, Vol. 11, No. 6, November 2005, S. 796. 8 Über die Geschichte des Subsidiaritätsprinzips siehe z.B. Wardyn, Zasada subsydiarno´sci, jej znaczenie oraz perspektywy w rozszerzonej Unii Europejskiej (Das Subsidiaritätsprinzip, seine Bedeutung und die Perspektiven in der erweiterten Europäischen Union), in: Mik, Zasady ogólne prawa wspólnotowego (Allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts), Toru´n 2007, S. 87 ff; Maliszewska-Nieratowicz, Rozwój zasady proporcjonalno´sci w europejskim prawie wspólnotowym (Entwicklung des Subsidiaritätsprinzips in dem europäischen Gemeinschaftsrecht), Studia Europejskie (Europäische Studien) 2006, Nr. 1, S. 59ff.

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Zu den wichtigsten gehört das Protokoll über die Anwendung des Subsidiaritätsund Verhältnismäßigkeitsprinzips, in dem eingehende Regeln für die Verifizierung des Subsidiaritätsprinzips festgelegt wurden und dem Europäischen Parlament mehrere Einschränkungen verbunden mit der Umsetzung dieses Prinzips auf dem Wege des Kontaktes mit den Parlamenten der Mitgliedstaaten aufgebürdet wurden. Auch im Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft wurde im Artikel 3b der fundamentale Charakter des Subsidiaritätsprinzips bestätigt 9. In der Praxis der Europäischen Union bedarf die entsprechende Anwendung des Subsidiaritätsprinzips der Festlegung, von wem (Mitgliedstaaten oder Gemeinschaft), in welchem Umfang (Verhältnis der in Betracht kommenden Maßnahmen zu den Zielen) und auf welche Weise (Auswahl der entsprechenden Rechtsquelle) die in den Verträgen 10 formulierten Aufgaben umzusetzen sind. Die Funktion des Subsidiaritätsprinzips sollte die Einschränkung der Übergabe der legislativen Zuständigkeiten an die Gemeinschaftsebene sein 11. Es ist jedoch zu betonen, dass das Subsidiaritätsprinzip heutzutage als Regelung kritisiert wird, die die Legitimation der Gemeinschaft im Bereich der Rechtssetzung zu sehr eindämmt 12. II. Subsidiaritätsprinzip im Strafrecht Das Subsidiaritätsprinzip ist Gegenstand zahlreicher Studien und theoretischer Abhandlungen. Relativ selten wird es jedoch auf das Strafrecht bezogen. Dies ergibt sich aus der Tatsache der beschränkten Strafrechtsbildung. Obwohl sich die Gesetzgeber oft auf die Elemente der strafrechtlichen Sanktion berufen, bleibt die Entwicklung dieses Rechtsgebietes weit hinter den anderen Rechtszweigen zurück, insbesondere dem Verwaltungs- oder dem Wirtschaftsrecht. Die Erweiterung der legislativen Kompetenzen der EU erfordert jedoch eine genauere Betrachtung der Funktion des Subsidiaritätsprinzips im Bereich des Strafrechts. Die Übertragung der aufgrund des Verwaltungsrechts entstandenen Interpretationen auf das Gebiet des Strafrechts ist nämlich nicht ganz selbstverständlich. Auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts ist die Differenzierung der Aufgaben der staatlichen Gewaltträger und der Selbstverwaltungsorgane sowie die Teilung der Zuständigkeiten klar. Eine Regel im Strafrecht ist hingegen die Exklusivität der staatlichen Maßnahmen. Die 9 Über die Pläne der Reform des Subsidiaritätsprinzips siehe Lenaerts / Desomer, Towards a Hierarchy of Legal Acts In European Union? Simplification of Legal Instruments and Procedures, European Law Journal, Vol. 11, No. 6, November 2005, S. 758ff. 10 Sendorowicz, Subsydiarno´sc´ jako zasada ustrojowa w Unii Europejskiej (Subsidiarität als Systemgrundsatz in der Europäischen Union), in: Milczarek (Hrsg.), (ob. Fn. 2), S. 74. 11 Emmert / Morawiecki, Prawo europejskie (Europäisches Recht), Warszawa-Wrocław 2000, S. 147. 12 Siehe Estella, The EU Principle of Subsidiarity and its Critique, Oxford 2002, passim.

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Zuständigkeiten der Selbstverwaltung haben hier eine marginale Bedeutung und sind auf die Bildung bestimmter Regeln von Ordnungscharakter reduziert. Die als unzertrennlicher Bestandteil der Suche nach Lösungen der Kriminalitätsprobleme verstandene Subsidiarität setzt die Verstärkung der Rolle des bürgerlichen Faktors voraus. Sie erfordert sogar die Übernahme einer größeren Verantwortung von den Bürgern für ihre Sicherheit 13. Das in einem gewissen allgemeinen Grade auf das Strafrecht bezogene Subsidiaritätsprinzip soll also als sich in seiner Form denjenigen Regeln nähernd interpretiert werden, die die Form der Kriminalisierung bestimmen. Das auf diese Weise transponierte Subsidiaritätsprinzip wird also nicht so sehr auf die Zuständigkeiten der Organe für die Rechtssetzung hinweisen, weil diese Fragen für das Strafrecht stabil sind und aus den Garantiefunktionen resultieren, als vielmehr den Umfang der möglichen Kriminalisierung bestimmen. Es handelt sich also um ein Prinzip, welches sich dem Prinzip der Kriminalisierung bestimmter Handlungen als Ultima Ratio 14 inhaltlich nähert und manchmal mit ihm sogar identifiziert wird. Es ist demnach nicht zulässig, bestimmte Handlungen mit Kriminalstrafe zu bedrohen, sofern man dies vermeiden kann, indem man andere Maßnahmen ergreift und sich dabei auf andere Regelungen bezieht. Die Subsidiarität erfordert also die Bekämpfung sozialer Pathologien vor allem unter Einsatz von nicht strafrechtlichen Maßnahmen. Der Subsidiaritätstest wird daher vom Strafgesetzgeber den Beweis einfordern, dass die jeweilige Pathologie anders als mit Kriminalstrafe nicht zu überwinden ist. Das Ultima Ratio-Prinzip des Strafrechts ist jedoch ein Prinzip, welches in den EU-Ländern nicht nur uneinheitlich behandelt wird, sondern es wird manchmal als anderen Kriminalisierungszielen gegenüber gleichrangig behandelt. Dieses Prinzip scheint nämlich von gewissen axiologischen Voraussetzungen abzusehen und sich dadurch der ausschließlich utilitaristischen Wahrnehmung des Strafrechts zu nähern. Inzwischen bildet der Gedanke über das Bestrafen einer Tat wegen des darin enthaltenen Übels die Grundlage für zahlreiche Interpretationen des Strafrechts in vielen Rechtssystemen der Mitgliedstaaten. Von daher scheint das Ultima Ratio-Prinzip quasi auf der gleichen Ebene wie die Pflicht zur Identifizierung einer Pathologie 15 zu stehen. Die Strafrechtswissenschaft hat bisher keine einheitliche Stellungnahme zu der Interpretation dieses Prinzips erarbeitet. Man kann also annehmen, dass es 13 Siehe Albrecht, The Functionalization of the Victim in the Criminal Justice System, Buffalo Crimial Law Review, Vol. 3, 1991, S. 99. 14 Näheres zu den Fragen der Relationen zwischen dem Subsidiaritätsprinzip und dem Ultima Ratio-Prinzip siehe Jareborg, Criminalization as Last Resort (Ultima Ratio), Ohio State Journal of Criminal Law, Vol 2, 2004, S. 531ff. 15 Vgl. Clarkson / Keating, Criminal Law, London 2003, S. 4.

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den strafrechtlichen Garantieprinzipien am nächsten ist. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass das Subsidiaritätsprinzip ein Grundsatz ist, welcher den Umfang der imperativen staatlichen Gewalt auf dem Gebiet der Setzung strafrechtlicher Regelungen begrenzt. In der Literatur sind Ansichten formuliert, nach denen das richtig verstandene Subsidiaritätsprinzip der durch die Brüsseler Bürokratie propagierten Expansion des Strafrechts entgegenwirken soll 16. Allerdings – was hinzuzufügen ist – kann man im Unterschied zu anderen Garantieprinzipien feststellen, dass die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips keine direkten negativen Konsequenzen für die Bürger nach sich zieht. Die Folgen sind erst in einer weiteren Perspektive zu sehen. Es lässt sich also begründet konstatieren, dass das Subsidiaritätsprinzip trotz gewisser Affinitäten zu den Garantieprinzipien doch eine autonome Position hat. III. Subsidiarität des Strafrechts im Gemeinschaftsrecht Die Idee der Subsidiarität im Acquis communautaire erfuhr eine weitgehende Konkretisierung. Sie wurde in den vorstehend zitierten Rechtsakten als Regel formuliert, die die Relationen zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten regiert 17. Das Gemeinschaftsrecht bedarf der Prüfung, ob die EG zuständig ist, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen, und ob konkrete Aufgaben durch die Mitgliedstaaten realisiert werden können. Die Zuständigkeiten der EG entstehen nur dann, wenn die gesetzten Ziele durch die Mitgliedstaaten nicht im ausreichenden Maße umgesetzt werden können. Ein nächster erforderlicher Test ist die Prüfung, ob diese Ziele durch die EU effektiver und wirksamer realisiert werden können 18. Die Bedingungen und die Kriterien für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, welche im Protokoll über die Anwendung der Subsidiaritätsprinzipien formuliert wurden, lassen gemeinsame Maßnahmen durch die Gemeinschaftsinstitutionen zu, 1) wenn die jeweilige Problemstellung Merkmale der Übernationalität aufweist und durch einen oder einige Mitgliedstaaten wirksam nicht gelöst werden kann, 2) wenn die auf der nationalen Ebene einzuleitenden Maßnahmen oder die auf der Gemeinschaftsebene ausbleibenden Maßnahmen die Vertragsverpflichtungen verletzen und 3) wenn die auf der Gemeinschaftsebene ergriffenen Maßnahmen effektiver sind 19. 16

Vgl. Ambos, Internationales Strafrecht. Strafanwendungsrecht, Völkerstrafrecht, Europäisches Strafrecht, München 2006, S. 320; ähnlich Wentkowska, Europejski Trybunał Sprawiedliwo´sci i sa˛dy krajowe. Doktryna i praktyka w stosowaniu prawa wspólnotowego (Europäischer Gerichtshof und nationale Gerichte. Doktrin und Praxis in der Anwendung des Gemeinschaftsrechts), Sosnowiec 2004, S. 102. 17 Jozon, The Enlarged EU and Mandatory Requirements, European Law Journal, 2005, Vol. 11, No. 5, S. 556. 18 Wyrozumska, in: Barcz (Hrsg.), Prawo Unii Europejskiej (Recht der Europäischen Union), Warszawa 2004, S. 341ff. 19 Witkowska, (ob. Fn. 6), S. 175.

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Die Begründung der gemeinschaftlichen Maßnahmen auf dem Gebiet des Strafrechts – betrachtet unter dem Gesichtspunkt des Subsidiaritätsprinzips – scheint bedeutend beschränkt zu sein. Bereits auf den ersten Blick sieht man, dass es schwierig ist, die Notwendigkeit der Ergreifung von Maßnahmen durch die Gemeinschaft in Fällen, wo jeder Mitgliedstaat über das eigene strafrechtliche Arsenal verfügt, wirksam und logisch kohärent zu begründen. In jedem Staat existiert ein gewisses System für die Bekämpfung von Pathologien und die Strafanwendung. Es bestehen zahlreiche Institutionen, die für die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Gerechtigkeit verantwortlich sind 20. Demnach, wenn man dieses Prinzip abstrakt betrachtet, wird die Legitimation der Gemeinschaft zur Setzung harmonisierter strafrechtlicher Regelungen erst nach dem Beweis entstehen, dass die Mitgliedstaaten bestimmte Maßnahmen nicht ergreifen und nicht imstande sind sicherzustellen, dass gewisse Erscheinungen (Pathologien) ausreichend begrenzt werden. Die Gemeinschaft darf jedoch den Mitgliedstaaten keine Verpflichtungen aufbürden, wenn ihr dies kraft der Verträge nicht zusteht 21. Unter dieser Voraussetzung wird die langsame und beschränkte Entwicklung des EU-Strafrechts nachvollziehbar. Viel leichter lässt sich nämlich die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung gewisser Pathologien oder der Ergänzung der bestehenden Kriminalisierung um neue Typen der verbotenen Taten (Straftaten) begründen. Es ist mit der Erscheinung neuer Pathologien im gesellschaftlichen Leben verbunden, die vor dem Hintergrund der allgemeinen Entwicklung der Zivilisation (z.B. Cyberkriminalität) entstehen. Schwieriger ist es dagegen, die bereits bestehenden Rechtsinstitutionen zu vereinheitlichen oder zu rekonstruieren. Solche Fragen wie die Festlegung von Regelungen für den Schutz der Finanzinteressen der EU, die so prosaisch zu sein scheinen, bestehen nämlich nicht einmal den einfachen Subsidiaritätstest. Von diesem Standpunkt aus scheint auch die Konstruierung eines „europäischen Strafgesetzbuches“ unmöglich zu sein. Die Strafgesetzbücher existieren doch in den Mitgliedstaaten und funktionieren ganz gut. Das Strafrecht der Mitgliedstaaten steht nämlich im Einklang mit gewissen lokalen Gegebenheiten, welche die Tradition der gesellschaftlichen Haltungen, die Methoden für die Bekämpfung von Pathologien sowie die Interaktionen unterschiedlicher Justizinstitutionen berücksichtigen. Zu den Fragen, die den gemeinschaftlichen strafrechtlichen Regelungen unterliegen können, zählen mit Sicherheit diejenigen, die das Gute von besonderem, 20 Vgl. Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, Köln 2001, S. 448; Hecker, Europäisches Strafrecht, Berlin 2007, S. 311. 21 Albrecht / Braum, Deficiencies in Development of European Criminal Law, European Law Journal, Vol. 5, No. 3, September 1999, S. 303.

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allgemein identifizierbarem und akzeptiertem Charakter und ohne Rücksicht auf kulturelle Unterschiede wahren sollen. Träger dafür könnten die Menschenrechte sein 22. Das erste Problem, welches den oben genannten Kriterien unterliegt, die die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zulassen, scheinen die mit der Internationalisierung der Kriminalität verbundenen Fragen zu sein. Man sagt, dass die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität einer grenzüberschreitenden Reaktion bedarf. Dieser Satz scheint aber die übermäßige Entwicklung von Strafinstitutionen nicht zu begründen. Ganz im Gegenteil: Die Meinungen über die massenhafte Ausnutzung der Unterschiede zwischen den Staaten 23 durch Straftäter, die im wirtschaftlichen Raum handeln, scheinen übertrieben zu sein. In ähnlicher Weise findet der „Handel mit Jurisdiktionen“, der zu einer möglichen Milderung der strafrechtlichen Verantwortung führt, keine Bestätigung. Adäquat scheinen für die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität Maßnahmen zu sein, die auf der Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den Justizinstitutionen beruhen 24. Darüber hinaus darf man die Tatsache nicht vergessen, dass die meisten auf dem Gebiet der EU begangenen Verbrechen keinen internationalen, sondern eher einen lokalen Charakter haben. Die Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch eine Handlung oder die Unterlassung einer Handlung durch mindestens einen Mitgliedstaat scheint eine relativ kleine Rolle auf dem Gebiet des Strafrechts zu spielen. Die erhöhte Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts stellt hingegen die Essenz der Idee der europäischen Integration dar. Im Bereich des Strafrechts kann man sich aber ihre Exklusivität nur schwer vorstellen. Aller Voraussicht nach werden im Bereich der Sicherheit immer die Institutionen der Mitgliedstaaten dominieren. Eine reale Effektivität der Gemeinschaft, die die faktische Effektivität der lokalen Polizei oder des lokalen Gerichtes übertreffen würde, ist fast unvorstellbar. Selbst die Diskussion über die Durchführungsweise des „Mehrwerttests“ im Bereich der gemeinschaftlichen strafrechtlichen Regelungen wurde bis jetzt nicht durchgeführt. Der Begriff der Effektivität der strafrechtlichen Regelungen scheint weit hinter den deklarierten kriminal-politischen Bedürfnissen zu bleiben. Unter den Kriterien, die die Anwendung des Gemeinschaftsrechts ermöglichen, werden nur diejenigen wesentliche Bedeutung haben, die sich auf die internationalisierte Kriminalität beziehen. Die Internationalisierung der Kriminalität muss 22 Carozza, Subsidiarity as a Structural Principle of International Human Rights Law, American Journal of International Law, 2003 Vol. 97, S. 38ff. 23 Vgl. Delmas-Marty, The European Union and Penal Law, European Law Journal, Vol. 4, No. 1, March 1998, S. 107. 24 Weigend, Europäisches Strafrecht – Legitimation und Zukunftsperspektiven, Juridica International, 2003 I, S. 39.

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jedoch außerdem mit der außerhalb der Europäischen Union existierenden Kriminalität konfrontiert werden. Gewisse Pathologien haben doch einen globalen Charakter (z.B. Cyberkriminalität) 25. Es scheint, dass man in Zusammenhang damit eine Erweiterung des Subsidiaritätstests auf die Suche nach solchen Rechtsinstitutionen postulieren kann, die tatsächlich imstande sein werden, die jeweilige pathologische Erscheinung einzudämmen. In Bezug auf Phänomene, die einen globalen Charakter aufweisen, wäre das Engagement der EU für die Setzung von Regelungen mit einem internationalen (allgemeinen) Charakter adäquater. In diesem Fall wäre das Subsidiaritätsprinzip noch begrenzter 26. Es würde zum Prinzip der komplementären Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Bereich des Strafrechts. Die Anwendung von Harmonisierungsmaßnahmen scheint sehr umstritten zu sein, wenn sie in nur einem Mitgliedstaat fehlen 27. Das Fehlen von Sanktionen soll in der automatischen Entstehung der Legitimation für das Ergreifen von Maßnahmen durch die Gemeinschaft resultieren. Es scheint, dass sogar in solchen Situationen ein Missbrauch der Methoden der Harmonisierung des Rechts der Mitgliedstaaten möglich ist, wenn diese Harmonisierungsinstrumente den übrigen Staaten eine bestimmte Vision der Kriminalpolitik aufzwingen würden. Es ist hier notwendig, die Vereinheitlichung der Sanktionierung bestimmter Haltungen in den einzelnen Mitgliedstaaten nach Grad und Zweckmäßigkeit zu differenzieren 28. Es ist an dieser Stelle noch zu erwähnen, dass das Subsidiaritätsprinzip gemäß der durch den Europäischen Rat in Edinburgh im Jahre 1992 angenommenen Auslegung keine unmittelbaren Folgen verursacht 29. Das ist noch ein Merkmal, welches das Subsidiaritätsprinzip von den Garantieprinzipien des Strafrechts unterscheidet. Dies bringt dieses Prinzip jedoch keinesfalls um seine rechtliche Bedeutung. Es unterliegt der Kontrolle und der Prüfung durch den Europäischen Gerichtshof und wurde durch ihn bereits mehrmals angewendet 30. Im Protokoll zum Amsterdamer Vertrag wurden weitere Kontrollmechanismen vorgesehen, die auf der Schnittstelle des Europäischen Parlaments, der Kommission, des Ministerrates und der nationalen Parlamente Anwendung finden. Man muss der Kritik recht geben, dass die jetzige Form des Subsidiaritätsprinzips, die weder für die Mitgliedstaaten noch für die EU-Bürger Garantien sichert und in der EuGH25

Weigend, a.a.O. Vgl. Werle, Principles of International Criminal Law, Hague 2005, S. 69. 27 Satzger, a.a.O. 28 Szwarc, Europeizacja prawa karnego (Europäisierung des Strafrechts), in: Janiszewski (Hrsg.), Nauka wobec współczesnych zagadnie´n prawa karnego w Polsce, Ksie˛ga pamia˛tkowa ofiarowana Profesorowi Aleksandrowi Tobisowi, (Wissenschaft und die zeitgenössischen Fragen des Strafrechts in Polen, FS für Aleksander Tobis), Pozna´n 2004, S. 225 – 226. 29 Wyrozumska (ob. Fn 18), S. 342. 30 Siehe z.B. Urteile in den Sachen T-29/92, C-415/93, C-84/94. 26

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Praxis nur selten verifiziert wird (nur bei ernstlich fehlender Begründung der Zuständigkeiten der Gemeinschaft), geändert werden muss 31. IV. Schlussfolgerungen Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im Strafrecht bedarf der Antwort auf die grundlegende Frage nach dem Sinn der Erweiterung des Gemeinschaftsrechts auf das Gebiet des Strafrechts und dem eventuellen Umfang dieses Eingriffes. Die Form des europäischen Strafrechts entsteht zwischen dem politischen Willen bei der Handhabung der Instrumente des Gemeinschaftsrechts im Bereich des Strafrechts und den bereits bestehenden kriminal-politischen Traditionen der Mitgliedstaaten. Sehr spürbar ist hier eine gewisse Spannung. Doch ist bei der Anwendung des Strafrechts Vorsicht geboten. Das Strafrecht ist nicht nur ein purer Utilitarismus, sondern auch eine gewisse Tradition der Vorgehensweise, die mit dem Moralgefühl der einzelnen Gesellschaften übereinstimmt. Man soll sie respektieren und nur im Notfall modifizieren. Das Subsidiaritätsprinzip des gemeinschaftlichen Strafrechts soll ein solcher Faktor sein, welcher gewisse Funktionen erfüllen würde, die den Umfang der gemeinschaftlichen Maßnahmen limitieren. Die Zurückhaltung bei der Ergreifung von gemeinschaftlichen Maßnahmen im Bereich des Strafrechts kann ihm nur Nutzen in Form der Akzeptierung der neuen Regelungen durch die Gesellschaften der Mitgliedstaaten bringen. Zwar ist die Nutzung der Harmonisierungsinstrumente für die Bildung neuer Regelungen und die Förderung der Einheitlichkeit bei der Bekämpfung neuer Pathologien möglich, doch bei dem stets signalisierten Vorwurf der fehlenden demokratischen Legitimation für die Anwendung dieser Instrumente wäre Mäßigung erforderlich, um es nicht zu deren Atrophie und Schwächung kommen zu lassen, insbesondere in Situationen, in denen sie wirklich sehr notwendig sein können. Von daher scheint es erforderlich, die Idee einer restriktiven Auslegung des Subsidiaritätsprinzips zu unterstützen. Das Subsidiaritätsprinzip sollte also die kriminal-politischen Pläne angemessen modifizieren, so dass sie eindeutig auf die Legitimation der Gemeinschaft zur Ergreifung bestimmter Maßnahmen hinweisen, wobei jedoch diesen Maßnahmen entsprechende Überlegung und eingehende Analyse der möglichen Vorteile vorangehen soll. Man sollte sich auch darüber bewusst werden, dass der Horizont der Harmonisierungsmaßnahmen die Vereinheitlichung des Strafrechts ist 32. Angesichts der 31

Braum, Europäische Strafgesetzlichkeit, Frankfurt am Main 2003, S. 268. Murschetz, The Future of Criminal Law within European Union – Union Law or Community Law Competence?, Victoria University of Wisconsin Law Review 2007, No. 38, S. 155. 32

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Vielfalt der auf dem Gebiet der EU existierenden Kulturen wäre es vernünftig, bei der Ergreifung von Maßnahmen, deren Konsequenzen so weitgehend sein können, mit Zurückhaltung zu handeln.

Grundlagen des polnischen Strafgesetzbuches im deutsch-polnischen Vergleich Claus Roxin I. Einführung Die Zusammenarbeit zwischen den polnischen und den deutschen Strafrechtlern hat nach dem Zweiten Weltkrieg früh begonnen und dauert bis heute fort. Sie war trotz aller politischen Probleme zwischen unseren Ländern, die auf dem Hintergrund der Verbrechen des Nazi-Regimes und auch der stalinistischen Ära nur allzu verständlich sind, zu allen Zeiten freundschaftlich und wissenschaftlich ertragreich. Diese Kooperation, die vielfach auf polnischen Initiativen beruht hat, ist ein schönes Beispiel dafür, dass die Wissenschaft Verbindungen auch dort schaffen kann, wo die Politik dies noch nicht in ausreichendem Maße vermag. Wissenschaftliche Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Rechts ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil sie den Frieden fördert. Denn vergleichbare Rechtsvorstellungen erleichtern das Zusammenleben der Völker. Ich habe Polen viele Male aus Anlass wissenschaftlicher Vorträge oder Kongresse besucht 1 und auch viele polnische Strafrechtler als Gäste in München begrüßen können. Bei diesen Gelegenheiten und auch bei anderen internationalen Treffen ebenso wie bei den deutschen Strafrechtslehrertagungen bin ich immer wieder Andrzej J. Szwarc begegnet, der als einer der größten Förderer der deutsch-polnischen Strafrechtsbeziehungen betrachtet werden muss und dessen liebenswürdige Kollegialität ihn zum internationalen Vermittler geradezu prädestiniert. Im Jahre 1998 war ich auch in Posen sein Gast. Es ist mir daher eine besondere Freude, an einer Festschrift zu seinen Ehren mitwirken zu dürfen. Gegenstand meines Beitrages sollen die Grundlagen des polnischen Strafgesetzbuches von 1997 sein. Natürlich brauche ich Herrn Szwarc und anderen polnischen Lesern nicht ihr eigenes Strafgesetzbuch zu erklären. Was mich aber an dem Thema reizt, ist die enge wissenschaftliche Nähe, die zwischen diesem Gesetzgebungswerk und der deutschen Strafrechtsreformbewegung besteht. Viele meiner eigenen kriminalpolitischen und strafrechtsdogmatischen Vorstellungen und viele Thesen 1

Eine Aufstellung liefert Wa˛sek, Der Einfluss der Lehre von Claus Roxin auf die polnische Strafrechtswissenschaft, FS für Roxin, 2001, S. 1457/58.

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des von mir mitverfassten westdeutschen Alternativ-Entwurfs finde ich in der polnischen Kodifikation wieder, die meinem Denken näher steht als der neue Allgemeine Teil unseres deutschen Strafgesetzbuches. Das lässt es als lohnend erscheinen, solchen gemeinsamen Gedanken ein wenig näher nachzugehen und ihre Begründung hier und da zu vertiefen. Andrzej Wa˛sek, mein viel zu früh verstorbener Schüler, Freund und Kollege, hat in der mir gewidmeten Festschrift 2 den „Einfluss der Lehre von Claus Roxin auf die polnische Strafrechtswissenschaft“ untersucht und meint, 3 ihre Auswirkungen seien „am stärksten ... bei der Analyse und der Bestimmung der Kriterien zur Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe und bei der Rechtsfigur der objektiven Zurechnung“. Außerdem weist er auf die Strafzumessungsregelung in Art. 53 § 1 des polnischen StGB hin und sagt im Hinblick auf die Ähnlichkeit mit meiner Konzeption: 4 „Dabei muss ich gestehen, dass ich nicht sicher bin – obwohl ich selbst an der Arbeit des Ausschusses für die Reform des Strafrechts ... beteiligt war, der den Entwurf des StGB von 1997 ausgearbeitet hat –, ob und inwieweit die Regelung des Art. 53 § 1 StGB auf die unmittelbare Inspiration der Lehre von Claus Roxin zurückgeht.“ Er fordert mich dann auf, „selbst zu dieser und zu anderen Normierungen des polnischen StGB von 1997 Stellung“ zu nehmen. Das soll im Folgenden geschehen. Ich lasse dabei die Probleme der Mittäterschaft beiseite, die Wa˛sek selbst schon in dem angeführten Beitrag ausführlich behandelt hat, und widme mich zwei zentralen Themen der strafrechtlichen Grundlagendiskussion: „Sozialschaden, Bagatelldelinquenz, Rechtsgüterschutz und objektive Zurechnung“ sowie „Schuld und Strafe“. Die Frage, ob meine Lehren die polnische Strafgesetzgebung in irgendeinem Punkt unmittelbar beeinflusst haben, kann ich natürlich auch nicht beantworten. Und sie erscheint mir auch unwichtig. Denn einerseits beruht jedes Gesetzgebungswerk auf zahlreichen Gedanken der internationalen Reformliteratur, und andererseits kann die Ansicht eines bestimmten Autors immer nur eine Stimme in einem Chor ähnlicher Meinungen sein und ist den Vorarbeiten anderer verpflichtet. II. Sozialschaden, Bagatelldelinquenz, Rechtsgüterschutz und objektive Zurechnung Ein erstes großes Verdienst des polnischen Strafgesetzbuches liegt darin, dass es den Begriff des materiellen Unrechts – anders als das deutsche StGB – im Gesetz verankert und seine der älteren polnischen (und sowjetrussischen) Tradition entsprechende Charakterisierung als „Gesellschaftsgefährlichkeit“ durch den 2 3 4

Wa˛sek (ob. Fn. 1), S. 1457 ff. Wa˛sek (ob. Fn. 1), S. 1458. Wa˛sek (ob. Fn. 1), S. 1464/65.

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Begriff der „Sozialschädlichkeit“ ersetzt hat (Art. 1 § 2; 115 § 2 polnisches StGB). Denn während der Terminus der Gesellschaftsgefährlichkeit täterstrafrechtliche Züge aufweist und deshalb ideologisch missbrauchbar war, 5 ist das Kriterium der Sozialschädlichkeit eines Verhaltens tatstrafrechtlich orientiert, lässt sich auf die Sozialschadenslehre der Aufklärung zurückführen 6 und steht damit in einer liberalen Tradition, an die ein rechtsstaatliches Strafrecht auch heute noch anknüpfen muss. Durch die legislatorische Etablierung der „Sozialschädlichkeit“ als „Schlüsselbegriff“ 7 zur Kennzeichnung des strafrechtlichen Unrechts werden für dessen Bestimmung und Charakterisierung drei entscheidende Weichen gestellt: bei der Bagatelldelinquenz (1.), hinsichtlich des Rechtsgüterschutzes als Aufgabe des Strafrechts (2.) und durch die Legitimierung der Lehre von der objektiven Zurechnung (3.). 1. Sozialschadensprinzip und Bagatelldelinquenz Das Sozialschadensprinzip ermöglicht eine materiell-rechtliche Lösung des Bagatellproblems, wie sie Art. 1 § 2 des polnischen StGB denn auch konsequenterweise vorsieht: „Keine Straftat ist eine verbotene Tat, deren Sozialschädlichkeit geringfügig ist.“ Eine solche Regelung ist dem deutschen Konzept vorzuziehen, das in den meisten Fällen die Straffreistellung geringfügiger Schädigungen erst auf der Ebene des Prozessrechts nach Gesichtspunkten der Opportunität zulässt (§§ 153 ff. StPO). Für die Vorzugswürdigkeit der materiell-rechtlichen Lösung streiten viele Gründe: Zunächst ist es Aufgabe des Gesetzgebers, die Strafbarkeit eines Verhaltens festzulegen. Dies sollte entsprechend dem Gesetzlichkeitsprinzip nicht der Staatsanwaltschaft und den Gerichten vorbehalten bleiben. Sodann lässt die Lokalisierung des Bagatellprinzips im Strafgesetzbuch der Rechtsprechung die Möglichkeit, die Maßstäbe geringfügigen Handelns im Einzelnen zu konkretisieren, während eine prozessuale Einstellung weder den Begründungsaufwand noch die öffentliche und rechtsprechungsbeeinflussende Wirkung eines richterlichen Urteils erreicht. Ferner ist die Entscheidung der Geringfügigkeitsfrage im Urteil von der Öffentlichkeit kontrollierbar und mit Rechtsmitteln angreifbar, während die Einstellung hinter verschlossenen Türen verhandelt wird und kein Rechtsmittel zulässt. Das erhöht die Gefahr der Ungleichbehandlung oder sogar willkürlicher Entscheidungen. 5 Dazu Buchała, Grundzüge des Reformvorhabens. Entwurf des polnischen Strafgesetzbuches von Oktober 1990, in: Eser / Kaiser / Ewa Weigend (Hrsg.), Viertes deutschpolnisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie, 1990, S. 9 ff. (13/14). 6 Buchała (ob. Fn. 5), S. 13, beruft sich denn auch mit Recht auf Beccaria und die französische Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. 7 Ewa Weigend, Das neue polnische Strafgesetzbuch von 1997, in: ZStW 110 (1998), 114 ff. (120). Der Text ist im Wesentlichen identisch mit der Einführung von Frau Weigend zu ihrer Übersetzung des polnischen Strafgesetzbuches (Kodeks karny), 1998.

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Freilich ermöglicht das deutsche Recht in Einzelfällen auch eine materiellrechtliche Straffreistellung bagatellarischer Verstöße, die teils auf gesetzlicher Anordnung, teils auf richterlicher Auslegung beruht. Ein Beispiel der ersten Art bietet etwa § 184 f. Nr. 1 des deutschen StGB, wonach sexuelle Handlungen im Sinne des Sexualstrafrechts nur solche sind, „die im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sind“. Für die zweite Möglichkeit sei auf die Körperverletzung in Form der „Misshandlung“ hingewiesen (§ 223 des deutschen StGB). Dieser Begriff wird von der Rechtsprechung so ausgelegt, dass darunter nur Verhaltensweisen verstanden werden, durch die das körperliche Wohlbefinden „nicht unerheblich“ beeinträchtigt wird. Aber eine Regelung, die das Bagatellproblem manchmal dem materiellen Recht und meistens dem Prozessrecht zuweist, lässt ein klares Konzept erst recht vermissen. Außerdem muss man sich fragen, warum eine materiell-rechtliche Regelung, wenn sie bei Sexual- und Körperverletzungsdelikten für angemessen gehalten wird, nicht überall möglich sein sollte. Ganz geringfügige Vermögens- oder Eigentumsbeeinträchtigungen können doch nicht schwerer wiegen als entsprechende Einwirkungen im körperlichen Bereiche. Die Kodifizierung des Sozialschadensprinzips weist also den Weg zu einer kriminalpolitisch sachgerechten Regelung geringfügiger Taten. Sie sollten aus dem Strafrecht ausgegrenzt werden. Ob sie gänzlich ungeahndet bleiben oder anderen Sanktionen (etwa des Zivil- oder des Ordnungswidrigkeitenrechts) unterworfen werden sollten, ist eine Frage, die außerhalb der Zuständigkeit des Strafrechts liegt. 2. Sozialschadensprinzip und Rechtsgüterschutz Eine vielleicht noch größere, wenn auch im polnischen (und erst recht im deutschen) StGB nicht ausdrücklich thematisierte Bedeutung erlangt das Sozialschadensprinzip aber auch für die inhaltliche Bestimmung des materiellen Unrechts oberhalb der Erheblichkeitsschwelle. Denn ein Sozialschaden setzt, wenn man der aufklärerischen Tradition folgt, der sich auch das polnische StGB angeschlossen hat, voraus, dass das inkriminierte Verhalten die Bedingungen eines friedlichen und freien, die Menschenrechte wahrenden Zusammenlebens in nicht nur unerheblicher Weise beeinträchtigt hat. Die realen Voraussetzungen, ohne deren Sicherung ein friedliches und freies Zusammenleben nicht möglich ist, nennt man nach einer in Deutschland verbreiteten Tradition „Rechtsgüter“. Rechtsgüter sind also z. B. das menschliche Leben, die körperliche und sexuelle Integrität, die persönliche Freiheit, das Eigentum, das Vermögen, aber auch etwa die Währung oder die Rechtspflege (sog. Rechtsgüter der Allgemeinheit). Denn ohne eine Bestandsgarantie solcher Gegebenheiten durch den Staat lässt sich ein friedliches und freies Zusammenleben nicht gewährleisten.

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Dem Sozialschadensprinzip liegt also der Gedanke zugrunde, dass die Aufgabe des Strafrechts im Rechtsgüterschutz besteht. Buchała, einer der geistigen Väter des polnischen StGB, hat das mit aller Deutlichkeit erkannt, als er im Jahre 1990 über den damaligen Entwurf des StGB und seine Loslösung vom bisherigen Prinzip der Gesellschaftsgefährlichkeit sagte: 8 „Der materielle Unrechtsbegriff, im Entwurf als Sozialschädlichkeit bezeichnet, scheint auch rein sprachlich besser geeignet zu sein, da er an die Rechtsgüter und ihr System als Grundlage der Rechtsordnung anknüpft.“ Und bald darauf heißt es klipp und klar: „Dem Entwurf liegt der Gedanke des Rechtsgüterschutzes zugrunde ...“ Der polnische Gesetzgeber hat damit einen Standpunkt bezogen, der zwar nach wie vor umstritten ist, der aber in Deutschland vielfach vertreten wird und der auch im anglo-amerikanischen Bereich Entsprechungen findet. Der westdeutsche Alternativ-Entwurf von 1966 hatte (in § 2) den „Schutz der Rechtsgüter“ ausdrücklich als Aufgabe des Strafrechts bezeichnet. Ich selbst habe in der letzten Auflage meines Lehrbuchs 9 dem Rechtsgutsproblem längere Ausführungen gewidmet und die praktischen Konsequenzen einer Beschränkung des Strafrechts auf den Rechtsgüterschutz im Einzelnen darzulegen versucht. Auch sonst ist in der deutschen Wissenschaft in den letzten Jahren wieder eine lebhafte Rechtsgutsdiskussion aufgeflammt. 10 Im anglo-amerikanischen Recht hat das schon von John Stuart Mill (1859) entwickelte „Harm Principle“ (deutsch etwa: „Schädigungsprinzip“) durch den amerikanischen Rechtsphilosophen Feinberg 11 eine gründliche Ausarbeitung erfahren, deren Ergebnisse denen der neueren Rechtsgutstheorie sehr nahe kommen. Diese aktuelle Diskussion kann hier nicht im Einzelnen verfolgt werden. Ich will nur darauf hinweisen, dass das aus dem Sozialschadensprinzip abgeleitete Rechtsgutsdenken erhebliche Auswirkungen auf die Bestimmung der Strafwürdigkeit hat: Wenn jedes strafbare Verhalten einen Sozialschaden voraussetzt, genügt die Feststellung bloß unmoralischen Tuns zur Begründung der Strafbarkeit nicht. Homosexuelles Verhalten unter Erwachsenen schädigt niemanden. Also darf es nicht mit Strafe bedroht werden, auch wenn man es als unmoralisch ansieht. Dasselbe gilt für den sexuellen Umgang mit Tieren, für den Austausch von Ehepartnern, für Striptease-Vorführungen und Ähnliches. Der deutsche Gesetzgeber hat daher unter dem Einfluss des Alternativ-Entwurfs 12 die Sexualdelinquenz 8

Buchała (ob. Fn. 5), S. 14. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 2006, § 2 Rn. 1 –122. 10 Vgl. etwa den Sammelband von Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003. 11 Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law, 4 Bände, 1984 –1988; etwas näher dazu Roxin (ob. Fn. 9), § 2 Rn. 123 – 125. 12 Es gibt einen eigenen Alternativ-Entwurf „Sexualdelikte“ (1968), der den deutschen Gesetzgeber maßgeblich beeinflusst hat. 9

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auf Beeinträchtigungen der sexuellen Selbstbestimmung und den Jugendschutz beschränkt, und der polnische Gesetzgeber ist denselben Weg gegangen. 13 Freilich ist dies nicht mit letzter Konsequenz geschehen. Das deutsche (§ 173 StGB) wie das polnische Strafrecht (Art. 201 StGB) haben die Strafbarkeit des Beischlafs zwischen erwachsenen Verwandten beibehalten, obwohl nicht ersichtlich ist, worin der gesellschaftliche Schaden eines solchen Verhaltens liegt. Die theoretische Möglichkeit von Erbschäden ist kein hinreichender Strafgrund. Denn in der Regel führen solche Kontakte überhaupt nicht zur Geburt von Kindern, oder es sind keine Schäden festzustellen. Außerdem will kein humaner Gesetzgeber Erbkrankheiten mit Hilfe des Strafgesetzbuches verhindern. Die Legitimität einer Bestrafung des Verwandtenbeischlafs war lange Zeit mehr ein Thema theoretischer Diskussionen. Sie hat vor kurzem aber erstmals auch das deutsche Verfassungsgericht in einem Fall beschäftigt, in dem Geschwister, die einander erst als Erwachsene kennengelernt hatten, sexuelle Beziehungen gepflogen hatten. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Beschluss vom 26. Februar 2008 die Strafbarkeit der Vorschrift aufrechterhalten und ist dabei einer Stellungnahme zu der Frage ausgewichen, ob Strafvorschriften, die ein nicht rechtsgüterverletzendes Verhalten pönalisieren, verfassungsrechtlich zulässig sind. Es könne 14 „offen bleiben, ob die Unterscheidung zwischen Strafnormen, die allein in Moralvorstellungen gründen, und solchen, die dem Rechtsgüterschutz dienen ..., tragfähig ist und ob bejahendenfalls Strafnormen der ersteren Art verfassungsrechtlich zu beanstanden wären“. Der Versuch des Gerichts, die Bestrafungsbefugnis des Gesetzgebers dann „durch eine Zusammenfassung nachvollziehbarer Strafzwecke“ und durch eine „gesellschaftliche Überzeugung“ zu begründen, ist aber missglückt. Der einzige Strafrechtsprofessor im entscheidenden Senat, Winfried Hassemer, hat denn auch in einem abweichenden Sondervotum die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung überzeugend dargetan. In entsprechender Weise hatte im Rahmen des polnischen Gesetzgebungsverfahrens 15 der federführende Kommissionsgutachter Marian Filar betont, dass die Beibehaltung der Strafbarkeit des Verwandtenbeischlafs der Grundkonzeption des neuen polnischen Sexualstrafrechts widerspreche. Es zeigt sich also in Deutschland wie in Polen gleichermaßen, dass archaische Tabuvorstellungen auch heute noch manchmal durchsetzungskräftiger sind als eine rationale Gesetzgebungspolitik. Das ändert aber nichts daran, dass eine durch das Sozialschadensprinzip fundierte Rechtsgutslehre als Basis des strafrechtlichen Unrechts auch heute noch ein 13 14 15

Näher E. Weigend (ob. Fn. 7), S. 140 f. BVerfG, Beschl. v. 26. Februar 2008 – 2 BvR 392/07, Rn. 50. Dazu E. Weigend (ob. Fn. 7), S. 26.

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hohes gesetzgebungskritisches Potential aufweist. Außerdem ist die Orientierung am Rechtsgüterschutz auch eine wertvolle Interpretationshilfe. Ich kann das hier nicht im Einzelnen ausführen, will aber wenigstens noch ein einziges wichtiges Auslegungsergebnis nennen, das sich aus der Rechtsgutskonzeption herleiten lässt: Die Mitwirkung an einer verantwortlichen Selbstgefährdung muss straflos sein, weil sie kein fremdes Rechtsgut gegen den Willen des Rechtsgutsträgers beeinträchtigt. Das hat z. B. die Konsequenz, dass die Überlassung von Alkohol oder Drogen, die der Empfänger mit tödlicher Wirkung zu sich nimmt, nicht als fahrlässige oder gegebenenfalls sogar vorsätzliche Tötung geahndet werden kann. Denn es liegt nur eine „Selbstschädigung“ und kein „Sozialschaden“ vor. Das hat nach anfangs abweichender Rechtsprechung auch der deutsche Bundesgerichtshof anerkannt. 16 3. Sozialschadensprinzip und objektive Zurechnung Das Sozialschadensprinzip hat aber auch im Bereich der Strafrechtsdogmatik Auswirkungen, die bisher noch nicht hinreichend reflektiert worden sind. Ich will hier nur die am weitesten reichende Konsequenz deutlich machen. Wenn nämlich nach dem Sozialschadensprinzip der Rechtsgüterschutz die Aufgabe des Strafrechts ist, stellt sich die Frage, wie dieser Rechtsgüterschutz strafrechtlich bewirkt werden kann. Die Antwort kann nur lauten: Indem der Gesetzgeber unerlaubte Risiken für das geschützte Rechtsgut verbietet und die Schaffung und Verwirklichung eines unerlaubten Risikos dem Verursacher als tatbestandsmäßige Handlung zurechnet. Damit ist in der knappsten Form die von mir entwickelte Lehre von der objektiven Zurechnung umschrieben, die also aus dem Sozialschadensprinzip und der daraus folgenden Rechtsgutslehre unmittelbar abgeleitet werden kann. Diese Lehre bedeutet zugleich einen „Paradigmenwechsel“ 17 in der Begründung des strafrechtlichen Unrechts. Nicht mehr ontische Gegebenheiten wie die Kausalität oder die Finalität menschlichen Handelns, sondern die normative (wertende) Entscheidung über die Grenzen des tolerierbaren Risikos für geschützte Rechtsgüter entscheiden über das Vorliegen strafrechtlichen Unrechts. Es ist hier nicht der Ort, um die Konzeption der objektiven Zurechnung, die sich in Deutschland weitgehend durchgesetzt 18 und die auch international eine große Resonanz gefunden hat, im Einzelnen mit ihren zahlreichen praktischen

16 Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Band 32, 262. Näher dazu Roxin (ob. Fn. 9), § 11 Rn. 107 –120. Freilich ist in Deutschland auch die Überlassung von Rauschgift schon als solche strafbar (aber eben gegebenenfalls nicht als Tötungsdelikt). 17 H. Schneider, Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten?, 2004, S. 271. 18 Friedrich-Christian Schroeder, FS für Androulakis, 2003, S. 668 sagt, die Lehre von der objektiven Zurechnung sei „sowohl hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Bedeutung als auch ihrer Beachtung im Ausland an die Stelle der finalen Handlungslehre getreten“.

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Konsequenzen darzulegen. 19 Dies ist umso weniger nötig, als ich wenigstens die Grundzüge meiner Lehre schon in Polen vorgetragen habe, 20 und zwar im Rahmen eines polnisch-deutschen Strafrechtskolloquiums in Karpacz (1990). Wa˛sek sagt darüber: 21 „Das von Claus Roxin gehaltene Referat zur Problematik der objektiven Zurechnung und die anschließende Diskussion der polnischen und deutschen Strafrechtler bildeten einen Wendepunkt bei der fortwirkenden Rezeption der Lehre von der objektiven Zurechnung in der polnischen Strafrechtswissenschaft.“ Seither hat diese Lehre in Polen zahlreiche Anhänger und auch manche Gegner gefunden. 22 Noch interessanter als diese Feststellung ist aber der Umstand, dass, wie Wa˛sek 23 weiter berichtet, „in der Begründung des Entwurfs des polnischen StGB von 1997 ... deutlich und eindeutig positiv die Kriterien dieser Lehre bei der Bestimmung der Grundlagen und des Umfanges der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für fahrlässige Erfolgsdelikte benutzt werden“. Man kann also davon ausgehen, dass die Verfasser des polnischen Strafgesetzbuches den Zusammenhang gesehen haben, der zwischen Sozialschadensprinzip, Rechtsgüterschutz und objektiver Zurechnung besteht. Bei einer solchen Betrachtungsweise könnte man sogar sagen, dass die Lehre von der objektiven Zurechnung im polnischen Strafgesetzbuch eine gesetzgeberische Weihe empfangen habe. III. Schuld und Strafe 1. Schuld und Menschenwürde Eine große Errungenschaft des polnischen Strafgesetzbuches besteht darin, dass es unter den „Grundlagen der Strafbarkeit“ schon im ersten Artikel der Kodifikation nach dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 1 § 1) und dem Sozialschadensprinzip (Art. 1 § 2 als drittes Fundamentalprinzip des Strafrechts das Schuldprinzip nennt (Art. 1 § 3): „Keine Straftat begeht der Täter einer verbotenen Tat, dem für die Tatzeit keine Schuld zugerechnet werden kann.“ Das deutsche Verfassungsgericht hat das Schuldprinzip als für den Gesetzgeber und die Rechtsprechung verpflichtend unmittelbar aus der Menschenwürde abgeleitet, 24 die in Art. 1 der deutschen Verfassung (dem „Grundgesetz“) für „unantastbar“ erklärt wird, während in Polen auch die „Achtung der Menschen19

Eine ausführliche Darstellung gibt mein Lehrbuch (ob. Fn. 9), § 11 Rn. 44 –145. Veröffentlicht in: Kaczmarek (Hrsg.), Theoretische Probleme der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im polnischen und deutschen Strafrecht, Wrocław 1990, S. 5 –23. 21 Wa˛sek (ob. Fn. 1), S. 1463. 22 Nachweise bei Wa˛sek (ob. Fn. 1), S. 1463 f. 23 Wa˛sek (ob. Fn. 1), S. 1464. 24 Näher dazu Roxin, Strafe und Strafzwecke in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, FS für Volk, 2009 (im Druck). 20

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würde“ den Strafverfolgungsorganen schon durch das Strafgesetzbuch auferlegt wird (Art. 3 polnisches StGB). Es verdient Beifall, dass das polnische Recht aus Gründen der Klarstellung das Schuldprinzip als eine der wesentlichen strafrechtlichen Auswirkungen der Menschenwürde eigens nennt. Wenn man mit Kant aus der Würde des Menschen das sogenannte Instrumentalisierungsverbot ableitet, das Verbot also, jemanden unter Missachtung seiner Person zum bloßen Objekt staatlicher Maßnahmen zu machen, folgt daraus zwangsläufig, dass die Strafbarkeit der Bürger auf verschuldetes Unrecht begrenzt werden muss. Denn wenn man für etwas bestraft wird, das man nicht verschuldet hat, entspricht das einem Zwang, wie er gegen Sachen ausgeübt wird. Die Menschenwürde fordert zudem, dass der Täter nicht nur überhaupt schuldhaft gehandelt hat, sondern auch, dass die Strafe das Maß der Schuld nicht überschreiten darf. Denn auch wenn eine Strafe über das Maß der Schuld hinausgeht, indem z. B. bei geringer Schuld eine sehr harte Strafe verhängt wird, wird der Täter zum Objekt generalpräventiver Bedürfnisse gemacht. Der polnische Gesetzgeber hat auch dies mustergültig klargestellt, indem er das Gericht verpflichtet, darauf zu achten, „dass die Übelszufügung durch die Strafe das Ausmaß der Schuld nicht übersteigt“ (Art. 53 § 1 polnisches StGB). Der deutsche Gesetzgeber äußert sich weitaus weniger klar, indem er nur sagt (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB): „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe.“ Denn diese Formulierung würde eine Schuldüberschreitung nicht ohne weiteres verhindern, die aber nun durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgeschlossen ist. Dagegen ist der westdeutsche AlternativEntwurf von 1966 ein Vorläufer (oder gar ein Vorbild?) des polnischen Gesetzes, wenn er in § 59 Abs. 1 Satz 1 sagt: „Die Tatschuld bestimmt das Höchstmaß der Strafe.“ 2. Schuld und Strafzumessung Die straflimitierende Funktion des Schuldprinzips ist also ein liberales Bollwerk gegen übermäßige Staatseingriffe in die Freiheit des Bürgers. Es wird dadurch für die Strafhöhe eine obere Grenze gezogen. Nicht beantwortet wird damit aber die Frage, nach welchen Grundsätzen die Strafe im verbleibenden Bereich, also bis zu dieser Grenze, zugemessen werden soll. Die deutsche Rechtsprechung einschließlich derjenigen des Bundesverfassungsgerichts und auch die überwiegende Meinung der deutschen Literatur 25 gehen davon aus, dass die Strafe dem Maß der Schuld entsprechen muss, es also zwar nicht über-, aber auch nicht unterschreiten darf. Lediglich in dem „Spielraum“, der sich 25

Vgl. etwa Jescheck / Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 879 f. m.w. N.

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dadurch ergibt, dass das der Schuld entsprechende Strafmaß nicht mathematisch genau zu bestimmen ist, sollen spezial- und generalpräventive Überlegungen zur Geltung kommen dürfen. Eine andere Auffassung vertritt das polnische Strafgesetzbuch, das auch in diesem Punkt ganz auf der Linie des westdeutschen Alternativ-Entwurfs liegt. Dieser sagt in § 59 Abs. 2: „Das durch die Tatschuld bestimmte Maß ist nur insoweit auszuschöpfen, wie es die Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft oder der Schutz der Rechtsgüter erfordert.“ Dabei ist mit der „Wiedereingliederung“ die Resozialisierung und mit dem „Schutz der Rechtsgüter“ die Generalprävention gemeint. Das polnische Gesetz (Art. 53 § 1) gibt dem Gericht, nachdem es das Schuldmaß als Strafobergrenze festgesetzt hat, folgende Anweisung für die weitere Strafzumessung: „Es berücksichtigt den Grad der Sozialschädlichkeit der Tat und zieht sowohl die im Hinblick auf den Verurteilten zu erzielende präventiven und erzieherischen Auswirkungen der Strafe in Betracht als auch die Belange der Gestaltung des Rechtsbewusstseins der Bevölkerung.“ Hier werden also neben dem schuldhaften Unrecht („Grad der Sozialschädlichkeit“) gleichrangig präventive Ziele genannt. Dabei ist mit der „Gestaltung des Rechtsbewusstseins der Bevölkerung“ die positive Generalprävention gemeint. 26 Diese Regelung wird allgemein so gedeutet, dass nicht immer die volle Schuldstrafe verhängt werden muss, sondern dass sie gegebenenfalls auch unterschritten werden kann, wenn spezialpräventive („erzieherische“) Gründe dies fordern und generalpräventive Bedürfnisse dem nicht entgegenstehen. Ewa Weigend sagt: 27 „Der Schuldgrundsatz dient ausschließlich der Limitierung der Strafe nach oben; die Strafuntergrenze wird dagegen durch das Maß der Strafwürdigkeit der Tat (Sozialschädlichkeit) sowie durch die präventiven Wirkungen der Sanktion gezogen.“ Sie betont dabei unter besonderem Hinweis auf meine eigene Ansicht, dass dies „der Auffassung eines Teils der deutschen Lehre“ entspreche. Auch bei Buchała heißt es: 28 „Im Rahmen der Schuld soll der Richter eine spezialpräventiv oder eine generalpräventiv orientierte Strafe verhängen, er soll in der Strafe den ganzen Unwert der Tat berücksichtigen, er muss es aber nicht. In keinem Fall darf er über diesen Unwert hinausgehen.“ In der Tat entspricht dies alles auch der von mir immer schon vertretenen Auffassung. Da sich vernünftigerweise nicht bestreiten lässt, dass die Strafe ein Instrument der Sozialsteuerung ist, darf sie auch nur sozialen (das heißt gesellschaftlich notwendigen präventiven) Zwecken dienen. Zwar wird in vielen Fällen und gerade auch bei schwerer Kriminalität eine schuldentsprechende Strafe 26 27 28

So ausdrücklich Buchała (ob. Fn. 5), S. 30. E. Weigend (ob. Fn. 7), S. 135. Buchała (ob. Fn. 5), S. 30.

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generalpräventiv, d. h. im Hinblick auf das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung, angemessen sein. Wo aber mit einer geringeren Strafe auszukommen oder wo sie sogar im Dienste einer erfolgreichen Resozialisierung geboten ist, muss eine Unterschreitung des Schuldmaßes möglich sein. Dies allein entspricht auch dem verfassungsrechtlichen Prinzip der Verhältnismäßigkeit, demzufolge nur der zur staatlichen Zweckerreichung jeweils erforderliche geringste Eingriff gerechtfertigt werden kann. Die Verwirklichung der abstrakten, von sozialen Zwecksetzungen gelösten Idee einer vergeltenden Gerechtigkeit im Sinne Kants entspricht nicht den Aufgaben eines modernen Staates. IV. Schluss Das polnische Strafgesetzbuch von 1997 steht nach alledem in der vorderen Reihe der europäischen Reformbewegung und weist in seinen heute noch unvermindert gültigen Grundlagen große Ähnlichkeit mit dem Alternativ-Entwurf zum Allgemeinen Teil des deutschen Strafgesetzbuches auf. Die spätere Entwicklung in Polen hat dem nichts Wesentliches hinzugefügt. Barbara Sta´ndo-Kawecka 29 berichtet, dass nach dem Inkrafttreten des neuen StGB eine Gegenbewegung eingesetzt habe, die wieder mehr für eine repressive Kriminalpolitik und schärfere Strafen eingetreten sei. „Das im Herbst 2001 neu gewählte Parlament arbeitet an einer grundlegenden Novellierung des Strafrechts“, 30 schrieb sie. Daraus ist freilich nicht viel geworden. 31 Problematische Gesetzesänderungen, die die Regierung Kaczy´nski gebracht hat, betreffen vor allem das Strafprozessund Gerichtsverfassungsrecht. Alle Hoffnungen ruhen nun auf der im Herbst 2007 gewählten Regierung des Liberalen Donald Tusk, dem es gelingen möge, an die Reformen der neunziger Jahre wieder anzuknüpfen! Denn natürlich wird das Strafrecht durch die veränderten Lebensbedingungen der modernen Welt und durch die Entwicklung der Kriminalität auch in Zukunft noch schwierige und immer wieder neue Aufgaben bewältigen müssen. In der Vergangenheit hat, wie ich zu zeigen versucht habe, die Zusammenarbeit zwischen der polnischen und der deutschen Strafrechtswissenschaft reiche Früchte getragen. Wir sollten sie deshalb mit verstärktem Elan fortsetzen. Die historische Entwicklung wird zu einer schrittweisen Vereinheitlichung des Strafrechts in Europa führen. Wir werden eines fernen Tages vermutlich sogar 29 Barbara Sta´ndo-Kawecka, Strafrecht und Kriminalpolitik in Polen, in: Eser / Arnold / Trappe (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Osteuropa, 2002, S. 318 ff. (328 ff.). 30 Sta´ndo-Kawecka (ob. Fn. 29), S. 329. 31 Einzelheiten berichtet eine noch unveröffentlichte Arbeit von Ewa Weigend über „Neuere Entwicklungen im polnischen Strafrecht“, die sie mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.

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ein gesamteuropäisches Strafgesetzbuch haben. Die Erträge der polnischen und der deutschen Reformbewegung, mit deren zentralen Ideen meine kleine Studie sich beschäftigt, sollten in die Fundamente auch des europäischen Strafrechts eingehen. Damit schließe ich diesen Beitrag, den ich Andrzej J. Szwarc, dem großen Mittler zwischen den Wissenschaften unserer Länder, mit herzlichen Glückwünschen zum 70. Geburtstag in steter Verehrung widme.

Die Ostgrenze der EU Von der Freiheit, ihren Opfern und einer Zugfahrt Uwe Scheffler und Kamila Matthies Zumeist mit dem Zug hat man als Wissenschaftler der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) die deutsch-polnische Grenze ungezählte Male überquert, sofern es weiter nach Polen geht als nur zu unserer Schwesterstadt Słubice; häufig, aber nicht nur, um die befreundete Adam-Mickiewicz-Universität in Pozna´n, die Wirkungsstätte unseres verehrten Jubilars, aufzusuchen. Unser Jubilar, der – wenn wir ganz vorsichtig schätzen dürfen – sich von dort seit der Gründung der Viadrina wohl alle zwei Wochen mindestens einmal auf den Weg gen Westen (und zurück) gemacht hat – das wären bald tausend Zugfahrten! –, dürfte eines bestätigen: Das Grenzprocedere hat sich erheblich geändert. Freilich, nicht so offensichtlich wie beim Überqueren der Frankfurter Stadtbrücke von und nach Słubice zu Fuß oder per Auto, denn die meisten Züge, die zwischen Frankfurt (Oder) und Pozna´n verkehren, haben ohnehin einen Zwangsaufenthalt im polnischen Grenzbahnhof Rzepin zwecks Lokomotivwechsels. Dennoch, der Unterschied zwischen den heute üblichen flüchtigen Kontrollblicken der Zöllner und den ehemals peniblen Inspektionen sogar des Fahrwerks im Rzepiner Bahnhof ist schon beträchtlich. I. Uns fällt es dennoch schwer, so ohne weiteres in den Jubel über die nunmehr vermeintliche „Grenzfreiheit in Europa“ einzustimmen, wie er unisono beim polnischen EU-Eintritt 2004 und sodann bei Polens Einstieg in den Schengener Raum 2008 überall erklang. Statt dessen summen wir nachdenklich einen längst eingestaubten Song von Marius Müller-Westernhagen über Verträge und abbestellte Freiheit und können uns einiger Fragen nicht erwehren: Ist der Fall des Eisernen Vorhangs nun wirklich endgültig vollzogen und die Teilung des Kontinents überwunden? Oder ist die Grenze nicht eigentlich nur verschoben worden? Und: Haben wir tatsächlich Freiheit dazugewonnen, oder ist ihre Definition – frei nach Oskar Kokoschka – mit dem Versetzen des Schlagbaums lediglich angepasst worden? Die Antworten finden sich wiederum auf den Gleisen, wenn diesmal die Reise nach Pozna´n gute 1000 km weiter östlich, etwa im ukrainischen Kiev, beginnt und man so über die neue Ostgrenze des „freien Europas“ einreist.

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II. Der geneigte Leser ist nunmehr eingeladen, uns auf unserer für westliche Gemüter doch recht abenteuerlichen Reise von Kiev nach Warszawa zu begleiten. Verwegen ist schon die Wahl unseres Transportmittels, denn wir reisen nicht in einem gewöhnlichen Zug; unser Transportmittel ist der „Schmuggler“ („Przemytnik“). 1 Ein solcher Zug besteht nur aus Schlafwagen. In dem polnischen Modell werden die Passagiere pro Coupé in drei Betten übereinander gestapelt, die ukrainischrussische Variante setzt auf zwei Doppelstockbetten. Ein nicht ganz schmerzfreier Selbstversuch macht deutlich: Eine sitzende Position einzunehmen ist uns als Inhaber oberer Betten verwehrt. Der Gedanke, die rund 19 Stunden dauernde Zugfahrt von Kiev nach Warszawa in liegender Position zurücklegen zu müssen, erscheint wenig einladend – und dennoch würde uns ein voreiliges Verlassen des Zuges um mindestens eine menschliche Erfahrung ärmer machen: Denn hier macht Not nicht nur erfinderisch – auch davon können wir uns später noch überzeugen –, sondern auch gesellig. Und so kommt es, dass wir Asyl auf einem unteren Bett erhalten und lernen so, dankbar, unserer Wirbelsäule eine senkrechte Position gewähren zu können, den Ukrainer Viktor kennen. Schnell erfahren wir, dass Viktor wegen familiärer Bande häufig gen Westen nach Polen fährt. Ein Unterfangen, dass nach dem Ende der Sowjetunion aufgrund der zwischen der Ukraine und Polen herrschenden Reisefreiheit zunächst kein großes Problem darstellte, sich seit dem EU-Beitritt Polens aber wieder erheblich verkompliziert hat. Wir wissen, ahnen, haben schon gelesen (wie auch immer man als Nichtbetroffener jenen Umstand verinnerlichen mag), der EU-Beitritt von Polen und die Vorbereitung auf den Eintritt in den Schengener Raum auf dem Weg in ein vereintes, freies Europa hat den ehemaligen Vasallenstaaten Ostmitteleuropas längst nicht nur und denen Osteuropas sogar wenig Segen gebracht. Ist es doch jetzt jene Grenze zwischen Polen und der Ukraine, die Europa vor dem kalten Ostwind, der Schmuggler, Menschenhändler und Drogenkuriere zu uns hinüberweht, schützen soll. 2 Und keine Frage, eine solche Grenze muss dicht sein, schließlich will sich keiner innerhalb der Gemeinschaft verkühlen. So kam es, dass den ehedem im „Völkergefängnis“ der Sowjetunion eingesperrten Völkern mit dem EU-Beitritt Polens auf Drängen der Europäischen Union – und hier nicht zuletzt der Bundesrepublik Deutschland – die Reisefreiheit erneut genommen wurde: Der Eiserne 1

http://www.kurierlubelski.pl/module-dzial-viewpub-tid-9-pid-61294.html. So J.Burger http://www.zeit.de/2004/12/Passagen_2fOst_neu (Die Zeit vom 11.03. 2004 Nr. 12). 2

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Vorhang an der Oder-Neiße wurde durch den eisigen Vorhang einer kaltherzigen Visapraxis substituiert. 3 „Auf Schengen wartet hier niemand“ ist beiderseits der neuen Ostgrenze konstatiert worden. 4 Lediglich der damalige polnische Präsident Kwa´sniewski wagte es, sich der Zugluft auszusetzen, indem er die Ukrainer als ausgesperrt erkannte, sich lange gegen eine Aufhebung der Reisefreiheit zwischen der Ukraine und Polen wehrte und schließlich auch die völkerrechtlich nicht eben übliche Regelung durchsetzte, dass jedenfalls Ukrainer aus den Grenzgebieten ein polnisches Visum halbwegs unbürokratisch und vor allem unentgeltlich erhalten. Für Viktor, schon der Umstände halber, ein nur schwacher Trost – doch auch der Verlust seines Krämerlädchens in einem grenznahen Städtchen, dem schlicht durch den wegbrechenden Reiseverkehr die Kundschaft fehlte, dürfte dazu beigetragen haben, dass Viktor wohl nicht zu den Fans der Europäischen Union zählt. Ein Waggonbegleiter unterbricht unser Gespräch und reicht uns Bettwäsche. Jeder Waggon hat einen eigenen solchen Begleiter und ob seiner Funktion – abgesehen vom Einsammeln der Fahrkarten am Anfang der Fahrt und ggf. dem Wecken eine Stunde vor Fahrtende – geraten wir ins Grübeln: Das Austeilen der Bettwäsche ist Minutensache und dass bei ihm unterwegs Kalt- und Warmgetränke erhältlich sein sollen, ist wohl eher ein Gerücht. Überhaupt müssen wir feststellen, das leibliche Wohl bleibt auf der Strecke. An einem Speisewaggon fehlt es und auch über etwas, das man bei uns als Barwagen bezeichnen würde, verfügt ein solcher Zug nicht. Nun hatte uns nicht Leichtfertigkeit davon abgehalten, vorzusorgen; konnte man sich doch noch vor nicht allzu langer Zeit jedenfalls auf ukrainischer Seite auf allen Bahnhöfen mit etwas längerem Aufenthalt bei den bettelarmen Babuschkas mit allem eindecken, was Herz oder besser Magen und Leber begehrten: Mit geraffter Rockschürze liefen sie an den Abteilfenstern vorbei und boten lautstark alles von Piwo und Vodka über Pierogi und Pelmeni bis zu gesalzenem Speck („Salo“) und getrockneten Fisch („Taranka“) feil. Doch heute sind die Babuschkas verschwunden. Uns bleibt die wenig erbauliche Möglichkeit, uns bei einem etwas längeren Stopp des Zuges auf dem Bahnsteig in die Schlange vor einem kleinen Imbiss einzureihen, um hier rechtzeitig einen Hotdog oder einen Hamburger zu erwerben. Von Viktor erfahren wir, dass man seitens der Obrigkeit über diese neue Bahnsteig-Ordnung erfreut ist – ein kleiner Windfang im tiefen Osten. Jedenfalls: Keine Diskussion, dass Viktor seine Kanapki und seine Flasche Vodka mit uns teilt, wir können ein paar Landjäger und Erdnüsse beisteuern, irgendwie findet 3 Dies wird übrigens durch den sog. „Visaskandal“ an einigen deutschen Konsulaten in osteuropäischen Ländern nicht widerlegt, sondern bestätigt, bedenkt man, welche eher läppische Gewährungen von Freizügigkeit schon als dermaßen „skandalös“ angeprangert wurden. 4 F. Jurzyk http://www.cafebabel.com/ger/article/26197/Polen-Auf-Schengen-wartethier-niemand.html.

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sich auch noch eine Flasche mineralna woda an – und schon tafeln wir in einer improvisierten Gemütlichkeit, wie man sie nur in Osteuropa erleben kann. III. In den späten Abendstunden beschließen wir, nun doch in unseren Betten etwas Schlaf zu finden – ein aussichtsloses Unterfangen, wie wir beim letzten großen Halt des Zuges vor der ukrainisch-polnischen Grenze in Kowel bemerken. Von dem Lärm im Flur neugierig geworden, blicken wir aus unserem Coupé und stellen fest, dass es plötzlich im „Schmuggler“ nur so von zumeist jungen Menschen, offenbar vor allem ukrainischer, aber auch polnischer Herkunft, darunter auffallend vielen Frauen 5 wimmelt. Sie sind ausgestattet mit großen, prallgefüllten Reisetaschen, weiß mit rotblauen Karos, haben teilweise Schraubenzieher oder anderes Werkzeug in der Hand. Ungläubig beobachten wir, wie sie ungeniert auf den Fluren des Zuges, in den Toiletten, oftmals auch in den Coupés alles abschrauben, was nicht niet- und nagelfest ist, um dahinter stangenweise Zigaretten zu deponieren. Mit Erstaunen und nicht ganz unbesorgt realisieren wir, dass so ein Waggon offenbar vollständig aus Sperrholz- sowie Plastikverkleidungen zumeist in Holzimitat mit dahinterliegenden Hohlräumen zu bestehen scheint. Es werden Polster aufgeschlitzt, mit Zigaretten aufgefüllt und wieder zugeklammert, es werden irgendwelche Klappen geöffnet, die in das Fahrgestell oder in die Dachkonstruktion des Zuges führen, und riesige Zigarettenlager errichtet. Sogar die Notbremse eignet sich als Versteck. 6 Der Zugbegleiter steht dazwischen und wir können beobachten, wie auch sein Abteil aufgeschlossen wird, offenbar um sogar dort etwas zu deponieren. Kurz vor der Grenze verschwindet der Spuk genauso schnell, wie er gekommen ist – was freilich nicht heißt, an Schlaf wäre jetzt zu denken. Zwar verläuft die ukrainische Kontrolle schnell und ruhig, allenfalls fragt der Zoll nach Antiquitäten wie Ikonen. Das Bild ändert sich jedoch schlagartig, als die polnischen Behörden kommen: Ausgestattet mit Schraubenziehern, Taschenlampen und weiteren Werkzeugen, große schwarze Säcke mit sich führend, erscheinen Zollbeamte – uniformiert und in Zivil –, die mit dem gleichen Eifer den Zug ein zweites Mal auseinanderschrauben. Argwöhnisch schielen wir zu Viktor und in uns keimt der Alptraum eines jeden Südostasienreisenden, dass auch in unserem Coupé etwas versteckt sei, dass fälschlicherweise uns zugeordnet werden könnte. Doch in einer ein- bis zweistündigen Aktion – Viktor bemerkt, dies sei ein kleiner Einsatz – sind, so 5

Vgl. J. Burger http://www.zeit.de/2004/12/Passagen_2fOst_neu (Die Zeit vom 11.03.2004 Nr. 12): „Schmuggeln gilt als Frauenarbeit, wie Kochen“. 6 Siehe http://www.kurierlubelski.pl/module-dzial-viewpub-tid-9-pid-61294.html.

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scheint es, all die Zigaretten, die vorher versteckt worden sind, wieder ausgeräumt. Von den mitgeführten mannshohen Säcken, von denen das Fassungsvermögen eines jeden bestimmt auf 50 bis 100 Stangen zu schätzen ist, werden wenigstens sechs, acht, zehn – so genau kann man es nicht sagen – allein aus unserem Waggon mit Schmuggelgut ausgeladen. Die Kontrolle wird in geschäftiger Hektik verrichtet, und erleichtert registrieren wir, dass der Versuch, die Schmuggelware irgendjemandem zuzuordnen, völlig unterbleibt. Selbst ein Belangen oder zumindest Befragen des Zugbegleiters, ohne dessen Mitwissen es jedermann schlicht unmöglich erscheinen muss, etwa den Teppich des Flures wegzuräumen, um darunter irgendwelche Klappen zu verborgenen Verstecken zu öffnen, unterbleibt. Im Gegenteil, er wird vom Zoll herangezogen, mit anzufassen. Dabei können wir ihn hin und wieder sogar beobachten, wie er, an den Verkleidungen schraubend, schnell die eine oder andere Stange Zigaretten doch noch vor dem Zoll „sichert“. Regelmäßig liest man in der polnischen Presse, die entsprechende Erfolge gebührend würdigt, dass in „größeren“ Einsätzen innerhalb von zwei Wochen ca. 230.000 Päckchen Zigaretten gefunden werden, 7 innerhalb einer Nacht sogar bis zu 38.000 Päckchen Zigaretten. 8 Doch trotz medienwirksamer Inszenierung dürfte auch für die Zollfahndung unverkennbar bleiben, dass solche Großeinsätze nur die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Problematik des Schmuggels bewirken. Verhindern werden sie ihn nicht. 9 Denn nachdem der Zoll den Waggon mit seinen teils abgehängten, teils nicht abgehängten und teils schon wieder angehängten Verkleidungen verlassen hat, beginnt der dritte Akt: Es erscheinen wiederum die schon bekannten Gesichter, schrauben nunmehr auch diejenigen Verkleidungen ab, die der Zoll noch dran gelassen hatte und suchen überall sonst nach Zigaretten, die er übersehen – oder jedenfalls nicht konfisziert – haben könnte. Sie machen dabei immer noch reichlich Beute und ziehen mit zufriedenen Gesichtern, den Arm voll Zigarettenstangen – meist „Jin Ling“ – von dannen. Diese Zigarettenmarke mit dem Ziegenbockbild – ansonsten auffällig der Camel nachempfunden 10 – ist übrigens ein Kind der Globalisierung. Das Recht an der chinesischen Marke besitzt eine Frau Tchoudakova in Moskwa. Sie produziert die 7 http://www.kurierlubelski.pl/module-dzial-viewpub-tid-9-pid-61294.html; vgl. auch http://www.mf.gov.pl/dokument.php?const=2&dzial=534&id=140191&typ=news&Portal MF=a83c61f843a8450aeac5db1c7ae89ef0. 8 http://www.kurierlubelski.pl/module-dzial-viewpub-tid-9-pid-61294.html. 9 Siehe http://www.kurierlubelski.pl/module-dzial-viewpub-tid-9-pid-61294.html. 10 Näher Der Tagesspiegel vom 31.08.2008 (http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft /Schwarzmarkt-Schmuggel;art271,2604658).

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Zigaretten legal in Moldavien, der Ukraine und der russischen Exklave Kaliningrad – mit der Aufschrift „USA Blend“. 11 Eine Stange dieser „Camel für Arme“ 12 kostet keine zwei Euro im Einkauf und ist in manchen Regionen Deutschlands, wo der günstig auf dem Schwarzmarkt erwerbende Endverbraucher immerhin 18 bis 20 Euro pro Stange zahlt 13, innerhalb von zwei Jahren zur wohl meist gerauchten Zigarette geworden. IV. Auch wenn uns das Geschehen nicht wirklich hätte überraschen dürfen, kennen wir die Problematik des blühenden Schmuggels an der Schengener Außengrenze doch aus zahllosen Berichten und auch aus staatsanwaltlichen Ermittlungsakten, können wir doch einige, aus strafrechtlich-kriminologisch-kriminalistischer Sicht äußerst merkwürdige, ja beinahe unglaubliche Umstände des eben Erlebten nur schwer verdauen: Zunächst einmal: Offenbar hat niemand ein Interesse daran, dieses beinahe heidnisch-österlich anmutende Ritual des Versteckens und Suchens zu unterbinden! Die ukrainische Bahn scheint das sich nächtlich mehrfach wiederholende Spiel aus Demontage von Verkleidungen, Aufschlitzen von Polstern und Missbrauch von Wasserspülungen unter den Augen des Waggonbetreuers nicht weiter zu stören; dabei sieht man den Zügen, zurückhaltend gesprochen, diese nächtlichen Strapazen durchaus an. Die polnische Grenzpolizei sieht völlig davon ab, irgendwen zur Klärung der Besitzverhältnisse aufgefundener Schmuggelzigaretten auch nur zu befragen. Die Einleitung von Zollstrafverfahren, das Aussprechen von Einreiseverboten scheint sie überhaupt nicht zu interessieren. Und auch für die ukrainischen Grenzorgane wäre es ein Leichtes, dem Spuk sofort ein Ende zu setzen, wenn sie auf den letzten Kilometern vor Grenzübertritt – etwa ab Kowel – nur irgendeinen Gendarmen in den Waggons mitfahren ließen, doch auch hier: Nichtstun! Höchst merkwürdig – oder bemerkenswert – aber auch das Verhalten der Schmuggler, die, so erzählt uns Viktor, ihrer Tätigkeit beinahe täglich nachgehen. 11 K.Hoffman http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/Schwarzmarkt-Schmuggel;art271 ,2604372. 12 Der Tagesspiegel vom 31.08.2008 (http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/Schwarzm arkt-Schmuggel;art271,2604658). 13 K.Hoffman http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/Schwarzmarkt-Schmuggel;art271 ,2604372.

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Trotz ungezählter konfiszierter Stangen Zigaretten begeben sie sich ungerührt auf die Suche nach den übriggebliebenen und verlassen den Waggon mit dem Ausdruck im Gesicht, durchaus an einem guten Geschäft partizipiert zu haben. Wir sind deutlich irritiert. Auch wenn in der Ukraine selbst eine Schachtel Markenzigaretten im günstigen Fall schon für unter zwei Griwna, also für gut 20 Cent zu erstehen ist 14, was sicherlich keinen geringen Spielraum eröffnet, plant man, diese in der EU weiterzuveräußern, so bleibt doch fragwürdig, ob eine entsprechende Kosten-Nutzenrechnung tatsächlich bei säckeweise beschlagnahmten Zigaretten noch aufgehen kann. V. Obgleich schon mitten in der Nacht, erklärt uns Viktor hilfsbereit das Geschäft, erschreckend deckungsgleich mit dem, was wir als Strafverteidiger aus emsig von den Ermittlungsbehörden erstellten Akten kennen: Auf dem Weg der Zigaretten in die EU verdienen klassischerweise neun Ebenen mit. Am lukrativsten ist das Geschäft für den – intensiv gejagten und doch schwer auszumachenden – Kopf der Zigarettenbande. Dieser hält sich im Hintergrund und ist selten direkt am Handel beteiligt. Dazwischen liegen Organisatoren, Vermittler, Fahrer und Transportbegleiter in allen Herkunfts- und Zielländern. Ganz unten – auch hinsichtlich des Gewinns – finden sich dann die – meist vietnamesischen – Straßenhändler. 15 Beliefert werden vorzugsweise Länder mit hohen Abgaben auf Tabakwaren. In Großbritannien etwa kostet die Packung versteuerter Zigaretten über sieben Euro, so dass die Gewinnmarge beim Verkauf illegaler Zigaretten auch zum weit darunter liegenden Schwarzmarktpreis erheblich ist. 16 Für die Schmuggler stelle sich die Fahrt in dem „Schmuggler“ als relativ angenehm dar. Die einigermaßen komfortable Zugfahrt über die Grenze sei kein Vergleich zu den Strapazen, die jene Schmuggler ertragen müssen, die zu Fuß die ukrainisch-polnische Grenze überqueren. 17 Außerdem bestehe nur ein geringes Risiko, erwischt zu werden, 18 denn die Zuordnung der Zigaretten gestalte sich schwierig (wird sie denn überhaupt versucht). 14 Siehe K.Krohn http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/1648725_Me dyka.html. 15 K.Hoffman http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/Schwarzmarkt-Schmuggel;art271 ,2604372. 16 http://www.zoll.de/e0_downloads/d0_veroeffentlichungen/w1_die_bundeszollverw altung.pdf. 17 Vgl. J. Burger http://www.zeit.de/2004/12/Passagen_2fOst_neu (Die Zeit vom 11.03.2004 Nr. 12).

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Und schließlich kommt auch Viktor auf etwas zu sprechen, was in Polen immer häufiger sogar öffentlich diskutiert wird: 19 Es gebe gewisse Zollbeamte, die mit den Schmugglern kollusiv zusammenwirken und entsprechend am Gewinn beteiligt werden. So sei allgemein bekannt, dass das „Absehen“ von der Kontrolle etwa 50 –100 Zloty koste. Das Geld werde eingesammelt und zwischen den Beteiligten – darunter auch höhere Beamte, wie die Leiter von Hauptzollämtern – geteilt. 20 Eine der größten Schwierigkeiten für die Schmuggler bestehe daher darin, zu erfahren, welcher Beamte am fraglichen Tag Dienst tut und folglich „materielle Anerkennung“ zu erhalten habe. 21 Wir müssen einwenden, dass wir doch auch beobachten konnten, wie der polnische Zoll sehr wohl äußerst sorgfältig und hartnäckig zu suchen scheint; dass ein Zöllner etwa Kollegen zu Hilfe geholt hat, um eine besonders sperrige Platte abzubauen, nachdem Bewunderung hervorrufende Verrenkungen mit der Taschenlampe den Verdacht erhärtet hatten, genau hinter dieser Platte sei auch etwas versteckt. Aber wir müssen Viktor Recht geben; was nützt diese engagierte – aber auch langwierige und personalintensive – Suche eines Zöllners mit seiner Taschenlampe hinter eben jener einen Platte, wenn das Abhalten der Schmuggler selbst offenbar weder die ukrainische Bahn, noch die ukrainischen Organe und auch nicht den polnischen Zoll interessiert ? Stellt man sich diese Fragen, zieht ein böser Verdacht auf: Wir sprechen hier von der Schengener Außengrenze! Sind wir als Reisende vielleicht gerade Zeugen eines groß angelegten Spiels geworden? Ging es bei dem eben Erlebten weniger darum, Steuerschaden in Schengenstaaten zu vereiteln und Zigaretten der Zerschredderung zuzuführen, als um die Verteilung der Schore? Kann man sich wirklich sicher sein, dass nicht während dieser Bahnfahrt ein Teil der Zigaretten in weißen Taschen mit blauroten Karos, ein weiterer aber in schwarzen Säcken in die EU eingeschmuggelt worden ist? Rhetorische Fragen, wir fürchten, wir ahnen die Antworten. VI. Viktor ist jetzt, es graut schon der Morgen, hellwach. Noch einen Schluck Vodka einschenkend, will er nun von uns wissen, warum denn in Deutschland 18 M. Kamienicki http://www.naszdziennik.pl/index.php?typ=po&dat=20071030&id =po43.txt. 19 L.Grochulski http://www.poradnikhandlowca.com.pl/bezcms/archiwum/online01/12 _2001/przemyt.html. 20 L.Grochulski http://www.poradnikhandlowca.com.pl/bezcms/archiwum/online01/12 _2001/przemyt.html. 21 A.Galicka http://www.wschod24.pl/content/view/11364/.

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Zigaretten so hoch versteuert würden. Die Ukraine habe im Jahr 2000 die Tabaksteuer gesenkt. Der Marktanteil von 10% Schmuggelzigaretten habe sich seitdem mehr als halbiert. 22 Nicht, dass er den Schmugglern hier im Zug das Geschäft kaputtmachen will, aber: Wäre nicht die Angleichung der Steuersätze in allen EULändern, vor allem deren Senkung eine erfolgversprechende Maßnahme gegen den Schmuggel? Wir stimmen ihm zu und sagen, dass dies auch bei uns häufiger gefordert wird. 23 In der Bundesrepublik sei jedoch statt dessen ein stetiger Preisanstieg bei Zigaretten zu verzeichnen. Als Begründung betont der Gesetzgeber, Rauchen schädige die Gesundheit, eine höhere Steuer würde die Bürger vom Rauchen abhalten. Auch die Europäische Union fordert von ihren Mitgliedstaaten immer weitere Steuererhöhungen, 24 um die Raucher „systematisch zu entwöhnen“. 25 Zweifellos ein löbliches Ziel, sagen wir mit Seitenblick auf Viktor, der – wie so viele Männer und Frauen in den „Billigländern“ – ständig am Rauchen ist. Der Konsum versteuerter Zigaretten und das Aufkommen der Tabaksteuer sind in Deutschland tatsächlich rückläufig. 26 In der Tat scheint für viele Verbraucher die Schmerzgrenze erreicht. 27 Zwischen 1999 und 2002 kauften Raucher Jahr für Jahr mehr als 140 Milliarden Fabrikzigaretten. Seither ist ein konstanter Rückgang zu verzeichnen. Im Jahre 2004 etwa reduzierte sich der Absatz von Zigaretten um 15,5% auf 113,6 Milliarden. Der Trend hält weiter an. 28 Viktor winkt, nach einer neuen Schachtel „Prima“, seiner bevorzugten ukrainischen Billigmarke, suchend, unwirsch ab. Die Zahlen seien doch irrelevant, denn die Deutschen würden dann eben mehr geschmuggelte Zigaretten kaufen. Das würde vielmehr erklären, warum sich der Zigarettenschmuggel immer weiter 22 L.Grochulski http://www.poradnikhandlowca.com.pl/bezcms/archiwum/online01/12 _2001/przemyt.html. 23 K.Hoffmann http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/Schwarzmarkt-Schmuggel;art27 1,2604658. 24 „Im Kampf gegen das Rauchen will die EU-Kommission Tabak teurer machen. Das sehen am Mittwoch in Brüssel vorgestellte Pläne der EU-Kommission vor. Danach soll die Mindeststeuer auf Tabak in der EU bis 2014 von derzeit 57 Prozent schrittweise auf 63 Prozent steigen ... Die Brüsseler Behörde schätzt, dass eine Anhebung des EU-weiten Mindeststeuersatzes den Tabakkonsum binnen fünf Jahren um zehn Prozent reduzieren wird. Nach Angaben der Kommission sterben in der EU jedes Jahr 650.000 Bürger an den Folgen des Rauchens.“ sueddeutsche.de vom 16.07.2008 (http://www.sueddeutsche .de/wirtschaft/820/448554/text/). 25 sueddeutsche.de vom 16.07.2008 (http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/820/4485 54/text/). 26 Zoll aktuell 1/2005 (http://www.zoll.de/g0_publikationen/c0_zeitschrift_zoll_aktuel l/z95_archiv_2005/00v89_zoll_aktuell_1_2005/). 27 E.Gienke http://www.stern.de/wirtschaft/unternehmen/:Tabak-Steuererh%F6hungSchmuggler-Phantasie/543907.html. 28 Vgl. W.Niedermeier http://www.mister-wong.de/tags/schmuggel%2Bzigaretten/.

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ausweite, wie unschwer zu beobachten sei. Je teurer in einem Land die Zigaretten, desto mehr würde geschmuggelt. 29 Jede Steuererhöhung in Deutschland; grinst Viktor, sei ein wahres Geschenk für die Schmugglerbanden in seiner Heimat. So bringe die EU-Erweiterung der Ukraine doch noch Vorteile! Ja, sagen wir, das könnte gut sein. Zunehmend wird auch bei uns die Tabaksteuererhöhung als kontraproduktiv bezeichnet, weil nicht die Zahl der Raucher, sondern das Steueraufkommen sinkt. 30 Und im Jahre 2004 wurden immerhin 19 Millionen Zigaretten mehr als im Vorjahr durch die Zollverwaltung sichergestellt. Im Jahr 2007 stieg die Zahl sogar um weitere 10% gegenüber dem Vorjahr auf 465 Millionen an. 31 Die Bundesregierung jedoch, fahren wir auf Viktors zustimmendes Nicken etwas bremsend fort, hat noch in dieser Wahlperiode erklärt, die Beschlagnahmezahlen der Zollverwaltung ließen im Hinblick auf das große Dunkelfeld einen unmittelbaren Rückschluss weder auf die tatsächliche Zufuhr von unversteuerten und unverzollten Zigaretten nach Deutschland noch über den Umfang des Schmuggels zu. 32 Allerdings hatte sie sich im Jahre 2004 noch anders geäußert, als es um die Auswirkungen der damaligen Tabaksteuererhöhung ging. 33 Demnach hatte sich da der illegale Handel mit Zigaretten und der legale Verkauf an Deutsche jenseits der deutschen Grenzen nach ihren Schätzungen von etwa 12,5 Millionen auf 25 Millionen Stück verdoppelt. Die Gründe für diese Entwicklung sah die Bundesregierung damals noch – man staune – vor allem in der hohen Preissensibilität der Konsumenten, die verstärkt preiswertere Produkte beanspruchten und dabei auf Schmuggelzigaretten und legale Grenzverkäufe auswichen. 34 VII. Also, schlussfolgert Viktor, der immer lebhafter trotz des Vodkas und ungeachtet der Uhrzeit wird: Wenn die Deutschen bei Steuererhöhungen nicht mit dem Rauchen aufhören, aber auch nicht die teuren Zigaretten rauchen wollen, dann wird die Bundesregierung jetzt dem Zigarettenschmuggel den Kampf ansagen? Sie wird also dem Manko an Steuereinahmen mit großem Aufwand, der doch sicher erhebliche Kosten verursacht, entgegentreten?

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F.Kuhn http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,278233,00.html. Vgl. E.Gienke http://www.welt.de/wirtschaft/article673999/Zigarettenindustrie_Hoe here_Tabaksteuer_ist_kontraproduktiv.html. 31 E. Gienke http://www.stern.de/wirtschaft/unternehmen/:Tabak-Steuererh%F6hungSchmuggler-Phantasie/543907.html. 32 BReg BT-DrS 16/4698, 15. 33 Das Parlament Nr. 40 vom 27.09.2004. 34 Das Parlament Nr. 40 vom 27.09.2004. 30

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Genau. Unsere Politiker wollen mit strenger Hand gegen all jene vorgehen, die Deutschland mit Schmuggelzigaretten erreichen. Die Bundesregierung hat die „Bekämpfung“ des international organisierten Zigarettenschmuggels und der Gefährdung der Gesellschaft durch die „Etablierung organisierter europa- und weltweit vernetzter krimineller Strukturen, die sich auch zur Organisation des Zigarettenschmuggels gebildet haben“, zur „prioritären Aufgabe“ erklärt. 35 Heißt das etwa, fragt Viktor in einer Mischung aus Angst und Hoffnung, dass die Deutschen nunmehr wieder selbst ihre Grenzen sichern wollten? Das müssen wir jedoch verneinen. Die deutschen Politiker ignorieren die unglückseligen Wechselwirkungen zwischen Tabaksteuererhöhung und Verschiebung der EUAußengrenze. In Deutschland werden sie nicht müde, anhand der nur relativ moderat gestiegenen Beschlagnahmen zu bestreiten, dass sich der Schmuggel infolge der Grenzöffnung nennenswert ausgeweitet habe. VIII. Was für ein Fehlschluss! Bei Kontrolldelikten wie dem Schmuggel findet natürlich nur der, der auch sucht. Gesucht wird aber – von einem auf etwa ein Drittel Personalstärke zurückgefahrenen Zoll 36 – nur noch im Rahmen der sog. Schleierfahndung im deutschen Hinterland. Sicher keine effektive Methode, vermischt sich doch hier der grenzüberschreitende mit dem Binnenverkehr. Dass die Methode auch rechtsstaatlich nicht unproblematisch ist, versteht Viktor, von zuhause einiges gewohnt, nicht gleich auf Anhieb: Verdachtsunabhängige Personenkontrollen kollidieren mit dem Recht eines jeden Bürgers, von der Staatsgewalt nicht behelligt zu werden, wenn er keinen Anlass dazu gegeben hat. (Wer das kleinreden möchte, erlebe erst einmal am eigenen Leibe die unwürdige Situation, unterwegs zu einem eiligen Termin von einer „Mobilen Kontrollgruppe“ mit Blaulicht überholt und ausgebremst zu werden, um ihr zu einem einsamen Parkplatz folgen zu müssen, wo die persönliche Habe im Kofferraum durchwühlt wird!) Dazu kommt übrigens noch Folgendes: Es ist nicht etwa so, dass jedermann der Schleierfahndung gleichermaßen ausgesetzt wäre. Anstelle des individuell ausgelösten Verdachtes tritt hier die kriminalistische Erfahrung, also ein durch gruppenspezifische Merkmale ausgelöstes (Vor-)Urteil. „... der Zöllner hat eine Nase für so etwas“. 37 Auch wenn die Kriterien, jemanden „herauszuwinken“, zu den bestgehüteten Geheimnissen gehören, so hat sich doch herumgesprochen, dass 35

BT-DrS 16/9966, S. 3. Siehe http://www.gdp-bfp.de/downloads/20080405.pdf. 37 K.Bischoff http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2003 /1218/brandenburg/0014/index.html. 36

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etwa auf der A12 zwischen Frankfurt (Oder) und Fürstenwalde nicht nur LKWs, sondern auch Lieferwagen, Kombis u.ä. mit ausländischem Kennzeichen in das Beuteschema des Zolls passen sollen. IX. Viktor interessiert, ob den Schmugglern denn etwas passieren könnte, wenn sie vorgeben, sie seien nur die Fahrer; was ihr Chef geladen habe, wissen sie nicht, erst recht nicht, was dahinter versteckt sein könnte. Die Schmuggler im Zug, werden sie denn doch einmal befragt, würden auch immer ganz unwissend tun und dann in Ruhe gelassen. Wir erwidern, dass ein Fahrer so strafrechtlich in der Tat seinen Kopf aus der Schlinge ziehen kann, glaubt man ihm denn. Selbst die Sanktionierung einer Steuerhinterziehung als bloße Ordnungswidrigkeit setzt nach §383 AO Leichtfertigkeit voraus. Anders als offenbar die Polen oder Ukrainer interessierten sich darüber hinaus aber die deutschen Zollbehörden sehr wohl dafür, wer rechtlich gesehen Besitzer der Schmuggelzigaretten ist, denn der muss Einfuhrabgaben, Zoll und Tabaksteuern bezahlen. Und unter Ausreizung des zivilrechtlichen Besitzbegriffes ist inzwischen neu definiert worden, wer schon Besitzer ist und folglich zur Kasse gebeten werden kann. War es zunächst noch zumindest umstritten, ob tatsächlich als Steuerschuldner haften muss, wer nichts davon wusste, dass in seinem Fahrzeug Zigaretten versteckt sind, 38 ist der Bundesfinanzhof nun jedoch am 10.10.2007 der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 04.03.2004 39 gefolgt und hat entschieden, dass der Fahrer eines Lastzugs i.S.d. TabStG Waren in das Steuergebiet „verbringt“ und folglich auch Steuerschuldner ist, auch wenn die Waren ohne sein Wissen in dem Fahrzeug versteckt worden sind. 40 Ob der Fahrer vorsätzlich oder wenigstens fahrlässig gehandelt hat, spielt demnach in Hinblick auf die Steuerschuldnerschaft bzgl. der Tabakwaren keine Rolle. Bereits die objektive Verletzung der Gestellungspflicht führt damit nun schon zur Entstehung der Zollschuld nach Art. 202 Zollkodex in der Person des Gestellungspflichtigen. 41 Einen kleinen Schluck Vodka eingießend, blinzelt Viktor uns an: Hätten wir nicht vorhin den „Alptraum eines jeden Südostasienreisenden“, der für unterge38 Verneinend etwa FG Düsseldorf ZfZ 2006, 380; FG Mecklenburg-Vorpommern Beschluss vom 24.05.2007 – 3 V 27/07. 39 EuGHE 2004, I-2141. 40 BFH DStRE 2008, 380 (381). 41 Unbillige Härten sind dem BFH zufolge durch Erlass nach §227 AO vermeidbar (BFH ZfZ 2005, 121). Ein reger Gebrauch dieser Möglichkeit seitens der Finanzbehörden ist allerdings nicht zu verzeichnen.

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schobene Drogen gehenkt werden soll, in einem Unterton erzählt, als sei so etwas in Deutschland völlig undenkbar? Und über das vermeintliche Desinteresse des polnischen Zolls an Verantwortlichen hätten wir die ganze Zeit ja ausgiebig den Kopf geschüttelt. Versteht er uns denn jetzt richtig, dass den deutschen Zoll die Hintermänner etwa in Polen oder der Ukraine überhaupt nicht interessieren, wenn er das arme Würstchen von Fahrer hat? Das können wir, zumindest, wenn der Fahrer zahlungsfähig ist, nicht völlig verneinen. Als Viktor das nun doch nicht so ganz glauben mag, zitieren wir einige Sätze aus der grundlegenden Entscheidung des Bundesfinanzhofs: 42 „Die Entscheidung, welcher von mehreren Steuerschuldnern in Anspruch genommen werden soll, steht im Ermessen des Hauptzollamtes ... [Es] musste ... nicht ... vor einer Inanspruchnahme des Klägers für die hinterzogene Tabaksteuer Ermessenserwägungen dazu anstellen, ob die Steuerforderung nicht vorrangig gegen den oder die Organisatoren des Schmuggels mit Amtshilfe der Behörden eines fremden Staates durchzusetzen wäre.“ 43 X. Jetzt kommen wir langsam richtig in Fahrt. Denn die Widersprüche und Maßlosigkeiten in der Rechtspolitik unter dem Banner der „Bekämpfung“ des angeblich uns alle bedrohenden Gespenstes der Organisierten Kriminalität – das ist eines „unserer“ Themen. Wir versuchen dem nun doch etwas überforderten Viktor zu erklären, dass im Jahre 2001 mit dem Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz der Verbrechenstatbestand der gewerbs- und bandenmäßigen Steuerhinterziehung (§370a AO a.F.) in die deutsche Abgabenordnung eingefügt worden war, der eine Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren vorsah. Durch die vorgesehene Mindeststrafe von einem Jahr wurde die Tat als Verbrechen eingestuft und unterfiel gemäß §261 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB ohne weiteres dem Vortatenkatalog der Geldwäsche. Die kleine Änderung hatte jedoch eine versteckte, durchaus einschneidende Folge 44: Nach §100a StPO ist beim Verdacht der Geldwäsche die Telekommunikationsüberwachung erlaubt. 42

BFH DStRE 2008, 380 (382). Die Vollstreckung von Einfuhrabgaben und Verbrauchsteuern auf Tabakwaren in der EG / EU hat sich allerdings vereinfacht. So können die Hauptzollämter die Vollstreckung dieser Abgaben aufgrund des EG-BetreibungsG nach Polen übergeben und dem fremden Land überlassen. Voraussetzung der Vollstreckung ist gemäß §4 des EG-BetreibungsG lediglich, dass die Behörde des fremden Staates einen in ihrem Staat vollstreckbaren Titel in amtlicher Ausfertigung oder beglaubigter Kopie vorlegt und bestätigt, dass die Forderung oder der Vollstreckungstitel nicht angefochten ist, im Staat der ersuchenden Behörde bereits ein Vollstreckungsverfahren aufgrund des Titels durchgeführt wurde und die Maßnahmen weder zur vollständigen Tilgung der Forderung geführt haben noch voraussichtlich führen werden. 44 Dazu Rüping / Ende DStR 2008, 13 (16). 43

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Das Telefon abhören? Viktor winkt müde ab. Jedes Kind wisse um diese Ermittlungsmöglichkeiten und die Schmuggler wüssten sich zu behelfen, indem sie gleich mehrere SIM-Karten und Handys, die nicht registriert sein müssen, mit sich führen und diese oft austauschen. Und natürlich werden am Telefon Zigaretten nicht erwähnt, lässt sich doch zum Beispiel der Transport von Zigaretten der Marke Jin Ling herrlich mit „Zicklein abliefern“ codieren. 45 Wir nicken. Und wir versuchen ihm zu beschreiben, wie problematisch es ist, diese das durch Art. 10 GG geschützte Fernmeldegeheimnis verletzende verdeckte Ermittlungsmaßnahme nicht nur ausnahmsweise zum Schutz wichtiger Individualrechtsgüter einzusetzen, sondern sogar zur Sicherung bloßer staatlicher steuerlicher Anwartschaften zu gebrauchen, und dies nicht einmal näher zu thematisieren: Die Änderung von 2001 mit der kaum erkennbaren Nebenfolge geschah völlig unauffällig 46, angeblich einzig und allein der „Funktionseinheit“ zwischen Steuerhinterziehung und Geldwäsche zuliebe. 47 Unser Viktor nickt jetzt doch langsam ein. Strafprozessrecht! Jedoch sind wir jetzt nicht zu bremsen. Wir erinnern uns, wie der 5. Strafsenat des BGH diese raffinierte Konstruktion 2003 weitgehend zum Einsturz brachte, als er die Anwendbarkeit des §100a StPO wegen des Verdachts einer Straftat gemäß §261 StGB verneinte, wenn eine Verurteilung wegen Geldwäsche aufgrund der Vorrangklausel aus §261 Abs. 9 Satz 2 StGB nicht in Betracht zu ziehen war. 48 Wir denken weiterhin daran zurück, wie er sich dann aber sogleich bemühe, die gewerbsmäßig oder bandenmäßig betriebene Steuerhinterziehung systematisch in die unmittelbare Nähe der Organisierten Kriminalität zu rücken, was wiederum den Verdacht einer Tat nach §129 StGB nahelegt, 49 die als Katalogtat des §100a Satz 1 Nr. 1 Buchst. c StPO a.F. eine Telekommunikationsüberwachung unproblematisch ermöglichte. Aus der (abhörgeschützten) Zigarettenschmugglerbande sollte eine (abhörbare) Kriminelle Vereinigung werden. Wir belassen es bei dem Hinweis, dass dies ein im Hinblick auf Art. 10 GG zweifelhaftes Vorgehen gewesen sein dürfte. 50 Denn diese Hilfskonstruktion muss ohnehin nicht länger bemüht werden. Aufgrund heftiger Kritik am neu geschaffenen §370a AO 51 und vom BGH geäußerter Zweifel an seiner verfassungsgemäßen 45

Vgl. K.Hoffmann http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/Schwarzmarkt-Schmuggel ;art271,2604372. 46 Dazu Rüping / Ende DStrR 2008, 13 (15); s. auch J. Meyer in: Hund / Johnik / Wollburg DStR 2002, 879 (880). 47 Rüping / Ende DStrR 2008, 13 (14). 48 BGHSt 48, 240. 49 BGHSt 48, 240 (249ff.); als ein Beleg für diese Praxis vgl. auch BVerfG (Kammer) NStZ-RR 2008, 16. 50 Vgl. BFH NJW 2001, 2118 (2119). 51 Vgl. m.w.N. T.Winter, Die gewerbs- oder bandenmäßige Steuerhinterziehung gem. §370a AO, Hamburg 2005; Rüping / Ende DStrR 2008, 13 (14f.).

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Bestimmtheit 52 hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung vom 21.12.2007 53 die Vorschrift des §370a AO wieder aufgehoben. Er tat dies jedoch nicht, ohne den Verlust entsprechend zu kompensieren: Dafür wurde zunächst mit §370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO ein neues Regelbeispiel des besonders schweren Falles der Steuerhinterziehung eingeführt. Ein solcher liegt danach in der Regel auch vor, wenn der Täter „als Mitglied einer Bande [nicht etwa einer Kriminellen Vereinigung], die sich zur fortgesetzten Begehung von Taten nach Absatz 1 verbunden hat, Umsatz- oder Verbrauchssteuern verkürzt ...“ 54 Wieder aufgegeben wurde damit allerdings die Einordnung der genannten Delikte als Verbrechen, was aber nicht heißt, dass man sich auch von den damit verbundenen bereits beschriebenen Errungenschaften verabschiedet hätte: Die Steuerhinterziehung nach §370 AO wurde einfach als Vergehen in den Vortatenkatalog des §261 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 StGB aufgenommen und blieb somit als taugliche Vortat der Geldwäsche erhalten. Verzichtet wurde dann doch, allerdings auf das bisher in §370a AO enthaltene einschränkender Merkmal der Steuerverkürzung im „großen Ausmaß“. 55 Und um die Gerichte auch nicht länger mit den oben beschriebenen Auslegungskunststücken – Abhören von Steuerhinterziehern wegen Geldwäsche oder Bildung einer Kriminellen Vereinigung – zu belasten, wurde §100a StPO erweitert: 56 Der Anlasstatenkatalog, der zur Telekommunikationsüberwachung ermächtigt, ist nunmehr gleich um mehrere Regelungen der Abgabenordnung bereichert worden. 52

BGH NJW 2004, 2990. BGBl I, 3198, 3209. 54 Zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG (BGBl I, 3198) sind zudem die §§370ff. AO in wichtigen Punkten geändert worden: Gemäß §370 Abs. 3 Nr. 1 AO n.F. liegt in der Regel ein besonders schwerer Fall der Steuerhinterziehung bereits dann vor, wenn der Täter in großem Ausmaß Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt. Auf das bisher zusätzlich geforderte, aber schwer bestimmbare und sekundäre Merkmal des „groben Eigennutzes“ hat der Gesetzgeber – wohl der Einfachheit halber – verzichtet. Der Nachweis dieses als hemmungslosen Gewinnstrebens umschriebenen Beweggrundes war für das Gericht oft zu schwierig. Und auch §373 Abs. 4 AO n.F. i.V.m. §370 Abs. 6 Satz 1 AO wurde so umgestaltet, dass diesem nunmehr auch Einfuhrabgaben (Zoll, Einfuhr-Umsatzsteuer, Tabaksteuer) unterfallen, die von anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften verwaltet werden. Der Strafrahmen des gewerbsmäßigen oder bandenmäßigen Schmuggels gemäß §373 Abs. 1 AO n.F. wurde von drei Monaten bis fünf Jahren Freiheitsstrafe auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zehn Jahren erhöht. Der §374 Abs. 2 AO n.F. macht zudem in seinem neuen Wortlaut die bandenmäßigen Steuerhehlerei zur Qualifikation und sanktioniert diese mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren. 55 BReg BT-DrS 16/5846, 76. 56 Vgl. Leplow PStR 2008, S. 63ff. 53

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Aufgenommen sind in §100a Abs. 2 Nr. 2 StPO die Steuerhinterziehung unter den in §370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO genannten Voraussetzungen, der gewerbsmäßige, gewaltsame und bandenmäßige Schmuggel nach §373 AO sowie die Steuerhehlerei im Falle des §374 Abs. 2 AO. Dadurch solle das rechtliche Instrumentarium zur Aufklärung von Schmuggelstrukturen, insbesondere von Zigarettenschmuggel, 57 durch den Zollfahndungsdienst erheblich verbessert werden. 58 XI. Langsam nähern wir uns Warszawa und es wird Zeit, Viktor zu wecken und ihm „Do zobatshennya“ zu sagen. Viktor nimmt noch ein paar tiefe Lungenzüge aus seiner „Prima“, weiß er doch, dass ihn am Bahnhof Warszawa Centralna das freie Europa mit einer anderen Errungenschaft begrüßt: Hier herrscht absolutes Rauchverbot – und zwar ohne so putzige virtuelle Raucherkäfige, wie sie in Deutschland ausgerechnet in gelb auf die Bahnsteigböden gepinselt werden, vielleicht, um Nichtraucher virtuell zu schützen. 59 Für Raucher, die jetzt noch mit dem Berlin-Warszawa-Express (warum eigentlich nicht: Warszawa-Berlin-Express?) nach Pozna´n, Frankfurt (Oder) oder gar Berlin weiterfahren müssen, beginnt die Ankunft im „Raum der Freiheit“ mit etwas, was, wird es durch Polizisten und nicht durch Bahnbedienstete veranlasst, 57

BT-DrS 16/5846, 42. Um keine Zweifel an der Notwendigkeit der Erweiterung des Katalogs aus §100a StPO um Straftaten aus der Abgabenordnung aufkommen zu lassen, der sonst beispielhaft ausschließlich erhebliche Straftaten aufzählt (LG Hildesheim NdsRpfl 2008, 148), wird wiederum betont, dies ziele auf das Vorgehen gegen den organisierten Schmuggel, der in weiten Teilen unter Einsatz von Telekommunikationsmitteln durchführt wird, ab (BReg BT-DrS 16/5846, 42). Mehr noch, die Erweiterung des Katalogs um §374 Abs. 2 AO als Anlasstat stelle für den Gesetzgeber zudem eine notwendige Ergänzung dar, um der Nutzziehung aus der in §100a StPO genannten Steuerdelikten und damit auch der Finanzierung Organisierter Kriminalität den Boden zu entziehen (BReg BT-DrS 16/5846, 42). An dieser Stelle hat die Weitsicht den Gesetzgeber allerdings verlassen: Sofern sich dieses Argument auch auf die Abschöpfung illegal erwirtschafteter Mittel über §73 Abs. 1 Satz 1 StGB bezieht, läuft es aufgrund §73 Abs. 1 Satz 2 StGB der Steueranspruch des Fiskus als Verletztem entgegen (BGH NJW 2001, 693). Der wiederum kann – in Hinblick auf einen effektiven Grundrechtsschutz des Art. 10 GG (FG Düsseldorf EFG 2000, 1169) – seinen Steueranspruch aber nicht mit Erkenntnissen aus einer Telefonüberwachung nach §100a StPO begründen (BFH / NV 1994, 173; FG Düsseldorf PStR 2007, 227). Auch die Übernahme strafgerichtlicher Feststellungen im finanzgerichtlichen Verfahren scheitert, wenn die Feststellungen im Finanzverfahren – etwa aufgrund des Verwertungsverbots der Erkenntnisse aus der Telefonüberwachung im finanzgerichtlichen Verfahren – nicht nachvollziehbar sind (FG Düsseldorf PStR 2007, 227). 59 Die anderen Bahnhöfe folgen, siehe http://213.77.105.135/winfopolen/1_News/1 _Kurzinfo/2006_09_06.asp sowie http://213.77.105.135/winfopolen/1_News/1_Kurzinfo /2008/2008_03_16.asp. 58

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durchaus rechtlich als „Quälerei“ eingestuft werden kann 60: vollständigem Nikotinentzug. Viktor schüttelt den Kopf. Reine Schikane sei das. Bei einem Zug sei die totale Rauchfreiheit für Nichtraucher doch ohnehin viel einfacher als in einem selbst mehrräumigen Lokal zu garantieren. Man könne doch einfach einen warnschilddrappierten Raucherwaggon am Ende des Zuges anhängen. 61 Grinsend erzählt er, wie sich manchmal, vor allem morgens, wenn der Zug in Warszawa voll mit Ausstellern und Besuchern einer der großen Pozna´ner Messen ist, lange Schlangen vor den Toiletten mit Rauchern aufbauen, die das kleine Örtchen alsbald in eine Räucherkammer verwandeln – natürlich auch für Nichtraucher, die sich, von einem Bein auf das andere tretend, wohl oder übel in die Warteschlange anreihen mussten ... Er selbst werde jetzt jedenfalls auf einen langsameren Expresszug warten, da sei in Polen das Rauchen immer noch erlaubt. Die polnische Bahn (PKP) habe erklärt, man wolle die Raucher ja nicht „verschrecken“. 62 Warum denn die Westeuropäer da so rigide seien? Habe nicht Demokratie auch was mit Minderheitenschutz zu tun? Sei nicht Freiheit auch immer die Freiheit der Anderen? Wir kommen nicht mehr dazu, hierauf näher zu antworten, etwa, dass vielleicht in Wirklichkeit Nichtraucherschutz zumindest auch als Vorwand für missionarischen Eifer von Gesundheitspolitikern, Raucher vor sich selbst zu schützen, herhalten muss, 63 oder dass hier die auch woanders zu beobachtende rigide Regulierungswut der EU-Kommission eine Rolle spielen könnte, 64 und fragen Viktor nur kurz zurück, es seien doch in der Ukraine auch weitreichende Rauchverbote, 60

Siehe Diemer in KK-StPO, 6. Aufl. 2008, §136a Rn. 18 m.w.N. Was die Bundesregierung wohl auch für möglich hielt; es war die Deutsche Bahn, die vollständig rauchfreie Züge wünschte (siehe WirtschaftsWoche vom 28.02.2007 [http:/ /www.wiwo.de/politik/regierung-beschliesst-rauchverbot-in-zuegen-und-bundesbehoerde n-252026/ sowie http://www.focus.de/reisen/urlaubstipps/bahn_aid_55301.html]), nachdem sie seit den 1990er Jahren schon ihre Bahnsteige „rauchfrei“ machte – nicht mit dem Argument des Nichtraucherschutzes, sondern der Reinigungskosten wegen (vgl. http:/ /www.nichtraucherschutz.de/NRI/48/info024.html). 62 http://213.77.105.135/winfopolen/1_News/1_Kurzinfo/2006_09_06.asp. 63 „Die Bundesdrogenbeauftragte Sabine Bätzing rät den Ländern von weiteren Ausnahmeregelungen ab, die erste Bilanz der Rauchverbote fiel positiv aus. 15% der Raucher nahmen das Rauchverbot zu Anlass, das Rauchen aufzugeben“; Focus online vom 31.05.2008 (http://www.focus.de/gesundheit/diverses/gesundheit-bilanz-derrauchverbote-spricht-gegen-ausnahmen_aid_305412.html). „Nach Meinung des Ärzteverbandes Marburger Bund sind „70 krebserzeugende Stoffe im Zigarettenqualm 70 Gründe für ein Rauchverbot ohne Ausnahmen“. Sein Vorsitzender Frank Ulrich Montgomery sagte, in Deutschland stürben jährlich bis zu 140.000 Menschen an den Folgen des Tabakkonsums. Passivrauchen sei auch gefährlich. Beim Rauchverbot gehe es zudem um eine Verringerung der Folgekosten tabakrauchbedingter Krankheiten. Die Deutsche Krebshilfe äußerte sich ähnlich.“ WirtschaftsWoche vom 22.03.2007 (http:/ /www.wiwo.de/politik/weitgehendes-rauchverbot-mit-ausnahmen-232177/). 64 „EU-Gesundheitskommissar Markos Kyprianou fordert von Deutschland langfristig ein totales Rauchverbot. ‚Ein komplettes Rauchverbot ohne Ausnahmen ist die Lösung, 61

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Uwe Scheffler und Kamila Matthies

etwa für Gaststätten 65 und Nahverkehrszüge 66 in Kraft? Viktor, schon auf dem Bahnsteig stehend, dreht sich um und lächelt: Wisst Ihr, wir früheren Sowjetbürger reagieren im Allgemeinen schlecht auf eine Umerziehung seitens des Staates, was unseren Lebensstil angeht! Wir hasten zum Fahrkartenschalter, kommen erst im nikotinbewehrten BerlinWarszawa-Express zur Ruhe und amüsieren uns zunächst über den gewissen Widerspruch, haben wir doch im vorigen Zug beinahe wortwörtlich auf Bergen von Zigaretten gesessen. Und wir schütteln den Kopf darüber, dass die gleiche Politik, die durch die Errichtung eines eisigen Vorhanges an der einst von Stalin durchgesetzten Grenze quer durch Polen, mitten durch das alte Galizien rücksichtslos die dort noch oder schon wieder bestehenden sozialen und ökonomischen Strukturen zerstört hat, dort nun infolge eine rational schwer nachvollziehbare Tabaksteuergesetzgebung den Aufbau neuer sozioökonomischer Strukturen, freilich nun vor dem Hintergrund Organisierter Kriminalität, bewirkt. Beidseitig der Schengener Außengrenze stellt man sich darauf ein, vermehrt „Zicklein zu hüten“. Dass dies nun aber wiederum gleich ein willkommenes Argument für rechtsstaatliche Fragwürdigkeiten wie verdachtsunabhängige Personenkontrollen, Abhören des Fernmeldeverkehrs und „Fahrerhaftung“ liefert, macht uns eher besorgt und ärgerlich. Abschließend konstatieren wir, dass zwar unser „freies“ Europa nun nicht mehr an der Oder, dafür aber am Bug endet. Also: Was die Deutschen an (vermeintlicher) Freiheit dazugewonnen haben – Freizügigkeit nach Polen –, haben etwa die Ukrainer verloren. Andererseits: Sie haben ihre Freiheit vor der irrationalen Bekämpfung von Zigarettenrauchern und -schmugglern bewahrt. Freiheit vor Schleierfahndungen, Telefonbelauschungen und aufgemalten Raucherkäfigen. Irgendwie ist Viktor auch zu beneiden ...

die den effektivsten Gesundheitsschutz bietet, die meisten Anhänger hat und am einfachsten durchzusetzen ist‘“ sueddeutsche.de vom 24.02.2007 (http://www.sueddeutsche.de /politik/107/400889/text/) – „Der EU-Kommissar schloss eine eigene Gesetzesinitiative zur Durchsetzung eines EU-weiten Rauchverbots in Hotels, Gaststätten und anderen öffentlichen Räumen nicht aus. Er wolle zunächst aber eine Debatte über das Thema anstoßen“ sueddeutsche.de vom 30.01.2007 (http://www.sueddeutsche.de/politik/717/356545/text/). 65 Vgl. http://www.polen.travel/de/Artykuly/informacje_praktyczne-de/przepisy_i_reg uly/uzywki/pot_category_view. 66 Vgl. http://www.ua-guide.com/article/Reisen/368/ oder http://www.outdoorukraine .com/content/view/84/32/lang,de/.

Ein Kampf ums europäische Strafrecht – Rückblick und Ausblick Bernd Schünemann I. Das Institut des EU-Rahmenbeschlusses als Sackgasse der Europäisierung 1. Mit Andrzej Szwarc, dem verehrten Jubilar, verbindet mich seit langem ein „Kampf ums Strafrecht“, den wir Seite an Seite vor allem auf drei heftig umstrittenen Feldern geführt haben: um die strafrechtlichen Probleme von AIDS 1, um die Bewahrung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens angesichts der von der Justiz selbst angeführten Revolution der Strafverfahrensstruktur durch die Urteilsabsprachen 2 und schließlich um die Bewahrung der seit der Aufklärung mühsam durchgesetzten liberalen Strafrechtsprinzipien im Zeitalter der Europäisierung 3. Das letztgenannte Schlachtfeld hat vor etwas mehr als 10 Jahren noch nicht einmal existiert, zählt heute aber zu den gravierendsten Problemen in der Entwicklung der Europäischen Union. Denn erst im Vertrag von Amsterdam, der 1997 abgeschlossen wurde und 1999 in Kraft getreten ist 4, wurde dem Rat der Europäischen Union jene Kompetenz verliehen, die zur Schaffung eines ausgedehnten europäischen 1

Bei mir zieht sich die Beschäftigung mit den Rechts- und Strafrechtsproblemen von AIDS von dem Sammelband Schünemann / Pfeiffer, Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988 (mein eigener Beitrag auf S. 373 –509 beruhend auf dem Mannheimer Symposium von 1987) bis zur Festschriftf. Eser, 2005, S. 1141ff. Der Jubilar hat zunächst in Polen den grundlegenden Sammelband „Prawne problemy AIDS“, 1990 herausgegeben und sodann auf der Grundlage des Internationalen Symposiums „AIDS und Strafrecht“ in Posen 1994 den Sammelband „AIDS und Strafrecht“, 1996. 2 Als pars pro toto unserer Jahrezehnte langen und bis heute immer weiter ausgebauten Beschäftigung mit dem Thema: Schünemann, Absprachen im Strafverfahren?, Gutachten zum 58. DJT 1990; ders., Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur, 2005; Szwarc (Hrsg.), Porozumiewanie sie˛ i uzgadnianie rozstrzygnie˛`c przez usczestników poste˛powania karnego, 1993. 3 Auch hier wieder pars pro toto: Der Jubilar und ich haben gemeinsam in dem von ihm herausgegebenen Sammelband Joerden / Szwarc, Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – Rechtsstaatliche Grundlagen, 2007, S. 265ff., 349ff. sowie in dem von mir herausgegebenen Sammelband „Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege“, 2006, S. 61ff., 93ff., 181ff. konstruktiv-kritische Vorschläge zur Entwicklung eines rechtsstaatlichen europäischen Strafrechts publiziert. 4 ABl. EU, C340 vom 10. November 1997.

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Strafrechts führen konnte: nämlich durch das Institut des Rahmenbeschlusses, der nach Art. 34 Abs. 2 Buchstabe b EUV zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten von den im Rat vereinigten Regierungen angenommen werden kann und der für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich sein soll. Nach Art. 31 EUV soll sich dies auf die Erleichterung und Beschleunigung der Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden bei Gerichtsverfahren und der Vollstreckung von Entscheidungen, die Erleichterung der Auslieferung, die Gewährleistung der Vereinbarkeit der jeweils geltenden Vorschriften der Mitgliedstaaten untereinander, die Vermeidung von Kompetenzkonflikten und die schrittweise Annahme von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in den Bereichen der organisierten Kriminalität, des Terrorismus und des illegalen Drogenhandels erstrecken – fürwahr ein weites Feld. 2. Hiervon hat der Rat in den vergangenen 9 Jahren einen geradezu extremen Gebrauch gemacht, wobei ich die zahlreichen Rahmenbeschlüsse auf dem Gebiet des Strafverfahrens beiseite lasse und mich auf das materielle Strafrecht beschränke. Ich nenne exemplarisch die Rahmenbeschlüsse zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln (28.5.2001), zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor (22.7.2003), über Geldwäsche und anderes (26.6.2001), zur Terrorismusbekämpfung (13.6.2002), zur Bekämpfung des Menschenhandels (19.7.2002), zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie (22.12.2003), betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (28.11.2002), zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen illegalen Drogenhandels (25.10.2004), über Angriffe auf Informationssysteme, die sog. Computerkriminalität (24.2.2005), und über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht (27.1.2003). Weitere Rahmenbeschlüsse wie etwa derjenige zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind soeben ergangen (28. 11. 2008) oder stehen unmittelbar bevor. 3. Wenn man sich den Inhalt der Rahmenbeschlüsse genau ansieht, so stellt man fest, dass sie nicht etwa nur ganz allgemein Ziele vorgeben, sondern diese so detailliert festlegen, dass den einzelnen Mitgliedstaaten bei der Durchführung nicht mehr ein großer freier Rahmen, sondern im Grunde nur noch ein Spalt übrigbleibt, den man mit einer Schießscharte vergleichen könnte. Die eigentliche gesetzgeberische Entscheidung trifft deshalb schon der Rahmenbeschluss, und die Parlamente der Mitgliedstaaten fühlen sich bei dessen Durchführung auch nur noch wie Lakaien von Brüssel, die eine ihnen gegebene Anweisung durch die Gesetze der einzelnen Mitgliedstaaten für den Bürger endgültig verbindlich machen 5.

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4. Es hat einige Jahre gedauert, bis die europäische Strafrechtswissenschaft begriffen hatte, was hier unter der harmlosen Bezeichnung als „Rahmenbeschluss“ bewirkt worden war: nämlich die Zurück-Katapultierung des rechtsstaatlichen und demokratischen Niveaus des Strafrechts um ungefähr zwei Jahrhunderte. Das Strafrecht trennt den Bürger vom Verbrecher, den freien Menschen von der wie in einem Käfig gehaltenen Kreatur. Aus diesem Grunde ist im Zeitalter der Aufklärung gefordert und in der liberalen und demokratischen Reformbewegung Europas für alle Rechtsstaaten durchgesetzt worden, dass niemand bestraft werden kann, wenn nicht die Strafbarkeit von dem demokratisch legitimierten Parlament in einem förmlichen Strafgesetz vorher festgelegt worden ist 6. Hierzu gehört selbstverständlich, wie es in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG für jeden einzelnen Abgeordneten und damit erst recht für das ganze Parlament formuliert ist, dass sie Vertreter des ganzen Volkes sind, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Dieses demokratische Prinzip ist in Art. 79 Abs. 3 GG für unveränderlich erklärt worden, und in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG ist wiederum niedergelegt worden, dass auch im Rahmen des Beitritts Deutschlands zur Europäischen Union keine Veränderung erfolgen darf. Selbst in denjenigen Mitgliedstaaten, die derartige ausdrückliche Vorschriften in ihrer Verfassung nicht besitzen, folgt aber aus den Minimalbedingungen der Demokratie, dass nur solche Akte wahrhafte Gesetzgebungsentscheidungen des Parlaments darstellen, bei denen dieses in souveräner Freiheit entschieden hat. Daraus folgt logisch zwangsläufig, dass ein Rahmenbeschluss, der ja von Ministern und damit von Regierungsvertretern gefasst wird, niemals die einzelstaatlichen Parlamente binden kann. Die Ratifikation des Vertrages von Amsterdam durch die Parlamente der Mitgliedstaaten 7 ist also in dem das Gegenteil proklamierenden Punkt des Art. 34 Abs. 2 EUV von Anfang an unheilbar nichtig und unwirksam gewesen. Für die gleichwohl ergangenen einzelnen Gesetzgebungsakte der nationalen Parlamente kann nichts anderes gelten, eben weil diese sich hierbei nicht als souveräne Parlamente, sondern als „Lakaien von Brüssel“ 8 gefühlt und also nicht in Wahrnehmung ihrer demokratischen Legitimation gehandelt haben. 5. Auch wenn wir als Juristen gelernt haben, dass ein Rechtsstandpunkt fast nie eindeutig ist und dass so gut wie alles im Schrifttum umstritten ist, ist die 5 So erklärte der Abgeordnete Kauder in der mündlichen Verhandlung vor dem BVerfG: „(...) für mich stand fest, er ist bindend, muss umgesetzt werden, und wenn es eins zu eins ist, kann ich meine Bedenken zurückstellen“, und sah dabei keine Spielräume (zit. nach Schorkopf , Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht, 2006, S. 243, 245); der Abgeordnete Ströbele fühlte sich bei der Abstimmung „normativ unfrei“ (ebenda, S. 247). 6 Vgl. nur m.z.w.N. Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 95f., 131f.; Lüderssen, GA 2003, 71 ff.; BVerfGE 85, 69, 72 f.; 87, 363, 391 f.; 87, 399, 411. 7 In Deutschland durch Gesetz vom 2.10.1997 (BGBl. 1998 II S. 386). 8 Diesen Ausdruck habe ich erstmals in StV 2003, 531 geprägt. Wer das anstößig findet, sollte bedenken, dass nicht der Ausdruck, sondern die damit bezeichnete Realität anstößig ist.

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Nichtigkeit der dem Rahmenbeschluss im Vertrag von Amsterdam zuerkannten Bindungswirkung für die nationalen Parlamente meines Erachtens zwingend. Aber wie kann man dann die entgegengesetzte Praxis des europäischen Rates, den Gehorsam der die Rahmenbeschlüsse vollziehenden Parlamente der Mitgliedstaaten und auch die Judikatur des Europäischen Gerichtshofes erklären, der in keinem seiner Urteile zu einem Rahmenbeschluss Bedenken wegen dessen fehlender demokratischer Legitimation geäußert hat – von der Zurückhaltung der Standarddarstellungen des europäischen Strafrechts 9 ganz zu schweigen? a) Die Erklärung liegt in meinen Augen sowohl auf machtpolitischem als auch auf wissenssoziologischem Gebiet. Europa ist von Anfang an eine Schöpfung der Regierungen gewesen, die sich in vielen Ländern, vor allem auch in Deutschland, darauf verlassen konnten, dass das Bekenntnis zu Europa geradezu eine Frage der political correctness war. In Deutschland sind deshalb alle europäischen Verträge mit Mehrheiten ratifiziert worden, die sonst nur früher in der DDR erreicht und dann übrigens aus westdeutscher Sicht als Beweis für eine Scheindemokratie angesehen wurden. Die Staatsrechtslehrer haben diese Praxis alsbald theoretisch legitimiert und die zu ihr passenden Begriffe entwickelt, etwa die „Mehrebenendemokratie“ oder die „gubernative Gesetzgebung“ 10. Dass das Strafrecht qualifizierte demokratische Legitimationsanforderungen stellt und dass diese Anforderungen sogar an der Wiege des demokratisch-liberalen Rechtsstaates des 19. Jahrhunderts gestanden haben, war den Vertretern des Öffentlichen Rechts offenbar nicht mehr bewusst. Die Strafrechtswissenschaftler wiederum haben in ihrer überwältigenden Mehrheit die im Vertrag von Amsterdam vorgenommene Revolution in der Kompetenz zur Normsetzung auf dem Gebiet des Strafrechts zunächst in ihrer Dimension nicht erkannt. Nur einige wenige Europaspezialisten, die aber Parteigänger einer noch rascheren Europäisierung des Strafrechts waren, hatten die Entwicklung wohlwollend kommentiert sowie in Gestalt des sog. „Corpus 9

Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 2008, §11 Rn. 4 plädiert (immerhin) für einen „nationalen Souveränitätsvorbehalt“, während er sich bzgl. der demokratischen Defizite mit den (bei Rahmenbeschlüssen aber fehlenden und außerdem fragmentarischen!) „Mitentscheidungsbefugnissen“ des Europ. Parlaments tröstet; Hecker, Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2007, sieht in §4 Rn. 39 Bedenken, zieht die Grenze aber letztlich erst beim Subsidiaritätsvorbehalt, §8 Rdn. 44ff.; Satzger, Internationales und europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2008, §8 Rn. 33, 53 problematisiert die Frage nicht und sieht nur ein Bedürfnis für die Bewahrung nationaler Eigenheiten, ibid. §8 Rdn. 7f. 10 Zur „Mehrebenendemokratie“ vgl. Brunkhorst / Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie, 2000; Hiebaum, Politische Vergemeinschaftung unter Globalisierungsbedingungen, 1997; Zürn, PVS 37 (1996), 27ff.; Jachtenfuchs / Kohler-Koch, in: dies. (Hrsg.), Europäische Integration, 1996, S. 15ff.; Schuppert, in: Heyde / Schaber (Hrsg.), Demokratisches Regieren in Europa?, 2000, S. 65, 75f.; Vogel, ZStW 116 (2004), 400f. Programmatisch zur „gubernativen Rechtsetzung“ die gleichnamige Monographie von v.Bogdandy (2000), in der das Strafrecht aber bezeichnenderweise überhaupt nicht vorkommt. Ohne Beachtung der demokratischen Voraussetzungen speziell der Strafgesetzgebung auch Tiedtke, Demokratie in der Europäischen Union, 2005.

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Juris“ weiter inspiriert 11. Und in den dickleibigen Monographien über die Europäisierung des Strafrechts mit ihren zahlreichen klugen Analysen zu Detailfragen wurde gewissermaßen der Wald vor Bäumen nicht gesehen oder zumindest die im Strafrecht gebotene Fundamentalopposition gegen eine gubernative Rechtsetzung nicht riskiert 12: Wenn sich die von allen am tiefsten schürfende Analyse Satzgers letztlich damit beruhigt, dass es eine „hinreichende demokratische Legitimationsgrundlage“ durch das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente gebe (S. 132), so fehlt die erstere bei den Rahmenbeschlüssen vollständig, während die letztere durch die nationalen Parlamente als gebundene „Lakaien von Brüssel“ ja nur grimassiert, aber nicht wirklich geleistet werden kann. Und sein weiteres Argument, auf Gemeinschaftsebene beschränkten sich die Anforderungen an die demokratische Legitimierung auf Minimalforderungen (S. 454), ist ein bloßer Zirkelschluss, weil es nach deutschem Verfassungsrecht ja gerade darum geht, dass wegen der „Ewigkeitsgarantie“ des Art 79 Abs. 3 GG die Strafgesetzgebung auf ein solches „minimal demokratisches“ Machtkonglomerat überhaupt nicht wirksam übertragen werden konnte. Die unerlässliche demokratische Legitimation der Strafgesetzgebung ruht deshalb in Deutschland auf der den Ratsbeschlüssen vorangehenden Zusammenarbeit von Bundestag und -regierung gem. Art. 23 Abs. 3 GG, deren Regelung im EUZBBG – das muss ausdrücklich anerkannt werden – 2006 verbessert worden ist. 13 Aber erstens verbleibt auch hiernach der Bundesregierung ein Letztentscheidungsspielraum und damit die Souveränität, und zweitens bleiben die danach üblichen Ausschussberatungen gem. § 93b GOBT hinter der notwendigen demokratischen Publizität des Gesetzgebungsverfahrens (s.u. II.2.) erheblich zurück. b) Als Ende der Neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die Gegenbewegung in der Strafrechtswissenschaft einsetzte 14, eine von mir entworfene Protestresolu11 Nachw. b. Schünemann, GA 2002, 512 Fn. 57f. Besondere Marksteine bilden die Gründung der „Deutschen Vereinigung für Europäisches Strafrecht e.V.“ durch Sieber im Jahre 1991 (darüber Sieber – Hrsg. –, Europäische Einigung und europäisches Strafrecht, 1992) und die Vorlage des „Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union“ 1996 (dazu Delmas-Marty – Hrsg. –, Corpus Juris pp., 1998; Delmas-Marty / Vervaele – eds. –, The Implementation of the Corpus Juris in the Member States, Vol. I – IV, Antwerpen / Groningen / Oxford 2000/01). 12 Die gründlichste Auseinandersetzung mit den verfassungsrechtlichen Bedenken einer EU-Kompetenz zur Rechtsetzung auf dem Gebiet des Strafrechts findet sich bei Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 110 –133 und 451 –473, während Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, 2002, S. 128f., mit seinem bloßen Hinweis auf die Verträge von Maastricht und Amsterdam dem sogleich noch im Text notierten Zirkelschluss aufsitzt, mit dem Vorwurf der „Kurzatmigkeit“ ausgerechnet gegenüber den Forderungen der demokratischen Legitimation einem Missverständnis erliegt und bei seiner auch bei anderen Autoren nachgeredeten These von der mittelbaren demokratischen Legitimation des Rates gar nicht merkt, dass das Gebot der lex parlamentaria ja gerade im Strafrecht die Gewaltenhäufung durch eine gesetzgebende Exekutive verbietet. 13 EUZBBG idF v. 17. 11. 2005, BGBl I 3178, sowie EUZBBGVbg idF ab 30. 9. 2006, BGBl I 2177.

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tion von über 80 deutschen Strafrechtsprofessoren verabschiedet 15 und die Kritik auf der Dresdener Strafrechtslehrertagung umfassend vorgetragen wurde 16, war es offenbar bereits zu spät. Die europäische Machtpolitik ließ sich nicht mehr aufhalten. c) Zwar schien zunächst das BVerfG in seinem Verfahren zum Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl die fehlende demokratische Legitimation des europäischen Rates erkannt zu haben 17, wich dann aber in seinem Urteil vom 18.7.2005 einer klaren Stellungnahme aus. Es hat zwar das deutsche Ausführungsgesetz für nichtig erklärt und auch festgestellt, dass der Bundestag darüber in „normativer Freiheit“ die letzte Entscheidung treffen müsse 18. In nicht aufgeklärtem Widerspruch hierzu wurde aber an anderer Stelle des Urteils die Bindungswirkung eines Rahmenbeschlusses ausdrücklich bejaht 19. Und der EuGH hat in seinen einschlägigen Entscheidungen die Legitimationsprobleme mit keinem Wort angesprochen 20, was mich deswegen nicht weiter überrascht, weil er selbst seit langem Kompetenzen usurpiert hat, die nicht einmal zum Bruchteil von der begrenzten demokratischen Legitimation dieses Gerichts gedeckt werden 21. Denn 14 Grdl. bereits Sieber, ZStW 103 (1991), 969; ders., in: Schünemann / Suárez González, Bausteine des europäischen Wirtschaftsstrafrechts, 1994, S. 349, 357f.; Moll, Europäisches Strafrecht durch nationale Blankettstrafgesetzgebung?, 1998, S. 201ff., 270ff.; w.N.b. Schünemann, GA 2002, 513, 516 in Fn. 62, 69. 15 Abgedruckt bei Schünemann, GA 2002, 515f. 16 Auf 200 Seiten vorgetragen von Weigend, Hassemer, Wasmeier, Bacigalupo, Nestler, Gleß, Fuchs, Guzik-Makaruk, Schünemann, Vogel, Buruma, Militello, Rückblick von Kreß, ZStW 116 (2004), 275 –474, wobei die Basis der Diskussionen vor allem von zwei Entwürfen gebildet wurde, dem (später gescheiterten) Entwurf des Vertrages über eine Verfassung für Europa und dem „Alternativentwurf europäische Strafverfolgung“ (Hrsg. v. Schünemann, 2004; den Dresdener Diskussionen lag eine Arbeitsfassung zugrunde.). 17 Erkennbar an der für die zweitägigen Beratungen vom Senatsvorsitzenden und BVerfG-Vizepräsidenten Hassemer aufgestellten Tagesordnung, abgedruckt bei Schorkopf (Fn. 5), S. 142f. 18 BVerfGE 113, 273, 315. 19 A.a.O. S. 300, 306, wo von den „bindenden Zielen des Rahmenbeschlusses“ die Rede ist. 20 Urteil vom 16.06.2005, Rs. C-105/03 (Pupino), EuGRZ 2005, 380 = EuZW 2005, 433 (m. Anm. Herrmann) = NJW 2005, 2839; Urteil vom 13.09.2005, Rs. C-176/03 (Umweltstrafrecht), EuGRZ 2005, 700 = EuZW 2005, 632; Urteil vom 23.10.2007, Rs. C-440/05 (Meeresverschmutzung), EuGRZ 2007, 696; und zuletzt zum europäischen Haftbefehl auf Vorlage des belgischen Schiedshofes, EuGH-Urteil vom 3.5.2007, Rs. C303/05, EuGRZ 2007, 273, mit Rezension von Braum, wistra 2007, 401ff. 21 Zu der inzwischen landläufigen Kritik, dass der EuGH ohne jede Bindung an die traditionelle juristische Methodenlehre judiziert, siehe Jahn, NJW 2008, 1788; Hailbronner, NJW 2004, 2185, 2187; Stein, EuZW 2007, 54, 56; Brenner, DAR 2008, 627, 632; besonders scharf Herzog / Gerken, FAZ Nr. 210 v. 8.9.2008, S. 8. Weil jede Gerichtsentscheidung, die nicht vollständig rechtswissenschaftlich legitimierbar ist, einen politischen Machtspruch darstellt, der ohne demokratische Basis Willkür bedeutet, ist die Judikatur des EuGH wie

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die Richter des EuGH wurden von den Regierungen der Mitgliedstaaten über Jahrzehnte auf völlig ungeregelte und unterschiedliche, also kurz gesagt: auf willkürliche Weise bestimmt. Besonders grotesk übrigens in Deutschland, wo dieses hohe Amt nach den Regeln der Beutedemokratie wechselseitig einer der führenden beiden großen Parteien zustand und dann nach Opportunität permanent wechselnd besetzt wurde 22. Dass ein derart schwach legitimiertes Gericht sich selbst ganz offen als Motor der Europäisierung verstehen und weit über alle herkömmlichen Auslegungsmethoden hinaus immer weitere Europäisierungssprünge dekretieren konnte 23, belegt einmal mehr meine eingangs getroffene Feststellung, dass die Europäischen Gemeinschaften durchweg von oben geschaffen worden sind und sich um die Akzeptanz bei der Bevölkerung niemals große Sorgen machen mussten, weil kein Mitglied der politischen Eliten gewagt hätte, europakritisch zu sein und durch eine derartige Verletzung der political correctness die eigene Karriere aufs Spiel zu setzen. 6. Die bisherige Praxis der Europäisierung des Strafrechts ist also eine Machtusurpation des Rates und muss schon deshalb als eine Sackgasse bezeichnet werden, die sich die politische Ohnmacht des demokratischen Gedankens gegenüber der Idee der Europäisierung zu Nutze gemacht hat. Aber selbst wenn man geneigt sein sollte, diese die Rechtsetzungskompetenz betreffenden Bedenken zu ignorieren, so dürfte man doch nicht vor den großen inhaltlichen Gebrechen der von mir zitierten Rahmenbeschlüsse und der ganzen Tendenz dieser Art der Setzung von Strafrecht die Augen verschließen. Nach Art. 31 Abs. 1 Buchstabe e EUV geht es hier durchweg um die „Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen“, also explizit um die europaweite Durchsetzung eines möglichst scharfen Strafrechts. Dass damit für die keines anderen Gerichts auf jene demokratische Legitimation angewiesen, die ihm so vollständig abgeht und um die er sich in seiner (die in der Bevölkerung herrschende Europäisierungsskepsis ignorierenden) Judikatur auch um keinen Deut schert. 22 Vgl. Mähner, Der europäische Gerichtshof als Gericht, 2005; Balders / Hanensack, ZRP 2006, 54; Siebert, Die Auswahl der Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 97f.; Pieper, Verfassungsrichterwahlen, 1999, 64; Schubarth, FSf. Drexl, 2002, S. 102; P.-A. Albrecht, KritV 2008, 39, 51f. Wenn es nunmehr im Gesetzesentwurf des Bundesrates (!) vom 10.2.2006 euphemistisch heißt, dass die Auswahl der deutschen Richter ... an den Gerichten der Europäischen Union ... bislang nicht nach einem gesetzlich geregelten Verfahren erfolge, sondern allein von der Bundesregierung vorgenommen werde, und dass dieses exekutivische und intransparente Verfahren der Bedeutung dieser Ämter nicht gerecht werde (BT-Dr 16/1038, S. 1), so wird ungeachtet dieser Beschönigung eingestanden, dass es sich bei dem deutschen Mitglied des EuGH bis heute nicht einmal um einen „gesetzlichen Richter“ handelt, geschweige denn, dass er mehr demokratische Legitimation vorzuweisen hätte, als dass seine Auswahl gerade dem jeweiligen Parteienproporz der Bundesrepublik entspricht. 23 Wegener, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV-Kommentar, 3. Aufl. 2007, Art. 220 EGV Rn. 17ff.; krit. Huber, in: Streinz, EUV / EGV, Art. 220 EGV Rn. 5; s. auch Pernice / Mayer, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union/3 (Stand 2002), Art. 220 EGV Rn. 31.

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den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, wie sich die Europäische Union schon heute in Art. 2 EUV definiert, ein illiberales und durch und durch punitives Strafrecht geschaffen wird und dass dadurch die Resultate einer seit dem Zeitalter der Aufklärung geführten, 250-jährigen Auseinandersetzung um Legitimation und Grenzen des Strafrechts tendenziell rückgängig gemacht werden, liegt bei der einseitigen Tendenz der Festsetzung von Mindestvorschriften auf der Hand. Denn ein ausgewogenes Strafrecht, das dessen Aufgabe und Grenzen als ultima ratio zum Rechtsgüterschutz 24 wirklich ernst nimmt, kann nur gefunden werden, wenn man die untere und die obere Grenze zugleich in den Blick nimmt. Dass der Rat der EU bei der Festlegung von Mindestvorschriften auch ganz eindeutig eine scharfe Ausdehnung des Strafrechts im Sinn hat, zeigen beispielsweise die Rahmenbeschlüsse zur privaten Korruption und zur Geldwäsche, die die Strafbarkeit deutlich über den notwendigen und angemessenen Bereich hinaus ausgedehnt haben 25. Zu dieser sonderbaren Einseitigkeit der in den Rahmenbeschlüssen vorgesehenen Kompetenz zur Strafrechtssetzung lässt sich auch nicht etwa als Begründung anführen, dass die Strafgesetzgebung deshalb nicht allgemein vereinheitlicht werden könne, weil das Strafrecht wie kein anderes Rechtsgebiet von nationalen Eigentümlichkeiten und Traditionen gekennzeichnet sei. Mit diesem Argument, das man nicht selten zu lesen bekommt 26, werden aber volkstümliche Traditionen nach Art des Schottenrocks und Dudelsacks in Schottland, des Stierkampfes in Spanien oder der Weißwurst in Bayern mit den rechtsstaatlichen Fundamentalprinzipien des Strafrechts verwechselt, die seit der Aufklärung in allen Staaten 24 Siehe nur Roxin, Strafrecht AT I, §2 Rn. 97ff.; ders., in: Hefendehl (Hrsg.), Schünemann-Symposium, 2005, S. 135ff.; Hefendehl, GA 2007, 1 ff.; zu meinem eigenen Standpunkt Schünemann, in: Hefendehl / v. Hirsch / Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 133ff.; ders., in: v.Hirsch / Seelmann / Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles, 2006, S. 18ff. Auf die zw. Inzest-Entscheidung BVerfG NJW 2008, 1137 ff. kann hier nicht eingegangen werden, zur Kritik s. Hörnle, NJW 2008, 2085 ff.; Greco, ZIS 2008, 234 ff. 25 Zur privaten Korruption verlangt der Rahmenbeschluss vom 22.7.2003 (ABlEG Nr. L192 v.31.7.2003), dass auch außerhalb von Wettbewerbsbeeinträchtigungen allein die „Pflichtverletzung des Angestellten“ ausreicht, was durch den Gesetzesentwurf vom 4.10.2007 (BT-Dr 16/6558) im deutschen Recht als zweite Tatbestandsalternative von §299 Abs. 1 StGB realisiert werden soll. Dass diese Gleichstellung mit der Korruption staatlicher Amtsträger zu weit reicht, haben Rönnau / Golombek, ZRP 2007, 193ff., überzeugend nachgewiesen. Entgegen LK / Tiedemann, 12. Aufl., §299 Rdn. 72, geht es bei der weiteren Gesetzesberatung auch nicht um „die Erfüllung internationaler Verpflichtungen ... aus dem EU-Rahmenbeschluss“, weil nach meinen obigen Überlegungen diese Verbindlichkeit im deutschen Verfassungsrecht gerade nicht existiert. Zur Kritik des §261 StGB, der auf immer weiter verschärften Geldwäscherichtlinien der EG beruht (zuletzt die 3. Geldwäscherichtlinie 2005/60/EG des Europaparlaments und des Rates vom 26.10.2005 [ABl. EU Nr. L309, 15]), durchschlagend Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, Rdn. 4 b – 4 e. 26 Vgl. zu diesem „nationalen Kulturvorbehalt“ bereits Jung / Schroth GA 1983, 241, 242f.; Jung, StV 1990, 509, 512; Sieber, ZStW 103 (1991), 957, 963; Rüter, ZStW 105 (1993), 30, 41; Weigend, ibid., 774, 786ff.; Zieschang, ZStW 113 (2001), 255, 265, 270.

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Europas herausgearbeitet worden sind und denen die skurrile Beliebigkeit regionaler Traditionen nicht genügen kann. II. EG-Richtlinien oder die Gesetzgebung nach Lissabon als Heilmittel? 1. Den vorläufigen Abschluss in der juristischen Fehlentwicklung Europas, der allerdings paradoxerweise zugleich in die Praxis der weiteren Europäisierung eine starke Verzögerung hineingebracht hat, hat der EuGH vor drei Jahren in seinem Urteil vom 13.9.2005 zum Rahmenbeschluss über das Umweltstrafrecht gesetzt 27. Entgegen der historisch und teleologisch eindeutigen Regelung der europäischen Verträge, die eine supranationale Rechtssetzung durch die EG im Strafrecht gerade nicht ermöglichen wollten, hat der EuGH darin eine strafrechtliche Annexkompetenz der EG proklamiert, weil die im EG-Vertrag vergemeinschafteten Politikfelder im Falle der Notwendigkeit für die Erreichung der europäischen Ziele auch das Instrument des Strafrechts einschlössen. Der vom Rat der EU beschlossene Rahmenbeschluss über das Umweltstrafrecht ist deshalb wegen Übergriffs in die entsprechende Richtlinienkompetenz der EG für nichtig erklärt worden. Dadurch ist aber in politischer Hinsicht eine fast absurde Situation entstanden. Die Europäische Kommission als Organ der EG hat alsbald eine Liste der Rahmenbeschlüsse aufgestellt, durch die sie sich in ihrer Kompetenz verletzt fühlt 28; und auf ihre Klage hin ist auch schon ein weiterer Rahmenbeschluss, nämlich derjenige zur Bekämpfung der Meeresverschmutzung, vom EuGH für nichtig erklärt worden 29. Die in gehorsamer Befolgung der Rahmenbeschlüsse erlassenen Gesetze der einzelnen Mitgliedstaaten bleiben aber nach h. M. gleichwohl in Kraft, obwohl ihre Basis weggefallen ist. Wie sollen die Bürger so etwas verstehen? Und wie soll es mit der Europäisierung des Strafrechts weitergehen? 2. Zwar steht innerhalb der EG das Instrument der Richtlinie bereit 30. Aber diese soll nach der letztgenannten Entscheidung des EuGH keine Festsetzungen zum Strafrahmen enthalten dürfen, kann also eine europaweite Harmonisierung nur teilweise leisten. Das demokratische Defizit der Rahmenbeschlüsse wird zwar bei Richtlinien der EG etwas geringer, weil hier das Europäische Parlament mitwirkt 31. 27 Nachw. o. in Fn. 19; zur Kritik vgl. Hefendehl, in: Joerden / Szwarc (o. Fn. 3), S. 41ff. und ZIS 2006, 161ff.; Heger, JZ 2006, 310, 312f.; Braum, wistra 2006, 123, 124; zurückhaltender Wegener / Greenawalt, ZUR 2005, 585, 587f.; Kubiciel, NStZ 2007, 136, 138f. 28 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Folgen des Urteils des Gerichtshofs vom 13.9.2005, KOM (2005) 583 endgültig/2 vom 24.11.2005. 29 Nachw. o. Fn. 19. 30 Art. 249 Abs. 3 EGV. 31 Art. 249 Abs. 1, 251 EGV.

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Und falls der Vertrag von Lissabon jemals in Kraft treten sollte, würde es noch etwas besser. Denn darin wird ja die Unterscheidung zwischen der supranationalen EG und der inter-gouvernementalen EU aufgegeben. Nach Art. 83 AEUV sollen zukünftig Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen durch von Europäischem Parlament und Rat nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gemeinsam beschlossene Richtlinien erlassen werden. Es ist nicht zu bezweifeln, dass die demokratische Legitimation für die Vereinheitlichung des europäischen Strafrechts hierdurch gegenüber der geltenden Vertragslage wesentlich verbessert würde, weil dann, anders als bei den Rahmenbeschlüssen, das Europäische Parlament entsprechend Art. 289, 294 AEUV in den Gesetzgebungsprozess als gleichberechtigter Partner eingeschlossen sein wird. Aber der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit wird für das Europäische Parlament weiterhin nicht vollständig verwirklicht sein, weil gem. Art. 14 Abs. 2 EUVLissabon die Zahl der Abgeordneten auf 750 und die eines einzelnen Mitgliedstaates auf 96 beschränkt ist, was sich eo ipso zum Nachteil des bevölkerungsreichsten Mitgliedstaates auswirkt 32. Außerdem geht es nicht nur um die formale Wahlrechtsgleichheit, sondern auch um ein in der politischen Wissenschaft unbestrittenes, sozusagen organisches Demokratiedefizit der Europäischen Union wegen der auf absehbare Zeit nicht zu behebenden Nichtexistenz einer einheitlichen europäischen Öffentlichkeit. Es ist ja gerade die entscheidende Anteilnahme der Öffentlichkeit am Gesetzgebungsprozess im Unterschied zu den prinzipiell geheim ablaufenden gubernativen Prozessen, die von den Apologeten der gubernativen Rechtssetzung beiseite gelassen wird, die aber als integraler Bestandteil einer wahrhaft demokratischen Gesetzgebung jedenfalls im Strafrecht unverzichtbar ist 33. Ebenso wie die materielle demokratische Substanz von Entscheidungen des Europäischen Parlaments signifikant über derjenigen von Rahmenbeschlüssen des Europäischen Rates liegt, liegt sie unter derjenigen eines nationalen Parlaments, das seine Beschlüsse vor der lebendigen demokratischen Öffentlichkeit rechtfertigen muss und deshalb auch nur in direkter Auseinandersetzung mit dieser zustande bringen kann. 3. Politisch nicht weniger wichtig ist die seit der enormen Vergrößerung der EU gleichermaßen gewachsene Schwierigkeit, in dem komplizierten Gesetzgebungsverfahren zum Erlass von Richtlinien überhaupt noch zu einer allseits konsentierten Lösung zu gelangen. Ob nun der Vertrag von Lissabon irgendwann doch noch in Kraft tritt oder nicht – angesichts der in Polen und Tschechien, Großbritannien und Irland starken Vorbehalte gegen eine weitere Harmonisierung des Strafrechts und des Strafprozessrechts der Mitgliedstaaten wird man in Zukunft mit einer starken Verlangsamung der Rechtsvereinheitlichung auf diesen Gebieten zu rechnen haben. 32 33

Vgl. nur Pollak, Repräsentation ohne Demokratie, 2007, S. 198f. Darauf hat bereits Satzger (Fn. 12), S. 124f. treffend hingewiesen.

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Daraus werden aber neue Schwierigkeiten entstehen, weil sich das Verbrechen bereits modernisiert, und das heißt: europäisiert hat. Die EU ist, seitdem die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten weitgehend ohne Kontrolle überschritten werden können 34, ein einheitlicher kriminalgeographischer Raum, der nach einer Angleichung des Strafrechts verlangt, und zwar sowohl aus Effektivitätsgründen als auch aus Gerechtigkeitsgründen. Denn Gerechtigkeit verlangt Gleichheit, und Gleichheit erfordert eben auch ein gleiches Strafrecht für alle Bürger Europas. III. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung als reformatio in peius 1. Weil eine so weitreichende Angleichung des Strafrechts in der EU aus politischen Gründen auf absehbare Zeit aussichtslos erscheint, haben sich Rat und Kommission eine andere, vermeintlich elastischere Lösung ausgedacht: das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Mit diesem Prinzip ist bekanntlich gemeint, dass eine staatliche Maßnahme auf dem Gebiet der Strafverfolgung, die von einem Gericht oder einer Behörde eines einzelnen Mitgliedstaates vorgenommen wird, auch von den Gerichten und Behörden der anderen Mitgliedstaaten respektiert und exekutiert wird, ohne dass die inhaltliche Richtigkeit dabei überprüft wird 35. Aber während das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung auf dem Gebiet des Warenverkehrs, wo es herkommt 36, die Freiheit der Bürger erweitert, löst es im Strafrecht den genau entgegen gesetzten Effekt aus: die Unterwerfung des Bürgers unter die kumulative Strafgewalt aller Mitgliedstaaten. Weil es hier um die fortlaufende Vollstreckung von Eingriffsmaßnahmen geht, bedeutet die gegenseitige Anerkennung eine Ausdehnung der Staatsgewalt auf ein außerhalb des Staatsgebietes liegendes Territorium ohne Kontrolle durch die auf diesem Territorium etablierte Staatsgewalt und führt damit im Grunde genommen zu einem Widerspruch zur gesamten modernen Theorie der Unterwerfung des Bürgers unter die Staatsgewalt. Denn alle Erklärungen und Legitimationsversuche für die Unterwerfung des Bürgers unter die Staatsgewalt 34 Beginnend mit dem Schengener Übereinkommen vom 14.6.1985, sodann das Schengener Durchführungs-Übereinkommen vom 19.6.1990, die Beitrittsprotokolle und -übereinkommen mit Italien, Spanien und Portugal, Griechenland, Österreich sowie Dänemark, Finnland und Schweden von 1990 –1996 und Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der EU, schließlich Ratsbeschlüsse vom 29.5.2000 und 28.2.2002 über Anwendung der meisten Bestimmungen auch auf das Vereinigte Königreich und Irland. Näher Ambos (Fn. 9), §12 Rdn. 30f. 35 Zur Karriere dieses Prinzips in der Strafrechtspolitik des Rates s. Schünemann, GA 2004, 202, und nunmehr Art. 67 Nr. 3 AEUV. 36 Kahl in Calliess / Ruffert (Fn. 22), Art. 14 EGC Rn. 22; Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rn. 936 ff.; Schünemann, ZRP 2003, 185, 186; w. N. s. Schünemann, FS f. Volk, 2009.

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wurzeln in der Theorie der Souveränität von Jean Bodin 37. Der Staat hat danach die unbeschränkte Hoheitsgewalt über die inneren Angelegenheiten, was die Unterwerfung des Bürgers unter diese Staatsgewalt zur Kehrseite hat. Durch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wird nun aber in Strafsachen praktisch die Souveränität jedes einzelnen Mitgliedstaates auf dem gesamten Gebiet der Europäischen Union begründet, indem der Ausführungsstaat nur noch ein abhängiges Organ des Anordnungsstaates ist, eben wenn und weil er die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidungen des Anordnungsstaates nicht selbst überprüfen kann. Als Kehrseite ist wiederum jeder einzelne Bürger in Strafsachen jedem Mitgliedstaat der Europäischen Union unterworfen, auch wenn er sich nur auf dem Gebiet eines einzelnen Mitgliedstaates aufhält 38. Dass eine derartige Konstellation nach einer qualifizierten Legitimation verlangt, wird noch deutlicher, wenn man die Weiterentwicklung der Staatstheorie über die Theorie der Gewaltenteilung, der Demokratie und der unveräußerlichen Grundrechte weiterverfolgt. Der Staatsbürger kann zwar im Rahmen seiner demokratischen Rechte die Rechtsordnung des eigenen Staates mitbestimmen, verliert diesen Schutz aber dann, wenn der eigene Staat ohne inhaltliche Überprüfung lediglich Anordnungen eines ausländischen Staates vollstreckt. Wenn Weigend 39 meinen „demokratischen“ Einwand gegen die Aufhebung des Erfordernisses der beiderseitigen Strafbarkeit im Auslieferungsrecht durch den RbEuHb und das EuHbG, nämlich dass der inländische Staatsbürger nicht zur Aburteilung wegen eines von ihm nicht beeinflussbaren ausländischen, in Deutschland kein Gegenstück aufweisenden Strafgesetzes ausgeliefert werden dürfe 40, wegen der „unbestrittenen Geltung des deutschen Strafrechts auch für Ausländer“ für nicht näher erörterungsbedürftig erklären zu können vermeint, so hat er dabei unversehens die Beurteilungsobjekte verwechselt. Denn es geht ja bei der Auslieferung um die Preisgabe des eigenen Staatsbürgers zur Bestrafung nach ausländischen Normen, deren inhaltliche Legitimität unter seiner demokratischen Mitwirkung im Inland gerade verneint wurde. 2. Diese theoretische Abschwächung der Rechtsstellung des Bürgers gegenüber Eingriffen des Staates wirkt sich auch praktisch in aller Schärfe aus, wenn gegen den Zugriff des fremden Staates nur vor dessen Gerichten Rechtsschutz nachgesucht werden kann. Denn der Bürger ist mit der fremden Rechtsordnung nicht vertraut, spricht in den meisten Fällen auch nicht die fremde Sprache und ist deshalb bei der Durchsetzung seiner Rechte von vornherein stark behindert. 37

Bodin, Six livres de la République (1576), Bd. I, Kap. 10. Es geht also keinesfalls nur um ein Korrelat der europäischen Freizügigkeit nach Abschaffung der Grenzkontrollen, denn die gegenseitige Anerkennung hängt nicht davon ab, dass der betroffene Bürger wegen eines zuvor im Anordnungsstaat beobachteten Verhaltens verfolgt wird – vgl. nur den weit über das eigene Territorium hinaus erstreckten Geltungsanspruch des deutschen Strafrechts in den §§ 3ff. StGB. 39 FS f. Jung, 2007, S. 1069, 1073. 40 StV 2005, 681, 683. 38

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Anders als in den Fällen, in denen sich der Bürger selbst freiwillig in den fremden Staat begibt und damit dessen Rechtsordnung während seines Aufenthalts unterwirft, hat er dann, wenn der Heimatstaat nur als Exekutionsbehörde tätig wird, keine notwendige eigene Veranlassung für die Unterwerfung unter den Zugriff des Anordnungsstaates gegeben. Dagegen lässt sich nicht etwa einwenden, dass der fremde Staat beispielsweise wegen des Verdachts einer Straftat einschreite, die der Inländer womöglich bei einer Reise im Ausland begangen habe. Denn in einem Strafverfahren ist diese Frage bis zum Eintritt der Rechtskraft definitionsgemäß offen, so dass das Abwägungsproblem wie folgt definiert werden muss: Welchen Schutz kann ein Inländer dagegen beanspruchen, dass ein ausländischer Staat wegen eines ungeklärten Verdachts auf ihn zugreift und dabei den Heimatstaat des Bürgers als bloße Vollstreckungsbehörde ohne eigene Prüfungskompetenz benutzt? 3. Damit wird hoffentlich deutlich, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der über die Sitzungen des Rates von Cardiff und Tampere und zuletzt im Vertrag von Lissabon 41 einen immer höheren Rang zugeschrieben bekommen hat, ohne eine Ausbalancierung mit den Rechten der Bürger keine Legitimität beanspruchen kann. Es ist deshalb auch ein falscher, freilich verbreiteter Ansatz, die Notwendigkeit eines Vertrauens des einen Staates in das Rechtssystem und die Rechtspflegeorgane des anderen Staates als eine Art Grundvoraussetzung der gegenseitigen Anerkennung hinzustellen, wobei dies sogar noch meist mit der Einschränkung geschieht, dass dieses Vertrauen eben im Laufe der Praxis entwickelt werden müsse. Denn es geht im Kern nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie um das Vertrauen der Staaten untereinander, sondern um das Vertrauen des Bürgers in die Richtigkeit der fremden Rechtsordnung und die Korrektheit der fremden Rechtspflege. Und dieses Vertrauen muss im Sinne einer objektiven Basis bereits existieren, bevor der erste Akt der gegenseitigen Anerkennung in der Praxis vollzogen werden kann. 4. Dieses Vertrauen ist namentlich dann gefährdet, wenn ein strenges Strafrecht in dem einen Staat auf ein mildes Strafrecht in einem anderen Staat trifft. Auch in dieser Hinsicht ist das wirkliche Ausmaß der Gefahren für die Legitimität der ausländischen Maßnahmen noch viel größer, und zwar sogar aus zwei Gründen. a) In einem Raum der Freiheit und der Demokratie ist, wie ich schon bemerkt habe, die Unterwerfung des Bürgers unter eine bestimmte Rechtsordnung grundsätzlich an die Möglichkeit seiner eigenen demokratischen Mitwirkung an der Gestaltung dieser Rechtsordnung geknüpft. Bei der Anwendung der Rechtsord41 In Art. 67 Nr. 3 AEUV wird er zur Grundlage des Raumes der Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit erklärt, so wie ihn die Kommission seit langem handhabt, s. Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament zur gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen und zur Stärkung des Vertrauens der Mitgliedstaaten untereinander, KOM (2005) 195 endg. vom 19.5.2005.

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nung eines ausländischen Staates benötigt man deshalb zusätzliche Legitimationskriterien wie etwa die Unterwerfung eines Reisenden unter die Rechtsordnung desjenigen Landes, das er aufsucht. Der Staat darf also seine Strafgewalt nicht beliebig auf Handlungen erstrecken, die auf einem anderen Staatsgebiet begangen werden, sondern benötigt einen nicht nur aus seiner Perspektive, sondern supranational überzeugend vorrangigen Anknüpfungspunkt. Aber dieses Prinzip wird bisher von keinem einzigen Mitgliedstaat der EU befolgt 42. b) Im Strafverfahren geht es außerdem zunächst einmal nur um die Klärung eines Verdachts. Wenn jemand den fremden Staat überhaupt nicht aufgesucht hat, aber etwa aufgrund einer Personenverwechslung mit Hilfe eines europäischen Haftbefehls dahin ausgeliefert werden soll, so bedeutet es durchaus eine ernste Gefahr für die Legitimität des Eingriffs, wenn die Behörden des eigenen Heimatlandes gezwungen sind, den das Eingreifen der fremden Rechtsordnung bestreitenden eigenen Staatsbürger ohne inhaltliche Prüfung ins Ausland zu überstellen. 5. Daran wird deutlich, dass das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung ohne eine Ausbalancierung mit der Rechtsstellung des Betroffenen nicht legitim sein kann. Und diese Ausbalancierung muss unabdingbar gleichzeitig erfolgen und darf nicht auf irgendeine unsichere Zukunft abgeschoben werden. Man kann deshalb bildlich von einem dreistufigen Entwicklungsmodell sprechen, muss sich aber darüber im klaren sein, dass die zweite und dritte Stufe in einem wahrhaften Raum der Freiheit und des Rechts, also in einem liberalen Rechtsstaat, gleichzeitig verwirklich werden müssen: Unter der ersten Stufe kann man die Entstehung und das Anwachsen einer grenzüberschreitenden Kriminalität verstehen, die für die EU spezifisch ist und die Sicherheit ihrer Bürger gefährdet. Es handelt sich hierbei um eine Modernisierung des abweichenden Verhaltens durch Ausnutzung der innerhalb Europas eingeführten Freizügigkeit. Diese Entstehung eines einheitlichen kriminalgeographischen Raumes erzeugt dann ohne Frage auf der zweiten Stufe das berechtigte Bedürfnis nach einer entsprechenden Ausdehnung und Vereinfachung der Zugriffsmöglichkeiten. Um aber nicht nur einen Raum der Sicherheit, sondern auch einen Raum der Freiheit und des Rechts zu schaffen, muss diese Ausdehnung der Souveränität des einzelnen Mitgliedstaates auf der dritten Stufe mit einem System von „Checks and Balances“ verknüpft werden. Diese Verknüpfung ist eine Vorbedingung für die Legitimität und darf nicht erst als eine zeitlich nachfolgende Konsequenz verlangt werden. Denn wie das Schicksal der Garantie von Mindest-Verfahrensrechten gezeigt hat 43, sind die politischen Aussichten für eine nachträgliche Ausbalancierung entscheidend vermindert, sobald sich die 42 Zur Vielfalt der konkurrierenden und sich überlagernden nationalen Verfolgungszuständigkeiten s. Satzger, Internationales und europäisches Strafrecht (Fn. 9), S. 37ff.; zu Versuchen, hier zu einer Kanalisierung zu kommen, s. Biehler / Kniebühler / LelieurFischer / Stein (eds.), Freiburg Proposal pp., 2003, S. 12 und passim; Schünemann (Hrsg.), Gesamtkonzept (Fn. 3), Art. 2 und 3 (S. 5ff.).

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Mitgliedstaaten auf die Erweiterung der Eingriffsrechte verständigt haben. Das eine darf deshalb nicht ohne das andere realisiert werden. 6. Leider ist die praktische Politik Europas von einer Beachtung dieser Maxime immer noch weit entfernt. Gemeinsam mit Kollegen aus neun weiteren Mitgliedstaaten haben der Jubilar und ich in dem „Gesamtkonzept für die Europäische Strafrechtspflege“ versucht, ein Modell für eine gleichzeitige Realisierung von Sicherheit, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit vorzulegen 44. Und es verdient notiert zu werden, dass die Europäische Kommission die Ergebnisse unserer (von ihr finanzierten!) Arbeit sehr ernsthaft und genau registriert hat und bei ihren Bemühungen um eine Auswetzung der rechtsstaatlichen Scharten der bisher vor allem vom Rat voran getriebenen Europäisierung des Strafrechts im Auge behält 45. Das sollte ein Ansporn sein, auf dem eingeschlagenen Weg weiter zu gehen, auch wenn das viel Geduld und Festigkeit erfordert. Aber damit ist diese Aufgabe bei Andrzej Szwarc genau an der richtigen Adresse.

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Zur Unverzichtbarkeit solcher Mindestgarantien vor Einführung der gegenseitigen Anerkennung s. den „Appell der Bundesrechtsanwaltskammer“ vom September 2007 in der BRAK-Stellungnahme Nr. 37/2007; Meyer, GA 2007, 15 ff.; zum schmählichen Scheitern des diesbezüglichen Projekts s. nur Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (Fn. 9), §9 Rdn. 37; zu den dringend notwendigen, aber erst recht gescheiterten Verbesserungsvorschlägen des Europäischen Parlaments Schünemann, StV 2006, 361, 363; w.N. b. Ambos (Fn. 9), §12 Rdn. 57 b. 44 s.o. Fn. 3. 45 In Gestalt der Einberufung eines „Justice Forum“, in dem auch dem von uns entworfenen Modell des „Eurodefensor“ (Gesamtkonzept – Fn. 3 –, Art. 32ff. = S. 50ff.) erhebliche Aufmerksamkeit gezollt wird.

Wir vergessen beim Hantieren mit geläufigen Worten, dass sie Fragmente alter und ewiger Geschichten sind, dass wir gleich den Barbaren unsere Häuser aus den Trümmern von Götterstatuen bauen. (Bruno Schulz, Die Republik der Träume, 1967)

Vom Mythos im Recht Gedanken zu einer These Leszek Kołakowskis Gerhard Sprenger Der polnische Philosoph Leszek Kołakowski, Träger des Friedenspreises des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (1977), spricht in seinem Buch „Die Gegenwärtigkeit des Mythos“ 1 davon, dass in unserem Rechtsverständnis als für alle in gleicher Weise geltender Verpflichtung „ein Appell an das mythische Fundament verborgen“ sei. Obgleich nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts des Einsatzes „moderner“ Mythen aller Arten in der davor liegenden Zeit 2 eine schon länger geführte kontroverse Diskussion um die Bedeutung des ursprünglichen Mythos, sein Weiterleben in der Gegenwart und insbesondere sein Verhältnis zur Rationalität zu beobachten war, mag der Gedanke, dass auch unser geltendes Recht mit einem Mythos in Zusammenhang gebracht werden könnte, aufs Erste überraschen. Wir wollen im Folgenden versuchen, den Vorstellungen Kołakowskis nachzugehen. I. Das Verständnis von Mythos im Denken Kołakowskis Zunächst gilt es zu ermitteln, was Kołakowski unter Mythos versteht. Mythentheorien sind beinahe so alt wie Mythen selbst, sie lassen sich zurückverfolgen bis in die vorsokratische Zeit. 3 In Anbetracht der in den neueren Diskussionen zu Tage tretenden begrifflichen Unterschiede scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass es keine allgemein verbindliche Definition dessen gibt, was unter Mythos 1 Aus dem Polnischen von Peter Lachmann, 1973. Das Werk wurde 1966 in Warschau vollendet, die polnische Ausgabe erschien 1972 in einem Pariser Exilverlag. Vgl. hierzu: Christian Heidrich, Leszek Kołakowski: zwischen Skepsis und Mystik, 1995, S. 134. 2 Hierzu: Karl Kerényi, Wesen und Gegenwärtigkeit des Mythos, in: Karl Kerényi (Hg.), Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos. Ein Lesebuch, 1967, S. 238 f. 3 Robert A. Segal, Mythos. Eine kleine Einführung, 2007, S. 7.

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zu verstehen ist. Sallust etwa sprach vom Mythos als von dem, „was nie geschah und immer ist“, 4 bei Emil Angehrn lesen wir, Mythos sei schlicht „das Andere“, 5 Robert A. Segal versteht ihn als „erzählte Geschichte“, die sich „hartnäckig hält“, 6 und Roland Barthes sieht im Mythos eine Botschaft, „eine Weise des Bedeutens, eine Form“. 7 Christoph Jamme schlägt angesichts der Verworrenheit als „Versuch einer Einigung auf eine Minimaldefinition“ vor, Mythos als „mündlichen Kommentar einer Kulthandlung“ zu bestimmen. 8 Kołakowski nun gebraucht den Begriff „Mythos“ in einem weiten Sinne. Er nennt jede Erfahrung mythisch, „die nicht nur in dem Sinn die endliche Erfahrung transzendiert, dass sie nicht deren Beschreibung ist (denn in diesem Sinn überschreitet jede Hypothese die Erfahrung), sondern auch in jenem, dass sie jede mögliche Erfahrung relativiert, indem sie diese verstehend auf die Realitäten bezieht, die grundsätzlich ungeeignet sind, dass ihre verbale Beschreibung eine logische Bindung mit der verbalen Beschreibung der Erfahrung eingeht.“ 9

Die mythische Erfahrung übersteigt danach alle wissenschaftlich-empirische Erfahrung, und es bestehen zwischen beiden Erfahrungsebenen keinerlei unmittelbare Bezüge: die endliche Erfahrung vermag die mythische eben so wenig zu erschließen, wie diese aus jener hergeleitet werden kann. Damit ist für Kołakowski all das mythisch, was von einem absoluten, nicht weiter begründbaren Phänomen ausgeht. Mit dem Übersteigen des wissenschaftlich-empirisch Erfahrbaren, so heißt es weiter bei ihm, entziehe sich das mythische Erfahren zugleich aller rationalen Möglichkeiten, über die Ersteres verfüge. Es zeige sich als ein total Entgegengesetztes. Und in diesem Entgegengesetztsein sei es ein Unbedingtes. Aus gutem Grund ist bei Kołakowski nicht davon die Rede, dass der Mythos durch die Wissenschaft als überholt anzusehen ist, wie dies durchgehend noch im 19. Jahrhundert der Fall war. Heute gilt die Auffassung, dass weder wörtliche Erklärungen noch symbolische Beschreibungen von Ereignissen die vielfältigen anderen, im Mythos enthaltenen Funktionen und Bedeutungen ausreichend zu berücksichtigen vermögen. 10 Was nun das im Grunde „bezugslose“ Verhältnis zwischen dem Bedingten unserer Erfahrungswelt und jenem Unbedingten angehe, so sei nach Kołakowski 4 Nach Christoph Jamme, „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, 1999, S. 21. 5 Emil Angehrn, Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos, 1996, S. 13. 6 Segal (ob. Fn. 3), S. 15 f. 7 Roland Barthes, Mythen des Alltags, 1964, S. 85. 8 Jamme (ob. Fn. 4), S. 21. 9 Die Gegenwärtigkeit des Mythos (ob. Fn. 1), S. 40 f. 10 Segal (ob. Fn. 3), S. 10, 184.

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der Mythos fixiert „auf Situationen, die der empirischen Wirklichkeit sowie der irdischen Zeit vorangehen, die diesen jedoch einen konzisen Sinn geben und ein außerzeitliches, dem realen Werden enthobenes Paradigma schaffen, eines, dem man im realen Werden nacheifern muss.“ Dazu zählt Kołakowski sowohl die Geschichten, aus denen sich die religiösen Mythologien gebildet haben, aber auch philosophische Prinzipien, „die in den Realitäten der Kultur die stufenweise Erfüllung außerhistorischer Essenzen sehen“, und hier nennt er als Beispiele „Natur des Menschseins“, „Wesen des Gedankens“, „Wesen der Rechtsbildung“, Wesen der „transzendentalen Werte“. 11 Der unbedingten Realität des Mythos kommt so nach Kołakowskis Sicht der Charakter eines Modells oder zeitlosen Vorbildes zu. 12 Das hat zur Folge, dass die erlebte Realität einem solchen Leitbild gegenüber als ein defizienter Modus der unbedingten Realität erscheinen muss und im Menschen ein Bewusstsein von Verantwortung entstehen lässt, das ihn ständig auffordert, das Bestehende nicht einfach hinzunehmen, ein, wie es bei Kołakowski heißt, „Bewusstsein der Verschuldung gegenüber dem Sein“. Darüber hinaus kann dieses Bewusstsein „eine reale gegenseitige Bindung zwischen den Verschuldeten sein“ und auf diese Weise so etwas wie Solidarität aufkommen lassen. 13 Um seine Auffassung vom Mythos noch deutlicher zu konturieren, grenzt Kołakowski sie von anderen ab, so etwa von derjenigen, nach der Mythen ein Verständnis der vorgefundenen Welt durch einen Rekurs auf eine mythische Ausgangssituation vermitteln. Die hieraus erkennbaren verpflichtenden Gebote lägen dabei in Gestalt eines Kodexes mit fertigen Werten vor, „die keiner Kreativität bedürfen, sondern nur die sorgetragende Akzeptierung.“ 14 Der Kodex diene in diesem Falle nicht mehr dem Aufruf einer unbedingten Verpflichtung zur Veränderung der bedingten Realität. Daraus wird einmal mehr erkennbar: Für Kołakowski ist es wichtig, dass es auf einen vom Mythos ausgehenden Impuls ankommt, den der Empfangende als Aufforderung wahrnimmt. Eine weitere Abgrenzung nimmt er gegenüber solchen Mythen vor, die „sich auf eine künftige Utopie richten, die noch unerfüllte Forderungen befriedigen soll“; sie besäßen „ihre eigenen Giftstoffe, da sich die Gemeinsamkeit der Ansprüche allein kraft ihrer Inhalte auf die Idee des auserwählten Volkes berufen muss,“ und bildeten auf diese Weise keine Grundlage für eine menschliche Gemeinschaft, da sie nur auf die Realisierung individueller Interessen ausgerichtet seien. 15 11

Leszek Kołakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, 1973, S. 121. Gesine Schwan, Leszek Kołakowski. Eine Philosophie der Freiheit nach Marx, 1971, S. 154. 13 Kołakowski (ob. Fn. 11), S. 121. 14 A. a. O., S. 122. 15 A. a. O., S. 155 ff. 12

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1. Die Unbedingtheit Am Wesensmerkmal der Unbedingtheit des Mythos zeigt Kołakowski sodann die Grenzen aller philosophischen Bemühungen auf, „Worte zu entdecken, die die Bedingtheit der Erfahrungswelt unzweideutig beschreiben würden, oder besser: von dem Verlangen nach verbaler Erhellung jenes Seins, von dem man weiß, dass es als Gegenstand nicht fassbar ist und dass seine Gegenwärtigkeit sich nicht aus den Gegenwärtigkeiten der Gegenstände zusammensetzt.“ 16

Dieses Verlangen sei in allen bekannt gewordenen Denkansätzen zu finden: von Parmenides, Nagarjuna und Plotin über Pascal, Kant und Hegel bis Jaspers, Wittgenstein und Merleau-Ponty. Keiner dieser Philosophien sei es indessen gelungen, sich von der „anthropozentrischen Perspektive“ 17 zu lösen. „In der Geschichte der Philosophie kehrt die Hoffnung auf geistige Beherrschung des Absoluten sukzessiv in den Euphorien der unerschrockenen Vernunft wieder und stirbt in melancholischem Skeptizismus ab.“ 18 Allein: die Frage bleibt. Nun ist aber „das semantische Vermögen der Worte auf die bedingten Realitäten beschränkt ... Das, was unbedingt ist, verweigert der Sprache die Herrschaft über sich. Das, was die Welt der Objekte transzendiert, übersteigt auch die Potenzen der Sprache, kann somit nicht einziehen in den Horizont der wissenschaftlich legitimen Kommunikation, liegt somit in den Besitztümern des Mythos. Angesichts der Überzeugung, dass sich der Umfang der kommunizierbaren Erfahrung nicht von selbst erklärt und keinerlei Grund für seine Selbstgenügsamkeit liefert, ist der Mythos des unausgesprochenen unbedingten Sein unvermeidlich.“ 19

Zur Kennzeichnung dieser vorgefundenen Situation sei schließlich, so Kołakowski, da ein besserer nicht zur Verfügung stehe, der Begriff „Mythos“ von ihm gewählt worden. 20 2. Das Bedürfnis An dieser Stelle ist zu fragen, auf welche Begründung Kołakowski nun sein eigenes, im Vorstehenden grob skizziertes Verständnis der unbedingten Realität stützt. Hier weist der Philosoph darauf hin, dass er lediglich „den Charakter des Bedürfnisses beschreiben [will], das die ständig neu auflebenden Interpretationen der empirischen Welt als eines Ortes der Verbannung oder einer Stufe der Rückkehr zum unbedingten Sein gebiert.“ 21 Er leitet also seine Sicht des Mythos 16 17 18 19 20 21

A. a. O., S. 69. So zutreffend Schwan (ob. Fn. 12), S. 157. Kołakowski (ob. Fn. 11), S. 72. A. a. O., S. 73. A. a. O., S. 8. A. a. O., S. 9.

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ausschließlich von dessen Funktion her. Damit ist klargestellt, dass eine Art der Begründung seiner These von vornherein ausgeschlossen ist, nämlich diejenige, die als Beweis der Wahrheit oder Richtigkeit seines Mythosverständnisses angesehen werden könnte, denn gerade sie ist angesichts der kategorialen Unterschieds von Bedingtem und Unbedingtem nicht möglich. Das Bedürfnis selbst nun beschreibt Kołakowski zunächst als ein Verlangen „nach verstehender Erfassung der empirischen Realitäten, d. h. als Bedürfnis, die Erfahrungswelt als sinnvolle zu erleben durch Beziehung auf eine unbedingte Realität, welche die Phänomene zweckhaft verknüpft.“ 22 Wissenschaft vermöge dies nicht zu leisten, da ihr nach Kołakowskis Auffassung die Wirklichkeit stets nur bedingt aus der Beobachterperspektive in Zeit und Raum erscheine (was ihr für ihre Zwecke indessen vollkommen genüge). 23 „Die zweite Version desselben Bedürfnisses nach einer Antwort auf die letzten Fragen“, heißt es weiter bei ihm, „ist das Bedürfnis, an die Beständigkeit der menschlichen Werte zu glauben.“ Er sieht nun diese Werte von dem Augenblick an „personal, in dem die Evolution der Natur einen Punkt des personalen Seinsmodus erreicht hat.“ Mit Blick auf die Begrenzung des menschlichen Lebens seien sie in ihrer Dauer beschränkt. Zwar gebe es darüber hinaus, sofern die Werte „von kontinuierlichen menschlichen Sozietäten in verdinglichter, vergegenständlichter Form geerbt werden“, eine „sekundäre Dauer“, die parallel zur Dauer dieser Sozietäten verlaufe. Aber auch diese Werte von prolongierter Dauer, ja die „Ganzheit der von Menschen ins Leben gerufenen Werte“, würden einmal „gänzlich vom Zerfall des physikalischen Seins betroffen, denn weder die Menschheit ist ewig noch ihre Erde.“ 24 Und schließlich gebe es, so Kołakowski weiter, noch eine dritte Version des hier in Rede stehenden Bedürfnisses, nämlich das Verlangen, „die Welt als eine kontinuierliche zu sehen.“ 25 Sie wandle sich mehr oder weniger spontan, und wir vermögen nicht zu erkennen, ob es dabei Bestandteile gibt, die durch solche Wandlungen hindurch bestehen bleiben, müssten daher Diskontinuität vermuten. „Die Gesetze, die besagen, dass unter bestimmten Bedingungen stets bestimmte Phänomene eintreten, beschreiben das, was faktisch geschieht; sie enthalten keinerlei Hinweise darauf, dass es so geschehen ‚muss‘; sie können zwar als Einzelfälle allgemeinerer Regelmäßigkeiten erklärt werden, doch jene allgemeineren Regelmäßigkeiten überschreiten die Barriere der Faktizität oder der ‚Zufälligkeit‘ im Leibnizschen Wortsinn nie, und zwar grundsätzlich nie.“ „Die mutative Umwandlung wollen wir ... als Akt der Auswahl begreifen, der eine Kontinuität setzt.“

22 23 24 25

A. a. O., S. 14. Schwan (ob. Fn. 12), S. 156 f. Kołakowski (ob. Fn. 11), S. 15. A. a. O., S. 21.

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Transzendenz würde hier, so Kołakowski, das Bedürfnis nach einer Ansicht der Welt „als eines Kontinuums“ befriedigen. 26 Dieses im Vorstehenden näher beschriebene Bedürfnis ergebe sich, heißt es weiter, aus einer in der Verantwortung erfahrenen unbedingten Verpflichtung. Und die aus dieser Verantwortung geborene Suche des Menschen nach einer sein eigenes Dasein übergreifenden Instanz macht letztlich den Kern des Mythosverständnisses Kołakowskis aus. Für ihn ist alles Erfahrene ein Zufälliges, erst in seinem Überschreiten mache sich der Mensch auf die Suche nach Sinn, den er in einer nicht weiter begründbaren und deshalb notwendigerweise zu glaubenden Realität zu finden meint. Vielleicht wird man sagen können, dass dieser die Funktion in den Mittelpunkt rückende Denkansatz Kołakowskis den Kern des Mythenverständnisses überhaupt ausmacht. 27 Dabei kommt der Frage, ob nicht vielleicht der Mythos gar nicht vorgegeben, sondern allererst selbst ein Produkt des dem Menschen eigenen Bedürfnisses ist, keine Bedeutung zu. Seine logische oder psychologische Genesis ist hier nicht entscheidend, da der Mensch über die Ebene hinaus, auf der solche Sichtweisen gelten, auch andere Formen der Vergewisserung kennt, etwa des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. In ihnen nämlich wird der Andere in einer Gewissheit erfahren, die alle weitere Rechtfertigung erübrigt. 28 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Kołakowski den Mythos nicht in strengem Sinne rechtfertigt, dass er vielmehr zur Teilnahme an ihm aufruft. 29 Das eigentliche Ziel der Suche, die jene Erfahrung der Verantwortung hervorgebracht hat, so heißt es bei Kołakowski weiter, sei die menschliche Solidarität. Unter dem Aspekt der Solidarität und – weitergehend – der friedlichen Koexistenz der Menschen überhaupt kommt dann schließlich auch das Recht ins Spiel. Damit ist Kołakowskis Mythosverständnis keineswegs erschöpfend dargelegt. Es enthält, gerade auch im Hinblick auf das Verhältnis des Mythos zur realen, wissenschaftlich-empirisch bestimmbaren Welt, aufs Erste gesehen scheinbar einiges Widersprüchliche, was möglicherweise, wie der Autor in der Einleitung zu seinem Buch selbst einräumt, „erkauft“ wurde durch die Kürze der Darstellung. 30 Hier gilt 26

A. a. O. Dionys Zink, Der mythonome Mensch und seine Institutionen. Eine Auseinandersetzung mit Arnold Gehlens Institutionenlehre im Anschluss an Leszek Kołakowskis MythosVerständnis, Diss. München 1987, S. 278. 28 A. a. O., S. 61 ff.; Schwan (ob. Fn. 12), S. 159 – 161. 29 Helmuth Vetter, Leszek Kołakowski, in: Franco Volpi (Hg.), Großes Werklexikon der Philosophie, Bd. 1, 1999, S. 848 f. Ob man Kołakowski als „Vorreiter einer bis heute nicht verstummten und in einem breiten Strom fortgeführten Mythos-Welle“ ansehen kann, wie Christian Heidrich meint, soll hier offen bleiben, zumal die Herkunft der Ansätze sehr unterschiedlich ist. Vgl. Christian Heidrich (ob. Fn. 1), S. 135. 30 Hierzu eingehend Schwan (ob. Fn. 12), S. 153 ff. 27

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es, sich bewusst zu machen, dass Kołakowski weniger ein systematischer Denker denn ein Philosophierender, auf sokratische Weise konsequent Fragender ist. 31 Für unser Ziel war entscheidend, ganz allgemein den Hintergrund aufzuzeigen, vor dem der Gedanke entstanden ist, dass auch für das heute geltende Recht der Mythos unverzichtbar erscheint. II. Die Gegenwärtigkeit des Mythos im Recht Das Recht, so heißt es, könne in seiner jeweils aktuellen Gestalt durch historische Umstände erklärt und auch gerechtfertigt werden „durch eine beliebige Theorie des Gesellschaftsvertrages: als äußerlicher Druck, dem das menschliche Individuum begegnet und dessen Grund in der Gewährleistung der gegenseitigen Sicherheit aller durch Beschränkung eines jeden besteht.“ In dieser Gestalt könne es, wie wir von Kant wissen, seine Funktionen in einer Gesellschaft von Teufeln genau so gut erfüllen. 32 Aber selbst wenn man das Recht lediglich als notwendiges Regulativ der menschlichen Beziehungen ansehe, könne die Gegenwärtigkeit des Mythos in ihm nicht geleugnet werden. Aus dem Grundsatz der Unabdingbarkeit des Rechts ergebe sich nämlich keine Regel, die es inhaltlich bestimmen würde, „nicht einmal jene allgemeinste, derzufolge die rechtlichen Anordnungen in gleicher Weise alle Mitglieder der Rechtsgemeinschaft betreffen, noch jene andere Regel, die die Gegenseitigkeit der Pflichten und Ansprüche unter ihnen beschließt, weder die Regel nullum crimen sine lege, noch die Regel lex retro non agit usw ... Der Grund für jede beliebige materiell bestimmte Rechtsregel muss somit ein anderer sein als der Grund der Gegenwärtigkeit des Rechts selbst. Der letzte lässt sich nämlich eben so gut mit dem der Laune eines Satrapen entspringenden Rechts wie mit dem Recht vereinbaren, das aus der freien Willensäußerung einer sozialen Repräsentantenschaft sich ableitet.“ 33

Aus der bloßen Beobachtung historischer und kultureller Unterschiede bei den Rechtsregeln könnten keine Rückschlüsse für eine Bewertung des Rechts als „gut“ oder „böse“ gezogen werden, da jegliches Recht Ausdruck einer zufälligen politischen Kräfteverteilung sein könne. So gelangt Kołakowski zu dem Ergebnis: „Die Frage nach den unbedingten Obligationen ist nicht entscheidbar als Teil der Erkenntnis.“ 34 Und er bleibt auf der Suche nach jener Instanz, vor der sich der Mensch bei der Schaffung von Recht zu verantworten habe. Dabei kommt er auf Werte zu sprechen. Die Setzung von Werten erhebt sich über das Kontingente, die „Geworfenheit“ (Heidegger) des Menschen in der Welt. Sie lässt den Menschen im Augenblick der Setzung selbst zu einem Schöpfer werden, „der eine eigene Welt aus dem Nichts ins Leben ruft.“ 35 Das Fundament 31 32 33 34

So auch Heidrich (ob. Fn. 1), S. 15. Kołakowski (ob. Fn. 11), S. 41 ff. A. a. O., S. 42. A. a. O., S. 43.

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des Rechts nun, das den Gesetzen vorangehe und jedes Gesetz in Beschränkungen fasse, sei „ein Ensemble von Werten, es kann dies der Wert der Gleichheit oder des Privilegs sein, der Wert der Gegenseitigkeit in den äußeren Obligationen, der Wert des Lebens in der sozialen Ordnung, der darüber orientiert, was man zu erwarten habe usw.“ Die Gültigkeit der Rechtsordnung teile aber, so heißt es weiter, die Schwäche eines jeden Wertbestandes, „dem ein rein faktischer, kultureller, historischer oder psychologischer Seinsmodus zugestanden wird.“ Denn eine Wertsetzung aus freiem Entschluss „ohne vorgefundene Orientierungspunkte“ führe im Ergebnis dazu, dass jede Entscheidung „gleich gut“ wäre. Wir haben daher, so folgert Kołakowski, „kein Recht dazu, auf irgendeiner Rechtsordnung zu bestehen, indem wir uns darauf berufen, dass sie die wahren Werte des Zusammenlebens verkörpere, wenn wir sie nicht auf die mythische Sphäre der Wertungen beziehen dürfen.“ 36 Ihm geht es hier um eine Grunddimension des Rechts, die allen seinen Erscheinungen in Raum und Zeit mit den damit verbundenen Zufälligkeiten seiner Setzung voraus liegt. Wir denken hier an den Begriff der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit war und ist allgegenwärtig. Sie war als das Gute Platons höchste Idee, wir begegnen ihr im Mittelalter in christlich-göttlicher Gestalt, danach im Theorienstreit der frühen Neuzeit, und wir finden sie heute in den Programmen aller politischen Parteien. In ihrem Namen wurden Kriege geführt und Völker versöhnt. Gleichwohl ist sie schwer zu fassen. Bei Gustav Radbruch, dem wohl bedeutendsten Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts, lesen wir etwas über das Verhältnis des Rechts zur Gerechtigkeit, das für unsere Zeit maßgeblich sein dürfte: „Recht ist die Wirklichkeit, die den Sinn hat, dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen.“ 37 Diese Idee des Rechts könne aber keine andere sein als die Gerechtigkeit. Es gelte, bei ihr „als einem letzten Ausgangspunkt Halt zu machen, denn das Gerechte ist wie das Gute, das Wahre, das Schöne ein absoluter, d. h. aus keinem anderen Wert ableitbarer Wert.“ 38 Radbruch spricht wie Kołakowski hier mit Blick auf die Gerechtigkeit von einem Wert, aber anders als dieser von einem „aus keinem anderen Wert ableitbaren Wert“, von einer Art Grundwert. Kołakowski nun zeigt sich skeptisch gegenüber dem, was bei ihm Wert heißt, aber auch dem gegenüber, das er „Ensemble von Werten“ nennt, womit nichts anderes als die von Menschen zu Werten erklärten Fundamente des Rechts gemeint sein können. Selbst also eine Mehrzahl oder gar die Summe von Werten würde keinen Tiefengewinn bedeuten, da ihr die „anthropologische Dimension“ verbliebe. Dies nennt er die „Schwäche eines jeden Wertbestandes“, der seine Entstehung faktischen kulturellen, historischen und psychologischen Gegebenheiten verdanke und so auf eher zufällige Konstellationen verweise. Die Ebene, die Radbruch meint, den Grundwert, findet Kołakowski allein im Mythischen. 35 36 37 38

A. a. O., S. 34. A. a. O., S. 44. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 1956, S. 123. A. a. O., S. 124.

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Diesem Ansatz soll im Folgenden nachgegangen werden. Insbesondere soll nach Herkunft und Wesen der Werte gefragt werden, von denen Kołakowski hier spricht. Dabei wird sich zeigen, dass der Begriff des Wertes im Umkreis von Recht und Gerechtigkeit erst spät in Erscheinung getreten ist, und zwar in einer Rolle als Statthalter des Guten. Seine Entstehung soll hier verfolgt werden, da sie für sein richtiges Verständnis wesentlich ist. Hierfür erscheint es erforderlich, soweit dies in dem hier vorgegebenen Rahmen überhaupt möglich ist, auf den zeitlichen Ursprung des Verständnisses von Gerechtigkeit überhaupt zurück zu gehen, den Kołakowski im Übrigen wiederholt ausdrücklich in sein Mythosverständnis eingeschlossen hat. 39 1. Die Herkunft von Gerechtigkeit Für den europäischen Kulturkreis ist der griechische Mythos paradigmatisch. 40 Was die Gerechtigkeit angeht, so begegnet uns in Homerischer Zeit im Zusammenhang mit der Erwähnung altheiliger, unantastbarer Ordnungen das Wort „themis“. So ist es etwa „themis“, die Götter zu verehren oder Gastgeschenke zu geben, und es werden als „themis“ bestimmte sakrale Ordnungen bezeichnet, die sich auf Familie, Sippe, Haus, Gastfreundschaft, Totenverehrung beziehen. 41 Themis ist zugleich der Eigenname der Gottheit, die Familie und Sippe gestiftet hat. Sie ist eine Göttin des guten Rates, der Fügung und der Bewahrung. 42 Ihre Ordnungen, in die der Mensch „hineingegeben“ wurde, waren ursprünglicher als die Polis. Noch hatte der Mensch die Bedingungen seiner Existenz nicht in der Hand, und vor allem: er glaubte sie nicht in seiner Hand zu haben. 43 Themis ist Moira, daher sind ihre Fügungen – und dies erscheint wichtig – schicksalhaft, d. h. sie sind nicht für alle Menschen gleich und entsprechen damit so ganz und gar nicht unseren heutigen Vorstellungen von Moral- oder Rechtsgesetzen, nach denen jedem gleicher Lohn und gleiche Strafe zuteil werden sollen. 44 In späterer Zeit begegnet uns Dike, Tochter des Zeus und der Themis. Ihr Eigenname bedeutet, wie bei Themis, zugleich, dass etwas „recht“ (dike) ist, auch ein Rechtsanspruch ist „dike“. Der Begriff „Gerechtigkeit“ (dikaiosyne) taucht verhältnismäßig spät auf – wir finden ihn erst bei Aristoteles, wo er zu einer Tugend wird. 45 Dike stiftet kein eigenes Recht, sondern wacht darüber, dass das 39

Kołakowski (ob. Fn. 11), S. 7. Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, 1985, S. 16. 41 Felix Flückiger, Geschichte des Naturrechts. Erster Band: Altertum und Frühmittelalter, 1954, S. 17 ff. 42 Rudolf Hirzel, Themis, Dike und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtsidee der Griechen, 1966, S. 17. 43 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 1979, S. 17 ff. 44 Flückiger (ob. Fn. 41), S. 20 ff. 45 Hirzel (ob. Fn. 42), S. 162 ff. 40

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von Themis und Zeus Gefügte auch geschieht. Sie wird immer dann angerufen, wenn sich das verwirklichen soll, was einem auf Grund göttlichen Beschlusses, göttlicher Weisung zusteht – das ist das Gerechte. 46 Sie ist streitschlichtend und erscheint später als Göttin der Strafe und der Rache. 47 Wie bei Themis haben wir es auch bei Dike mit sakralen Einstiftungen zu tun, die als heilige Überlieferungen bewahrt und, in Geschichten erzählt, weitergegeben wurden. „Es ist Zeus selbst, der den Menschen durch seinen Boten zwei neue Fähigkeiten zum Geschenk macht, aidos und dike, Rücksicht und Rechtsempfinden. Sie befähigen zum vereinten Leben in Städten und Staaten.“ 48 Lange Zeit noch herrschte ein solches religiös begründetes Rechtsdenken, das sich nicht auf rationale Prinzipien zurückführen ließ. Dies fand – wie bereits angedeutet – vor allem in einer fehlenden Vorstellung von Gleichheit seinen Ausdruck. „Die Gerechtigkeit des Schicksals besteht nicht darin, dass es jeden gleich behandelte (ein solcher Gerechtigkeitsbegriff liegt noch fern), sondern darin, dass es alles, was vorbestimmt ist, auch geschehen lässt und zu Ende führt. Das ist die ursprüngliche Dike.“ 49 Später schlossen sich hier die Gesetze der Polis an. Ihre nunmehr aufgeschriebene Ordnung wurde anfangs ebenfalls auf göttliche Stiftung zurückgeführt und hatte teilweise sogar noch im 5. Jahrhundert diesen sakralen Charakter. Auch der Entscheidung des Sokrates, die Gesetze anzunehmen, nach denen sein Tod beschlossen worden war, mag noch eine gewisse Frömmigkeit zugrunde gelegen haben. 50 Und es war schließlich die Überlieferung sakraler Rechtsweisungen, die durch wiederholte Anwendungen in der Praxis als eine Art Gewohnheitsrecht zu „heiligen Gesetzen“ wurden. Dies galt bis in die Zeit des Aristoteles. 51 In der Sophistik setzte dann ein grundsätzlicher Wandel vom mythischen zum begrifflichen Denken ein. Was bis dahin als göttliche Weisung hingenommen worden war, erschien nun als zufällig und zeitbedingt. In den „Phoinikerinnen“ des Euripides lesen wir: „Ja, wäre eines schön und klug für alle, es gäbe für die Menschen keinen bittren Streit. Doch jetzt ist ähnlich nichts, nichts gleich den Sterblichen, es sei der Name bloß. Die Sache ist es nicht.“ 52

Dabei kam gelegentlich bereits eine relativistische Sicht der Dinge auf. Von Protagoras ist das Wort überliefert, dass es darauf ankäme, „eine schwächere 46 47 48 49 50 51 52

Flückiger (ob. Fn. 41), S. 35 ff. Hirzel (ob. Fn. 42), S. 145 ff. Blumenberg (ob. Fn. 43), S. 364. Flückiger (ob. Fn. 41), S. 39. Helmut Kuhn, Sokrates, 1934, S. 122. Flückiger (ob. Fn. 41), S. 52. Euripides, Die Phoinikerinnen, 499 ff.

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Sache zur besseren zu machen“, was durchaus wertend gemeint war in dem Sinne, dass diejenige Sache die beste sei, welche die Zustimmung aller oder doch der Mehrheit findet. 53 In der späteren Sophistik wurde wiederum versucht, diesen Relativismus zu überwinden und dabei gerade auch für das Recht eine Grundlage zu finden, die in einer für alle verbindlichen Weise als gerecht anerkannt werden konnte. Die Phase des Umbruchs war lang. „Hier finden wir den griechischen Geist bei der Arbeit, die Welt dem blinden gesetzlosen Ungefähr zu entreißen und alles in ihr Vorgehende entweder zur höheren Ordnung eines Kosmos zu gestalten oder einer unabänderlichen Notwendigkeit des Gesetzes zu unterwerfen.“ 54 Als „höhere Ordnung“ und zugleich „notwendiges Gesetz“ bot sich dabei die Natur an. Dies war die eigentliche Geburtsstunde des Naturrechts, das den Thron der Dike erschütterte. 55 Zunächst ausgehend von der Natur des Menschen entwickelte sich allmählich die Vorstellung von einer „metaphysischen“ Wesensnatur: Ausdruck des von selbst Gewordenen und Gewachsenen, das sich mit eigener Kraft durchsetzt. An ihm machte sich die Vorstellung von einem Unbedingten fest, das nun nicht oder nicht nur das Göttliche war. 2. Das Naturrecht Mit dem so gefundenen Phänomen des Naturrechts betreten wir, wie es scheinen mag, vertrauteren Boden. Der Begriff „Naturrecht“ schlägt eine Brücke von der für unser abendländisches Denken maßgebenden Mythenwelt der griechischen Antike über das Mittelalter hin zur Neuzeit. Auch er hat in seiner Bedeutung eine über zwei Jahrtausende währende Entwicklung durchgemacht, die vor allem durch ein sich wandelndes Verständnis von „Natur“ gekennzeichnet ist. Dies soll, da es einen guten Teil des Weges vom ursprünglichen Verständnis von Gerechtigkeit hin zum Wert ausmacht, im Nachfolgenden in eben noch vertretbarer Kürze aufgezeigt werden. Beginn und Ende der einzelnen Stationen dieses Wandels sind schwer zu präzisieren, fast immer liefen unterschiedliche Auffassungen über einen längeren Zeitraum parallel. Ein größerer, man kann sagen: der eigentliche Umbruch lag dort, wo erstmals der ursprüngliche Begriff der „physis“ als des aus sich selbst Seienden verlassen worden war. 56 Dieses nicht weiter begründbare, der als „phy53

Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker, 1958, S. 325. Hirzel (ob. Fn. 42), S. 389. 55 Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophisten und Sokrates, 2. Aufl. 1975, S. 253. 56 Vgl. hierzu Martin Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Physis. Aristoteles’ Physik B, 1, in: ders., Wegmarken, 1967, S. 309 ff.; ders., Einführung in die Metaphysik, 1953, S. 11 ff.; Vinzenz Rüfner, „Der Begriff der Natur innerhalb des Naturrechts“, ARSP 1940/41, S. 41 ff.; ferner: Emil Angehrn (ob. Fn. 5), S. 270. 54

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sis“ waltenden Natur innewohnende Verständnis des Seinsganzen, wie wir es insbesondere in den Denkansätzen Platons und Aristoteles finden, wurde bis in die Anfänge der stoischen Philosophie durchgetragen. Eine überwiegende Auffassung sieht den „Bruch“ im Aufkommen der „nomoi“ gegenüber der „physis“. 57 Hier wird gern das Wort des Hippias aus Elis herangezogen, das uns in Platons „Protagoras“ überliefert ist: „Ihr Männer, die ihr beisammen seid, ich halte uns alle für verwandt und zueinandergehörig und für Mitbürger, und zwar von Natur, nicht durch Gesetz; denn das Ähnliche ist mit dem Ähnlichen von Natur verwandt, das Gesetz dagegen, dieser Tyrann des Menschen, erzwingt vieles wider die Natur.“ 58

„Nomos“ wird nun nicht durchweg als Antithese zu „physis“ gesehen, sondern auch als eine Erscheinung des Übergangs: als „Brauch“, als eine Art Vorstufe zum Gesetz. 59 Anders jedoch als im frühgriechischen Leben, wo „Recht“ und „Staat“ noch als ungeschiedene Einheit erschienen, wurde seit dem platonischaristotelischen Weltbild der Mensch als „zoon politikon“ begriffen, das Spannungsverhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft bewusst erfahren und der Staat als Ordnungsmacht des ganzen menschlichen Lebens gedeutet. 60 Auf der Grundlage der platonischen Ideenlehre zeigte sich dann im stoischen und neuplatonischen Denken der Begriff „natura“ als „Abbild“ des ewigen Gesetzes (der Wesenheiten). Hinter der „idea“ stand kein Gott mehr, sie gründete vielmehr auf dem „logos“. 61 In einer von Stobbaeus überlieferten Stelle aus der Schrift „Über das Naturgesetz“ des Zenon-Schülers Chrysippos wissen wir, dass „Natur“ als Vernunft gesehen wurde, die in der durch Vorsehung geordneten Welt waltete: 62 eine gleichsam anonyme Vernunft, ein Weltgesetz, dessen teilhaftig zu werden sich der Mensch zu bemühen habe, und zwar durch Setzung einer dieser Ordnung (natura) gemäßen Verfassung: „thesis“ tritt an die Stelle von „nomos“. Diese hier nur in groben Umrissen angedeutete Veränderung im Naturverständnis: die allmählich zunehmende Entfernung vom Göttlich-Mythischen hin zu einer eher weltlichen Vernunft, wird noch einmal deutlich in einem Vergleich der als lex aeterna verstandenen Natur bei Cicero mit derjenigen bei Augustin. Die ratio der lex aeterna bei Cicero war Ausdruck der höchsten Weisheit Gottes, ein ewiges Gesetz, unveränderlich und Richtschnur für alles positive Recht. Sie existierte sowohl im göttlichen Geist als auch in der menschlichen Vernunft: dort als „recta 57 Statt vieler: Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1963, S. 21 ff. 58 Platon, Protagoras, 337. 59 Erik Wolf, „Das Recht selbst ist unvergänglich“, in: FS für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, hg. von Paul Bockelmann, Arthur Kaufmann und Ulrich Klug, 1969, S. 15. 60 Werner Jaeger, Paideia I, 2. Aufl. 1936, S. 3. 61 Flückiger (ob. Fn. 41), S. 144. 62 Wilhelm Nestle, Die Nachsokratiker, Bd. 1, 1923, S. 19, 32.

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ratio“. Augustinus, mit den Schriften Ciceros gut vertraut, nahm 400 Jahre später den Begriff der lex aeterna wieder auf. Gegenüber Cicero stufte er jedoch ab: Während Gott das höchste Wesen, das Sein schlechthin, darstellt, „gab er auch den Dingen, die er aus nichts erschaffen hat, ein Sein, jedoch kein höchstes Sein, wie er selbst ist. Und den einen gab er mehr davon und den anderen weniger und ordnete so stufenweise die Naturen der Wesen.“ 63 Daraus folgte für die menschliche Teilhabe an dieser lex aeterna, dass sie nicht mehr wie bei Cicero als recta ratio unmittelbarer Ausfluss der göttlichen Vernunft war, sondern als bloßes Abbild in der „ratio hominis“ erschien ohne eigene Teilhabe am Göttlichen. 64 Augustinus war es dann auch, bei dem sich das antike Erbe nach langem Nebeneinander und wechselseitiger Durchdringung mit der christlichen Botschaft verband: für das Mittelalter wurde die Idee des christlichen Schöpfergottes beherrschend. Der Inhalt der lex aeterna war nunmehr nur noch über die Schöpfungsordnung zu erkennen: die unvernünftigen Wesen verhielten sich zwangsläufig der lex naturalis gemäß, während die vernünftigen angehalten wurden, die ordo naturalia zu befolgen. 65 Noch während der Zeit der Geltung des mittelalterlichen, dem SchöpfergottGedanken verpflichteten Rechts bereitete sich hintergründig die Befreiung der menschlichen ratio aus der Umklammerung des so Vorgegebenen vor. In dem zugunsten der Franziskanermönche Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham entschiedenen Universalienstreit hatte sich die Auffassung der universalia post res durchgesetzt. Mit der darin zum Ausdruck kommenden Voranstellung des Individuellen war die „Person“werdung eingeleitet worden, und es begann die Säkularisierung des bis dahin als Gottesrecht verstandenen Naturrechts. Dies geschah freilich nicht abrupt, sondern eher zögerlich in einem lang anhaltenden Prozess. Noch bis in das 18. Jahrhundert hinein wurde Gott der Vernunft übergeordnet und nicht, wie dann bei Kant, mittels ihrer allererst gesetzt. Das inzwischen erstarkte eigene Denken begann, das Geheimnis der Gesetzmäßigkeit von „Natur“ zu ergründen. Der Weg der Erschließung dieses Geheimnisses wurde durch das Aufkommen des mathematischen Weltbildes bestimmt. Als „Natur“ galt fortan nur noch dasjenige, was „im Lichte des begründenden Begriffs und je nach Reichweite einer solchen Begründung“ existierte. 66 Hatte sich nach der Physik des Aristoteles, die über Jahrhunderte für das Denken bestimmend gewesen war, jeder Körper nach seiner Natur bewegt, so waren bei Newton, in dessen Werk das neuzeitliche Geschehen in gewisser Weise einen ersten systematischen Abschluss gefunden 63 64 65 66

Augustinus, Der Gottesstaat, 1911 ff., 12. Buch, 2. Abschnitt, S. 231. Hierzu eingehender: Gerhard Sprenger, Naturrecht und Natur der Sache, 1976, S. 20. A. a. O., S. 20 ff. Hierzu Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding, 1962, S. 51, 62.

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hatte, die Bewegungen eines Körpers in einen geschlossenen Zusammenhang raum-zeitlich begegnender Massepunkte einbezogen, so dass Bewegung jetzt Ortsveränderung, und nur diese bedeutete. Damit war endgültig die Möglichkeit verstellt, dass Natur als „physis“ wieder in ursprünglicher, unverstellter Weise beim Menschen ankommen konnte. Natur war zu einer Erscheinung geworden, die berechen- und beweisbar war. Auf dem Grund des Mathematischen entstand zugleich eine neue Metaphysik (Descartes). Der methodische Grundzug, mit dem die Natur befragt wurde: das Voranstellen der Hypothese, die sich im nachfolgenden Experiment zu „bewahrheiten“ hatte (wobei Wahrheit hier nicht mehr bedeuten konnte als bloße Stimmigkeit), griff über auf den geisteswissenschaftlichen Bereich. 67 Der Anspruch auf Erkenntnis des Naturgesetzes wurde auf die Natur der Gesellschaft, d. h. auf Recht und Staat, erstreckt: auch für sie sollten Gesetze von der logischen Gewissheit mathematischen Schließens formuliert werden. Newtons „Principia Mathematica“ sollte ein „Naturrecht“ als geschlossenes Gesellschaftssystem an die Seite gestellt werden. Hier sind die großen Naturrechtsentwürfe von Althusius, Grotius, Hobbes und Pufendorf zu nennen. 68 Abschluss und zugleich Höhepunkt dieser Entwicklung findet sich bei Kant: „Die Ordnung und Regelmäßigkeit an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt.“ 69 Wir haben es hier statt mit der urbildlichen („natura archetypa“) mit einer nachgebildeten Natur („natura ectypa“) zu tun, die niemals Grundlage eines Naturrechts im Sinne ursprünglich vorgegebener, unverfügbarer Normen sein konnte. 70 „Natur“ hatte nun ihren Standort wesentlich in dem Bereich, den wir den der Naturwissenschaften nennen, der Mensch als homo intelligibilis hingegen wurde erkannt als unter Vernunftgesetzen stehend. Als ein solcher aber konnte er die Kausalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken. 71 An die Stelle der lex naturalis war die Autonomie des Menschen getreten. Das „neue Naturrecht“, systematisiert und gespeist aus der menschlichen Vernunft, war fortan die „ratio“ allen positiven Rechts, es wurde zum Maß richterlichen Entscheidens, man wendete es unmittelbar an: es wurde konkret. Die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erschienenen großen Kodifikationen 67

Eingehender hierzu: Sprenger (ob. Fn. 64), S. 29 ff. A. a. O., S. 33 ff. 69 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke (hg. v. Wilhelm Weischedel), Bd. 5, 1957, S. 253. 70 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werke (ob. Fn. 69), Bd. 4, 1956, S. 157. 71 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke (ob. Fn. 69), Bd. 4, 1956, S. 11. 68

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in Europa waren von der Überzeugung getragen, dass man das herkömmliche Naturrecht in den Griff bekommen hatte, dass es verfügbar geworden war, weil es letztlich in nichts anderem gründete als in der Vernunft des Menschen. Man sprach nicht länger von Naturrecht, man sprach jetzt von Vernunftrecht. Was in der Antike und im Mittelalter als kosmische oder göttliche Wahrheit im Recht hingenommen worden war, musste fortan durch „Erforschen“ und „Selbstdenken“ allererst gefunden werden, wie es in einem 1798 erschienenen Lehrbuch Gustav Hugos zu lesen war, das bezeichnender Weise den Titel trug „Lehrbuch des Naturrechts als einer Philosophie des positiven Rechts“: es galt zu „philosophieren“, zu fragen, zu erforschen. 72 Dies war der endgültige Übergang vom Rezipieren zum Reflektieren. Konsequenterweise war in den dann folgenden eineinhalb Jahrhunderten der Herrschaft des Rechts- und Gesetzespositivismus, der „Selbstherrlichkeit des Gesetzgebers“, wie sie das Reichsgericht noch in einer Entscheidung aus dem Jahr 1927 festgestellt hatte, 73 von Naturrecht keine Rede mehr. Dieses war, wie es etwa in den Lebenserinnerungen Max Rümelins zu lesen ist, eine „vollständig abgetane Sache“. 74 Allerdings schien dies nur auf den ersten Blick so. Es zeigte sich bald, dass der Positivismus lediglich eine „Verdunklung“ des „ewigen und unvermeidlichen“ naturrechtlichen Gedankens war, denn, wie nachgewiesen werden konnte, „durch die Lücken im Zeltdach des positiven Rechts“ erblickte man immer wieder den „Himmel des Naturrechts.“ Eben diese Lücken waren es, die jeweils eine neue Besinnung auf das Rechtsganze erforderten. Das aber wiederum war das Einfallstor für naturrechtliches Gedankengut. 75 3. Die Werte Und es ereignete sich, dass Naturrecht erneut auf den Plan trat, und dieses Mal nicht nur als gelegentlicher Lückenbüßer. Als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges neben der weitgehenden Zerstörung äußerer Güter auch der Rahmen für jede innere Orientierung verloren gegangen war, wurde auf breiter Front wieder das Naturrecht als überzeitliches und aller menschlichen Willkür entzogenes Maß für „richtiges“ Recht eingesetzt und, an ihm gemessen, ein großer Teil des in den Jahren 1933 bis 1945 auf nationalsozialistischer Ideengrundlage geschaffenen Rechts für Unrecht erklärt. Diese, im Rückblick „Naturrechtsrenaissance“ genannte Bewegung verschwand wieder, als nach einigen Jahren die neue deutsche Verfassung, 72

Nachdruck der 4. Aufl. (1819), 1997. RGZ 118, 325 ff., 327. 74 Max Rümelin, Erlebte Wandlungen in Wissenschaft und Lehre, 1930. S. 16. 75 Hierzu eingehend: Gerhard Sprenger, „Rechtsbesserung um 1900 im Spannungsfeld von Positivismus und Idealismus“, in: Kulturwissenschaften um 1900, Bd. II: Idealismus und Positivismus, hg. von Gangolf Hübinger, Rüdiger vom Bruch und Friedrich-Wilhelm Graf, 1997, S. 147 ff. 73

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das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, nachhaltiger seine Wirkung zu entfalten begann. Hatte man bei den Beratungen zum Grundgesetz noch daran gedacht, das Naturrecht (und Gott!) in den Verfassungstext aufzunehmen, so bekannte man sich am Ende zum sittlichen Wert der Menschenwürde. Sie wurde in der Folgezeit zum obersten Wert einer im Grundrechtsabschnitt der Verfassung errichteten objektiven Wertordnung. 76 Die Berufung auf Werte, einem Grundbegriff aus der Nationalökonomie seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, war nicht neu. Die einzelnen Etappen seiner Geschichte sollen hier nur kurz angedeutet werden. 77 „Wert“ hatte insbesondere durch das Denken Hermann Lotzes Eingang in die Philosophie gefunden, in der es dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in teilweiser Gegenwendung gegen Kant und Hegel zu einer ausdifferenzierten Wertlehre kam, mit der dem Bedürfnis nach einer übergreifenden Ergänzung der modernen, streng wissenschaftlichen Interpretation von Welt entsprochen werden sollte. In dieser wissenschaftlichen Interpretation geriet nämlich nur dasjenige an den Objekten ins Blickfeld, was sie zu Exemplaren einer Gattung machte: das Allgemeine. Unberücksichtigt blieb alles Individuelle in seiner unendlichen Vielfalt, in Gestalt und Ereignis, dasjenige, was allererst den Hintergrund von Sinn ausmachte. 78 Erscheinungsform dieses Sinnes nun war der Wert. Werte waren Phänomene allgemeinen Interesses, deren Bedürfnis offenkundig war. Sie waren in jeder Kulturgemeinschaft faktisch anerkannt, oder es konnte ihre Anerkennung jedem zugemutet werden. Im Laufe der weiteren Entwicklung verdichtete sich die Mannigfaltigkeit der Werte zu „Kultur“, die sich, dynamisch, als Verwirklichung von Werten zu erkennen gab, die ein „vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung“ bedachter „Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“ darstellten, wie es bei Max Weber heißt. 79 a) Das Unzureichende der Werte: ihre „Statthalterschaft“ Von den Ursprungsmythen der griechischen Antike: von Themis und Dike, vom „physei dikaion“ als der mythischen Urgestalt des Naturrechts über das Mittelalter, in dem „Gott selber Recht“ war, wie es im Prolog zum „Sachsenspiegel“ steht, und weiter über die logisch-mathematische Erschließung des Naturrechts, an dessen Stelle die erstarkte menschliche Vernunft trat und unter radikaler Absage an alle 76 Vgl. dazu. Gerhard Sprenger, „Über die Unverzichtbarkeit der Rechtsphilosophie“, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Bd. 85 (2006), S. 26 f. 77 Gerhard Sprenger, „Recht und Werte“, Der Staat 39 (2000), S. 1 ff.; ders., „Legitimation des Grundgesetzes als Wertordnung“, in: Winfried Brugger (Hg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 219 ff. 78 Hierzu Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 5. Aufl., 1929, S. 248. 79 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl. 1973, S. 180.

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übergeordneten Leitbilder Gesetz und Recht nach ihren Erkenntnissen, und das bedeutete: nach den Gerechtigkeitsvorstellungen der jeweiligen Zeit, schuf – dies stellt eine Entwicklung dar, die sich seit der Aufklärung wie eine, um es in Kołakowskis Worten zu sagen, „Jagd nach dem Ideal der totalen Selbstsetzung“ ausnimmt. 80 Diese Entwicklung, dieser Prozess der Befreiung von allem kosmischen und göttlichen Vorgegebenen, endete, wie wir sahen, vorläufig bei den Werten. Es dürfte nach all dem keinem Zweifel unterliegen, dass Kołakowski eben diese Werte meint, die ja über das Recht hinaus ganz allgemein Orientierungsfunktionen ausüben und weit über alle nationalen Grenzen hinaus längst fester Bestandteil auch der gesellschaftlichen und politischen Rhetorik sind. Ihre Ahnenleite aufzuzeigen erschien notwendig, um sie als moderne Statthalter eines ehemals Ursprünglichen, des vom Grund her Guten und Gerechten, zu entlarven. Ursprünglichkeit offenbart, was eigentlich ist: dasjenige, was in der Philosophie „Sein“, „Wesen“ oder „Grund“ ausmacht. 81 Die Vergangenheit hat kein Warum. Sie ist das Warum der Dinge. 82 Werte aber, dies war im Vorstehenden versucht worden zu zeigen, sind selbst kein Ursprüngliches mehr. Dem scheint eine gewisse semantische Sensibilität Rechnung zu tragen: man spricht nicht davon, dass sie sind, sondern davon, dass sie lediglich gelten. 83 Wenn es bei Kołakowski nun heißt, dass Werte immer Kompromisse bedingen, nämlich „die Rettung des einen Wertes ... durch den Verzicht auf einen anderen Wert“, 84 so entspricht dies jener Kritik, die sich von Beginn an eingestellt hatte, seitdem sich das Bundesverfassungsgericht zur Existenz einer Wertordnung bekannt hat. Eine Legitimation durch Werte bedeute die Einnahme einer argumentativ unangreifbaren Position, heißt es etwa, da Werte wiederum nur durch Werte relativiert werden könnten: der Vorgang des Vorziehens bzw. Nachsetzens von Werten aber entziehe sich jeder logischen Begriffsbestimmung. 85 Und was die behauptete Objektivität angehe: sie sei nicht wirklich, sondern, wie es an einer Stelle drastisch genannt wurde, „eine apokryphe ranghöhere Ordnung, die als Geist frei über den Wassern schwebe“. 86 Denn es komme bei der Berufung auf Werte der persönlichen Werterfahrung eine entscheidende Rolle zu, Subjektivität sei im Spiel: das Werten.

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Kołakowski (ob. Fn. 11), S. 34. Hierzu Karl Kerényi (ob. Fn. 2), S. 234 f. 82 Blumenberg (ob. Fn. 43), S. 178. 83 Sprenger, Legitimation des Grundgesetzes (ob. Fn. 77), S. 235. 84 Kołakowski, (ob. Fn. 11), S. 37. 85 Erhard Denninger, Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtordnung, in: ders., Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 146 f. 86 Helmut Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975, S. 64. 81

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Die oben offen gelegte Statthalterschaft der Werte, soviel darf jetzt gesagt werden, lässt es nicht zu, dass mit ihnen wirklich Neues, d. h. Ursprüngliches, geschaffen werden kann. Bei Kołakowski, der hier von der „nebulösen Phraseologie des ‚Wertschaffens‘“ spricht 87, heißt es dazu: „Schaffen ist ... die Einführung von Neuheiten, aber es ist nicht möglich als eine Überschreitung der Grenzen meiner Kultur, sondern nur als Veränderung in den Modi ihrer komplementären Absprachen. Der extremste Nihilist kann ein Fluchtversuch von den ererbten wertvollen Formen sein, aber diese Flucht kann nicht gelingen. Im Punkte der Explosion, die das Erbe zu sprengen scheint, stammt der Sprengstoff immer schon aus ererbten Beständen.“ 88

Im Wert kann nur dasjenige versammelt werden, was schon immer vorhanden ist. Jene „Jagd nach dem Ideal der totalen Selbstsetzung“, so Kołakowskis Résumé, ist darum eine vergebliche. 89 Er weist in diesem Zusammenhang auf das IV. Buch von Platons Nomoi, in dem der Mensch gewarnt wird, sich selbst zum Maßstab der Gesetze zu machen. b) Die Notwendigkeit des Wertens Während nun in der uns geläufigen Kritik an einer Wertorientierung im Recht vor allem anderen die fehlende Objektivität bemängelt wird, ist bei Kołakowski überraschender Weise gerade das unvermeidlich Subjektive, das Werten, der Grund für die Unabdingbarkeit einer Wertorientierung. Es ist dies das Sollen oder, wie es bei ihm heißt, das Bedürfnis, das seinen Grund hat in dem „Bewusstsein der Verschuldung gegenüber dem Sein“. Er konstatiert, wie wir sahen, ein Verlangen der Menschen danach, die Wirklichkeit „verstehend zu erfassen“, an „Beständiges zu glauben“ und „die Welt als eine kontinuierliche zu sehen“, mit anderen Worten: den Sinn unseres Daseins zu orten. Wie erwähnt, spricht er zutreffend davon, dass hierfür ein Transzendentes notwendig sei. Ein solch offensichtlich untilgbares Bedürfnis an Metaphysischem verlangt nun in dem Fall, in dem ein Festes erstrebt wird, aber nicht vorgegeben ist als Ordnung der Natur oder von Gott garantiert, dass der Mensch das Vorgegebene selbst „objektivieren“ muss. „Die Sicherung des Gegenstandes und des Subjekts sind ein identischer Vorgang.“ 90 Der Mensch inszeniert hier selbst das Übergreifende, das er dann als ein ihm Überlegenes anerkennt. Die aus logischer und rationaler Sicht sich hier meldenden Bedenken können vernachlässigt werden, da nach Kołakowski jene Bedürfnisbefriedigung „mythenbildende Arbeit“ ist und sich daher an solchen Kriterien nicht messen lassen muss. Überhaupt ist ein solches Szenarium nur dadurch vorstellbar, dass die Subjektivität sich nicht in ihrer Einzelheit und 87 88 89 90

Kołakowski (ob. Fn. 11), S. 34. A. a. O., S. 37 f. A. a. O., S. 34. Walter Schulz, Grundprobleme der Ethik, 1989, S. 118.

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in einem Akt der Willkür zur Entscheidungsinstanz aufschwingt, sondern dass sie im Bewusstsein ihrer „Doppelrolle“ (als „Absender“ und „Empfänger“) nach übersubjektiven Bedingungen sucht, nach geeigneten Gründen für eine objektive Verbindlichkeit. 91 Objektiv verbindlich für das Recht aber kann nur die Gerechtigkeit sein, Gerechtigkeit als das Ursprüngliche, das Immerwährende und (im Recht) Sinn Stiftende. Nun sind wir zwar noch immer in der Lage, die Gerechtigkeit als persönliche Erscheinung in ihren Standbildern mit Waage und Schwert und zumeist auch mit der Augenbinde zu erkennen, aber das ehemals Göttliche an ihr ist uns fern gerückt. Gerechtigkeit begegnet uns heute vordergründig als abstrakter Begriff. 92 Begriffe aber stehen, wie schon Kant erfahren hatte, „niemals zwischen sicheren Grenzen.“ „Wir mögen unsre Begriffe noch so hoch anlegen, und dabei noch so sehr von der Sinnlichkeit abstrahieren, so hängen ihnen doch noch immer bildliche Vorstellungen an, deren eigentliche Bestimmung es ist, sie, die sonst nicht von der Erfahrung abgeleitet sind, zum Erfahrungsgebrauche tauglich zu machen. Denn wie wollten wir auch unseren Begriffen Sinn und Bedeutung verschaffen, wenn ihnen nicht irgendeine Anschauung (welche zuletzt immer ein Beispiel aus irgend einer möglichen Erfahrung sein muss) unterlegt würde?“ 93.

Soweit etwas Hilfe bei der Orientierung zu vermitteln vermag, sind es nicht Begriffe, sondern Bilder – wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von Leitbildern. 94 Und was die Gerechtigkeit angeht, so ist sie am anschaulichsten geworden im Naturrecht. „Natur“ vermittelt – anders als Gerechtigkeit – Bildhaftes: ihr Ursprüngliches, aus sich selbst Werdendes als eine auf das Göttliche oder Kosmische weisende Ordnung, als Grund des Seinsganzen, als das vom menschlichen Walten Unabhängige, seinem Schaffen Widerstand Entgegensetzende – so ist sie von Beginn an gesehen und verstanden worden: Natur als Bild. In der Mythologie „werden die Sachen durch die Bilder gros“, notierte Goethe in sein Tagebuch. 95 Und dies ist in der Vorstellung so geblieben bis in die heutige Zeit, in der die Subjektivität vom Verlust der Natur geprägt ist. Wie oben zu zeigen versucht worden war, war das Naturrecht im Laufe der Jahrhunderte zwar zeitweilig unter anderem Namen und in anderer Gestalt aufgetreten. Aber alle Ansätze, es, vor allem seit Beginn der Aufklärung, zum Verschwinden zu bringen, waren vergeblich. Nach eineinhalb Jahrhunderten massiver Verdrängungsversuche durch einen erstarkenden Rechts- und Gesetzespositivis91

A. a. O., S. 57. Walter F. Otto, „Der ursprüngliche Mythos“, in: Karl Kerényi (Hg.) (ob. Fn. 2), S. 271 ff. 93 Immanuel Kant, „Was heißt sich im denken orientieren?“, Werke (ob. Fn. 69), Bd. 3, 1958, S. 267. 94 Werner Stegmaier, „Die Funktion von Leitbildern“, in: Jürgen Dummer und Meinolf Vielberg (Hg.), Leitbilder in der Diskussion, 2001, S. 110. 95 Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, II. Abt.: Goethes Tagebücher, 1887 – 1919, Bd. 1, S. 37. 92

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mus war das Naturrecht, wie oben dargestellt, nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945 als dem Bedürfnis nach einem aller menschlichen Willkür kategorial entzogenen Leitbild der Gerechtigkeit wieder aufgetaucht. Doch auch damit noch nicht genug. Es war auch mit dem Ende der sog. Naturrechtsrenaissance in den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht endgültig verschwunden, vielmehr wurde es vor erst einem guten Jahrzehnt im Zusammenhang mit den sog. „Mauerschützen“-Prozessen erneut heraufbeschworen. Einmal mehr wurden „naturrechtliche Ewigkeitswerte“ u. a. als Rechtsgrundlage herangezogen. 96 Der „Erzpositivist“ Karl Bergbohm schien mit seiner in den Achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts geführten Klage Recht zu haben, als er seinerzeit bedauernd feststellte, das Naturrecht habe „nicht einmal die Namen, unter denen es einst in Blüte gestanden, aufgegeben, geschweige denn aufgehört, ... sein verwirrendes Wesen zu treiben.“ „Man hat der Hydra einen ihrer Köpfe abgeschlagen – an seiner Stelle sind zehn nachgewachsen.“ 97 Und Heinrich Rommen prägte die Formel von der „ewigen Wiederkehr des Naturrechts“. 98 Kołakowskis Aufforderung, das Bestehende nicht einfach hinzunehmen, sondern im Bewusstsein einer aus der Verschuldung gegenüber dem Sein gewachsenen Verantwortung heraus, die er in seinem Denken in den „Rang einer philosophischen Grunderfahrung“ gehoben hat, 99 nach dem Sinn des Daseins zu fragen, ließ, wie wir jetzt zusammenfassend sagen können, mit Bezug auf das Recht in der alles Subjektive übersteigenden Natur das Halt Spendende und zugleich Richtungweisende erkennen. Durch den Prozess der Aneignung von Natur hatte der aufgeklärte Mensch ein Stück seiner selbst verloren. Was wir nicht mehr vermögen, muss wieder positiver Bestandteil des Lebens werden, anstatt bloß „Ausdruck momentaner Verlegenheit“ zu sein. 100 Und es ist der nämliche Gedanke, der, um aktuelle Beispiele zu nennen, weltweit hinter dem heutigen Bemühen steht, etwa in der Umweltproblematik das Naturale zu retten, oder in Situationen, die für das Leben und Sterben des Menschen existenziell sind, dasjenige zum Maßstab zu machen, was das „Natürliche“ als das Ursprünglichere ist. „Unser Verlangen“, heißt es hierzu bei Kołakowski, „geht nach der alten, der ursprünglichen Natur“, und dann heißt es weiter: „– immerhin führt der Weg dieses Verlangens über die ‚naturale‘ Natur – weil sie uns das für einen Mythos notwendige Bild vermittelt.“ 101 So ist das Naturrecht als Mythos im Recht zu verstehen, und zwar in seiner gegenwärtigen Gestalt als Wert. Wir erleben die „Welt der Werte“ als „an der 96

Hierzu eingehend: Sprenger, „Über die Unverzichtbarkeit ...“ (ob. Fn. 76), S. 37 f. Karl Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892, S. 111. 98 Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 1936. 99 So mit Recht Gesine Schwan (ob. Fn. 12), S. 25 f. 100 Jürgen Mittelstraß, „Aneignung und Verlust der Natur“, in: ders., Wissenschaft und Lebensform, 1982, S. 81. 101 Kołakowski (ob. Fn. 11), S. 96. 97

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Realität teilhabende, die die Ganzheit möglicher Erfahrung in absoluter Weise transzendiert ... Der Wert ist der Mythos: er ist ein Transzendierendes.“ 102 Im Mythos sind die Menschen in Freiheit aneinander gebunden, „weil sich seine Wahrheit jeder immanenten Beweisbarkeit, theoretischen Verfügbarkeit und damit politischen Erzwingbarkeit entzieht.“ 103 Zusammenfassend lässt sich festhalten: Dass sich „Werte“ trotz ihrer ruinösen Gestalt in Bezug auf einen eigenen metaphysischen Gehalt überhaupt so lange behaupten konnten, liegt letztlich an der Unverzichtbarkeit des Sollensanspruchs, der sich in ihnen bekundet, im Vorgang des Wertens. Werte selbst sind zu keiner Zeit Ziele gewesen, aber sie haben den Weg gewiesen für eine aus der jeweiligen Situation heraus vorzunehmende „Besserung des Rechts“, wie die „symptomatische Bedeutung des Naturrechts“ einmal treffend genannt wurde. 104 Das Bemerkenswerte an Leszek Kołakowskis Ansatz ist, dass er über die geläufige Werte-Kritik im Recht hinausgeht. Während diese an der „Schwammigkeit“ und „Ungriffigkeit“ Anstoß nimmt und ein Positives, und damit ist vor allem gemeint: ein Statisches, fordert, geschieht nach Kołakowski die Teilhabe am Mythos in einem „Akt des Glaubens, ohne Bedürfnis nach argumentativer Rechtfertigung“ 105, er hat erkannt, dass alles Ursprüngliche nur noch im Fragen aufscheinen kann. In ihm wird nicht ein Ehemaliges vergegenwärtigt, wohl aber in der jeweiligen Erkenntnis des wertenden Subjekts die Tiefendimension des Jetzt erlebt. 106 „Und es ist eher der Konflikt der Werte als deren Harmonie, was unsere Kultur am Leben erhält.“ 107 So ist der Mythos, obwohl der wissenschaftlich-technischen Welt unserer Zeit entrückt und, auf den ersten Blick, als ein Überrest aus dunkler, von vermeintlich dämonischer und göttlicher Willkür, von Furcht und Aberglauben beherrschter Zeit angesehen, unverändert ein „Gegenstand dumpfer Sehnsucht“ geblieben. 108 Wie die antiken Mythen seinerzeit durch eine vernünftige Überwindung der archaischen Fremdheit der Welt ihrerseits Aufklärung vollzogen, so verstrickte sich diese und alle folgende Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer in die Mythologie. „Allen Stoff empfängt sie von den Mythen, um sie zu zerstören, 102

A. a. O., S. 41. Aufschlussreich zum Verhältnis von Naturrecht zur Ratio: Leszek Kołakowski, Die Moderne auf der Anklagebank, 1991, S. 119 f. 103 Gesine Schwan, „Laudatio“, in: Ansprachen anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, 1977, S. 28. 104 Walter Gustav Becker, „Die symptomatische Bedeutung des Naturrechts im Rahmen des Bürgerlichen Rechts“, AcP 150 (1949), S. 97 ff. 105 Schwan (ob. Fn. 102), S. 23. 106 Emil Angehrn (ob. Fn. 5), S. 67. 107 Leszek Kołakowski, Die Suche nach der verlorenen Gewissheit. Denkwege mit Edmund Husserl, 1986, S. 97. 108 Kurt Hübner (ob. Fn. 40), S. 15.

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und als Richtende gerät sie in den mythischen Bann. Sie will dem Prozess von Schicksal und Vergeltung sich entziehen, in dem sie an ihm selbst Vergeltung übt. In den Mythen muss alles Geschehen Buße dafür tun, dass es geschah.“ 109 Der Weg zu Philosophie und Wissenschaft als ein, wie er immer wieder genannt wird, Weg vom Mythos zum Logos „war und blieb jedoch auch ein Weg des Mythos, der Bilder, der Beispiele, Gleichnisse, Geschichten: Philosophie und Wissenschaft mussten, als sie sich vom Mythos abstießen, zugleich an ihn anschließen, mussten ihrerseits Bilder Gleichnisse, Mythen nutzen, um plausibel zu werden – Beifall zu finden – und sich als Philosophie und Wissenschaft zu etablieren.“ 110 So auch mit Bezug auf das Recht: Mit der Abfolge der einzelnen Stationen von der Göttin Themis über das kosmische Walten der „physis“ als natura naturans hin zur natura naturata im aufgeklärten Naturrecht und dem zum bloßen Gedanken des „Wertes“ sieht sich der Mensch einer übermächtigen Wirklichkeit gegenüber, deren Grundlagen er nicht in der Hand hält. Dieses Fortschreiten, der Fortschritt, ist sein Fatum heute, für das in der Antike die Götterwelt oder das Schicksal standen. 111

109 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 1988, S. 18. 110 Werner Stegmaier (ob. Fn. 94), S. 73. 111 Blumenberg (ob. Fn. 43), S. 9. Daher spricht Blumenberg in Bezug auf die Antithese von Mythos und Vernunft von einer „späten und schlechten Erfindung“ (S. 56).

Der staatliche Strafanspruch und die neueren Ergebnisse der Hirnforschung * Roland Wittmann I. Préméditation und Willensfreiheit Der Ich-Erzähler beschreibt in Albert Camus’ Roman „Der Fremde“ (L’étranger) seine Tat – die Tötung eines Arabers in der Nähe von Algier – mit folgenden Worten: „Es war dieselbe Sonne wie an dem Tag, an dem ich Mama beerdigte, und wie damals tat mir besonders die Stirn weh, und alle Adern pochten gleichzeitig unter der Haut. Wegen dieses Brennens, das ich nicht mehr ertragen konnte, machte ich eine Bewegung nach vorn. Ich wusste, dass das dumm war, dass ich die Sonne nicht los würde, wenn ich einen Schritt weiter ginge. Aber ich tat einen Schritt, einen einzigen Schritt nach vorn. Und dieses Mal zog der Araber, ohne aufzustehen, sein Messer und ließ es in der Sonne spielen. Licht sprang aus dem Stahl, und es war wie eine lange, funkelnde Klinge, die mich an der Stirn traf. Im selben Augenblick rann mir der Schweiß, der sich in meinen Brauen gesammelt hatte, auf die Lider und bedeckte sie mit einem lauen, dichten Schleier. Meine Augen waren hinter diesem Vorhang aus Tränen und Salz geblendet. Ich fühlte nur noch die Zimbeln der Sonne auf meiner Stirn und undeutlich das leuchtende Schwert, das dem Messer vor mir entsprang. Dieses glühende Schwert wühlte in meinen Wimpern und bohrte sich in meine schmerzenden Augen. Da geriet alles ins Wanken. Vom Meer kam ein starker, glühender Hauch. Mir war, als öffnete sich der Himmel in seiner ganzen Weite, um Feuer regnen zu lassen. Ich war ganz und gar angespannt, und meine Hand umkrallte den Revolver. Der Hahn löste sich, ich berührte den Kolben, und mit hartem, betäubendem Krachen nahm alles seinen Anfang. Ich schüttelte Schweiß und Sonne ab. Ich begriff, dass ich das Gleichgewicht des Tages, das ungewöhnliche Schweigen eines Strandes zerstört hatte, an dem ich glücklich gewesen war. Dann schoss ich noch viermal auf einen leblosen Körper, in den die Kugeln eindrangen, ohne dass man es sah. Und es waren gleichsam vier kurze Schläge an das Tor des Unheils.“ Der Täter wird verhaftet, in der Hauptverhandlung plädiert der Staatsanwalt auf préméditation, sieht also das Merkmal als gegeben an, das nach französischem Strafrecht die vorsätzliche * Dem Jubilar, dessen wissenschaftliches Werk modernste Probleme des Strafrechts in sich schließt, widme ich diese Abhandlung als Zeichen langjähriger Freundschaft.

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Tötung (homicide volontaire, meurtre) vom Mord (assissinat) unterscheidet. Der Verteidiger bringt Gründe zu Gunsten des Angeklagten vor. Der Ich-Erzähler kann mit all dem nichts anfangen. Nach den Motiven seiner Tat befragt antwortet er, „die Schuld an allem hätte die Sonne“. Das Gericht nimmt préméditation an und verhängt – wie nach damaligem französischem Recht möglich – wegen Mordes die Todesstrafe durch Enthauptung des Täters mit der Guillotine. Die normative Sichtweise des Staatsanwalts, des Verteidigers und des Gerichts und die Tat, wie sie der Ich-Erzähler empfindet, klaffen auseinander. Die Tat bricht über den Ich-Erzähler aus dessen Sicht gleichsam als ein Naturereignis, als blinder Kausalverlauf herein, die nachträgliche normative Burteilung kann er nicht nachvollziehen. Dem Staatsanwalt geht es um den Nachweis der préméditation, um das Vorliegen eines Mordes nach dem im code pénal verankerten System der Tötungsdelikte 1. Dieses Merkmal gehört zur subjektiven Tatseite, hat also mit der Frage, ob der Täter auch hätte anders handeln können, unmittelbar nichts zu tun. Es ist ja an der Handlung ablesbar, ob préméditation vorliegt oder nicht. Wie der Täter zur préméditation gekommen ist, ob er durch die Sonnenhitze determiniert war, einen anderen Menschen zu töten, ist nicht entscheidend 2. Nehmen wir an, ein deutsches Gericht hätte mit diesem Täter einen Dialog über die Schuld nach der klassischen Definition des Bundesgerichtshofs zu führen versucht. Was hätte es gebracht, wenn man ihm entgegengehalten hätte, er hätte auch anders handeln können? „Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich für das Unrecht und gegen das Recht entschieden hat, obwohl er sich für das Recht und gegen das Unrecht hätte entscheiden können“ 3. Der Allgemeine Teil des StGB hat sich nach der Straf1 Vgl. Art. 296/297 des code pénal von 1810. Die préméditation wurde als Abgrenzungsmerkmal des Mordes gegenüber der vorsätzlichen Tötung von Art. 221 –3 des französischen Strafgesetzbuchs von 1992 beibehalten. Préméditation setzt einen reflektierten Plan voraus, den der Täter vor der Handlung bildet, um das Verbrechen zu begehen. §211 des deutschen StGB von 1871 definierte Mord als Tötung mit Überlegung. Diese Definition galt bis 1941. Seitdem liegt Mord dann vor, wenn Merkmale erfüllt sind, die im Beweggrund, in der Tatausführung oder Tatzweck liegen. Art. 112 des Schweizerischen StGB stellt nicht auf Vorbedacht oder Überlegung, sondern darauf ab, ob das Handeln des Täters besonders skrupellos ist, und sieht dieses Merkmal namentlich dann als gegeben an, wenn der Beweggrund des Täters, der Zweck der Tat oder die Art der Ausführung besonders verwerflich sind. Art. 148 Abs. 2 des polnischen StGB in der seit 26.9.2005 geltenden Fassung verwendet neben einigen Merkmalen der Tatausführung das Merkmal der besonderen Verwerflichkeit der Motivation. Das japanische StGB unterscheidet nicht zwischen Mord und Totschlag. Nach §199 jap. StGB wird, wer einen anderen – vorsätzlich, vgl. §38 Abs. 1 – tötet, mit dem Tode oder mit lebenslanger Zuchthausstrafe oder mit Zuchthaus nicht unter 5 Jahren bestraft. Dem Mordbegriff des code pénal entspricht der Begriff des first degree murder etwa im Strafrecht des US-Bundesstaats Kalifornien oder im Strafrecht von Kanada insoweit, als auch dieser premeditation voraussetzt. 2 Es ist, um es mit Kant auszudrücken, bei einer solchen Vorgehensweise nur die subsumierende Urteilskraft verlangt, nicht eine wissenschaftliche Erklärung des Täterverhaltens.

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rechtsreform in §17, §§19 –21, §29, §35 und §46 Abs. 1 Satz 1 auf den Begriff der Schuld festgelegt 4. Der Gesetzgeber hat sich durch die Regelung des §17 StGB nicht nur gegen die ausnahmslose Geltung des Grundsatzes error iuris nocet entschieden, sondern auch dafür, den unvermeidbaren Verbotsirrtum als fehlende Schuld und nicht als Fehlen des Vorsatzes einzuordnen 5. Das Bundesverfassungsgericht hat den Grundsatz nulla poena sine culpa (keine Strafe ohne Schuld) mit Verfassungsrang versehen, indem es den Schuldvorwurf mit der Menschenwürde und dem Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit verknüpft hat 6. Nichts von alledem bleibt, wenn „die Sonne an allem schuld war“. Denn damit ist die Kausalität gemeint, wie ja in der Alltagssprache ‚schuld sein an etwas‘ auch sonst im Sinne des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einer Bedingung und einer nachteiligen Folge verwendet wird, etwa: Schuld an der Dürrekatastrophe war, dass der Regen seit Monaten ausblieb. Der Ich-Erzähler sieht sich als determiniert durch die klimatischen Verhältnisse zur Tatzeit. Nach angloamerikanischem Strafrecht würde das Gericht zwar den Täter zu Beginn fragen, ob er auf schuldig (guilty) oder nicht schuldig (not guilty) plädiert. Die Geschworenen würden aber, wenn der Angeklagte auf nicht schuldig plädiert hat, danach fragen, ob er bestreitet, der Täter zu sein, oder behauptet, in Notwehr gehandelt zu haben und zuletzt danach, ob er mit criminal intent gehandelt hat. Nach dem actus reus stellt sich im angloamerikanischen Kriminalverfahren sogleich die Frage nach der mens rea. Die verbrecherische Absicht ist den Umständen zu entnehmen, die Frage, ob der Täter auch hätte anders handeln können, braucht gar nicht gestellt zu werden. Es geht ja nicht darum, was der Täter hätte tun können, sondern darum, was er getan hat, ob er es getan hat, ob er es zu Recht getan hat und ob er es mit criminal intent getan hat. Im angloamerikanischen Kriminalrecht wird vorausgesetzt, dass der Täter die Gesetze kennt, es gilt der Satz ignorance of the law is no excuse (ignorantia iuris non excusat) 7. Das Unrechtsbewusstsein ist daher Teil der mens rea. Bei Geisteskrankheit fehlt die Verantwortlichkeit (responsibility, liability).

3 Es geht also nicht nur um das Andershandelnkönnen, sondern auch um den imaginären kognitionalen Vorgang, wonach der Täter sich für das Unrecht und gegen das Recht entschieden hat. Die Zuschreibung einer solchen Innerlichkeit entfällt immerhin bei dem Täter, der infolge einer psychischen Störung als schuldunfähig angesehen wird. Sie passt – ganz unabhängig vom mind-brain-Problem – gar nicht bei Fahrlässigkeitstaten. 4 Zuvor kam der Begriff der Schuld in §50 Abs. 1 a.F. im Zusammenhang mit der limitierten Akzessorietät vor. §50 Abs. 1 a.F., der dem heutigen §29 StGB entspricht, wurde durch den NS-Gesetzgeber im Jahre 1943 eingeführt (RGBl I339). 5 Immerhin hat das Andershandelnkönnen im Gesetzeswortlaut keine Aufnahme gefunden. 6 Vgl. BVerfGE 20, 323 (331); 25, 269 (285). 7 Das ist gleichbedeutend mit error iuris nocet. Immerhin kann der Verbotsirrtum nach der Gerichtspraxis strafmildernd ins Gewicht fallen.

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II. Kriminologie und Neurokriminologie Mit Willensfreiheit lässt sich kriminelles Verhalten nicht erklären. Wissenschaftstheoretisch gesehen geht die Kriminologie immer schon deterministisch vor, indem sie nach den Ursachen von Verbrechen fragt, sonst würde sie in eine leere Metaphysik abgleiten 8. Die traditionelle Kriminologie fragt etwa nach dem kriminogenen Milieu, aus dem heraus der Täter die Straftat begangen hat, oder – mit Merton – nach dem abgekürzten Weg zum Erfolg, wie ihn Diebe, Räuber oder Geiselnehmer beschreiten. Die Neurokriminologie unterscheidet sich von der traditionellen Kriminologie dadurch, dass sie den Täter auf der empirischen Grundlage der Resultate, die durch die Hirnforschung mit Hilfe neu entwickelter Instrumente möglich geworden sind, als hochkomplexes physiologisch-neurologisches System begreift. Zu den traditionellen Instrumenten der Elektroenzephalographie (EEG) und der Magnetoenzephalographie (MEG) trat die Magnetresonanztomographie 9 und die Positronemissionstomographie (PET) hinzu. Auf diese Weise ist es möglich, eine wissenschaftlichen Erklärung der Tat auf der Grundlage empirischer Analyse auszuarbeiten, sofern sich bei dieser Auffälligkeiten der Hirnregionen und der Hirnfunktionen zeigen 10. Eine solche neurologisch-physiologische Erklärung ist nicht nur für die Beurteilung der Tat von Bedeutung, sondern auch für die Prognose des weiteren Verhaltens des Täters. Hirnschädigungen, aber auch eine veränderte Hirnstruktur lassen sich mit Hilfe der neuen Instrumente der Hirnforschung empirisch erfassen. Neurologisch bekannt und durch die Magnetresonanztomographie nachweisbar ist z.B. die Tatsache, dass Läsionen des präfrontalen Cortex die Aggressivität erhöhen. Pathologische Lügner haben nach einer Studie der Universität von Südkalifornien eine veränderte Hirnstruktur. Weitere Ergebnisse der Hirnforschung, die auch andere Verhaltensweisen empirisch erklären können, sind zu erwarten. Die physiologischneurologische Analyse begründet die Möglichkeit eines externalistischen Vorgehens. Die Vorstellungen des Täters, die der Tat vorausgehen, werden in ihrer kognitiven Bedingtheit erfasst, ihr Inhalt wird also nicht als solcher schon als hinreichende Erklärung der Tat betrachtet. Für die Rechtsordnung stellt sich damit die Aufgabe neu, welche Arten von Persönlichkeitsstörungen die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließen oder mindern und bei welchen trotz der Determi8 Vgl. hierzu bereits U. Scheffler, Kriminologische Kritik des Schuldstrafrechts, Frankfurt am Main, 1985, 64ff. 9 Gebräuchlich ist die Abkürzung für den ursprünglichen englischen Ausdruck functional magnetic resonance imaging (fMRI). 10 Der empirische Charakter eines Vorgehens ist nicht schon durch die Messbarkeit von etwas gewährleistet. Die absurden Messungen von Lombroso haben zur wissenschaftlichen Erklärung von Verbrechen nichts beigetragen. Entscheidend ist vielmehr, ob es sich um Messdaten handelt, die in bezug auf das Täterverhalten objektiv erklärungsrelevant sind, und entscheidend sind die Instrumente, die der neurologischen Forschung zur Verfügung stehen.

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niertheit des Täterverhaltens der Täter als für die Tat verantwortlich anzusehen ist. III. Willensfreiheit als ungeeignete und unnötige Rechtfertigungsstrategie für den staatlichen Strafanspruch Eine angebliche Stütze für die Annahme der Willensfreiheit ist die Behauptung, dass sonst eine Ethik und der staatliche Strafanspruch nicht zu begründen wären. An diese normative Behauptung, die in Gestalt einer reductio ad absurdum einhergeht und geradezu mit axiomatischem Schein versehen wird, werden als empirisch betrachtete Sätze angereiht, die das Vorhandensein einer entsprechenden Innerlichkeit des Täters belegen sollen 11. Die Verteidiger der Vorstellung der Willensfreiheit 12 haben das Argument vorgebracht, die Möglichkeit des Andershandelnkönnens ergebe sich aus der Innenperspektive des Handelnden. So findet sich die Behauptung, es gebe Straftäter, die ihre Strafe akzeptierten, weil sie nach eigener Einsicht etwas für die Tat könnten – wobei in dieses ‚Etwas dafür Können‘ sogleich der irreale Konditionalsatz hineinprojiziert wird, der Täter hätte die Tat auch nicht begehen können. Die Innenperspektive des Ich-Erzählers bei Camus sieht ganz anders aus. Er empfindet seine Tat als eine Folge der Verkettung von Umständen, durch die er gleichsam aus dem Alltagsleben herausgerissen wurde und er kann mit den Vorwürfen des Staatsanwalts ebenso wenig etwas anfangen wie mit den Milderungsgründen, die sein Verteidiger zu seinen Gunsten vorbringt. Als weitere angebliche Stütze findet sich die Annahme, die lebensweltliche Perspektive sei von der Sichtweise der Neurobiologie zu unterscheiden. Bei dem Begriff ‚Lebenswelt‘ ist zunächst unklar, ob damit allgemein eine Sphäre der vorwissenschaftlichen Alltäglichkeit gemeint ist oder der konkrete soziale Kontext, in welchem der einzelne Mensch existiert. Die Annahme, dass für die Konstituierung des Individuums die Sozialisation von großer Bedeutung ist, ist plausibel, solange sie sich auf einen konkreten sozialen Kontext bezieht 13. Sie kann aber nicht dafür herhalten, eine Sphäre vorwissenschaftlicher Alltäglichkeit anzunehmen, um aus 11

Ist es vorstellbar, dass der mit den Beweisen konfrontierte Täter, der aus Wut über eine Kränkung eine Prostituierte getötet hat, sich bei seiner Vernehmung zur Tat dahin einlässt, er sei wütend gewesen, habe sich gegen das Recht und für das Unrecht entschieden und dann die Frau erwürgt? Ist bei Tötung des Intimpartners, des Ehegatten, des Lebensgefährten oder der Lebensgefährtin, des Freundes oder der Freundin eine ähnliche Einlassung vorstellbar? Wenn das in BGHSt.2, 194, 200 nicht so gemeint war, wie dann? 12 Es empfiehlt sich nicht, diese Vorstellung als Alternativismus zu bezeichnen, wie viele das tun. Es geht nicht um „Denkrichtungen“ auf Seiten derer, die das Täterverhalten analysieren, sondern um die Realien der „Innerlichkeit“ des Täters. 13 Wenn z.B. Aristoteles den Menschen als zoon politikon bezeichnet, so ist damit der Mensch im sozialen Kontext der griechischen Polis gemeint.

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ihr wissenschaftliche Folgerungen zu ziehen. Sie ist also auch keine Stütze für die Behauptung, dass in der „Lebenswelt“ der vorwissenschaftlichen Alltäglichkeit die Freiheit des Willens vorausgesetzt werde. Die Konstruktion einer allgemeinen „Lebenswelt“ ist in Wirklichkeit eine deutsche Variante des common sense-Arguments, also der Annahme, es gebe Aussagen, die gewiss sind, also nicht falsifiziert werden können 14. Die Lebenswelt ist eine Idylle, in der unbeweisbare Annahmen plötzlich als gewiss erscheinen und als Prämissen für weitere Annahmen benutzt werden. Die angebliche Verankerung der Willensfreiheit in der Innerlichkeit des Straftäters ist eine bloße Projektion von Vorstellungen, mit denen im Strafprozess diejenigen den Täter überziehen, die mit der Beurteilung der Tat befasst sind, sofern sie denn ihrerseits von der Vorstellung der Willensfreiheit ausgehen. Es handelt sich um eine metaphysische, apriorische und in dieser Form ungeeignete Rechtfertigungsstrategie, die den staatlichen Strafanspruch gegenüber dem Täter nicht begründen kann. Sie ist ein Annex des Vergeltungsstrafrechts. Denn wenn Gleiches mit Gleichem vergelten will, liegt es nahe, dem Täter vorzuwerfen, dass er sich gegen das Recht entschieden habe, das Recht also durch Vergeltung wiederhergestellt werden soll. Für ein Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafvollzugsrecht, das dem Täter seine strafrechtliche Verantwortung vor Augen führen und ihn resozialisieren will, geht es nicht darum, ob der Täter, wenn er z.B. von seinem Nachbarn nicht gekränkt und dadurch in Wut versetzt worden wäre, den Nachbarn nicht erschossen, sondern am Leben gelassen hätte. Der irreale Konditionalsatz, wonach der Täter hätte anders handeln können, hat zur impliziten Voraussetzung, dass nur die Tat unterbleibt, die Bedingungen im übrigen aber gleich sind. Es wird also insbesondere die transworld identity des Täters vorausgesetzt, wie bei der Verwendung von Eigennamen in irrealen Konditionalsätzen: „Iulius Caesar hätte den Rubicon nicht überschreiten können“. Im Kriminalverfahren geht es aber um die Tat dieses Täters in dieser Welt 15. Willensfreiheit ist als Rechtfertigungsstrategie auch unnötig. Der Täter verliert nichts an Menschenwürde, wenn man davon ausgeht, was er getan hat, statt zu fragen, ob er auch hätte anders handeln können. Es genügt, dass normativ die Rechtsordnung ihn – sofern er nicht geisteskrank ist oder an einer geistigen Störung leidet – als für die Tat verantwortlich ansieht 16. Die im Verhältnis der 14 Die Zweifelhaftigkeit des common sense-Arguments hat bereits Wittgenstein in seiner Schrift über Gewissheit aufgezeigt. 15 Es wäre kein Ausweg anzunehmen, es handle sich beim Andershandelnkönnen um die Umschreibung eines Dispositionsprädikats, der Täter habe also eine Disposition gehabt, die ihn an der Begehung der Tat hätte hindern können. Wenn die Wasserlöslichkeit dieses Stücks Zucker sich herausgestellt hat, da es sich im Wasser aufgelöst hat, dann hat es keinen Sinn danach zu fragen, ob es sich nicht auch als nicht löslich hätte erweisen können. Bei der Analyse der Täterpersönlichkeit geht es darum, die Persönlichkeitsstörung empirisch zu ermitteln, die zum kriminellen Verhalten geführt hat.

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Sanktionsbegründung getätigte Projektion von irrealen Konditionalsätzen – „der Täter hätte auch anders handeln können“ oder „der Täter hätte sich für das Recht entscheiden können“ – in die Innerlichkeit des Täters hat weder mit dessen Menschenwürde noch mit seiner Eigenverantwortlichkeit das geringste zu tun. Ebensowenig ist die Vorstellung des Andershandelnkönnens nötig, um die Strafe auf das rechtsstaatlich gebotene Maß zu begrenzen. Schon die Vertreter des Vergeltungsstrafrechts haben das Argument vorgebracht, Vergeltung beschränke zugleich das Maß der Strafe. In Wirklichkeit ist der verfassungsrechtlich verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für die Begrenzung der Strafe notwendig, aber auch ausreichend. IV. Das mind-brain-Problem im Lichte der neueren Ergebnisse der Hirnforschung Wie sich mentale Vorgänge zu Zuständen im Gehirn verhalten, wird schon seit langem diskutiert, nicht erst seitdem die Abbildung solcher Zustände mit den neuen Instrumenten der Hirnforschung möglich ist. Es lohnt sich, einen kurzen Blick auf diese Diskussion zu werfen, da ja für die Willensfreiheit für alle Menschen, die nicht an einer psychischen Krankheit leiden, eine mentale Instanz vorausgesetzt wird, die einen – im Ergebnis normgemäßen oder normwidrigen – Kausalverlauf im Gehirn in Gang setzen kann. Die Voraussetzung einer kausal wirksamen mentalen Instanz erstarrt zu einem Apriori, sobald man mit dem Bundesgerichtshof dem Täter vorwirft, er hätte auch anders handeln können. Dass es zum mind-brain-Problem auch andere Positionen geben könnte, kommt gar nicht ins Blickfeld. Dabei ist dieses Problem in der angloamerikanischen philosophy of mind 17 längst Gegenstand eingehender wissenschaftstheoretischer Analyse. Rückblickend werden dabei im wesentlichen vier Positionen unterschieden. Die erste ist die des Parallelismus, wonach mentale Vorgänge unabhängig von physikalisch-chemischen Vorgängen im Gehirn ablaufen, so dass sie aufeinander nicht kausal einwirken. Die zweite, die bereits von Descartes vertreten wurde 18, ist die des Interaktionismus, wonach mentale Vorgänge auf Zustände des Gehirns einwirken können und umgekehrt. Die dritte ist die des Epiphänomenalismus, wonach mentale Vorgänge Begleiterscheinungen bestimmter Zustände des Gehirns sind, ohne dass sie das Gehirn beeinflussen könnten. Die vierte Position ist die Identitätstheorie, wonach mentale Ereignisse mit Ereignissen im Gehirn identisch sind. Eine fünfte, neue16 Der „staatserhaltenden Fiktion“ der Willensfreiheit (vgl. Kohlrausch, FS für Güterbock, l910, 26) bedarf es nicht. 17 Der Ausdruck ist kaum auf deutsch wiederzugeben. Es handelt sich ja nicht um eine Philosophie des „Geistes“ im Hegelschen Sinn, sondern um eine Philosophie mentaler Funktionen und Zustände. 18 Aus neuerer Zeit vgl. Karl R. Popper / John C. Eccles, The Self and its Brain, Berlin / New York, 2. Aufl. 1985, 361ff.

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re Position ist die des Funktionalismus, wonach es Eigenschaften des Gehirns gibt, die nicht auf dessen physikalisch-chemische Basis zurückführbar sind, ohne dass man deshalb eine vom Gehirn unabhängige mentale Instanz voraussetzen müsste 19. Angesichts des bereits unabhängig von den neueren Ergebnissen der Hirnforschung erreichten Diskussionsstands zum mind-brain-Problem wirkt die apriorische Position des Bundesgerichtshofs geradezu archaisch. Den Ausgangspunkt der neurologischen Diskussion der Willensfreiheit bilden die erstmals 1979 durchgeführten Experimente von Benjamin Libet an der University of California. Versuchspersonen mussten dabei innerhalb einer gegebenen Zeit zu einem von ihnen zu wählenden Zeitpunkt eine Bewegung ausführen, und zwar einen Finger der rechten Hand oder die ganze rechte Hand beugen. Parallel zur Bewegung wurde das dazugehörende Hirnsignal gemessen, das die Vorbereitung motorischer Aktivität anzeigt, das sog. Bereitschaftspotenzial. Außerdem mussten die Versuchspersonen den Zeitpunkt angeben, zu dem sie den Entschluss zur Ausführung der Bewegung fassten. Es zeigte sich, dass das Bereitschaftspotenzial der bewussten Willensentscheidung um etwa eine Fünftelsekunde vorausging. Hieraus hat bereits Libet den Schluss gezogen, dass die sog. Willensentscheidung in Wirklichkeit der Ausführung der Handlung nachfolgt. Die Vorstellung, dass wir uns für das Heben der Hand entscheiden und danach die Bewegung ausführen, ist demnach eine Illusion. Der Sache nach reflektieren wir nur über etwas, was schon entschieden ist, freilich nicht in der Form expliziter Reflexion, sondern in der Form der vermeintlichen Antizipation des noch zu Geschehenden. Die Libetschen Experimente wurden später wiederholt und in ihren Ergebnissen bestätigt. Die Frage ist, inwieweit die für einfache Bewegungen durchgeführten Versuche auf andere Verhaltensweisen übertragbar sind, bei denen das Handeln auf bewusstem Abwägen beruht. Es könnte der Einwand erhoben werden, dass das Nachfolgen des Gefühls freier Entscheidung nur für einfache und folgenlose Bewegungen charakteristisch ist. Für Abwägen und Willensfreiheit wäre also bei nichttrivialen Handlungen noch Raum. Doch beschränkt sich die Feststellung, dass die Vorstellung der Willensfreiheit eine ex-post-Verbalisierung des in Wirklichkeit schon Entschiedenen ist, keineswegs auf triviale Handlungen. Das Ergebnis des Libetschen Experiments hat vielmehr auch für nichttriviale Handlungen paradigmatischen Charakter. Das Abwägen, das nichttrivialen Handlungen vorausgeht, ist seinerseits durch determinierende Faktoren bedingt. Es ist schlechthin abwegig, ein bewusstseinsphilosophisches Ich oder eine sonst wie bezeichnete mentale Instanz als ersten unbewegten Beweger vorauszusetzen, der als causa sui 20 gleichsam aus dem Nichts die Ursache der Handlung sein könnte. Eine solche Vorstellung ist aus neurologischer Sicht eine Illusion, da es letztlich darauf ankommt, was aus dem Erfahrungs- und Hintergrundwissen bei der rationalen Entscheidung neuronal 19 20

Vgl. Hilary Putnam, Reason, Truth and History, Cambridge / New York, 1981, 78. In der Philosophie Spinozas ist bekanntlich nur Gott causa sui.

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aktiviert wird. Ethisch relevante Fähigkeiten, wie etwa die Fähigkeit, Empathie zu entwickeln, können mit Hilfe neurowissenschaftlicher Untersuchungen empirisch erfasst werden 21. An die Stelle einer fiktiven mentalen Instanz tritt die Frage nach den Entwicklungsbedingungen eines social brain und die Analyse seiner ethischen Leistungsfähigkeit. V. Kausale oder probabilistische Determiniertheit Freilich könnte sich hier ein Riss in der deterministischen Position zeigen. Denn Erfahrungswissen – z.B. die Kenntnis der Gesetze der Logik oder der rationalen Entscheidungstheorie – kann auch bewusstes Wissen sein, im Gegensatz wohl zum Hintergrundwissen, das allenfalls erst angesichts der konkreten Entscheidung bewusst wird. Ein Unternehmer, der sich für die Herstellung eines neuen Produkts entscheidet, tut dies in der Regel nach Abwägung mehrerer Umstände, so der technischen Realisierbarkeit des Produkts, der Marktchancen, der Arbeits- und Produktionskosten, der Qualität des Produkts und seiner Bewertung im Zusammenhang mit anderen Produkten des Unternehmens. So würde man sich unternehmerische Entscheidungen im Lichte der elementaren Grundsätze der Betriebswirtschaftslehre vorstellen. Der neurobiologische Ansatz erweist sich aber auch bei komplexen Verhaltensweisen als zielführend, sofern man annimmt, dass auch die ex ante-Abwägung von Gründen und Gegengründen – als eine Art Vorverhalten – neurologisch determiniert ist. Wenn etwa der CEO eines bedeutenden Unternehmens auf Errichtung eines corporate empire aus ist und die Übernahme anderer Unternehmen betreibt, wird er dies mit Synergieeffekten oder mit Steigerung der Möglichkeiten der Zielgesellschaft oder mit ähnlichen Sachargumenten begründen. Niemand wird bestreiten, dass Bilanzfälschung einen erheblichen intellektuellen Aufwand erfordert. Das bedeutet aber nicht, dass das ihr zugrundeliegende Verhalten nicht determiniert ist. Dies führt zu der Frage, was Determiniertheit eigentlich heißt. Vielfach wird sie im starken Sinne, d.h. als strenge kausale Notwendigkeit aufgefasst. Wenn Hegel etwa die Notwendigkeit als die Wahrheit der Freiheit bezeichnet, so ist damit die kausale Notwendigkeit gemeint. Die Vorstellung einer kausalen Notwendigkeit liegt auch dem früheren mechanistischen Weltbild zugrunde. Das erscheint schon für das moderne physikalische Weltbild und erst recht für menschliches Verhalten inadäquat. Kann es kausal determiniert sein, wenn ein Forscher eine bestimmte wissenschaftliche Hypothese, ein Dichter ein Gedicht bestimmten Inhalts verfasst oder ein Maler ein bestimmtes Gemälde schafft? Es gab tatsächlich eine Ideologie, die kausale Zuordnungen solcher Art glaubte vornehmen zu können – die marxistische. Baudelaires Gedichte erschienen so als Ausdruck bürgerlicher Dekadenz. 21 Vgl. Jean Decety in: Social Neuroscience, ed. E. Harmon-Jones, P. Winkielman, New York / London, 2007, 246ff. Vgl. auch Martina Piefke / Hans J. Markowitsch, in: Entmoralisierung des Rechts, hrsg. K.-J. Grün, M. Friedman, Göttingen, 2008, 96ff.

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Die Kritiker der neurologischen Beiträge zur wissenschaftlichen Erklärung von Täterverhalten gehen zu Unrecht davon aus, dass die physiologisch-neurologische Bedingtheit menschlichen Verhaltens eine strenge Kausalität bedeutet. Strenge Kausalität würde den Zufall ausschließen und bei Verfügbarkeit entsprechender Ausgangsdaten damit zugleich sichere Prognostizierbarkeit nicht nur krimineller Handlungen, sondern jeglicher Art von Verhalten gewährleisten. Eine solche Sichtweise ist jedoch extrem implausibel. Man weiß z.B., dass Modigliani viele seiner Bilder in betrunkenem Zustand und mit großer Geschwindigkeit gemalt hat. Wäre aber auf Grund kausal-deterministischer Rekonstruktion neuronaler Prozesse sein unverwechselbarer Malstil 22 prognostizierbar? Bekanntlich erhöht ein niedriger Serotoninspiegel die Aggressivität. Niemand würde dies aber als erschöpfende kausale Erklärung akzeptieren, wenn A in der Nacht aufwacht, mit seiner Frau in Streit gerät und sie schließlich erwürgt. Nun könnte man freilich versuchen, über eine mono- oder oligokausale Erklärung hinauszugelangen, also noch weitere Ursachen für das Verhalten des A zu finden, die im Zusammenwirken mit dem niedrigen Serotoninspiegel seine Tat kausal erklären könnten. Letztlich wird man jedoch nicht ausschließen können, dass im Gehirn des A die Verbindungen zwischen den an der Handlung beteiligten Synapsen durch Zufall zustande gekommen sind. Das Verhalten des A erscheint so von außen betrachtet als ein – von Wahrscheinlichkeiten beherrschter – stochastischer Prozess. Wenn nun die kausale Notwendigkeit nicht geeignet ist, die Determiniertheit menschlicher Handlungen und Handlungszusammenhänge zu beschreiben, weil auch zufällige neuronale Prozesse am Zustandekommen der Handlung beteiligt sind, so stellt sich die Frage, was sonst Determiniertheit bedeuten könnte. Um dies zu klären erscheint statt der kausalen Notwendigkeit ein anderer Begriff geeignet, den man in Abgrenzung zur klassischen Konditionierung im Pawlowschen Sinne und zur operanten Konditionierung im Skinnerschen Sinne als konditional-probabilistische Determiniertheit bezeichnen könnte. Bei Pawlow geht es bekanntlich um die sog. bedingten Reflexe. Der Pawlowsche Hund scheidet bei dem Tonsignal, das zunächst mit dem Verabreichen des Essens verknüpft war, Speichel aus, auch wenn später nur noch das Tonsignal ertönt. Vergleichbare Phänomene finden sich auch beim Menschen, man denke nur an die sog. Phantomschmerzen bei Beinamputierten. Bei der operanten Konditionierung im Skinnerschen Sinne geht es um die Beeinflussbarkeit von Verhalten mit Hilfe von positiven oder negativen Verstärkern. Für die Erklärung menschlichen Verhaltens greift die Vorstellung kausaler Notwendigkeit zu kurz. Menschliches Verhalten ist probabilistisch determiniert in dem Sinne, dass – wenn in der Person des Handelnden eine Kombination 22 Es mag sein, dass Betrunkenheit gleichsam die Pinsel löst. Trotzdem besteht eine kausale Lücke zwischen dem determinierenden Faktor des Alkoholismus und dem Resultat des Malverhaltens.

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von Bedingungen zu einem Zeitpunkt erfüllt ist – die Wahrscheinlichkeit einer Handlung bestimmter Art sich erhöht. Der Drogenabhängige, der einen Geldboten niederschlägt, um an Geld für die Beschaffung weiterer Drogen zu kommen, ist konditional determiniert. In einem Münchener Massenlokal hat ein Gast einen anderen umgebracht, weil er einen blauen Pullover trug. War der blaue Pullover aus der Sicht des Täters ein Symbol für Gefährlichkeit, so war er durch diese ‚Kognition‘ zur Tat getrieben. Kognitionen im Kontext der konditionalen Determiniertheit sind also nicht etwa Erkenntnisse, sondern im Sinne eines kognitiven Behaviorismus beliebige Vorstellungen, die das Handeln des Täters determinieren. Der sexuelle Gewalttäter, der das Opfer vergewaltigt, ist konditional determiniert, wenn die gewaltsame Überwindung des Widerstands nach seiner Vorstellung zur sexuellen Befriedigung notwendig ist. Zur Determiniertheit des Vergewaltigers gehört aber auch die Genese einer solchen Vorstellung, etwa die mangelnde Empathie gegenüber dem Sexualpartner, außerdem die Menge des im Organismus des potentiellen Täters vorhandenen oder nach dem Aussuchen des Opfers produzierten Testosterons. Ob es wirklich zur Tat kommt, kann aber immer noch vom Zufall abhängen, also davon, welche Synapsen durch die Wahrnehmung des Opferverhaltens aktiviert werden. Die Neurobiologie hat bis jetzt nicht den Beweis erbracht, dass die Verbindungen zwischen Nervenzellen im Wege kausaler Notwendigkeit, also streng deterministisch entstehen 23. Es ist vielmehr zu vermuten, dass die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns gerade auch auf der Möglichkeit zufälliger Verknüpfungen beruht. Bei dem Sexualstraftäter, der erst durch Misshandlung oder Tötung des ‚Partners‘ zur sexuellen Befriedigung gelangt, liegt allerdings kausale Determiniertheit im Pawlowschen oder Skinnerschen Sinne nahe. Die Änderung des Verhaltens ist bei einem solchen Täter kaum zu erwarten, da sie dem Verzicht auf Sexualität gleichkäme 24. Aus dem gleichen Grund kann auch die Sexualstruktur von Pädophilen kaum geändert werden 25. Damit ist freilich nicht generell die Behauptung verbunden, die konditionale Determiniertheit, die zu sozialschädlich-abweichendem Verhalten führt, könne 23 Auch John R. Searle weist in seinem FAZ-Interview vom 23.3.2008 darauf hin, dass die Frage, ob das menschliche Gehirn streng deterministisch funktioniert, von der neurobiologischen Forschung noch nicht gelöst ist. 24 Das ist kein Argument für die Wiedereinführung der Todesstrafe etwa bei Sexualmördern oder bei Vergewaltigung von Kindern. Für die Vergewaltigung von Kindern hat in den USA der Präsidentschaftskandidat der Demokraten am 25.6.2008 die Todesstrafe gefordert. Zwar habe die Todesstrafe keine präventive Wirkung, aber die Gesellschaft müsse angesichts solcher Taten durch die Todesstrafe ihre Empörung ausdrücken. 25 Vgl. R. Karremann,, Es geschieht am hellichten Tag, Köln, 2007, 210. Zum Kindesmissbrauch allgemein vgl. G. Deegener, Sexueller Missbrauch: Die Täter, Weinheim, 1995; P. Fiedler, Sexuelle Orientierung und sexuelle Abweichung, 2004. Bemerkenswert ist die kognitive Dysfunktion, die diese Sexualstruktur begleitet, etwa die Vorstellung von Pädophilen, es gehe um ein ihnen zustehendes Menschenrecht, den Kindern würden sie nur Gutes tun u.ä. Wie sollte bei solchen Tätern die Vorstellung des Andershandelnkönnens vorhanden sein?

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nicht geändert werden. Im Gegensatz zu den Pawlowschen Experimenten, bei denen die Reaktion durch die Versuchsanordnung mit kausaler Notwendigkeit herbeigeführt wird, entsteht beim Menschen durch die Selbstorganisation der Persönlichkeit eine probabilistische Struktur des Verhaltens. Selbstorganisation könnte hierbei als ein sich von selbst vollziehender objektiver physiologischneurobiologischer Prozess im sozialen Kontext verstanden werden. Die neurobiologische Sicht dieser Selbstorganisation macht es möglich, die Persönlichkeit als Ganzes zum Gegenstand einer empirischen Wissenschaft zu machen, in die auch die Psychiatrie als Wissenschaft vom psychisch kranken Menschen und die Psychologie als Wissenschaft vom psychisch gestörten Menschen eingehen könnte. Möglicherweise werden weitere empirische Untersuchungen zeigen, dass Schizophrenie und manisch depressive Zustände Fehler in der Selbstorganisation darstellen, die änderbar sind. Diese – von der Psychiatrie früher als „endogen“ und damit als nicht weiter erklärbar bezeichneten – Psychosen könnten damit eines Tages heilbar sein, während sie bisher nur auf der Symptomebene vor allem mit Psychopharmaka behandelt werden können 26. VI. Strafrechtliche Verantwortung auf der Grundlage konditional-probabilistischer Determiniertheit Fasst man die Tat als Ergebnis eines stochastischen Prozesses auf, so stellt sich die Frage, welchen Stellenwert dann die normativen Begriffe der Verantwortung und der Schuld haben. Singer und Roth sind in der Tat so weit gegangen vorzuschlagen, die Begriffe Schuld und Strafe nicht mehr zu gebrauchen. Die Freiheitsentziehung etwa beim Sexualstraftäter müsste freilich bleiben, sie hätte ihre Begründung aber nicht in der Schuld, sondern in der Gefährlichkeit des Täters. Keiner kann anders, als er ist – schrieb Wolf Singer in der FAZ vom 8.1.2004. Damit ist der Schuld als Andershandelnkönnen aus neurobiologischer Sicht eine Absage erteilt 27. Dieser Absage liegt allerdings noch die inadäquate Vorstellung einer kausalen Determiniertheit zugrunde. Der Satz Nulla poena sine culpa (Keine Strafe ohne Schuld) freilich scheint für die Erhaltung eines rechtsstaatlichen Sanktionensystems unentbehrlich zu sein. Die Begründung einer Sanktion allein mit der durch die Tat nach außen getretenen Sozialgefährlichkeit des Täters scheint erhebliche Risiken in sich zu bergen. Zum einen könnte sie zu der Tendenz führen, den Täter im Interesse der Allgemeinheit möglichst lange wegzusperren. Auch heute noch lebendig ist die Erinnerung an die Schutzhaft im Terrorregime des Nationalsozialismus sowie an den §20a a.F. StGB, der eine Strafschärfung für sog. gefährliche Gewohnheits26

Bei bestimmten Formen der Schizophrenie kommen bekanntlich Spontanheilungen

vor. 27

Vgl. auch G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt am Main, 2003, 536ff.

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verbrecher vorsah. Es ist schon aus diesem Grund verständlich, dass häufig das Argument vorgebracht wird, das Schuldprinzip diene dem Schutz des Täters. Der Rechtsstaat verfügt jedoch über ein hinreichend starkes Mittel, um eine unangemessene Ausweitung oder den Missbrauch von Sanktionen zu verhindern, ohne dass hierfür auf das Schuldprinzip zurückgegriffen zu werden braucht. Dieses Mittel ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 28. Dieser Grundsatz hat bisher schon in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Strafzumessung eine Rolle gespielt. Er ist zur Begrenzung staatlichen Strafens auch besser geeignet als das Schuldprinzip. Denn aus letzterem kann nicht ohne zusätzliche Annahmen etwa gefolgert werden, dass der zur lebenslangen Freiheitsentziehung verurteilte Täter doch irgendwann die Chance erhalten soll, in die Freiheit entlassen zu werden. Zum anderen könnte der Verzicht auf den Schuldvorwurf und die stärkere Berücksichtigung der Genese der Tat im Kriminalverfahren zur Aushöhlung des Schutzes der Allgemeinheit führen: Tout comprendre c’est tout pardonner. Dies mag für monokausale Erklärungen gelten, wie etwa das Zurückführen der Tat auf eine desolate, durch Konflikte im Elternhaus geprägte Kindheit oder auf das Milieu, in das der Täter geraten ist. Bei der physiologisch-neurologischen Analyse geht es aber nicht um ‚Verzeihen‘, sondern um eine wissenschaftliche Erklärung der Tat auf empirischer Grundlage. Im zweispurigen Sanktionensystem des geltenden deutschen Rechts gibt es – neben der Unterbringung psychisch Kranker in einem psychiatrischen Krankenhaus und der Unterbringung von Alkohol- oder Drogenabhängigen in einer Entziehungsanstalt – bereits einen Bereich, in dem der Schuldvorwurf keine Rolle spielt, nämlich die Sicherungsverwahrung 29. Denn sie wird allein mit der fortdauernden Sozialgefährlichkeit des Täters begründet. Wenn die empirisch begründete Prognose ergibt, dass die konditionale Determiniertheit nicht änderbar ist, so etwa bei Sexualmördern, bei sexuellen Gewalttätern oder bei Pädophilen, kann sogar die Sicherungsverwahrung ohne zeitliche Grenze gerechtfertigt sein. Die entsprechende Regelung hat das Bundesverfassungsgericht für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt 30. Die Begründung für den Unterschied zwischen Freiheitsentziehung und Sicherungsverwahrung liegt nicht im imaginären Schuldvorwurf, sondern in der Unterschiedlichkeit auf der Ebene der Prognose. Die Verantwortlichkeit des Täters ist die gemeinsame Grundlage sowohl der Freiheitsentziehung als auch der etwa sich daran wegen ungünstiger Prognose anschließenden Sicherungsverwahrung, die Konstruktion eines Schuld28 Vgl. auch schon U. Scheffler, Grundlegung eines kriminologisch orientierten Strafrechtssystems, Frankfurt am Main, 1987, 79ff. 29 §66 StGB, §§129ff. StVollzG. In Polen und in Japan gibt es keine Sicherungsverwahrung. Aus dem angloamerikanischen Rechtskreis ist immerhin der australische Bundesstaat Queensland zu nennen. Dort ist nach einem Gesetz aus dem Jahre 2003 eine post-sentence preventive detention bei Sexualstraftätern mit hohem Rückfallrisiko möglich. 30 BVerfGE 109, 133.

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vorwurfs ist also nicht nur im Bereich der Sicherungsverwahrung, sondern auch schon im Bereich der Freiheitsentziehung unnötig. Bei Freiheitsentziehung gibt es eine Prognose, dass die Resozialisierung durch den Vollzug und bei günstiger zwischenzeitlicher Prognose auch im Fall vorzeitiger Entlassung gelingen kann. Der Grund der Sicherungsverwahrung ist die zunächst oder auf Dauer ungünstige Prognose. Der Satz „Keine Strafe ohne Schuld“ ist freilich so sehr in der Vorstellung eines rechtsstaatlichen Strafrechts verankert und die Zuweisung von Schuld überdies in der Alltagssprache so sehr verwurzelt, dass es kaum zu erwarten ist, dass die Konzeption eines ohne den Begriff der Schuld auskommenden Sanktionensystems sich in nächster Zeit wird durchsetzen können. Wir wollen dennoch versuchen, das im gegenwärtigen Diskurs kaum Vorstellbare zu denken 31. Noch schwieriger mag es erscheinen, auf den Begriff der Strafe zu verzichten. Gibt es keine Schuld, dann ist es auch nicht angemessen, die Freiheitsentziehung oder eine wegen einer Tat angeordnete Geldzahlung eine Strafe zu nennen 32. Singer und Roth folgern in der Tat, dass auch auf den Begriff der Strafe verzichtet werden sollte, vorerst ein gewagtes Ansinnen. Bedenkt man freilich die moderne Entwicklung der Theorie der Strafzwecke, insbesondere die Hinwendung zum Resozialisierungsstrafrecht 33, so ist der Gedanke, nicht mehr von Strafe zu sprechen, so fernliegend nicht. Die Resozialisierung hat dann Erfolg, wenn es gelingt, die konditional-probabilistische Determiniertheit des Täters zu ändern, also die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls zu minimieren. Das Resozialisierungsstrafrecht geht davon aus, dass hierzu im Zeitpunkt der Verurteilung des Täters jedenfalls die Aussicht besteht, mag sie auch gering sein, wie etwa bei Sexualmördern, sexuellen Gewalttätern oder Pädophilen. Resozialisierung hat nichts mit der Konzeption einer an die bessere Einsicht des Täters appellierenden „Umerziehung“ zu tun, aber auch nichts mit „Gehirnwäsche“. Resozialisierung dient spezialpräventiv der Verteidigung der Rechtsordnung. Für die Resozialisierung reicht es nicht, wenn man dem straffällig gewordenen Täter die Fiktion entgegenhält, dass er auch hätte anders handeln können, es kommt vielmehr auf die Schaffung realer Bedingungen an, die das Rückfälligwerden des Täters verhindern. Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich aus Art. 2 Abs. 1 und aus Art. 1 des Grundgesetzes gefolgert, dass Resozialisierung als Ziel des Strafvollzugs Verfassungsrang hat 34. Im Strafvollzug 31 Demgegenüber will R. Merkel, wie schon früher, so auch in seinem neu erschienenen Buch Willensfreiheit und rechtliche Schuld, Baden-Baden, 2008, am Schuldstrafrecht festhalten. Ähnlich Grischa Detlefsen, Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Perspektive des Schuldprinzips, Berlin, 2006, 326ff. 32 Der Satz „Keine ‚Strafe‘ ohne ‚Schuld‘“ ist also metasprachlich wahr. 33 Vgl. nur §2 StVollzG. 34 Entscheidung vom 1.7.1998, 2 BvR 441/90. Das polnische Strafvollzugsgesetz von 1997 legt sich sowohl bei der Freiheitsbeschränkung als auch bei der Freiheitsentziehung

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hat es die Justiz mit der Täterpersönlichkeit zu tun, wie sie wirklich ist, nicht mit einem imaginären Wesen, das auch hätte anders handeln können. VII. Strafurteil und Strafvollzug auf der Grundlage strafrechtlicher Verantwortlichkeit Verzichtet man auf den Begriff der Schuld im Sinne des Andershandelnkönnens, entsteht die Frage, was die Sanktion, die weiterhin als notwendig betrachtet werden muss, ihrem Grunde und ihrem Ausmaß nach mit der Handlung und der Persönlichkeit des Täters verknüpft. Der Begriff, der diese Verknüpfung leisten kann, ist die strafrechtliche Verantwortung im Sinne einer objektiven Zurechnung der Handlung zur Person des Täters. Verantwortung lässt sich normativ zurechnen, weil sie selbst etwas Normatives ist. Wer Andershandelnkönnen behauptet, nimmt demgegenüber einen fiktiven Sachverhalt an. Die Zurechnung eines fiktiven Sachverhalts ist jedoch mit einem rechtsstaatlichen Strafrecht unvereinbar. Der normative Begriff der Verantwortung wird durch die neurologische Sicht der Täterpersönlichkeit nicht in Frage gestellt. Er kann im Gegenteil erstmalig mit positivem Inhalt versehen werden, wird also nicht mehr nur als das Fehlen von Ausschlussgründen oder als Grundlage des Vorwurfs verstanden, dass der Täter seine Zurechnungsfähigkeit missbraucht habe. Der Täter ist für die Tat verantwortlich, wenn seine durch sein rechtswidriges Verhalten indizierte Resozialisierung möglich erscheint, weil der Täter – im Gegensatz zu psychisch Kranken – normativ ansprechbar ist. An die Stelle der ex ante-Fiktion des Andershandelnkönnens tritt die empirisch begründbare und zu begründende Prognose ex post. Die Frage dabei ist, ob angesichts der begangenen Tat künftiges rechtstreues Verhalten des Täters erreicht werden kann. Eine solche Prognose setzt die Analyse der Persönlichkeit des Täters voraus. Eine Prognose ex post ist also nicht nur für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nötig, sondern generell für die Verhängung jeder strafrechtlichen Sanktion. Der Strafrahmen eröffnet die Möglichkeit der hierbei notwendigen Individualisierung. Die Schwere der Tat und die Resozialisierbarkeitsprognose zusammen begründen die Höhe der Sanktion innerhalb des Strafrahmens, aber auch die möglicherweise notwendige Sicherungsverwahrung. Gehört die prognostische Beurteilung der Resozialisierbarkeit bereits zur Verhängung jeder strafrechtlichen Sanktion, dann hat das allerdings zur Folge, dass sie bereits im Strafprozess und im Strafurteil berücksichtigt werden muss. Es ist daher schon im Strafprozess eine wissenschaftliche, d.h. neurokriauf das Vollzugsziel der Resozialisierung fest, vgl. Art. 53 §1 Satz 2, Art. 67 §1. Die Regelung des Art. 38 sieht die Mitwirkung von Vereinen, Stiftungen und Religionsgemeinschaften auch bei der Wiederaufnahme des Täters in die Gesellschaft („Readaptation“) vor. Das ungarische StGB legt sich in §37 hinsichtlich der Strafzwecke zwar neben der Spezialprävention auch auf die Generalprävention fest. §19 der gesetzkräftigen VO über Straf- und Maßregelvollzug aus 1979 betrachtet aber die Resozialisierung als Vollzugsziel.

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minologische Erklärung der Tat herbeizuführen, damit im Strafvollzug geeignete Resozialisierungsstrategien ausgearbeitet werden können. Demgegenüber überlässt ein Strafprozess, der sich an der fiktiven materiellrechtlichen Vorstellung des Andershandelnkönnens orientiert, die volle Last der Beschäftigung mit dem wirklichen Täter nach dessen Strafantritt dem Strafvollzug: Der normative Täter des Strafprozesses und der wirkliche Täter des Strafvollzugs fallen auseinander. Der Strafvollzug ist ein integraler Teil der Strafjustiz 35. Es ist an der Zeit, das materielle Strafrecht und das Strafurteil auch vom Strafvollzugsrecht her zu sehen, Resozialisierung also nicht nur theoretisch als einen der Strafzwecke zu berücksichtigen. Leidet der Täter an einer psychischen Krankheit oder Störung, so ist er für sein Tun nicht oder – im Falle verminderter Zurechnungsfähigkeit – nur eingeschränkt verantwortlich. Um dies begründen zu können, bedarf es nicht des Begriffs der Schuld im Sinne des Andershandelnkönnens. Das gleiche gilt für die fehlende Verantwortlichkeit von Kindern. Die Rechtsordnung rechnet Kindern oder psychisch Kranken ihre Tat nicht zu, weil sie normativ schlechthin unansprechbar sind. Nicht die Fiktion der Willensfreiheit trennt den psychisch kranken und deshalb nicht verantwortlichen Täter von dem Täter, der für seine Tat verantwortlich ist, sondern die krankhafte Art seiner Determiniertheit. Zwar lässt sich die Tat eines nicht an einer psychischen Krankheit oder Störung leidenden Täters psychologisch als eine Persönlichkeitsstörung erfassen und so die Genese der Tat erklären, doch sind psychiatrisch diagnostizierbare Leiden von bloßen Persönlichkeitsstörungen zu unterscheiden. Nicht überzeugend ist daher das Argument, die physiologisch-neurologische Analyse des Täterverhaltens würde die Gefahr mit sich bringen, dass dem Täter das begangene Unrecht wie einem psychisch Kranken nicht zugerechnet werden könnte. Der Versuch, Persönlichkeitsstörungen durch geeignete Resozialisierungsmaßnahmen zu beheben, ist – von Ausnahmefällen abgesehen – realistisch, der psychisch Kranke bedarf hingegen psychiatrischer Behandlung. Gründe, von denen bisher angenommen wurde, dass sie die Schuld ausschließen, würden im Ergebnis weiterhin der Verurteilung des Täters entgegenstehen 36. Eine Pflichtenkollision, die nicht schon die Rechtswidrigkeit ausschließt, würde die Verantwortung ausschließen, nicht die „Schuld“. Das gleiche sollte – entgegen §35 StGB – beim „entschuldigenden“ Notstand gelten. Bei einem unvermeidbaren Verbotsirrtum würde die strafrechtliche Verantwortung entfallen, nicht, wie §17 StGB es vorsieht, die Schuld. Das Nichtvorliegen eines vermeidbaren Ver35 Auch der japanische Gesetzgeber widmet in letzter Zeit dem Strafvollzug größere Aufmerksamkeit, vgl. Keiichi Yamanaka, Keiho soron (Strafrecht AT), 2. Aufl. 2008, 1053. 36 Es ist misslich, dass der Gesetzgeber sich wie geschehen materiellrechtlich auf einen bestimmten Verbrechensaufbau festgelegt hat, ohne dass dies für die Beurteilung der Verantwortlichkeit des Täters und der mit der Tat verknüpften Sanktion notwendig gewesen wäre.

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botirrtums wäre also eine subjektive Bedingung der Verantwortlichkeit. Gründet man die Sanktion auf die Verantwortung, so braucht das nicht die Rückkehr zur Vorsatztheorie zu bedeuten. Die probabilistisch-deterministische Struktur des Täterverhaltens bedeutet nicht, dass die innere Tatseite sich gleichsam in Nichts auflösen würde. Die innere Tatseite, also Vorsatz oder objektiv-subjektive oder subjektive Tatbestandsmerkmale verlieren ihre Bedeutung nicht, wenn man von einer solchen Struktur des Täterverhaltens ausgeht. Vorsatz liegt häufig schon vom äußeren Geschehensablauf nahe. Um ihn zu bejahen, benötigt man nicht die Fiktion des Andershandelnkönnens 37. Wer gewerbsmäßig Diebstahl begeht, handelt auf Grund der Faktoren, die sein Verhalten determinieren. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die normativen Merkmale der Gewerbsmäßigkeit nach erfolgter empirischer Analyse des Täterverhaltens vorliegen. In die empirische Analyse gehen weiterhin nicht nur äußere Umstände, sondern auch die Vorstellungen oder Pläne ein, die zur Tat geführt haben. Im Sinne einer Zusammenfassung von Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Verantwortung könnte sogar die Alternative schuldig oder nicht schuldig, ähnlich wie im angloamerikanischen Strafrecht, beibehalten werden. Damit erhielte auch der Satz ‚keine Strafe ohne Schuld‘ seine ursprüngliche Bedeutung zurück, würde also nicht mehr ‚keine Strafe ohne Andershandelnkönnen‘ bedeuten, sondern die Anforderung enthalten, dass dem Täter das begangene Unrecht und die Verantwortlichkeit für seine Tat nachgewiesen werden muss, wenn eine kriminalrechtliche Sanktion eintreten soll. An die Stelle eines Schuldbegriffs, der auf imaginäre kognitionale Vorgänge beim Täter abstellt, würde damit ein prozessualer Schuldbegriff treten. Ob man die auf die Tat folgende Sanktion ‚Strafe‘ nennt, ist zwar von einem nominalistischen Standpunkt aus unerheblich. Es geht aber nicht nur um die Frage des Nominalismus, sondern um die kommunikative Funktion der Bezeichnung der Sanktion. Der Ausdruck ‚Strafe‘ könnte durch andere Ausdrücke – wie Freiheitsentziehung statt Freiheitsstrafe – ersetzt werden, da auch dann weiterhin klar bleibt, dass es um die Verteidigung der Rechtsordnung geht. Der Ausdruck Strafrecht könnte durch Kriminalrecht (criminal law), der Ausdruck Strafprozess durch Kriminalverfahrensrecht (criminal procedure), der Ausdruck Strafvollzugsrecht durch Justizvollzugsrecht ersetzt werden. Gefängnisse heißen ja ohnehin bereits Justizvollzugsanstalten. In der sozialtherapeutischen Anstalt werden die dort aufgenommenen Täter als Klienten bezeichnet. Das Wofür der Verantwortlichkeit ist das durch das Verbrechen zugefügte Unrecht, – die widerrechtliche Rechtsgutsverletzung, mag die Tat aus der Sicht des 37 Nach der Schuldtheorie des BGH gehört sie ohnehin nicht zum Vorsatz. Man kann sie also weglassen, ohne dass dadurch etwa der Unterschied zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit oder gar die Abgrenzung zu einer reinen Erfolgshaftung, die es wahrscheinlich schon im frühen römischen Strafrecht nicht mehr gegeben hat, in Frage gestellt würde.

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Täters wie bei Camus als Naturereignis oder als Produkt freier Willensentscheidung erscheinen. Denn dieses Unrecht löst die Notwendigkeit des Schutzes der Rechtsordnung vor weiteren Taten dieses Täters und die Notwendigkeit seiner Resozialisierung aus. Die Verantwortung kann auch ohne die Fiktion des Andershandelnkönnens an die Tat anknüpfen. Die Sanktion ist post factum gerechtfertigt, wenn sie spezialpräventiv und zugleich als Resozialisierungsmaßnahme verfasst ist. Denn die künftige Persönlichkeitsentwicklung des Täters nach der Tat ist – von Ausnahmefällen abgesehen – nicht unkorrigierbar. Die Resozialisierung als Ziel des Strafvollzugs nimmt bis zu einem gewissen Grad die neurophysiologischen Einsichten in das Funktionieren menschlichen Verhaltens vorweg. Gegenüber Tätern, deren Verhalten nicht korrigierbar ist, ist die Sanktion der Strafe und der anschließenden Sicherungsverwahrung letztlich nur spezialpräventiv zu begründen, da das Vollzugsziel der Resozialisierung unerreichbar ist. Die generalpräventive Begründung von Sanktionen dürfte aus der neurophysiologischen Sicht menschlichen Verhaltens kaum in Betracht kommen, da sie voraussetzen würde, dass Menschen ihre konditionale Determiniertheit ex ante durch freien Willensentschluss beeinflussen oder gar ändern könnten. Allenfalls ließe sich daran denken, den Mezgerschen Gedanken einer sog. Lebensführungsschuld wiederzubeleben, freilich nicht auf der Schuldebene, sondern auf der Verantwortungsebene. Motivationsabläufe können durch eine kognitionspsychologische Behandlung oder durch eine andere Sozialisation (Wechsel des Milieus) geändert werden. Wie sollte aber der Ich-Erzähler seine Disposition, bei zu großer Hitze zur Tötung eines Menschen bereit zu sein, im voraus erkennen können? Die Generalprävention erschöpft sich in dem abstrakten Gedanken, potentielle Täter könnten von der Tatbegehung abgeschreckt werden, ein Gedanke, der zweifelhaft bleibt, solange nicht klar ist, wie eine solche Wirkung soll eintreten und empirisch nachgewiesen werden können. Für die Beibehaltung des Schuldbegriffs könnte man freilich den Ausweg versuchen zu behaupten, dass normative Begriffe unabhängig von deskriptiven Aussagen über die empirische Wirklichkeit gebildet werden könnten, weil das Sollen aus dem Sein nicht ableitbar sei. Diese Verteidigungsstrategie dürfte jedoch nicht zielführend sein. Im Strafprozess geht es um die von diesem Täter begangene Tat. Tauscht man ihn im Sinne eines normativen Reduktionismus mit einem fiktiven Täter aus, so findet die Auseinandersetzung mit dem wirklichen Täter nur noch im Strafvollzug statt. Das Vollzugsziel der Resozialisierung kann nicht dadurch erreicht werden, dass man dem Gefangenen immer wieder entgegenhält, er hätte auch anders handeln können. Will man erreichen, dass der zu einer Freiheitsstrafe verurteilte Täter künftig keine Straftaten begeht, dann besteht hierfür nur dann eine Chance, wenn man ihn von den determinierenden Faktoren löst, die zur Tat geführt haben. Dabei spielt es z.B. eine maßgebliche Rolle, ob es gelingt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass er sich von seinem früheren Milieu löst. Die Fiktion, dass der Täter auch hätte anders handeln können,

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passt, wie man es auch an dieser Stelle erkennen kann, nur zur Rhetorik des Vergeltungsstrafrechts, nicht zur Spezialprävention im Wege der Resozialisierung. Schon für die Frage, ob der Täter wegen einer Geisteskrankheit oder einer psychischen Störung entlastet ist, kann auf einen empirischen Bezug kaum verzichtet werden. Stellt man hierbei auf das Andershandelnkönnen ab, so zwingt man den psychiatrischen Sachverständigen in Wirklichkeit zu Äußerungen über einen nicht vorhandenen Gegenstand. Denn empirisch kann nur aufgezeigt werden, wie der Täter zu der Tat gekommen ist. Es ist sinnlos, bei einem psychotischen Täter, etwa bei einem Schizophrenen, der den ersten, der um die Ecke biegt umbringt, zu fragen, ob er hätte anders handeln können. Es geht lediglich darum, ob eine geistige Störung vorliegt, die die Rechtsordnung als Grund für den Ausschluss der Verantwortlichkeit oder für verminderte Verantwortlichkeit anerkennt 38. Nicht ein imaginärer Schuldvorwurf ist die Grundfrage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, sondern die Abgrenzung zwischen geistigen Störungen, die die Verantwortlichkeit ausschließen oder mindern und solchen Persönlichkeitsstörungen, bei denen die strafrechtliche Verantwortung bestehen bleibt. Es ist de lege lata ein Fortschritt, dass nach deutschen Recht auch die seelische Abartigkeit zum Ausschluss oder zur Einschränkung der Verantwortlichkeit führen kann. Allerdings ist die Rechtsprechung eher zurückhaltend, wenn es um die Frage geht, ob eine schwere Persönlichkeitsstörung den Grad einer seelischen Abartigkeit erreicht 39. Entscheidend kann nur die Art der Determiniertheit des Täters sein, die empirisch, d.h. neurobiologisch zu ermitteln ist 40. Normative Sätze kommen nicht ohne empirische Voraussetzungen aus. Damit ist nicht eine ontologisierende Betrachtung gemeint, die mit normativen Begriffen oder Sätzen ontologische Grundannahmen verbindet, es geht vielmehr um ontologische Voraussetzungen, die einer empirischen Prüfung standhalten. Von empirisch nachprüfbaren Voraussetzungen tatsächlicher Art ist der normativ erzeugte Schein eines in Wirklichkeit gar nicht gegebenen Sachverhalts zu unterscheiden. Der irreale Konditionalsatz, dass der Täter hätte anders handeln können, führt zu einer imaginären Psychologie, mit der man die Realität zwar sprachlich überziehen, die Sanktion gegenüber dem konkreten Täter jedoch nicht begründen kann. Außerdem führt sie zu der sich bei irrealen Konditionalsätzen allgemein stellenden Frage, ob die Bedingungen im Übrigen – nach Abzug der Tat – die gleichen wären. 38 Die von §20 StGB verwendete Typologie wirkt schief im Verhältnis zur psychiatrischpsychologischen Diagnostik. Zum japanischen Gesetz zur medizinischen Behandlung psychisch kranker Straftäter vgl. Yuri Yamanaka, Maßnahmen bei psychisch kranken Straftätern, München 2008. 39 Vgl. BGH NStZ 1998, 30f.; 1999, 395; 2001, 243; BGH NJW 1998, 2752. 40 „Seelische Abartigkeit“ stellt kein Leiden dar, das Gegenstand einer psychiatrischen, psychologischen oder neuropsychologischen Diagnose sein könnte. Zu möglichen Persönlichkeitsstörungen genügt es, auf die International Classification of Diseases (ICD 10) der WHO zu verweisen. Vgl. dazu Dilling / Mombour / Schmidt, Hrsg., die Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 6. Aufl. 2008.

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Den tautologischen Charakter eines reinen Normativismus, wie ihn Jakobs vertritt, hat neulich Bernd Schünemann mit kaum zu überbietender Klarheit hervorgehoben: „Eine im Sinne von Jakobs rein normativistische, d.h. empiriefreie Begriffsbildung muss notgedrungen mit leeren Begriffen arbeiten, die das Rechtsproblem in Wahrheit nicht lösen, sondern nur paraphrasieren und anschließend rein dezisionistisch und deshalb beliebig mit Inhalt füllen“ 41. Im Gegenschluss ergibt sich daraus, dass das Strafrecht, wenn es empirisch signifikante Begriffe verwendet, diese auf nachweisbare und intersubjektiv nachvollziehbare Erfahrung stützen sollte. Gegenüber der neurobiologischen Sichtweise menschlichen Verhaltens könnte der Einwand vorgebracht werden, dass ohne die Annahme der Autonomie des Willens eine Ethik nicht begründbar sei. Die Autonomie des Willens ist in der Tat der Ausgangspunkt der Kantschen Ethik 42. Handeln nach dem kategorischen Imperativ setzt die Freiheit des Willens in zweifacher Hinsicht voraus. Zum einen geht es um die Freiheit, sich für eine verallgemeinerungsfähige Maxime des Handelns zu entscheiden und andere Handlungsvarianten abzulehnen, zum anderen darum, dem aufgefundenen allgemeinen Gesetz gemäß zu handeln. Was oft übersehen wird, handelt es sich bei den Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nach Kant aber nur um Postulate 43. Kant betrachtet die Freiheit als „eine bloße Idee, deren objektive Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgendeiner möglichen Erfahrung, dargetan werden kann“ 44. Nach der in der Kritik der reinen Vernunft vorgetragenen Theorie der Erfahrung gibt es keine Willensfreiheit, da wir empirisch nur determiniertes Handeln feststellen können 45. Würde man sich auf Kant stützen wollen, um das Strafurteil auf die freie Willensentscheidung des Täters gegen das Recht und für das Unrecht gründen zu können, 41

FS für Roxin, 2001, 13ff., 17. Vgl. Akademie-Ausgabe IV, 393, 427, 433, 440, 446ff. 43 Vgl. Akademieausgabe, V, 132. Die von Kant angenommene Kausalität des Willens ist daher auch nur Folge des Postulats der Freiheit. Dieses ist im Sinne der Terminologie Kants ein theoretisches Postulat, vgl. Logik §38 Anm. 1 (Akademieausgabe IX, 112). 44 Akademie-Ausgabe IV, 459. 45 Vgl. Akademie-Ausgabe III, 308ff., 362ff.; vgl. auch V, 94ff., 114ff. Kant stilisiert den Gegensatz zwischen Determinismus und Indeterminismus als eine der Antinomien der reinen Vernunft. Zur Auflösung der Antinomie verschiebt er die Willensfreiheit und die Kausalität des Willens von der empirischen Welt in die intelligible Welt der Noumena, also ins Imaginäre, oder, in der Terminologie Kants, ins Transzendentale. Diese Vorgehensweise Kants steht in einem merkwürdigen Widerspruch zu seiner im Rahmen der Einführung des Begriffs des Noumenon (III, 202ff.) entwickelten Auffassung, dass eine sich auf Noumena beziehende intellektuelle Anschauung schlechterdings außer unserem Erkenntnisvermögen liegt (III, 210). Da die Willensfreiheit Grundlage des kategorischen Imperativs ist, verschwindet auch dieser letztlich in einer imaginären Welt. Wenn schon von Noumena, also vom „Gedachten“ die Rede ist, stellt sich im übrigen die Frage, wessen Nous („Geist“) das Gedachte ausdenkt, oder ob etwa der Geist, wie Hegel meinte, sich selbst denkt, ganz zu schweigen von der Frage, woher der Nous all das weiß, was er denkt. 42

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dann würde das bedeuten, dass der Täter, obwohl er auch „Erscheinung“ ist, als „Ding an sich“ verurteilt würde; für den Strafvollzug brauchte man ihn allerdings auf jeden Fall als „Erscheinung“ 46. Das Argument, dass ohne Willensfreiheit eine Ethik nicht begründet werden könne, wurde bereits in der griechischen Philosophie vorgebracht, wie Cicero in seiner Schrift „de fato“ (über das Schicksal) berichtet. Die Diskussion über die Frage, ob alles kausal determiniert sei oder auch geistige Akte eine Ursachenreihe in Gang setzen können lief unter dem Stichwort des „fatum“, worunter man einen durch vorausgehende Ursachen bedingten Kausalverlauf verstand. Die Anhänger der Willensfreiheit machten geltend, dass ohne sie weder Lob noch Tadel, weder Ehrungen noch Strafen gerecht sein könnten 47. Ethische Vorstellungen können, sofern sie nicht durch neurologisch bedingte Persönlichkeitsstörungen blockiert werden – als Kognitionen im Sinne der Kognitionspsychologie – in den konditional-probabilistischen Prozess eingehen. Aus dem neurobiologischen Ansatz folgt also keineswegs, dass die Beschäftigung mit ethischen Problemen sinnlos wäre. Ebensowenig lässt sich die Folgerung ziehen, dass etwa den Verboten oder Geboten, deren Verletzung die strafrechtliche Verantwortung des Täters begründen kann, nicht ethische Normen zugrunde liegen können. Die Ethik sollte sich freilich mit den Voraussetzungen und Grenzen moralischer Verantwortung für probabilistisch determiniertes menschliches Verhalten beschäftigen und sich von der Fiktion der Kausalität des Willens, die alles und zugleich nichts erklärt, lösen. Sollenssätze richten sich an Adressaten in dieser Welt. Schon im Strafverfahren ist der Täter, sobald es feststeht, dass er die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat und für sie verantwortlich ist, vom Strafvollzug her zu sehen, in welchem er ohnehin mit der vollen Realität seiner Persönlichkeit der Justiz entgegentritt 48. Es ist eine Analyse der das bisherige Verhalten – das Täterprofil, die Täterpersönlichkeit – determinierenden Faktoren erforderlich, um die Basis für die Herbeiführung künftigen normenkonformen Verhaltens – für die Resozialisierung – zu schaffen. Die Freiheitsentziehung als solche ist nur einer der das künftige Verhalten determinierenden Faktoren. Im Regelvollzug und erst recht in der sozialtherapeutischen Anstalt ist die Resozialisierungsstrategie von entscheidender Bedeutung. Wenn der Täter, der bisher keine Berufsausbildung hatte, im Regelvollzug die Gelegenheit erhält, dies nunmehr nachzuholen, so wird damit ein weiterer determinierender Faktor hinzugefügt – die wirtschaftlich-faktische Grundlage künftigen normenkonformen Verhaltens. Wenn Gewalttäter die 46 Vgl. Akademie-Ausgabe V, 95: „So bleibt kein Weg übrig, als ... die Kausalität nach dem Gesetze der Naturnotwendigkeit bloß der Erscheinung, die Freiheit aber eben demselben Wesen als Dinge an sich selbst beizulegen“. 47 Vgl. Cicero, de fato 17, 40. Anhänger der Willensfreiheit war insbesondere Karneades. 48 Das gilt auch für die Entscheidung darüber, ob ein Heranwachsender nach Jugendstrafrecht oder nach Erwachsenenstrafrecht zu beurteilen ist.

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Gelegenheit erhalten, ihre Aggressivität durch Sport abzubauen, so kann auch dies nach ihrer Entlassung die Rückfallgefahr vermindern. Wenn man den Begriff der strafrechtlichen Verantwortung vom Strafvollzug her sieht, was schon vom Wortsinn her nahe liegt, wenn die Verantwortung eine strafrechtliche ist, dann fallen der Täter im Strafverfahren und der Täter im Strafvollzug nicht mehr auseinander. Vom Strafvollzug her gesehen ist der Täter verantwortlich, wenn er normativ nicht schlechthin unansprechbar ist, also nicht an einer psychischen Krankheit oder einer seelischen Abartigkeit leidet. Wenn er infolge einer Persönlichkeitsstörung normativ zunächst nicht oder nur in geringem Maße ansprechbar ist, so kommt hingegen seine Resozialisierung in Betracht, er ist also strafrechtlich verantwortlich. Der staatliche Strafanspruch – das ius puniendi rei publicae – gründet sich auf die strafrechtliche Verantwortung des normativ nicht schlechthin unansprechbaren Täters 49. Resozialisierungsmaßnahmen sind nicht im Sinne der Herbeiführung kausaler Notwendigkeit, also nicht im Sinne von kausal-deterministischer Manipulation zu verstehen, sondern im Sinne der Verminderung der Wahrscheinlichkeit des Rückfalls, also der Verminderung des Rückfallrisikos. Auch sind die Mittel der Resozialisierung typisiert. Sie eignen sich auch in der Kombination nicht immer, um Täter individuell anzusprechen 50. Der Strafvollzug ist in Deutschland nunmehr Sache der Länder, dementsprechend erlässt jedes Bundesland ein eigenes Strafvollzugsgesetz, das an die Stelle der bisherigen bundeseinheitlichen Regelung tritt 51. Soweit schon landesgesetz49 Das von Roxin entwickelte Kriterium der normativen Ansprechbarkeit eröffnet, sobald man es nicht zur Bestimmung der Schuld, sondern der strafrechtlichen Verantwortlichkeit verwendet, die Möglichkeit, den Täter auch schon im Zeitpunkt des Strafurteils vom Vollzugsziel der Resozialisierung her zu sehen. Die Sicherungsverwahrung ist die notwendige Reaktion auf normative Unansprechbarkeit, solange diese nachweislich gegeben ist. 50 Ich möchte an dieser Stelle für die wertvollen Hinweise danken, die mir Herr Ministerdirigent Manfred Koldehoff, Leiter der Strafvollzugsabteilung des Brandenburgischen Ministeriums der Justiz, seine Mitarbeiterin, Frau Eva Marquardt, sowie Frau Jutta Sedat, Leiterin des psychologischen Dienstes, gegeben haben. Danken möchte ich auch Herrn Hermann Wachter, Leiter der JVA Brandenburg, und Herrn Steven Feelgood, Leiter der Sozialtherapeutischen Anstalt in der JVA Brandenburg, für wertvolle Hinweise vor Ort anlässlich eines Besuchs der JVA Brandenburg. 51 Das bayerische und das hamburgische Strafvollzugsgesetz regelt zugleich auch den Vollzug der Jugendstrafe. Demgegenüber hat das Land Brandenburg und das Land Berlin ein eigenes Jugendstrafvollzugsgesetz. Das polnische Strafvollzugsgesetz betrifft den Erwachsenenvollzug. Nach Art. 10 §1 des polnischen StGB beginnt die volle strafrechtliche Verantwortlichkeit mit Vollendung des 17. Lebensjahres. Die Maßnahmen, die nach Vollendung des 13. Lebensjahres bei Jugendlichen unter 17 Jahren möglich sind, regelt das Gesetz über das Verfahren in Angelegenheiten nicht Volljähriger, vgl. dazu Anna Samsel, Das Gesetz über das Verfahren in Jugendsachen der Republik Polen, Frankfurt (Oder), 2001. Unter besonderen Voraussetzungen können Jugendliche nach Vollendung

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liche Regelungen existieren, halten sich jedoch die Änderungen gegenüber der bisherigen Ausgestaltung des Vollzugs in Grenzen. Neben dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten halten auch die Landesgesetzgeber auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 52 am Vollzugsziel der Resozialisierung fest. Nach der Praxis des Landes Brandenburg und des Landes Berlin folgt auf die Behandlungsuntersuchung (§6 StrVollzG) die Ausarbeitung des Vollzugsplans (§7 StrVollzG). Bei der Behandlungsuntersuchung geht es um die Feststellung 53 der Persönlichkeitsstörung 54, die zur Tat geführt hat, um die Frage, welche persönlichkeitsfördernde Maßnahmen ergriffen werden sollen und um die Prognose künftigen Verhaltens 55 im Sinne der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit des Rückfalls. Der auf Grund der Behandlungsuntersuchung aufgestellte Vollzugsplan entscheidet darüber, ob der Täter in den geschlossenen oder offenen Vollzug kommt 56 oder in die sozialtherapeutische Anstalt verlegt wird. Eine wenig einleuchtende Regelung des Strafvollzugsgesetzes 57 des Bundes sieht vor, dass Sexualstraftäter grundsätzlich in die sozialtherapeutische Anstalt kommen. Diese Regelung hat dazu geführt, dass in einzelnen Bundesländern die Plätze in der Sozialtherapie zu bis zu 100% von dieser Tätergruppe belegt werden. Die in der sozialtherapeutischen Anstalt verwendeten Behandlungsprogramme beruhen auf kognitionspsychologischer Grundlage. Auf dieser Basis wurden in den USA, in Kanada und in Australien spezielle Programme für besondere Risikogruppen, insbesondere für Gewalttäter und für Sexualstraftäter (Vergewaltiger, Pädophile) entwickelt. Das Behandlungsprogramm für Gewalttäter, wie es in der JVA Brandenburg von einem interdisziplinären Team von Psychologen, Sozialdes 15. Lebensjahres dem Erwachsenenstrafrecht, Täter nach Vollendung des 17., aber vor Vollendung des 18. Lebensjahres dem Jugendstrafrecht unterstellt werden. 52 Vgl. oben Anm. 32. 53 Die dafür erforderlichen Persönlichkeitstests können auf der Grundlage von MMPI (Minnesota Multiphasic Personality Inventory) durchgeführt werden. 54 Die ICD 10 der WHO (dazu oben Anm. 40) ist deskriptiv-diagnostischer, nicht ätiologischer Natur. Eine in den USA entwickelte Klassifikation von mentalen Störungen enthält DSM 4 (Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders). Der Persönlichkeitsstörung können eingeschliffene, dominante Verhaltensschemata zugrunde liegen. Sie kann Folge misslungener Sozialisation sein. 55 Bei Gewalttätern steht hierfür das Prognoseschema von HCR 20 (Historical, Clinical, Risk Management) zur Verfügung. 56 Während §10 des Strafvollzugsgesetzes den offenen Vollzug als Regelfall und den geschlossenen Vollzug als Ausnahme ansah, hat Art. 12 des neuen bayerischen Strafvollzugsgesetzes das Regel-Ausnahme-Verhältnis umgedreht. 57 Vgl. §9 Abs. 1 StrVollzG. S. auch Art. 11 Abs. 1 BayStrVollzG. Es ist kaum einzusehen, weshalb ausgerechnet bei Tätergruppen, bei denen kaum eine Aussicht auf Therapierbarkeit besteht, wie etwa bei Pädophilen, vorwiegend die sozialtherapeutische Anstalt in Betracht kommen soll. Der Schutz vor Mitgefangenen im Regelvollzug, die solche Täter ablehnen, kann auf andere Weise als durch Überstellung in die Sozialtherapie erreicht werden.

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arbeitern und Vollzugsbeamten durchgeführt wird, ist modular gegliedert. Die Teilnahme ist für die Täter freiwillig. Im Rahmen des Programms wird die psychosoziale Entwicklung des Täters und das Deliktsszenario aufgearbeitet. Es werden Strategien zur Aggressionsbewältigung und zur Verminderung des Rückfallrisikos aufgezeigt. Besonderes Gewicht wird auf die Empathietraining gelegt. Die Auswertung der psychosozialen Entwicklung des Täters und das Deliktsszenario ist auch im Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter von großer Bedeutung, ebenso die Opferempathie. Hinzukommt – etwa bei Pädophilen – die Korrektur von kognitiven Verzerrungen und die Bewältigung von Situationen, in denen das Risiko des Rückfalls gegeben ist. Als besonders schwierig erweist sich die Vermittlung von Strategien, die das Ziel haben, sexuelle Fantasien zu kontrollieren. Während diese Programme die Beseitigung von determinierenden oder das Rückfallrisiko erhöhenden Faktoren bezwecken, zielt ein an diese Programme anschließendes Modul darauf, die Täterpersönlichkeit durch die Aktivierung ihrer positiven Ressourcen und die Verstärkung positiver motivationaler Anteile und Lebensentwürfe gleichsam neu aufzubauen 58. Die Ergebnisse der Hirnforschung stellen den kognitionspsychologischen Ansatz nicht in Frage, sondern sichern im Gegenteil diesen Ansatz ab 59. Resozialisierungsprogramme, die auf die individuelle Täterpersönlichkeit abzielen, verstoßen nicht gegen die Menschenwürde. Es ist eine blanke Behauptung zu sagen, dass dem Täter nur dann Würde zuerkannt wird, wenn man ihn als der Tat schuldig in dem Sinne betrachtet, dass er hätte auch anders handeln können. Denn das bedeutet nur das Festhalten des Resultats eines Scheindialogs über einen fiktiven Gegenstand, also in Wirklichkeit die Verweigerung des Dialogs. Wie das die Respektierung der Menschenwürde sein sollte, die auch einem Straftäter zukommt, bleibt unerfindlich. Die Umsetzung von Resozialisierungsprogrammen erfordern einen enormen persönlichen Einsatz der damit befassten Psychologen, Sozialarbeiter und Vollzugsbeamten, der nicht nur individuell dem Inhaftierten, sondern auch dem Schutz der Allgemeinheit zu Gute kommt 60. Der Roman von Albert Camus entstand im Jahre 1940. Im Rahmen der existenzphilosophischen Strömungen nach 1945 wurde das Schicksal des Ich-Erzählers unter der Kategorie des Absurden diskutiert. Das ist verständlich, solange man 58 An die Stelle des mit Hilfe des Behandlungsprogramms für Gewalttäter oder Sexualstraftäter aufgearbeiteten „Vergangenheits-Ich“ soll ein „Zukunfts-Ich“ treten und so ein Leben ohne Straftat möglich werden. Es handelt sich um ein positives Zielerstellungsmodul, dessen Einführung in der JVA Brandenburg dessen Leiter, Steven Feelgood, zu verdanken ist. Demgegenüber liegt bei Behandlungsprogrammen nach dem Risk-Need-Modell der Akzent auf der Kontrolle kriminogener Bedürfnisse und auf Risikomanagement. 59 Wenn das Aggressionspotential auf Grund der Hirnstruktur des Täters erhöht ist, dann bedarf es besonderer Strategien der Aggressionsbewältigung. 60 Dieser Einsatz verdient uneingeschränkte Anerkennung nicht nur in der Justiz, sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit.

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die Tötung des Arabers unter der Kategorie der Schuld zu begreifen versucht, was misslingen muss, wenn doch die Hitze an allem schuld war. Aus heutiger Sicht erscheint die Darstellung von Camus nicht als die Schilderung eines skurrilen Sonderfalls, sondern als geniale Vorwegnahme der conditio humana, wie sie sich aus der neurobiologischen Analyse menschlichen Verhaltens ergibt. Die Würde des Menschen wird durch den Verzicht auf die Fiktion der Autonomie und der Freiheit des Willens nicht berührt, im Gegenteil. Nachdem so viele Weltgegenden und Naturerscheinungen erforscht worden sind, erscheint das menschliche Gehirn, das zehntausendmal so viele Synapsen enthält wie die Milchstraße Sterne, als die wahre terra incognita unserer Zeit. Es hat den Anschein, dass die Wissenschaft trotz der neuen Instrumente der Neurologie und trotz der bereits vorliegenden beachtlichen Ergebnisse erst am Anfang der Erforschung dieses unbekannten Landes steht.

Regeln der korrekten Rechtssetzung in der Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichtshofes * Sławomira Wronkowska I. „Die dem Gesetzgeber zustehende Rechtssetzungsfreiheit wird durch das Vorhandensein seiner Pflicht zur Beachtung verfahrensrechtlicher Aspekte des Rechtsstaatsprinzips und insbesondere zur Beachtung der Regeln der korrekten Rechtssetzung ausgeglichen“ – so äußerte sich der Verfassungsgerichtshof 1 in einer seiner Entscheidungen. 2 Damit wurde zum Ausdruck gebracht – was bereits in der gegenwärtigen Rechtsstaatskonzeption gefestigt ist –, dass die Rechtssetzung kein Privileg der Staatsgewalt ist, sondern eine verantwortungsvolle Aufgabe darstellt, die dem Gesetzgeber durch die Bürgergesellschaft auferlegt wurde und die redlich erfüllt werden soll. Denn die Pflicht zur Rechtsbeachtung wird heutzutage von einem berechtigten, den Adressaten der Rechtsnormen zustehenden Anspruch begleitet, dass die Normen bestimmte Anforderungen erfüllen. In der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes taucht der Verweis auf die Regeln der korrekten Rechtssetzung in dem Zeitraum der letzten 10 Jahre überraschend häufig auf. Erörtert werden sie von allen Teilnehmern des Diskurses am Gerichtshof: dem Gerichtshof selbst, den Verfahrensinitiatoren, anderen Verfahrensbeteiligten sowie auch den Richtern des Verfassungsgerichtshofes, die abweichende Meinungen vertreten. 3 Die Schlussfolgerung, dass es sich dabei um einen Begriff mit einem eindeutigen Inhalt handelt, wäre jedoch voreilig. * Der Beitrag stellt eine gekürzte und überarbeitete Fassung meines in polnischer Sprache publizierten Beitrags dar: Zasady przyzwoitej legislacji w orzcznictwie Trybunału Konstytucyjnego (Regeln der korrekten Rechtssetzung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes), in: Ksie˛ga XX-lecia orzecznictwa Trybunału Konstytucyjnego (Festschrift anlässlich des zwanzigsten Jahrestages der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes), Warszawa 2006, S. 671 ff. 1 Im Folgenden auch als Verfassungstribunal bezeichnet. 2 Vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 14. Juni 2000, P 3/00 (OTK ZU Nr. 5/ 2000, Pos. 138, S. 691). 3 Bemerkenswert ist dabei, dass die Regeln der korrekten Rechtssetzung, die in Anträgen an den Gerichtshof genannt werden, manchmal inhaltlich davon abweichen, was nach Auffassung des Gerichtshofs unter diesen Begriff fällt. Vgl. z. B. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 18. Januar 1994, K 9/93 (OTK 1994, Teil I, Pos. 3).

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Der durch den Verfassungsgerichtshof ausgearbeitete Begriff der Regeln der korrekten Rechtssetzung ist nicht homogen. Der Kanon dieser Regeln, der naturgemäß nicht abschließend ist, wird unter verschiedenen Bezeichnungen genannt: „Regeln der richtigen Rechtssetzung“, „der ordentlichen Rechtssetzung“, „der korrekten Rechtssetzung“ und schließlich „der redlichen Rechtssetzung“. Die Regeln selbst werden bezeichnet als: „Grundsätze“, „Weisungen“, „Gebote“. 4 Gewisse Schwierigkeiten bei der Analyse dieser Regeln werden jedoch nicht durch terminologische Unordnung herbeigeführt, sondern dadurch, dass sie sich weder von anderen, auf die Rechtssetzung bezogenen Regeln präzise unterscheiden noch sich eindeutig formulieren lassen und zugleich – wegen der ihnen zukommenden Rolle im Prozess der Rechtssetzung und -überwachung – die Erwartung hoher Bestimmtheit erwecken. Der Prozess der Rechtssetzung, als ein gezielter und organisierter Prozess, wird durch verschiedene Regeln gesteuert. Traditionsgemäß hebt man unter anderen solche Regeln hervor, die die Voraussetzungen der „Gültigkeit“ eines Rechtssetzungsaktes bestimmen, solche, die darauf hinweisen, wie die auf Wirkung gerichteten rechtlichen Maßnahmen auszuwählen sind, um bestimmte Zustände im Gemeinschaftsleben zu erzielen (Regeln der Rechtspolitik) und schließlich solche, die anzeigen, wie die gesetzgeberischen Entscheidungen der Rechtssetzung in Form eines Normativaktes richtig auszuformulieren und in das Rechtssystem aufzunehmen sind, ohne dabei die Kohärenz des Systems zu beeinträchtigen (Regeln der Gesetzgebungstechnik). 5 Es wird einhellig angenommen, dass die Verletzung der Regeln erster Art in der Verfassungswidrigkeit des rechtsbildenden Aktes oder seines Ergebnisses resultiert. Dagegen führt die Verletzung der anderen Regeln nur zur Unrichtigkeit des Aktes. Es kommt vor, dass diese Unrichtigkeit deutlich spürbar ist. Trotzdem wird (bzw. wurde) der Akt für legal und legitim gehalten, obwohl er nicht rationell, unwirksam und von schlechter Qualität ist. Der Verfassungsgerichtshof bemüht sich, die auf einen rechtsbildenden (konventionellen) Akt bezogenen Regeln, welche das zur Vornahme bestimmter gesetzgeberischer Aktivitäten berechtige Subjekt anzeigen und die Prozedur der Vornahme dieser Aktivitäten sowie den der Normierung unterliegenden Sachbereich bestimmen, von solchen Regeln zu unterscheiden, die darauf hinweisen, wie eine gezielte gesetzgeberische Lösung zu gestalten und in einem Rechtstext zum Ausdruck zu bringen ist, und sogar, unter welchen Umständen ein Rechtssetzungsakt durchzuführen ist, damit er einen Akt von „angemessener Qualität“ darstellt. 4 Wobei die Verfahrensbeteiligten auch folgende Bezeichnungen benutzen: „Grundsätze der richtigen Rechtssetzung“, „Grundsätze der Rechtssetzung im Rechtsstaat“, „Grundsätze der richtigen Setzung des Rechts“. 5 Vgl. Wronkowska, Technika prawodawcza (Gesetzgebungstechnik), Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 1990, Heft 1, S. 1 ff.

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Die Regeln der ersten Art bestimmen die erforderlichen Voraussetzungen, um den Akt überhaupt als einen rechtsbildenden Akt anzuerkennen; die Regeln der zweiten Art dagegen bestimmen die Voraussetzungen dafür, dass der rechtsbildende Akt richtig, korrekt und ordentlich ist. Diese Unterscheidung – obwohl sehr bedeutsam – lässt sich allerdings nicht eindeutig durchführen, was aber durchaus mit unserer Intuition übereinstimmt. So sprechen wir auch von einer fundierten oder weniger fundierten Monografie, bzw. von einem fundiert oder nicht fundiert durchgeführten Einstufungsverfahren. Dafür, dass ein rechtsbildender Akt Normen enthält, deren Umsetzung zur Verwirklichung der von dem Normgeber ins Auge gefassten Ziele führt (und damit inhaltlich zutreffend ist), sind Kenntnisse der auf diese Weise normierten Angelegenheiten erforderlich; und für seine Legalität ist Voraussetzung die Berechtigung zur Normsetzung, die Einhaltung der Prozeduren sowie die Nichtüberscheitung des Berechtigungsrahmens. Neben der Legalität des Aktes und seiner inhaltlichen Richtigkeit gibt es jedoch auch noch Raum für die Redlichkeit des Normgebers: für seine Gewissenhaftigkeit bei der Kenntniserlangung sowie bei der Beratung und Besprechung, für seine gebührende Sorgfalt bei der Normsetzung und bei der Gestaltung des ganzen Systems, damit es präzise und verständlich ist, für seine Sorge darum, dass das Recht vertrauenswürdig ist – und dies unabhängig von der Zielsetzung, die mit dem Erlass eines bestimmten Rechtsaktes zu erreichen ist. In einer Legislatur kann man daher die Anforderung der Redlichkeit sowohl auf den Prozess der Bildung einer gesetzgeberischen Entscheidung (Gesetzgebungsverfahren) als auch auf das Ergebnis dieses Prozesses (Gesetz) beziehen. Der Begriff Regeln der korrekten Rechtssetzung tritt in der Rechtsprechung des Tribunals systematisch seit 1994 auf, und zwar insofern als einzelne Regeln, die der Verfassungsgerichtshof zu dieser Gruppe zählt, präzisiert und von dem Tribunal von Anfang seiner richterlichen Aktivität an erwähnt wurden. Gleichwohl unterliegen diese Regeln und ihre Rolle verschiedenen Veränderungen bei der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit. Die Anzahl der Fälle, in denen der Gerichtshof sich auf die Regeln bzw. Grundsätze der korrekten Rechtssetzung bezieht, nimmt kontinuierlich zu. 6 Hinzuweisen ist noch auf zwei andere Tendenzen. Die Regeln der korrekten Rechtssetzung werden nämlich durch den Gerichtshof mit immer grö6

In den Jahren 1986 –2000 wurden nur in 20 Entscheidungen (von insgesamt 597 Entscheidungen, die im Ablauf eines sachlichen Verfahrens ergingen) die Grundsätze der korrekten Rechtssetzung erwähnt. Seit 2001 nimmt die Anzahl solcher Entscheidungen in der Gesamtheit aller in einem sachlichen Verfahren geprüften Entscheidungen eindeutig zu. In 2001: 14 (d. h. 15,1% aller Entscheidungen), in 2001: 25 (26,9%), in 2003: 16 (16,7%), in 2004: 25 (22%). Insgesamt war in den Jahren 2001 –2004 der Bezug auf die Grundsätze der korrekten Rechtssetzung in 80 Entscheidungen zu finden. Diese Angaben weisen auf alle Fälle einer Erwähnung dieser Grundsätze hin, ohne zwischen den Stimmen der Verfahrensbeteiligten und des Gerichtshofes zu differenzieren. Dennoch illustrieren sie einen deutlichen Zuwachs des „Bewusstseins“ im Hinblick auf die Grundsätze in der polnischen Rechtskultur. Hinzuzufügen ist noch, dass die Grundsätze der korrekten Rechtssetzung im

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ßerer Sorgfalt formuliert, sowie unter Beachtung der vielschichtigen Situationen, in denen gesetzgeberische Entscheidungen zu treffen sind. Schließlich – was von besonderer Bedeutung ist – haben manche dieser Regeln ihre Funktion geändert und werden jetzt bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit berücksichtigt. Die Verletzung der Regeln, die den rechtsbildenden Prozess steuern, bewirkt in der Regel einen Mangel des Normativaktes. In der Rechtsprechung des Tribunals wurde jedoch immer einhellig angenommen, dass nicht „jeder gesetzgeberische Mangel den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit begründet“ und dass zwar „die Inkohärenz der gesetzlichen Normierungen eine kritische Bewertung verdient, aber [in einem konkreten Fall – Anm. S.W.] nicht zur Verletzung des Rechtsstaatsprinzips führt“. 7 Daher erscheint die Schlussfolgerung berechtigt, dass der Gerichtshof den Begriff Regeln der korrekten Rechtssetzung sowohl in einem weiteren Sinne verwendet und dabei alle Weisungen, wie gesetzgeberische Entscheidungen richtig zu treffen sind, meint, als auch in einem engeren Sinne, wenn er nur solche Weisungen nennt, deren Verletzung zu einem erheblichen Mangel des Normativaktes und folglich zu dessen Verfassungswidrigkeit führt. Hinzuzufügen ist noch, dass die Regeln der korrekten Rechtssetzung im engeren Sinne sowohl an den Normgeber, als auch an denjenigen gerichtet sind, der die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit vornimmt. II. Von Beginn seiner Tätigkeit im Jahre 1986 an hat der Verfassungsgerichtshof einige an den Gesetzgeber gerichtete Regeln formuliert (sie werden im Grundgesetz nicht expressis verbis erwähnt), die von ihm bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit beachtet werden. Erst im Laufe der Zeit wurden diese Regeln mit dem Sammelbegriff Regeln der korrekten Rechtssetzung bezeichnet. Welche Regeln als erste in Erwägung gezogen wurden, war eine Konsequenz des Niveaus der von dem Gerichtshof kontrollierten Normativakte. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass in den ersten Jahren seiner Aktivität das Tribunal die Erzeugnisse paternalistischer, sozialistischer Gesetzgebung kontrollieren musste, die an eine zentral gesteuerte Wirtschaft angepasst waren, in welcher typische Marktmechanismen und ihnen entsprechende Rechtsinstrumente nicht funktionierten. Aus diesem Grunde fehlen in der damaligen Gesetzgebung die Beachtung der autonomen Entscheidungen des Einzelnen und die Verantwortlichkeit für eigene Angelegenheiten und folglich fehlt es auch an entwickelten Übergangsregelungen und Anpassungsfristen. Urteilstenor eines im Jahre 2005 ergangenen Urteils (vom 13. September 2005, K 38/04) erwähnt werden („... stimmt mit Art. 2 der Verfassung nicht überein, weil die Regeln der korrekten Rechtssetzung verletzt werden.“). 7 Vgl. z. B. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 18. Oktober 1994, K 2/94 (OTK 1994, Teil II, Pos. 36).

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Diese gesetzgeberischen Gewohnheiten haben auch nach der Wende im Jahre 1989 überdauert, um so mehr als die Durchführung der Systemreformen die Möglichkeit zur Befreiung von festen Regeln einer fundierten Gesetzgebung eröffnete. Schließlich war auch wichtig, dass man – wegen der politischen Instrumentalisierung des Rechts, die von dem paternalistischen Gesetzgeber vorgenommen worden war – die Glaubwürdigkeit des Rechts erst wiederherstellen und seine Funktion als Grundlage der Normierung gesellschaftlicher und individueller Angelegenheiten manifestieren musste. Der Verfassungsgerichtshof hat hier vollkommen die mit der Einfügung des Rechtsstaatsprinzips in die alte Verfassung von 1952 eingeräumten Möglichkeiten genutzt. Er hat den Inhalt des Art. 1 der geänderten Verfassung so ausgelegt, dass dieser Grundsatz als eine Gebotsnorm aufgefasst wurde, in Polen das Idealbild des Rechtsstaates zu erreichen, und zugleich als eine Gebotsnorm, die Regeln des Rechtsstaates im Prozess der Systemumwandlungen zu respektieren, wodurch der Gesetzgeber allerdings als das sich an diesen Umwandlungen aktiv beteiligende Subjekt, welches das Rechtssystem und die dadurch gebildeten Institutionen verändert, wesentlich eingeschränkt wurde. 8 Dadurch hat das Tribunal den Respekt vor dem Recht gefestigt, wie dies auch im Jahre 1992 von seinem damaligem Präsidenten formuliert wurde: „Man darf bei der Gestaltung des Rechtsstaates keine für den Unrechtsstaat typischen Methoden verwenden“ 9. Die Wahl dieser Strategie war ein historisches Verdienst des polnischen Tribunals. 1. Der erste Regelkomplex, der durch den Gerichtshof in den Kanon der Regeln der korrekten Rechtssetzung einreiht wurde, bezieht sich auf die Methode des Vollzugs einer Änderung im Rechtssystem, wobei – was zu betonen ist – nur solcher Änderungen, die zur Änderung der Rechtsposition bestimmter Subjekte führen. Die Entscheidung, ob die Änderungen im geltenden Recht zu vollziehen sind sowie über deren inhaltlichen Charakter, obliegt – innerhalb des in der Verfassung vorgesehenen Rahmens – der Legislative. Gleichwohl wird die Art und Weise dieses Änderungsvollzugs – was das Tribunal hervorhebt – gerade durch die Regeln der korrekten Rechtssetzung bestimmt. Die weiteste dieser Regeln, die gewissermaßen eine Zusammenfassung der Erfahrungen und Untersuchungen des Gerichtshofes darstellt, besagt, dass eine korrekte Gesetzgebung „durch eine solche Rechtssetzung und -anwendung zum Ausdruck kommt, die gleichsam keine 8 Siehe näher Wronkowska, Zmiany prawa. Zagadnienia poprawnego legislacyjnie i nieucia˛˙zliwego dokonywania zmian w systemie prawnym (Änderungen im Recht. Fragen des gesetzgeberisch korrekten und nicht belastenden Änderungsvollzugs in einem Rechtssystem), in: Tworzenie prawa w demokratycznym pa´nstwie prawnym (Rechtssetzung in einem demokratischen Rechtsstaat), Suchocka (Hrsg.), Warszawa 1992, S. 168 ff.; dies., Czy Rzeczpospolita Polska jest pa´nstwem prawnym? (Ist die Republik Polen ein Rechtsstaat?), in: Polskie dyskusje o pa´nstwie prawa (Polnische Diskussionen zum Rechtsstaat), Wronkowska (Hrsg.), Warszawa 1995, S. 81 ff. 9 Vgl. Zoll, Prawo karne w systemie totalitarnym (Das Strafrecht in einem totalitären System), in: Pa´nstwo prawa. Pa´nstwo wolno´sci (Der Rechtsstaat. Der Freiheitsstaat), „Znak“, November 1992, S. 120 f.

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Falle für den Bürger darstellt, so dass er seine Angelegenheiten planen kann, und zwar im Vertrauen darauf, dass er sich nicht Rechtsfolgen aussetzt, die er im Moment seiner Entscheidung und Handlung nicht voraussehen konnte, sowie in der Überzeugung, dass seine dem Recht gemäß ausgeführten Handlungen auch in der Zukunft durch die Rechtsordnung anerkannt werden. Neue Normierungen dürfen deren Adressaten nicht überraschen; vielmehr müssen die Adressaten genügend Zeit für eine Anpassung an die geänderten Normierungen und für eine ruhige Entscheidung bezüglich ihres weiteren Vorgehens haben.“ 10 Zunächst soll also ein Normativakt in der Weise in Kraft treten, dass die betroffenen Subjekte sich mit dessen Inhalt vertraut machen und dann ihr Vorgehen an dessen Anforderungen anpassen konnten. Dies kann auch umfassen, dass sie „Zeit für die Beendigung rechtlicher Initiativen aufgrund früher geltender Regelungen erhalten“. 11 Das technische Mittel zur Verwirklichung der soeben genannten Zielsetzung besteht darin, dass der Gesetzgeber eine entsprechende vacatio legis vorsieht, die der Bedeutung der zu normierenden Angelegenheiten, der Tragweite des Aktes und der für die Planung und Organisation bestimmter Angelegenheiten gemäß den neuen gesetzlichen Vorschriften erforderlichen Zeit angemessen ist. Sehr häufig wird die Aufmerksamkeit des Verfassungsgerichtshofes auf die Institution der vacatio legis gelenkt, und zwar deshalb, weil deren Dauer immer wieder nicht allen – manchmal vielschichtigen – Umständen angepasst wird. Es ist hinzuzufügen, dass der Gerichtshof sich mit dem technisch-rechtlichen Aspekt der vacatio legis nicht auseinandersetzt. Jedoch fragt er immer, ob diese Institution ihre Rolle erfüllt hat: Ob der Gesetzgeber die betroffenen Subjekte in den konkreten Umständen überrascht, oder ob er ihnen die Möglichkeit eröffnet hat, sich mit dem Inhalt der neuen Normen vertraut zu machen und ihre Angelegenheiten dementsprechend zu gestalten. Zugelassen wird daher – gerade wegen der besonderen Umstände – eine sehr kurze Frist der vacatio legis und eventuell sogar ihr Fehlen, allerdings unter der Bedingung, dass das Gesetz den Bürgern oder anderen, den Staatsorganen nicht unterfallenden Subjekten keine Pflichten auferlegt. 12 Eine besondere Sorgfalt wird von dem Tribunal bei dem Inkrafttreten eines Gesetzes gefordert, das zwei Materien normiert: öffentliche Abgaben sowie Wirtschaftssachen, bzw. Rechtspositionen der Personen, deren „Fähigkeit, sich an neue Umstände anzupassen, aus natürlichen Gründen begrenzt ist, d. h. z. B. der Arbeitslosen, Rentner, Invalidenrentner“ 13. 10 Vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 15. September 1998, K 10/98 (OTK ZU Nr. 5/1998, Pos. 64, S. 400). 11 Vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 8. April 1998, K 10/97 (OTK ZU Nr. 3/ 1998, Pos. 29, S. 164). 12 Vgl. z. B. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 2. März 1993, K 9/92 (OTK 1993, Teil I, Pos. 3) und vom 18. Oktober 1994, K 2/94 (OTK 1994, Teil II, Pos. 36).

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Die gesetzliche Sicherung einer angemessen langen vacatio legis stellt erst die Erfüllung einer elementaren Voraussetzung des korrekten Inkrafttretens eines neuen Aktes im Rechtssystem dar. Wenn der Akt ein Rechtsgebiet reguliert, das schon früher einer Normierung unterlag (solche Situationen sind typisch), entstehen intertemporale Fragen. Aus diesem Grunde gehört zu den Erfordernissen der korrekten Rechtssetzung, dass solche Probleme durch den Gesetzgeber gelöst werden, indem er eindeutige Übergangsnormen schafft. Mit der Lösung der intertemporalen Probleme wird jedoch der Zustand einer Unsicherheit des Rechts nicht beseitigt, der unvermeidlich dann entsteht, wenn der Gesetzgeber diese Probleme übersehen und nicht gelöst hat. 14 Im Hinblick auf die Interessen der Normadressaten ist nicht nur die Sicherheit und die Klarheit des Rechts bedeutsam, sondern auch, dass intertemporale Fragen in einer möglichst wenig belastenden Weise entschieden werden. Deswegen muss der Gesetzgeber bei der Einfügung der Änderungen in das Rechtssystem immer die Interessen der Subjekte in Betracht ziehen, die vor der Änderung des Rechtszustandes entstanden sind. 15 Um diesen Ziel zu erreichen, sollen – nach der Anschauung des Verfassungsgerichtshofes – zwei Regeln einer Gestaltung der intertemporalen Situation von dem Gesetzgeber beachtet werden: die Respektierung der erworbenen Rechte und die Sicherung der „Interessen im Vollzug“. Der Grundsatz der Respektierung der erworbenen Rechte „verbietet eine willkürliche Aufhebung oder Einschränkung der subjektiven Rechte, die dem Einzelnen oder anderen privaten Subjekten im Rechtsverkehr zustehen“ 16. Die Erhebung dieser Regel zum Verfassungsgrundsatz hat zur Folge, dass eine Interpretationsregel entstanden ist, die die Annahme gebietet, dass der Gesetzgeber – soweit er keine eindeutige Stellung dazu nimmt – die erworbenen Rechte respektiert. Diese Auslegungsregel hat die polnische Rechtskultur wesentlich verändert. Gebrochen wurde nämlich mit einem gegenteiligen (und für das sozialistische Recht zutreffenden) bisher vorrangigen Grundsatz der unmittelbaren Wirkung neuer gesetzlicher Regelungen. Der dargestellte Grundsatz wurde zunächst, im Hinblick auf den historischen Kontext, modifiziert und als ein Grundsatz richtig (gerecht) erworbener Rechte 13 So z. B. in der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 18. Oktober 1994, K 2/94 (OTK 1994, Teil II, Pos. 36), vom 2. März 1993, K 9/92 (OTK 1993, Teil I, Pos. 6), vom 14. Dezember 1993, K 8/93 (OTK 1993, Teil II, Pos. 43) und vom 14. Januar 1998, K 11/97 (OTK ZU Nr. 1/1998, Pos. 5). 14 Vgl. Wronkowska, Zieli´nski, Komentarz do zasad techniki prawodawczej (Kommentar zur Gesetzgebungstechnik), Warszawa 2004, S. 80 ff. Ausführlich dazu Mikołajewicz, Prawo intertemporalne. Zagadnienia teoretyczno prawne (Das intertemporale Recht. Theoretischrechtliche Fragen), Pozna´n 2000, S. 27 – 28 und 57 – 67. 15 Vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 25. Februar 1998, Ts 25/97 (OTK ZU Nr. 1/1999, Pos. 10). 16 Vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 22. Juni 1999, K 5/99 (OTK ZU Nr. 5/ 1999, Pos. 100).

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aufgefasst. Im Hintergrund dieser Änderung standen die Regeln einer korrekten und gerechten Gesetzgebung. Sie bezog sich nämlich auf die erworbenen Rechte aufgrund von Rechtsnormen, deren axiologische Legitimität in Frage gestellt werden konnte und die eine gewichtige Rolle in der „Übergangszeit“ spielten. Allerdings auch in Bezug auf die Rechtssetzung nach der historischen Wende im Jahre 1989 hat der Gerichtshof den Vorbehalt gemacht, dass rechtswidrig oder im moralischer Hinsicht tadelnswert erworbene Rechte keinen Schutz genießen. 17 Die Anwendung des traditionellen Grundsatzes der Respektierung der erworbenen Rechte wurde immer durch bestimmte Bedingungen gesichert. Auch der Verfassungsgerichtshof hat angenommen, dass die Regel „keinen absoluten Charakter aufweist“, sowie dass eine angemessene Beschreibung ihren Inhalts die Berücksichtigung einer Reihe von Ausnahmen erfordert. Diesem Grundsatz liegt die Überzeugung zugrunde, dass das Recht, als eine Institution, „für seine Verpflichtungen haftet“ und der Gesetzgeber in nachfolgenden Rechtsakten das nicht wegnehmen darf, was jemand gemäß früher geltenden Rechtsvorschriften erworben hat. Seine Rolle besteht daher in der Gewährleistung dessen, was bestimmte Subjekte bereits erworben haben. Der Schutz ist jedoch keineswegs absolut. Der Grundsatz des Schutzes der erworbenen Rechte entwickelte sich in der Rechtsprechung des Tribunals in zweierlei Hinsicht: einerseits durch Hinweise darauf, in welchen Fällen der Gesetzgeber legitimiert ist, die erworbenen Rechte einzuschränken, sowie andererseits durch Ausdehnung des Katalogs der Bedingungen, deren Erfüllung dem Gesetzgeber bei einer solchen Einschränkung obliegt. Deswegen ist es sinnvoll, einen so interpretierten Grundsatz in einem negativen Sinne zu fassen, indem gezeigt wird, unter welchen Bedingungen die Einschränkung oder die Entziehung dieser Rechte zugelassen ist. Den Ausgangspunkt bildet hier die Feststellung, dass der Gesetzgeber zum einen berechtigt ist, frühere gesetzgeberische Entscheidungen zu bewerten und Änderungen einzufügen, und zwar um eine bessere Übereinstimmung mit den Verfassungsgrundsätzen zu gewährleisten. Zum anderen kann er auch gezwungen werden, gesetzgeberische Änderungen wegen der im ständigen Wechsel begriffenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umstände zu vollziehen. 18 Insbesondere während der Systemtransformation darf die Beachtung des Grundsatzes der Respektierung der erworbenen Rechte die 17

Vgl. z. B. Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 25. Februar 1992, K 3/91 (OTK 1992, Teil I, Pos. 1). In der späteren Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes taucht auch ein Begriff der „fehlerfrei“ erworbenen Rechte auf, vgl. z. B. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 27. Februar 2002, K 47/01 (OTK ZU Nr. 1/A/2002, Pos. 6). 18 Vgl. z. B. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 29. Januar 1992, K 15/91 (OTK 1992, Teil I, Pos. 8); Mikołajewicz, Pojmowanie „pa´nstwa prawnego“ w orzecznictwie Trybunału Konstytucyjnego Rzeczypospolitej Polskiej (Die Auffassung eines „Rechtsstaates“ in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes der Republik Polen), in: Polskie dyskusje o pa´nstwie prawa (Polnische Diskussionen zum Rechtsstaat), Wronkowska (Hrsg.), Warszawa 1995, S. 99 ff.

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„grundsätzliche Reform des polnischen Rechtssystems“ sowie das Funktionieren der Organe der öffentlichen Verwaltung nicht verhindern. 19 Nach der Anschauung des Tribunals ist die Einschränkung der erworbenen Rechte nur dann legitim, wenn das durch den hier analysierten Grundsatz geschützte Vertrauen darin, dass die früher geltende Rechtssituation durch die Tätigkeit des Gesetzgebers nicht verschlechtert wird, in einer Kollision mit anderen verfassungsrechtlich geschützten Werten steht, welchen der Gesetzgeber den Vorrang eingeräumt hat. Allerdings obliegt es dem Gesetzgeber immer dann, wenn eine Einschränkung oder sogar eine Entziehung der subjektiven Rechte zugelassen wird, nicht nur für alle Betroffenen die erforderliche Frist für eine Anpassung an die neuen Rechtsumstände zu gewährleisten, sondern auch negative Konsequenzen dieser Änderung zu minimieren, und zwar durch die Einführung solcher Regulierungen, die diese Anpassung erleichtern. 20 Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes hat sich in dieser Hinsicht erheblich entwickelt: Zunächst hat der Gerichtshof nur die Erforderlichkeit der Gewährleistung einer angemessenen vacatio legis 21 betont, um später der Pflicht des Gesetzgebers, „positive“, den Anpassungsvorgang erleichternde Lösungen zu finden, seine Aufmerksamkeit zu schenken. 22 Zur Gesamtheit der bereits dargestellten Regeln der korrekten Gesetzgebung gehört auch die Regel, die dem Gesetzgeber die Beachtung der sog. „Interessen im Vollzug“ auferlegt. Darunter sind solche Aktivitäten zu verstehen, die, unter der Geltung der bisherigen Vorschriften, im Moment der diesbezüglichen Entscheidung schon vorgenommen wurden und auch dann noch andauern, wenn der Gesetzgeber neue auf sie bezogene Rechtsvorschriften einführt. Denkbar sind dabei insbesondere wirtschaftliche, finanzielle bzw. Bildungsaktivitäten. Das bereits dargestellte Gebot gilt natürlich, wie auch die anderen Regeln der korrekten Gesetzgebung, nicht ausnahmslos. Vielmehr soll es insbesondere dann beachtet werden, wenn der Gesetzgeber nicht nur solche Regeln gestaltet, die den Anfang und die Verwirklichung einer bestimmten Aktivität ermöglichen, sondern auch ihren Zeitrahmen bestimmt, und zwar unter der Annahme, dass diese Aktivität gerade in diesem Rahmen abgeschlossen werden kann. 23 Diese Verpflichtung 19

Vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 22. Juni 1999, K 3/99 (OTK ZU Nr. 4/ 1999, Pos. 73) und vom 19, März 2000, K 1/99 (OTK ZU Nr. 2/2000, Pos. 59). 20 Vgl. z. B. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 25. Juni 2002, K 45/01 (OTK ZU Nr. 4/A/2002, Pos. 46). 21 Vgl. Mikołajewicz, (ob. Fn. 18), S. 99 ff. 22 Vgl. z. B. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 25. Juni 2002, K 45/01 (OTK ZU Nr. 4/2002, Pos. 46). 23 Vgl. z. B. Urteile des Verfassungsgerichtshofes: vom 25. Juni 2002, K 45/01 (OTK ZU Nr. 4/A/2002, Pos. 46), vom 28. Januar 2003, SK 37/01 (OTK ZU Nr. 1/A/03, Pos. 2), vom 11. März 2003, K 8/02 (OTK ZU Nr. 3/A/2003, Pos. 20) und vom 7. Februar 2001, K 27/00 (OTK ZU Nr. 2/2001, Pos. 29).

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des Gesetzgebers weist jedoch einen bedingten Charakter auf; sie ist nur dann verbindlich, wenn keine radikale Änderung der Umstände dieser Verpflichtung eintritt. In Sonderfällen, insbesondere dann, wenn der Gesetzgeber nicht imstande gewesen war, sie vorauszusehen, ist bei der Abwägung der legislatorischen Entscheidung die Berücksichtigung des begründeten öffentlichen Interesses zulässig, das unter Umständen Vorrang vor dem Schutz individueller Interessen haben kann. Dies kommt insbesondere in solchen Bereichen vor, die sich im ständigen Wechsel befinden. 24 Dem Gesetzgeber obliegt es dann, solche Übergangslösungen zu gestalten, die den Betroffenen den Abschluss ihrer Aktivitäten ermöglichen können. Als eine weitere durch das Tribunal anerkannte Regel der korrekten Gesetzgebung gilt die Regel lex retro non agit. Ihre Geltung wurde von dem Gerichtshof schon in seiner ersten Entscheidung bestätigt, und zwar als eine „Grundlage der Rechtsordnung“. Zunächst wurde sie rigoristisch behandelt; im Laufe der Zeit begann der Gerichtshof jedoch, einige davon zulässige Ausnahmen zu formulieren. Die oben erwähnten Regeln der korrekten Rechtssetzung beziehen sich inhaltlich auf die infolge der Änderungen im Rechtssystem entstandenen Umwandlungen in der rechtlichen Situation bestimmter Subjekte. Einige dieser Grundsätze bestimmen den Inhalt des Rechts derart, dass sie gewisse legislatorische Lösungen, wenn auch nicht ausnahmslos, ausschließen (z. B. die Entziehung einwandfrei erworbener Rechte). Andere deuten darauf hin, wie die erforderlichen Änderungen im Rechtssystem weniger belastend zu gestalten sind (z. B. durch die Anwendung von Anpassungsfristen). Schließlich gibt es auch solche Regeln, die in den Inhalt der Rechtsnormen nicht eingreifen, sondern darauf hinweisen, dass die von dem Gesetzgeber beabsichtigte gesetzgeberische Lösung unter bestimmten Umständen unzulässig ist, während sie unter anderen Umständen zulässig wäre. Dies sind insbesondere solche Regeln, die eine Änderung – wenn auch nicht unter allen Umständen – der steuerlichen Belastung im Steuerjahr verbieten, also in einem Zeitraum, in welchem bestimmte für diesen Zeitraum vorgesehene Grundsätze bereits gelten. 25 Allerdings ist den bereits besprochenen Regeln gemeinsam, dass ihre Beachtung dem Schutz des Grundwertes eines Rechtsstaates dient, d. h. dem Schutz des Vertrauens in den Beziehungen zwischen den Bürgern und der öffentlichen, also nicht nur der gesetzgebenden Gewalt. Die Beachtung dieses Wertes führt 24 Vgl. z. B. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 7. Mai 2001, K 19/00 (OTK ZU Nr. 4/2001, Pos. 81). 25 Vgl. z. B. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 24. Mai 1994, K 1/94 (OTK 1994, Teil I, Pos. 10), vom 12. Januar 1995, K 12/94 (OTK ZU Nr. 1/1995, Pos. 2), vom 24. September 1994, K 13/93 (OTK 1994, Teil I, Pos. 6), vom 13. März 1995, K 1/95 (OTK ZU Nr. 1/1995, Pos. 17) und vom 25. April 2001, K 13/01 (OTK ZU Nr. 4/2001, Pos. 81).

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dazu, dass wir uns mit der Entscheidung über die eigenen Angelegenheiten auf öffentliche, bekannte Regeln stützen, die für die Teilnehmer des Gesellschaftslebens verbindlich sind. Dadurch wird die Unabhängigkeit von einem unerwarteten, willkürlichen staatlichen Eingriff gestärkt. Dabei geht der Schutz des individuellen Vertrauens gegenüber dem Staat und gegenüber dem von diesem gesetzten Recht in der Rechtsprechung des Gerichtshofes so weit, dass er nicht nur die Änderung der Rechtsvorschriften, sondern auch eine unerwartete Änderung ihrer herrschenden Auslegung erfasst. Nach der Anschauung des Tribunals kann der Bürger nämlich „annehmen, dass der Inhalt des geltenden Rechts dem entspricht, was durch die Gerichte festgelegt wurde, insbesondere wenn die Festlegung durch das Oberste Gericht vorgenommen wurde bzw. sich in der einhellig herrschenden Auffassung der Judikatur widerspiegelt.“ 26 Dem ist noch hinzuzufügen, dass der Schutz des Vertrauens überdies die Beachtung „der Beständigkeit der über die Rechte der Parteien erkennenden rechtskräftigen Urteile und der bestandskräftigen Verwaltungsentscheidungen“ 27 erfordert. Die hier dargestellten Regeln sind in der Rechtskultur von Rechtsstaaten gefestigt. In Polen musste man an sie mit erheblicher Mühe in Erinnerung rufen und der Rechtspraxis nahe bringen, was durch den Verfassungsgerichtshof sehr konsequent getan wurde. 2. Eine separate Gruppe der Regeln der korrekten Rechtssetzung bilden diejenigen Regeln, die bestimmen, wie die gesetzgeberischen Lösungen zu gestalten sind, damit sie nicht nur Scheincharakter haben. Damit wird allerdings dem Gesetzgeber nicht geboten, bestimmte rechtliche Normierungen einzuführen. Wenn jedoch der Gesetzgeber gewisse rechtsbildende Akte auf einem Gebiet vorgenommen hat, dann müssen sie – nach der Auffassung des Tribunals – gewissen Anforderungen entsprechen. Die Regelung muss nämlich so gestaltet werden, dass die Subjekte, für welche sie gilt, von den ihnen zustehenden Rechten auch Gebrauch machen und die rechtlichen Institutionen und Prozeduren in Anspruch nehmen können. Dabei ist die Ursache der Fehlerhaftigkeit der rechtlichen Regelung gleichgültig: Illoyalität des Gesetzgebers, seine Falschheit oder sein Unvermögen. Wenn er die Normierung bestimmter Angelegenheiten übernommen hat, so ist die Erwartung betroffener Subjekte im Hinblick auf den Schutz bestimmter Werte und folglich auf die Sicherung der dazu dienenden Rechtsmittel durchaus begründet. Wenn daher der Gesetzgeber bestimmten Subjekten gewisse Rechte zuerkennt, ist er verpflichtet, den Rechtszustand so zu gestalten, dass die Ausübung dieser Rechte auch möglich ist. Ein Recht (eine Berechtigung) besteht u. a. darin, dass bestimmte Subjekte zur Leistung zugunsten der Berechtigten bzw. zur Reaktion 26 Vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 13. April 1999, K 36/98 (OTK ZU Nr. 3/1999, Pos. 40, S. 242). 27 Vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 8. Mai 2000, K 22/99 (OTK ZU Nr. 4/ 2000, Pos. 107, S. 523).

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auf ihre auf Konventionen beruhenden Aktivitäten (Kompetenzen) verpflichtet sind. Wenn es nun in den Rechtsvorschriften an einem Hinweis auf die zur Leistung verpflichteten Personen fehlt, bzw. ein solcher Hinweis so unpräzise ist, dass ihre Identifizierung vereitelt wird, ist davon auszugehen, dass das Recht nur scheinbar zuerkannt wurde. In einem solchen Fall haben wir es mit dem Mangel der legislatorischen Konstruktion einer rechtlichen Situation (Institution) zu tun, und sicherlich ist der Gerichtshof aus diesem Grunde zu dem Schluss gelangt, dass dann, wenn geltende Normen die Subjekte zum Erwerb gewisser Leistungen berechtigten und der Gesetzgeber das dazu verpflichtete Subjekt nicht (bzw. nicht präzise) bestimmt, man annehmen muss, dass die öffentliche Hand als das verpflichtete Subjekt gilt. 28 Diese Regel scheint über die Grundsätze der korrekten Rechtssetzung hinauszugehen und schlägt eine positive Lösung vor: Sie soll als eine durchdache Reaktion auf einen legislatorischen Mangel gelten, indem sie ausschließt, dass die Konsequenzen dieses Mangels von den betroffenen Subjekten getragen werden müssen. Das „Unvermögen“, von den zugestandenen Rechten Gebrauch zu machen, kann auch dadurch hervorgerufen werden, dass der Gesetzgeber gar keine Rechtsmittel zur Geltendmachung dieser Rechte vorsieht, oder aus dem Rechtssystem solche Regelungen nicht eliminiert, die der Verwirklichung der gewährten Rechte entgegenstehen, bzw. die Rechte dann zuerkennt, wenn sie aus faktischen Gründen gar nicht in Anspruch genommen werden können. Axiologisch begründet werden die bereits dargestellten Regeln mit dem Wert, den das Vertrauen zwischen den Trägern von Rechten und dem Gesetzgeber darstellt. Dabei geht es um einen anderen, als den bisher genannten Vertrauensgegenstand – nämlich darum, dass es möglich ist, anzunehmen, dass der Gesetzgeber bei der Gestaltung der legislatorischen Lösungen redlich ist und das Gesetz kein illusorisches Versprechen darstellt. Die Beachtung dieser Regeln soll die Träger von Rechten vor Manipulation und vor dem praxeologischen Unvermögen des Gesetzgebers schützen. 3. Ein weiterer Komplex der Regeln der korrekten Rechtssetzung, die durch den Verfassungsgerichtshof erarbeitet wurden, stellen die Regeln der „Bestimmtheit der Rechtsvorschriften“ dar. Der darunter weiteste Grundsatz besagt, dass die Vorschriften „korrekt, präzise und klar gefasst werden müssen“ 29. Die Regeln beziehen sich daher ausschließlich auf den sprachlichen Aspekt der Rechtnormen, indem sie zum Ausdruck bringen, dass die Sprache ein wesentliches Kommunikationsmittel zwischen dem Gesetzgeber und den Normadressaten darstellt. Deswegen muss sie bestimmten Anforderungen entsprechen. 30 28 Vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 18. Dezember 2002, K 43/01 (OTK ZU Nr. 7/A/2002, Pos. 96). 29 Vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 11. Januar 2000, K 7/99 (OTK ZU Nr. 1/2000, Pos. 2, S. 20).

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Nach der Auffassung des Tribunals stellen Präzision und Kommunikativität die am meisten erwünschten Merkmale einer Rechtssprache dar. Die Präzision trägt dazu bei, dass zuerkannte oder gewährte Rechte sowie auferlegte Pflichten vertrauenswürdig werden. Diese Anforderung bezieht der Gerichtshof insbesondere auf strafrechtliche und steuerrechtliche Normen sowie auf alle Normierungen, die in die Grundrechte, Grundfreiheiten und Pflichten des Einzelnen eingreifen. Darunter fallen auch alle Vorschriften, die den Kompetenzbereich der öffentlichen Gewalt bestimmen, z. B. den Rahmen der Selbstständigkeit einer Gemeinde und die Kompetenzen ihrer Organe. 31 Die Präzision der Sprache ist natürlich eine Eigenschaft, die sich steigern lässt. In einem – wie dies durch den Gerichtshof erläutert wurde – „maximalem“ Ausmaß muss sie in den Vorschriften enthalten sein, welche die unter Androhung von Strafe verbotenen Taten normieren: „materiellrechtliche Komponenten einer für verbrecherisch gehaltenen Tat müssen vollständig, präzise und eindeutig im Gesetz definiert werden“ 32. In einem besonders hohen Maße verknüpft der Gerichtshof die erforderliche Präzision mit steuerrechtlichen Normen sowie mit solchen Vorschriften, die in Verfassungsrechte, Grundrechte und Pflichten des Einzelnen eingreifen. Je erheblicher der Eingriff in diese Sphäre ist, desto präziser müssen diesbezügliche Vorschriften formuliert werden. 33 Gemäß den Regeln der korrekten Rechtssetzung müssen die Rechtstexte derart formuliert werden, dass sie kommunikativ für die interessierten Subjekte werden: „Die Anforderung der Klarheit bedeutet das Gebot, klare und für deren Adressaten verständliche Vorschriften zu schaffen“ 34. Die Kommunikativität des Rechtstextes besteht darin, dass die Rekonstruierung der Normen aus den Vorschriften relativ einfach ist und von den interessierten Subjekten kein besonderes Wissen und keine besonderen Fähigkeiten erfordert. III. „Der Verfassungsgerichtshof hat in seinen Entscheidungen mehrmals betont, dass er nicht zur Kontrolle der Zweckmäßigkeit, der Rationalität und der Wirk30 Die grundlegenden Anforderungen wurden durch den Gerichtshof wie folgt formuliert: „Jede Rechtsvorschrift soll in sprachlicher und logischer Hinsicht ordentlich gefasst werden – erst die Erfüllung dieser Anforderung lässt die Bewertung dieser Vorschrift nach anderen Kriterien zu“, vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 21. März 2001, K 24/00 (OTK ZU Nr. 3/2001, Pos. 51). 31 Vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 4. Mai 1998, K 38/97 (OTK ZU Nr. 3/ 1998, Pos. 31). 32 Vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 26. April 1995, K 11/94 (OTK 1995, teil I, Pos. 12, S. 131). 33 Vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 21. März 2001, K 24/00 (OTK ZU 3/2001, Pos. 51). 34 Ibidem, S. 312.

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samkeit der gesetzgeberischen Entscheidungen berufen wurde.“ 35 In diesem Sinne hat sich das Tribunal mehrfach geäußert. 36 Bemerkenswert ist dabei, dass der Gerichtshof den Rahmen seiner Kontrolle negativ bestimmt; er zeigt, welche Aspekte außerhalb dieser Kontrolle bleiben. Allerdings nennt er nur einige der Kriterien, die er in Betracht ziehen darf. Aus seiner Rechtsprechung lässt sich jedoch ableiten, dass es sich dabei um Werte, Grundsätze und Verfassungsnormen handelt. Welche Funktion haben aber die Regeln der korrekten Rechtssetzung im Prozess der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Rechts und welchen Status genießen sie? Es fällt auf, dass diese Regeln selbst nicht das Interesse des Gerichtshofes finden. Im Vordergrund steht hier nicht die Frage, ob die Regeln der korrekten Rechtssetzung verletzt wurden 37, sondern ob der gegebene Normativakt einen wesentlichen Mangel enthält, d. h. einen solchen Mangel, der in der Verletzung bestimmter Werte resultiert, und ob ein Individuum infolge des legislatorischen Fehlers oder der Nachlässigkeit gewisse, nach Auffassung des Gerichtshofs nicht akzeptable, negative Konsequenzen erleiden könnte. Die Überlegung des Gerichtshofes scheint wie folgt zu verlaufen: Im Rechtssystem gilt eine Norm – ein Grundsatz, der dem Gesetzgeber (aber auch anderen öffentlichen Gewalten) gebietet, solche Aktivitäten vorzunehmen, die dem Schutz bestimmter Werte dienen sowie dem Erreichen erwünschter Sachlagen – in dem hier analysierten Fall sind dies rechtsstaatlich orientierte Werte –, und solche Aktivitäten aufzugeben, die diese Werte verletzen können. Wenn ein rechtsbildender Akt diesen Grundsatz verletzt, wird er für verfassungswidrig gehalten. Aus alledem folgt, dass man anhand der genannten Werte und Sachlagen einen an den Gesetzgeber gerichteten Regelkomplex formulieren kann, der anzeigt, welche Aktivitäten vorzunehmen bzw. aufzugeben sind, um die erwünschten Sachlagen zu erreichen und die Werte zu schützen. Diese Regeln sind als Regeln der korrekten Rechtssetzung anzusehen und finden ihre axiologische Begründung insbesondere in einem solchen Wert wie dem Vertrauen in den Beziehungen zwischen dem Staat und dem Individuum sowie der Unabhängigkeit von Manipulation seitens der öffentlichen Gewalt. Viele dieser Regeln entstanden aufgrund juristischer Erfahrung und wissenschaftlichen Nachdenkens, andere werden durch den Verfassungsgerichtshof ge35 Vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 31. März 1998, K 24/97 (OTK ZU Nr. 2/1998, Pos. 13, S. 80). 36 Vgl. z. B. auch Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 24. März 1998, K 40/97 (OTK ZU Nr. 1/1998, Pos. 12). 37 In der Entscheidung über die Legalität eines Aktes fragt das Verfassungsgericht danach, ob eine Regel verletzt wurde, z. B. ob das rechtsbildende Subjekt seine Berechtigung überschritten hat, und nicht danach, ob die Konsequenzen dieser Überschreitung für den Einzelnen negativ oder positiv (was auch möglich ist) sind.

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staltet. Es lässt sich somit sagen, dass manche dieser Regeln durch das Verfassungsgericht formuliert bzw. inhaltlich präzisiert werden; dagegen ordnet das Gericht andere Regeln, wegen einer ihnen gemeinsamen axiologischen Begründung, dem Rechtsstaatsprinzip zu. Man kann jedoch nicht behaupten, dass diese Regeln so wie andere Normen verbindlich sind. Zuschreiben kann man ihnen nur eine bedingte Pflicht: Sie müssen beachtet werden, soweit dies unter bestimmten Umständen zum Erzielen der erwünschten Sachlage in einem zu erwartenden Ausmaß führt (z. B. zum erwünschten Präzisionsgrad, zur Sicherung einer zum Bekanntmachen neuer Rechtsvorschriften erforderlichen Frist). Hinzuzufügen ist noch, dass ihre Beachtung zum Schutz bestimmter Werte führt oder zumindest dafür günstig ist. Mit dieser Eigenschaft der Regeln der korrekten Rechtssetzung kann erklärt werden, warum die Nichtbeachtung derselben Regel in einigen Fällen in einer Verletzung des Rechtsstaatsprinzips resultiert und in anderen Fällen nicht dazu führt. Damit kann auch erläutert werden, warum ihr Katalog offen ist. Es ist doch immer möglich, eine neue Regel zu erarbeiten, die unter den gegebenen Umständen wirksamere Mittel zum Erzielen von erwünschten Sachlagen bestimmt. Aus den obigen Ausführungen lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Regeln der korrekten Rechtssetzung kein Modell für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Rechts darstellen, obwohl sie in diesem Prozess eine sehr bedeutsame Rolle spielen. Als ein solches Modell gilt hier das verfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip. Denn die Regeln geben nur allgemeine Hinweise und legen dem Gesetzgeber typische Lösungen in typischen Situationen nahe. Dass der Verfassungsgerichtshof die Regeln der korrekten Rechtssetzung kasuistisch formuliert und vielschichtige Ausnahmen davon vorsieht, lässt sich damit erklären, dass er sie ex post abfasst, und zwar in Kenntnis der gesamten komplizierten Situation der zu untersuchenden Lösung. Die durch den Gerichtshof gefasste Regel wird daher situationsgemäß formuliert: Ihr Inhalt wird im Prozess der Anwendung bestimmt. IV. Das Rechtsstaatsprinzip ist ein geltender Grundsatz, der sich allerdings nicht eindeutig festlegen lässt. Es wird in Art. 2 der Verfassung der Republik Polen normiert, der die Verwirklichung eines politischen Vorbildes – bezeichnet als „demokratischer Rechtsstaat“ – gebietet. Die Bestimmung dieses Vorbildes erfordert das Zurückgreifen auf die historisch gestaltete Konzeption eines Rechtsstaates und auf ihre Erscheinungen in der Verfassung. 38 Diese Konzeption unterliegt in vielen 38 Vgl. Wronkowska, Klauzula demokratycznego pa´nstwa prawnego (Die Klausel eines demokratischen Rechtsstaates), in: Zasada demokratycznego pa´nstwa prawnego w Konstytucji RP z 1997 roku (Das Rechtsstaatsprinzip in der Verfassung der Republik Polen aus dem Jahre 1997) (im Erscheinen).

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Aspekten wiederum einer Reihe von Änderungen. An ihrer Gestaltung beteiligt sind nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Politiker, die Bürgergesellschaft, verschiedene öffentliche Institutionen, sowie auch die Gerichte. 39 Ihren stärkster Bestandteil stellt die Gesamtheit der sie bildenden Werte dar. Indem die normative Konstruktion auf die Konzeption eines Rechtsstaates verweist, wird der Verfassungsgerichtshof zum Mitbegründer dieser Konzeption und folglich zum Mitbegründer des Modells zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Rechts, soweit das Modell als Grundsatz des demokratischen Rechtsstaats begriffen wird. In der Praxis ruft dies bedeutsame Änderungen in Bezug auf das Modell zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Rechts hervor: Es wird erheblich bereichert, aber zugleich auch von der Eindeutigkeit entfernt. Zusätzlich muss noch hervorgehoben werden, dass bemerkbare Änderungen im Modell zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Rechts auch die Umwandlungen des Gegenstandes der Kontrolle beeinflussen. In einer traditionellen Fassung sind darunter eine Rechtsvorschrift, ein Normativakt als Ganzes, bzw. allein der rechtsbildende Akt zu verstehen. Wendet man den Grundsatz des demokratischen Rechtsstaates als ein Modell an, so wird auch die Gesamtheit der unklaren, inkohärenten Vorschriften, bzw. die Gesamtheit, die einen Mangel an bestimmten Vorschriften aufweist und dadurch einen unwirksamen, scheinbaren oder uneffektiven Charakter hat, zum Gegenstand der Kontrolle. V. Die oben dargestellten Überlegungen deuten ausdrücklich darauf hin – was bereits hervorgehoben wurde –, dass das Tribunal im Stadium der Auslegung des Modells für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit sowie im Stadium der Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit aufgrund dieses Modells weitgehende Unabhängigkeit genießt. Diese Unabhängigkeit scheint so weit ausgedehnt zu sein, dass es zur Kompetenz des Gerichtshofes gehört mitzuentscheiden, welche Werte den Rechtsstaat gestalten und wann diese Werte von dem Gesetzgeber so verletzt werden, dass der rechtsbildende Akt als verfassungswidrig angesehen werden muss. Dabei muss die Frage gestellt werden, wie derartige Lösungen zu begründen sind. Es kommen zwei Antworten in Betracht. 1. Es ist ein Truismus zu sagen, dass das Recht nicht gegeben wurde, sondern durch nacheinander folgende rechtsbildende Akte geschaffen, novelliert und eliminiert wird. Schon zu Zeiten von Aristoteles war bekannt, dass das von 39 Vgl. T. Chauvin, J. Winczorek, P. Winczorek, Wprowadzanie klauzuli pa´nstwa prawnego do porza˛dku konstytucyjnego Reczypospolitej Polskiej (1989 –1997) (Die Einführung der Klausel eines Rechtsstaates in die verfassungsrechtliche Ordnung der Republik Polen) (im Erscheinen).

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Menschen gesetzte Recht einen praktischen Zweck hat. Um ihn realisieren zu können, müssen bestimmte Merkmale vorhanden sein, die über seine effektive Wirkung entscheiden und als sein Kapital bezeichnet werden können. Das Erzielen solcher Eigenschaften des Rechts, wie seine Kohärenz und Funktionalität, Durchsichtigkeit, Kommunikativität und Sicherheit im Wege der Beachtung der Regeln der korrekten Rechtssetzung trägt dazu bei, dass das Recht das Verhalten der Menschen sowie die Gründung organisatorischer Strukturen, in welchen die Menschen arbeiten, beeinflussen kann. Zugleich wird damit auch die politische Instrumentalisierung des Rechts verhindert. 2. Das Bestehen des Verfassungsgerichtshofes auf Respektierung bestimmter Werte – und mittelbar auch der diesen Werten dienenden Regeln der korrekten Rechtssetzung – durch den Gesetzgeber stellt eine wichtige Sicherung dafür dar, dass das Recht, als die Grundlage des Rechtsstaates, bestimmten Anforderungen entspricht. Dies ist zugleich eine Sicherung der in der Verfassung normierten Grundrechte und Grundfreiheiten des Einzelnen. Und wenn die Position eines Individuums in der Gesellschaft durch das Recht gewährleistet wird, dann ist die Realität dieser Gewährleistung auch von der Qualität des Rechts abhängig. Die fundamentale Legitimität für das Modell einer Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Rechts besteht daher heutzutage in der axiologischen und praxeologischen Legitimität. Dadurch, dass der Gerichtshof sich auf die Regeln der korrekten Rechtssetzung beruft und sie bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Rechts beachtet, werden zwei Aspekte geschützt: die rechtliche Position des Einzelnen, der der gesetzgeberischen Gewalt untergeordnet wird, sowie die Fähigkeit des Rechts zur effektiven Normierung der gesellschaftlichen Beziehungen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die fehlende Präzision der Kriterien der Kontrolle die Frage hervorruft, ob das Verfassungsgericht mit der Ausdehnung des Rahmens und der Kriterien der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Rechts nicht einen der fundamentalen Werte des Rechtsstaates missachtet, und zwar die Vorhersehbarkeit der Entscheidungen der öffentlichen Gewalt. An dieser Stelle muss jedoch gefragt werden, ob eine Alternative für die genannte Aktivität des Gerichts besteht. Als eine solche Alternative könnte etwa eine solche Vorstellung des Rechtsstaates gelten, in dem die gesetzgeberische Gewalt zwar auf das Ziel des Idealbildes des Rechtsstaates verpflichtet ist, aber nur in dem Maße, in dem sie dies unter den konkreten Umständen für möglich und geboten hält. Dabei ist noch darauf hinzuweisen, dass die Entscheidungen der gesetzgeberischen Gewalt in solchen Fällen keiner institutionalisierten rechtlichen Kontrolle unterliegen sollten. Im Grunde genommen wird daher dieser Streit um die gegenwärtige Konzeption des Rechtsstaates geführt – genauer gesagt darum, ob die Beachtung der Regeln der korrekten Rechtssetzung, die dem Schutz der Werte des Rechtsstaates dient, nur eine Tugend des Gesetzgebers oder eher seine verfassungsrechtliche Pflicht darstellt. Eine revolutionäre Umwandlung der bekannten Funktionen der

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Rechtsetzung in die Gesamtheit der Regeln der korrekten Rechtssetzung besteht darin, dass die Verfassungsgerichte, darunter auch der polnische Verfassungsgerichtshof, den traditionellen Gesichtspunkt, wonach das redliche Recht eine Gabe des guten Gesetzgebers darstellt, wirksam in Frage gestellt und zugleich angefangen haben, von dem Gesetzgeber ein solches Recht zu verlangen. Sie haben also eine ausdrückliche Stellung in dem Streit um die gegenwärtige Vorstellung des Rechtsstaates bezogen und zugleich damit begonnen, eine wichtige Funktion bei der Ausbildung der Gesellschaft auszuüben, indem sie der Gesellschaft – mit großem Erfolg – das Modell des redlichen Rechts nahe bringen.

II. Zum Allgemeinen Teil des Strafrechts

Normtheoretische Überlegungen zur Strafbarkeit unvollendet gebliebener Straftaten Karl Heinz Gössel

A. Normentheorie und Straftat I. Die Straftat als normwidrige Rechtsgutsbeeinträchtigung a) Rechtsgüterschutz durch Verhaltensnormen 1. Das Strafrecht schützt Gegenstände oder Güter, die für den Bestand der Rechtsgemeinschaft als unabdingbar angesehen werden, als Rechtsgüter durch Verbote vor deren Beeinträchtigung (Gefährdung oder Verletzung) und durch Gebote zu deren Erhaltung. Ge- und Verbote unterfallen dem Oberbegriff Normen, die indessen nicht dem Strafgesetz gleichgesetzt werden können: Der Straftäter kann deshalb nicht gegen ein Strafgesetz verstoßen, weil eine Straftat nur der begeht, wer genau das tut, was in einem Strafgesetz als strafbar beschrieben ist. Gleichwohl aber übertritt er die Rechtsordnung. Das setzt die Anerkennung selbständiger, von den Strafgesetzen unabhängiger Rechtssätze voraus, der Normen 1. 2. Die Rechtsbefehle der Normen können allein auf das Verhalten von Menschen einwirken: Normen richten sich folglich weder an zufälliges Geschehen noch an Naturkräfte, auch nicht an Pflanzen oder Tiere, sondern ausschließlich an das Verhalten der einzelnen rechtsunterworfenen Menschen; sie werden deshalb auch Verhaltensnormen genannt. Straftaten können damit mit der weit überwiegenden Meinung als Rechtsgutsbeeinträchtigungen charakterisiert werden, die unter Verstoß gegen Verhaltensnormen von Menschen handelnd herbeigeführt werden 2, kürzer: als normwidrige Rechtsgutsbeeinträchtigungen 3. 1 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Band I, 4. Aufl., 1922, S. 3 ff, zust. Giannidis, Theorie der Rechtsnorm auf der Grundlage der Strafrechtsdogmatik, 1979, S. 18; ebenso Maurach / Zipf, Strafrecht AT, 8. Aufl., § 19, 24; Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl., § 8, 7; Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954, S. 39, 45 f; Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unerlassungsdelikten, 1993, S. 28; a. A. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 29. 2 Näheres Maurach / Zipf (Fn. 1), § 19, 4 ff, 23 ff; vgl. ferner z. B. SK-Rudolphi Vor § 1, 17.

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b) Norm und Strafgesetz 1. Schon die Verschiedenheit von Norm und Strafgesetz deutet auf eine je verschiedene Reichweite beider hin, was durch einen Blick in das Strafgesetzbuch bestätigt wird. Die dem Schutz der menschlichen Ehre dienende Norm etwa kann in vielfältiger Weise beeinträchtigt werden. Die Beeinträchtigung der Norm allein reicht aber zur Strafbarkeit nicht aus. Strafbar sind solche Beeinträchtigungen nur dann, wenn und soweit sie in den Strafgesetzen der §§ 185 ff StGB als strafbar beschrieben sind: Eine fahrlässige Beleidigung z. B. ist also straflos, obwohl sie gegen die Norm zum Schutze des Rechtsguts der Ehre verstößt. Gleiches gilt für Beeinträchtigungen des Rechtsguts Eigentum: Der unbefugte bloße Gebrauch eines Buches oder eines Werkzeugs ist ebenso straflos wie der unvorsätzliche Diebstahl, und doch ist in beiden Fällen das Rechtsgut Eigentum beeinträchtigt. Norm und Strafgesetz erweisen sich überdies insoweit als verschieden hinsichtlich Reichweite und Umfang, als ein Strafgesetz verschiedene Normverletzungen erfassen kann: § 249 StGB (Raub) etwa stellt bestimmte Verstöße gegen die Normen zum Schutze des Eigentums und der Willensfreiheit unter Strafe. Auch das Umgekehrte gilt: Verstöße gegen die Norm zum Schutze des Eigentums etwa können von mehreren Strafgesetzen erfaßt sein: die Sachbeschädigung z. B. in § 303 StGB und Diebstahl und Unterschlagung in §§ 242, 246 StGB. 2. Der Blick auf das Strafgesetz zeigt, daß jeweils nur Beeinträchtigungen bestimmter Rechtsgüter erfaßt werden: Damit verlangen auch die Normen geoder verbietend stets die Beachtung konkret bestimmter Rechtsgüter: „Ihr sollt das menschliche Leben, die staatliche Existenz, das Eigentum etc. achten!“ Eine allgemeine Norm: „Ihr sollt keine Rechtsgüter verletzen oder gefährden“ kann damit nicht angenommen werden. c) Normwidrigkeit, Tatbestand und Unrecht 1. Normwidriges Verhalten ist gegen die Rechtsordnung gerichtet, also rechtswidrig. Von den Strafgesetzen wird es in deren Tatbeständen beschrieben und damit als grundsätzlich strafbar erfaßt. Normwidrig tatbestandliches Verhalten kann bei einer Kollision von Rechtsgütern des normwidrig Handelnden mit den von diesem beeinträchtigten Rechtsgütern durch die als Kollisionsnormen zu verstehenden Rechtfertigungsgründe auf einer höheren Ebene ausnahmsweise als rechtmäßig bewertet werden, wodurch zwar die Normwidrigkeit nicht beseitigt werden kann, wohl aber deren Bewertung einer menschlichen Handlung als rechts3 So z. B. Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl., § 7, I 1 und § 24, II 1; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 2, 7 und § 10, 93; Baumann / Weber / Mitsch (Fn. 1), § 8, 7; Kühl, AT, 5. Aufl., § 3, 3 ff; Schönke / Schröder / Lenckner / Eisele, StPO, Vor §§ 13 ff, 8; Kindhäuser, LPG, Vor § 1, 13; Otto, Grundkurs AT, 7. Aufl., § 1, 21 ff; Freund, AT, § 1, 2, 5 ff; Gössel, FS Oehler 98 ff; so wohl auch MK-Joecks Einl. 30; vgl. auch Vogel (Fn. 1), S. 63.

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widrig 4. Damit entfällt zugleich die Strafbarkeit, die auch bei fehlender Schuld entfällt. Rechtswidrigkeit wie Schuld setzen damit normwidriges Verhalten voraus. 2. Die von der deutschen Rechtswissenschaft gegen seinerzeit heftige Kritik 5 entwickelte und auch im Ausland vielfach anerkannte grundlegende Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld 6 wird neuerdings in einem Teil des Schrifttums wieder kritisch beurteilt 7 und z. B. von Tonio Walter aus normentheoretischen Erwägungen ausdrücklich wieder rückgängig zu machen versucht. Ein unrechtsbegründender Verstoß gegen die von der Verhaltensnorm ausgehende Pflicht setze voraus, daß sich der Handelnde auch pflichtgemäß verhalten könne 8; weil dies aber einem Schuldunfähigen nicht möglich sei, könne dieser „kein Unrecht tun, weshalb es kein Unrecht ohne Schuld geben könne“ 9, Unrecht also Schuld voraussetze. Dem ist indes zu widersprechen. Verpflichtete die Verhaltensnorm nur Schuldfähige, so wäre es dem Schuldunfähigen nicht verboten, Menschen zu töten oder sonstige Rechtsgüter zu beeinträchtigen. Könnte er deshalb, wie Tonio Walter meint, kein Unrecht begehen, so müßte der Schuldunfähige entweder in einem rechtsfreien Raum agieren oder aber es müßte ihm erlaubt sein, Rechtsgüter zu beeinträchtigen, insbesondere auch Menschen umzubringen. Dies aber erscheint schon deshalb unhaltbar, weil es dann auch nicht möglich wäre, gegen den schuldunfähigen Totschläger oder Mörder in einem Sicherungsverfahren (§§ 413 ff StPO) Maßregeln der Besserung und Sicherung anzuordnen, die dem Gesetz zufolge nur verhängt werden können, wenn der Schuldunfähige rechtswidrig gehandelt hat (vgl. §§ 61 ff StGB). Darüber hinaus wird aber auch dem Ausgangspunkt von Tonio Walter nicht zugestimmt werden können. Verhaltensnormen sind generelle Regeln, die sich ausnahmslos an alle Menschen wenden ohne Rücksicht darauf, ob diese auch individuell in der Lage sind, diesen generellen Ge- oder Verboten zu entsprechen – und deshalb gelten die Verhaltensnormen auch den Schuldunfähigen, die folglich normwidrig und deshalb rechtswidrig handeln können. Die generell alle Menschen verpflichtende Norm ist damit vom konkreten Können des jeweiligen Verpflichteten zu unterscheiden, welches bei der Frage nach der Normwidrigkeit eines Verhaltens 4 Diese kontrovers diskutierte Spezialfrage kann hier nicht vertieft behandelt werden. Vgl. dazu einerseits Gössel, FS Triffterer 93 ff, andererseits z. B. die dort (S. 96, Fn. 17) zitierte und von der hier dargelegten überwiegend abweichende Meinung. Vgl. dazu auch Brammsen, FS Otto 1081, 1085 ff und auch die differenzierte Stellungnahme von Hruschka, FS Larenz 257. 5 Vgl. dazu nur Binding (Fn. 1), S. 243 ff. Einen instruktiven Überblick über die Entwicklung zur Trennung von Unrecht und Schuld bietet Pawlik, FS Otto 133, 137 ff, 144 ff. 6 Vg. dazu Jescheck / Weigend (Fn. 3), § 39, I. 7 Vgl. dazu Pawlik, FS Otto 133. 8 Tonio Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 83 f. 9 Tonio Walter (Fn. 8), S. 116.

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noch nicht zu berücksichtigen ist 10, sondern erst bei der späteren Frage, ob die zu bejahende Pflichtwidrigkeit dem pflichtwidrig Handelnden auch zugerechnet werden kann 11. II. Abweichende Strafrechtskonzepte a) Bedeutsame aktuelle Lehren In der Literatur wird entgegen der hier vertretenen Auffassung vorgeschlagen, entweder schon die Existenz selbständiger Verhaltensnormen zu verneinen oder aber den Rechtsgüterschutz als Aufgabe des Strafrechts zu verwerfen. Dem kann indessen nicht gefolgt werden. 1. Kindhäuser verneint die Existenz selbständiger, von den Strafgesetzen unabhängiger Normen. Er setzt die Rechtssätze der Deliktstatbestände den Normsätzen gleich, die er von der semantischen Bedeutung des Normbegriffs trennt: in „kontradiktorischer Formulierung“ drückten die Normsätze Verhaltensnormen aus 12. „Formulierungen“ indessen beziehen sich ebenso auf Gegenstände wie Begriffe: sind sie kontradiktorisch, so sind sie gegensätzlich und erfassen damit auch verschiedene Gegenstände. Wer also Verhaltensnormen als kontradiktorisch formulierte Normen ansieht, muß die Verhaltensnormen von den Rechtssätzen der Deliktstatbestände unterscheiden und darf sie gerade nicht mit diesen gleichsetzen. 2. Hoyer verneint nicht nur die Selbständigkeit der Verhaltensnormen, sondern schon deren Existenz. In der von ihm so genannten „alethischen“ Strafrechtskonzeption versucht dieser Autor, die Strafrechtsordnung völlig von Rechtspflichten zu lösen und damit auch von den diese Pflichten auslösenden Verhaltensnormen 13. Mangels solcher Pflichten aber dürfte es nicht mehr möglich sein, die Begehung von Straftaten als verboten und damit als rechtswidrig anzusehen. Mit Recht hat bereits Weber auf die Unvereinbarkeit einer derartigen Auffassung mit dem geltenden deutschen Strafrecht hingewiesen 14. 3. In schroffem Gegensatz insbesondere zur Konzeption von Hoyer erblickt Jakobs in der „Normverletzung ... das entscheidende Merkmal der Straftat“ 15. 10

So auch die allgemeine Auffassung, vgl. z. B. Armin Kaufmann, (Fn. 1), S. 129, 138 f; Vogel (Fn. 1), S. 59, 62. 11 Kindhäuser (Fn. 1), 29, 63. 12 Kindhäuser (Fn. 1), S. 29 und LPG Vor § 1, 10: „Die Strafgesetze lassen sich ... als Normen ... interpretieren“. 13 Hoyer, Strafrechtsdogmatik nach Armin Kaufmann 1977, z. B. S. 41 ff. 14 Baumann / Weber / Mitsch (Fn. 1), § 3, 15 und § 8, 7. 15 Jakobs, Das Selbstverständnis der Strafrechtswissenschaft vor den Herausforderungen der Gegenwart, Kommentar, in: Eser et al. (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, 47.

Normtheoretische Überlegungen zur Strafbarkeit unvollendeter Straftaten

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Nach Jakobs ist Gesellschaft „normative Verständigung“ zum „Vorteil einer Gruppe“ 16, deren Mitglieder „als Gruppenwesen“ vom „Gewalthaber ... definiert“ und dadurch zu Personen im Recht werden 17. Als ein vom Gewalthaber Definierter ist eine Person bloße „Sollgestalt, also eine objektive Konstruktion“ 18 und entbehrt folglich jeder materiellen Substanz 19. Damit kann die Straftat nicht mehr als Ergebnis einer normwidrigen menschlichen Verhaltenssteuerung begriffen werden, sondern nur noch als Ergebnis einer normativen Zuordnung 20. Die Straftat kann folglich „nur als Verletzung der Rechtlichkeit“ charakterisiert sein und damit als Normbruch, nicht aber als Güterverletzung, weil Personen eben nicht „durch die optimale Sicherheit ihrer Güter charakterisiert“ seien, „sondern“ definiert „als Träger von Rechten und Pflichten“ durch den jeweiligen Gewalthaber 21. Überdies führe das Verständnis der Straftat als Rechtsgutsverletzung dazu, den Straftäter nur dadurch zu definieren, daß dieser „dem Rechtsgut gefährlich werden“ könne, was eine grenzenlose Vorverlagerung der Strafbarkeit ermögliche bis in den Bereich bloß gefährlicher Gedanken einschließlich der Quellen solcher Gedanken 22. Jakobs’ Konzeption beruft sich auf die Staatstheorie von Hegel, die indessen mit heutigen allgemein anerkannten rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar ist: Nach Hegel ist die parlamentarische Demokratie nur in einem unentwickelten Zustand eines Volkes möglich; in der Monarchie dagegen sei der Staat als Verwirklichung „der sittlichen Idee“ das „an und für sich Vernünftige“ 23, in dem die Persönlichkeit des Staates allein in der Person des Monarchen wirklich sei 24 und die höchste Pflicht der Einzelnen darin bestehe, „Mitglieder des Staates zu sein“ 25 – in schroffem Gegensatz zur Sicht der deutschen Verfassung (Grundgesetz) und allgemein zum Rechtsstaatsprinzip wird hier der Rechtsunterworfene zum Objekt des Staates degradiert. Ist Jakobs’ Konzeption schon damit zu verwerfen, so zudem deshalb, weil mit der Definition der Person nur noch als objektive Konstruktion der Gesellschaft und damit des jeweiligen Gewalthabers die Existenz angeborener, von irgendwelchen Zuschreibungen unabhängiger Rechte geleugnet 16

Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl. 1999, 63. Jakobs (Fn. 16), S. 33. 18 Jakobs (Fn. 16), S. 96. 19 Diese Konsequenz aus der Konzeption von Jakobs zieht folgerichtig Müssig, Beweisverbote im Legitimationszusammenhang von Strafrechtstheorie und Strafverfahren, GA 1999, 119, 125. 20 Jakobs (Fn. 16), S. 54. 21 Jakobs, Selbstverständnis (Fn. 15), 49. 22 Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung, ZStW 97 (1985), 751, 753. 23 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von Hoffmeister, 4. Aufl. 1955, §§ 257, 258, S. 241f der Originalausgabe von 1821. 24 Hegel (Fn. 23), § 279, S. 286. 25 Hegel wie Fn. 23. 17

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wird, insbesondere auch das in Art. 1 Abs. 1 GG ausdrücklich erwähnte Recht auf die Wahrung der jedem Menschen eigenen Würde, in welchem ein „Bekenntnis zu einem dem Staat vorgegebenen Bestand an Menschenrechten“ zu erblicken ist, die „ihre Existenz nicht staatlicher Verleihung“ verdanken, vielmehr „der Achtung des Menschen als würdehafter Person geschuldet“ sind 26. Mit der Verwandlung der Person in eine objektive Konstruktion, die jeder materiellen Substanz entbehrt, entfernt Jakobs den realen Menschen mit angeborenen Rechten aus der Rechtsordnung und enthumanisiert sie auf diese Weise 27. Die Bindung der Straftat an eine Rechtsgutsbeeinträchtigung bringt in der Tat insoweit die Gefahr einer verfehlten Strafbarkeitsausweitung mit sich, indem Rechtsgüter allzu weit, unscharf oder sonst unbestimmt definiert werden 28, insbesondere bei Rechtsgütern der Allgemeinheit; jedoch erscheinen diese Probleme beherrschbar 29. Die von Jakobs angeratene Radikalkur eines Verzichts auf die Rechtsgutsbindung der Straftat, verbunden mit dem Vorschlag, allein auf den Normbruch abzustellen, nimmt der Norm ihren Gegenstand, macht sie inhaltslos und löst sie so von den Lebenssachverhalten, die sie doch regeln soll 30 – und wird damit inhuman, sinnlos und kann auch nicht erklären, warum der Mord mit schwererer Strafe bedroht ist als die Beleidigung. Überdies führt Jakobs’ Verständnis von der Straftat nur als Normbruch geradewegs zur Verwirklichung eben der Gefahren, die er doch vermeiden will: Während die Rechtsgutsgefährdung ein bestimmtes und feststellbares reales menschliches Verhalten voraussetzt, läßt sich der Normbruch schon dann bejahen, wenn sich ein Mensch entschließt 31, einen Mord oder einen Diebstahl zu begehen: Allein mit diesem Entschluß setzt sich der so Entschließende über die Norm hinweg, die ihn doch zu rechtmäßigem Verhalten motivieren sollte. b) Die Vorzugswürdigkeit des normtheoretischen Straftatkonzepts Kann damit den soeben dargelegten Strafrechtskonzepten nicht gefolgt werden, so folgt daraus doch nicht die Richtigkeit der überwiegend vertretenen Auffassung 26 Herdegen, in: Maunz / Dürig, Loseblatt-Kommentar zum GG, Art. 1 Abs. 2, 6 (Februar 2004). 27 Vgl. dazu Gössel, Widerrede zum Feindstrafrecht, FS F.C. Schroeder, 33, 38 ff. 28 Vgl. dazu z. B. Stratenwerth / Kuhlen § 2, 4 ff. 29 Näheres dazu s. Maurach / Zipf (Fn. 1), § 19, 4 ff; vgl. dazu ferner z. B. Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, und die eingehende Darstellung dieser Problematik bei NK-Hassemer / Neumann, Vor § 1, 110 ff. 30 Das übersieht Rey-Sanfiz, Die Begriffsbestimmung des Versuchs und ihre Auswirkung auf den Versuchsbeginn, 2006, S.109, der die Lebenssachverhalte als notwendigen Gegenstand der Norm verkennt. 31 Vgl. dazu die Charakterisierung des Versuchs durch Freund (AT § 8, Überschrift zu Rn. 28 ff) als „zum Ausdruck gelangter Verhaltensnormverstoß“. Treffend der Hinweis von Sancinetti, 53 auf Matthäus 5, 28: „Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen“.

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von der Straftat als einer normwidrigen Rechtsgutsbeeinträchtigung (oben Ia2). Indessen gilt für jede Wissenschaft, daß der exakte Nachweis ihrer Fundamente nur bis zu einem gewissen Grade gelingen kann, darüber hinaus aber vorausgesetzt werden muß. Diese axiomatische Verwendung des normentheoretischen Fundaments ist ein übliches und wissenschaftstheoretisch zulässiges Verfahren 32; über die Berechtigung gerade dieser Grundlegung gegenüber anderen kann nur ein Leistungsvergleich der jeweils gestatteten „Erklärungen, Voraussagen und sonstigen Systematisierungen“ entscheiden 33. Die nachfolgenden Darlegungen hoffen, aufgrund eines solchen Leistungsvergleichs eine Entscheidung zugunsten des hier vorgestellten Konzepts (oben I) zu ermöglichen.

B. Die Strafbarkeit der Verwirklichungsstufen des Verbrechens I. Stufenlehre und Norm Wie jede zielgerichtete menschliche Handlung, so durchläuft auch die Straftat mehrere ineinander übergehende Handlungsstufen oder -stadien, die sich normativ nach dem Fortschreiten der deliktischen Willensverwirklichung des Täters voneinander abgrenzen lassen, jedoch ohne dadurch feststehende strafrechtliche Begriffe zu gewinnen: Die zunehmende Verwirklichung der Tat kann so in den folgenden Teilabschnitten erfaßt werden: Vorstellung eines kriminellen Verhaltens und die Entscheidung dazu, Planung, Vorbereitung, Beginn, Durchführung, Vollendung, Beendigung 34. Ist jede Straftat normwidrige Rechtsgutsbeeinträchtigung (oben AIa2), so können die Verwirklichungsphasen der kriminellen Handlung erst dann die Grenze zur Strafbarkeit (als deren zwar notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung) überschreiten, wenn und soweit sie inhaltlich ein Rechtsgut normwidrig beeinträchtigen. Das gilt möglicherweise schon für die Vorbereitung, gewiß aber für den strafbaren Versuch, der sich mit einer Rechtsgutsgefährdung begnügt 35. Soweit die einzelnen Stadien oder Stufen des kriminellen Geschehens eine normwidrige Rechtsgutsbeeinträchtigung enthalten, verstoßen sie stets gegen dieselbe rechtsgutsschützende Norm. Folglich beeinträchtigt die vollständig ver32 Vgl. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Band 11, 1979, S. 482 ff; vgl. auch Wittgenstein, Über Gewißheit, Nrn. 212, 270. 33 Stegmüller (Fn. 31), S. 528. 34 Vgl. dazu z. B. LK-Hillenkamp Vor § 22, 1 f; NK-Zaczyk § 22, 2; SK-Rudolphi Vor § 22, 1; Joecks, StuK, 6. Aufl., § 22, 2 ff; Jescheck / Weigend (Fn. 3) vor § 49; Jakobs, AT, 2. Aufl., 25/2; Stratenwerth / Kuhlen, AT, 5. Aufl., § 11, 2; Freund, AT, § 8, 15 ff; Otto (Fn. 3), § 18, 1 ff; Wessels / Beulke, AT, 37. Aufl., 590; Lackner / Kühl, StGB, 26. Aufl., Vor § 22, 1; Gropp, AT, § 9, 6 ff; Kühl, FS Roxin 666. 35 Roxin, AT II, § 29, 1.

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wirklichte Straftat dasselbe Rechtsgut (oder mehrere) wie die versuchte: Versuch und Vollendung verstoßen gegen dieselbe Verhaltensnorm 36. II. Stufenlehre und Tatbestand a) Die Stufeneinteilung dieser „kriminellen Progression“ ist nun allerdings bedeutungslos für den Regelfall, den der Gesetzgeber dem Aufbau seiner Tatbestände zugrunde gelegt hat: Sämtliche Tatbestände des StGB erklären nur die hier beschriebene Rechtsgutsbeeinträchtigung und damit die Verwirklichung sämtlicher Tatbestandsmerkmale für strafbar, die auch als Vollendung bezeichnet wird 37. Der Vollendungszeitpunkt ist damit von erheblicher praktischer Bedeutung: einmal grenzt er grundsätzlich die Strafbarkeit „nach vorne“ (jedenfalls in den Fällen eines straflosen Versuchs) ab, zum anderen „nach hinten“ von der Zone des sich an die Vollendung anschließenden weiteren straflosen Verhaltens. Damit wird grundsätzlich ein vor dem Zeitpunkt der Vollendung liegendes Verhalten ebensowenig von den Straftatbeständen erfaßt wie ein diesem Zeitpunkt nachfolgendes Verhalten 38. b) Die Strafwürdigkeit der vor der Vollendung liegenden Verbrechensstadien richtet sich nach dem Ausmaß der Gefährdung der jeweils geschützten Rechtsgüter und deren Bedeutung für die Rechtsgemeinschaft 39. Die bloße Verbrechensplanung ist, solange sie sich auf den einzelnen Täter beschränkt, strafrechtlich unerheblich: cogitationis poenam nemo patitur. Anders zu beurteilen sind dagegen Vorbereitung und Versuch. Beide können bereits eine ernste Bedrohung des Rechtsfriedens darstellen: Die Vorbereitung schafft die geeigneten Vorbedingungen des u.U. schon deshalb gefährlichen Rechtsgutsangriffs, der Versuch enthält bereits eine Gefährdung des von den Verhaltensnormen geschützten Rechtsguts 40. 1. Wann aber Versuch und Vorbereitung einer Tat auch strafbar sind, läßt sich niemals allgemein, sondern nur im Hinblick auf den einzelnen Tatbestand ermitteln 41, genauer: im Hinblick auf die vom Gesetzgeber insbes. anhand der soeben erwähnten Strafwürdigkeitskriterien getroffene Entscheidung über die 36 Kühl, AT § 15, 2; Freund, AT, § 8, 29; a. A. Kratzsch, 436, der von einem kybernetischen Ansatz aus wohl eine selbständige Versuchsnorm annehmen will, jedoch deshalb wenig überzeugend, weil die Existenz selbständiger Verhaltensnormen zum Schutze der einzelnen Stadien derselben Rechtsgutsbeeinträchtigung zu Unrecht offenbleibt. 37 Vgl. z. B. Kühl, Die Beendigung des vorsätzlichen Begehungsdelikts, 1974, S. 18. 38 Vgl. dazu auch Kühl, JuS 1979, 718 ff; zum Problem eines der Vollendung nachfolgenden strafbaren Beendigungsstadiums kann hier nicht mehr Stellung genommen werden; vgl. dazu Gössel, FS Jescheck 537. 39 Freund, AT, § 8, 18. 40 Roxin, AT II, § 29, 9 f: „Der Versuch als tatbestandsnahe Gefährdung“. 41 BGHSt 9, 62, 63.

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Strafbarkeit 42 durch die gesetzliche Beschreibung eines Verhaltens als normwidrige Rechtsgutsbeeinträchtigung in einem Tatbestand. Dies sei am Tatbestand des Mordes (§ 211 StGB) verdeutlicht. Als Mord gilt u. a. die vorsätzliche Tötung eines anderen aus Habgier. Wer einen Menschen aus diesem Motiv tötet, vollendet die in § 211 StGB beschriebene Tat und hat die in diesem Gesetz angedrohte Strafe verwirkt. Ob das als Handlungsmotiv wirkende angestrebte Ziel (Inbesitznahme der wohlgefüllten Geldbörse des Opfers) erreicht und also verwirklicht wurde, ist für die vollendete Verwirklichung des Tatbestandes des § 211 StGB unerheblich: An zu verwirklichenden Elementen verlangt die Vollendung nur die Tötung eines anderen Menschen. Wie aber sind die Fälle zu beurteilen, in denen ein mörderischer Plan nicht zu dem erstrebten Tötungserfolg führt? Ist schon strafbar, wer den Mordplan faßt, oder erst, wer ihn mit anderen bespricht, das Gift einkauft, es dem Opfer ins Glas gießt? Besteht ein Unterschied zwischen der – freiwilligen oder unfreiwilligen – Aufgabe einer verbrecherischen Handlung während ihrer Verwirklichung und dem Falle, daß der Täter zwar alles von ihm Abhängige tut, der Erfolg aber dennoch ausbleibt? Keine dieser der Vollendung vorausgehenden Handlungen verwirklicht das vom Tatbestand des § 211 StGB beschriebene Geschehen: Der Wortlaut des Gesetzes erfaßt nur die vollständige Verwirklichung des gesetzlich beschriebenen Verhaltens 43. Nach dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Bestimmtheit der Strafe (Art. 103 Abs. 2 GG) wären diese Handlungen strafrechtlich irrelevant, mögen sie auch noch so sehr nach Strafe verlangen, wie etwa der erfolglose Mordanschlag. Sollen also dem vollendeten Mord vorausgehende Verhaltensweisen auch nur teilweise strafbar werden, so muß die für den vollendeten Tatbestand geltende Strafandrohung entsprechend ausgedehnt werden, wie dies für den Versuch des Mordes (§ 211 StGB) durch § 23 Abs. 1, 1. Alt. StGB geschehen ist. Die gesetzlich angeordnete Einbeziehung der vor der Vollendung liegenden Stadien der Verbrechensverwirklichung in die Strafdrohung für die Straftat selbst wird folglich als Strafausdehnungsgrund 44 oder auch als Tatbestandsausdehnungsgrund 45 bezeichnet. Dies gilt grundsätzlich für alle Tatbestände des Besonderen Teils des StGB 46; Ausnahmen gelten z. B. für diejenigen Tatbestände, in denen der Vollendung voraufgehende Stadien der Vollendungsstrafe unterworfen werden, wie z. B. bei der Vorbereitung eines Angriffskrieges gem. § 80 StGB oder bei den sog. Unternehmensdelikten, die neben der Vollendung ausdrücklich auch den Versuch 42 Kritisch zu den gesetzgeberischen Entscheidungen zur Versuchsstrafbarkeit Kühl, FS Küper 289, 293 ff. 43 Vgl. dazu nur Baumann / Weber / Mitsch (Fn. 1) § 26, 2. 44 M. E. Mayer, 341; Vehling, Die Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch, 1991, S. 81 mit weit. Nachw. 45 SK-Rudolphi Vor § 22, 3; vgl. auch Kühl, AT, § 14, 4. 46 Baumann / Weber / Mitsch (Fn. 1), § 26, 2.

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unter Strafe stellen (§ 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB) wie etwa bei der Vorbereitung hochverräterischer Handlungen (§§ 81, 82 StGB). Entsprechendes gilt aber auch bei schlichten Tätigkeitsdelikten, bei denen Versuch und Vollendung zusammenfallen können (so etwa bei der Falschaussage gem. § 153 StGB). Die Einbeziehung der Vorstadien in die (volle oder gemilderte) Tatbestandswirkung ist gesetzestechnisch eine Folge des tatbestandsgebundenen Strafrechts. Rechtsgeschichtlich und rechtspolitisch stellt dieses auf den ersten Blick vielleicht schwerfällig anmutende Verfahren – an der aktuellen Gefährlichkeit von Hochverratsvorbereitungen und Mordversuch etwa bestehen ja keinerlei Zweifel – gleichwohl eine der stärksten und wichtigsten Garantiewirkungen dar, deren nur das rechtsstaatliche, tatbestandsgebundene Strafrecht fähig ist. Für autoritäre Regimes, die eine solche Garantiefunktion ihrer Strafrechtssysteme bewußt ausschalten, entfällt mit der Bindung an feste Tatbestände auch die Notwendigkeit, zwischen den einzelnen Stadien des Verbrechens zu unterscheiden und dessen Vorstufen durch Strafausdehnungsgründe dem Strafgesetz zu unterwerfen. Sie sind nicht gehindert, reine Gesinnungsprävention zu betreiben; sie vermögen, wie 1793 unter den Jakobinern, die Guillotine schon wegen „verdächtigen Schweigens“ eines Mißliebigen in Bewegung zu setzen. Sie sind in der Lage, den objektiven Unrechtsgehalt einer Handlung weitgehend durch „subjektive“ oder „täterschaftliche“ Elemente zu ersetzen, wie dies unter der Diktatur des Nationalsozialismus in Deutschland geschah (Heimtückegesetz 1934; VolksschädlingsVO 1939). Sie können die Garantiewirkung der Tatbestände durch Generalklauseln oder durch weitgehende Auflockerung der Tatbestände (so durch das Regulativ des „gesunden Volksempfindens“ nach § 2 StGB idF. vom 28. 6. 1935) praktisch vernichten. Und sie sind endlich in der Lage, sämtliche der Vollendung eines Tatbestandes vorgelagerten Stadien, insbesondere Vorbereitung und Versuch, der tatbestandsmäßigen Vollendung gleichzusetzen 47 , wobei die geringere oder größere Nähe des Erfolgseintritts allenfalls als unverbindliche Strafzumessungsregel berücksichtigt werden kann (so Art. 15 des Strafgesetzbuchs Sowjetrußlands 1960). 2. Weil die Fragen der Abgrenzung von Vorbereitung, Versuch und Vollendung so nur im Zusammenhang mit den einzelnen vertatbestandlichten Rechtsgutsbeeinträchtigungen geprüft werden können, kann namentlich in den Fällen, in denen sich eine Tat nach mehreren Tatbeständen beurteilen läßt, die Bedeutung der gleichen Handlung durchaus verschieden sein. So ist z. B. der Tatbestand des § 241 schon mit der Ausstoßung der Drohung vollendet, ohne daß es auf den Erfolg ankommt, während eine erfolglos gebliebene Drohung in den Fällen der §§ 240, 253 und 255 nur die Annahme eines Versuches rechtfertigt. Soll ein Betrug unter Vorlage gefälschter Urkunden begangen werden, so ist der Fälschungsakt vom Standpunkt des Betruges (§ 263) eine bloße Vor47

Vgl. zur Unbestimmtheit des „Unternehmens“ im polnischen Strafrecht vor dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums Spotowski, Beiheft zur ZStW 1987, 125, 128 f.

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bereitungshandlung, vom Standpunkt der Urkundenverbrechen (§ 267) dagegen bereits vollendete Tat. c) Erfaßt die gesetzliche Strafbarkeitserklärung neben der Vollendungsstufe auch solche Stadien, die der Vollendung vorhergehen oder ihr nachgehen, so werden dadurch – unabhängig von der jeweiligen gesetzlichen Technik zur Fixierung des Strafbarkeitsbereichs – nicht etwa gegenüber dem Vollendungsstadium selbständige Straftaten geschaffen. 1. Im Gegensatz dazu wird z. T. behauptet, „das Versuchsdelikt“ sei „als ein eigenständiger Rechtsbegriff zu erfassen“ 48 mit der Folge, das Versuchsdelikt als eine selbständige Straftat zu begreifen, die insbes. vom Vollendungsdelikt zu unterscheiden sei 49. Dies wird z. T. sprachlich damit begründet, der Vollendung gehe nicht notwendig ein Versuchsstadium zeitlich voraus 50. Im übrigen wird u. a. vorgebracht, gegen „die zeitliche Entwicklung“ des „Tatgeschehens“ spreche schon, daß das StGB kein allgemeines Vorbereitungsdelikt kenne sowie ferner, daß der untaugliche Versuch „in den Kategorien eines objektiven zeitlichen Fortschreitens nicht erfaßt werde“ 51. Ferner wird vorgebracht, „wenn“ für die „Versuchsstrafbarkeit nicht einmal eine (auch nur teilweise) Verwirklichung von Tatbestandsmerkmalen“ vorausgesetzt werde, so werde „darin die tatbestandliche Selbständigkeit des Versuchs gegenüber der Vollendung deutlich“ 52. 2. Dem kann indessen nicht gefolgt werden 53. Wie bereits oben I dargelegt wurde, widersprechen alle der Vollendung vorhergehenden Stadien der Straftat derselben Verhaltensnorm. Deshalb sind alle diese Stadien auf die jeweilige Vollendung zu beziehen, zu der sie akzessorisch sind – und deshalb gibt es keinen Tatbestand eines gegenüber der Vollendung selbständigen Versuchs, sondern nur den Tatbestand einer versuchten Straftat 54. Im übrigen gilt: Wie trotz Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen (z. B. § 234a Abs. 3 StGB) eine selbständige Vorbereitungsstraftat zu verneinen ist, so trotz Versuchsstrafbarkeit auch die Existenz einer selbständigen Versuchsstraftat. Es ist allerdings denkbar, daß der Gesetzgeber ein eigenständiges Versuchsdelikt schaffen könnte. Wenn aber in § 22 StGB „Versuch“ als „unmittelbares Ansetzen“ zur Tatbestandsverwirklichung definiert 48

Schmidhäuser, StuB, 11/3; ähnlich Lb., 15/12. Alwart, Strafwürdiges Versuchen 1982, S. 90 und GA 1986, 245; ähnlich MKHerzberg § 22, 2: Versuchsdelikt als Grunddelikt zur vollendeten Straftat. 50 Alwart (Fn. 50), S. 95. 51 Schmidhäuser, StuB, 11/3 – anders dagegen noch – Versuch als „früheres Begehungsstadium“ – Lb. 15/12. 52 Streng, ZStW Bd. 109, (1997), 567. 53 So auch die h.L., vgl. z. B. Jescheck / Weigend (Fn. 3) § 49, III vor 1; Rey-Sanfiz (Fn. 30), S. 105 ff, ferner die in Fn. 34 Genannten. 54 Insoweit a. A. Hardtung, Jura 1996, 293, 301, dem aber im übrigen hinsichtlich seiner Ablehnung einer „Vorprüfung“ beim Versuch zuzustimmen ist. 49

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wird, so liegt dem die Vorstellung vom Verbrechen als einem prozeßhaften, finalzeitlichen Geschehensablauf zugrunde, welche der Tatbestandsverwirklichung vorausgehende Stadien anerkennt und also ohne Rücksicht auf eine auch nur teilweise Verwirklichung von Tatbestandsmerkmalen für strafbar erklären kann (oben I). Darin liegt eine gesetzgeberische Entscheidung, die nicht unbeachtet bleiben darf 55 . Die Rechtsfigur des untauglichen Versuchs ist damit durchaus vereinbar: Wie jedes Handeln ein vorgesetztes Ziel mit untauglichen Mitteln anstreben und in Verfolgung dieses Zieles fortschreiten kann (totbeten, Weltmeister werden), so auch das Handeln mit dem Ziel einer Rechtsgutsbeeinträchtigung. Darüber hinaus ist zu bedenken: Auch wenn der Gesetzgeber in den sog. Unternehmenstatbeständen Versuch und Vollendung gemeinsam erfaßt und für strafbar erklärt oder Versuchsstrafbarkeit durch Strafausdehnungsgründe anordnet (z. B. beim Totschlag durch §§ 212, 23 Abs. 1 StGB, beim Diebstahl durch § 242 Abs. 1 und 2, § 23 Abs. 1 StGB), so wird doch in all diesen Fällen lediglich die Strafbarkeitszone des einheitlichen deliktischen Geschehens, anders als bei der Strafbarkeit nur des Vollendungsstadiums (z. B. § 123 StGB), markiert. Damit wird das zur normwidrigen Rechtsgutsbeeinträchtigung führende Verhalten in seinem zeitlichen Ablauf von den einzelnen Strafgesetzen als deren Gegenstand in unterschiedlichem Umfang erfaßt; die Vollendung und die ihr vorausgehenden Stadien derselben normwidrigen Rechtsgutsbeeinträchtigung (oben I) werden stets durch dasselbe Strafgesetz für strafbar erklärt 56 mit dem Ergebnis, daß die Vollendung grundsätzlich die vorangegangenen Stadien in sich enthält einschließlich der Vorbereitung, die indes ausnahmsweise trotz Vollendung der Tat, welcher sie diente, selbständig strafbar bleiben kann.

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So schon Kühl, JuS 1979, 718. Überwiegende Meinung, vgl. z. B. Schönke / Schröder / Eser Vor § 22, 1; Lackner / Kühl (Fn. 34) § 22, 1; Jescheck / Weigend (Fn. 3), § 19 III; Jakobs, AT, 2. Aufl., 25/4; Baumann / Weber / Mitsch (Fn. 1) § 26, 4; Stratenwerth / Kuhlen (Fn. 34), § 11, 15: „Versuch als Teilverwirklichung des verbotenen Verhaltens“; Otto (Fn. 3), § 18, 15; Wessels / Beulke (Fn. 34) 595; wie hier wohl auch NK-Zaczyk § 22, 2; SK-Rudolphi Vor § 22, 1 ff. 56

Straflose Vorbereitung oder strafbarer Versuch? Zur Eingrenzung von §22 StGB und Art. 13 §1 K.k. Rolf Dietrich Herzberg und Holm Putzke I. Das neue polnische Strafgesetzbuch (Kodeks karny [K.k.]) vom 6. Juni 1997, in Kraft seit dem 1. September 1998, enthält eine sehr spezielle Strafdrohung, die in Deutschland kein Pendant hat. Andrzej J. Szwarc berichtet davon in seinem lehrreichen Aufsatz über „Die HIV / AIDS-Problematik im polnischen Rechtsschrifttum und in den polnischen Rechtsregelungen“ und teilt uns den Art. 161 §1 K.k. sogleich in deutscher Übersetzung mit: „Wer in Kenntnis davon, dass er HIVinfiziert ist, eine andere Person der unmittelbaren Gefahr einer solchen Infektion aussetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft“. 1 Den Leser mag es wundern, dass der Gesetzgeber den Kreis der tauglichen Täter auf Personen begrenzt hat, die selbst schon das AIDS-Virus in sich tragen (und davon wissen). Vorsätzlich heraufbeschwören kann man die Infizierungsgefahr ja auch auf Wegen, für die es keine Rolle spielt, ob der Täter selber infiziert ist: durch Übergabe einer HIV-verseuchten Spritze an einen Junkie, durch Transfundierung oder durch Injizierung virenhaltigen Blutes. Die Zeitungen berichteten vor einiger Zeit von einem Mann in Amsterdam, der aus Rache seiner Ex-Freundin gewaltsam Blut mit dem AIDS-Virus in den Arm gespritzt hatte. Der Täter war selbst gesund und hatte sich das Blut eines Kranken verschafft. Die Strafwürdigkeit seiner lebensgefährlichen und tötungsvorsätzlichen Tat mindert das natürlich nicht im Geringsten. Aber der polnische Gefährdungstatbestand erfasst sie nicht. Wir erklären uns das mit der Neigung aller Gesetzgeber, vom typischen Fall auszugehen und nur ihn tatbestandlich-abstrakt zu beschreiben. Das hat dann Ausgrenzungen zur Folge, die vor dem Urteil des Gleichheitssatzes nicht bestehen können, aber nach dem Nullum-crimen-Satz hinzunehmen sind; zum Beispiel in §§246, 263 StGB: Es ist extrem selten, dass sich jemand einmal eine fremde unbewegliche Sache (ein Grundstück) rechtswidrig zueignet, und deshalb umgreift der Unterschlagungstatbestand („bewegliche Sache“) diesen Fall nicht; und ebenso wenig strafbar ist die durch Täuschung verübte, an sich besonders strafwürdige, weil rein schikanöse 1

In: Putzke u.a. (Hrsg.), Strafrecht zwischen System und Telos, FS für Herzberg, 2008, S. 987, 993.

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Rolf Dietrich Herzberg und Holm Putzke

Schädigung eines anderen, die also nicht einhergeht mit der fast immer gegebenen vernünftigen „Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen“. So hatte wohl auch der polnische Gesetzgeber mit dem HIV-Gefährdungstatbestand nur den alltäglichen Fall im Auge, nämlich den des riskanten (ungeschützten) Geschlechtsverkehrs, was freilich kein Hindernis ist, die gewaltsame Injizierung von Blut wenigstens dann mit Art. 161 §1 K.k. zu erfassen, wenn der Täter sein eigenes verseuchtes Blut dem Opfer einspritzt. Andrzej J. Szwarc erklärt uns, warum es „als wünschenswert anerkannt (wurde), in das polnische Strafrecht den ... Art. 161 §1 einzuführen“. Der nahe liegende Gedanke, die fraglichen Taten dem allgemeinen Gefährdungsdelikt des Art. 160 §1 K.k. zu subsumieren, scheitert an der oft jahreweiten Entferntheit der drohenden Folgen. Denn vorausgesetzt ist dort eine „unmittelbare“ Gefahr: „Wer das Leben eines Menschen unmittelbar gefährdet oder ihn der unmittelbaren Gefahr einer schweren Gesundheitsbeschädigung aussetzt ...“ Wie Szwarc den Diskussionsstand schildert, beruft man sich in Polen allerdings nicht auf den zeitlichen Aspekt, sondern auf die guten Chancen des Betroffenen. Es werde „vor allem auf die Forderung hingewiesen, dass die verursachte Gefahr ‚unmittelbar‘ sein soll“, teilt der Autor mit und lässt offen, ob er sich die nun folgende Begründung zu eigen macht: „Nicht jede riskante Verhaltensweise einer mit HIV infizierten Person verursacht die Infizierung des Partners, nicht jede Infizierung zieht die AIDS-Krankheit nach sich und nicht immer ist deren Folge der Tod der infizierten Person“. 2 Diese Erwägung scheint uns nicht tragfähig. Gute Aussichten auf einen glimpflichen Ausgang mindern den Grad, die Größe der Gefahr, machen sie aber nicht zu einer nur mittelbaren. Die Gefahr etwa, erschossen zu werden, ist auch dann „unmittelbar“, wenn der Schütze sein Opfer wegen der großen Entfernung wahrscheinlich verfehlen wird. Was den Versuch betrifft, nämlich das Opfer der gefährlichen Tat zu töten oder seine Gesundheit zu schädigen (vgl. Art. 148, 156, 157 i.V. mit Art. 13 §1 K.k.), so ist es gewiss realistisch, sich zur Erklärung der Gesetzgebersicht auf die in Polen wie in Deutschland herrschende Vorsatzlehre zu berufen: „Die Konstruktion des Versuchs“, sagt Szwarc, „erfordert ..., dass der Täter, der eine andere Person der Gefahr einer HIV-Infizierung aussetzt, zumindest Eventualvorsatz hat, auf diese Weise die ... Folgen der Infizierung hervorrufen zu wollen“. Das Normale sei aber umgekehrt die Hoffnung, „die Folgen ... in Form einer HIV-Infizierung, der AIDS-Krankheit oder des Todes (zu) vermeiden“. Damit beruft sich der Jubilar auf das sog. „voluntative“ Vorsatzelement, und zwar mit Recht, denn von dessen Geltung ist mit Sicherheit auch der polnische Gesetzgeber ausgegangen, als er den Gefährdungstatbestand des Art. 161 §1 K.k. zu schaffen für notwendig hielt. Uns scheint dieses Vorsatzverständnis unrichtig. Wer bei seinem Tun die für das Vorsatzdelikt an sich genügende Gefahr der Tatbestandserfüllung nach Art und 2

In: FS für Herzberg (ob. Fn. 1), S. 993.

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Größe erkennt, kann sich der Vorsatzhaftung nicht durch ein Nichtwollen des Erfolgs, ein Nichtbilligen, ein gutes Hoffen – oder wie immer man das voluntative Moment zu fassen sucht – entziehen. Aber dem wollen wir hier nicht nachgehen. Blicken wir stattdessen auf den Fall, den Szwarc, wenn auch nur indirekt, anerkennt als Tötungsversuch, d.h. auf den ungeschützten Geschlechtsakt eines Infizierten, der den späteren Tod der oder des ahnungslosen anderen als Folge der Übertragung von AIDS-Viren beabsichtigt oder gleichgültig hinnimmt. Wird dieser Täter wirklich wegen eines Tötungsversuches strafbar, nach Art. 148 i.V. mit Art. 13 §1 K.k. bzw. §§211, 212, 22 StGB? II. Die polnische Regelung wirft hier ein überraschendes Problem auf. In der uns vorliegenden Übersetzung lautet Art. 13 §1 K.k.: „Wegen Versuchs ist strafbar, wer mit dem Vorsatz der Begehung einer rechtswidrigen Tat sein Verhalten unmittelbar auf deren Vollendung richtet, diese jedoch unterbleibt“. 3 Die Vorschrift bindet also, im Gegensatz zu §22 StGB, die Strafbarkeit wegen Versuchs an die negative Voraussetzung, dass die Vollendung „unterbleibt“. 4 Zweifellos ist sie erfüllt, wenn sich nach dem gefährlichen Akt zeigt, dass die Viren den Partner zu seinem Glück nicht infiziert haben. Dann wird die tötungsvorsätzliche Tat den Tod nicht bewirken, die Vollendung des Tötungsdelikts „unterbleibt“. Nun benötigen wir aber die Versuchsstrafbarkeit auch und sogar besonders dringlich dann, wenn der Tötungsvorsatz des Täters den Erfolg der Infizierung nicht verfehlt, sondern herbeiführt und damit den Grundstein für den möglichen, ja wahrscheinlichen künftigen Aids-Tod legt. Und gerade dann wird verwirrenderweise die Subsumtion unter die Versuchsbeschreibung problematisch. Die Vollendung wird zwar vorläufig und vermutlich noch jahrelang auf sich warten lassen, aber kann man deshalb sagen, dass sie „unterbleibt“? 5 Wenn etwa ein Gewitter in der Luft liegt, dann würden wir uns wohl kaum so ausdrücken, dass das Gewitter, weil es gegenwärtig noch nicht stattfindet, „unterbleibt“. Diesem Wort haftet, genau wie dem polnischen „nie naste˛puje“, der Sinn des endgültigen Ausbleibens an. 3 Das ist kein korrektes Deutsch. Man sollte wie folgt übersetzen: „Unterbleibt die Vollendung einer rechtswidrigen Tat, so ist wegen Versuchs strafbar, wer mit dem Vorsatz der Tatbegehung sein Verhalten unmittelbar auf die Vollendung gerichtet hat.“ 4 Dahin wäre es auch in Deutschland gekommen, wenn sich der Gesetzgeber nach §26 Abs. 1 des Entwurfs von 1962 gerichtet hätte. Es hieß dort: „Eine Straftat versucht, wer den Vorsatz, die Tat zu vollenden, durch eine Handlung betätigt, die den Anfang der Ausführung bildet oder nach seiner Vorstellung von den Tatumständen bilden würde, jedoch nicht zur Vollendung führt.“ 5 Nach sprachkundiger Belehrung dürfen wir davon ausgehen, dass die Formulierung des polnischen Originals genau die gleiche Zweifelsfrage aufwirft.

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Aber selbst wenn man hier im Sprachverständnis „fünf gerade sein“ ließe, wäre das Grundproblem nicht beseitigt. Wir bedürfen der Versuchsstrafbarkeit als Auffangdrohung, wie bei ungewisser Zukunft, so auch im Fall der ungewissen Vergangenheit, d.h. dann, wenn die Vollendung möglicherweise eingetreten, vielleicht aber auch (endgültig) unterblieben ist. Es kann z.B. nicht geklärt werden, ob As tötungsvorsätzlicher Schuss auf den regungslos am Boden liegenden B einen noch Lebenden getötet hat oder in den Kopf einer Leiche gedrungen ist. Hier darf As Vorsatz, B zu töten, nicht als vollendetes Tötungsverbrechen bestraft werden (in dubio pro reo). Bindet man sich nun streng an die Voraussetzungen des Art. 13 §1 K.k., dann verbietet sich auch die Bestrafung wegen eines Tötungsversuchs. Denn das Merkmal des Unterbleibens der Vollendung ist, weil A die Tat vielleicht vollendet hat, die Vollendung also vielleicht nicht unterblieben ist, als unerfüllt anzusehen. Natürlich hat der polnische Gesetzgeber das nicht gewollt. Ihm ging es nur um die Klarstellung der Subsidiarität des Art. 13 §1 K.k., der dann beiseitebleiben soll, wenn die Tat als vollendetes Vorsatzdelikt bestraft werden kann. Solche Nachrangklarstellungen im Gewande negativer Tatbestandsmerkmale finden wir auch im deutschen Strafrecht. Wohl das bekannteste Beispiel ist die Voraussetzung „ohne Mörder zu sein“ in §212 StGB. Von gleicher Art ist das Merkmal „uneidlich“ in §153 StGB und der Relativsatz „die nicht Betäubungsmittel sind“ in §29 Abs. 6 BtMG. Steht fest, dass der Angeklagte einen Menschen vorsätzlich getötet oder vor Gericht falsch ausgesagt oder Stoffe als Betäubungsmittel veräußert hat, und ist zugleich möglich, aber nicht mit Sicherheit zu klären, dass er es sogar als Mörder bzw. sogar unter Eid getan bzw. nicht nur Imitate, sondern sogar wirkliche Betäubungsmittel veräußert hat, dann gerät man bei streng wörtlichem Verständnis zwischen die Stühle. Denn ausscheiden würden sowohl die §§211, 154 StGB, 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BtMG, wie die §§212, 153 StGB, 29 Abs. 6 BtMG: Deren Voraussetzungen „ohne Mörder zu sein“, „uneidlich“, „nicht Betäubungsmittel“ sind ja möglicherweise nicht gegeben. Den Gesetzgeberwillen zu erfüllen, hilft da nur eine dreiste Radikallösung. Man muss den negativen Voraussetzungen den Rang von Tatbestandsmerkmalen einfach absprechen und so tun, als wären sie gar nicht da. Art. 13 §1 K.k. endet dann mit dem Wort „dokonania“ und §29 Abs. 6 des deutschen BtMG wäre wie folgt zu lesen: „Die Vorschriften ... sind ... auch anzuwenden, wenn sich die Handlung auf Stoffe oder Zubereitungen bezieht, die als Betäubungsmittel ausgegeben werden“. Als solche gibt der Verkäufer nicht nur Imitate aus, sondern ebenso echte Betäubungsmittel. 6

6 Im selben Sinne als „Auffangtatbestand“ versteht auch Hellebrand die Vorschrift; vgl. seinen Beitrag über den „Umgang mit Imitaten nach §29 Abs. 6 BtMG“ in: FS für Herzberg (ob. Fn. 1), S. 777, 792.

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III. Aber kehren wir zurück zu jenem Fall, für den der Jubilar den Standpunkt vertritt, dass der Täter mit seiner Tat einen Tötungsversuch begeht. Ein krasses Beispiel bietet uns jener Mann aus Amsterdam, nennen wir ihn A, der seiner Ex-Freundin gewaltsam verseuchtes Blut injiziert hat mit den Worten: „Du hast nur noch ein paar Jahre zu leben. Dieses Blut ist von einem AIDS-Patienten“. Dass das eine Körperverletzung und mindestens nach §223 Abs. 1 StGB strafbar ist, versteht sich von selbst. Uns interessiert aber, ob unter dem Gesichtspunkt des Tötungsdelikts nur eine „straflose Vorbereitung“ oder schon ein „strafbarer Versuch“ oder etwas Mittleres dazwischen anzunehmen ist. Die Zweifel am Vorliegen eines strafbaren Mordversuchs ergeben sich natürlich allein daraus, dass der Tod, den A verursachen wollte, objektiv und nach seiner Vorstellung in ferner Zukunft lag. Dieser Umstand lässt uns vielleicht schon zweifeln, dass A überhaupt die „Vorstellung“ der „Verwirklichung des Tatbestandes“, d.h. den Vorsatz gehabt habe. Schünemann ist es, der mit der Begründung, es fehle am Vorsatz, den Mordversuch des A verneinen müsste. Denn er fordert allgemein „die Herausnahme von Spätfolgeschäden aus dem strafrechtlichen Zurechnungszusammenhang“ und verneint im Besonderen „die Anwendbarkeit der Tötungstatbestände auf die HIV-Infizierung [...] schon auf der Ebene des objektiven Tatbestandes [...], so dass allein eine strafrechtliche Haftung aus den Körperverletzungstatbeständen übrig bleibt“. 7 Der Autor findet das auch alltagssprachlich und gerade in seiner Konsequenz für die Versuchsfrage einleuchtend: „Wer von seinem Sexualpartner mit HIV infiziert worden ist, würde mit der in einem umgangssprachlichen Diskurs aufgestellten Behauptung, sein Partner habe ihn zu töten versucht [...], nur Kopfschütteln hervorrufen“. 8 Schünemanns Lehre ist hoch bedenkenswert, und ganz zu Unrecht ist ihr die Beachtung weithin versagt geblieben. Was uns betrifft, so greifen wir vor und bestätigen das Kopfschütteln, soll heißen die Verneinung eines Tötungsversuchs, der mit der Infizierung schon komplett und strafbar vorläge; nicht dagegen auch Schünemanns Begründung, dass dem A ggf. der späte Erfolg objektiv nicht zuzurechnen und bei seinem Eintritt auch das vollendete Verbrechen zu verneinen wäre. Aber dies bleibt hier unausgeführt, weil Probleme der Erfolgszurechnung außerhalb des Themas liegen. 9 Zugrunde legen wir die fast einhellige Annahme, dass sich A mit seiner brutalen Tat, wenn sie die Ursache gesetzt hat für den späteren Tod, auf die Vollendung einer vorsätzlichen Tötung zubewegt. 7 Die Rechtsprobleme der AIDS-Eindämmung, in: Schünemann / Pfeiffer, Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 483. 8 JR 1989, 89ff., 92. 9 Eine eingehende Kritik und Würdigung der Schünemann’schen Spätfolgenlehre findet sich bei Herzberg, Die strafrechtliche Haftung für die Infizierung oder Gefährdung durch HIV, in: Szwarc (Hrsg.), AIDS und Strafrecht, 1996, S. 63ff.

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Die Zweifel, dass er sofort schon wegen eines Tötungsversuchs strafbar sei, betreffen in §22 StGB dessen zweite Voraussetzung, d.h. die Frage des unmittelbaren Ansetzens zur Verwirklichung des Tatbestandes. Sie begegnet uns in der Übersetzung des Art. 13 §1 K.k. wohl inhaltsgleich als die Frage, ob A, indem er das Blut injiziert, hinsichtlich der „verbotenen Tat sein Verhalten unmittelbar auf deren Vollendung richtet“. 10 IV. Damit ist eine Frage aufgeworfen, die sich nicht auf den konkreten Fall beschränken lässt. Weil es auch für das unmittelbare Ansetzen auf des Täters „Vorstellung von der Tat“, also auf die Tätersicht ankommt, kann man die Frage so stellen: Wie dicht muss sich der Täter vor der Verwirklichung des Tatbestandes (= Deliktsvollendung) sehen, dass man sagen kann, er habe zu dieser Verwirklichung unmittelbar angesetzt (bzw. er habe sein Verhalten unmittelbar auf die Vollendung gerichtet)? Wir überblicken nur das deutsche Schrifttum und finden darin ein recht klares Kriterium, nach welchem man sich auch fast überall richtet. Doch stoßen wir auf einige wenige Tatbestände und auf besondere Konstellationen, wo viele es nicht tun. Diese Ausnahmen geraten nun in den Kommentierungen und Lehrdarstellungen so sehr in den Vordergrund, dass das abstrakte Kriterium, obwohl doch eigentlich akzeptiert oder jedenfalls unbestritten, allen Kredit verliert. „Insgesamt scheint es, als lasse sich die Grenze zwischen Vorbereitung und Versuch trotz aller bisher entwickelten Formeln niemals wirklich exakt bestimmen, sondern immer nur annäherungsweise umschreiben“, meinen Stratenwerth / Kuhlen 11, und bei Jakobs lesen wir, es lasse sich „wegen der unabschließbaren Vielfalt der möglichen sozialen Zusammenhänge ... keine Versuchsformel geben“; man müsse sich in „einem beweglichen System“ begnügen mit einem „Katalog von Topoi“ 12. Roxin schließlich findet es „angesichts der unerschöpflichen Zahl von Tatbeständen und Sachverhalten unmöglich, der Fülle der Erscheinungen mit Hilfe eines einzigen fixierten Merkmals gerecht zu werden“. 13 10 Siehe im polnischen Schrifttum dazu Gardocki, Prawo karne, 13. Aufl., Warszawa 2007, Rn. 183ff.; Giezek, in: Bojarski u.a. (Hrsg.), Prawo karne materialne, Cze˛´sc´ ogólna i szczególna, 3. Aufl., Warszawa 2007, S. 200ff.; Marek, Prawo karne, 8. Aufl., Warszawa 2007, Rn. 271; Mozgawa, in: Budyn-Kulik u.a. (Hrsg.), Prawo karne materialne, Cze˛´sc´ ogólna, Kraków 2006, S. 288f.; A. Zoll / Buchała, Polskie prawo karne, Warszawa 1997, S. 284ff. Zur Rechtsprechung sei z.B. hingewiesen auf: Postanowienie SN z dnia 23 maja 2007r., sygn. V KK 265/06, OSNKW 2007/7 –8 poz. 58; Postanowienie SN z dnia 1 kwietnia 2004r (IV KK 309/04), OSNKW 2005/9 poz. 79. Wir bedanken uns bei Frau Dr. Agnieszka Barczak-Oplustil, die uns die genannte polnische Literatur und Rechtsprechung hat finden und verstehen helfen. 11 Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl., 2004, §11 Rn. 42. 12 Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl., 1991, 25/63.

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Einwenden darf man zunächst, dass es diese „Versuchsformel“, dieses „einzige fixierte Merkmal“ ja durchaus gibt, und zwar fixiert mit Gesetzesautorität. Denn wie immer der „Tatbestand“, der „Sachverhalt“, die „Erscheinung“ aussieht, der Täter überschreitet die Vorbereitung und begeht den Versuch stets dann und nur dann, wenn er nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt. Das ist die Formel, das ist das einzige Merkmal, das steht im Gesetz. Und das schon erwähnte unbestrittene Kriterium ist ersichtlich nichts anderes als die verdeutlichende Umschreibung. Denn die übliche abstrakte Aussage, der niemand widerspricht, lautet, dass den Versuch begehe, wer nach seiner Vorstellung von der Tat die unmittelbare Gefahr der Verwirklichung des Tatbestandes schafft. 14 Danach kommt es zum kompletten (strafbaren) Versuch erst, wenn nach der Tätersicht die Tatbestandsverwirklichung unmittelbar bevorsteht. Denn vorher hat der Täter nicht die Vorstellung, die qualifizierte Gefahr schon geschaffen zu haben, er erwartet sie nur für die Zukunft. Wie die abstrakte Grenzziehung richtigerweise zu verstehen ist und wie man sie zu konkretisieren hat, wird deutlich, wenn man sich ein paar beliebige Fälle vor Augen führt und sie unvoreingenommen beurteilt. Jemand will seinen Feind erschießen (§211 StGB), seine Frau verprügeln (§223 StGB), eine Urkunde fälschen (§267 StGB), durch Steinwurf eine Fensterscheibe zertrümmern (§303), im Supermarkt Schnaps stehlen (§242 StGB), an einem Kind sexuelle Handlungen vornehmen (§176 StGB). Dann bereitet er die Straftat zunächst nur vor – bis er die Waffe anlegt, auf seine Frau losgeht, den Schreibstift zum Papier führt, mit dem Stein zum Wurf ausholt, den Arm nach der Flasche im Warenregal ausstreckt, dem Kind zu Leibe rückt zur Herstellung des sexuellen körperlichen Kontakts. Denn jetzt erst, also wenn der Täter sich nur noch ganz kurze Zeit von der für möglich gehaltenen Vollendung entfernt sieht, tritt (nach seiner Sicht) die unmittelbare Gefahr ein. Die Gefahr der Tatbestandsverwirklichung war natürlich schon lange vorher gegeben, allein wegen des Vorhabens und der aussichtsreichen Vorbereitung. Wenn z.B. der Täter mit seiner Diebstahlsabsicht den Supermarkt betritt und in Richtung der Spirituosen geht, dann ist die Gefahr, dass der Diebstahl gelingt, u.U. sehr groß, viel größer vielleicht, als wenn er sich zum Schnapsstehlen in den Keller eines Privathauses einschleicht. Aber alle sind einig, dass er mit dieser großen Vollendungsgefahr im Supermarkt noch nicht „die unmittelbare Gefahr geschaffen“ hat, wie es die Formel verlangt, und noch nicht „unmittelbar angesetzt“ hat, wie es §22 StGB voraussetzt.

13

In: FS für Herzberg (ob. Fn. 1), S. 341, 351. Vgl. etwa BGHSt 30, 363, 364; Berz, Jura 1984, 511, 513; Eser, in: Schönke / Schröder, 27. Aufl., 2006, §22 Rn. 42; Fischer, StGB, 55. Aufl., 2008, §22 Rn. 10; Gropp, in: Dölling / Erb (Hrsg.), FS für Gössel, 2002, S. 175, 184; Hillenkamp, MDR 1977, 242, 243; Tiedemann, JR 1973, 412; Otto, Grundkurs Strafrecht, 7. Aufl., 2004, §18 Rn. 22. 14

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V. Man liest manchmal, dass es bei Teilverwirklichung des Tatbestandes auf Nähe und Unmittelbarkeit nicht ankomme, dass also in solchen Fällen der Versuch allemal vorliege, auch wenn der Täter sich von der Vollendung noch weit entfernt sieht. „Das Problem der Abgrenzung“, meint etwa Vogler, „stellt sich nicht mehr, wenn der Täter schon ein Tatbestandsmerkmal (oder mehrere) verwirklicht hat. Bei der Teilverwirklichung des objektiven Tatbestandes ist die Versuchsschwelle überschritten“. 15 Bei den im Tatbestand zentralen Handlungsmerkmalen soll es sogar schon genügen, dass der Täter mit dem Handeln begonnen hat. „Versuch ist immer dann anzunehmen“, heißt es bei Jescheck / Weigend, „wenn der Täter bereits mit der tatbestandsmäßigen Ausführungshandlung selbst oder bei mehraktigen Delikten mit der ersten tatbestandsmäßigen Handlung begonnen hat, denn in diesen Fällen ist er über das bloße Ansetzen schon hinausgelangt“. 16 Diese Hypothesen klingen zunächst plausibel, aber sie halten nicht stand, wenn man sie, woran ihre Verfechter es fehlen lassen, anhand konkreter Beispiele zu falsifizieren sucht. Dass der Täter, der einen „Diebstahl mit Waffen“ (§244 Abs. 1 Nr. 1a StGB) beabsichtigt, die ganze Zeit über „eine Waffe ... bei sich führt“, lässt entgegen Vogler „das Problem der Abgrenzung“ keineswegs entfallen. Auf dem Weg zur erstrebten Beute, etwa zum Schnaps im Supermarkt, überschreitet der Täter „die Schwelle zum Versuch“ nicht eine Sekunde früher, als wenn er ohne Waffe hätte stehlen wollen. Sähe man es anders, so müsste man folgerichtig dem Tatentschlossenen den strafbaren Versuch schon anlasten, wenn er daheim die Waffe einsteckt und auf dem Weg zur Haustür die ersten Schritte tut. Was die „tatbestandsmäßige Ausführungshandlung“ angeht, so würde die Jescheck / Weigend’sche Festsetzung in den Fällen, wo es darauf ankommt, das Sachproblem ungelöst beiseiteschieben. Etwa beim Giftmord durch Zubereiten und Hinstellen des Gifttrankes, den das Opfer ahnungslos ergreifen und trinken soll. Hier ist das Schaffen der Todesfalle das einzige aktive Tun des Täters, mithin die „Ausführungshandlung“. Wenn aber nun der Anschlag dem abwesenden Ehemann gilt und die Frau die Flasche mit dem vergifteten Whisky bis zuletzt im Auge behält? Zu Recht sagt Roxin, „dass eine vordringende Meinung beim beendeten Versuch nur eine Vorbereitung annimmt, solange der Täter das Geschehen noch unter Kontrolle hat und das Opfer den Wirkungsbereich des Tatmittels 15 Vogler, in: Küper / Welp (Hrsg.), FS für Stree / Wessels, 1993, S. 297f.; übereinstimmend Fischer, StGB (ob. Fn. 14), §22 Rn. 9; Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl., 2007, §8 Rn. 52; Kühl, Strafrecht AT, 5. Aufl., 2005, §15 Rn. 55; aus der Rspr. vgl. nur OLG Bamberg, NStZ 1982, 247: „Hat der Täter ein Merkmal des Tatbestandes verwirklicht, liegt immer eine Versuchstat vor, ohne dass es auf die besondere Problematik des §22 ankommt.“ 16 Strafrecht AT, 5. Aufl., 1996, 49 IV 4; ebenso Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 311; ähnlich und noch weitergehend Entwurf eines Strafgesetzbuches, E1962, mit Begründung, Bonn 1962, S. 144.

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nicht erreicht hat [...] Wer für einen früheren Versuchsbeginn plädiert, kann sich jedenfalls einer selbständigen Begründung dafür nicht durch den bloßen Hinweis auf die Teilverwirklichungsregel entziehen“. 17 „Ausführungshandlung“ beim unechten Unterlassungsdelikt ist das Unterlassen der Erfolgsabwendung. Soll nun die Mutter, die ihrem Kleinkind nichts mehr zu trinken geben und es dadurch zu Tode bringen will, schon wegen Mordversuchs strafbar sein, sobald sie mit ihrem Unterlassen „begonnen“, d.h. die erste gebotene Versorgung versäumt hat? Dies wird zwar vertreten, 18 fände aber in der Teilverwirklichungslehre eine rein doktrinäre Begründung und würde in der Sache nicht einleuchten. Das tut vielmehr die herrschende Lösung, wonach der Mordversuch erst vorliegt, wenn die Mutter ihr Kind in unmittelbarer Todesgefahr sieht und weiter untätig bleibt. 19 Bei §§154, 252 StGB sind tatbestandliche Ausführungshandlungen selbstverständlich auch die Primärakte der Falschaussage und der diebischen Wegnahme. Es ist aber ganz unstreitig, dass wegen der Verbrechensversuche noch nicht strafbar ist, wer, zur Begehung entschlossen, schon aussagt oder wegnimmt, aber zur Eidesleistung oder Gewaltanwendung noch nicht angesetzt hat. 20 VI. Immer wieder, in ganz verschiedenartigen Fällen und selbst bei voller Ausführung der oder einer tatbestandlichen Handlung sehen wir uns also vom Wortlaut des §22 StGB, von der ihn verdeutlichenden anerkannten Formel und vom Rechtsgefühl gedrängt, mit der Annahme des Versuchs zu warten, bis der Täter sich bei seinem vorsätzlichen Handeln nur noch einen Augenblick weit entfernt sieht von der „Verwirklichung des Tatbestandes“. Dieser Befund hat den Autoren des vorliegenden Beitrags die Vermutung kommen lassen, man müsse das, was die Worte „ansetzt“ und „unmittelbar“ in §22 StGB als allgemein gültig andeuten, tatsächlich allgemein gelten lassen, weil sonst Wertungswidersprüche unvermeidlich seien. 17 Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 2: Besondere Erscheinungsformen der Straftat, 2003, §29 Rn. 119. 18 So etwa Baumann / Weber, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Aufl., 1985, §33 I 3; Maihofer, GA 1958, 289, 297; Schröder, JuS 1962, 81, 86; in diesem Sinne – anders als heute – auch Herzberg, MDR 1973, 89ff. 19 Vgl. Roxin, AT 2 (ob. Fn. 17), §29 Rn. 279 m.w.N. (Fn. 287). 20 Vgl. BGHSt 1, 241, 243f.; 4, 172, 176; 31, 178, 182; Fischer, StGB (Fn. 14), §154 Rn. 11 bzw. §252 Rn. 10; M. Heinrich, in: Dölling u.a. (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht, 2008, §154 Rn. 12; Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 9. Aufl., 2008, §49 Rn. 24; Wessels / Hettinger, Strafrecht Besonderer Teil/1, 31. Aufl., 2007, Rn. 758; Zaczyk, in: Kindhäuser u.a. (Hrsg.), NK-StGB, 2. Aufl., 2005, §22 Rn. 52; siehe auch Herzberg, in: Joecks / Miebach (Hrsg.), MüKo-StGB, 2003, §22 Rn. 162.

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Ein deutliches Beispiel für einen solchen Wertungswiderspruch, der uns ein Anstoß war, bietet die traditionell frühe Bejahung des Versuchs, wenn der Täter ein Kind sexuell missbrauchen will (§176 Abs. 1 StGB). Man denke sich zunächst einen Ehemann, der seiner von ihm getrennt lebenden Frau die Absicht versöhnlicher Aussprache vortäuscht und sie zu einem Spaziergang abholt, in Wahrheit aber vorhat, sie im Wald zu verprügeln. Oder jemanden, der nach einem Diskobesuch eine Achtzehnjährige freundlich „auf eine Tasse Kaffee“ zu sich nach Hause lädt in der Absicht, sie dort mit Gewalt zur Duldung sexueller Handlungen zu nötigen. Die Grenze ziehend zwischen der Vorbereitung und dem Versuch der Straftaten (§§223, 177 Abs. 1 StGB), würden sich hier alle streng nach §22 StGB richten, d.h. verlangen, dass der Täter durch ein körperliches Ausholen oder Zugreifen wirklich „unmittelbar ansetzt“, das Opfer zu misshandeln oder ihm die sexuellen Handlungen anzutun. Zum Versuch kommt es also keinesfalls vor Erreichung des Ortes, wo der Täter das Delikt begehen will. Aber nun stelle man sich einen Täter vor, der mit der Absicht sexuellen Missbrauchs ein Kind verlockt, mit ihm in den Wald oder in seine Wohnung zu gehen! Die Ausrichtung an §22 StGB wird hier zum Lippenbekenntnis, und allbekannte Formeln und Wendungen, die sonst viel restriktivere Lösungen begleiten, sollen auch hier passen. So zitiert der BGH zunächst die Vorschrift, um dann zu schreiben: „Das Versuchsstadium wird hiernach erst erreicht, wenn der Täter Handlungen vornimmt, die nach seiner Vorstellung der Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals unmittelbar vorgelagert sind, bzw. im Falle eines ungestörten Fortganges ohne Zwischenakte in die tatbestandliche Ausführungshandlung unmittelbar einmünden [...]. Tatbestandliche Ausführungshandlungen im Sinne von §176 Abs. 1 StGB sind sexuelle körperliche Kontakte zwischen dem Täter und dem Kind. Zur Vornahme solcher Handlungen kann ein Täter schon dann unmittelbar ansetzen, wenn er – fest zur Tat entschlossen – das Kind an einen zur Vornahme von sexuellen Handlungen besonders geeigneten Ort führt, wo er nach seiner Vorstellung ohne weitere Zwischenakte sogleich den sexuellen körperlichen Kontakt aufnehmen will, [...] weil er plant, etwaigen Widerstand ohne weiteres zu brechen“. 21 Im Schrifttum herrscht Bestätigung. 22 „Dem ist zuzustimmen“, sagt Roxin. „Denn mit dem Wegführen verliert das Kind, den ‚Schutz seiner vertrauten Umgebung, und jeder weitere Schritt führt direkt in den Erfolg hinein‘. In dieser ‚Schutzminderung‘ [...] liegt eine Einwirkung auf die Opfersphäre, und der enge zeitliche Zusammenhang wird durch den zügigen Fortgang zur Tatvollendung hergestellt“. 23 Der gleiche Spaziergang zum Tatort, die gleichen noch zu leistenden Zwischenakte (etwa das 21

BGHSt 35, 6, 9. Vgl. die Nachw. bei Renzikowski, MüKo-StGB, 2005, §176 Rn. 59. 23 AT 2 (ob. Fn. 17), §29 Rn. 167. Das Binnenzitat bezieht sich auf Roxin, JuS 1979, 8. – Roxins Urteil beruht auf seiner „konkretisierten Teilaktstheorie“, wonach „der letzte Teilaktsabschnitt durch die beiden Hilfsbegriffe des ‚engen zeitlichen Zusammenhanges‘ und der ‚Einwirkung auf die Opfer- bzw. Tatbestandssphäre‘ zu bestimmen“ sei (AT 2, §29 Rn. 139). 22

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Aufschließen der Wohnung), derselbe Zeitabstand zur Verwirklichung des Tatbestandes – aber im letzten Fall soll das Gehen schon „unmittelbares Ansetzen“ und strafbarer Versuch sein, während es in den beiden anderen Fällen als straflose Vorbereitung bewertet würde! Der Gedanke, das kindliche Opfer sei besonders hilflos und dem Tatentschlossenen in besonders gefährlicher Weise ausgeliefert, der bei Roxin anklingt, überzeugt nicht. Denn erstens kommt es ganz auf die Umstände des konkreten Falles an; ein volljähriges Opfer wie die Ehefrau und die Diskobekannte kann viel stärker als ein kindliches gefährdet sein, etwa wegen extremer Einsamkeit, nächtlicher Dunkelheit, oder weil eine Nähebeziehung ein vollkommenes Vertrauen begründet, welches Kinder dem unbekannten „Unhold“ meistens nicht entgegenbringen. Und zweitens käme niemand auf die Idee einer Grenzvorverlegung, wenn die Misshandlung einem ganz und gar hilflosen Tatobjekt nichtmenschlicher Art droht: Eine Frau entwendet ihrem Verlobten heimlich seine Pornohefte und schafft sie in ihr Auto, um sie zu Hause zu verbrennen. Die Pornohefte sind der sie schützenden Obhut des Eigentümers entzogen, auf der Fahrt in äußerster Gefahr, alsbald verbrannt zu werden, und haben, anders als Kinder, nicht die geringste Chance, sich der Tatbestandsverwirklichung zu entziehen. Und dennoch begeht die Frau den Sachzerstörungsversuch erst vor dem Kaminfeuer, wenn sie sich ans Hineinwerfen macht. Diskussion und Fallbetrachtung haben uns die Vermutung bestätigt, dass zur Vermeidung solcher Wertungswidersprüche Konsequenz nottut, und die im Münchener Kommentar publizierte Konzeption hervorgebracht. Zusammengefasst lautet sie, dass der Wortlaut des Gesetzes den rechten Weg weise. „Die abstrakt anerkannte Kennzeichnung beachtet dies auch, denn ankommen soll es ja auf das Schaffen der unmittelbaren Gefahr der Tatbestandsverwirklichung, gemessen an der Vorstellung des Täters. Aber diese Definition des Versuches darf nicht formelhaft-unverbindlich auf dem Papier stehen, sondern muss als Kriterium mit Allgemeingültigkeit über das Vorliegen eines deliktischen Versuches entscheiden. Ob es um Diebstahl geht oder Erpressung, um Mord, Kindesentziehung, Urkundenfälschung oder sexuellen Missbrauch, ob der Täter bis in die Vollendung hinein selbst handeln oder andere Kräfte auslösen will, die für ihn die Vollendung bewirken sollen, oder ob er nur die Abwendung des Erfolges unterlassen will, in allen Fällen muss es auf die unmittelbare Gefahr ankommen; genauer darauf, ob nach der Vorstellung des Täters die Verwirklichung des Tatbestandes, sei es auch nur möglicherweise, unmittelbar bevorsteht.“ 24 VII. In seinem Aufsatz „Zum unbeendeten Versuch des Einzeltäters“ hat nun Roxin diese Lehre kritisch gewürdigt. 25 Er gibt zu, dass sie „dem Rechtsanwender 24

MüKo-StGB (ob. Fn. 20), §22 Rn. 173.

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ein präzises und überall einsetzbares Kriterium bietet. Denn die Sekunden vor der Vollendung lassen sich, auch wenn man sie nach der Vorstellung des Täters bestimmt, bei allen Tatbeständen und allen Erscheinungsformen des Versuchs ziemlich genau festlegen“ (S. 343). Roxin sieht auch einige Ähnlichkeit der „Unmittelbarkeitstheorie“ mit seiner Beurteilung, dass der Gesetzgeber „den Versuch hart an die Grenze der Tatbestandshandlung herangerückt“ habe. 26 Und beim geläufigsten Schulfall entspreche „Herzbergs These der allgemein anerkannten Lösung ..., dass ein Versuch gegeben ist, sobald der Mörder die Pistole, die er einige Sekunden später abdrücken will, auf das Opfer in Anschlag bringt“. Aber dennoch, der Autor hält „die Lösung Herzbergs trotz ihrer bestechenden Einfachheit und Klarheit und trotz seiner rechtsstaatlichen Intention nicht für durchführbar“ (S. 343). Sein erster Einwand stützt sich auf den „Wortlaut des Gesetzes“, welches eben nur „ein Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes“ verlange, „nicht aber, dass die Vollendung schon sekundennah bevorsteht“. Darum habe er selbst den Versuchsbeginn auch nicht etwa „in allen Fällen hart an den Vollendungszeitpunkt herangerückt gesehen“, sondern „hart an die Grenze der Tatbestandshandlung“ (S. 343). In der Tat, hier liegt ein Zweifelspunkt. Das Wort „Verwirklichung“ hat als Verbalsubstantiv, wie etwa auch „Wurf“, „Schreiben“, „Ernennung“ usw. eine schwankende Bedeutung. Man kann mit einem solchen Substantiv sowohl ein Geschehen, eine Tätigkeit bezeichnen („bei jedem Wurf tut mir der Arm weh“, „dieses Schreiben macht mir große Mühe“) wie auch den Abschluss, das Ergebnis eines Geschehens („mir liegt Ihr Schreiben vor“, „ein Wurf Welpen“, „wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein“). So kann auch „Verwirklichung“ hier den Sinn aktuellen Geschehens, eines „Verwirklichens“ haben und dort bedeuten, dass ein Geschehen seinen Abschluss gefunden hat und nun das Ergebnis einer neuen „Wirklichkeit“ vorliegt. Im erstgenannten Sinne ist das Ansetzen zur „Verwirklichung“ bei Straftatbeständen, insoweit hat Roxin recht, das Ansetzen zur „Tatbestandshandlung“. Wenn also etwa in den oben betrachteten Fällen eine Frau ihrem Mann seinen Whisky vergiftet, um ihn umzubringen, oder den ersten Durst ihres Kleinkindes nicht löscht, um es verdursten zu lassen, dann kann man sagen, sie habe bereits zur Verwirklichung des Mordtatbestandes unmittelbar angesetzt. Denn das erste Verbrechen würde sie als Handlungs-, das zweite als Unterlassungsdelikt begehen. Darum ist die „Tatbestandshandlung“, das „Verwirklichen“ des Tatbestandes, bei der Ehefrau in ihrem einzigen aktiven Tun zu sehen, dem Zubereiten und Hinstel25 In: FS für Herzberg (ob. Fn. 1), S. 341ff.; auf Stellen dieses Beitrags wird im Folgenden mit eingeklammerten Seitenzahlen verwiesen. 26 In: Roxin / Stree / Zipf / Jung, Einführung in das neue Strafrecht, 2. Aufl., 1975, S. 15f.; Roxin, AT 2 (ob. Fn. 17), §29 Rn. 102.

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len des Gifttranks, 27 und bei der Mutter in ihrem kontinuierlichen Unterlassen, das Wohlbefinden des Kindes zu erhalten. Zum einen wie zum anderen hat die Täterin jeweils „unmittelbar angesetzt“, lange bevor eine unmittelbare Todesgefahr drohte. Die früher sehr verbreitete Lehre, die auf das tatbestandliche Verhalten und dessen Beginn abstellte, also den Mordversuch in solchen Fällen ganz früh schon bejahte, vielleicht Wochen bevor der Mann überhaupt von seiner Reise heimkehrte und dem Gift nahekam, ist also mit dem Wortlaut auch der neuen Versuchsbestimmung ohne weiteres vereinbar. Nun ist aber unser Kritiker gerade hier ein Wortführer der Gegenansicht. Jedenfalls bei fortdauernder Anwesenheit der Täterin soll ihr Mordversuch, d.h. ihr unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes, keineswegs schon zu bejahen sein, sobald sie zum aktiven Schaffen der Giftfalle ansetzt bzw. zum ersten Mal die gebotene Durstlöschung unterlässt. Vielmehr sieht Roxin den Versuch erst gegeben, sobald – unter den Augen der Täterin – das Opfer, zur Flasche greifend bzw. vom Wassermangel ausgetrocknet, in akute Todesgefahr gerät. 28 Darin liegt für Musterbeispiele des großen Abstandes zwischen tatbestandlichem Verhalten und unmittelbarer Gefahr des tatbestandlichen Erfolges ein Eingeständnis: Dass es für den Versuch eben doch nicht darauf ankommt, ob der Täter sich „hart an der Grenze der Tatbestandshandlung“ sieht. Diese kann längst begonnen oder sogar abgeschlossen sein, ohne dass man schon feststellen dürfte, der Täter habe zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar angesetzt. 29 Wir halten Roxins Weichenstellung für richtig und geben auf dieser Grundlage dem Wort „Verwirklichung“ in §22 StGB den Sinn, dass nicht die Tätigkeit, sondern das Ergebnis des Verwirklichens gemeint ist: Der Täter muss es für sicher oder möglich halten, dass sich sein Delikt binnen ganz Kurzem vollendet, dass er „unmittelbar“ vor der Vollendung steht. Roxin sieht in seinem Beispiel des Vergiftens der Suppe, die der Ehemann auslöffeln soll, allein das letzte Unterlassen als das „Ansetzen“ an. Er betont zwar, dass solche Fälle aus „Begehung“ und „Unterlassung“ zusammengesetzt sind. Aber „das letzte deliktische Unterlassen und damit das Ansetzen zur Tötung beginnt ... erst, wenn der Mann zur Suppe greift“. 30 Dem stimmen wir zu – mit einer Einschränkung. Das „unmittelbare Ansetzen“ ist das Handlungsmerkmal in §22 StGB, es ist die Verwirklichung des Versuchstatbestandes. Wie das Handlungsmerkmal „tötet“ in §212 StGB sich erst erfüllt, wenn zur Tötungshandlung, etwa dem Hineinstoßen ins Wasser, der Tötungserfolg (der Tod durch Ertrinken) kommt, so kann sich auch das „unmittelbar ansetzt“ zeitlich gestreckt erfüllen. In 27 So ausdrücklich Roxin, AT 2 (ob. Fn. 17), §29 Rn. 119: Die „Beimischung des Giftes“ als „die eigentliche Tatbestandshandlung“. 28 Vgl. die Lösungen in AT 2 (ob. Fn. 17), §29 Rn. 208 und 275. 29 Vgl. noch einmal Roxin selber in AT 2 (ob. Fn. 17), §29 Rn. 119. 30 AT 2 (ob. Fn. 17), §29 Rn. 208.

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Roxins Beispiel ist das Vergiften der Suppe die Ansetzenshandlung, wohingegen der Eintritt der (vorgestellten) unmittelbaren Gefahr den Ansetzungserfolg bildet. Es ist also richtig, dass das „unmittelbare Ansetzen“ und damit der Versuchstatbestand sich erst mit dem letzten Unterlassen der Täterin erfüllen, d.h. komplett werden. Aber das Schaffen der Giftfalle ist schon ein Teil des Ansetzens. Man muss bedenken, dass die Giftmischerin ja in jedem Fall wegen eines Handlungsdelikts zu bestrafen ist, auch wenn es, weil der Mann die Suppe ausspuckt, beim Versuch bleibt. Lässt man nun mit Roxin „das Ansetzen zur Tötung“ überhaupt erst beginnen, „wenn der Mann zur Suppe greift“, dann erschöpft sich die Versuchsbegehung in einer Unterlassung und dürfte folgerichtig nur als solche bestraft werden (§13 StGB), womit aber der Mordversuch offensichtlich falsch eingestuft wäre. VIII. §22 StGB verschmilzt Ansetzenshandlung und Ansetzungserfolg in einem Begriff und leistet damit der traditionellen Sicht Vorschub, dass die straflose Vorbereitung, wo sie ende, ausnahmslos umschlage in den sofort kompletten (strafbaren) Versuch. Vor diesem Missverständnis kann uns die anerkannte allgemeine Kennzeichnung des Versuchstäters bewahren: „Wer nach seiner Vorstellung von der Tat die unmittelbare Gefahr der Tatbestandsverwirklichung schafft.“ Darin ist die Unterscheidung angedeutet zwischen der Ansetzenshandlung („schafft“), die schon Teilerfüllung des Versuchstatbestandes ist und nicht bloße „Vorbereitung“, und dem Ansetzungserfolg („unmittelbare Gefahr“). Beides fällt meistens zusammen, kann aber auch zeitlich getrennt sein. Für das Strafbarwerden ist entscheidend, ob nach der Vorstellung des Täters der Ansetzungserfolg eingetreten ist. Dann erst ist die Schwelle überschritten, auf die es ankommt. So löst sich auch das Rätsel des Versuchs bei der mittelbaren Täterschaft in DreiPersonen-Fällen (Hintermann, Tatmittler, Opfer). Nehmen wir an, V fordert seinen zwölfjährigen Sohn S ernstlich auf, am nächsten Tag um 15 Uhr die Großmutter G auf ein Stündchen in der „Seniorenresidenz“ zu besuchen, ihr heimlich 200 Euro zu entwenden und ihm das Geld zu überbringen. Wenn nun S wie beauftragt der G um 15.15 Uhr vier Fünfzig-Euro-Scheine wegnimmt, dann wird V – als mittelbarer Täter – wegen vollendeten Diebstahls strafbar. Es spielt keine Rolle, ob V nach der Aufforderung in der langen Zwischenzeit noch weiterhin an die Sache gedacht hat, ob er den Aufbruch des Sohnes wahrgenommen und den S bewusst „aus seinem Herrschaftsbereich entlassen“ hat. Genug, dass die Wegnahme im Rahmen der Vorstellung (des Vorsatzes) liegt, wie V sie beim Einreden auf S hatte. Dieses Einreden ist das aktive Tun, das die entsprechende Einstufung des Diebstahls legitimiert und das wir deshalb schon als Anfang und Teil der Diebstahlsbegehung betrachten müssen. Nun geht der Diebstahlsvollendung mit Notwendigkeit ein Diebstahlsversuch voraus. Für diesen „Durchgangsversuch“ kann es also ebenso wenig darauf an-

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kommen, ob V nach seinem Anstoß die Entwicklung im Auge behalten und den S bewusst hat ziehen lassen. Und was für den Durchgangsversuch gilt, muss genauso für den Versuch gelten, der übrig bleibt, wenn die Großmutter ihren Enkel beim Ergreifen der Geldscheine ertappt und die Vollendung verhindert. Weil es aber für den Versuch allein auf die Vorstellung des Täters ankommt, ist es schließlich auch gleichgültig, ob S überhaupt irgendwelche Anstalten macht, Geld wegzunehmen. Entscheidend ist, dass sich V bei seinem Einwirken auf S als möglich vorgestellt hat, es werde am nächsten Tag irgendwann zwischen 15 und 16 Uhr zur Wegnahme, genauer: zur unmittelbaren Gefahr der Wegnahme kommen. Ist die alte Vorstellung um 15 Uhr noch gültig, d.h. keiner neuen gewichen, dann wird V zu diesem Zeitpunkt wegen aktiv begangenen Diebstahlsversuchs strafbar. Die Beauftragung des Sohnes ist schon Anfang und Teil der Versuchsbegehung, das Erreichen des nach Vs Vorstellung frühestmöglichen Eintritts der unmittelbaren Gefahr komplettiert den Diebstahlsversuch. In diesem Licht klärt sich auch der eingangs betrachtete AIDS-Fall. So spärlich die einschlägige Judikatur ist, so kann man ihr doch entnehmen, dass die Gerichte entschieden gewillt sind, die Verurteilung wegen eines Tötungsversuchs zu vermeiden. Bei Tätern, die ihrem Opfer durch Geschlechtsverkehr oder gewaltsame Blutinjizierung das AIDS-Virus zugeführt haben, wird der Tötungsvorsatz geleugnet, selbst wenn an ihrem Willen, Infizierung und Krankheit zu bewirken, kein Zweifel besteht. Es ist dann die Rede von einer „höheren Hemmschwelle“ und die paradoxe Behauptung wird aufgestellt, der „Wille“ des Täters habe sich nur auf die tödliche Erkrankung, aber nicht auch auf ihre tödliche Auswirkung erstreckt. 31 Ersichtlich weicht man damit einer konsequenten, aber intuitiv als unrichtig empfundenen Lösung aus. Zur Konsequenz bekennt sich jedoch Roxin mit seiner „Festlegung des Versuchsbeginns auf die Entlassung des Geschehens aus dem eigenen Herrschaftsbereich ... Wer mit Tötungsabsicht einem anderen das AIDS-Virus appliziert, ist des Versuchs schuldig, auch wenn der Erfolg erst nach längerer Zeit eintritt. Insofern ist es nur konsequent, im ‚Auf-den-Weg-Bringen‘ eines Kausalverlaufs, der ohne weiteres Zutun des Täters in den Erfolg einmündet, einen Versuch zu sehen“. 32 Trotz seines Wissens, dass die in Kauf genommene Infizierung unwahrscheinlich ist und frühestens in einigen Jahren zum Tod führen würde, soll der Virus-Träger die Partnerin einer Liebesnacht zu ermorden versucht haben und sogleich strafbar sein nach §§211, 22 StGB? Diese Beurteilung könne „nur Kopfschütteln hervorrufen“, meint Roxins Schüler Schünemann und setzt ihr 31 BGHSt 36, 1, 15f. = NJW 1989, 781, 785; BGHSt 36, 262, 267 = NJW 1990, 129, 130; LG Nürnberg-Fürth NJW 1988, 2311, 2312; LG Würzburg, Urt. v. 17.1.2007 –1 Ks 901 Js 9131/05, BeckRS 2007 09947; vgl. zum Ganzen auch Schlehofer, NJW 1989, 2017ff. 32 AT 2 (ob. Fn. 17), §29 Rn. 203. Wichtig ist die Klarstellung, dass der Applikation durch den Geschlechtsakt nur ausnahmsweise die Infektion folgt, der Erfolg also meistens nicht spät, sondern gar nicht eintritt.

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die Lösung entgegen, dass eine jahreweit entfernte Auswirkung der Tat nicht mehr zuzurechnen sei, der Täter sich also gar keine „Verwirklichung des Tatbestandes“ (§§211, 212 StGB) vorstelle. 33 Wie wir die Dinge sehen, liegt die Wahrheit in der Mitte. Kommt es auf dem Infizierungswege, beabsichtigt oder in Kauf genommen, nach vielen Jahren zum Tod, dann ist ein vollendetes Tötungsdelikt gegeben, dem selbstverständlich ein Tötungsversuch vorausgegangen ist. Die Tötungshandlung ist in dem Tun zu sehen, das dem Opfer die Viren körperlich zugeführt hat. Dieses Tun ist, unter dem Versuchsaspekt betrachtet, zugleich die Ansetzenshandlung. Aber wie, um das Delikt zu vollenden, zur Tötungshandlung der Tötungserfolg kommen muss, so zur Ansetzenshandlung der Ansetzungserfolg, damit sich der Versuch vervollständigt. Der Eintritt dieses Erfolges, der „unmittelbaren Gefahr“, ist nach der Vorstellung des Täters zu bestimmen. Behält er die Entwicklung im Auge, weil er dem Opfer nahe bleibt, kommt es auf die Vorstellung an, wie sie sich mit Blick auf den tatsächlichen Kausalverlauf bildet. Das zu betonen ist besonders wichtig, wenn der Täter erfährt, dass das Opfer Glück gehabt hat, weil die Applikation des Virus nicht zur Infektion geführt hat; aber auch dann, wenn er etwa Kenntnis erlangt, dass ein tödlicher Verkehrsunfall des Opfers dem AIDS-Tod zuvorgekommen ist. In solchen Fällen bleibt der Versuch, gemessen an der Tätervorstellung, unvollständig, sodass er keine Strafe begründet. – Wo die Aktualisierung fehlt, weil der Täter das Opfer aus den Augen verliert, ist die anfängliche Vorstellung entscheidend: Der Versuch ist komplett, wenn der Zeitpunkt erreicht ist, für den der Täter frühestens ein von ihm verursachtes Sterben des Opfers für möglich gehalten hat 34. Anzumerken bleibt, dass die Strafbarkeit sowohl wegen vollendeter wie wegen versuchter Tötungsdelikte praktisch kaum eine Rolle spielen kann, soweit es um die Zuführung des AIDS-Virus durch Geschlechtsverkehr geht. Der Täter ist schon länger infiziert als das Opfer. Er wird dieses meistens nicht überleben und die entscheidenden Zeitpunkte nicht erleben. Wer das als missliche Strafbarkeitslücke bewertet, der muss eine Strafdrohung, wie Art. 161 §1 K.k. sie verhängt hat, begrüßen. Der HIV-Infizierte setzt durch den Geschlechtsverkehr den Partner wissentlich der unmittelbaren Gefahr der Infektion aus und sieht sich schon deshalb mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bedroht. IX. Die bisher betrachteten Probleme sind aber gar nicht Gegenstand des kritischen Aufsatzes. Es geht Roxin um den herkömmlich so genannten „unbeendeten 33

Vgl. JR 1989, 89ff. Wir unterscheiden also danach, ob der Täter „auf dem Laufenden“ bleibt oder nicht. Diese Differenzierung ist ausführlich begründet bei Herzberg, in: Schünemann u.a. (Hrsg.), FS für Roxin, 2001, S. 749, 766 – 769. 34

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Versuch“, also nicht um Täter, die ihr aktives gefährliches Tun vollständig abgeschlossen haben und nun, hoffend oder bangend, dem zeitlich entfernten Erfolg entgegensehen. Worauf sich der Blick des Kritikers richtet und beschränkt, das sind vielmehr Versuchsverneinungen zugunsten von Tätern, die nach eigener Sicht „noch zu tun haben“, damit es zur Verwirklichung des Tatbestandes kommt. Roxin veranschaulicht zunächst seinen Gegenstand mit Beispielen, für die er in Anspruch nimmt, dass hier, entgegen der Lösung im Münchener Kommentar, „nach allgemeiner Auffassung schon ein Versuch vorliegt“. 35 So wendet er sich dagegen, dass „das Einschleichen oder Einsteigen in ein fremdes Haus mit Diebstahlsabsicht noch kein versuchter Diebstahl sein“ soll. Und er sieht Weiteres kritisch: „Wer jemanden um eine Leihgabe bittet, die Sache aber nicht zurückgeben, sondern für sich verwerten will, soll noch keinen Betrugsversuch begangen haben. Wenn jemand ‚durchs Telefon sein Opfer mit Enthüllungen bedroht und Schweigegeld fordert‘, ist das für Herzberg noch kein Erpressungsversuch. Dieser liegt für ihn erst vor, wenn der Täter ‚die Hand zur Entgegennahme des Geldes und damit zur Schädigung fremden Vermögens ausstreckt‘. Wenn ein Einbrecher erst mit der Eröffnung des Geldschrankes beschäftigt ist, als die Bewohner heimkehren und ihn überwältigen, ist das noch kein Versuch, weil die Vollendung des Diebstahls noch nicht unmittelbar bevorstand“ (S. 342f.). Ein Argument, den Versuch in all diesen Fällen entgegen Herzberg zu bejahen, ist für den Kritiker „das umgangssprachliche Verständnis des Begriffs ‚Versuch‘“. In den Beispielen werde jeder sagen, der Täter habe „versucht“ zu stehlen, zu betrügen, zu erpressen. „Man sollte solche aus dem normalen Sprachgebrauch abgeleiteten Auslegungsergebnisse nicht beiseiteschieben. Denn der Gesetzgeber kann sich nur durch das Medium der Sprache artikulieren. Der Interpret muss sich deshalb an das gebunden halten, was die Sprache ausdrückt“ (S. 344). Das ist natürlich im Prinzip eine grundlegend richtige und wichtige Forderung der Auslegungslehre. Am Anfang zu stehen hat immer die Betrachtung des Wortlautes im Lichte des umgangssprachlichen Verständnisses. Uns scheint aber der „normale Sprachgebrauch“ viel zu grobschlächtig, als dass er auch nur im Geringsten helfen könnte, eine so subtile Unterscheidung wie die hier geforderte zu treffen. Wenn im SB-Laden die Kundin, um Kaviar zu stehlen, hingeht, sich umschaut, abwartet und schon „drauf und dran“ ist, nach dem Kaviar zu greifen, sich aber beobachtet fühlt und wieder weggeht, werden alle sagen, dass sie erfolglos „versucht“ habe zu stehlen. Desgleichen wird man umgangssprachlich einen missglückten „Versuch“ annehmen, wenn sich die Freundin des Eigentümers von ihm im letzten Moment gehindert sieht, die heimlich schon eingepackte Biergläsersammlung zum Glascontainer zu bringen und zu zertrümmern. Und schließlich die Frau, die ihren Mann töten will und seinen Whisky schon mit Gift versetzt hat; muss sie nun erleben, dass der Mann, von seiner Reise zurück, dem Alkohol feierlich abschwört 35

Vgl. dort §22 Rn. 158, 164, 161, 169.

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und den Whisky weggießt, dann wird kein Benutzer der Umgangssprache zögern, ihr den „Versuch“ eines Mordes anzulasten. Unter den Juristen ist aber die Lesart herrschend und für die beiden ersten Fälle sogar unstreitig, dass die Täterin den Versuch i.S. der §§22, 23 StGB noch nicht begangen habe. X. Roxin bejaht ihn schon, wenn der Täter mit Diebstahlsabsicht heimlich einsteigt oder Hand an den Safe legt, mag auch bis zur eigentlichen Tatbestandshandlung der Wegnahme „noch geraume Zeit vergehen“ (S. 344). Das ist die herkömmliche Ausdehnung des Versuchstatbestandes speziell beim Diebstahl, und sie schafft einer Versuchslehre, die an ihr festhält, die schwersten Kalamitäten. Zunächst muss man sehen, dass die Extension des Diebstahlsversuchs sich nicht vereinbart mit dem sonst betonten Versuchserfordernis der zeitlichen Nähe zur Tatbestandshandlung. So begegnet uns die „geraume Zeit“ bei Roxin an anderer Stelle noch einmal, und zwar bei Veranschaulichung der Regel, dass der „Versuch“ ein „tatbestandsnahes Handeln mit dem Vorsatz der Tatbestandsverwirklichung“ voraussetze. „Wenn jemand das Gewehr auf einen anderen anlegt, hängt das Vorliegen eines Tötungsversuchs“ außer vom Tötungsvorsatz auch noch davon ab, „ob der Täter [...] sogleich oder erst nach geraumer Zeit [...] abdrücken wollte. Im ersten Fall liegt mit dem Anlegen ein Versuch vor, im zweiten – wegen der fehlenden Tatbestandsnähe – noch nicht.“ 36 Hier also wird wegen der „geraumen Zeit“, die den Täter noch von der Tatbestandshandlung trennt, der Versuch verneint. Bei einem Täter, der nach dem Einbruch in ein Ferienhaus sich zuerst noch etwas aufs Ohr legen will oder der am Safe noch lange arbeiten muss, wird trotz der „geraumen Zeit“, die er bis zur Wegnahme noch vor sich sieht, der Versuch bejaht. Das leuchtet nicht ein. Wir erkennen keinen Grund, für bestimmte Fälle von Diebstahl die Regel außer Kraft zu setzen, d.h. schon vor Ablauf der „geraumen Zeit“, die den Versuch sperrt, den Diebstahlsversuch zu bejahen. Im Wesentlichen geht es dabei wohl um Diebstahlsvorhaben, deren Vollendung dem §243 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 StGB unterfallen würde und die relativ häufig im fortgeschrittenen Stadium entdeckt und verhindert werden. Der Einbrecher etwa war zu laut und lässt sich im Keller sofort widerstandslos festnehmen; irgendwelche Wertsachen zu finden und zu ergreifen war er noch weit entfernt. Da empfinden es die Bürger, die Strafverfolgungsorgane und selbst die Strafrechtslehrer als misslich, dass das Geleistete, gemessen an der allgemeinen Regel, noch „Vorbereitung“ war und das Diebstahlsvorhaben als solches unbestraft zu bleiben hat. Aber so ist das nun mal, wenn das Gesetz den Versuch hart an die Grenze der Tatbestandshandlung herangerückt hat. Beschädigung des Kellerfensters und Bruch des Hausfriedens grenzen vielleicht hart an erste Schritte im Haus und an das Suchen nach lohnen36

AT 2 (ob. Fn. 17), §29 Rn. 2 und 5.

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den Sachen, aber nicht an die Wegnahme, schon gar nicht, wenn aus besonderem Grund, z.B. weil der Täter im gemütlichen Ferienhaus sich erst etwas hinlegen will, noch „geraume Zeit“ dazwischen liegt. XI. Dass die Grenzvorverlegung bei speziellen Diebstahlsvorhaben die auffälligsten Wertungswidersprüche mit sich bringt, scheint uns unbestreitbar, und Roxins Erwiderung geht auch nicht ein auf die im Kommentar angestellten Vergleiche mit Einbrechern, die anderes im Sinn haben als die Wegnahme fremder Sachen. Wer sich nachts ins Haus seiner Schwester einschleicht, um im dort aufbewahrten väterlichen Testament zwei für ihn ungünstige Zeilen zu streichen, hat es damit u.U. viel leichter als mit der Wegnahme von Wertsachen. Auch der Gedanke der „Schutzsphäre“ begründet keine unterschiedliche Bewertung. Die Hauswände schützen alle aufbewahrten Sachen vor unerlaubtem Zugriff von außen, Bücher, Münzen, Urkunden. Dennoch würde niemand sagen, der gleich beim Einstieg ertappte Täter habe schon die Straftat der versuchten Urkundenfälschung (§§267, 22 StGB) begangen. Das hat einen ganz banalen Grund: Solche Fälle sind dermaßen selten, das man bei der allgemeinen Regel zu verbleiben und sich mit §123 StGB zu begnügen bereit ist. In einer BGH-Entscheidung 37 ging es um das gewaltsame und vergebliche Bemühen, durch eine gesicherte Fensteröffnung einzudringen. Ziel des Täters war es, eine Frau im Haus zuerst „zum Geschlechtsverkehr zu zwingen“ und ihr danach „zu seiner eigenen Verwendung Geld wegzunehmen“. Den Vergewaltigungsversuch (§§177 Abs. 2 Nr. 1 StGB) zu verneinen, hingegen den Diebstahlsversuch (§§243 Abs. 1 Nr. 1 StGB) zu bejahen, wie es der BGH tut, halten wir für evident widersprüchlich. Roxin verteidigt das Urteil mit der Begründung, dass einerseits „mit dem Bemühen, die Fenster aufzustemmen, der Bezug zur Opfersphäre (zum Gewahrsamsbereich) hergestellt“, andererseits aber „die Körpersphäre der Frau [...] noch nicht tangiert war“. 38 Aber wir sehen unter dem Aspekt der „Sphären“ nichts, was die Unterscheidung rechtfertigen könnte. Eine Frau hat die Herrschaft über ihren Körper und die Herrschaft über ihre Sachen, die man „Gewahrsam“ nennt. Die Hausmauern mit ihren Türen und Fenstern schützen beide Herrschaften, auch die über den eigenen Körper, wessen sich jede Frau bewusst ist, die sich vor Nachstellungen in ihr Haus flüchtet. Lässt man nun in seiner Bewertung die Schutzsphäre der Sachen mit der „Außenhaut“ des Hauses beginnen, dann kann man es für die Schutzsphäre des Körpers nicht anders sehen. Es wäre widersinnig, zu lehren, dass der Täter, der sich außen am Haus zu schaffen macht, damit noch nicht die Schutzsphäre des Körpers der Frau tangiere, die er sexuell missbrauchen 37 38

NStZ 2000, 418. AT 2 (ob. Fn. 17), §29 Rn. 141.

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will, wohl aber die des Ringes im Nachttisch oder am Finger, den er wegzunehmen vorhat. Roxin problematisiert in seiner kurzen Verteidigung der Annahme eines versuchten Diebstahls nicht den „engen zeitlichen Zusammenhang“, auf den es nach seiner insoweit richtigen Lehre für den Versuch ja auch noch ankommt. Wir meinen nun, ihn für die geplante Wegnahme noch entschiedener verneinen zu müssen als für die geplante sexuelle Nötigung. Vorangehen sollte der Verwirklichung des Diebstahlstatbestandes nicht nur das Eindringen ins Haus, sondern auch die Vergewaltigung einer Frau. Da kann keine Rede sein von Kontinuität, zeitlicher Nähe und davon, dass der Täter schon mit seiner Einwirkung auf die verschlossenen Fenster „unmittelbar angesetzt“ habe, Geld wegzunehmen. Natürlich hätte Roxin auf seiner Grundlage dasselbe sagen und also den Diebstahlsversuch genauso gut verneinen können. Hier zeigt sich neben den Wertungswidersprüchen eine weitere Schwäche der traditionell weiten Öffnung des Versuchstatbestandes bei bestimmten Diebstahlsvorhaben: Man verfährt mit dem Erfordernis „unmittelbar“, umschrieben als „enger zeitlicher Zusammenhang“, weitgehend nach Belieben, zu Lasten der Berechenbarkeit des Urteils und der Rechtssicherheit. Was schon eine „geraume Zeit“ ist, bleibt gänzlich offen, und ebenso, ob man den Versuch wegen des geraumen Zeitabstandes verneinen oder trotz seiner bejahen muss. Angenommen, ein angetrunkener Jugendlicher wird gleich nach dem Einbruch in ein Ferienhaus festgenommen und sagt nun ehrlich, was er vorhatte: Sich zuerst für zwei Stunden ins Bett zu legen und dann ein Fahrrad zu stehlen. Vom herrschenden Standpunkt aus hätte man hier dem Richter nur die Belehrung zu bieten, er könne die Frage des Diebstahlsversuchs so oder so entscheiden. Solch ein Achselzucken ist aber nicht das, was die Praxis von der Theorie erwartet. Es ist ja nicht damit getan, dass man für ohnehin klare, ganz weit auseinander liegende Fälle („sofort“ – „erst nach einer Woche“) die Lösung parat hat. Kriterien und Definitionen müssen trennen, unterscheiden, Grenzlinien ziehen, und Formeln, die, anstatt dies zu leisten, die Fälle im mittleren Bereich, also die problematischen Fälle, einfach offenlassen, sind wenig nütze. XII. Roxin will auch die zu §§263, 253 StGB „genannten Sachverhalte entgegen Herzberg und mit der herrschenden Meinung als Fälle strafbaren Versuchs ansehen“ (S. 343). Es soll diesem Urteil also nicht im Wege stehen, dass der Täter, der am Telefon das Opfer schon getäuscht oder mit Drohungen unter Druck gesetzt hat, das erhoffte Geld erst am nächsten Tag abholen will. Denn „der Betrüger ist schon beim Betrügen, auch wenn das Gespräch, das zur Täuschung des Opfers führen soll, noch eine Zeitlang dauert und die erstrebte Vermögensverfügung keineswegs ganz nahegerückt ist“ (S. 344). Mit der Täuschung hat „der Täter den auf ihn entfallenden Teil schon vollbracht, alles weitere (soll) sich von selbst

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vollziehen“ (S. 351). Desgleichen „hat der Täter mit dem erpresserischen Anruf schon alles getan, was von seiner Seite aus getan werden konnte“. Es liegt „ein kompletter Eingriff in die vermögensbezogene Entschlussfreiheit des Opfers vor, die die eigentliche Erpressungshandlung ausmacht. Da das weitere Geschehen sich im Anschluss an die Erpressungshandlung kontinuierlich und ohne weiteres Zutun des Erpressers zur Schädigung entwickeln soll, ist hier der zeitliche Zusammenhang zu bejahen“ (S. 350). Anders dagegen, wenn der „Eingriff in die Entschlussfreiheit des Opfers“ auf einen Geschlechtsverkehr abzielt: Ein Mann will, dass seine Exfrau zu ihm kommt und sich auf den Beischlaf einlässt. Er ruft sie an und droht damit, bei Weigerung das gemeinsame Kind, das bei ihm zu Besuch ist, zu misshandeln. Das soll noch kein Vergewaltigungsversuch sein, denn der Täter müsse „die für eine Vergewaltigung entscheidende Handlung [...] erst noch vornehmen, und diese Handlung liegt in unbestimmter Ferne“ (S. 350). An Roxins Argumentation überrascht zunächst die Feststellung, dass der Täter nach vollbrachter Täuschung oder Drohung nichts weiter tun und nur ein von selbst ablaufendes Geschehen abwarten müsse. Die §§263, 253 StGB setzen ja auch noch voraus, dass der Täter „das Vermögen eines anderen beschädigt“ bzw. „dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt.“ Das gedenkt der Täter zwar in manchen Fällen durch Vermittlung des Opfers zu tun: Es soll den geforderten Geldbetrag auf das Konto des Täters überweisen. Aber diese Fälle hat Roxin nicht im Blick, wenn er Überlegungen zum unbeendeten Versuch anstellt. Er muss die Konstellation meinen, die hier geschildert wurde, also dass sich der Täter vorstellt, das Delikt mit weiterem eigenen Tun zu vollenden. Vor allem weil der andere oft noch keineswegs zur Vermögensverfügung entschlossen ist, kann der zweite Akt anstrengend und aufwendig sein oder sogar erfolglos bleiben. Aber selbst wo er in einem reibungslosen Entgegennehmen besteht, ist er für die Vermögensdelikte genauso eine „entscheidende Handlung“ wie der Beischlaf für die Vergewaltigung. Denn ohne ihn kommt es in den Fällen, die wir betrachten, nicht zum Vermögensschaden und nicht zur Deliktsvollendung. Auch kann man nicht sagen, dass es um den „zeitlichen Zusammenhang“ oder die „Tatbestandsnähe“ verschieden stehe. Der Beischlaferzwinger kann beste Aussicht haben, den Akt sehr bald und genau zur festgesetzten Stunde zu vollziehen, während vielleicht der Schadenseintritt beim getäuschten oder bedrohten Opfer, weil es noch schwankt oder nicht liquide ist, „in unbestimmter Ferne“ liegt. Die Bejahung des frühen Versuchs zu §§263, 253 StGB ist mit der Verneinung bei §177 StGB unvereinbar. Aber legen wir einmal Roxins Sicht zugrunde, bei §§263, 253 StGB vollziehe sich nach der Täuschung oder Drohung „alles weitere von selbst“, d.h. via Vermögensverfügung und Selbstschädigung des Opfers, ohne oder doch ohne relevante Mitwirkung des Täters! Wir hätten dann eine Sachlage vor uns, die genau der entspricht, dass die Giftmischerin den gewollten Kausalverlauf in Gang gesetzt hat und in ihrer Obhut behält. Den auf sie entfallenden Teil des Delikts hat sie

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vollbracht, „die eigentliche Tatbestandshandlung ist [...] mit der Beimischung des Giftes abgeschlossen“, 39 den Rest wird das Opfer besorgen. Aber wie die Frau den Schaden noch in letzter Sekunde, wenn der Mann den Gifttrank zum Munde führt, durch einen Zuruf verhindern kann, so kann es auch der Täter beim Vermögensdelikt. Es kommt nicht zum Schaden, wenn er schlicht „nein danke“ sagt, d.h. es ablehnt, die Leistung des von ihm getäuschten oder bedrohten Opfers anzunehmen. Ist die andauernde Vermeidemacht im einen Fall der Grund, den Versuch erst bei „unmittelbarer Gefahr“ anzunehmen, 40 dann muss man es auch im anderen so sehen. XIII. Dass es Roxin und die h.L. in diesem anderen Fall nicht so sehen, erklärt sich als ein besonders lebenskräftiges Rudiment der „Teilverwirklichungsregel“. Wir haben ihr schon allgemein einige Plausibilität zugestanden und tun dies namentlich für die Teilverwirklichung durch Vorspiegelung falscher Tatsachen, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel und durch den Einsatz von Gewalt. Aber man verstrickt sich, wie gerade gezeigt, in Widersprüche, wenn man die Regel, bei prinzipieller Ablehnung wegen Begründungsuntauglichkeit, hier und da dann doch wieder zur Begründung heranzieht. Wo die Teilverwirklichung im Einsatz von Gewalt besteht, ist es freilich untypisch, dass der Täter sich danach noch einen langen Weg vorstellt. Normalerweise geht ein Räuber nicht davon aus, erst nach halbstündigem Ringen zum Ziel zu kommen, und wenn er es doch einmal tut, dann spekuliert und hofft er daneben auf den günstigen Fall, sein Vorhaben ganz schnell verwirklichen zu können. 41 Denkbar ist aber auch, dass der Gewalttäter sich die restliche Tatbestandserfüllung in geraumer Entfernung vorstellt. Man nehme einmal an, jemand packt eine Frau während ihres Spazierganges mit eisernem Griff am Handgelenk in der Absicht, sie unter ständigem Nötigungsdruck in ihr Haus zu begleiten und dort zu später Stunde an ihr sexuelle Handlungen vorzunehmen oder sich den Safe öffnen zu lassen. Hier schon die gewaltsame Umklammerung als Versuch einer sexuellen Nötigung oder eines Raubes anzusehen ist nicht richtig. Im Prinzip lehrt das auch unser Kritiker. Er hat schon vor 30 Jahren mit Recht betont, dass §22 39

Roxin, AT 2 (ob. Fn. 17), §29 Rn. 119. Vgl. Roxin, AT 2 (ob. Fn. 17), §29 Rn. 195f., 205ff. 41 Diese Zugleich-Vorstellung, die für den Versuch genügen muss, übersieht Roxin in seinem Beispiel auf S. 346 (III a.E.). Im Übrigen ist hier wohl ein Missverständnis im Spiel. Die Unmittelbarkeitstheorie würde den Raubversuch nicht deshalb verneinen, weil der Täter vom Opfer „in die Flucht geschlagen wird“ und er, bei objektiver Betrachtung, „dem Ziel, der Erlangung der Beute, nie unmittelbar nahe gekommen ist“. Entscheidend ist, ob er beim Einsatz der Gewalt erwartet oder wenigstens darauf hofft, sein Ziel binnen kurzem zu erreichen. 40

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StGB „ein Ansetzen zur ‚Verwirklichung des Tatbestandes‘, also zur gesamten Tatbestandshandlung einschließlich des Erfolges und nicht nur das Ansetzen zur Verwirklichung eines einzelnen Merkmals“ voraussetze. 42 Nur verliert die dem Gesetz entnommene Begrenzung fast alle Relevanz für die Fallbeurteilung, wenn man manchmal (und einigermaßen beliebig) auch bei stunden-, ja tagelanger Dauer bis zur Komplettverwirklichung schon ein unmittelbares Ansetzen dazu, geleistet mit der Teilverwirklichung, bejaht. Natürlich soll irgendwann der Bogen überspannt sein, aber kein Kriterium sagt, warum er das dann ist. Stellen wir uns eine Frau vor, die weiß, dass ihr geschiedener Mann, ein angesehener Bürger, die gemeinsame Tochter sexuell missbraucht hat. Mit Strafanzeige drohend, fordert sie ihn auf, als Entschädigung in den nächsten drei Jahren 20.000 Euro zusammenzubringen und ihr das Geld genau am 16. Geburtstag der Tochter zu übergeben. Der Mann ist ernstlich besorgt und erklärt sich zähneknirschend einverstanden. – Wie beim normalen Erpressungsfall könnte Roxin auch hier sagen, es liege „schon ein kompletter Eingriff in die vermögensbezogene Entschlussfreiheit des Opfers vor, die die eigentliche Erpressungshandlung ausmacht“. Und auch der gewaltige Zeitabstand wäre mit seiner Begründung zu überbrücken: „Da das weitere Geschehen sich im Anschluss an die Erpressungshandlung kontinuierlich und ohne weiteres Zutun des Erpressers zur Schädigung entwickeln soll, ist hier der zeitliche Zusammenhang zu bejahen“ (S. 350). Aber das Ergebnis kann nicht stimmen. Man muss sich nur strenger am Gesetz orientieren, um dies zu erkennen. Die Frau hat die Drohung schon begangen, nicht nur ansatzweise, sondern vollen Umfangs. §253 StGB verlangt indessen auch noch, dass der Täter „dem Vermögen des Genötigten Nachteil zufügt“. Dazu, also zur vollen „Verwirklichung des Tatbestandes“, hat die Frau noch nicht angesetzt; im Gegenteil, nach ihrer Vorstellung wirkte sie auf den Genötigten ein, sein Vermögen drei Jahre lang zu vermehren. Wenn das anerkannte Erfordernis „zeitlicher Nähe“ 43 nicht sinnlos sein soll, dann muss es hier die Verneinung des Versuchs ergeben. Auf dieser Basis scheint es uns aber zwingend, dass man sich nach der Unmittelbarkeitstheorie richtet. Die untätig abwartende Täterin begeht den Erpressungsversuch erst, wenn der Mann sich zur Geldübergabe und sie sich zur Entgegennahme anschickt. Wo sonst sollte man die Grenze überschritten sehen? XIV. Unstimmigkeiten ergeben sich auch, wenn man bei tötungsvorsätzlichen Misshandlungen, die nach rechtzeitigem Abbruch nicht tödlich wirken, den Mordver42 Roxin, JuS 1979, 7. Die Frage, ob „die Teilverwirklichung des Tatbestandes als sicheres Versuchskriterium“ anzusehen sei, verneint Roxin heute mit besonders ausführlicher Begründung in AT 2 (ob. Fn. 17), §29 Rn. 110 – 120. 43 Vgl. nur Roxin, JuS 1979, 7: Schon „ein Zugriff auf den geschützten Bereich des Opfers. Aber für den Versuch bedarf es weiterhin einer zeitlichen Nähe zwischen Täterhandlung und Erfolg“.

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such mal sogleich und mal erst bei unmittelbarer Todesgefahr bejaht. Roxin ist für diesen späten Zeitpunkt in Fällen, wo der Täter sein Opfer durch permanentes Unterlassen misshandelt. „Erst wenn das Neugeborene durch weiteres Zuwarten in Lebensgefahr gerät, beginnt der Versuch“. „In diesem Augenblick tritt für das Tatobjekt eine deutliche Risikosteigerung ein, und diese Zäsur trennt Vorbereitung und Versuch“. 44 Er ist aber für den frühen Zeitpunkt, „wenn z.B. jemand sein Opfer langsam und sadistisch über mehrere Stunden zu Tode quält“ (S. 345). Das ist in sich widersprüchlich, denn die Mutter kann ihren Säugling langsam und sadistisch über mehrere Stunden zu Tode quälen, indem sie ihn verdursten lässt. Kommt es da nun für den Versuch darauf an, dass akute Lebensgefahr eintritt, oder auf den Beginn der Quälerei durch das erste Durstleidenlassen? XV. Roxin führt ferner „gegen die Konzeption Herzbergs ins Feld, dass sie die Situation des unbeendeten Versuchs auf einen minimalen Sekundenzeitraum reduziert und dadurch die Möglichkeiten des Scheiterns und des Rücktritts fast ausschaltet“ (S. 346). Daran ist richtig, dass die kritisierte Konzeption dort, wo sie den Raum des Versuches gegen die h.L. verengt, beim Ausbleiben der Vollendung seltener als die h.L. Versuche feststellen kann; das gilt sowohl für strafbare (gescheiterte) Versuche wie für straffrei gewordene (§24 StGB). Der Unhold, der dem Kind auf dem Spielplatz Schokolade schenkt und es mit sich lockt, hat noch keinen sexuellen Missbrauch versucht, der Einbrecher, der gerade eingestiegen ist und sich erst mal orientieren muss, hat noch keinen Diebstahlsversuch begangen, der Schweigegeld Fordernde, der das Geld morgen abzuholen ankündigt, noch keinen Erpressungsversuch. Scheitern die Täter, weil die beiden ersten sofort festgenommen werden und der dritte nur ein Hohnlachen erntet, so ist das nicht das Scheitern von Versuchstätern, sondern ein Scheitern in der Vorbereitung bzw. – im Erpressungsfall – nach dem Beginn, aber vor der vollen (strafbaren) Begehung des Versuchs. Treten sie in der frühen Phase freiwillig von ihrem Deliktsvorhaben zurück, so ist das kein Rücktritt i.S. von §24 StGB. Aber die Enge des Raumes, worin es zwischen Vorbereitung und gedachter Vollendung zu strafbaren Versuchen und strafbefreienden Rücktritten kommen kann, ist der normale Befund; man denke etwa an das Vorhaben, ein Kind einzusperren, fremde Gläser zu zertrümmern, seinen Feind zu erschießen, im Testament des Vaters eine Zeile zu streichen, im Supermarkt Zahnpasta zu stehlen. Roxin meint: „Wer seine Deliktsdurchführung so weit vorangebracht hat, dass er den Erfolg in Sekundennähe als bevorstehend ansieht, wird in dieser Situation kaum noch scheitern oder zurücktreten“ (S. 346). Die publizierte Rechtsprechung zu §24 StGB ist aber voll von Beispielen des Versuchs, der nach allgemeiner An44

AT 2 (ob. Fn. 17), §29 Rn. 273, 272.

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sicht erst Sekunden vor der gedachten Vollendung zustande gekommen und dann nicht vollendet worden ist, sei es, weil der Täter gescheitert oder zurückgetreten ist. Etwa der Versuch, einen Menschen zu erwürgen oder jemandem das Portemonnaie aus der Tasche zu stehlen. Alle lehren, dass solch ein Versuch erst ganz kurz vor der gedachten Vollendung begangen wird. Kann man dieser Lehre nun vorhalten, dass es für sie bei Erwürge- und Taschendiebstahlsvorhaben „fast nur noch gelingende Versuche (d.h. vollendete Taten) und fast keine im Versuchsstadium steckenbleibenden Versuche und fast keine Rücktritte mehr gibt“ (S. 346)? Wenn dem so wäre, müsste man es hinnehmen; die Deliktsvorhaben würden dann eben ggf. überwiegend in der Vorbereitung scheitern oder aufgegeben. Aber es verhält sich ja nicht einmal so. Der Würger, der schon zudrückt, kann rechtzeitig aufhören, freiwillig oder unfreiwillig, der Taschendieb, der schon zugreift, kann scheitern, weil er ertappt wird oder die Tasche leer ist. Übrig bleibt das Eingeständnis, dass unsere Konzeption die kurze Versuchsphase auch dort verficht, wo die h.L. ausnahms- und inkonsequenterweise für eine lange ist. Aber dass diese Korrektur und Konsequenz „nicht den in §§22 –24 zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Vorstellungen“ (S. 346) entspreche, ist zu bestreiten. Man kann den Vorschriften nicht entnehmen, dass ein Mensch, der sich auf den Weg zur Begehung einer Straftat gemacht hat und in einiger Entfernung vom Ziel scheitert oder aufgibt, möglichst oft wegen Versuchs strafbar bzw. nur deshalb straffrei sein soll, weil §24 StGB Anwendung findet. XVI. Vollkommen zutreffend ist es, wie Roxin das Ziel und das eigentliche Anliegen der Darlegungen im Münchener Kommentar kennzeichnet: „Für Herzberg kommt es bei der Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch entscheidend darauf an, ein einziges abstraktes ‚Kriterium mit Allgemeingültigkeit‘ zu finden, das bei allen Tatbeständen und Sachverhalten gleichermaßen anwendbar ist“ (S. 351). In der Tat, wir meinen, dass Abstrahierung möglich ist und dass sich auf hoher Ebene ein solches Kriterium formulieren lässt. Das Ziel ist natürlich, falsche Ungleichbehandlungen zu vermeiden. Wenn etwa ein Jugendlicher einem zehnjährigen Mädchen Bonbons schenkt und es überredet, mit ihm zu gehen, so kann er ganz Verschiedenes im Schilde führen: dem Kind die Haare abzuschneiden, es irgendwo einzusperren, ihm sein Taschengeld abzulisten, es sexuell zu missbrauchen. Wie dargelegt, verhindert unser Kriterium, die verschiedenen Deliktsvorhaben in der Weise ungleich zu beurteilen, dass mal schon das Gespräch oder das Losziehen und mal erst späteres Tun den Jugendlichen wegen Versuchs strafbar werden lässt. Auch Roxin ist selbstverständlich gegen falsche Ungleichbehandlung. Was er aber mehr fürchtet, ist die falsche Gleichbehandlung. „Mit Hilfe eines einzigen fixierten Merkmals“ könne man angesichts der „Fülle der Erscheinungen“ die Grenzziehungsprobleme nicht bewältigen. „Denn man übergeht dabei [...]

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die bewertungsrelevanten Unterschiede der Tatbestände und verfehlt durch die Einebnung der Differenzen ein sachgerechtes Ergebnis“ (S. 351). Darauf ist zu erwidern, dass das Gesetz die Sorge nicht teilt. Es schreibt uns ein und dieselbe Fragestellung vor, ausnahmslos, für sämtliche Tatbestände und alle Begehungsweisen innerhalb eines Tatbestandes: Hat der Täter schon „unmittelbar angesetzt zur Verwirklichung des Tatbestandes“? Das ist durchaus keine Leerformel, sondern unterscheidungskräftig und geradezu schon das Kriterium selbst; weshalb man sich auch sofort auf die „deutliche Aussage des Gesetzes“ beruft, wo einem das Erfordernis unmittelbaren Bevorstehens der Tatbestandsverwirklichung ins Konzept passt. Natürlich ist, wie jeder Gesetzestext, auch die Grenzziehung in §22 StGB klärender und schärfender Auslegung zugänglich. Aber wäre der Vorwurf der Einebnung bewertungsrelevanter Unterschiede berechtigt, so würde er nicht die Auslegung treffen, sondern nur ihren Gegenstand und damit den Gesetzgeber, der §22 StGB und das darin steckende allgemeingültige Kriterium geschaffen hat. Den Vorwurf prüfend, muss man bedenken, dass das Kriterium zwar Allgemeingültigkeit beansprucht, aber Vielfalt und Verschiedenheit keineswegs einebnet, sondern gelten lässt und in sich aufnimmt. Denn es stellt ja ab auf die Tatbestandsverwirklichung, deren nahes Bevorstehen entscheidend ist. Somit kommt es darauf an, wie die BT-Norm zu verstehen ist und wann nach der Vorstellung des Täters seine konkrete Tat den jeweiligen Tatbestand erfüllt hätte. Das kann sehr unterschiedlich zu beurteilen sein, sowohl im Vergleich mehrerer Straftatbestände wie innerhalb desselben Deliktstyps. So wirkt das allgemeine Kriterium offensichtlich nicht einebnend, wo der Täter mit demselben Handeln verschiedene Deliktsvorhaben verfolgt. Ein Jugendlicher sucht etwa auf dem Spielplatz ein Mädchen zu überreden, mit ihm auf seinem Motorroller eine kleine Fahrt zu machen. Er will zur Jagdhütte seines Vaters, das Kind dort sexuell missbrauchen, es festhalten und den Eltern Geld abpressen. Im Hinblick auf §176 StGB ist die verbale Einwirkung und selbst das Losfahren noch kein unmittelbares Ansetzen. Die Gefahr des Missbrauchs ist groß, aber nicht unmittelbar, weil noch „geraume Zeit“ vergehen wird bis zu den geplanten sexuellen Berührungen, die den Tatbestand erfüllen würden. Was aber die Freiheitsberaubung (§239 StGB) und den erpresserischen Menschenraub (§239a StGB) betrifft, so sieht der Täter, auf das Gelingen hoffend, die Tatbestandsverwirklichungen bereits während des Gesprächs unmittelbar bevorstehen. Denn wenn sich ihm das Kind anvertraut, würde er es schon mit dem Losfahren entführen und seiner Freiheit berauben. Und dazu kann es nach seiner Vorstellung in wenigen Augenblicken kommen. Nur ein Delikt begehen will der Zechpreller. Hier ist, anders als in der oben betrachteten Betrugskonstellation, nicht etwa erst das Ansetzen zur Entgegennahme der erschlichenen Leistung, sondern schon die Täuschung der strafbare Betrugsversuch, d.h. das Bestellen des Essens als konkludente Erklärung, bezahlen zu wollen. Denn selbst wenn der Zechpreller noch eine Stunde auf das

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Essen warten muss, steht die „Verwirklichung des Tatbestandes“ schon bei der Bestellung unmittelbar bevor; nämlich in Gestalt eines „Eingehungsbetrugs“: Der Zechpreller beschädigt das Vermögen des Wirtes schon durch das Erschleichen der sofortigen Vermögensverfügung, die der Kellner durch den Vertragsabschluss trifft, und durch die daraus resultierende Belastung des Vermögens mit der Pflicht, das bestellte Essen auszusondern und zu servieren. Uns scheint es einleuchtend, dass hier die Anwendung des allgemeingültigen Kriteriums eine Ungleichbehandlung, d.h. einen viel früher begangenen Versuch ergibt als in Fällen, wo nach richtiger Interpretation des §263 StGB der Schaden erst zu einem Zeitpunkt einzutreten droht, der Tage oder Wochen nach der Täuschung liegt. Z.B. wenn diese auf ein Darlehen zielt, das in drei Wochen auszuzahlen der Getäuschte sich nicht etwa verpflichtet, sondern nur zögernd geneigt zeigt. Die Kritik ist angesichts solcher sachangemessenen Differenzierung, die gerade unser gleichbleibendes Kriterium leistet, umzukehren. Denn auf unsere Fälle bezogen führt Roxins Gegenkonzeption zu eben der „Einebnung der Differenzen“, die er der Unmittelbarkeitstheorie vorhält. „Der Betrüger ist schon beim Betrügen“, lehrt er, „auch wenn das Gespräch, das zur Täuschung des Opfers führen soll, noch eine Zeitlang dauert und die erstrebte Vermögensverfügung noch keineswegs ganz nahegerückt ist“ (S. 346). Das heißt den schon mit der Täuschung begangenen strafbaren Betrugsversuch gleichmäßig bejahen, für den Zechpreller wie für den Darlehensschwindler. 45 Gewiss, Roxin kann das bestreiten mit dem Hinweis auf das von ihm grundsätzlich betonte Versuchserfordernis des „engen zeitlichen Zusammenhangs“ 46, der „zeitlichen Nähe zwischen Täterhandlung und Erfolg“ 47, diese Voraussetzung, könnte er sagen, sei beim Zechpreller, nicht aber beim Darlehensschwindler erfüllt. Aber wir haben schon gesehen, dass das Kriterium der zeitlichen Nähe ins Nichts verschwimmt, d.h. sich beliebiger Bejahung oder Verneinung öffnet, wenn man es nicht im Sinne der Unmittelbarkeitstheorie konturiert. Wir erinnern uns, dass Roxin den strafbaren Tötungsversuch schon im Geschlechtsakt des HIV-Infizierten sieht, der „mit Tötungsabsicht einem anderen das AIDS-Virus appliziert“. Die weite Entfernung des angestrebten Erfolgs wird ausdrücklich für belanglos erklärt, denn die Konsequenz gebiete, im Anstoß „eines Kausalverlaufs, der ohne weiteres Zutun des Täters in den Erfolg einmündet, einen

45 Ganz Entsprechendes droht in den problematischen Diebstahlsfällen. Im Einbrechen, Einsteigen oder Einwirken auf das umschließende Behältnis ohne Unterscheidung schon den Versuch zu sehen, ist falsche Gleichbehandlung und Einebnung der Differenzen. Unser Kriterium vermeidet sie, indem es darauf abstellt, ob der Täter bei solcher Hindernisüberwindung die Wegnahme schon unmittelbar bevorstehen oder noch in einiger zeitlicher Entfernung sieht. 46 AT 2 (ob. Fn. 17), §29 Rn. 139. 47 JuS 1979, 7.

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Versuch zu sehen“. 48 Bei Lichte betrachtet ist das die Preisgabe des Erfordernisses. Die heutigen therapeutischen Möglichkeiten, vor allem die antiretroviralen Arzneimittel, lassen es realistisch erscheinen, wenn der mit Tötungsvorsatz handelnde Täter für den Fall der Infizierung des Sexualpartners dessen AIDS-Tod erst nach 15 oder 20 Jahren erwartet. Da kann nun wahrlich keine Rede mehr sein von „zeitlicher Nähe zwischen Täterhandlung und Erfolg“, und bedarf es ihrer im Tötungsfalle nicht, so kann man auch den Betrugs- oder Erpressungsversuch nicht deshalb verneinen, weil der täuschende oder drohende Täter sich beim Handeln bereit erklärt, ein halbes Jährchen auf die Leistung zu warten. XVII. Zusammenfassung: Auf der Grundlage des §22 StGB und wohl auch auf der des Art. 13 §1 K.k. kann die Lehre vom deliktischen Versuch nur dann ein widerspruchsfreies System bilden, wenn sie das Folgende beachtet. 1. Beim Merkmal „unmittelbar ansetzt“ muss man unterscheiden zwischen Ansetzenshandlung und Ansetzungserfolg. Beides fällt meistens zusammen, z.B. wenn der Täter im Supermarkt nach der Flasche greift, die er stehlen will, oder wenn er dem Dieb für das gestohlene Auto Bargeld bietet in der Hoffnung auf Einverständnis und sofortige Übergabe. Für solche Fälle stimmt die herkömmliche Annahme: Wer die Grenze zwischen Vorbereitung und Versuchsbeginn überschreitet, begeht damit sofort den vollständigen (strafbaren) Versuch. Es kann aber auch das eine vom anderen getrennt sein. Das Bereitstellen des Gifttranks, um den ahnungslosen Ehemann zu töten (also das letzte darauf gerichtete aktive Tun!), das Drohen mit Misshandlung, um eine Frau zur Zahlung von Geld oder zum Geschlechtsverkehr zu nötigen, liegt als die oder als eine Tatbestandshandlung jenseits bloßer Vorbereitung und ist schon Teil des Mord-, Erpressungs- oder Vergewaltigungsversuchs. Aber wenn der Täter sich noch fern der Vollendung sieht, fehlt noch der Ansetzungserfolg, die Unmittelbarkeit der (vorgestellten) Vollendungsgefahr, die den Versuch erst vollständig macht. 2. Das findet auch deutlichen Ausdruck im Gesetz. Damit es zum kompletten (strafbaren) Versuch kommt, sei es zu einem „beendeten“ oder „unbeendeten“, muss die „Verwirklichung des Tatbestandes“ nach der Tätersicht „unmittelbar“ bevorstehen. Dies ist eine Voraussetzung des Versuchstatbestandes, die also immer gilt und nicht deshalb entfällt, weil der Täter irgendeine „Sphäre“ des Opfers angetastet oder die bzw. eine Tatbestandshandlung begangen oder einen Kausalverlauf „aus seinem Herrschaftsbereich entlassen“ hat. So kann man das Vorliegen vollständiger Versuche nicht schon deshalb annehmen, weil der Täter in das Haus eingestiegen ist, wo er die Bewohnerin vergewaltigen und dann bestehlen will. 48

AT 2 (ob. Fn. 17), AT 2 §29 Rn. 203.

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Oder weil der AIDS-Kranke den Geschlechtsakt vollzogen hat, der nach seiner Vorstellung vielleicht über die Ansteckung zum Tod des Partners führen wird. Oder weil der Täter durch Täuschung oder Drohung bereits eingewirkt hat auf das Opfer, welches er aber erst in Stunden oder Tagen durch Entgegennahme der erhofften Leistung zu schädigen vorhat. Oder weil die Mutter ihr Kind, das im Supermarkt Schnaps entwenden soll, auf den Weg gebracht und „aus ihrer Obhut entlassen hat“. Entscheidend ist auch in solchen Fällen, wann dem Täter die Verwirklichung des Tatbestandes frühestens möglich scheint. Erst zu diesem Zeitpunkt hat er den jeweiligen Versuch vollständig begangen. XVIII. Die Autoren sind mit der polnischen Lehre zum deliktischen Versuch nur in Teilen vertraut und können bloß vermuten, dass die hier im Rahmen und in Fortsetzung einer literarischen Kontroverse behandelten Streit- und Zweifelsfragen zu §22 StGB in ähnlicher Weise auch in Polen bei der Auslegung des Art. 13 §1 K.k. diskutiert werden. So dürfen sie hoffen, mit ihrem Beitrag am Interesse des Jubilars nicht „vorbeigeschrieben“ zu haben. Sie widmen ihm diese Studie in verschieden langer, aber gleichermaßen herzlicher Verbundenheit und wollen damit ihrem Dank Ausdruck geben: Für Einladungen und Besuche, die in Posen und Bochum fruchtbaren gedanklichen Austausch und auf seiner Grundlage wissenschaftliche Publikation erbracht haben. Ferner danken sie Andrzej J. Szwarc für freundlichste Vermittlung. Er war aufgeschlossener und engagierter Wegbereiter für die Übersetzung und Veröffentlichung eines Aufsatzes zur Preußischen Treuhand, einem für Polen und Deutsche gleichermaßen sensiblen Thema, in der renommierten und ältesten Juristenzeitung Polens „Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny“. 49

49 Siehe Putzke / Morber, Powiernictwo Pruskie – Problem legalno´sci działania, in: Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny, ROK LXX (zeszyt 1) 2008, S. 87 –105 (zuerst veröffentlicht unter dem Titel „Die Preußische Treuhand – Adressat einer vereinsrechtlichen Verbotsverfügung?“ in: Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter [NWVBl.] 6/2007, S. 211 – 218).

Wert- und Schadensqualifikationen versus Regelbeispiele Eine vergleichende Untersuchung des polnischen, deutschen und österreichischen StGB Gudrun Hochmayr I. Einleitung Je höher der durch eine Straftat verschuldete Schaden ist, umso strenger fällt im Allgemeinen die Strafe aus. So lautet ein allgemeiner Grundsatz der Strafbemessung 1, an dem sich auch die Strafsätze des Besonderen Teils orientieren. Man denke nur an die unterschiedlichen Strafdrohungen für eine fahrlässige Körperverletzung und eine fahrlässige Tötung oder für eine einfache und eine schwere Körperverletzung. Im Folgenden sollen jene Strafbestimmungen untersucht werden, die eine höhere Strafdrohung für den Fall vorsehen, dass der Wert der tatgegenständlichen Sache oder der herbeigeführte Vermögensschaden ein gewisses Ausmaß erreicht. Es geht also um Strafbestimmungen, die bei Erreichen einer Wert- oder Schadensgrenze zur Anwendung eines höheren Strafsatzes führen 2. Ein Vergleich der strafsatzerhöhenden Wert- und Schadensgrenzen in den Strafgesetzbüchern 3 von Polen, Deutschland und Österreich ist deshalb von besonderem Interesse, weil in diesen Ländern verschiedene Regelungsmodelle verwirklicht sind. Die betreffenden Strafbestimmungen im dStGB stehen für ein Regelungsmodell, das verbal umschriebene unbestimmte Wert- und Schadensgrenzen verwendet und sich der Regelbeispielstechnik bedient. Im polnStGB und im öStGB sind die Wert- und Schadensgrenzen betragsmäßig festgelegt, wobei die Festlegung in unterschiedlicher Weise erfolgt. Während das öStGB ziffernmäßig fixierte Wertund Schadensgrenzen verwendet, richten sich die Grenzen im polnStGB nach dem gesetzlichen Mindestlohn. In beiden Ländern handelt es sich ausschließlich bzw. zumindest überwiegend um echte Deliktsqualifikationen. 1

Ausdrücklich §32 Abs. 3 öStGB; vgl. auch Art. 53 §2 polnStGB; §46 Abs. 2dStGB. Nicht behandelt werden solche Delikte, deren Grundtatbestand einen bestimmten Wert der Sache voraussetzt, wie z.B. Art. 163 §1, Art. 165 §1, Art. 171 §1 polnStGB; §305a Abs. 1 Nr. 1, 306f Abs. 2dStGB; §153a, §168d, §307 Abs. 2 öStGB. 3 Wert- und Schadensgrenzen in strafrechtlichen Nebengesetzen (z.B. §370 Abs. 3 Nr. 1 dAO; §24 Abs. 4, §25 Abs. 3, §27 Abs. 3 jeweils iVm §2 Nr. 3dWehrstrafG) werden weitgehend ausgeklammert. 2

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II. Anknüpfung an Wert- oder Schadensgrenzen in den einzelnen Ländern 1. Betroffene Delikte Die mit Abstand meisten Wert- und Schadensqualifikationen sind im öStGB enthalten: Die Qualifikationen durchziehen das gesamte Vermögensstrafrecht 4, sie finden sich im Umweltstrafrecht 5, bei den Korruptionsdelikten 6, den Geldfälschungsdelikten 7 sowie beim Missbrauch der Amtsgewalt 8. Insgesamt sind derzeit für 33 Delikte des öStGB strafsatzerhöhende Wert- oder Schadensgrenzen vorgesehen. Die zahlenmäßig fixen Wert- und Schadensgrenzen gelten als eine „traditionelle Eigentümlichkeit des österreichischen Strafrechts“; sie lassen sich bis vor das Strafgesetz von 1852 zurückverfolgen 9. Auch im polnStGB sind Wert- und Schadensqualifikationen vor allem bei den Straftaten gegen das Vermögen normiert. Art. 294 §1 polnStGB fasst mehrere Vermögensdelikte 10 in einer Qualifikation zusammen, die dann Anwendung findet, wenn sich die Straftaten auf „Vermögen bedeutenden Wertes“ beziehen 11. Weiters greift nach einigen Straftatbeständen gegen den Wirtschaftsverkehr bei Verursa4 Schwere Sachbeschädigung, §126 Abs. 1 Z. 7, Abs. 2; Datenbeschädigung, §126a Abs. 2; Schwerer Diebstahl, §128 Abs. 1 Z. 4, Abs. 2; Entziehung von Energie, §132 Abs. 2; Veruntreuung, §133 Abs. 2; Unterschlagung, §134 Abs. 3; Dauernde Sachentziehung, §135 Abs. 2; Unbefugter Gebrauch von Fahrzeugen, §136 Abs. 3; Schwerer Eingriff in fremdes Jagd- oder Fischereirecht, §138 Z. 1; Schwerer Betrug, §147 Abs. 2, 3; Betrügerischer Datenverarbeitungsmissbrauch, §148a Abs. 2; Untreue, §153 Abs. 2; Förderungsmissbrauch, §153b Abs. 3, 4; Betrügerisches Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen usw., §153d Abs. 2; Sachwucher, §155 Abs. 1; Betrügerische Krida, §156 Abs. 2; Grob fahrlässige Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen, §159 Abs. 4 Z. 1, 2; Vollstreckungsvereitelung, §162 Abs. 2; Vollstreckungsvereitelung zugunsten eines anderen, §163 iVm § 162 Abs. 2; Hehlerei, §164 Abs. 3, 4; Geldwäscherei, §165 Abs. 3, 5; Ketten- oder Pyramidenspiele, §168a Abs. 2 öStGB. 5 Vorsätzliche bzw. Fahrlässige Beeinträchtigung der Umwelt, §180 Abs. 2, §181 Abs. 2; Vorsätzliches bzw. Fahrlässiges umweltgefährdendes Behandeln und Verbringen von Abfällen, §181b Abs. 2, §181c Abs. 2; Vorsätzliches bzw. Grob fahrlässiges umweltgefährdendes Betreiben von Anlagen, §181d Abs. 2, §181e Abs. 2 öStGB. 6 Geschenkannahme durch Bedienstete oder Beauftragte gem. §168c Abs. 2; Geschenkannahme durch Amtsträger oder Schiedsrichter gem. §304 Abs. 3 öStGB. 7 Weitergabe und Besitz nachgemachten oder verfälschten Geldes, §233 Abs. 2; Verringerung von Geldmünzen usw., §234 Abs. 2 öStGB. 8 §302 Abs. 2 öStGB. 9 Kienapfel / Schmoller, Studienbuch Strafrecht. Besonderer Teil, Bd. II: Delikte gegen Vermögenswerte (2003) AllgVorbem Rz. 87; Hoinkes-Wilfingseder, Wertqualifikationen bei Vermögensdelikten? LJZ 1986, 182. 10 Art. 278 §§1 und 2 (Diebstahl); Art. 284 §§1 und 2 (Unterschlagung); Art. 285 §1 (Missbrauch von Telekommunikationseinrichtungen); Art. 286 §1 (Betrug); Art. 287 §1 (Computerbetrug); Art. 288 §§1 und 3 (Sachbeschädigung); Art. 291 §1 (Hehlerei) polnStGB.

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chung eines bedeutenden bzw. erheblichen Vermögensschadens eine strengere Strafdrohung ein 12. Wert- oder Schadensgrenzen sind zudem bei den Korruptionsdelikten 13, den Militärstraftaten 14 und den Straftaten gegen die Sicherheit von Informationen 15 festgelegt. Im Vermögensstrafrecht des dStGB sind auf das Schadensausmaß abstellende Regelbeispiele für die Betrugsdelikte 16, die Untreue 17 sowie das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt 18 vorgesehen. Für Diebstahl und Sachbeschädigung, die – anders als in Polen und Österreich – als Eigentumsdelikte verstanden werden, bestehen keine strafsatzerhöhenden Wert- bzw. Schadensgrenzen 19. Allerdings kann nach überwiegender Ansicht bei einem außergewöhnlich hohen Wert ein unbenannter besonders schwerer Fall eines Diebstahls angenommen werden 20. Etwas überraschend bildet beim Tatbestand der Computersabotage, der immerhin in einem Naheverhältnis zur Sachbeschädigung steht, ein Vermögensverlust großen Ausmaßes einen besonders schweren Fall 21. Wie in Österreich und Polen knüpfen auch die Korruptionsdelikte an einen hohen Vorteil eine höhere Strafdrohung 22. Das auf einen „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ abstellende 11 Weitere strafsatzerhöhende Wertgrenzen für Vermögensdelikte sind in Art. 289 §2 (Unbefugter kurzfristiger Gebrauch eines Kraftfahrzeugs) und Art. 292 §2 (Fahrlässige Hehlerei) polnStGB vorgesehen. 12 Art. 296 §3 (Untreue); Art. 303 §2 (Verletzung der Dokumentationspflichten) polnStGB. 13 Art. 228 §5 (Vorteilsannahme und Bestechlichkeit); Art. 229 §4 (Vorteilsgewährung und Bestechung); Art. 296a §4 (Bestechlichkeit und Bestechung im wirtschaftlichen Bereich) polnStGB. 14 Art. 343 §2 (Straftat gegen die Militärdisziplin); Art. 360 §2 (Straftat gegen das Vermögen des Militärs) polnStGB. 15 Art. 268 §3 (Unterdrückung wesentlicher Informationen); Art. 268a §2 (Datenveränderung) polnStGB. 16 Betrug, §263 Abs. 3 Nr. 2, Nr. 5; Computerbetrug, §263a Abs. 2 iVm §263 Abs. 3 Nr. 2; Subventionsbetrug, §264 Abs. 2 Nr. 1dStGB. 17 §266 Abs. 2 iVm §263 Abs. 3 Nr. 2dStGB. 18 §266a Abs. 4 Nr. 1dStGB. 19 Beim Diebstahl befürchtete der deutsche Gesetzgeber Abgrenzungsschwierigkeiten, falls ein Regelbeispiel auf den hohen Wert der Sache abstellen würde; berichtet bei Eisele, Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht (2004) S. 261. 20 Kindhäuser, Strafgesetzbuch. Lehr- und Praxiskommentar, 3. Aufl. (2006) §243 Rz. 4 m.N. 21 §303b Abs. 4 Nr. 1dStGB. Die Einführung dieses besonders schweren Falls wurde damit begründet, dass Computersabotage beträchtliche wirtschaftliche Schäden bewirken kann und bei hohen Vermögensverlusten regelmäßig eine höhere Strafe angebracht sei; BT-Drucks. 16/3656, S. 14. Eine Besonderheit dieses Regelbeispiels besteht darin, dass es an eine Qualifikation (§303b Abs. 2dStGB) anknüpft; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 55. Aufl. (2008) §303b Rz. 22 beurteilt dies als „ungewöhnlich, aber wohl möglich“.

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Regelbeispiel der Urkundenfälschung vermengt in nicht sachgerechter Weise das Rechtsgut der Urkundendelikte mit jenem der Vermögensdelikte 23. Die meisten der hier behandelten Regelbeispiele wurden durch das 6. Strafrechtsreformgesetz 24 ins dStGB eingefügt. Zuvor gab es nur vereinzelt Strafbestimmungen, deren Strafsatz vom Wert der Sache bzw. von der Höhe des Schadens abhing 25. Es handelt sich daher im dStGB um ein relativ neues Phänomen, das als solches im Schrifttum bisher kaum Beachtung gefunden hat. 2. Umschreibung der Wert- oder Schadensgrenzen Im dStGB sind die Wert- oder Schadensgrenzen durch unbestimmte Begriffe umschrieben. Dieser Methode bedienen sich auch andere europäische Staaten, wie die Schweiz 26 oder Italien 27. Auch Liechtenstein, das das öStGB in weiten Teilen wörtlich übernommen hat, hat sich im Gegensatz zum öStGB für unbestimmte Wert- und Schadensgrenzen entschieden 28, weil man in festen Geldbeträgen ausgedrückte Wert- und Schadensgrenzen als „in einem modernen Strafgesetz problematisch“ ansah 29. Bemerkenswert ist aber, dass Liechtenstein bei der Über22 Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr, §300 Nr. 1; Bestechlichkeit und Bestechung, §335 Abs. 2 Nr. 1dStGB. 23 §267 Abs. 3 Nr. 2dStGB; darauf verweisend auch der Tatbestand der Fälschung technischer Aufzeichnungen, §268 Abs. 5, sowie der Fälschung beweiserheblicher Daten, §269 Abs. 3dStGB. Kritisch zu diesem Regelbeispiel auch Eisele (Fn. 19) S. 257. 24 26.01.1998, BGBl I 164. 25 Soweit ersichtlich stellt das erste Regelbeispiel dieser Art §264 Abs. 2 Nr. 1 dStGB dar, eingeführt durch das Erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 29.07.1976, BGBl I 2034. Die Regelbeispiele in §300 Nr. 1 sowie §335 Abs. 2 Nr. 1 dStGB gehen auf das Korruptionsbekämpfungsgesetz vom 13.08.1997, BGBl I 2038, zurück. Das Regelbeispiel des §266a Abs. 4 Nr. 1 dStGB wurde durch das Gesetz zur Erleichterung der Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit vom 23.07.2002, BGBl I 2787, eingeführt. Das jüngste derartige Regelbeispiel stellt §303b Abs. 4 Nr. 1 dStGB dar, eingefügt durch das 41. Strafrechtsänderungsgesetz vom 07.08.2007, BGBl I 1786. Von der Regelbeispielstechnik als solcher wird im dStGB seit dem Jahre 1964 Gebrauch gemacht; Eisele (Fn. 19) S. 99. 26 Beispielsweise wirkt bei der Sachbeschädigung gem. Art. 144 Abs. 3 schwStGB und der Datenbeschädigung gem. Art. 144 bis Z. 1 Abs. 2 schwStGB die Verursachung eines „grossen Schadens“ als qualifizierend. 27 Nach Art. 61 Nr. 7 italienStGB stellt bei „Verbrechen gegen das Vermögen ... oder solchen, die jedenfalls das Vermögen beeinträchtigen, sowie bei den auf Gewinnsucht beruhenden Verbrechen ... die Verursachung eines Vermögensschadens von erheblichem Umfang bei dem Verletzten“ einen allgemeinen erschwerenden Umstand dar, der die Strafdrohung erhöht; Übersetzung nach Riz / Bosch, Italienisches Strafgesetzbuch. Codice penale italiano (1995). 28 So kommt es z.B. für den Schweren Diebstahl gem. §128 Abs. 2 liechtStGB auf eine „Sache von besonders hohem Wert“, für den Schweren Betrug gem. §147 Abs. 2 liechtStGB auf einen „besonders grossen Schaden“ an.

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nahme neuer Straftatbestände aus dem öStGB zu betragsmäßig bestimmten Wertund Schadensgrenzen übergegangen ist 30, auch wurden für einzelne Tatbestände nachträglich fixe Grenzen im Zuge von Novellierungen eingeführt 31. Im liechtStGB ist daher zur Zeit ein gemischtes System verwirklicht, das sich aus betragsmäßig unbestimmten und bestimmten Wert- und Schadensgrenzen zusammensetzt. In den meisten Strafbestimmungen des dStGB wird der hohe Wert oder Schaden durch die Worte „großen Ausmaßes“ beschrieben. Ein besonders schwerer Fall liegt vor, wenn es zu einem „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ gekommen ist, die Tat sich auf einen „Vorteil großen Ausmaßes“ bezieht, „Beiträge in großem Ausmaß“ vorenthalten wurden oder eine „nicht gerechtfertigte Subvention großen Ausmaßes“ erlangt wurde. Einzig das Regelbeispiel des Versicherungsbetrugs (§263 Abs. 3 Nr. 5dStGB) stellt auf eine „Sache von bedeutendem Wert“ ab. Da das Gesetz keinen Hinweis darauf enthält, wie diese unbestimmten Begriffe auszulegen sind, bleibt die Festlegung der Wert- und Schadensgrenzen der Rechtsanwendung überlassen. Dabei halten selbst jene Autoren, welche bei einzelnen Regelbeispielen die Grenze nicht rein objektiv pauschalierend, sondern unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse bestimmen wollen, feste Mindestgrenzen für notwendig 32. Aus Gründen der Rechtssicherheit und der Vorhersehbarkeit der schwereren Sanktion sei es erforderlich, wenn auch tatbestandsspezifisch, eine einheitliche Grenze zu finden 33. Wie aber soll von einer unbestimmten verbalen Umschreibung auf einen zahlenmäßig bestimmten Betrag geschlossen werden? Für einige Delikte hat sich in Rspr. und Schrifttum die Ansicht herausgebildet, dass ein „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ ab einem Schaden von 50.000 € vorliegt. Für diese Ansicht war vor allem ein Urteil des BGH zum „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ beim Betrug maßgeblich 34. Versuchen, das „große Ausmaß“ am durchschnittlich hohen Betrugsschaden zu orientieren, hat der BGH in dieser Entscheidung eine Absage erteilt. Zum einen erschien es dem BGH problematisch, auf einen Durchschnittsschaden, wie er etwa in der Polizeilichen Kriminalstatistik ausgewiesen wird, 29 Zu den Erwägungen im Rahmen der Kommissionsberatungen Stotter, Das neue liechtensteinische Strafgesetzbuch (1988) S. 27 f. 30 Förderungsmissbrauch, §153a Abs. 3, 4; Grob fahrlässige Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen, §159 Abs. 4 liechtStGB. 31 Hehlerei, §164 Abs. 3, 4 idF LGBl 1996/64; Geschenkannahme durch Beamte, §304 Abs. 3 idF LGBl 2000/256; Geldwäscherei, §165 Abs. 3, 3a, 6 idF LGBl 2003/236 bzw. 2007/186 liechtStGB. 32 Vgl. Korte, in: Joecks / Miebach (Hrsg.) Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4 (2006) §335 Rz. 8. 33 Deutlich BGHSt 48, 360 (361 f., 364); vgl. auch Diemer / Krick, MK §300 Rz. 2; Puppe, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (Hrsg.) Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl. (2005) §267 Rz. 117. 34 BGHSt 48, 360 (362 ff.).

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abzustellen. Denn dieser beruht zum Teil auf Schätzungen und wird durch Schadensfälle mit ganz außergewöhnlich hoher Schadenssumme verfälscht, zusätzlich stellt sich hier auch die Dunkelfeldproblematik. Zum anderen müsste der durchschnittliche Schaden mit einer Maßzahl multipliziert werden, um den besonders schweren Fall deutlich vom Durchschnittsfall abzugrenzen. Für die Bestimmung der Maßzahl fehlt aber wieder jeder Anhaltspunkt. Letztlich orientierte sich der BGH daher an einer Äußerung im Gesetzgebungsverfahren, wonach – anknüpfend an die Kommentierung des besonders schweren Falls des Subventionsbetrugs (§264 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1dStGB) durch Dreher / Tröndle 35 – ein Vermögensverlust „großen Ausmaßes“ ab einem Schaden von etwa 100.000 DM anzunehmen sei 36. In Übereinstimmung mit einem Teil der Kommentarliteratur legte der BGH diesen Wert, der in etwa 50.000 € entspricht, auch dem Regelbeispiel des Betrugs zugrunde 37. Die Festlegung auf diese Grenze ist überwiegend auf Zustimmung gestoßen und entspricht heute der h.M. 38. Auf die 50.000 €-Grenze wird neben Betrug, Computerbetrug 39, Subventionsbetrug 40 und Untreue 41 auch für §267 Abs. 3 Nr. 2 42 sowie §303b Abs. 4 43 dStGB Bezug genommen.

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Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 47. Aufl. (1995) §264 Rz. 31. BT-Drucks. 13/8587, S. 43. Entgegen BGHSt 48, 360 (363) trifft es nicht zu, dass die Gesetzesbegründung an die Rspr. des BGH zum besonders schweren Fall des Subventionsbetrugs (BGHR StGB §264 Abs. 3 Strafrahmenwahl 1) anknüpft; vielmehr wird allein der Kommentar von Dreher / Tröndle zitiert. 37 BGHSt 48, 360 (363 f.). Der BGH formulierte in der Entscheidung noch vorsichtig, dass ein „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ jedenfalls dann nicht vorliege, wenn der Verlust weniger als 50.000 € beträgt. In späteren Entscheidungen legte sich der BGH deutlicher auf diese Grenze fest; wistra 2004, 262 (263); wistra 2006, 17 (20).BGH NJW 2001, 2485 hatte die betragsmäßige Grenze überhaupt noch offen gelassen. 38 Peglau, Die Regelbeispiele des §263 Abs. 3 Nr. 2 StGB, wistra 2004, 7 (9); Rotsch, Der Vermögensverlust großen Ausmaßes bei Betrug und Untreue, ZStW 2005, 577 (603); aus der Kommentarliteratur z.B. Kindhäuser, NK §263 Rz. 394; Schönke / Schröder-Cramer / Perron, Strafgesetzbuch. Kommentar, 27. Aufl. (2006) §263 Rz. 188c. Bemühungen, das Ergebnis durch weitere Überlegungen abzusichern, erscheinen äußerst gekünstelt; siehe Krüger, Zum „großen Ausmaß“ in §263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB, wistra 2005, 247ff., der die 50.000 €-Grenze zusätzlich dadurch zu legitimieren versucht, dass sie dem durchschnittlichen Kaufpreis von versicherbaren Schiffen entspreche. – Kritisch zu dieser Grenze dagegen Fischer, StGB §263 Rz. 122; Lang ua, Regelbeispiel für besonders schweren Fall des Betrugs bzw. der Untreue – Vermögensverlust großen Ausmaßes, NStZ 2004, 528 (532f.), denen der Wert als zu hoch gegriffen erscheint. 39 Kindhäuser, LPK-StGB, §263a Rz. 69 iVm §263 Rz. 228. 40 BGHSt 48, 360 (363); Hellmann, NK §264 Rz. 134; Lackner / Kühl, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 26. Aufl. (2007) §264 Rz. 25; Schönke / Schröder-Lenckner / Perron, StGB §264 Rz. 74. 41 Z.B. Lackner / Kühl, StGB §266 Rz. 22 iVm §263 Rz. 66. Abweichend Dierlamm, MK §266 Rz. 259: 100.000 €. 42 Erb, MK §267 Rz. 226; Fischer, StGB §267 Rz. 37; Schönke / Schröder-Cramer / Heine, StGB §267 Rz. 107. 36

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Hinsichtlich des Vorenthaltens von Arbeitnehmerbeiträgen in großem Ausmaß (§266a Abs. 4 Nr. 1dStGB) wird teils die Auffassung vertreten, eine betragliche Fixierung des „großen Ausmaßes“ sei nicht möglich. Vielmehr könne das „große Ausmaß“ nur für den Einzelfall anhand einer Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände, wie der Anzahl der Sozialversicherungsverhältnisse und der zeitlichen Dauer des Vorenthaltens, bestimmt werden. Falls beispielsweise ein Großunternehmen nur für einen Teil der Arbeitnehmer die Sozialversicherungsbeiträge vorenthält, werde das Regelbeispiel auch bei einer hohen Summe der vorenthaltenen Beträge „kaum anzunehmen sein“ 44. Diese abzulehnende Interpretation hätte jedoch zur Folge, dass ein kleiner Unternehmer, der (grob eigennützig) die Sozialversicherungsbeiträge für seine beiden einzigen Arbeitnehmer vorenthält, wegen eines besonders schweren Falls des §266a dStGB zu bestrafen wäre, während die Verantwortlichen eines Unternehmens mit einer großen Zahl von Arbeitnehmern für dasselbe Verhalten nur nach dem Grundtatbestand des §266a dStGB zu bestrafen wären, obwohl das Sozialversicherungssystem im gleichen Ausmaß belastet wird. Andere Autoren nehmen ein „großes Ausmaß“ erst dann an, wenn der Schaden in die Millionenhöhe geht 45. Dagegen wird wiederum eingewandt, dass bei einer so hohen Untergrenze ein Wertungswiderspruch zu einem Beitragsbetrug gem. §263 Abs. 3 Nr. 2 dStGB entstünde; der Mindestschaden sei daher wie beim besonders schweren Fall des Betrugs bei 50.000 € anzusetzen 46. Keine Einigkeit besteht auch hinsichtlich der Regelbeispiele im Korruptionsstrafrecht, die an einen „Vorteil großen Ausmaßes“ anknüpfen. Für den besonders schweren Fall der Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr (§300 Nr. 1dStGB) wird teils eine höhere Untergrenze als bei dem korrespondierenden Straftatbestand für Amtsträger (§335 Abs. 2 Nr. 1dStGB) vorgeschlagen, nämlich ein Betrag von nicht unter 25.000 € 47; andere halten Schmiergeld in niedrigerer Höhe für ausreichend 48. Jedenfalls zu berücksichtigen seien das Einkommen und die sonstigen wirtschaftlichen Verhältnisse des Angestellten oder Beauftragten 49. Der BGH verweist auf seine Rechtsprechung zum Begriff des 43 Fischer, StGB §303b Rz. 23 iVm § 263 Rz. 122; Weidemann, in: v. HeintschelHeinegg (Hrsg.) Beck’scher Online-Kommentar zum StGB (Stand: 01.06.2008) §303b Rz. 27 iVm § 263 Rz. 103. 44 Radtke, MK §266a Rz. 72. 45 Ignor / Rixen, Grundprobleme und gegenwärtige Tendenzen des Arbeitsstrafrechts, NStZ 2002, 510 (512). Offen gelassen von Schönke / Schröder-Lenckner / Perron, StGB §266a Rz. 29b: die Untergrenze sei jedenfalls deutlich höher als bei §263 Abs. 3 Nr. 2 StGB anzusetzen. 46 Lackner / Kühl, StGB §266a Rz. 16b. 47 Dannecker, NK §300 Rz. 5; für diese Grenze auch Diemer / Krick, MK §300 Rz. 2. 48 Rudolphi, in: Rudolphi / Horn / Samson, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch (111. Lfg. Nov. 2007, Stand: April 2000) §300 Rz. 3: mehr als 10.000 DM; Fischer, StGB §300 Rz. 4: im Einzelfall könnten 10.000 € ausreichen. 49 Dannecker, NK §300 Rz. 5; Rudolphi, SK §300 Rz. 3.

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„Vermögensverlusts großen Ausmaßes“, setzt also offenbar die Untergrenze wie beim besonders schweren Fall des Betrugs bei 50.000 € an 50. Die Bandbreite der Ansichten zur Untergrenze hinsichtlich §335 Abs. 2 Nr. 1 dStGB bewegt sich zwischen 10.000 € und 25.000 € 51. Die Untergrenze des „bedeutenden Werts“ beim Regelbeispiel des Versicherungsbetrugs wird unter Verweis auf das entsprechende Merkmal bei den Gemeingefährdungsdelikten bei 750 € 52, 1.000 € 53 oder 1.300 € 54 angenommen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Auslegung der unbestimmt umschriebenen Wert- und Schadensgrenzen große Schwierigkeiten bereitet und die Unterschiede zwischen den einzelnen Auffassungen beträchtlich sind. Auch das polnStGB verwendet zur Umschreibung der maßgeblichen Grenze unbestimmte Begriffe: Die Tat muss sich auf „Vermögen bedeutenden Wertes“ beziehen, einen „bedeutenden Vermögensschaden“ oder einen „Vermögensschaden erheblichen Umfangs“ verursachen 55. Allerdings werden in Art. 115 §5 und §7 polnStGB diese Begriffe gesetzlich definiert: Danach handelt es sich um „Vermögen bedeutenden Wertes“ bzw. um einen „bedeutenden (Vermögens-)Schaden“, wenn das Zweihundertfache des zur Zeit der Tatbegehung verbindlichen monatlichen Mindestlohns überschritten wird. Ein „erheblicher (Vermögens-)Schaden“ liegt bei Überschreiten des Eintausendfachens des verbindlichen monatlichen Mindestlohns vor. Nach dem Gesetz über den Mindestlohn vom 10.10.2002 56 richtet sich der verbindliche monatliche Mindestlohn nach dem Preisindex und ist jährlich durch das Ministerium für Arbeit, die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände auszuhandeln. Für das Jahr 2008 beträgt der Mindestlohn 1.126 PLN pro Monat. Allerdings ist es gem. Art. 25 des genannten Gesetzes zulässig, dass der Mindestlohn durch andere Rechtsvorschriften, wie jene des Arbeitsgesetzbuches, unterschritten wird; er darf dann nicht unter 760 PLN liegen. Da das polnStGB auf die „auf Grund des Arbeitsgesetzbuchs bestimmte niedrigste Vergütung für Arbeitnehmer“ Bezug nimmt (Art. 115 §8 polnStGB), sieht die Rspr. für die Wert- und Schadensgrenzen die starre Untergrenze des Art. 25 des Gesetzes über den Mindestlohn von zur Zeit 760 PLN als maßgeblich an 57. „Vermögen bedeutenden Werts“ bzw. ein „bedeutender (Vermögens-)Schaden“ wird demzufolge 50

BGH NJW 2006, 3290, 3298 iVm BGHSt 48, 360. Nachweise bei Korte, MK §335 Rz. 9. 52 Schönke / Schröder-Cramer / Perron, StGB §263 Rz. 188g iVm Vor § 306 Rz. 14 (allerdings nicht als feststehende Grenze). 53 Hoyer, SK (60. Lfg. Feb. 2004) §263 Rz. 289. 54 Fischer, StGB §263 Rz. 126a iVm § 315 Rz. 16a. 55 Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch. Kodeks karny vom 6. Juni 1997 (1998). 56 Dz. U. z 2002r., Nr. 200, poz. 1679. 57 Vgl. Urteil SN vom 13.04.2005 r., V KK 30/05, Lex, nr 149623. 51

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bei einem Vermögenswert oder -schaden von mehr als 152.000 PLN, ein „erheblicher (Vermögens-)Schaden“ bei einem Schaden von mehr als 760.000 PLN angenommen 58. Im öStGB sind die strafsatzerhöhenden Wert- und Schadensgrenzen – von zwei Ausnahmen abgesehen 59 – bereits im Gesetz selbst betragsmäßig festgelegt. Die meisten Straftatbestände sehen zwei Grenzen vor: Die erste Grenze wird bei einem Wert der Sache oder einem Schaden über 3.000 € gezogen, für die zweite Grenze muss der Wert oder Schaden mehr als 50.000 € betragen. Eine Reihe von Delikten enthält nur die höhere Grenze von 50.000 € 60, einige wenige Tatbestände kennen nur die untere Grenze von 3.000 € 61. Der seit kurzem im öStGB normierte Tatbestand der Geschenkannahme durch Bedienstete oder Beauftragte setzt einen Wert des Vorteils über 5.000 € voraus (§168c Abs. 2 öStGB) 62. Die höchste Schadensgrenze findet sich bei der Grob fahrlässigen Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen gem. §159 Abs. 4 Z. 1 und 2 öStGB: Hier muss der Befriedigungsausfall eines oder mehrerer Gläubiger 800.000 € übersteigen. Die Durchdringung des öStGB mit zahlenmäßig bestimmten Wert- und Schadensgrenzen hat sich auf die Entwicklung des strafrechtlichen Vermögensbegriffs ausgewirkt: Das österreichische Vermögensstrafrecht orientiert sich traditionell stark am wirtschaftlichen Vermögensbegriff. Andere Vermögensbegriffe, die von der Bezifferbarkeit des Schadens abgehen, wurden für Österreich kaum diskutiert 63. Auch die im Vergleich zu Deutschland viel restriktivere Auslegung des Vermögensschadens dürfte auf das österreichische System fester Wert- und Schadensgrenzen zurückzuführen sein. So wird in Österreich ein Vermögensschaden 58

Umgerechnet etwa 42.222 € und 211.111 € (Kurs am 23. 11. 2008). Beim Sachwucher (§155 Abs. 1 öStGB) und beim Tatbestand der Ketten- oder Pyramidenspiele (§168a Abs. 2 öStGB) wirkt die schwere Schädigung einer größeren Zahl von Menschen qualifizierend. Eine Begründung für die Abweichung vom System fester Wert- und Schadensgrenzen findet sich in den Gesetzesmaterialien nicht. Den Gesetzesmaterialien zufolge muss der Schaden des Einzelnen die untere Wertgrenze (derzeit 3.000 €) deutlich übersteigen; JAB StRÄG 1996, 409 BlgNR 20.GP, S. 9; so auch Althuber, in: Triffterer / Rosbaud / Hinterhofer (Hrsg.) Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch (Stand: 18. Lfg. Mai 2008) §155 Rz. 15; Kirchbacher / Presslauer, in: Höpfel / Ratz (Hrsg.) Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl. (Stand: 2006) §155 Rz. 7, §168a Rz. 15; berechtigte Kritik an der unbestimmten Umschreibung bei Bertel / Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht. Besonderer Teil I, 10. Aufl. (2008) §168a Rz. 4. 60 §153d Abs. 2, §156 Abs. 2, §165 Abs. 3, 5, §180 Abs. 2, §181 Abs. 2, §181b Abs. 2, §181c Abs. 2, §181d Abs. 2, §181e Abs. 2, §233 Abs. 2, §234 Abs. 2, §302 Abs. 2 öStGB. 61 §138 Z. 1, §162 Abs. 2, §163 iVm § 162 Abs. 2, §304 Abs. 3 öStGB. 62 Nach der Regierungsvorlage sollte die Wertgrenze auf 3.000 € lauten; EB RV StRÄG 2008, 285 BlgNR 23.GP. Im Bericht des Justizausschusses findet sich dann ohne Begründung die ungewöhnliche Wertgrenze von 5.000 €; AB StRÄG 2008, 331 BlgNR 23.GP. Für den beibehaltenen Straftatbestand des §10 Abs. 2 öUWG, mit dem sich §168c Abs. 2 öStGB weitgehend überschneidet, ist übrigens keine Qualifikation vorgesehen. 63 Kienapfel / Schmoller (Fn. 9) AllgVorbem Rz. 100. 59

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erst dann angenommen, wenn es zu einer bezifferbaren Vermögensminderung, d.h. zu einem „effektiven Verlust an Vermögenssubstanz“ gekommen ist. Die in Deutschland vorherrschende Gleichstellung von „konkreter Vermögensgefährdung“ und „Vermögensschaden“ wird für Österreich abgelehnt 64. 3. Gestaltung der Strafdrohungen Unterschiede bestehen auch hinsichtlich der Gestaltung der Strafdrohungen. In Polen und Deutschland sind die jeweiligen Grundtatbestände mit einer relativ hohen Strafdrohung versehen. Dies dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass für die einzelnen Delikte jeweils bloß eine einzige Wert- oder Schadensgrenze normiert ist. Im polnStGB beträgt die maximale Strafdrohung für den Grundtatbestand bei einer Reihe von Delikten fünf Jahre Freiheitsstrafe, bei einzelnen Delikten sogar acht Jahre. Die niedrigsten Strafrahmen der Grundtatbestände lauten auf Freiheitsstrafe bis zu zwei bzw. drei Jahren. Bei Übersteigen der Wertbzw. Schadensgrenze erhöht sich die maximale Strafdrohung dann auf das Eineinhalb- bis Vierfache der Strafobergrenze für den Grundtatbestand. Beispielsweise beträgt die Strafdrohung für die Qualifikation in Art. 294 §1 polnStGB das Zweifache der Grundstrafdrohung 65 vieler der erfassten Vermögensdelikte, nämlich Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren. Im dStGB ist die Grundstrafdrohung gegenüber dem Regelbeispiel meist halbiert. Sie lautet üblicherweise auf Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe und erhöht sich bei Eingreifen des Regelbeispiels auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Nur vereinzelt ist der Grundtatbestand mit einer niedrigeren Höchststrafe, nämlich einer dreijährigen Freiheitsstrafe, versehen. Die im öStGB übliche zweifache Grenzziehung hat drei unterschiedliche Strafrahmen zur Folge. Im Bereich der Vermögensdelikte lautet die Ausgangsstrafdrohung meist auf Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe 66. Bei Überschreiten der ersten Wert- oder Schadensgrenze kommt eine Strafdrohung von bis zu zwei oder drei Jahren Freiheitsstrafe zur Anwendung. Wird die zweite Wert- oder Schadensgrenze überschritten, sind – bei gleicher Ausgangsstrafdrohung und gleicher Höhe der Wert- bzw. Schadensgrenzen – die Unterschiede zwischen den einzelnen Vermögensdelikten gravierend: Während etwa bei Überschreiten der 50.000 €-Grenze der Strafrahmen für Schwere Sachbeschädigung, Unterschlagung oder Dauernde Sachentziehung Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren beträgt, ist für Schweren Diebstahl, Veruntreuung oder Schwe64

Kienapfel / Schmoller (Fn. 9) AllgVorbem Rz. 100, §146 Rz. 146, 154ff. Diese lautet meist auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. 66 Eine höhere Ausgangsstrafdrohung ist nur für die wenigen Vermögensdelikte vorgesehen, die mit einer einzigen Schadensgrenze versehen sind, wie z.B. §153d Abs. 1 öStGB (Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren). 65

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ren Betrug ein doppelt so hoher Strafrahmen (Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren) vorgesehen. Hier haben sich offenbar neben der Wert- oder Schadenshöhe deliktsspezifische Unterschiede auf die Bestimmung der Sanktionsdrohung ausgewirkt. Positiv zu vermerken ist, dass durch die zweifache Grenzziehung die Ausgangsstrafdrohung niedrig gehalten werden kann. Sie beträgt nur 1/10 bzw. 1/20 der maximal vorgesehenen Strafdrohung. Die Obergrenze des zweiten Strafrahmens liegt bei 2/5 bzw. 3/10 der möglichen Höchststrafe. 4. Zusammenrechnung der Wert- und Schadensbeträge? Bei Wert- und Schadensgrenzen taucht stets die Frage auf, ob die Beträge zusammengerechnet werden dürfen, wenn der Täter beispielsweise mehrere Sachen wegnimmt oder mehrere Personen durch betrügerische Handlungen schädigt. Unbestritten ist die Zusammenrechnung in den hier zu untersuchenden Ländern, soweit eine einzige Tat vorliegt. Werden etwa bei einem Diebstahl gleichzeitig oder zeitlich nacheinander mehrere Sachen weggenommen, deren Wert insgesamt über 3.000 € liegt, handelt es sich in Österreich um einen nach §128 Abs. 1 Z. 4 öStGB qualifizierten Diebstahl „an einer Sache, deren Wert 3.000 Euro übersteigt“. Das Wort „eine“ in §128 Abs. 1 Z. 4 öStGB ist nämlich nicht als Zahlwort, sondern als unbestimmter Artikel zu verstehen, und auch die Formulierung im Singular hindert nicht, die Wegnahme mehrerer Sachen als einen einzigen Diebstahl zu beurteilen 67. Keine Rolle spielt auch, ob verschiedene Personen geschädigt sind 68. Ebenso sind z.B. hinsichtlich eines besonders schweren Falls des Betrugs gem. §263 Abs. 3 Nr. 2 dStGB die Einzelschäden zusammenzurechnen, wenn der Täter in Handlungseinheit mehrere Personen insgesamt in „großem Ausmaß“ schädigt 69. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob eine Zusammenrechnung auch dann erfolgen kann, wenn der Täter durch mehrere rechtlich selbständige Taten eine Wertoder Schadensgrenze überschritten hat, z.B. durch mehrere Betrugstaten einen Gesamtschaden von über 50.000 € herbeigeführt hat. Eine Zusammenrechnung der bei den einzelnen Taten bewirkten Schäden ist nur zulässig, wenn dies gesetzlich vorgesehen ist, wie in §29 öStGB: Hat ein Täter mehrere Delikte derselben Art begangen, für die ziffernmäßig bestimmte Wert- oder Schadensgrenzen bestehen, ist nach dieser Regelung für die Ermittlung des gemeinsamen Strafrahmens die Summe der Werte oder Schadensbeträge maßgebend. Ohne die Zusammenrechnungsregel wäre nach dem grundsätzlichen Absorptionsprinzip des §28 Abs. 1 67

Hochmayr, SbgK §29 Rz. 7. Vgl. Kienapfel / Schmoller (Fn. 9) §127 Rz. 201. 69 Hefendehl, MK §263 Rz. 777; Kindhäuser, NK §263 Rz. 394; Tiedemann, in: Jähnke / Laufhütte / Odersky (Hrsg.) Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 11. Aufl. (33. Lfg. Juli 2000) §263 Rz. 298. 68

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öStGB ein Täter, der durch mehrere Taten zusammen eine Wert- oder Schadensgrenze überschreitet, erheblich besser gestellt als ein Täter, der dies durch eine einzige Tat erreicht. Hat z.B. ein Täter durch drei Diebstähle insgesamt Sachen im Wert von mehr als 3.000 € weggenommen, käme gem. §28 Abs. 1 öStGB ohne die Zusammenrechnungsregel nur die Strafdrohung für einen einfachen Diebstahl gem. §127 öStGB zur Anwendung, während ein Täter, der bei einer einzigen Gelegenheit Sachen im Wert von mehr als 3.000 € wegnimmt, nach dem sechsmal höheren Strafsatz der §§127, 128 Abs. 1 Z. 4 öStGB zu bestrafen ist. Erst die Zusammenrechnungsregel des §29 öStGB ermöglicht es, auch auf den dreifachen Diebstahl von Sachen im Wert von insgesamt mehr als 3.000 € den Strafsatz der §§127, 128 Abs. 1 Z. 4 öStGB anzuwenden. Eine Zusammenrechnung ist gem. §29 öStGB allerdings nur innerhalb derselben Deliktsart möglich, weil für die Wert- und Schadensqualifikationen der einzelnen Delikte unterschiedlich hohe Strafsätze vorgesehen sind 70. Das polnStGB enthält zwar keine Zusammenrechnungsregel, Art. 12 polnStGB ermöglicht aber eine weit reichende Zusammenfassung mehrerer Handlungen zu einer einzigen Tat. Nach dieser Regelung bilden mehrere Verhaltensweisen, die „in kurzen Zeitabständen“ mit einem schon im Vorhinein gefassten Vorsatz vorgenommen wurden, eine einzige Straftat. Soweit sich die Angriffe gegen ein persönliches Rechtsgut richten, ist zusätzlich erforderlich, dass es sich um ein und denselben Verletzten handelt. Die Voraussetzung der „kurzen Zeitabstände“ wird weit ausgelegt. Nach einigen Autoren kann der Zeitabstand zwischen den einzelnen Tathandlungen mehrere Tage oder Wochen betragen 71, der Oberste Gerichtshof sieht sogar zeitliche Abstände von mehreren Monaten als ausreichend an 72. Soweit es sich um eine einzige Straftat i.S. von Art. 12 polnStGB handelt, sind die Wert- bzw. Schadensbeträge zusammenzurechnen. Hat beispielsweise ein Arbeitnehmer über mehrere Wochen hinweg Sachen aus dem Materiallager seines Arbeitgebers entwendet, die zusammen die Wertgrenze von derzeit 152.000 PLN überschreiten, ist die Qualifikation des Art. 294 §1 polnStGB auf ihn anzuwenden. Mangels gesetzlicher Regelung erscheint hinsichtlich der Regelbeispiele des dStGB eine Addition der Wert- oder Schadensbeträge bei rechtlicher Selbständigkeit der Taten nicht zulässig. Denn selbst wenn der Täter z.B. durch mehrere Betrugstaten zusammen einen Vermögensverlust „großen Ausmaßes“ bewirkt, handelt es sich nicht um einen besonders schweren Fall eines Betrugs 73. Der Um70

Ausführlich zur Zusammenrechnungsregel Hochmayr, SbgK §29. Vgl. Marek, Komentarz: Kodeks karny (2007) S. 146; Wa˛sek, Komentarz: Kodeks karny, Bd. 1 (2000) S. 176. 72 Vgl. Beschluss des Obersten Gerichts vom 9.3.2006, SN- V KK 271/05, Rz. 3. Nach einer im Schrifttum vertretenen Ansicht kann entsprechend dem Wortlaut von Art. 6 KKS §6 (Steuerstrafgesetz) der Zeitraum bis zu sechs Monaten betragen; vgl. BudynKulik / Kozłowska-Kalisz / Kulik / Mozgawa, Kodeks karny. Praktyczny komentarz (2006) S. 42. 71

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stand, dass der Täter weitere Betrugstaten begangen hat, kann am Deliktscharakter der einzelnen Betrugstaten nichts ändern, mithin nicht aus einfachen Betrugstaten einen besonders schweren Fall eines Betrugs machen 74. 5. Relevanz für die sachliche Zuständigkeit? Im Unterschied zu Polen und Deutschland wirken sich in Österreich die Wertund Schadensgrenzen über die abgestuften Strafsätze auch auf die sachliche Zuständigkeit der Gerichte aus: Der Grundtatbestand der betroffenen Delikte fällt i.d.R. in die Zuständigkeit des Bezirksgerichts. Übersteigt der Wert der Sache oder der Schaden die Grenze von 3.000 €, ist der Einzelrichter des Landesgerichts zuständig. Bei Überschreiten der zweiten Grenze von 50.000 € wird die Straftat vor dem Landesgericht als Schöffengericht verhandelt, wenn der Strafsatz Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren beträgt. Beim niedrigeren Strafrahmen bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe bleibt es bei der Zuständigkeit des Einzelrichters 75. In dieser klaren Abgrenzung der Zuständigkeit wird einer der Vorteile der festen Wert- und Schadensgrenzen gesehen 76. III. Dogmatische Einordnung und deren Konsequenzen In dogmatischer Hinsicht besteht ein grundlegender Unterschied in den hier zu untersuchenden Ländern. Während die strafsatzerhöhenden Wert- und Schadensgrenzen in Polen und überwiegend auch in Österreich echte Deliktsqualifikationen darstellen, bilden sie in Deutschland Regelbeispiele. Wie zu zeigen sein wird, unterscheiden sich die Regelungen in den einzelnen Ländern vor allem in der Möglichkeit eines Versuchs. 1. Deliktsqualifikation Im Rahmen einer Qualifikation stellt die Überschreitung der Wert- oder Schadensgrenze ein Tatbestandsmerkmal dar, auf das sich der Vorsatz beziehen muss. Dabei werden in Österreich an den Vorsatz allerdings keine hohen Anforderungen gestellt. Nach §5 Abs. 1 öStGB reicht es aus, dass der Täter das Überschreiten der Grenze in seinen Eventualvorsatz aufnimmt. Auch braucht er nach h.M. keine 73 Kindhäuser, NK §263 Rz. 394: „Das Regelbeispiel betrifft die Schadensherbeiführung durch eine Tat“; vgl. auch Kuhlen, NK §335 Rz. 4; Puppe, NK §267 Rz. 118. 74 A.A. Lang ua, NStZ 2004, 533, die es für zulässig halten, aufgrund des hohen Gesamtschadens einen unbenannten besonders schweren Fall des Betrugs anzunehmen. 75 Siehe jeweils §30 Abs. 1, §31 Abs. 4 Z. 1, §31 Abs. 3 Z. 1 öStPO. 76 Hoinkes-Wilfingseder, LJZ 1986, 183f.; Kienapfel / Schmoller (Fn. 9) AllgVorbem Rz. 95.

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ziffernmäßig exakte Vorstellung vom Wert bzw. Schaden zu haben, vielmehr genüge eine bloß annähernde Vorstellung vom relevanten Wert bzw. Schaden 77. Diese Vorstellung müsse zudem nur in Form eines Mitbewusstseins vorliegen. Es wird also nicht verlangt, dass der Täter bei der Tat ausdrücklich an den hohen Wert oder Schaden denkt, sondern es reicht aus, dass er sofort um den hohen Wert oder Schaden wüsste, falls er danach gefragt würde 78. Für die Qualifikation des Art. 294 §1 polnStGB wird ein Bewusstsein des Täters dahin verlangt, dass es sich um „Vermögen bedeutenden Wertes“ handelt. Unklar ist allerdings, welche Auswirkungen eine für den Grundtatbestand erforderliche besondere Vorsatzform, wie die Zueignungsabsicht beim Diebstahl, hat. Nach einer Ansicht muss das qualifizierende Merkmal des „Vermögens bedeutenden Wertes“ von der Absicht rechtswidriger Zueignung umfasst sein 79. Nach einer anderen Ansicht reicht es aus, wenn dem Täter bewusst ist, dass der Gegenstand seiner Tat „Vermögen bedeutenden Wertes“ betrifft, und er dies billigend in Kauf nimmt 80. Da nach §15 öStGB jedes Vorsatzdelikt in Form des Versuchs verwirklicht werden kann, greift nach h.M. eine Wert- oder Schadensqualifikation bereits dann ein, wenn der Täter irrig davon ausgeht, dass es sich um eine entsprechend wertvolle Sache handelt bzw. ein entsprechend hoher Schaden herbeigeführt wird 81. In Polen tendiert man in diesen Fällen dazu, nur eine Strafbarkeit nach dem Grunddelikt anzunehmen. Als Begründung wird darauf verwiesen, dass nach Art. 13 §2 polnStGB ein untauglicher Versuch nur bei Untauglichkeit des Objekts oder des Tatmittels strafbar ist 82. An der Tat Beteiligte machen sich wegen der Wert- oder Schadensqualifikation strafbar, wenn sie an ihrer Verwirklichung mitwirken und sich ihr Vorsatz auf die Überschreitung der Grenze erstreckt. Dabei kommt es im österreichischen Einheitstätersystem nicht darauf an, ob sich auch der Vorsatz des unmittelbaren Täters auf das Überschreiten der Wert- oder Schadensgrenze bezieht, da die Strafbarkeit des Beteiligten grundsätzlich nicht akzessorisch ausgestaltet ist. Auch im polnischen Strafrecht hängt die Strafbarkeit des Beteiligten nicht vom Vorsatz des unmittelbaren Täters ab. Denn nach Art. 20 polnStGB ist jeder Beteiligte nach 77

OGH SSt 54/47; Kienapfel / Schmoller (Fn. 9) §126 Rz. 32, §128 Rz. 47 m.w.N. Für viele siehe nur Bertel, WK §128 Rz. 11. 79 Zoll / Da˛browska-Kardas / Kardas, Komentarz: Kodesks karny Cze˛´sc´ szczególna, § 294 Rz. 21. 80 Vgl. SN z 10 X 1974 r., III KR 95/74, OSN KW 1975 nr. 1 poz. 7. 81 Z.B. OGH SSt 62/31 (in dieser Entscheidung ging der OGH allerdings bedenklicherweise davon aus, ein Dieb wolle im Regelfall möglichst hohe Beute machen); Kienapfel / Schmoller (Fn. 9) §128 Rz. 24. A.A. Bertel / Schwaighofer (Fn. 59) §128 Rz. 5, denen zufolge es sich um einen straflosen absolut untauglichen Versuch handelt. 82 Wa˛sek, Komentarz: Kodeks Karny, §28 Rz. 21. 78

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seinem Vorsatz ohne Rücksicht auf die Strafbarkeit der übrigen Beteiligten zu bestrafen. 2. Erfolgsqualifikation Das österreichische Strafrecht kennt darüber hinaus Schadensgrenzen, die eine Erfolgsqualifikation bilden, sodass gem. §7 Abs. 2 öStGB Fahrlässigkeit ausreicht. Die Erfolgsqualifikation beim Unbefugten Gebrauch von Fahrzeugen greift dann ein, wenn der Schaden am Fahrzeug, an der Ladung oder durch den Verbrauch von Betriebsmitteln 3.000 € bzw. 50.000 € übersteigt. Eine systematische Auslegung ergibt, dass es sich dabei um eine bloße Erfolgsqualifikation handelt: Würde §136 Abs. 3 öStGB Vorsatz voraussetzen, wäre der Täter bei gleicher Schadenshöhe aufgrund der niedrigeren Strafdrohung des §136 Abs. 3 zweiter Fall öStGB (Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren) gegenüber dem Täter einer schweren Sachbeschädigung gem. §126 Abs. 2 öStGB (Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren) unangemessen privilegiert. Der in §136 Abs. 3 öStGB genannte Schaden wird deshalb als besondere Folge der Tat i.S. des §7 Abs. 2 öStGB eingestuft 83. Auch die bei der letzten Reform des Umweltstrafrechts eingeführten höheren Strafsätze in §180 Abs. 2, §181b Abs. 2 und §181d Abs. 2 öStGB, die eingreifen, falls der Schaden an einer fremden Sache, einem unter Denkmalschutz stehenden Gegenstand oder einem Naturdenkmal bzw. der bewirkte Beseitigungsaufwand 50.000 € übersteigt, stellen Erfolgsqualifikationen dar. Dies folgt aus der gegenüber der Schadensqualifikation des §126 Abs. 2 öStGB niedrigeren Strafdrohung sowie aus dem Umstand, dass die schweren Folgen bei den fahrlässigen Umweltdelikten in §181 Abs. 2, §181c Abs. 2 und §181e Abs. 2 öStGB mit gleichem Wortlaut umschrieben sind. Auch die Gesetzesmaterialien ordnen diese Tatbestände als Erfolgsqualifikationen ein 84. Ein Versuch der besonderen Folge ist nach überwiegender Ansicht nicht möglich 85. Allerdings wird regelmäßig eine Strafbarkeit wegen versuchter Schwerer Sachbeschädigung eingreifen, wenn der Vorsatz auf die Herbeiführung eines entsprechend hohen Schadens gerichtet ist. Wegen Beteiligung an einer Erfolgsqualifikation macht sich strafbar, wer selbst fahrlässig hinsichtlich der besonderen Folge handelt. 83

Kienapfel / Schmoller (Fn. 9) §136 Rz. 42 m.N. EB RV StRÄG 2006, 1326 BlgNR 22.GP, S. 15. So auch Aicher-Hadler, WK §180 Rz. 34; Bertel / Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht, Besonderer Teil II, 8. Aufl. (2008) §§180, 181 Rz. 12, §§181b, 181c Rz. 5. 85 OGH EvBl 1977/136; Bertel / Schwaighofer (Fn. 59) §84 Rz. 7; Burgstaller, WK §7 Rz. 32; Schmoller, JBl 1984, 654 (658f.). A.A. Kienapfel / Schroll, Studienbuch Strafrecht. Besonderer Teil I: Delikte gegen Personenwerte, 2. Aufl. (2008) §84 Rz. 22; Fuchs, Strafrecht. Allgemeiner Teil I, 7. Aufl. (2008) 28/26. 84

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3. Regelbeispiel Bei Ausgestaltung als Regelbeispiel führt die Überschreitung der Wert- oder Schadensgrenze nicht zwingend zur Anwendung des höheren Strafsatzes. Das Beispiel hat nur Indizwirkung dafür, dass die Tat besonders schwer ist. Der Richter kann bei der vorzunehmenden Gesamtbewertung zum Ergebnis kommen, dass aufgrund von Milderungsgründen trotz Verwirklichung des Regelbeispiels die Tat nicht als besonders schwer einzustufen ist. Die Verneinung eines besonders schweren Falls setzt demnach voraus, dass die Indizwirkung des Regelbeispiels durch besondere strafmildernde Umstände entkräftet wird 86. Die Regelbeispielstechnik ermöglicht es nach Ansicht der Rspr. auch bei Delikten, die nicht an Schadens- oder Wertgrenzen anknüpfen, einen unbenannten besonders schweren Fall anzunehmen, wenn es sich um eine außergewöhnlich wertvolle Sache handelt bzw. ein außergewöhnlich hoher Schaden herbeigeführt wurde. So hat der BGH die Entwendung von 2,2 Mio DM durch Amtsträger als besonders schweren Fall des Diebstahls beurteilt, obwohl §243 dStGB keine Wertgrenze vorsieht 87. Ein unbenannter besonders schwerer Fall könne allerdings nicht bereits deshalb bejaht werden, weil der Wert der Sache oder der Schaden besonders hoch ist, sondern es bedürfe hierfür einer Gesamtwürdigung aller Umstände, die für und gegen den Angeklagten sprechen 88. Dagegen sieht ein im Vordringen befindlicher Teil des Schrifttums in der Annahme eines unbenannten besonders schweren Falls eine Umgehung des Analogieverbots und hält den höheren Strafsatz nur in den benannten Fällen für anwendbar 89. Wie die Regelbeispiele dogmatisch einzuordnen sind, ist umstritten. Nach (noch) überwiegender Ansicht handelt es sich um Strafzumessungsgründe, auf die der Allgemeine Teil des dStGB keine direkte Anwendung findet 90. Hintergrund für diese Einordnung ist wohl, dass an bloße Strafzumessungsgründe geringere Anforderungen im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz gestellt werden als an 86 BGH NStZ 2004, 265 (266); NJW 2001, 2485 (2486). Im Fall Kanther / Weyrauch sah das Erstgericht die Indizwirkung des Regelbeispiels des „Vermögensverlusts großen Ausmaßes“ dadurch als widerlegt an, dass es den Angeklagten nicht um ihre persönliche Bereicherung ging; siehe BGH NJW 2007, 1760 (1762). Allgemein zur Indizwirkung der Regelbeispiele Eisele, Die Regelbeispielsmethode: Tatbestands- oder Strafzumessungslösung? JA 2006, 309 (310). 87 BGHSt 29, 319 (322ff.). 88 BGH NStZ-RR 2007, 193. Allgemein zu unbenannten besonders schweren Fällen Eisele, JA 2006, 310. 89 Calliess, Der Rechtscharakter der Regelbeispiele im Strafrecht, NJW 1998, 929 (934f.); Gropp, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 3. Aufl. (2005) 3/45t; Zieschang, Besonders schwere Fälle und Regelbeispiele – ein legitimes Gesetzgebungskonzept? Jura 1999, 563. Ablehnend gegenüber der Entscheidung des BGH (Fn. 87) auch Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik in Deuschland und Europa, ZStW 2005, 766 (780). 90 Für viele siehe nur Lackner / Kühl, StGB §46 Rz. 11.

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einen Qualifikationstatbestand 91. Nichtsdestotrotz werden die Regelbeispiele auch von den Vertretern dieser Auffassung im Ergebnis meist wie Tatbestandsmerkmale behandelt, wobei man sich auf die „Tatbestandsähnlichkeit“ der Beispiele beruft 92. Nach einer anderen vordringenden Meinung sind die Regelbeispiele als Tatbestandsmerkmale einzuordnen, sodass alle Regeln des Allgemeinen Teils auf sie direkt anzuwenden sind 93. Nach beiden Auffassungen ist man sich darüber einig, dass sich der Vorsatz auf die Voraussetzungen des Regelbeispiels – also z.B. das „große Ausmaß“ des Vermögensverlusts – erstrecken muss 94. Unterschiedliche Ansichten bestehen zur Möglichkeit des Versuchs eines Regelbeispiels. Nach den Vertretern jener Ansicht, welche die Regelbeispiele als Strafzumessungsgründe deutet, hängt der Versuch eines Regelbeispiels davon ab, ob das Grunddelikt vollendet oder lediglich versucht ist. Im Fall der Vollendung des Grundtatbestands lehnt die h.M. die Annahme eines besonders schweren Falls ab 95. Ist auch der Grundtatbestand im Versuchsstadium stecken geblieben, wurde von der ursprünglich h.M. das Vorliegen eines Versuchs in einem besonders schweren Fall ebenfalls verneint 96. Der BGH dagegen hat in einer solchen Konstellation das Regelbeispiel bejaht, wobei er sich insbesondere auf dessen Tatbestandsähnlichkeit berufen hat 97. Diese Ansicht wird mittlerweile von weiten Teilen des Schrifttums geteilt 98. Bei Auslegung als Tatbestandsmerkmal ist ein Versuch des Regelbeispiels in allen Konstellationen problemlos möglich 99. Zu beachten ist aber, dass bei jenen Regelbeispielen, die einen „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ voraussetzen, nach überwiegender Ansicht eine schadensgleiche Vermögensgefährdung noch nicht als „Vermögensverlust“ iS des Regelbeispiels gilt 100. Um diese Wertung des Gesetzgebers nicht zu unterlaufen, wird bei diesen Regelbeispielen die Möglichkeit eines Versuchs abgelehnt 101. 91 Vgl. Kindhäuser, Zur Anwendbarkeit der Regeln des Allgemeinen Teils auf den besonders schweren Fall des Diebstahls, FS für Triffterer (1996) S. 123 (125). Siehe jedoch nunmehr BVerfG HRRS 2008 Nr. 830. 92 Eisele, JA 2006, 311. 93 Z.B. Calliess NJW 1998, 929 (933 ff.); Eisele, JA 2006, 312; Gropp, AT 3/45t; Kindhäuser, FS für Triffterer, S. 127. 94 Nachweise bei Eisele, JA 2006, 312f. 95 BGH NStZ-RR 1997, 293; Wessels / Hillenkamp, Strafrecht. Besonderer Teil 2, 31. Aufl. (2008) Rz. 205. Für weitere Nachweise siehe Eisele (Fn. 19) S. 315 Fn. 174. 96 Nachweise bei Kindhäuser, FS für Triffterer, S. 133. 97 BGHSt 33, 370 (374). Siehe auch BayObLG NStZ 1997, 442. 98 Nachweise bei Eisele (Fn. 19) S. 310 Fn. 144. 99 Z.B. Eisele, JA 2006, 314. 100 Fischer, StGB §263 Rz. 122a m.N. 101 BGH StV 2007, 132; Beukelmann, BeckOK StGB §263 Rz. 105; Fischer, StGB §263 Rz. 122a.

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Umstritten ist auch, ob für die Teilnahme an einem Regelbeispiel die Akzessorietätsregeln der §§26, 27 dStGB gelten. Der BGH nimmt für jeden Teilnehmer eine gesonderte Bewertung der Tat vor, ohne auf die Akzessorietätsregeln zurückzugreifen. Bei der Gesamtwürdigung seien neben der Haupttat vor allem Umfang und Gewicht des Tatbeitrags, das Ausmaß der Schuld des Teilnehmers und der Grad seiner Abhängigkeit vom Haupttäter zu berücksichtigen 102. Im Schrifttum befürworten die Vertreter der Strafzumessungslösung eine „quasi-akzessorische“ Haftung des Teilnehmers für tatbezogene Regelbeispiele, die aber wieder dadurch gelockert wird, dass abschließend doch eine Gesamtwürdigung erfolgen soll 103. Nur nach den Vertretern der Tatbestandslösung kann dem Teilnehmer kein größeres Unrecht als dem Täter zugerechnet werden; der Teilnehmer hafte für tatbezogene Regelbeispiele akzessorisch nach den §§26, 27dStGB. Seine Strafbarkeit hängt dieser Ansicht zufolge also davon ab, dass der Haupttäter den besonders schweren Fall vorsätzlich verwirklicht hat und sich der Vorsatz des Teilnehmers darauf erstreckt hat 104. IV. Vor- und Nachteile der Regelungsmodelle 1. Unbestimmtheit bloß verbal umschriebener Wert- oder Schadensgrenzen Ein grundlegendes Problem der Regelbeispiele des dStGB, die auf ein „großes Ausmaß“ oder einen „bedeutenden Wert“ abstellen, liegt in ihrer mangelnden Bestimmtheit. Wie unter II.2. aufgezeigt, ist es ohne Anhaltspunkt in der Gesetzesbegründung nahezu unmöglich, die unbestimmten Begriffe in konkrete Beträge umzusetzen. Die früher in §370a dAO vorgesehene Strafbestimmung, die denjenigen mit höherer Strafe bedrohte, der eine Steuerhinterziehung gewerbsoder bandenmäßig beging und dadurch Steuern „in großem Ausmaß“ verkürzte, wurde aus diesem Grund vom BGH für verfassungswidrig gehalten. Der BGH kritisierte, dass die Gesetzesfassung „die Auslegung dem jeweiligen Rechtsanwender [überlässt], der gezwungen ist, die Grenze zum Verbrechenstatbestand ... je nach seinem wirtschaftlichen Vorverständnis und dem von ihm herangezogenen rechtlichen Anknüpfungspunkt bei einem gegriffenen Hinterziehungsbetrag zu ziehen“ 105. Die Strafbestimmung wurde schließlich wegen dieser (und weiterer) Bedenken, die sich im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot stellten, aufgehoben 106. Gegen gleichermaßen unbestimmte Regelbeispiele hegt der BGH keine verfassungsrechtlichen Bedenken, da an bloße Strafzumessungs-

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BGHSt 29, 239 (244). Z.B. Lackner / Kühl, StGB §46 Rz. 16. Vgl. Eisele, JA 2006, 315. Z.B. Kindhäuser, FS für Triffterer, S. 128 ff. BGH NJW 2004, 2990 (2991); NStZ-RR 2005, 53 (55 f.). Gesetz vom 21.12.2007, BGBl I 3198; BT-Drucks. 16/5846, S. 74.

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regeln, wie sie Regelbeispiele darstellten, geringere Bestimmtheitsanforderungen zu stellen seien 107. Diese Auffassung ist jedoch in Anbetracht einer jüngst ergangenen Entscheidung des BVerfG nicht mehr haltbar, in der festgestellt wird, dass auch „Strafzumessungsregeln, die einen erhöhten Strafrahmen – beispielsweise – an das Vorliegen eines ‚besonders schweren Falles‘ knüpfen, ... am Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen sind“ 108. Auch wenn es wenig konsequent erscheint, dass das BVerfG keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen unbenannte besonders schwere Fälle hegt 109, bringt die Entscheidung deutlich zum Ausdruck, dass jedenfalls auf benannte Regelbeispiele das Bestimmtheitsgebot Anwendung findet, selbst wenn diese als bloße Strafzumessungsregel eingeordnet werden. Daher gelten die gegenüber dem früheren §370a dAO geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken auch für die hier untersuchten Regelbeispiele, jedenfalls soweit sich nicht einmal in der Gesetzesbegründung ein Anhaltspunkt für die Präzisierung des Regelbeispiels findet 110. 2. Unklare Dogmatik der Regelbeispiele Als ein weiterer Nachteil des Regelungsmodells im dStGB erweist sich die Regelbeispielstechnik. Regelbeispiele werfen gravierende dogmatische Probleme auf. Zusätzlich zu den oben skizzierten Problemen, die sich im Bereich der Versuchs- und der Beteiligungslehre stellen (III.3.), ist umstritten, wie Regelbeispiele hinsichtlich der Konkurrenzen zu handhaben sind 111. Im Gegensatz dazu ist die dogmatische Behandlung von Qualifikationen weitgehend gesichert. Die Ausgestaltung als Qualifikationen bedeutet daher eine deutliche Vereinfachung der Rechtsanwendung (vgl. III.1. und 2.). 3. Interne Ungerechtigkeiten bei betragsmäßig fixierten Wert- oder Schadensgrenzen Ein Kritikpunkt an betragsmäßig bestimmten Wert- und Schadensqualifikationen lautet, dass diese zu stark am Erfolg ausgerichtet seien. Dabei hängt es oft nur vom Zufall ab, ob der Täter einen hohen oder einen niedrigen Schaden herbeiführt. So ist für die Schadenshöhe bei einem Diebstahl meist entscheidend, wie viele Wertsachen der Täter vorfindet 112. 107

NJW 2004, 2990 (2991); BGHSt 48, 360. Beschluss vom 01. 09. 2008, HRRS 2008 Nr. 830 Rz. 12. 109 HRRS 2008 Nr. 830 Rz. 12 und 25. 110 Vgl. Dierlamm, MK §266 Rz. 259: das Regelbeispiel gem. §263 Abs. 3 Nr. 2 dStGB sei „zu unbestimmt und damit verfassungswidrig“. 111 Siehe Eisele, JA 2006, 316; Kindhäuser, FS für Triffterer, S. 135f. 108

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Dem Zufallsmoment kommt indessen auch bei anderen Strafbestimmungen, deren Strafhöhe vom Ausmaß des Erfolgs abhängt, große Bedeutung zu. Beispielsweise ist es oft nur auf zufällige Geschehensabläufe zurückzuführen, ob ein Täter wegen einer schweren oder einer einfachen Körperverletzung zu bestrafen ist. Ein spezifisches Problem fester Wert- und Schadensgrenzen besteht jedoch darin, dass der Unterschied im Grenzbereich zwischen dem schweren und dem leichten Delikt nur minimal ist: Er beträgt die kleinste geltende Währungseinheit 113. Vom Unwert her macht es jedoch keinen Unterschied, ob jemand einen Betrugsschaden von 50.000 €, 50.001 € oder bis zu einigen tausend Euro mehr herbeiführt. Im ersten Fall beträgt der Strafsatz in Österreich Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, während im zweiten Fall ein Strafrahmen von einem bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe zur Anwendung kommt. Wegen eines Euros mehr erhöht sich also die Höchststrafe um mehr als das Dreifache, zudem greift eine einjährige Mindeststrafe ein. Das gleiche Problem stellt sich hinsichtlich der Wert- und Schadensgrenzen des polnStGB. Wer Sachen im Wert von bis zu 152.000 PLN stiehlt, ist mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen, beträgt der Wert der Diebesbeute auch nur einen Złoty mehr, kommt eine Strafdrohung von einem bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe zur Anwendung. Auch für Polen hat daher die Feststellung Gültigkeit: „Die Konsequenz, dass ein einziger Euro [Złoty] mehr oder weniger über den Strafsatz entscheidet, erscheint in hohem Maß fragwürdig und verleiht derartigen Vermögensdelikten einen ‚glücksspielartigen‘ Charakter“ 114. Bei fixen Wert- und Schadensgrenzen lässt sich dieses Problem nicht völlig vermeiden, weil die Grenze bei einem bestimmten Betrag angesetzt werden muss. Die damit verbundenen Ungerechtigkeiten können nur im Rahmen der Strafzumessung abgemildert werden, wie am Beispiel des öStGB aufgezeigt werden soll: Ein geringfügiges Überschreiten der Qualifikationsgrenze ist als strafmildernd zu berücksichtigen 115. Bei einer positiven spezialpräventiven Prognose kann im Wege einer außerordentlichen Strafmilderung gem. §41 öStGB auch die einjährige Mindeststrafe unterschritten werden 116. Ferner kommt die Umwandlung in 112 Vgl. EB RV 1971, 30 BlgNR 13.GP, S. 265; Kienapfel / Schmoller (Fn. 9) AllgVorbem Rz. 89; Wegscheider, Echte und scheinbare Konkurrenz (1980) S. 117. 113 EB RV 1971 (Fn. 112). 114 Kienapfel / Schmoller (Fn. 9) AllgVorbem Rz. 89; vgl. auch EB RV 1971 (Fn. 112). 115 Z.B. OGH 10 Os 32/85; 11 Os 200/85; 11 Os 122/86; 13 Os 29/86; 11 Os 18/91. Das Ausmaß der Überschreitung betrug zwischen umgerechnet 290 € und 2.544 €. Gegenteilig allerdings z.B. OGH 9 Os 83/86: ein geringfügiges Überschreiten einer Qualifikationsgrenze stelle keinen Milderungsgrund dar. 116 Mayerhofer, Das österreichische Strafrecht. Erster Teil: Strafgesetzbuch, 5. Aufl. (2000) §41 E 3e; Flora, WK §41 Rz. 1 ff, insb. Rz. 3 und 9. Für eine außerordentliche Strafmilderung reicht u.U. bereits das Vorliegen eines einzigen schwerwiegenden Milderungsgrunds; Fabrizy, Strafgesetzbuch. Kurzkommentar, 9. Aufl. (2006) §41 Rz. 5.

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eine Geldstrafe gem. §37 öStGB in Betracht 117. De lege ferenda ist sowohl für das öStGB als auch für das polnStGB eine Senkung der einjährigen Mindeststrafdrohung anzuregen 118. Mit unbestimmten Begriffen umschriebene Wert- oder Schadensgrenzen, wie sie im dStGB verwendet werden, wären in dieser Hinsicht grundsätzlich flexibler. Wie unter II.2. aufgezeigt, versucht man aber auch für diese aus Gründen der Rechtssicherheit und um das Eingreifen der Deliktsfolgen besser vorhersehbar zu machen, eine bestimmte Untergrenze zu finden. Daher kann auch hier ein Euro mehr oder weniger über den anzuwendenden Strafsatz entscheiden. So wird ein Vermögensverlust großen Ausmaßes ab einem Betrugsschaden von 50.000 € angenommen, macht der Schaden einen Euro weniger aus, ist das Regelbeispiel nicht verwirklicht. Eine größere Flexibilität besteht nur insoweit, als es sich um Regelbeispiele handelt. Deshalb kann bei Vorliegen von Milderungsgründen trotz eines Betrugsschadens von 50.000 € ein besonders schwerer Fall verneint werden. Das aber ist eine Konsequenz der Ausgestaltung als Regelbeispiel und hat mit der unbestimmten Schadensgrenze beim Betrug nichts zu tun. Von einer Umgestaltung von Qualifikationen in Regelbeispiele ist jedoch angesichts der umstrittenen dogmatischen Handhabung abzuraten. 4. Inflationäre Verschärfung des Strafrechts bei betragsmäßig fixierten Wert- oder Schadensgrenzen Ein weiterer Nachteil zahlenmäßig fixierter Wert- und Schadensgrenzen besteht darin, dass die jeweiligen Qualifikationen mit fortschreitender Inflation immer strenger werden 119. Fixe Wert- und Schadensgrenzen erfordern deshalb eine regelmäßige Anpassung an die Inflation. Diesem Erfordernis ist der österreichische Gesetzgeber bisher nur unzureichend nachgekommen. Seit Inkrafttreten des öStGB am 01.01.1975 wurden die Wert- und Schadensgrenzen lediglich dreimal angehoben. Ursprünglich betrugen die Grenzen 5.000 ATS und 100.000 ATS 120. Durch das Strafrechtsänderungsgesetz 1987 121 wurden sie auf das Fünffache, nämlich 25.000 ATS und 500.000 ATS 122, erhöht. Dabei handelte es sich allerdings nicht um eine bloße Anpassung an die Geldwertentwicklung, sondern um eine überproportionale Erhöhung der Grenzen, die deshalb vorgenommen wurde, „um 117

Vgl. OGH 11 Os 122/86. In Deutschland beträgt die Untergrenze des Strafrahmens bei einem Vermögensverlust großen Ausmaßes sechs Monate Freiheitsstrafe. 119 Kienapfel / Schmoller (Fn. 9) AllgVorbem Rz. 92; Medwed, Zur Problematik der Wertqualifikationen im österreichischen Strafrecht, ÖJZ 1973, 632; Stotter (Fn. 29) S. 27; Wegscheider (Fn. 112) S. 117. 120 Umgerechnet etwa 363 € und 7.267 €. 121 BGBl 1987/605. 122 Umgerechnet 1.818 € und 36.337 €. 118

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einer Tendenz zur Überbewertung des Wertes oder Schadens gegenüber anderen Strafzumessungsgründen entgegenzuwirken und um der nicht selten geäußerten Kritik Rechnung zu tragen, Vermögensdelikte würden von den Gerichten im Verhältnis zu den Straftaten gegen Leib und Leben usw. zu streng geahndet“ 123. Der Gesetzgeber hat sich mit diesem Sprung über die ursprünglichen Grenzen von 1975 kriminalpolitisch hinweggesetzt, weshalb die nachfolgenden Anpassungen an den Grenzen des Strafrechtsänderungsgesetzes 1987 zu messen sind 124. Das Strafrechtsänderungsgesetz 2001 125 stellte die Grenzen auf „runde“ Euro-Beträge um, nämlich 2.000 € und 40.000 €, ohne die Geldentwertung seit 1987 abzudecken. Erst durch das Budgetbegleitgesetz 2005 126 wurden die Beträge auf 3.000 € und 50.000 € aufgestockt. Im Vergleich zur letzten tatsächlichen Erhöhung der Grenzen durch das Strafrechtsänderungsgesetz 1987, die im März 1988 in Kraft getreten war, hatte sich der Geldwert bis Juli 2004, dem Zeitpunkt der Planung der Gesetzesänderung, um 44,8% verringert 127. Die Anhebung auf 3.000 € ging sogar über eine reine Inflationsanpassung hinaus 128. In Bezug auf den höheren Betrag von nunmehr 50.000 € wurde jedoch nicht einmal die Inflationsrate abgedeckt. Bei Berücksichtigung der Inflationsrate hätte die Grenze auf gerundet 53.000 € 129 erhöht werden müssen. Die Regierungsvorlage sah insoweit von einer Anpassung an die Inflation bewusst ab und beschränkte sich ohne Angabe von Gründen auf eine „moderate Annäherung“ an die Geldwertentwicklung 130. Die untere Grenze von 3.000 € trägt der Inflationsentwicklung bis heute (Stand: August 2008) Rechnung 131, die obere Grenze wäre dagegen im August 2008 bereits bei gerundet 58.000 € anzusetzen gewesen 132. 123

AB StRÄG 1987, BlgNR 27.GP IA 2/A AB 359, S. 5. Der Verbraucherpreisindex hat sich von Januar 1975 bis August 2008 um 181,5% verändert (Basis: Verbraucherpreisindex 1966). Einem Betrag in Höhe von 5.000 ATS vom Januar 1975 entsprach im August 2008 ein Betrag von 1.023 €, ein Betrag in Höhe von 100.000 ATS vom Januar 1975 hatte im August 2008 einen Wert von 20.457 €. Quelle: Statistik Austria, Wertsicherungsrechner, www.statistik.at/Indexrechner/Controller. 125 BGBl I 2001/130. 126 BGBl I 2004/136. 127 (Basis: VPI 1986). Die Regierungsvorlage geht von einer Steigerung des Verbraucherpreisindexes um 48,3% aus; EB RV Budgetbegleitgesetz 2005, 649 BlgNR 22.GP, S. 6. 128 Einem Betrag in der Höhe von 25.000 ATS vom März 1988 entsprach im Juli 2004 ein Betrag von 2.630,76 €. 129 Einem Betrag in der Höhe von 500.000 ATS vom März 1988 entsprach im Juli 2004 ein Betrag von 52.615,13 €. 130 EB RV BudgetbegleitG 2005 (Fn. 127). Eine parlamentarische Enquete-Kommission zum Thema „Die Reaktion auf strafbares Verhalten in Österreich, ihre Angemessenheit, ihre Effizienz, ihre Ausgewogenheit“ hatte hingegen eine Erhöhung auf 5.000 € sowie 200.000 € empfohlen; siehe dazu Birklbauer, Das StrÄG 2001 und die strafrechtliche Enquete-Kommission, juridikum 4/01, 164 (165). 131 Einem Betrag in der Höhe von 25.000 ATS vom März 1988 entsprach im August 2008 ein Betrag von 2.892,38 €. 124

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Das mangelnde Problembewusstsein des österreichischen Gesetzgebers, das wohl eine ebenso lange Tradition wie die zahlenmäßig fixen Wert- und Schadensgrenzen selbst hat 133, ist zu kritisieren. Der österreichische Gesetzgeber gibt die Festlegung der Sanktionsdrohungen aus der Hand, indem er es zulässt, dass die wirtschaftliche Entwicklung Teile des Strafrechts immer strenger macht. Ein Straftäter, der im Januar 1975 einen Diebstahl an einer Sache im Wert von knapp über 100.000 ATS beging, hätte im Februar 1988 Sachen im Wert von über 176.000 ATS stehlen müssen, um denselben Schaden zu bewirken. Die Wertgrenze von 500.000 ATS vom März 1988 wäre im März 2008 eigentlich erst bei Wegnahme von Sachen im Wert von über 788.000 ATS (57.266 €) erreicht worden. Anders ausgedrückt: Ein Straftäter, der im März 2008 einen Diebstahl an Sachen im Wert von knapp über 50.000 € beging, hätte im März 1988 die damalige höchste Wertgrenze von 500.000 ATS um mehr als 63.000 ATS unterschritten. Der auf ihn anzuwendende Strafsatz hätte weniger als ein Drittel des auf ihn im März 2008 anzuwendenden Strafsatzes betragen. Die Beispiele machen deutlich, wie wichtig es ist, dass bereits im Gesetz selbst Vorsorge für eine regelmäßige Anpassung der Wert- und Schadensgrenzen an Geldwerterhöhungen getroffen wird. Die Grenzen sind an einem Maßstab auszurichten, der die Inflation berücksichtigt. Als Maßstab kommt insbesondere ein gesetzlicher Mindestlohn in Betracht, der regelmäßig an die Inflation angepasst wird. In Polen sollten daher die Wert- und Schadensgrenzen an den flexiblen, jährlich auszuhandelnden Mindestlohn geknüpft werden statt an die starre Grenze des Art. 25 des Gesetzes über den Mindestlohn. In Ländern wie Deutschland und Österreich, in denen es (noch) keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt, bietet sich eine Anbindung an den Verbraucherpreisindex an 134. Empfehlenswert erscheint, eine regelmäßige Überprüfung der Wert- und Schadensgrenzen durch den Justizminister vorzusehen, der die aktuelle Höhe der Grenzen durch Verordnung feststellen und eine Aufrundung auf drei Dezimalstellen vornehmen sollte 135. Die Festsetzung durch Verordnung vermeidet den sonst nötigen Rechenaufwand der Rechtsanwender sowie „unrunde“ Wert- und Schadensgrenzen; zudem macht sie das Eingreifen der höheren Strafsätze besser vorhersehbar. 132 Einem Betrag in der Höhe von 500.000 ATS vom März 1988 entsprach im August 2008 ein Betrag von 57.847,58 €. 133 Zur höchst schleppenden Vornahme von „Nachziehungen“ der Vorgängerregelungen des heutigen öStGB bereits Medwed, ÖJZ 1973, 633. 134 Für Beispiele aus der österreichischen Gesetzgebung siehe §108f Abs. 3 ASVG; Art. 2 §2 Abs. 3 ParteienG; §1 Abs. 2a PensionskassenG. Für eine Bindung der Wert- und Schadensgrenzen an den Verbraucherpreisindex auch Medwed, ÖJZ 1973, 633. Ablehnend wegen der Unübersichtlichkeit solcher Wert- und Schadensgrenzen Wegscheider (Fn. 112) S. 117. 135 Eine infolge Aufrundung vorweggenommene Erhöhung der Grenzen könnte bei der nächsten Anpassung miteingerechnet werden.

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Eine regelmäßige Anpassung an Geldwerterhöhungen hat im Übrigen auch den Vorteil, dass sich Ungerechtigkeiten zwischen Straftätern, die kurz vor und nach einer Anpassung der Wert- und Schadensgrenzen verurteilt werden, gegenüber einer nur selten erfolgenden gesetzlichen Anpassung gering halten lassen 136. Die unbestimmte Umschreibung der Grenzen in Deutschland würde es der Rspr. ermöglichen, die Grenzen selbständig an die Inflationsentwicklung anzupassen. Allerdings scheint sich bisher weder die Rspr. noch die Kommentarliteratur der Notwendigkeit einer solchen Anpassung bewusst geworden zu sein. Nur vereinzelt wird in dieser Möglichkeit gerade der Zweck der unbestimmten Formulierung gesehen 137. Wie dargestellt 138, geht die heute weitgehend gesicherte Grenze von 50.000 € beim Betrug auf den in der Gesetzesbegründung zum 6. Strafrechtsreformgesetz genannten Betrag von 100.000 DM zurück, wobei sich die Gesetzesbegründung wiederum auf die Kommentierung von Dreher / Tröndle zu §264 Abs. 2 Nr. 1 dStGB stützt. Die Grenze von 100.000 DM findet sich bei Dreher / Tröndle erstmals in der 37. Auflage des Kommentars aus dem Jahre 1977 139. Inflationsbereinigt hätte dieser Grenze im Jahre 1997, aus dem die Gesetzesbegründung stammt, ein Betrag von 175.212 DM entsprochen 140. Im August 2008 hatte der Betrag einen Wert von 93.143 €. Berücksichtigt man die Entwicklung der Inflationsrate seit dem Jahre 1977, müsste die Grenze zur Zeit also bei mindestens 93.000 € angesetzt werden. Demgegenüber nimmt die aktuelle Auflage des Kommentars, auf den die Grenzziehung letztlich zurückgeht, mit der h.M. ein „großes Ausmaß“ bereits ab einem Betrag von 50.000 € an 141. Diese Diskrepanz verdeutlicht die Notwendigkeit, die Wert- und Schadensgrenzen regelmäßig an die Inflationsrate anzupassen. Schließlich ist nicht anzunehmen, dass die betreffenden Regelbeispiele heute bewusst „doppelt so streng“ wie im Jahre 1977 gehandhabt werden ... V. Folgerungen und Regelungsvorschlag Strafsatzerhöhende Wert- und Schadensgrenzen tragen dem Umstand Rechnung, dass der Erfolgsunwert als die am leichtesten fassbare Größe in der Praxis der Strafzumessung eine entscheidende Rolle spielt 142. Sie schaffen einen verbind136

Zu diesem nach der derzeitigen österreichischen Regelung bestehenden Problem Kienapfel / Schmoller (Fn. 9) AllgVorbem Rz. 92. 137 Puppe, NK §267 Rz. 117. 138 Bei Fn. 35. 139 §264 Rz. 31. 140 Quelle: Statistisches Bundesamt; Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte (Basis: 1995). 141 Fischer, StGB §264 Rz. 46. 142 Vgl. dazu Ebner, WK §32 Rz. 76.

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lichen Rahmen für die Strafzumessung und fördern dadurch die Einheitlichkeit des abstrakt nur schwer zu determinierenden Strafzumessungsvorgangs. Dieser Vorteil spricht dafür, strafsatzerhöhende Wert- oder Schadensgrenzen bei all jenen Delikten vorzusehen, bei denen der Wert des Tatgegenstands oder der verschuldete Schaden ein gewichtiges Strafzumessungskriterium darstellt. Die Grenzen sollten im Gesetz betragsmäßig bestimmt und als Qualifikationen ausgestaltet werden. Die unbestimmt umschriebenen Grenzen des dStGB stellen die Rechtsanwendung vor die nahezu unlösbare Frage, bei welchem Betrag die Grenze für ein „großes Ausmaß“ oder für einen „bedeutenden Wert“ gezogen werden soll. Soweit sich auch in den Gesetzesmaterialien kein Hinweis auf einen bestimmten Betrag findet, kann die Grenzziehung nur willkürlich erfolgen. Der einzige Vorteil der unbestimmt umschriebenen Regelbeispiele gegenüber den Wertund Schadensqualifikationen des polnStGB und des öStGB liegt darin, dass es zu einer Inflationsanpassung keiner Gesetzesänderung bedarf; dieser Vorteil wurde jedoch bislang von der Rechtsanwendung nicht genutzt, die über Jahrzehnte bei denselben Grenzen bleibt. Angesichts der Unklarheiten, wie Regelbeispiele dogmatisch zu behandeln sind, ist der Ausgestaltung der Wert- und Schadensgrenzen als Qualifikationen der Vorzug zu geben. Um zu verhindern, dass die betreffenden Strafbestimmungen mit fortschreitender Inflation immer strenger werden, empfiehlt sich, gesetzlich bestimmte Wertund Schadensgrenzen an eine Bezugsgröße zu binden, die Geldwerterhöhungen Rechnung trägt. Für Polen bietet sich eine Koppelung an den jährlich festgelegten gesetzlichen Mindestlohn an (statt wie im geltenden polnStGB an die fixe Untergrenze des gesetzlichen Mindestlohns von derzeit 760 PLN). Soweit wie in Deutschland und Österreich ein an die Inflationsrate regelmäßig angepasster Mindestlohn (noch) nicht existiert, sollten die Wert- und Schadensgrenzen an den Verbraucherpreisindex angebunden werden. Dabei sollten die aktuellen Grenzbeträge jährlich durch Verordnung festgesetzt werden, um „unrunde“ Beträge zu vermeiden und das Eingreifen der höheren Strafsätze besser vorhersehbar zu machen. Für das polnStGB sowie das öStGB wird darüber hinaus ein Absenken der einjährigen Mindeststrafdrohung bei Eingreifen der (höchsten) Wert- bzw. Schadensgrenze angeregt, um Ungerechtigkeiten im Grenzbereich zwischen dem leichten und dem schweren Fall zu verringern. Empfehlenswert erscheint auch die im öStGB übliche zweifache Grenzziehung innerhalb eines Delikts durch die Verwendung von zwei Wert- bzw. Schadensgrenzen. Durch die damit verbundene dreifache Abstufung der Strafdrohungen kann die Ausgangsstrafdrohung sehr niedrig gehalten werden, was der Einheitlichkeit der Strafzumessung dient.

Normativer Status der Umstände, die die Rechtswidrigkeit der Tat im polnischen Strafrecht „ausschließen“ Tomasz Kaczmarek Diesen Beitrag widme ich dem verehrten Jubilar als Autor bedeutender Arbeiten, insbesondere zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei Sportunfällen. I. Als Umstände, welche die Rechtswidrigkeit der Tat „ausschließen“, werden in jüngerer Zeit die Notwehr, der Notstand, das Handeln in den Grenzen der dienstlichen Berechtigungen und Pflichten sowie ähnliche Situationen des Handelns bezeichnet. Im polnischen Schrifttum hat sich auf Wolter zurückgehend auch der Begriff der Kontratypen 1 etabliert (obwohl dieser Begriff nicht immer in der Bedeutung gebraucht wird, die Wolter ihm selbst verliehen hatte). Die1 Siehe Wolter, Zu Kontratypen und zum Mangel an sozialer Schädlichkeit der Tat (poln.), PiP 1963, Nr. 10, S. 506ff., ders., Die Lehre von der Straftat (poln.), 1973, S. 163ff. Diese allgemein gebrauchte Bezeichnung geht meistens nicht mit der Akzeptanz einher, Kontratypen als sog. negative Tatbestandsmerkmale zu interpretieren. Die Idee der negativen Tatbestandsmerkmale stellte eine Art „Renner“ in der deutschen Dogmatik dar. Formuliert wurde sie vor über 100 Jahren von Merkel und findet bis heute unter den hervorragenden Vertretern der Doktrin sowohl Anhänger, u.a. Roxin, Baumann, oder Samson, wie auch ausgesprochene Gegner, zu denen z.B. Jescheck, vorher Welzel und weiterhin Hirsch gehören. In seiner über 359 Seiten starken Monographie (Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960) stellt Hirsch Voraussetzungen, Entwicklung und ´ Kritik dieser Theorie dar. Im polnischen Strafrecht hat Sliwi´ nski deutlich an die negativen Merkmale angeknüpft, später wurde diese Theorie wesentlich von Wolter weiterentwickelt. Ausgangspunkt seiner Überlegung ist der Grundsatz, dass die Verwirklichung von Tatbestandsmerkmalen „in der Regel“ rechtswidrig ist, doch Ausnahmen das Verhalten rechtfertigen können. Wolter hatte nun die Idee, die Regel mit der Ausnahme zu verbinden, sie so zu vereinigen. Diese Vereinigung führte zu folgender Lösung: Ein Verhalten wird als rechtswidrig beurteilt, wenn einer Tat die Kontratypen, als negative Tatbestandsmerkmale, fehlen. Eine solche Auffassung bietet gewisse Vorteile. Sie scheint gut hervorzuheben, dass die auf Grund der Vorschriften des Strafrechts auslegbaren, verbietenden und genehmigenden Normen nicht auf eine autonome und zusammenhanglose Weise gelten, sondern in einer engen gegenseitigen Verbindung stehen. Die Ausnahmen der Verbote, wenn sie auch den Inhalt der letzteren nicht verändern, beschränken direkt deren Geltungsbereich. In der polnischen Fachliteratur wird übereinstimmend angenommen, dass die Idee der negativen Tatbestandsmerkmale mehr Vor- als Nachteile hat. Kritisch wird aber dennoch u.a. betont, dass der Typ der verbotenen Tat nicht mit dem Kontratyp auf eine Ebene eingeordnet werden darf. Zwischen diesen beiden Typen bestehe nun einmal ein Verhältnis der Regel zur Aus-

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ser Begriff schien prima facie den normativen Status sowie die Funktionen, die diese Umstände im Strafrecht erfüllen, gut zu beschreiben und galt daher in der Strafrechtslehre als am wenigsten umstritten. Im Mai 2007 wurde das polnische Kolloquium zum Strafrecht diesem Thema gewidmet. 2 In dessen Verlauf ergab sich eine Diskussion, die deutlich machte, dass weiterhin zahlreiche Zweifel an dem Begriff „Kontratypen“ und seiner Dogmatik bestehen. Der Ausgangspunkt der Diskussion ist die Annahme, dass die Kontratypen solche Umstände sind, die ein Verhalten legalisieren, welches seinerseits aber grundsätzlich eine verbotene Tat darstellt. Die Zweifel entstanden insbesondere bei dem Versuch, den Geltungsbereich dieser Umstände aus der Struktur oder dem Wesen der Rechtsnorm und der Auslegung der zugrundeliegenden sanktionierten Norm zu erschließen. Den Schwerpunkt dieser Streitigkeiten bildeten drei Fragen: Zunächst wurde hinterfragt, ob es sinnvoll ist, zwischen dem sog. primären und sekundären Mangel der Rechtswidrigkeit zu unterscheiden. Weiterhin stellte sich die Frage nach dem inhaltlichen Verhältnis zwischen den Merkmalen des Kontratyps und den Merkmalen des Typs der strafbaren Handlung. Und schließlich standen auch die Regeln selbst zur Diskussion, auf die sich die Konstruktion der Umstände, die die Rechtswidrigkeit der Tat „ausschließen“, stützt oder stützen sollte. Es ging also um Fragen, die zum Gegenstand des nicht verjährten Streits zwischen den Anhängern der einheitlichen und jenen der pluralistischen Konzeption geworden sind. Beide klären die theoretischen Grundlagen der Wirkung von Kontratypen 3. nahme. Die typischen Umstände, die über die in der Regel vorliegende Rechtswidrigkeit der Tat entscheiden, sind zu verschieden von jenen Umständen, die in ungewöhnlichen Situationen die Tathandlung ihrer Rechtswidrigkeit berauben. Eine solche Gleichsetzung würde die Tatsache nicht beachten, dass die Funktion der Tatbestandsmerkmale die Bestimmung des Typs der Straftat ist, während jene Umstände, die die Rechtswidrigkeit ausschließen, d.h. die Kontratypen, die Korrektur dieser Merkmale bilden. Die Typen der Tat müssen also logischerweise prius der Kontratypen sein. Daraus ergibt sich weiterhin, dass die Umstände, die die Rechtswidrigkeit ausschließen, keine eigenständigen Normen sind. Sie gewinnen ihre Bedeutung nur im Zusammenhang mit der Realisierung der Merkmale des Typs der verbotenen Tat als zusätzlich vorliegende Umstände. Die Merkmale der Straftat sind in jedem Fall Gegenstand einer unmittelbaren Beweisführung im Strafprozess, während die negativen Umstände dieser Beweisführung nur dann unterliegen, wenn ihnen gegenüber Zweifel bestehen. In der Regel braucht nicht nachgewiesen werden, dass der Täter nicht aus Notwehr bzw. nicht unter Umständen eines anderen Kontratyps gehandelt hat. Darüber hinaus ist für die Annahme der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale Voraussetzung, dass der Täter sich aller Merkmale der gegenständlichen Seite bewusst war oder bewusst sein konnte. Hingegen kann bei der Auffassung der Kontratypen als negativer Merkmale nur schwer verlangt werden, dass der Täter sich nicht nur bewusst ist, beispielsweise einen Menschen zu töten, sondern sich auch darüber Gedanken macht, in keinem Kontratyp zu handeln. Dies gilt umso mehr im Hinblick darauf, dass der Umfang möglicher Umstände, welche die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließen, praktisch unbegrenzt ist. 2 Majewski (Hrsg.), Umstände, die die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließen. Materialien des IV. Strafrechtskolloquiums, (poln.), 2008, S. 125.

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II. Nur beiläufig kann hier erwähnt werden, dass die traditionelle Bezeichnung „Kontratypen“, verstanden als jene Umstände, die die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließen, die ihnen zugeschriebene Funktion verfälscht. Das Wort „ausschließen“ suggeriert nämlich, dass die Rechtswidrigkeit zunächst zu bejahen ist, später diese aber vom zulässigen bzw. gebotenen Verhalten wieder „ausgeschlossen“ oder „aufgehoben“ wird. Bei Verhaltensweisen, die aufgrund einer Berechtigung (Genehmigung) oder einer rechtlichen Pflicht ausgeübt werden, wird jedoch von vornherein die strafrechtliche Rechtswidrigkeit aus eben diesen Gründen ausgeschlossen. Damit heben die Kontratypen die Rechtswidrigkeit also nicht auf. Vielmehr schließen sie bereits die Möglichkeit ihrer Annahme aus. 4 Theoretisch ist dies eine wichtige Feststellung (obwohl sie in der Literatur fast übersehen wird). Sie beinhaltet aber eine Idee, die mich zur Zurückhaltung gegenüber der von Zoll hierzu entwickelten Konzeption veranlasst. Zoll unterscheidet zwischen Situationen, die durch den sog. primären Rechtswidrigkeitsmangel auf der einen Seite und den sog. sekundären Mangel an Rechtswidrigkeit auf der anderen Seite gekennzeichnet sind. Innerhalb der ersten Gruppe werden beispielsweise Heilmaßnahmen, Verhaltensweisen, welche das Alltagsrisiko nicht überschreiten oder der Sport eingeordnet, da hier die Tatbestandsmäßigkeit bereits entfalle. Deshalb seien diese Handlungen, da sie die sanktionierte Norm gerade nicht verletzen, als primär legitim anzusehen. Sie bedürften daher keiner Bestätigung ihrer Rechtmäßigkeit durch Hinzuziehung eines Kontratyps. In Situationen, in denen es eines Kontratyps bedarf, wenn also das Verhalten des Täters die Tatbestandsmerkmale verwirklicht und damit die sanktionierte Norm verletzt, habe die Rechtmäßigkeit „sekundären“ Charakter. Dieser Charakter ergebe sich aus der Wirkung der rechtfertigenden Norm 5 – des Kontratyps. Also scheint, beispielsweise in Fällen der Tötung aus Notwehr oder der Verletzung fremden Eigentums als Ergebnis einer Handlung im Rahmen des Notstandes, die Last der Entscheidung über die Richtigkeit einer solchen, von Zoll vertretenen Auffassung dieses Problems, nicht so sehr in der Antwort auf die Frage zu liegen, 3

Vgl. Wróbel, in: (ob. Fn. 2), S. 96 –101, Majewski, (ob. Fn. 2), S. 110 –115, Kaczmarek, in: (ob. Fn. 2), S. 103 –106, Zoll, in: (ob. Fn. 2), S. 106 –109, Warylewski, in: (ob. Fn. 2), S. 118 – 125, Szwarc, in: (ob. Fn. 2), S. 61 – 78, Filar, in: (ob. Fn. 2), S. 79 –88. 4 So Buchała, Materielles Strafrecht (poln.), 1980, S. 271, Cie´slak, Grundriss des polnischen Strafrechtes (poln.), 1994, S. 215. Aus denselben Gründen drücken wir unexakt unsere Vorstellung aus, wenn wir über die Umstände reden, die die Schuld „ausschließen“, während es tatsächlich um die Situationen geht, die die Zuschreibung einer Schuld gerade unmöglich machen. 5 Vgl. Zoll, Umstände, die die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließen (poln.) 1982, S. 128ff., ders., Strafgesetzbuch. Allg. Teil, Kommentar 2. Aufl. 2004, S. 458 und auch in: Buchała / Zoll, Polnisches Strafrecht (poln.), 1995, S. 198 –199.

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ob die Merkmale der in Art. 148 und 288 StGB beschriebenen Taten verwirklicht sind. Vielmehr geht es um die Frage, ob in diesen Fällen auch eine Verletzung der sanktionierten Normen vorliegt, welche in diesen Vorschriften zum Ausdruck gebracht werden. Übereinstimmend wird angenommen, dass der Kontratyp als ein Umstand, der eine Tat legalisiert, nur in Verbindung mit einem Typ der verbotenen Handlung auftreten kann. Ohne diesen Typ verliere der Kontratyp seinen Sinn. Denn ein Verhalten, das die Merkmale des Typs der verbotenen Handlung nicht erfüllt, sei es auch durch Vorbereitung oder Versuch, bedarf schon keiner Legalisierung durch die Wirkung des Kontratyps. Die Funktion des Kontratyps ist auf Neutralisierung der Rechtswidrigkeit gerichtet. Folglich kann diese Funktion sich nur dann aktualisieren, wenn sich in der konkreten Tat der Bereich des Typs der verbotenen Handlung mit dem Bereich des betreffenden Kontratyps überschneidet. 6 Zoll setzt sogar eine so enge Verbindung zwischen dem Typ der verbotenen Tat und dem Kontratyp voraus, dass „in seiner Bestimmtheit eine Anknüpfung an den Typ der verbotenen Tat selbst enthalten ist und dass die Merkmale der gesetzlichen Bestimmtheit der verbotenen Tat Bestandteile der Kontratypmerkmale sind.“ 7 Die Verhaltensweisen, die eine gleichzeitige Verwirklichung sowohl der Merkmale des Typs der verbotenen Tat als auch der Merkmale des Kontratyps darstellen, werden als eigenartige Fälle eines Widerspruchs zwischen den Normen und der rechtlichen Qualifizierung 8 wahrgenommen. Sie bedürfen aus diesem Grunde der sog. Widerspruchs- und Auslegungsregeln, um festzulegen, welche der beiden im Widerspruch stehenden Normen in den betreffenden Situationen gilt. Unterstellt man, dass die sanktionierte Norm, beispielsweise bei der Tötung aus Notwehr oder beim Freiheitsentzug des durch rechtskräftiges Urteil Verurteilten, ausschließlich aufgrund der Vorschriften der Art. 148 und 189 StGB abgeleitet werden könnte, so wäre der Feststellung Zolls zuzustimmen, dass „das Verhalten, vorgenommen in einer vom Standpunkt des angegriffenen Guts und der geltenden Verhaltensregeln gegenüber diesem Gut kontratypischen Situation, sich vom rechtswidrigen und strafbaren Verhalten nicht unterscheidet“ 9 (...). In dieser Bedeutung „zeichnen sich die Kontratypen – indem sie die Merkmale einer bestimmten verbotenen Tat verwirklichen – auch durch Verletzung der sanktionierten Norm aus, insbesondere durch Vernichtung oder Gefährdung des von dieser

6 Wolter (ob. Fn. 1), S. 504 wie auch in: Die Lehre von der Straftat (ob. Fn. 1), S. 163. Ähnlich Andrejew, Gesetzliche Tatbestandsmerkmale (poln.), 1959, S. 128, und auch Buchała (ob. Fn. 3), S. 271 –272; Cie´slak (ob. Fn. 4), S. 217, Zoll (ob. Fn. 5), S. 74, 102, 128. 7 Zoll (ob. Fn. 5), S. 129. 8 So Cie´slak (ob. Fn. 3), S. 196, 216. 9 Zoll (ob. Fn. 5), 2004, S. 460.

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Norm geschützten Gutes, sowie durch Verstoß gegen die Umgangsregeln mit dem betreffenden Gut. 10“ Dieser Standpunkt überzeugt nicht. Es darf nicht übersehen werden, dass die Strafnorm nicht als „autonom“ und unabhängig von anderen Rechtsvorschriften gilt. Im Gegenteil: Diese Rechtsvorschrift bleibt in enger Verbindung mit den Vorschriften der anderen Rechtsgebiete oder grundsätzlich mit den gesamten Vorschriften des ganzen Systems des geltenden Rechtes, in welchem das Strafrecht ein fester Bestandteil ist.

10 Zoll (ob. Fn. 5), 2004, S. 458. Bei dieser Gelegenheit ist hervorzuheben, dass Zoll – indem er den Inhalt der sanktionierten Norm aus der Strafrechtsvorschrift ableitet – im gewissen Sinne inkonsequent ist. Auch er nimmt nämlich an anderer Stelle nach Binding an, dass die Normen, die in Form von Verboten oder Geboten das Verhalten der Adressaten (sog. sanktionierte Normen) bestimmen, kulturbedingt eine selbständige Existenz haben und in der Regel in anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht formuliert werden. Diese sanktionierten Normen, die das Erbe der Geschichte darstellen, greifen begriffsmäßig den Strafrechtsvorschriften vor. Die Strafrechtsvorschriften erkennen, da sie an der Schaffung der Normen nicht beteiligt sind, nur die Verletzung der bereits bestehenden (sanktionierten) Normen als strafbar oder nicht strafbar an. In dieser Bedeutung drückt die Strafrechtsvorschrift unmittelbar ausschließlich die sanktionierende Norm aus und nur diese Strafrechtsvorschrift kann als Norm des Strafrechtes bezeichnet werden. Die dieser Norm logisch vorhergehende sanktionierte Norm ist demgegenüber vom Strafgesetz unabhängig. Denn sie verpflichtet zu einem bestimmten Verhalten unabhängig davon, ob sie mit Strafsanktion versehen, oder von dieser oder einer anderen Sanktion befreit ist (lex imperfecta). Der von Zoll vorgenommene Versuch (siehe Strafbarkeit und Strafwürdigkeit der Tat als besondere Elemente des Verbrechensaufbaus in Kaczmarek (Hrsg.), Theoretische Probleme der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im polnischen und deutschen Strafrecht, Materialien des deutsch-polnischen Strafrechtskolloquiums (poln.), 1990, S. 102ff.) der Wiederbelebung der Normenkonzeption von Binding zur Anwendung auf das polnische Strafrecht ist weder eine neue Idee – früher hat bei uns Glaser, (siehe Polnisches Strafrecht, 1933, S. 5) diese Idee kritiklos entwickelt – noch gehört sie m.E. zu den gelungenen Lösungen. Die Erfassung der sanktionierten Normen als unabhängig vom Strafgesetz würde tatsächlich das Strafrecht nur als eigenartigen Anhang zu den übrigen Bereichen des geltenden Rechtes erscheinen lassen. Die relative Häufigkeit des Auftretens von Rechtsvorschriften (insbesondere in den sog. Zusatzgesetzen), die das Überschreiten der Normen auf anderen Rechtsgebieten sanktionieren, ist kein Beweis dafür, dass das Strafrecht immer auf einem Gebiet einschreitet, das in anderen Rechtsbereichen bereits geregelt ist. Im Gegenteil bestehen zahlreiche Strafvorschriften, die vom Standpunkt eines beliebigen außerstrafrechtlichen Rechtsgebietes vollkommen irrelevante Verhaltensweisen verbieten. So sollte vernünftigerweise erkannt werden, dass nicht jeder Versuch, in anderen Rechtsgebieten nach einer Norm zu suchen, die dem strafrechtlichen Verbot zugrunde liegt, erfolgreich sein kann. Solches Bestreben kann mit einem Misserfolg enden oder aber zu überraschenden Schlüssen führen. So wäre es erstaunlich, z.B. die Grundlage der Strafbarkeit im Falle der Tötung in Art. 415 des Zivilgesetzbuches zu suchen, welcher gebietet, sich zu enthalten, anderen Schaden zuzufügen. (Siehe mehr dazu bei Je˛drzejewski, Bemerkungen zum Begriff Delikt im Entwurf des Strafgesetzbuches, PiP Nr. 9 – 10 / 1994 (poln.), S. 94ff.).

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Wird also die sanktionierte Norm anfänglich aus der Vorschrift des Strafrechtes abgelesen, müssen im Weiteren doch die Vorschriften des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches oder die Vorschriften anderer Rechtsgebiete oder gar der ganzen Rechtsordnung beachtet werden. Je nach den in Bezug genommenen Normen kann die sanktionierte Norm dabei vollständig ihren Inhalt und Geltungsbereich verändern. Entgegen der Behauptung von Zoll verletzt die Tötung in Notwehr nicht die Norm des Art. 148 StGB, obwohl die Tatbestandsmerkmale verwirklicht sind. Denn das in dieser Norm unter Strafandrohung ausgedrückte Verbot, einem anderen das Leben zu nehmen, ist faktisch gar nicht vorhanden. Art. 25 §1 StGB macht gerade deutlich, dass sich dieses Verbot gegenüber dem Täter, der einen anderen in Notwehr tötet, nicht aktualisiert. Die nämlich aus dieser Vorschrift hervorgehende Rechtfertigung schließt die in dieser Situation verübte Tötung aus dem Bereich der sanktionierten Norm, die der Vorschrift des Art. 148 StGB zu Grunde liegt, aus. Ex definitione kann das, was rechtlich erlaubt ist, nicht gleichzeitig verboten sein. Aus eben diesem Grunde ist die Auffassung von Zoll, sowohl im Hinblick auf den Sinn der Rechtsordnung als auch auf die Anforderung ihrer inneren Widerspruchslosigkeit, nicht akzeptabel. Nach Zoll stellen die Kontratypen eine gesetzliche Erlaubnis zur Überschreitung des aus der Strafnorm abgeleiteten Verbots / Gebots dar. Dabei beschränken sie aber keinesfalls den Umfang selbiger Verbote / Gebote, welche die Güter schützen. Somit kann nach Zoll eine Person, die Abwehrmaßnahmen gegenüber dem Angreifer trifft, diese Verbote / Gebote auch verletzen. 11 Nimmt man aber von einer solchen Auffassung Abstand, so sollte im Gegenteil angenommen werden, dass Handlungen von Personen, die eine erlaubte Verteidigung ihrer rechtlich geschützten Güter vornehmen, von Anfang an primär rechtmäßig sind. Vor dem Hintergrund, dass auch bei den Kontratypen eine primäre Legitimation möglich ist, bleibt zweifelhaft, ob die strenge Unterscheidung von Zoll in eine primäre und sekundäre Rechtswidrigkeit aufrecht erhalten bleiben kann. An dieser Stelle muss festgestellt werden, dass auch Zoll beispielsweise ärztliche Heilmaßnahmen, das Verhalten im Sport oder Handlungen im Rahmen des alltäglichen Risikos aus dem Bereich desjenigen Verhaltens ausschließt, dessen Rechtmäßigkeit durch einen Kontratyp bestätigt werden müsste. Auch er nimmt an, dass in eben diesen Fällen die primäre Legalität, im Unterschied zu den Taten, die in kontratypischen Situationen begangen werden, sich durch mangelnde Verletzung der sanktionierten Norm kennzeichnet. Darüber hinaus sei wegen fehlender Verletzung des Rechtsgutes sogar die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale ausgeschlossen. 12 11 12

Zoll (ob. Fn. 5), S. 128 – 129. Vgl. Zoll (ob. Fn. 5),1982, S. 3ff., 1995, S. 196ff., 2004, S. 458.

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Im Weiteren wende ich mich nun dem Wesen der primär legalen Verhaltensweisen zu. Voranstellen möchte ich aber schon jetzt, dass für mich nicht klar ersichtlich ist, warum sich das Strafrecht überhaupt mit solchen Taten beschäftigen sollte. Und dennoch sind derartige Verhaltensweisen seit Jahren Gegenstand des strafrechtstheoretischen, -praktischen und kriminalpolitischen Interesses. Der Grund hierfür ist, dass dieses Verhalten in einem bestimmten Verhältnis zu den im Strafgesetz beschriebenen Normen steht, es mit dem Typ der verbotenen Tat 13 verbunden ist, und mit dem Wesen dieses Verhaltens auch die Möglichkeit zusammenhängt, rechtlich relevante Folgen hervorzurufen. Unverständlich sind für mich schließlich auch die Gründe, aus denen sich nach Ansicht von Zoll ergibt, dass die Tötung eines Angreifers in Notwehr oder auch das Verursachen eines gesundheitlichen Schadens des Angreifers eine Verletzung seiner Güter bedeutet, während das Verursachen von identischen Folgen durch einen Arzt, der eine Heilmaßnahme trifft, keine Verletzung der Güter des Patienten sein soll. Zoll erläutert, das Verhalten des Arztes diene objektiv dem Schutz des Lebens oder der Gesundheit des Patienten und könne nicht zugleich gegen dieselben Güter gerichtet sein, so dass es aus diesem Grunde die Merkmale einer verbotenen Tat nicht verwirklichen kann. 14 Diese Argumentation ist aber nicht unangreifbar. Bedenken dagegen regen sich bereits dann, wenn die Maßnahme zur Rettung des Lebens des Patienten ausschließlich auf Kosten des gleichzeitigen gesundheitlichen Schadens oder der dauerhaften Körperbeschädigung möglich war, bzw. wenn diese Maßnahme mit dem Risiko verbunden ist, das Leben oder die Gesundheit des Patienten zu gefährden. An dieser Stelle darf nicht übersehen werden, dass alle von Zoll als primär legal eingeordneten Verhaltensweisen den Charakter von riskantem Verhalten haben. Damit ist seine Feststellung aber unberechtigt, dass diese sich, im Gegensatz zu kontratypischem Verhalten, als Taten definieren oder wahrnehmen lassen, die keine Gefährdung der am Rechtsverkehr teilnehmenden Güter bedeuten und aus diesem Grunde die Tatbestandsmäßigkeit zu verneinen ist. Diese Handlungen werden als riskantes Verhalten, deren Wesen durch die Wahrscheinlichkeit bestimmt wird, sowohl Nutzen als auch Schaden zu verursachen – genau wie kontratypisches Verhalten – immer in einer Situation ausgeführt, in der es zu einer Kollision der Güter 15 kommt. Hier erfolgt also der Schutz eines Gutes unter gleichzeitiger Gefährdung oder Verletzung eines anderen Gutes. Selbstverständlich ist damit auch ein solches Verhalten – ähnlich wie das Kontratyp-Verhalten – mit einem Typ der verbotenen Tat verbunden. 13 14 15

Vgl. Wróbel (ob. Fn. 3), S. 96ff. Zoll (ob. Fn. 5), 1982, S. 197. Mehr dazu Wróbel (ob. Fn. 3), S. 98ff.

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Hinzuzufügen ist, dass die Anhänger der These, die zwischen primärer und sekundärer Rechtswidrigkeit bestimmter Verhaltensweisen unterscheidet, die Annahme der primären Legalität von der Erfüllung einer Reihe von Bedingungen abhängig machen: Unter anderem und beispielsweise von der Zustimmung des Patienten oder des Wettkämpfers, von der Handlung lege artis oder von der Beachtung der Sportregeln, bzw. im Allgemeinen von der Einhaltung gebührender Sorgfalt im Umgang mit einem Rechtsgut. Gerade letztere stelle die grundlegende Voraussetzung für die Bestimmung des gesellschaftlich akzeptablen Risikogrades dar. Konfrontiert man bereits an dieser Stelle die angenommenen Bedingungen der primären Legalität mit denen, die dem sekundären Rechtswidrigkeitsmangel zugrunde liegen, z.B. dem erlaubten Experiment und dem damit zusammenhängenden Risiko, so fällt es schwer, die Ansicht von Wróbel abzulehnen, dass auch die Grundlagen der primären Legalisierung sich in keiner Weise davon unterscheiden, was der sekundären Legalität des betreffenden Verhaltens zugrunde liegt 16. Indem ich meinen Zweifeln in Bezug auf das Bedürfnis und den Sinn Ausdruck gebe, die situationsbedingten Verhaltensweisen, die durch den sog. primären und sekundären Rechtswidrigkeitsmangel gekennzeichnet sind, streng zu unterscheiden, behaupte ich zugleich, dass auch die allgemeine theoretische Fundierung dieser Konzeption nicht überzeugend ist. Diese geht davon aus, dass das Wesen aller Kontratypen durch den Konflikt von zwei rechtlich geschützten Gütern bestimmt und festlegt wird, dessen Lösung, bei fehlender Möglichkeit, beide Rechtsgüter parallel zu schützen, einer gesellschaftlich rentablen Verletzung eines dieser Güter bedarf. Diese These, die auf den in der deutschen Dogmatik bekannten sog. monistischen Konzeptionen aufbaut, und die die Grundlagen der Handlung sämtlicher Kontratypen auf einen gemeinsamen Nenner 17 zu bringen versucht, wurde insbesondere von Sauer erarbeitet. Er formulierte als „juristisches Grundgesetz“ der Handlung aller Kontratypen den Grundsatz: „Mehr-Nutzen-als-Schaden“ 18. Für Noll gilt die „Wertabwägung als Prinzip der Rechtfertigung“, wobei er zu den bei der Rechtfertigung abzuwägenden Werten nicht nur Rechtsgüter, sondern auch „gewisse soziale Beziehungen wie die Ordnungen des Staates, der Rechtspflege, der Familie“ zählt. 19 Nach Schmidhäuser ist ein Rechtfertigungsgrund beim 16

Wróbel (ob. Fn. 3), S. 98. Vgl. dazu Roxin, Strafrecht AT, Bd. I, 1997, S. 516ff. und auch Weigend, Zu den Umständen, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit im Recht der Bundesrepublik Deutschland ausschließen (poln.), PiP 10/90, S. 43ff., Kubiak, Kontratyp des erlaubten Experimentes vor dem Hintergrund der Theorie der Kollision der Güter und der gesellschaftlichen Einträglichkeit (poln.), PiP 12/2005, S. 64ff. 18 Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre, 1955, S. 56. 19 Noll, Wertabwägung als Prinzip der Rechtfertigung, ZStW 77 (1960, S. 1ff.). 17

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Handlungsdelikt „der Ausschnitt aus dem Tatgeschehen, der eine dem tatbestandlich verletzten Gut vorgehende Gutsbeachtung enthält“; im Rechtfertigungsgrund wird „festgestellt, dass das Wertvolle der Gutsbeachtung dem Wertwidrigen der Gutsverletzung vorgeht“. 20 Die Konzeption der Kollision der Rechtsgüter und der gesellschaftlichen Rentabilität wurde auch später in den Arbeiten von Roxin in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt. 21 Zoll hat, sicherlich durch die Arbeiten von Roxin inspiriert, diese Konzeption in den 80er Jahren in die polnische Wissenschaft eingeführt. Bis heute ist er ihr treu geblieben 22 und hat dabei aber übersehen, dass sich Roxin selbst inzwischen von der Idee, einheitliche Grundlagen für den Ausschluss der Rechtswidrigkeit zu schaffen, ausdrücklich distanziert hat. 23 In der deutschen Dogmatik haben jedenfalls die zahlreichen Versuche, solche gemeinsamen, einheitlichen Grundlagen zu bestimmen, zu keinen zufriedenstellenden Ergebnissen geführt. Aus diesem Grunde beobachten wir zurzeit eine Art Renaissance der alternativen Konzeptionen, die das Vorhandensein von vielen Regeln zulassen. Sie begründen die Wirkung der Kontratypen je nach dem gemeinten Kontratyp. Verweisen kann man dabei auf interessante neue Vorschläge von Köhler 24 oder Jakobs 25. Sie unterscheiden beispielsweise Kontratypen, welche auf dem Prinzip einer Rechtfertigung aufgrund der Autonomie des besonderen Willens beruhen, wie z.B. die Notwehr, von solchen Kontratypen, die aus dem Solidaritätsprinzip resultieren. Bei letzteren darf die Verletzung der Rechtsgüter eines Anderen erfolgen, wenn dies das Interesse eines Dritten verlangt, insbesondere jenes der Gemeinschaft, z.B. im Falle der amtlichen Tätigkeiten bzw. bei dem sog. „aggressiven“ Notstand. 26 Nach Jahren habe ich wieder die hervorragende Monografie von Zoll über die Umstände, die die Rechtswidrigkeit ausschließen, gelesen. Heute habe ich den 20

Schmidhäuser, Strafrecht, Studienbuch AT, 1984, 6/1, 5. Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1973, S. 26ff.; ders., in: Eser / Fletscher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung. Rechtsvergleichende Perspektiven, Bd. I, 1987, S. 235ff. 22 Zoll (ob. Fn. 5), 1982, S. 86ff., 1995, S. 200ff., 2004, S. 460ff. 23 Roxin, Strafrecht AT, Bd. I, 1997, S. 516, wo wir u.a. lesen: „Eine fruchtbare Systematisierung der Rechtfertigungsgründe ist bisher nicht gelungen. Sie kann auch wohl nicht abschließend gelingen. Denn die Gesichtspunkte, die dazu führen können, dass das materielle Unrecht einer Tat trotz vorhandener Tatbestandserfüllung ausgeschlossen ist, sind so vielfältig, und die Zahl der allen Teilen der Rechtsordnung entstammenden Rechtfertigungsgründe ist so groß und – namentlich bei hoheitlichen Eingriffen – so wechselnden Bedürfnissen unterworfen, dass einheitliche Grundsätze, die zugleich inhaltlich aussagekräftig sind, immer nur beschränkte Gültigkeit haben können.“ 24 Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 238ff. 25 Jakobs, Strafrecht AT, 1991, S. 350ff. 26 Eine breitere Behandlung der pluralistischen Konzeptionen, vgl. Roxin, (ob. Fn. 17), 1997, S. 517ff. In der polnischen Literatur: Kubiak (ob. Fn. 17), S. 64ff. 21

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Eindruck, dass der Verweis des Autors auf die Kollision von zwei Rechtsgütern und auf das Prinzip der gesellschaftlichen Rentabilität – die bei fehlender Möglichkeit eines parallelen Schutzes beider Güter, die Verletzung oder Gefährdung desjenigen rechtlich geschützten Gutes, das einen niedrigeren gesellschaftlichen Wert hat, rechtfertigt – weniger tauglich und nicht mehr so transparent zu sein scheint. Dies ist z.B. in all den Fällen anzunehmen, in denen beide Güter den gleichen Wert haben, wie bei der sog. Kollision der Pflichten bzw. der Notwehr, wenngleich in seinem Werk die Wirkung des Notstandes gut erklärt wird 27. Nicht zu überzeugen vermag mich auch die Voraussetzung, nach der die Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs durch den Verteidiger einen Angriff auf das seinerseits rechtlich geschützte Gut des Angreifers bedeuten soll. Denn nach der Ansicht Zolls führt das Auftreten des Kontratyps keineswegs zu einer Änderung der Bewertung des betroffenen Rechtsgutes. Das Gut, dessen Vernichtung wir rechtfertigen, hört nicht auf, rechtlich geschützt zu werden. 28 Die Intuition gibt vor, dass ein Gesetz, das unter genau bestimmten Bedingungen beispielsweise die Tötung oder Körperverletzung des Angreifers zulässt, nicht gleichzeitig sein Leben oder seine Gesundheit schützen kann. Im Gegenteil tritt das Gesetz offenbar zurück, oder – wenn wir die Formulierung von Wolter benutzen möchten – zieht es sich von dem strafrechtlichen Schutz der Güter des Angreifers 29 zurück, der bei der Vornahme eines rechtswidrigen Angriffs gewissermaßen auf eigenes Risiko und auf eigenen Wunsch hin sein persönliches Gut einer Gefahr aussetzt. Von diesem Standpunkt aus deutet m.E. das von Jakobs formulierte Prinzip der Verantwortung / Veranlassung die Wirkung der Notwehr wesentlich besser und tiefer, auf jeden Fall weniger schizophren als die Voraussetzung der Kollision von zwei rechtlich geschützten Gütern. Jakobs’ Prinzip liegt die Annahme zugrunde, 27 Charakteristisch ist die Aussage Roxins aus dem Jahr 1973, also aus der Zeit, in der ihm die monistischen Konzeptionen noch nahe waren und in welcher er die Meinung darstellte, dass das Beispiel der Kollision der Pflichten darauf hinweist, dass auch die Ausführung einer der beiden Pflichten von gleicher Bedeutung zur Situation des Kontratyps führen kann. Das Bestehen des von der Rechtsordnung höher geschätzten Interesses und seine Präferenz – die zwar das meist auftretende Regelungskriterium im Konflikt der Interessenswerte im Rahmen der Kontratypen ist – kann nicht den einzigen und fundamentalen Inhalt der Rechtsgrundlagen bilden, indem es der Regelung der Konflikte der Rechtsgüter zugrunde liegt. Vgl. Roxin (ob. Fn. 17), 1973, S. 26. In der polnischen Fachliteratur lässt sich – nach Meinung von Marek – mit Hilfe des Kriteriums der gesellschaftlichen Rentabilität das Ausschließen der Rechtswidrigkeit, z.B. Verursachen einer Körperverletzung oder des Todes während eines Boxkampfes oder Abtreibung, wenn die Schwangerschaft die Folge eines Delikts war oder wenn eine schwere und unumkehrbare Fötusverletzung bzw. seine unheilbare, lebensgefährliche Krankheit festgestellt wurde, nicht begründen. Marek, Notwehr im Strafrecht. Theorie und Rechtsprechung (poln.), 2008, S. 28. 28 Zoll (ob. Fn. 5), 1995, S. 200, 2007, S. 460. 29 Wolter, Übersicht des Strafrechtssystems (poln.), 1933, S. 125ff.

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dass die Person, die einen Zustand der Bedrohung oder Verletzung der rechtlich geschützten Güter verursacht, die Folgen in Form einer rechtlichen Verpflichtung, die Verletzung der Güter seiner Person zuzulassen, zu tragen hat. 30 Der Standpunkt, nach dem jeder Kontratyp sich auf eine Kollision der rechtlich geschützten Güter stützen sollte, würde m.E. nur dann Akzeptanz verdienen, wenn ohne die Vernunft zu verletzen angenommen werden könnte, dass dann, wenn der Gesetzgeber z.B. die Todesstrafe zulässt, das Gericht danach auf Todesstrafe erkannte und der Henker sie vollstreckte, jeder dieser Akteure sich des Rechtes zum Zweck des Schutzes des Lebens des Verurteilten bediente. Eine Rechtfertigung hinsichtlich der Vernichtung eines Gutes kann nur durch gesetzliche Zustimmung zu dessen Verletzung erfolgen, d.h. nicht anders, als eben durch Zurückziehen der Norm, welche die Güter des Angreifers schützt. Die Annahme, dass das Gesetz, indem es z.B. die Tötung des Angreifers aus Notwehr zulässt, ihn zugleich schützen möchte, ist genauso plausibel wie die Feststellung, dass man Ehebruch begehen und zugleich die Unschuld bewahren kann. Indem man sich gelegentlich auf Argumente axiologischer Natur beruft, hebt man hervor, dass das menschliche Leben, das den höchsten, grundlegenden, durch alle ethischen Systeme akzeptierten Wert bedeutet, aus diesem Grunde immer den gleichen Schutzgegenstand darstellen muss, ohne die Möglichkeit irgendeiner Unterscheidung des Lebenswertes eines jeden Einzelnen. 31 Wir kennen keine Beispiele von Rechtssystemen innerhalb unseres Kulturkreises, die einen absoluten, ausnahmslosen Schutz des menschlichen Lebens gewähren, genauso wie den eines jeden anderen Wertes. Konkret formuliert gibt es auch in einem demokratischen Staat keine Werte, die im Strafrecht auf eine rücksichtslose und absolute Weise geschützt wären. Auch im Schutz des wertvollsten Gutes, des menschlichen Lebens, lässt das Gesetz Ausnahmen zu. Es rechtfertigt die Tötung aus Notwehr (Art. 25 §1 StGB). Unter den strengen Voraussetzungen des Notstandes erlaubt das Gesetz, das Leben eines anderen Menschen zu opfern, um eigenes Leben zu retten (Art. 26 §1 StGB). Das Gesetz lässt – bei Einhaltung bestimmter Bedingungen – ein medizinisches Experiment zu, das sehr risikoreich ist, sogar wenn eine Gefährdung des Lebens des Teilnehmers dieses Experimentes zu befürchten ist (Art. 27 §1 StGB). Das Gesetz sieht die Möglichkeit der Straflosigkeit des Täters vor, der einen Menschen 30

Jakobs (ob. Fn. 25), S. 350ff. Zoll, in: Strafgesetzbuch, Sonderteil. Kommentar zu Art.127 –277. Sammelarbeit unter der Red. von Zoll, (poln.), 199, S. 213 –214, Warylewski (ob. Fn. 3.), S. 119, schreibt: „Das Leben, egal wessen – eines Verbrechers oder jemanden, der kein Verbrecher ist – ist immer ein Rechtsgut und ich habe keine Zweifel, dass es immer rechtlich geschützt wird.“ 31

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auf dessen Verlangen unter dem Einfluss einer anormalen motivierenden Situation tötet (Art. 150 §1 StGB). Ausnahmen enthält auch der Schutz des ungeborenen Lebens, wenn die für die Abtreibung im Gesetz genannten strengen Umstände zutreffen. 32 Die Ausnahmen in diesen Bereichen sind darauf zurückzuführen, dass die moralischen Maßstäbe gewöhnlich über die Erwartungen des Gesetzes hinausgehen, dessen Normen von ihren Adressaten keine moralische Vollkommenheit, sondern ein Verhalten verlangen, das in ethischer Hinsicht nicht zu hoch greift. Daraus ergibt sich weiterhin, dass nicht alles, was dem betreffenden ethischen System widerspricht (das sogar von der überwiegenden Mehrheit akzeptiert wird), als den Rechtsnormen widersprechend anzuerkennen ist, insbesondere als strafrechtlich sanktionierte Tat. Diesen Gedanken finden wir auch in der thomistischen Konzeption des Rechts, nach der das menschliche Recht weder gute Taten zu gebieten noch schlechte Taten zu verbieten hat. 33

32

Vgl. u.a. Szewczyk, Euthanasie – rechtsvergleichende Überlegungen, in: Probleme der Pönalwissenschaften, (poln.), 1996, S. 189ff. 33 Vgl. Summa Theologica la 2 ae qu.XCVI, art. II, III.

Grundsätzliche Angriffe gegen die Lehre von der objektiven Zurechnung Friedrich-Christian Schroeder Am Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts entstand in Deutschland, aufbauend auf früheren dogmatischen Konzeptionen, die moderne Lehre von der objektiven Zurechnung und setzte sich bis Mitte der achtziger Jahre fast allgemein durch; sie findet inzwischen auch im Ausland große Beachtung. In meinem Beitrag „Die Genesis der Lehre von der objektiven Zurechnung“ in der Festschrift für Androulakis (2003) habe ich die Entstehung dieser Lehre dargelegt und abschließend festgestellt, dass eine grundsätzliche Kritik und eine Gegenwehr von Seiten der von ihr heftig angegriffenen finalen Handlungslehre längere Zeit nicht erfolgten. Als Grund dafür hatte ich angenommen, dass die Lehre sträflich lange nicht ganz ernst genommen wurde. Ein weiterer Grund dürfte aber auch in dem kompilatorischen Charakter der Lehre von der objektiven Zurechnung gelegen haben, ihrer Aufsaugung von immer mehr Einzelproblemen. Dies machte eine Widerlegung schwierig. In den achtziger Jahren wurde aber doch versucht, die Lehre von der objektiven Zurechnung grundsätzlich anzugreifen. Die wichtigsten dieser Kritiken sollen hier vorgestellt werden. 1983 rügte Ingeborg Puppe, dass das „Risikoerhöhungsprinzip“ bei den verschiedenen Fällen seiner Anwendung signifikante Unterschiede aufweise. Bald werde es als Kausalitätsersatz (beim Abbruch eines rettenden Kausalverlaufs und bei der Beziehung zwischen Beihilfehandlung und Erfolg), bald als bloße Ergänzung angesehen (bei der Beurteilung von Ersatzursachen und der Auswirkung der Sorgfaltspflichtverletzung bei der Fahrlässigkeit). 1 Im nicht determinierten Bereich ersetze die Risikoerhöhungslehre die Kausalität durch Wahrscheinlichkeit, im determinierten Bereich komme es auf die Realisierung des gesteigerten Risikos, nicht der Risikosteigerung für sich allein an. Damit sei der Schritt von einer Zurechnung kraft Kausalität zu der Zurechnung kraft Schaffung oder Steigerung des im Erfolgseintritt realisierten Risikos kleiner, als es auf den ersten Blick scheine.

1

Puppe, ZStW 95 (1983), 287ff.

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Erst 1985 veröffentlichte der „Kronprinz“ der finalen Handlungslehre Armin Kaufmann eine grundsätzliche Entgegnung 2. Er stellte treffend fest, dass der Lehre von der objektiven Zurechnung „die Herkunft aus dem fahrlässigen Delikt auf die Stirn geschrieben steht“ 3 und wählte daher zielsicher ihre schwache Stelle, die Übertragung auf das Vorsatzdelikt. Aber auch bei diesem speziellen Ansatz musste er auf eine Reihe von Einzelpunkten eingehen. Armin Kaufmann hielt der Lehre von der objektiven Zurechnung in teilweise sarkastischem Ton („in einer schon qualvollen Weise überflüssig“) folgende Argumente entgegen: 1. Die Verschiebung des Todes durch einen Arzt u.ä. falle nicht unter den Tatbestand der Tötungsdelikte, weil „Töten“ ein „Verkürzen des Lebens“ sei. 4 2. Bei der sog. „Risikoverringerung“ handle es sich um eine Rechtfertigung. Bei der Schadensverringerung trotz Möglichkeit der Schadensabwendung sei die Gesundheitserwartung vergrößert worden; auch hierbei handle es sich um eine Frage der Tatbestandsmäßigkeit. 5 3. Bei einer Risikoerhöhung ohne Feststellung der Auswirkung der Handlung könne ein Kausalzusammenhang nicht festgestellt werden. 6 4. Aus den zwei Tatbestandsmerkmalen Erfolgseintritt und Verursachung mache die Lehre von der objektiven Zurechnung fünf. 7 5. Der Formel von der objektiven Zurechnung sei die Herkunft aus dem fahrlässigen Delikt auf die Stirn geschrieben. Diese komplexen Problemkreise müssten nicht aus dem fahrlässigen Delikt in den Tatbestand des Vorsatzdeliktes übertragen werden. 8 6. Bei dem Merkmal der Gefahrschaffung sei die Prognose unbestimmt und werde zu einer Gefahr für die Tatbestandsbestimmtheit. Die Verwirklichung der Gefahr sei ein normatives Urteil. Bei diesen Merkmalen sei das Wissen des Täters als Beurteilungsgrundlage unentbehrlich. Entscheidend sei somit der Tatvorsatz. 9 Auf die rechtliche Missbilligung könne er sich nicht beziehen, da damit die Unterscheidung zum Unrechtsbewusstsein preisgegeben werde. 7. Bei der Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf gehe es um eine Ausdehnung der Vollendung über den Wortlaut des §16 StGB hinaus, während 2 Armin Kaufmann, Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, hrsg. von T. Vogler u.a., 1985, 1. Halbbd., S. 251ff. 3 Armin Kaufmann (ob. Fn. 2), S. 258. 4 Armin Kaufmann (ob. Fn. 2), S. 254f. 5 Armin Kaufmann (ob. Fn. 2), S. 255f. 6 Armin Kaufmann (ob. Fn. 2), S. 256f. 7 Armin Kaufmann (ob. Fn. 2), S. 258. 8 Armin Kaufmann (ob. Fn. 2), S. 258. 9 Armin Kaufmann (ob. Fn. 2), S. 259f.

Grundsätzliche Angriffe gegen die Lehre von der objektiven Zurechnung

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die Lehre von der objektiven Zurechnung gerade eine Einschränkung bezwecke. Entscheidend sei der Vorsatz; der Erfolgseintritt könne nur als objektive Strafbarkeitsbedingung berücksichtigt werden. 10 8. Es komme nicht auf die rechtliche Missbilligung einer Gefahrschaffung an, sondern auf die ausnahmsweise rechtliche Billigung. Auch hierbei handle es sich um ein Tatbestandsproblem. 11 9. Bei inadäquaten Kausalverläufen (Erbonkelfall) fehle es am Vorsatz. 12 10. Bei unverboten riskantem Handeln handle es sich um eine Auslegung der einzelnen Tatbestände und damit um eine Frage des Besonderen Teils. 13 Die Periode der objektiven Zurechnung solle daher in einer Befruchtung des Besonderen Teils enden 14. Roxin antwortete hierauf vier Jahre später, in der Gedächtnisschrift für den nur kurz nach der Veröffentlichung seines Aufsatzes in der Festschrift für Jescheck im Alter von 62 Jahren verstorbenen Armin Kaufmann. Roxin ging dabei nur auf einige der Einwände Armin Kaufmanns ein. Zu 1: Die Lebensverlängerung sei eine Verminderung des Todesrisikos. Eine tatbestandsmäßige Tötung verlange eine Zurechnung zum Tatbestand. 15 Mit Recht rügt Maiwald, dass Roxin hierbei an Armin Kaufmann vorbeiredet und offen lässt, was eine „Zurechnung zum Tatbestand“ anderes bedeuten soll als seine Erfüllung. 16 Zu 2: Die „gestiegene Gesundheitserwartung“ sei völlig identisch mit der vom ihm zugrunde gelegten „Verringerung des Gesundheitsrisikos“. Ein Tatbestandsausschluss und nicht erst eine Rechtfertigung müsse erst recht gelten, wenn nur die Möglichkeit bestanden habe, die Gefahr vom Kopf auf die Schulter abzulenken. 17 Zu 7: Das Entscheidende sei auch für Armin Kaufmann die mangelnde Adäquanz des Kausalverlaufs; es sei eine komplizierte Konstruktion, diese als objektive Strafbarkeitsbedingung außerhalb des Tatbestandes anzusiedeln 18. 10

Armin Kaufmann (ob. Fn. 2), S. 261ff., 269. Armin Kaufmann (ob. Fn. 2), S. 266. 12 Armin Kaufmann (ob. Fn. 2), S. 266f. 13 Armin Kaufmann (ob. Fn. 2), S. 267ff. 14 Armin Kaufmann (ob. Fn. 2), S. 271. 15 Roxin, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, hrsg. von G. Dornseifer u.a., 1989, S. 237ff., 244f. 16 Maiwald, Festschrift für Koichi Miyazawa, hrsg. von H.-H. Kühne, 1995, S. 465ff., 478. 17 Roxin (ob. Fn. 15), S. 244. 18 Roxin (ob. Fn. 15), S. 241. 11

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Zu 8: Die Begründung für die „Typenkorrektur“ liege in der allgemeinen Zurechnungslehre und nicht im Tötungstatbestand. Freilich sei der Gesichtspunkt des erlaubten Risikos bei den verschiedenen Tatbeständen in sehr unterschiedlicher Weise ausgeprägt, aber das hindere nicht die Einordnung dieser Rechtsfigur in die Zurechnungslehre des Allgemeinen Teils 19. Inzwischen war schon eine Reihe anderer kritischer Stellungnahmen erschienen. Grundsätzlich griff Struensee die Lehre von der objektiven Zurechnung an 20. Diese entfalte den Effekt eines den gesamten objektiven Tatbestand an sich reißenden und in sich ertränkenden Strudels. Die Erfolgsverhinderung oder -verminderung werde fälschlich als „Risikoverringerung“ bezeichnet. Im Einzelnen griff er die Thesen zum Rechtswidrigkeitszusammenhang an. Bei der Lehre vom Schutzzweck der Norm sei die alles entscheidende Frage, was man denn eigentlich unter „Verwirklichung der Gefahr“ zu verstehen habe. Der Schutzbereich der verletzten Norm sei der Geltungsbereich des Kausalgesetzes, aus dem die Sorgfaltswidrigkeit hergeleitet werde. In Bezug auf das Kausalgesetz, das sich verwirkliche, bildeten die dem Täter bekannten Kausalfaktoren noch nicht eine die Sorgfaltswidrigkeit begründende intolerable Gefahr, und das Kausalgesetz, von dem er ein zur Sorgfaltswidrigkeit hinreichendes Ausmaß von Erfolgsbedingungen präsent habe, sei nicht erfüllt. Damit handle es sich um ein Irrtumsproblem. Auch bei dem Problem des rechtmäßigen Alternativverhaltens gehe es nicht um ein Andershandelnkönnen, sondern um die Bildung der Sorgfaltsnorm und den dabei zu berücksichtigenden Ausschnitt aus einem bestimmten Kausalgesetz. Die prozessuale Ungewissheit, welches Kausalgesetz sich im Erfolgseintritt verwirklicht habe, sei nicht durch eine Risikoerhöhungslehre zu überspringen. Die Lehre von der „objektiven“ Zurechnung befasse sich in der Sache mit dem subjektiven Tatbestand. Eine ausgesprochene Kampfschrift gegen die Lehre von der objektiven Zurechnung stellte das umfangreiche Werk von Wolfgang Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, von 1988 dar. Er beklagt, dass sich die Lehre von der objektiven Zurechnung zu einer „Superkategorie“ entwickelt habe 21 und mit ihrer dem überkommenen Erfolgsunwert verpflichteten Auffassung den Gesichtspunkt des Verhaltensunrechts vernachlässige. 22 Bei den Fahrlässigkeitsdelikten sei das Erfordernis der Schaffung einer missbilligten Gefahr neben der spezifischen Handlungsgefährlichkeit und ihrer Realisierung überflüssig. 23 Auch bei den vorsätzlichen Erfolgsdelikten sei das Element der missbilligten Gefah19 20 21 22 23

Roxin (ob. Fn. 15), S. 246f. Struensee, GA 1987, 97ff. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1988, S. 22, 31. Frisch (ob. Fn. 21), S. 26. Frisch (ob. Fn. 21), S. 35f.

Grundsätzliche Angriffe gegen die Lehre von der objektiven Zurechnung

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renschaffung überflüssig, weil es nur auf die Realisierung der ex ante festgestellten Gefahr ankomme. 24 Es handle sich in allen Fällen um Fragen des tatbestandsmäßigen Verhaltens. Nach H.J. Hirsch geht es bei der wesentlichen Abweichung vom Kausalverlauf und der fehlenden Steuerbarkeit der Verwirklichung eines als möglich vorgestellten Erfolges (Erbonkelfall) um Fragen des Vorsatzes. Auch bei einem gefährlichen Verhalten könne eine wesentliche Abweichung vom Kausalverlauf vorliegen und umgekehrt müsse ein Sonderwissen des Täters Berücksichtigung finden. 25 Beim Pflichtwidrigkeitszusammenhang und beim Problem der Verletzung des Schutzzwecks der Norm sei für eine eigene Systemkategorie kein Raum, da die Beziehung zwischen sorgfaltswidrigem Handeln und Erfolg sich bereits aus dem Wesen des fahrlässigen Erfolgsdelikts ergebe. 26 Das Erfordernis des Unmittelbarkeitszusammenhangs beim erfolgsqualifizierten Delikt ergebe sich nicht aus einem allgemeinen dogmatischen Prinzip, sondern aus der Eigenart dieser Deliktsform; die Versuche, den Unmittelbarkeitszusammenhang aus der Lehre von der objektiven Zurechnung zu bestimmen, hätten zu sachwidrigen und sogar konträren Ergebnissen geführt. 27 Auch Küpper 28 ging Punkt für Punkt die Thesen der Lehre von der objektiven Zurechnung durch. Er rügte, dass die Beherrschbarkeit des Kausalverlaufs über die Tatherrschaft ein Bestandteil des Handlungsbegriffs, die Risikoverringerung eine Frage der Rechtfertigung und die Vorsatzabweichungen nach wie vor hauptsächlich ein Problem des Vorsatzes seien. Für die fahrlässigen Delikte bedürfe es außer dem Pflichtwidrigkeitszusammenhang keiner besonderen Zurechnungslehre; die Risikoerhöhungslehre verzichte auf die Kausalität und verlasse damit das Gesetz; der Schutzzweck der Norm sei eine Frage der Konkretisierung der Sorgfaltspflicht. Bei den erfolgsqualifizierten Delikten stünden speziellere Kriterien zur Verfügung. Auch bei der Teilnahme komme der Lehre von der objektiven Zurechnung entgegen Bloy 29 keine umfassende Bedeutung zu. Die Lehre von der objektiven Zurechnung bereite mit erheblichem Aufwand ein dogmatisches „Exerzierfeld“ auf, dessen sachliche Legitimation näherer Überprüfung nicht standhalte. 30

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Frisch (ob. Fn. 21), S. 33ff. Hirsch, Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 399ff., 404ff. 26 Hirsch (ob. Fn. 25), S. 406. 27 Hirsch (ob. Fn. 25), S. 406. Hirsch verweist hier auf Maiwald, Jus 1984, 439, 442ff. und Wolter, GA 1984, 443, 444f. 28 Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, S. 83ff. 29 Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985. 30 Küpper rügte wiederum das Buch von Frisch, (ob. Fn. 21) als „normative Relativierung der Strafbestimmungen unter höchst vagen Maßstäben“ (S. 116). 25

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Schließlich warf Maiwald 31 der Lehre von der objektiven Zurechnung eine Vermengung von Feststellung der Bezweckbarkeit und Wertung, eine Vermischung der beiden Prüfungsschritte vor. Eine Funktion habe sie nur bei der Ausscheidung des Zufalls und der Feststellung der Verantwortlichkeit bei mehreren den Erfolg bewirkenden Personen. 1998 wandte sich H.J. Hirsch noch einmal grundsätzlich gegen die Lehre von der objektiven Zurechnung. 32 Auch er beklagte, dass in der Rubrik „objektive Zurechnung“ ganz unterschiedliche dogmatische Fragen vereint würden. Die Vertreter dieser Lehre suchten ausgehend von der Verursachung des Erfolges wertend nach einschränkenden Kriterien und reihten diese dann aneinander. Nahezu alles, was irgendwo auf der Ebene des objektiven Tatbestands über die speziellen Merkmale der einzelnen Strafbestimmung hinausgehend zur Kausalität hinzukommen muss, werde zu einem Anwendungsfall der objektiven Zurechnung. 33 Es gehe um die objektive Seite der Handlung. Es sei „eine allgemeine dogmatische Einsicht“, dass es zum Beginn der Handlung des unmittelbaren Ansetzens zu ihrer Ausführung bedürfe. Über die Versuchskriterien fehle es auch im Erbonkel-Fall und bei der wesentlichen Abweichung des Kausalverlaufs an der objektiven Seite der Handlung. Der Grund hierfür bestehe wiederum darin, dass eine Handlung die Beherrschung des von ihr umfassten Kausalgeschehens erfordere (hier verweist Hirsch auf Welzel und Küpper und meint somit den Begriff der Tatherrschaft). 34 Die einseitige Orientierung an den Begriffen Gefahr und Risiko verkürze die Problematik. Die Überschreitung des erlaubten Risikos bedeute in Wahrheit den Verstoß gegen das Verbot, seine Einbeziehung die Umwandlung des Verbots- zum Tatbestandsirrtum. Bei der Risikoverringerung gehe es um die Bestimmung des Handlungsobjekts und damit nicht um die „von der objektiven Zurechnungslehre offerierten allgemeinen Merkmale“. Die beim Fahrlässigkeitsdelikt neben der Kausalität erforderlichen Kriterien seien schon unabhängig von der objektiven Zurechnungslehre anerkannt; letztere bilde lediglich eine auf Generalklauseln gebrachte Zusammenfassung von Einzelpunkten. Natürlich steckte die Lehre von der objektiven Zurechnung diese Kritik nicht widerspruchslos ein. Nur die Gegenkritik Roxins gegen Armin Kaufmann konnte hier dargestellt werden. Auch entwickelte sich die Lehre von der objektiven Zurechnung laufend weiter, insbesondere durch Roxins großes Lehrbuch des Allgemeinen Teils des Strafrechts (1991) und seine rasch folgenden Neuauflagen (1994, 1997, 2006). Die weitere Gegenwehr der Lehre von der objektiven Zurechnung und ihre Weiterentwicklung können an dieser Stelle nicht mehr behandelt werden. 31

Vgl. ob. Fn. 16, S. 465ff. Hirsch, Festschrift für Theodor Lenckner zum 70. Geburtstag, hrsg. von A. Eser u.a., 1998, S. 119ff. 33 Hirsch (ob. Fn. 32), S. 129, 141. 34 Hirsch (ob. Fn. 32), S. 133ff. 32

Die Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte Betrachtungen zur Fahrlässigkeitsdogmatik anhand der japanischen Entscheidungen Keiichi Yamanaka Einleitung In der japanischen Strafrechtswissenschaft wird bei der Fahrlässigkeitstheorie die klassische, die neue, die modifiziert-klassische Fahrlässigkeitstheorie und die Besorgnistheorie unterschieden 1. Der Fahrlässigkeitsbegriff wird im Allgemeinen als Synonym mit dem Begriff der Sorgfaltspflichtverletzung interpretiert 2. Nach der klassischen Theorie gehört die Sorgfaltspflichtverletzung zu einem Schuldmerkmal. Der Inhalt der Sorgfaltspflicht besteht aus Erfolgsvoraussichts- und Erfolgsvermeidungspflicht, die jeweils Erfolgsvoraussehbarkeit und -vermeidbarkeit voraussetzt 3. Nach der neuen Theorie gehört der Fahrlässigkeitsbegriff zur Tatbestandsebene. Diese objektive Fahrlässigkeit ist identisch mit der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung. Die Voraussichts- oder Vermeidungspflicht wird aus der Sicht der allgemeinen oder durchschnittlichen Menschen danach beurteilt, ob es die Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit des Erfolgseintritts gibt. Diese neue Theorie verlangt nochmals die subjektive Fahrlässigkeit auf der Ebene der Schuld, die nach den Fähigkeiten des Täters beurteilt werden muss (sog. doppelter Fahrlässigkeitsbegriff). Nach dieser Theorie bezieht sich der Begriff der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt als die äußere Sorgfaltspflicht zwar nicht auf den inneren Zustand des Täters, sondern auf die Täterhandlung, aber das Wesen der Fahrlässigkeit wird noch in der Voraussehbarkeit und in der Vermeidbarkeit des Erfolgs gesehen. Es kommt also in erster Linie nicht auf die äußere Sorgfaltspflicht an, 1 Vgl. Yamanaka, Die Entwicklung der japanischen Fahrlässigkeitsdogmatik im Lichte des sozialen Wandels, ZStW 102 (1990), S. 352ff. (= ders., Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, 2008, S. 214 ff.). Vgl. dazu auch Yamanaka, Keiho Soron (Strafrecht AT), 2. Aufl., 2008, S. 369ff. 2 Der Begriff der „Sorgfaltspflicht“ bedeutet eigentlich die „fehlende innere Willensanspannung“. Aber er wird verwendet als der Oberbegriff der Erfolgsvoraussichtspflicht und -vermeidungspflicht. 3 Nach der klassischen Theorie wurde die Sorgfaltspflicht zwar im Wesentlichen als die Pflicht zur „Anspannung des inneren Willens“ verstanden, aber in der Wirklichkeit als die Voraussichts- und Vermeidungspflicht betrachtet.

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sondern auf die Voraussehbarkeit des Erfolgs. Dagegen hat die Besorgnistheorie, die den objektiven Voraussehbarkeitsbegriff bis zur vagen Besorgnis oder zum Unsicherheitsgefühl hinsichtlich des möglichen Erfolgseintritts erweitert hat, die Fahrlässigkeit in erster Linie in der Vermeidbarkeit, also in der Verletzung der im sozialen Leben erforderlichen Verhaltensregeln, gesehen. Diese Theorie hat in dieser Hinsicht eine epochemachende Perspektive zur Fahrlässigkeitsdogmatik aufgezeigt. Sie hat jedoch die „Verletzung der Verhaltensregeln“ als solche als das praktisch fast einzige Zurechnungskriterium angesehen, weil die Voraussehbarkeit nach dieser Theorie keine einschränkende Funktion für die fahrlässige Haftung erfüllt. Sie wurde wegen der extremen Betonung des Handlungsunwerts und der Vernachlässigung des Schuldprinzips kritisiert. Diese Theorie ist deswegen heutzutage fast verschwunden. In diesem Beitrag ist zunächst die theoretische Systematisierung der fahrlässigen Erfolgsdelikte in die Betrachtung einzubeziehen. Dabei ist die normtheoretische Struktur der Fahrlässigkeitsdelikte zu analysieren. Wenn man das Resultat vorwegnimmt, so basiert meine Fahrlässigkeitstheorie auf der sog. modifiziertklassischen Theorie, die den eigentlichen Fahrlässigkeitsbegriff als subjektive Voraussichts- und Vermeidungspflichtwidrigkeit auf der Schuldebene bleiben lässt. Die objektive Fahrlässigkeit ist dagegen in die Lehre von der objektiven Zurechnung aufzulösen 4. Den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet das Urteil des Obersten Gerichtshofes aus dem Jahre 2003 5. I. Das Urteil des Obersten Gerichtshofes 1. Der Sachverhalt und das Urteil (= Gelbsignalfall) Ein Taxifahrer (der Angeklagte) hat die geschäftliche Sorgfaltspflicht 6 zur Geschwindigkeitsverminderung und Feststellung der Verkehrssicherheit der kreuzenden Straße beim Einfahren in die Kreuzung mit dem gelben, sich abwechselnd ein- und ausschaltenden Signal vernachlässigt. Er ist mit seinem Auto mit einer 4 Vgl. Yamanaka, ZStW 102, S. 365. Wenn die individuelle Fähigkeit des Täters die Tatschuld eingrenzen muss, hat die subjektive Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit auf der Schuldebene eine Rolle zu spielen. In diesem Sinne ist meine Theorie von derjenigen Roxins zu unterscheiden. Vgl. Roxin, Strafrecht AT, 4. Aufl., 2006, § 24 Rn. 3ff., 10ff., S. 1065, Fn. 16. Vgl. auch Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, S. 121 Fn. 634. 5 Vgl. dazu meinen auf Japanisch geschriebenen Aufsatz, „Der Sinn der ‚Vermeidbarkeit‘ in der Fahrlässigkeitstheorie“, in: Kenshu Nr. 704, 2007, S. 3ff. 6 Im japanischen StGB gibt es einen qualifizierten Tatbestand der „geschäftlichen fahrlässigen Tötung“ und „geschäftlichen fahrlässigen Köperverletzung“ (§ 211 Abs. 1jStGB). Derjenige, der geschäftlich durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht hat, wird schwerer bestraft als der Täter einer normalen fahrlässigen Körperverletzung oder Tötung (§209, §210jStGB).

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Geschwindigkeit von 30 bis 40 km / h weitergefahren und ist mit dem von links kommenden, von A gefahrenen Auto zusammengestoßen. Der mit dem A mitfahrende B, der auf dem Rücksitz gesessen hat, ist durch den Unfall ums Leben gekommen. Eine weitere Person, die auf dem Platz neben dem Fahrer gesessen hat, wurde verletzt. Der A hatte Alkohol zu sich genommen und fuhr mit einer Geschwindigkeit von 70 km / h, obwohl eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf unter 30 km / h galt. Er ist überdies in die Kreuzung gefahren und übersah dabei die rote Ampel, weil er sein Handy auf den Boden des Autos fallengelassen hatte. Wenn der Angeklagte daher seine Pflichten zur Geschwindigkeitsverminderung (von 10 bis 15 km / h) und zur Feststellung der Verkehrssicherheit eingehalten hätte, „muss man sagen, dass es schwer ist, festzustellen, dass das Auto vom Angeklagten vor dem Ort des Zusammenstoßes hätte angehalten und der Zusammenstoß vermieden werden können“. Der OGH hat den Angeklagten, der wegen geschäftlicher fahrlässiger Tötung und Körperverletzung angeklagt wurde, freigesprochen 7. Die erste und die zweite Instanz haben festgestellt, dass der Angeklagte den Zusammenstoß hätte vermeiden können, wenn er die Geschwindigkeit vermindert und die Verkehrssicherheit festgestellt hätte. Aber der OGH hat die „Vermeidbarkeit“ verneint. 2. Voraussehbarkeit? Die Frage ist, wie das Urteil die „Voraussehbarkeit“ des Erfolgseintritts beurteilt hat. Im Urteil liest man folgendes: „Es ist in der Regel schwer vorhersehbar, dass es einen Wagen geben kann, der ohne anzuhalten oder die Geschwindigkeit zu mindern mit der Geschwindigkeit von 70km / h beim gelben, abwechselnd sich einund ausschaltenden Signal aus der kreuzenden Straße in die Kreuzung einfahren wird“. Dieser Satz lässt sich so verstehen, als ob auch die „Voraussehbarkeit“ verneint würde. Aber der Satz wurde bei der Beurteilung der fehlenden Vermeidbarkeit verwendet. Er bedeutet zumindest nicht, dass „Nichtvoraussehbarkeit“ in dieser Situation als ein Merkmal der Sorgfaltspflicht betrachtet wird. In der Urteilsbegründung des OGH heißt es: „Man muss sagen, dass es an sich vorwerfbar war, dass der Angeklagte als Taxifahrer, der die allgemeine Pflicht zur Sicherung des Fahrgastes hat, in der oben beschriebenen Weise gefahren ist, weil diese Fahrweise auch aus der Sicht der geschäftlichen fahrlässigen Tötung oder Körperverletzung eine riskante Fahrweise war“. Das bedeutet, dass das Urteil die Fahrweise des Angeklagten als eine unerlaubte gefährliche Fahrweise betrachtet, bei welcher der Erfolgseintritt leicht voraussehbar war. Daraus ergibt sich, dass das Urteil einerseits die Voraussehbarkeit bejaht, aber die Vorhersehbarkeit des Erscheinens des Autos der Verletzten verneint hat. Auch die Vermeidbarkeit wurde verneint. Die Frage ist, wie man diese Formulierungen des Urteils verstehen kann. 7

Urteil des OGH von 24.Jan.2003, Hanrei Jiho 1806, 157. Zu diesem Urteil vgl. auch Yamanaka, Kenshu Nr. 704, S. 3ff.

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II. Bisherige Entscheidungen In Betracht zu ziehen ist, wie die Judikatur bei diesem Sachverhalt in anderen Fällen das Problem gelöst hat. Es gibt manche Entscheidungen in Japan, die Fälle behandelt haben, in denen der Erfolg auch dann eingetreten wäre, wenn der Täter seine Sorgfaltspflicht erfüllt hätte. Die führende Entscheidung ist das Urteil des japanischen Reichsgerichts von 1929 8. Hier ist der Fall als „Bahnübergangfall“ zu bezeichnen. 1. Bahnübergangfall (Urteil des RG vom 11.4.1929, Shinbun Nr. 3006, S. 15) Sachverhalt: Der Lokomotivführer X hat einen Express-Zug mit einer Geschwindigkeit von 40 Meilen / h geführt. Als er sich mit dem Zug einem Bahnübergang näherte, hat er die geschäftlich gebotene Pflicht, seine Aufmerksamkeit nach vorne zu richten, vernachlässigt, den Zug aus Nachlässigkeit weitergeführt und A, ein etwa 2-jähriges Kind, das auf dem Bahnübergang gestanden war, überfahren. A ist gestorben. Urteil: Der Angeklagte hat das Kind A nicht gesehen, weil er beim Näherkommen des Bahnübergangs die Pflicht, seine Aufmerksamkeit nach vorne zu richten, vernachlässigt hat. Es ist deswegen zu prüfen, ob der Tod des A der Erfolg der Vernachlässigung dieser Pflicht durch den Angeklagten ist. Es ist klar, dass der X den A hätte sehen können, wenn er seine Pflicht erfüllt hätte. Aber auch wenn er dabei unmittelbar die Signalpfeife betätigt und die Notbremse gezogen hätte, muss wohl vermutet werden, dass das ein Jahr und neun Monate alte Kind A nicht vom Bahnübergang hätte weggehen können. Da davon auszugehen ist, dass der Angeklagte die Verletzung des A nicht rechtzeitig verhüten konnte, auch wenn er die Signalpfeife betätigt und gebremst hätte, gibt es auch keinen Grund dafür, dass das Unterlassen der beiden Maßnahmen als die Ursache des Todes von A angesehen werden sollte 9. Nach der Urteilsbegründung hätte die Pflichterfüllung durch Betätigung der Signalpfeife und Notbremsung die Verletzung des A nicht verhindern können. Deswegen ist das Unterlassen der Pflichterfüllung keine Ursache des Erfolgs, also gibt es keinen „Kausalzusammenhang“ zwischen der Sorgfaltspflichtwidrigkeit und dem Erfolg. 8 Als eine Urteilsbesprechung vgl. Yukinori Naruse, Keiho Hanrei Hyakusen (100 ausgewählte Entscheidungen in Strafsachen) I, AT, 5. Aufl., 2003, S. 17. 9 Zu diesem Urteil vgl. auch meinen deutschgeschriebenen Aufsatz über „Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft“, in: Loos / Jehle (Hrsg.), Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart, 2007, S. 74. Als auf Japanisch geschriebene Urteilsbesprechung vgl. Yamanaka, in: Keiho Hanrei Hyakusen AT, 2. Aufl., 1984, S. 38ff.

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2. Aufprallunfall (Urteil des Obergerichts Tokyo vom 6.5.1970, Kokeishu Bd. 23, Heft 2, S. 374) Sachverhalt: Das Auto des Angeklagten X, das auf der Nationalstraße von West nach Ost trotz der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km / h mit einer Geschwindigkeit von 70 km / h geradeaus fuhr, stieß in einer Kreuzung ohne Verkehrsregelung mit dem Auto des A zusammen, das auf der Landstraße von Süd nach Nord verkehrswidrig bis zur Mitte der obengenannten Nationalstraße vorfuhr, um in die Nationalstraße nach rechts einzubiegen. A wurde dabei verletzt. Urteil: „Es ist äußerst fraglich, ob der Aufprallunfall hätte vermieden werden können, wenn man den Bremsweg und den Straßenzustand berücksichtigt, auch wenn der Angeklagte mit der gesetzlich erlaubten Maximalgeschwindigkeit von 60 km / h gefahren wäre. Wenn es keine Sorgfaltspflicht des Angeklagten gibt, seine Geschwindigkeit noch auf die verminderte Geschwindigkeit herabzusetzen, lässt es sich nicht feststellen, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung eine Ursache des Unfalls war“. Im Urteil heißt es in Klammern weiter: „Man könnte den Fall wohl so betrachten, dass der Angeklagte den Eintritt des Unfalls hätte verhindern können, wenn er schon von einem vorigen Ort aus, der von der Stelle, wo er in Wirklichkeit auf den Wagen des Opfers traf, weiter entfernt war, mit der Geschwindigkeit von 60 km / h gefahren wäre, weil er noch vom Unfallort entfernt gefahren wäre, als das Opfer in die Nationalstraße hineinfuhr“. „Aber es ist schwer, den strafrechtlichen Kausalzusammenhang zwischen der Geschwindigkeitsüberschreitung des Angeklagten und dem Unfall festzustellen, weil schwerlich gesagt werden kann, dass die erstere über den erfahrungsgemäß in der Regel voraussehbaren Ablauf zum letzteren geführt hat. Der Unfall in diesem Fall ist nicht nur dadurch eingetreten, dass er mit einer solchen hohen Geschwindigkeit gefahren ist, sondern auch dadurch, dass der ungewöhnliche Umstand der nicht voraussehbaren verkehrsrechtlichen Gesetzesverletzung des Opfers danach dazwischengetreten ist“. „Deswegen lässt sich diese Geschwindigkeitsüberschreitung nicht als die Fahrlässigkeit ansehen, die als Ursache dieses Unfalls betrachtet werden kann“. Das Urteil 10 hat den „adäquaten Kausalzusammenhang“ zwischen der Geschwindigkeitsüberschreitung am vorigen Ort und dem Erfolg verneint, auch wenn die Kausalität im Sinne der Bedingungstheorie bejaht werden müsste. Die Argumentation dieses Urteils ähnelt sehr einem Beispiel in einem deutschen Kommentar 11. 10 Zu diesem Urteil vgl. schon Yamanaka, Kausalität und Zurechnung im Strafrecht, 1984, S. 1ff. 11 Heute in: Cramer / Sternberg-Lieben, Schönke / Schröder, StGB 27. Aufl., §15, Rn. 157 ff. Das Urteil argumentiert ganz ähnlich mit dem Beispiel, das im Schönke / Schröder von damals genannt wurde: Z.B. heißt es im Urteil: Wie wäre es denn, wenn der Angeklagte schon von seinem Ausgangspunkt der Fahrt, Shizuoka-Präfektur bis Kanagawa-

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3. Wendefall (Urteil des Obergerichts Fukuoka [Zweigstelle Naha] vom 6.2.1986, Hanrei Jiho Nr. 1184, S. 158) Sachverhalt: Der Angeklagte hat bei seiner Fahrt nach rückwärts blickend damit begonnen, nach rechts zu wenden. Das Opfer A fuhr auf seinem Motorrad, auf dem auch der B mitfuhr, verkehrswidrig mit einer Geschwindigkeit von 100 km / h in die Gegenfahrbahn hinein, um den Angeklagten rechts zu überholen. A hat eine Notbremsung vorgenommen, weil der Wagen des Angeklagten unerwartet quer zur Fahrbahn gewendet hat. A hat dadurch die Balance verloren, ist ins Schleudern geraten und ist auf den Wagen des Angeklagten aufgeprallt. A wurde verwundet und starb. Urteil: Die Sorgfaltspflicht des Angeklagten, die Sicherheit nach rückwärts festzustellen, besteht. Aber auch wenn er diese Pflicht erfüllt hätte, wäre es schwer, ein mit der hohen Geschwindigkeit von etwa 100km / h fahrendes Motorrad zu erkennen. Es gibt den Fall, in dem der Fahrer keine geschäftliche Sorgfaltspflicht hat, das mögliche Fahrzeug, das verkehrsrechtswidrig mit solch hoher Geschwindigkeit das eigene Auto überholen will, vorauszusehen und die Wendung zu unterlassen. Der Angeklagte durfte auf die richtige Fahrweise des nachfolgenden Motorrads des A vertrauen, der dem Verkehrsrecht folgend einen Aufprallunfall von hinten vermeiden kann, und konnte mit der Wende beginnen“. „Die Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht, die Sicherheit nach rückwärts festzustellen, steht mit diesem Unfall in keinem adäquaten Kausalzusammenhang“. Dieses Urteil unterscheidet zwischen der Pflicht zur verkehrsrechtlichen Sicherheitsfeststellung nach rückwärts und der geschäftlichen Sorgfaltspflicht zur Unterlassung der Wende als strafrechtlicher Sorgfaltspflicht. Nach dem Urteil sieht die Beurteilungsstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte wie folgt aus: Wenn es zwischen der erstgenannten Pflichtwidrigkeit und dem Erfolg keinen adäquaten Kausalzusammenhang gibt, so wird die letztgenannte Sorgfaltspflicht verneint. 4. Die Ansätze zum Problem in den Entscheidungen Wenn man den Ansätzen zur Problemlösung Aufmerksamkeit schenkt, so kann man, grob gesagt, vier typisierte Ansätze in den Entscheidungen sehen 12. Erstens ist die Problematik als die Kausalität zwischen der „Fahrlässigkeit“ oder „Sorgfaltspflichtwidrigkeit“ und dem „Erfolg“ anzusehen, wie beim BahnüberPräfektur, wo der Unfall eingetreten ist, gefahren wäre. Der japanische Richter hat den Kommentar offensichtlich gelesen, wie mir bei meinem Referat bei der Strafrechtslehrertagung nachher von dem betreffenden Richter bestätigt wurde. 12 Als die erste ausführliche Untersuchung zu dieser Problematik in Japan vgl. Yamanaka,Kausalität und Zurechnung im Strafrecht, 1984, S. 1ff., S. 78ff. Als neuere ausführliche Forschungsarbeit vgl. Nobuhiko Furukawa, Keiji Kashitsuhan Josetsu (Einführung in die Strafrechtstheorie der Fahrlässigkeitsdelikte), 2007.

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gangfall. Es gibt noch andere Entscheidungen, die zu dieser Gruppe gehören 13. Die Kausalität lässt sich als „Bedingungs“-kausalität (Bedingungstheorie) verstehen. Zweitens gibt es die Entscheidungen, in denen es sich um die Anwendung des Vertrauensprinzips beim verkehrswidrigen Verhalten des Angeklagten handelt, wie beim Wendefall. Bei diesen Entscheidungen wird die „Sorgfaltspflicht“ oder die „Fahrlässigkeit“ verneint 14. Drittens ist die Gruppe der Entscheidungen zu nennen, in denen die Kausalität im Sinne der Bedingungstheorie zwischen z.B. der verkehrsrechtlichen Pflichtwidrigkeit und dem Erfolg bejaht, aber der adäquate oder gesetzliche Kausalzusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg verneint wird 15. Viertens lässt sich erkennen, dass es auch eine Gruppe von Entscheidungen gibt, in denen die „Vermeidbarkeit“ des Erfolgs verneint wird, wie beim Gelbsignalfall des Obersten Gerichtshofes 16. Der Ansatz, der das Problem als die Frage nach dem Verhältnis zwischen „Fahrlässigkeit“ und „Erfolg“ behandelt, findet sich auch in den anderen Entscheidungen zur objektiven Zurechnung 17, bei denen es sich nicht um das pflichtmäßige Alternativverhalten gehandelt hat. Beim sog. „Auf der Autobahn HaltenlassenFall“ 18 hat der OGH einen Kausalzusammenhang zwischen „fahrlässiger Handlung“, also dem unsorgsamen Anhaltenlassen als Handlung des Angeklagten, und dem Todeserfolg bzw. den Verletzungen der Opfer anerkannt. Der Angeklagte ließ den LKW auf der dritten Fahrbahn der Autobahn anhalten, übte gegen den Fahrer Gewalt aus. Nachdem der Angeklagte weggefahren war, musste der Fahrer des LKW noch einige Minuten an jenem Ort halten, um den verlorengegangenen Zündschlüssel zu suchen. In der Zwischenzeit prallte ein nachfolgender Wagen auf den LKW. Der Fahrer und drei Beifahrer des Wagens kamen zu Tode, eine weitere Person wurde verletzt. In diesem Beschluss hat der Oberste Gerichtshof den „Kausalzusammenhang“ bejaht. Es ist klar, dass der Kausalzusammenhang 13 Als Entscheidungen, die die Problematik als Kausalität zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg behandelten, vgl. Urteil des Komatsu AG vom 18.4.1959, Kakeishu Bd. 1. Heft 4, S. 1039; Urteil des OG Nagoya (Zweigstelle Kanazawa) vom 25.1.1966, Kakeishu Bd. 8, Heft 1, S. 2; Urteil des Distriktsgerichts (DG) Osaka vom 21.12.1966, Hanrei Times Nr. 208, S. 205; Urteil des DG Osaka vom 9.2.1972, Hanrei Times Nr. 276, S. 303. 14 Z.B. Urteil des OGH vom 17.11.1970, Keishu Bd. 24, Heft 12, S. 359; Urteil des OGH vom 22.12.1970, Hanrei Times Nr. 261, S. 267; Urteil des OG Osaka vom 17.8.1971, Hanrei Times Nr. 269, S. 260. 15 Vgl auch das Urteil des DG Tokyo vom 31.1.1994, Hanrei Jiho Nr. 1521, S. 153. 16 Vgl. auch Urteil des DG Osaka vom 18.12.1972, Hanrei Times Nr. 291, S. 297; Urteil des OG Fukuoka vom 25.1.1995, Hanrei Jiho Nr. 1559, S. 147. 17 Zu diesem Urteil vgl. auch meinen deutschgeschriebenen Aufsatz über „Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft“, in: Loos / Jehle (Hrsg.), Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart, 2007, S. 74. Als auf Japanisch geschriebene Urteilsbesprechung vgl. Yamanaka, in: Keiho Hanreihyakusen AT, 2. Aufl., 1984, S. 38ff. 18 Beschluss des OGH vom 19.10.2004, Keishu Bd. 58, Heft 7, S. 645. Vgl. Yamanaka, aaO., Loos / Jehle, vorige Fn. S. 285.

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hier nicht im Sinne der Bedingungstheorie gemeint ist, weil diese Kausalität ohne Zweifel besteht. Es handelt sich bei diesem Fall um die Erfolgszurechnung der fahrlässigen Handlung, die über das Dazwischentreten der fahrlässigen Handlungen des LKW-Fahrers und des Fahrers des nachfolgenden Wagens zum Todesbzw. Verletzungserfolg geführt hat. III. Der Sinn von Pflichtwidrigkeit und Erfolg 1. Sorgfaltspflichtwidrigkeit oder Verwaltungsnormwidrigkeit Wie schon oben geschildert wurde, hat die Besorgnistheorie, die als Fahrlässigkeitsbetrachtung vom Verstoß gegen die „Handlungsregel“ ausgeht, den richtigen Ansatz in einem bestimmten Sinne gehabt. Fragwürdig war, dass diese Theorie die richtige Einschränkungstheorie der Zurechnung nicht entwickelt, sondern umgekehrt den Vorhersehbarkeitsbegriff zu stark erweitert hat. Aber was bedeutet hier die Handlungsregel? Nach der Besorgnistheorie bedeutet sie die konkreten Verwaltungsvorschriften in der konkreten Unfallsituation. In der Diskussion um die Fahrlässigkeitsdelikte in Japan bedeutet jedoch die „Pflichtwidrigkeit“ bei den Fahrlässigkeitsdelikten nicht den Verstoß gegen die Verwaltungsvorschriften oder sonstigen Sondernormen an sich. Man unterscheidet zwischen den bloßen Verletzungen von Verwaltungsvorschriften und der Sorgfaltspflichtwidrigkeit. Im Allgemeinen sind Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften nicht immer Sorgfaltspflichtwidrigkeit, sondern bloßes Indiz dafür 19. Theoretisch sind die Sorgfaltspflicht bei den Fahrlässigkeitsdelikten und die verwaltungsrechtliche Sonderpflicht wie folgt zu unterscheiden: Der Zweck der Sonderpflichten ist in erster Linie die Verwirklichung des Verwaltungszwecks oder des ordentlichen Soziallebens. Sie haben nebenbei den Zweck der Vermeidung der Verletzung von geschützten Rechtsgütern durch Unfälle. Die Verkehrsordnung hat z.B. als Nebenzweck die Prävention solcher Körperverletzungen oder tödlichen Verletzungen von Verkehrsteilnehmern bei Verkehrsunfällen, die durch den Verstoß gegen diese Verkehrsordnung erfahrungsgemäß typischerweise verursacht werden könnten. Die Einhaltung der Verkehrsordnung dient der generellen Verhütung fahrlässiger Erfolgsdelikte. Aber im konkreten Fall ist es nicht immer richtig, dass die Einhaltung solcher Verkehrsvorschriften in der Wirklichkeit diesem Zweck gedient hat. Deswegen muss man zwischen konkret wichtigen Sorgfaltspflichten und nicht wichtigen Sonderpflichten unterscheiden. Wichtig ist deswegen, die Kriterien dafür zu klären, wie man die zwei Pflichten voneinander abgrenzen kann. Es muss dabei nur der Grad der Gefahr des Erfolg19

In der deutschen Literatur vgl. auch schon Lenckner, Technische Normen und Fahrlässigkeit, in: Engisch-Festschrift, 1969, S. 490ff.

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seintritts untersucht werden. Bei den allgemeinen Sonderpflichten ist die Gefahr des Erfolgseintritts aus der Sicht vor dem Verhalten im Allgemeinen zu sehen. Dagegen ist bei den Fahrlässigkeitsdelikten in concreto zu prüfen, ob ein solches sonderpflichtwidriges Verhalten den konkreten Erfolg mit sich bringen kann. Nur ein mit dem Erfolg konkret in Verbindung zu bringendes sonderpflichtwidriges Verhalten begründet die Sorgfaltspflichtwidrigkeit bei den Fahrlässigkeitsdelikten. Wenn man dies am Beispiel des Gelbsignalfalls erklärt, so ist das gegen das GelbSignal verstoßende Verhalten nicht die konkrete Gefährdung im Hinblick auf den Erfolgseintritt, wenn keine Wagen auf der kreuzenden Straße fahren oder keine Fußgänger auf der Straße gehen. In dem vom OGH entschiedenen Fall war das sonderpflichtwidrige Verhalten des Angeklagten sorgfaltspflichtwidrig, weil aus der Sicht ex ante konkret schon die Gefährdung vorlag, die zum Erfolgseintritt führte. 2. Verhältnis zwischen Sorgfaltspflicht und Erfolg Was bedeutet das „Verhältnis“, das zwischen der Sorgfaltspflichtwidrigkeit und dem Erfolg als notwendig angesehen wird? Ist es die „Kausalität“ der Handlung des Täters für den Erfolg? Oder besteht dieses Verhältnis in der „Vermeidbarkeit“ des Erfolgseintritts durch die hypothetische Pflichterfüllung? Die Klärung dieser Frage setzt die systematische Analyse der Fahrlässigkeitsdogmatik voraus, die auf dem richtigen Verstehen der Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte beruhen muss. IV. Der Sinn der Vermeidbarkeit 1. Die Interpretation des „Vermeidbarkeitsbegriffs“ durch den OGH Der OGH hat in dem am Anfang dieser Abhandlung zitierten Fall die „Vermeidbarkeit“, die eigentlich zur Voraussetzung des Fahrlässigkeitsdelikts gehört, verneint 20. Nach der klassischen Theorie oder der neuen Theorie war es nicht ausgeschlossen, dass er die Vermeidbarkeit als Voraussetzung der Vermeidepflicht verneinte. Der OGH hat, wie schon oben angeführt wurde, die „riskante Fahrweise“, die zum tödlichen Erfolg usw. führen konnte, also die „Voraussehbarkeit“ des Erfolgseintritts bejaht. Wenn die Voraussehbarkeit vorhanden ist, ist dann auch die Vermeidbarkeit im Zeitpunkt des sorgfaltspflichtwidrigen Verhaltens gegeben? Denn der Erfolg wäre dann nicht eingetreten, wenn der Täter auf Grund der allgemeinen Voraussehbarkeit des möglichen Erfolgseintritts die notwendige Maß20 Vgl. Kiyoshi Hirano, Gendai Keijiho Bd. 6, Heft 3 (Nr. 59, 2004), S. 89. Als Urteilsbesprechung vgl. auch Hiroyuki Yamamoto, Hogaku Skinpo Bd. 111, Heft 3=4, S. 453ff.; Yoshihiro Matsubara, Hogaku Kyoshitsu Nr. 282, Hanrei Select von 2003, S. 27; Masayuki Miyata, Kenshu Nr. 658, S. 155 ff.; Shigeto Kadota, Hogaku Seminar Nr. 582, S. 116.

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nahme zur Erfolgsvermeidung getroffen, also vor der Kreuzung angehalten hätte, wenn es für die Erfolgsvermeidung notwendig gewesen wäre. Deswegen wurde bei den nicht wenigen Urteilsbesprechungen das Vorhandensein der Sorgfaltspflicht an sich bejaht 21. 2. Zwei Vermeidbarkeitsbegriffe Es ist jedoch die Interpretation nicht ausgeschlossen, dass die Vermeidbarkeit als eine Voraussetzung der Sorgfaltspflicht verneint wurde. Es gibt auch manche Entscheidungen, in denen die Vermeidbarkeit und damit die Fahrlässigkeit verneint wurden. Deswegen lassen sich zwei Interpretationsmöglichkeiten in Bezug auf den Vermeidbarkeitsbegriff aufzeigen: Die Vermeidbarkeit als eine Voraussetzung der Sorgfaltspflicht oder als ein anderes Merkmal als die Sorgfaltspflicht. Die letztere Auffassung setzt voraus, dass diese Vermeidbarkeit auftaucht, nachdem die Bejahung der Vermeidbarkeit im ersteren Sinne festgestellt wurde. Diese zwei Begriffe lassen sich als „Vermeidbarkeit vom ex ante-Standpunkt“ und als „Vermeidbarkeit vom ex post-Standpunkt“ bezeichnen 22. V. Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit aus der Sicht ex ante und ex post 1. Die Voraussehbarkeit ex ante und ex post Der Voraussehbarkeitsbegriff in der Fahrlässigkeitsdogmatik wurde bisher von zwei Fragestellungen aus analysiert: Einmal handelt es sich um die Beurteilungskriterien, also die Menschenbilder, auf die sich die Beurteilung der Voraussehbarkeit gründet: Die Frage ist, ob der Täter oder die Durchschnittsmenschen das maßgebliche Kriterium für die Voraussehbarkeit sind. Die andere Frage ist die, ob der Gegenstand der Voraussehbarkeit der konkrete Kausalverlauf bzw. Erfolg oder der allgemeine ist. Bei dieser letzteren Diskussion sollten nach der herrschenden Meinung die Grundzüge bzw. der grobe Umriss eines einigermaßen konkreten Kausalverlaufs maßgeblich sein. Aber die Diskussion um den Grad der Konkretheit der Voraussehbarkeit muss noch analysiert werden: Es kommt darauf an, mit welchem Zweck die Kriterien 21 Nach Kadota aaO., Hogaku Seminar Nr. 582, S. 116, hat das Urteil keine Sorgfaltspflicht verneint. 22 Diese Unterscheidung habe ich schon in meiner Urteilsbesprechung, Keiho Hanrei Hyakusen I, 2. Aufl., 1984, S. 38, vertreten. In der Gegenwart wird diese Unterscheidung von manchen Autoren verwendet: Vgl. z.B. Yuji Otsuka, Keihogaku no Shindoko (Neue Tendenzen der Strafrechtswissenschaft, Festschrift für Shimomura), Bd. 2, 1995, S. 166; Naruse, aaO. (oben Anm. 8), S. 17.

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diskutiert worden sind; ob dieser Begriff die Sorgfaltspflicht begründet oder ein Kriterium der Erfolgszurechnung zum gefährlichen Verhalten des Täters. Die Diskussion um diese Fragen wird in der japanischen Strafrechtswissenschaft noch nicht bewusst geführt. Wenn wir aber die Beurteilung der Gefahr bei der Risikoschaffung und bei der Risikoverwirklichung parallel mit dem Voraussehbarkeitsbegriff sehen, so ist zwischen der Voraussehbarkeit vom ex ante-Standpunkt und der vom ex post-Standpunkt zu unterscheiden. Die Voraussehbarkeit im Sinne der Voraussetzung der Sorgfaltspflicht ist im ersteren Sinne zu verstehen, es reicht also aus, wenn die Voraussehbarkeit des einigermaßen abstrakten Erfolgs vorhanden ist. Als Voraussetzung einer Erfolgszurechnung ist sie im letzteren Sinne zu verstehen, also als Voraussehbarkeit des konkreten Erfolgs, der in der Wirklichkeit eingetreten ist. 2. Zwei Vermeidbarkeitsbegriffe Den zwei Voraussehbarkeitsbegriffen entsprechen zwei Vermeidbarkeitsbegiffe. Die Beurteilung der ex ante-Vermeidbarkeit setzt die der vorherigen Voraussehbarkeit voraus: Der Tod eines Menschen auf dem Bahnübergang ist z.B. beim Bahnübergangsfall im Allgemeinen voraussehbar, wenn der Lokomotivführer keine Maßnahmen wie Pfeifsignal und Bremsen getroffen hätte. Die allgemeine Vermeidbarkeit des Todes eines Menschen auf dem Bahnübergang wäre auch klar, wenn der Lokomotivführer rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen getroffen hat. Beim Gelbsignalfall gilt dieser Gedanke auch: Wenn der Angeklagte ohne die gesetzlich vorgeschriebene Geschwindigkeitsverminderung in die Kreuzung einfährt, so ist der Zusammenstoß mit irgendeinem anderen Wagen, der von rechts oder links näher kommt, allgemein vorhersehbar. Die Vermeidbarkeit in diesem Sinne kann jedoch trotz der allgemeinen Erfolgsvoraussehbarkeit etwa in dem folgenden Fall verneint werden. Wenn ein Selbstmordkandidat plötzlich gerade vor einem Fahrer aus einem Busch neben der Autobahn auf die Fahrbahn springt, kann der Fahrer trotz der Voraussehbarkeit seines Todes im Zeitpunkt des letzten Augenblicks vor dem Aufprall den Unfall nicht vermeiden. Demgegenüber wird die Vermeidbarkeit ex post auch auf der Basis der nachträglich entdeckten Umstände geprüft und die Frage gestellt, ob der Täter den konkreten Erfolg hätte vermeiden können. Beim Bahnübergangsfall war die Vermeidung des Kindstodes nicht möglich, weil das etwa zweijährige Kind nicht schnell genug hätte reagieren können, auch wenn der Lokomotivführer rechtzeitig ein Pfeifsignal gegeben oder gebremst hätte. Das gilt auch für den Gelbsignalfall des OGH: Der Fahrer konnte im Allgemeinen das Näherkommen eines Wagens vorhersehen und er hätte, wenn er die Geschwindigkeit vermindert hätte, den Unfall im Allgemeinen vermeiden können. Deswegen ist die Sorgfaltspflichtwidrigkeit des Täters zu bejahen. 23 Aber die nachträgliche Vermeidbarkeit des konkreten Todeserfolgs, der im nachfolgenden Wagen eingetreten ist, ist zu verneinen, weil der

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konkrete Erfolg auch dann eingetreten wäre, wenn der Fahrer die Sorgfaltspflicht eingehalten hätte 24. 3. Ex ante und ex post-Beurteilungen als Methode der Straftatslehre Der Gefahrbegriff spielt eine wichtige Rolle in der Straftatslehre im Allgemeinen. Nach meiner Methode der Strafrechtsdogmatik ist der systematische Aufbau der Straftatslehre unter Heranziehung der Gefahrbeurteilung ex ante und ex post zu analysieren 25. Diese Methode ist als das dualistische Konzept der Straftatslehre zu bezeichnen 26. Die oben geschilderte Konzeption ist eine Anwendung dieses Gedankens auf die Fahrlässigkeitsdogmatik. VI. Verhaltens- und Sanktionsnorm bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten 1. Verhaltens- und Sanktionsnorm Die Tatbestände der fahrlässigen Erfolgsdelikte bestehen aus der Verhaltensnorm und der Sanktionsnorm. Das ist nicht anders als bei den vorsätzlichen Delikten 27. Die Rolle der Verhaltensnorm liegt darin, dass sie den Schutz der Rechtsgüter bezweckt, indem sie die Verhaltensweise der Menschen reguliert. Diese Regulierung wird dadurch herbeigeführt, dass die verbotenen Verhaltensweisen in den verschiedenen Tatbeständen vorher beschrieben sind. Die Bürger müssen den Inhalt der Tatbestände kennen, um die verbotenen Verhaltensweisen zu vermeiden. Die Rolle der Sanktionsnorm liegt darin, dass sie eine Verhaltensregel für die Rechtsanwender, also Richter, ist, wenn die Verhaltensnorm an ihrer Aufgabe des Rechtsgüterschutzes gescheitert ist und auch die Voraussetzungen 23 Von der Fahrlässigkeitstheorie, die zum Handlungsunwert tendiert, wird der Vermeidbarkeitsbegriff auf Vermeidbarkeit ex ante begrenzt. „Es ist eher überzeugend, wenn man nur die Vermeidbarkeit ex ante als Voraussetzung der Vermeidepflicht behandelt“. Vgl. Yamamoto, aaO. (Anm. 20), S. 463. 24 Hirano, aaO., Gendai Keijiho Nr. 59, S. 89 sieht das Urteil auch so, dass es die Vermeidbarkeit ex post behandelt hat. Aber er merkt kritisch an, dass es schon die ex ante Vermeidbarkeit hätte verneinen sollen. Aber wenn man meine Erklärung im Text versteht, dann ist es undenkbar, dass der OGH schon die Vermeidbarkeit ex ante hätte verneinen können. 25 Über die dualistische Konzeption der Straftatslehre vgl. Yamanaka, Die dualistische Konzeption der „Risikoprognose“ in der Straftatslehre, in: Kansai University Review of Law and Politics No. 28, 2006, S.19ff., vor allem 26ff. 26 Dazu vgl. Yamanaka, Keiho Soron, 2. Aufl., 2008, S. 713ff. 27 Zur japanischen Literatur über die Verhaltensnorm bei den Fahrlässigkeitsdelikten vgl. Norio Takahashi, Eine Betrachtung zur Verhaltensnorm der Fahrlässigkeitsdelikte, Festschrift für Kamiyama, Bd. 1, 2006, S. 3ff.; ders., Kihanron to Keihokaishakuron (Normtheorie und Strafrechtsdogmatik), 2007, S. 76ff.

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der Wirkung der Sanktionsnorm erfüllt wurden. Die Straftatbestände bestehen aus diesen zwei Normen. Das gilt auch für die fahrlässigen Erfolgsdelikte. Was den Sinn der Verhaltensnorm anbelangt, so gibt es in der deutschen Strafrechtswissenschaft zwei Auffassungen: Einerseits die Theorie des Verbots der gefährlichen Handlung 28 und andererseits die Theorie des Verbots der Verletzungsverursachung 29. Nach der ersteren Auffassung ist die Zurechnung kein Merkmal des Tatbestands der Verhaltensnorm, sondern die Erfolgszurechnung ist Teil der Sanktionsnorm. Meiner Ansicht nach sollte der richtige Ausgangspunkt die Verletzungsverursachungstheorie sein. Die Voraussetzung der Wirkung der Sanktionsnorm muss der vollkommene Bruch der Verhaltensnorm sein. Der Normbruch lässt sich im verbotenen Erfolgsunwert sehen, der aus der geschaffenen unerlaubten Gefahr entstanden ist, weil die Aufgabe der Verhaltensnorm, die den Schutz der Rechtsgüter bezweckt, damit gescheitert ist. 2. Die Struktur der Verhaltensnorm bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten Der Fahrlässigkeitsdeliktstatbestand befiehlt als Verhaltensnorm nicht nur in der Weise, dass der Fahrer bei der Fahrt vor der mit Signal versehenen Kreuzung vor der verwaltungsrechtlichen Pflicht steht, „Du sollst dich nach dem Signal verhalten“, er steht vielmehr auch vor der strafrechtlichen Pflicht, „Du sollst dich sorgfältig verhalten, um den Todeserfolg usw. zu vermeiden“. D.h. ihn trifft die strafrechtlich wichtige Pflicht, die den Erfolg verursachende Handlung zu unterlassen. Der Täter darf keine gefährliche Handlung, die zum Erfolg führen könnte, begehen. Diese Handlung ist hier als „normwidrige Handlung“, oder bloß „Normwidrigkeit“, zu bezeichnen 30. Diese normwidrige Handlung erscheint zwar als die „Sorgfaltswidrigkeit“ bei den Fahrlässigkeitsdelikten. Diese Handlung ist jedoch noch kein strafrechtlich genügender „vollkommener Normbruch“ 31, weil die Rechtsgüter noch nicht verletzt wurden. Der „Normbruch“ entsteht erst dann, wenn der konkrete Erfolg nachträglich zur unsorgfältigen, normwidrigen Verhaltensweise zugerechnet wird 32. Diese Beurteilung wird nachträglich durchgeführt. Deswegen ist die Norm noch nicht gebrochen, wenn die unsorgfältige Handlung 28 Vgl. Wolfgang Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S.71ff.; Yamanaka, Festschrift für Suzuki, Bd. 1, S. 60ff. 29 Vgl. Urs Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 13ff.; Joachim Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993, S. 49; vgl. Yamanaka, Festschrift für Suzuki, Bd. 1, S. 59. 30 Die Verhaltensnorm ist durch die normwidrige Gefährdungshandlung in erster Linie verletzt, aber sie ist noch nicht entscheidend gebrochen. Meine Beschreibung in meinen vorherigen Aufsätzen hat diese Unterscheidung nicht klar gemacht. Vgl. Yamanaka, Perspektive der Strafrechtstheorien, Hanzai to Keibatsu Nr. 15, (2002), S. 48; ders., Normstruktur der Straftatslehre, Sandai Hogaku Bd. 34, Heft 3, (2000), S. 385. 31 Über den Begriff des Normbruchs vgl. Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl., 1991, S. 5, S. 9.

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aus der Sicht ex ante nachträglich keine Verwirklichung der normwidrigen Handlung gewesen wäre. Dieser Verstoß gegen die Verhaltensnorm ist als „Normbruch“ im Unterschied zur „Normwidrigkeit“ zu bezeichnen. 3. Die Wichtigkeit der sorgfaltspflichtwidrigen Handlung? Die „Normwidrigkeit“ spielt bei den Fahrlässigkeitsdelikten eine weniger wichtige Rolle als der „Normbruch“, der praktisch das Scheitern der Verhaltensnorm bedeutet. Die Normwidrigkeit, also die „Sorgfaltspflichtwidrigkeit“ bei den Fahrlässigkeitsdelikten, bedeutet nur eine Voraussetzung für die nachträgliche Erfolgszurechnung, die im Rahmen der materiellen Beurteilung nachher verneint werden könnte. So gesehen ist die Diskussion um die „Sondernorm“ bei den Fahrlässigkeitsdelikten in Deutschland nur für die Auffassung der Theorie des Verbots der „gefährlichen Handlung“ wichtig 33. Nach der Verletzungsverursachungstheorie ist diese Normwidrigkeit nur eine Szene im Erfolgszurechnungsverfahren. 4. Die Struktur der Sanktionsnorm bei den Fahrlässigkeitsdelikten Der Fahrlässigkeitstatbestand besteht nicht nur aus der Verhaltensnorm, sondern auch aus der Sanktionsnorm, weil er die Voraussetzungen, unter denen die fahrlässigen Erfolgsdelikte mit der Strafe sanktioniert werden können, enthält. Der vollkommene Normbruch bei der Verhaltensnorm ist die Voraussetzung der Sanktionierung. VII. Nachträgliche Vermeidbarkeit als Risikoverwirklichung Eine formelle Sonderpflichtwidrigkeit bedeutet noch keine Sorgfaltspflichtwidrigkeit als Normwidrigkeit, sondern es bedarf dazu der materiell gesehen das Risiko des Erfolges schaffenden Normwidrigkeit. Der Verstoß gegen die StVO, die regelt, dass bei Rot vor der Kreuzung zu halten ist, ist z.B., wenn keine Personen oder Wagen auf den näheren Straßen vorhanden sind, noch keine Sorgfaltspflichtwidrigkeit, wie sie für fahrlässige Erfolgsdelikte erforderlich ist. Die Sorgfaltspflichtwidrigkeit ist dasselbe wie die Vorhersehbarkeit des einigermaßen abstrakten Erfolgs, der bei der unsorgsamen Handlung im Allgemeinen vorherge32 Über diesen Streit vgl. auch Yamanaka, Keihoni okeru Kyakkanteki Kizoku no Riron (Die Lehre von der objektiven Zurechnung im Strafrecht), 1997, S. 783ff. 33 Vgl. Gunnar Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, S. 273ff.; Rudolf Alexander Mikus, Die Verhaltensnorm des fahrlässigen Erfolgsdelikts, 2002, S. 19ff.; Aurelia Colombi Ciacchi, Fahrlässigkeit und Tatbestandsbestimmtheit, 2005, vor allem S. 87ff.; Hans Kudlich, Die Verletzung gesetzlicher Sondernormen und ihre Bedeutung bei der Sorgfaltspflichtverletzung, Otto-Festschrift, 2007, S. 373ff.; auch Heinz Koriath, Fahrlässigkeit und Schuld, Jung-Festschrift, 2007, S. 397ff.

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sehen werden kann. Dies ist parallel zur „Risikoschaffung“ bei der Lehre von der objektiven Zurechnung 34. Dagegen bedeutet die nachträgliche Voraussehbarkeit die „Risikoverwirklichung“ bei der Lehre von der objektiven Zurechnung. Die Frage nach der „Kausalität“ der Sorgfaltspflichtwidrigkeit und dem Erfolg betrifft in Wirklichkeit die Frage nach der Risikoverwirklichung. Die objektive Sorgfaltspflichtwidrigkeit als ein Fahrlässigkeitsmerkmal drückt nur einen Teil der Lehre von der objektiven Zurechnung aus. Sie hat keinen eigenen Sinn für die Fahrlässigkeitsdelikte, sondern stellt ein Merkmal dar, das in die Zurechnungslehre aufgelöst werden kann 35. Die Fahrlässigkeit im eigentlichen Sinne funktioniert nur als die individuelle Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit, die auf der Schuldebene angesiedelt werden können 36. VIII. Fazit Bei den Fahrlässigkeitsdelikten ist in erster Linie nicht nach der Voraussehbarkeit des Erfolgs zu fragen, sondern nach der Verletzung der verschiedenen Sonderpflichten, die der Täter bei der Handlung einhalten sollte. Diese Sonderpflichten, wie auch die Verwaltungsvorschriften usw. sind nicht alle „Sorgfaltspflichten“ bei den Fahrlässigkeitsdelikten. Zu den letztgenannten Sonderpflichten gehören nur diejenigen, welche im konkreten Fall, ex ante und materiell gesehen, die Schaffung des Risikos des Erfolgseintritts verhüten können. Man kann diese Sondernormwidrigkeit als „Sorgfaltspflichtwidrigkeit“ bezeichnen. Dieses verhaltensnormwidrige Verhalten drückt zwar die Tatausführung der Fahrlässigkeitsdelikte aus, aber sie hat keine eigene Bedeutung bei den Fahrlässigkeitsdelikten, bei denen der Versuch nicht strafbar ist. Der Inhalt der objektiven Voraussehbarkeit ist zweizuteilen: Erstens im Sinne der vorherigen Voraussehbarkeit des abstrakten Erfolgs. Es geht dabei darum, ob z.B. der Fußgänger stirbt, nachdem ihn der unsorgsame Fahrer mit der unerlaubten Geschwindigkeit von 90 km / h auf der Straße angefahren hat. Wenn das der Fall ist, dann ist die Voraussehbarkeit des Erfolgseintritts zu bejahen. Zweitens muss die sorgfaltspflichtwidrige Handlung, die ex ante das unerlaubte Risiko des Todes des Verletzten geschaffen hat, ex post gesehen, in dem konkret verursachten Erfolg verwirklicht werden. Die vom OGH geforderte nachträgliche Vermeidbarkeit ist nichts anderes als die Beurteilung der Risikoverwirklichung. 34

Vgl. Yamanaka, Keiho Soron, 2. Aufl., 2008, S. 375ff. Man kann diesen Zusammenhang auch als „Risikoerhöhungszusammenhang“ bezeichnen, weil es dabei darum geht, ob die sorgfaltspflichtwidrige Handlung, nachträglich materiell gesehen, das Risiko des Erfolgseintritts erhöht hat oder nicht. 36 Vgl. Yamanaka, aaO. (Anm. 34), S. 629ff., vor allem 633ff. Wenn man das Schuldprinzip berücksichtigt, so muss man wenigstens nach der individuellen Voraussehbarkeit durch den Täter als einer Voraussetzung der Sanktionierung fragen. 35

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Die „Sorgfaltspflichtwidrigkeit“, „Kausalität der Fahrlässigkeit“ und „Vermeidbarkeit“ in der japanischen Judikatur sind in die Lehre von der objektiven Zurechnung, also die unerlaubte Risikoschaffung und die Risikoverwirklichung, aufzulösen. Die Sorgfaltspflichtwidrigkeit nach der neuen Fahrlässigkeitstheorie ist nichts anderes als die unerlaubte Risikoschaffung. Die bloße unerlaubte Risikoschaffung ist zwar die „Normwidrigkeit“ im Sinne der Sondernormen, wie der Verstoß gegen die StVO, und man kann dabei von der „normwidrigen Handlung“ sprechen, aber sie ist noch kein „Normbruch“ bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten. Der Normbruch hat nicht nur den Sinn einer Voraussetzung der Sanktionsnorm, sondern auch den des endgültigen Scheiterns der Verhaltensnorm. Wenn man vom „Verhaltensnormbruch“ sprechen will, muss man festgestellt haben, dass sich das unerlaubt geschaffene Risiko im Erfolg verwirklicht hat.

III. Zum Besonderen Teil des Strafrechts

Exhibitionistische Handlungen und Erregung öffentlichen Ärgernisses Wilfried Bottke Es ist mir eine hohe Ehre, mit einigen Gedanken zu Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung an dieser Festschrift für Prof.Dr.Andrzej J. Szwarc mitwirken zu dürfen. Ich erinnere mich in Dankbarkeit an die überaus freundliche Aufnahme, die ich mehrfach bei dem hochverehrten Jubilar in Poznan fand. Ihm seien diese Zeilen gewidmet.

A. Allgemeines I. Welten sind Inbegriffe von Möglichkeiten. Zumindest für den, der in dieser Welt die beste aller möglichen Welten erkennt, ist diese Welt samt der in ihr gegebenen Möglichkeiten, etwa zur Verwaltung von Welt, gut. Gut ist Verwaltbares; Verwaltbares ist Gut. Es verwaltet Welt oder einen Teil von Welt, wer sie oder ihn deutet (konstruiert, rekonstruiert) oder mit ihr oder ihm verfährt, indem er mit ihm dieses oder jenes tut (ihn etwa gebraucht oder missbraucht) oder ihm dieses oder jenes antut (ihn etwa optimiert oder deoptimiert). II. Rechtsgut ist Gut, das Rechtsgespräch so beordnet, dass das Gut auch rechtswidrig (etwa durch diese oder jene Personengruppe in dieser oder jener Weise) verwaltet werden kann. Straftaten fordern eine sozial unerträgliche rechtswidrige Verwaltung eines Rechtsgutes, geläuterter Ansicht nach die rechtswidrige Verwaltung eines Verfassungsgutes 1. III. Wesen sind egoistische Einheiten 2. Denn ihr Da- und Sosein ist ihnen wesentlich. Personale Wesen haben ihre Eigenheiten (etwa Individualität; corporate identity). Gut, das nur mit ihnen ist (etwa eigene Angelegenheiten; Binnenstruktur 1 Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 26.02.2008 –2 BvR 392/07 = NJW 2008, 1137ff.) hat jüngst behauptet, das Dogma des Rechtsgüterschutzes habe keine verfassungsrechtliche Relevanz. Vgl. dazu mit der Forderung der rechtswidrigen Verwaltung eines Verfassungsgutes Bottke, in: FS für Volk, Roma locuta causa finita, (erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2009); grundsätzlich dazu Bottke, in: FS für Lampe, Das Straftaterfordernis der Rechtsgutsverletzung, 2003, S. 488. 2 Schopenhauer, Preisschrift über das Fundament der Moral, 1979, S. 93.

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des Wesens; dauerhafte Verwaltattitüde) heiße ihr ‚Eigengut‘. Eigengüter leiblicher Wesen sind ihr Leib, ihr Leben (die biologischen leibinternen Prozesse, die sie integrieren), andere Leibinterna, wie etwa bei Menschen ihr Humangenom. IV. Menschen sind leibliche Wesen. Sie haben als Eigengut auch ein Sexualvermögen. Dieses setzt sich zusammen aus ihrer Geschlechtszugehörigkeit (‚Sexus‘), ihren Geschlechtsmerkmalen (‚Sex‘), ihrer etwa vorhandenen Fähigkeit, Sexualkontakte zu suchen oder zu begrüßen und Lust zu empfinden oder Sexualkontakte zu meiden und ungesuchte Sexualkontakte mit Unlust zu quittieren (‚Sexualität‘), sowie ihrer Fähigkeit, sich eine relativ stabile Attitüde zum Verwalten eigenen und fremden Sexualvermögens zu fertigen (‚Fertigungsvermögen‘), etc. V. Die Summe der Eigengüter eines Wesens wird ‚Selbst‘ genannt. Akte des Wesens, mit denen es sein Selbst oder Teile seines Selbst verwaltet, heißen Selbstverwaltung. Bei leiblosen Wesen, die Körperschaften sind, ordnen Akte der Selbstverwaltung Binnenstruktur oder andere eigene Angelegenheiten. Akte, mit denen ein Mensch sein Selbst oder Teile seines Selbst verwaltet, können (wie etwa nicht gezeigte Unlust) intern bleiben. Sie können, äußern sie sich, Handlungen sein. VI. Es bestimmt sein Selbst, wer die Akte regiert, die sein Selbst verwalten. Diese Akte können, müssen aber nicht, eigene Akte des Selbsthabers (und Selbsteigners 3) sein. Das Recht auf Selbstbestimmung weist die Hoheit über Akte, die ein Selbst verwalten, dem Selbsthaber zu. Dieser wird so auch rechtlich zum Eigner seines Selbst, zumindest in dem Sinne, dass alle Akte, die sein Selbst verwalten, seiner Zustimmung bedürfen. Fehlende Zustimmung macht den Verwaltungsakt rechtswidrig. Das Recht auf Selbstbestimmung wirkt zumindest negatorisch. VII. Obschon das deutsche Grundgesetz das Recht auf Selbstbestimmung nicht explizit nennt, haben Menschen nach Art. 1, 2 I und II GG das Recht auf Selbstbestimmung. Sie haben auch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Sie haben so zumindest die (negatorische) ‚Sexualhoheit‘ 4. VIII. Das deutsche Strafrecht regelt in den §§174 –184e StGB 5 die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Diese sind Straftaten gegen die (negatorische) Sexualhoheit. Problematisch wird diese Deutung insbesondere bei Straftaten, die das Interesse von Menschen, nicht durch sexualbezogene Handlungen negativ affiziert zu werden, schützen. Die Tatbestände gegen exhibitionistische Handlungen 3 Vgl. dazu Bottke in: Byrd / Hruschka / Joerden, „Gehöre ich mir selbst? Oder: Hat jeder Mensch als Person Eignerhoheit über sein Selbst?“, Jahrbuch für Recht und Ethik, 2003, Bd. 11, S. 337 – 360. 4 Vgl. dazu Bottke, „Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem“, in: Schünemann / Dubber, 2000, S. 235; Bottke, in: FS für Otto, 2007, S. 536. 5 Höchst instruktiv zum neuen Sexualstrafrecht: Gössel, Das neue Sexualstrafrecht – Eine systematische Darstellung für die Praxis, 2005.

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und gegen die Erregung öffentlichen Ärgernisses umschreiben Straftaten gegen die (negatorische) sexuelle Affektionshoheit.

B. Exhibitionistische Handlungen und Erregung öffentlichen Ärgernisses (§§183, 183a StGB) Belästigen durch exhibitionistische Handlungen ist fragmentarisch in §183 StGB, Erregen von Ärgernis durch öffentliche sexuelle Handlungen ist allgemeiner durch §183a StGB kriminalisiert. Die Verweisklausel des §183a StGB weist auf die ‚Geschwisterähnlichkeit‘ der in §§183, 183a StGB kriminalisierten Straftaten hin. Sie wird durch das gemeinsame Rechtsgut gestiftet. Dieses ist, als Unterrecht des Rechtes auf sexuellen Selbstbestimmung, die negatorische sexuelle Affektionshoheit, genauer: die negatorische sexuelle Irritationshoheit. Geschwisterähnlichkeit wird durch Analyse der Straftatvoraussetzungen und der Effekte der Verweisklausel deutlich. Entgegen erstem Anschein diskriminiert §183 StGB als Straftatnorm, die allein männliche exhibitionistische Handlungen pönalisiert, Männer bei Gesamtvergleich von §§183, 183a StGB nicht negativ. I. Exhibitionistische Handlungen (§183 StGB) §183 StGB besagt, dass „ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt“ mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft wird. §183 I StGB ergänzt §§174 II Nr. 1, 176 IV Nr. 1 StGB. Versuch ist straflos. §183 StGB verdrängt §183a StGB. Er konstituiert ein Delikt tatsächlichen Sinntransfers durch exhibitionistische Handlungen. Er umschreibt den Transfer eines spezifischen Sinnes, dessen tatsächliche Rezeption einem Sinnrezipienten etwaig arg oder nachteilig werden kann. Er schützt die Freiheit davor, durch belästigende exhibitionistische Handlungen 6 eines Mannes adressiert und negativ affektiert (‚irritiert‘) zu werden. Exhibitionistische Handlungen eines Mannes sind sexualisiert sexualisierende Kontakte (sexuelle Handlungen vor einem sie Wahrnehmenden) qualifizierter Art. Sie zeigen ‚mit peniler Drastik‘ fremde, maskuline Sexualisiertheit. Dies ist ihr objektiver Sinn. Sie sexualisieren den, dem sie in Aufhebung freiheitswahrender Distanz ihren Sinn realaktlich aufdrängen. Wer durch ihn adressierende exhibitionistische Handlungen ohne Zustimmung und Vermeidemacht in Lebensbereichen, in denen er vor solcher Adressierung sicher sein darf 7, betroffen wird, ist durch sie konfrontiert. Er wird in seiner Freiheit vor 6 Vgl. dazu aus der kriminologisch-sozialwissenschaftlichen Literatur: Benz, Sexuell anstößiges Verhalten, 1982; Koopmann, „Exhibitionismus“, in: MSchrKrim 1942, S. 18ff.; v. Weber, „Bestrafung des Exhibitionismus“, in: MSchrKrimBiol 1940, S. 273ff.; Wille, „Exhibitionisten“, in: MSchrKrim 1972, S. 18ff. 7 Öffentlich muss das Zeigen des männlichen Gliedes, anders als die Tathandlung nach §183a StGB, nicht geschehen, vgl. BT-Drucks. VI / 3521, S. 53. Auch die eigene

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solchen Akten als Inhaber von Sexualität paralysiert. Sein Vermögen, nicht durch ‚penil-exhibitionistische‘ Handlungen irritiert zu werden, wird deoptimiert. Er wird möglicherweise durch konfrontativen, sexualisiert sexualisierenden Kontakt belästigt. Ob er es ist, ist regelmäßig ohne seine entsprechende Artikulation nicht dartubar. 1. Das Recht auf Freibleiben von der sexualisierenden Konfrontation mit möglicherweise oder tatsächlich belästigenden, weil ‚penildrastischen‘, exhibitionistischen Handlungen eines Mannes ist jedem affektierbaren Inhaber von Sexualität garantiert. Es ist ihm als Unterart des Rechtes auf optimale soziale Teilhabe (Art. 2 I GG) garantiert. Es ist die negatorische sexuelle Affektionshoheit, genauer: die negatorische sexuelle Irritationshoheit. Diese ist geschütztes Rechtsgut des §183 StGB. Sie ist Unterart des Rechtes auf sexuelle Selbstbestimmung des einzelnen. §183 StGB findet sich in den §§174 bis 184f StGB. Es ist eine sachund rechtsirrige Verkürzung des Rechtes auf sexuelle Selbstbestimmung, ihm nur das Recht zu subsumieren, seine eigene Sexualität in sexuellen Kontakten zu äußern oder gegen solche zu bewahren. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung umgreift auch das Recht, nicht sexualisierend irritiert zu werden. Es deckt so auch oben genannte Unterfreiheit. 2. All dies ist so einfach, dass es nicht der Rede oder gar weiterer Beredung wert zu sein scheint. Es ist dennoch hervorhebenswert. Zum einen ist die Definition dessen, was Rechtsgut des §183 StGB sei, umstritten. Zum anderen wirken sich abweichende Rechtsgutverständnisse im Wege teleologischer Auslegung auf die Interpretation der Tatbestandsmerkmale aus. Die Angebote zur ratio legis sind, in Verwirrung von Rechtsgut und Zweck, z.T. als Rechtsgutangebote gemeint. Sie konkurrieren untereinander. §183 StGB diene „dem Schutz betroffener einzelner Bürger vor schwerwiegenden Belästigungen“ 8. Er schütze, so heißt es in Reklamierung des fachsprachlichen Kürzels „h.M.“, „die psychische und körperliche Integrität von Personen beiderlei Geschlechts“ 9. Er schütze „gegen ungewollte Konfrontation mit Sexualität“ 10. Er bezwecke, den einzelnen vor „unerwünschte[r] Konfrontation mit bestimmten sexualbezogenen Betätigungen eines Mannes zu bewahren“ 11. Wohnung oder das eigene Hotelzimmer sind mögliche Tatorte, erst recht ein „Hausflur“ oder „Eisenbahnabteil“, vgl. LK-Laufhütte, StGB, 11. Aufl. (2005), §183 Rn 2. Desexualisierte Lebensbereiche sind Bereiche des sozialen Lebens, an denen in der generell berechtigten Erwartung teilgenommen werden darf, mit sexualisierten Akten nicht konfrontiert zu werden. Wer z.B. Gast in fremdem Hotelzimmer ist, muss nicht erwarten, dass ihm der Mieter sein Glied zeigt und so seine Sexualisiertheit drastisch personiert. 8 So LK-Laufhütte, StGB, 11. Aufl. (2005), §183 Rn 1 in bewusster Kontrastierung zu der These, Rechtsgut des §183 StGB sei die sexuelle Selbstbestimmung. 9 Lackner / Kühl, StGB, 26. Aufl. (2007), §183 Rn 1 (als andere Ansicht charakterisiert z.B. von SK-Wolters / Horn, StGB, 62. Lfg., 8. Aufl. (2004), §183 Rn 1). 10 Arzt / Weber, Strafrecht BT, Lehrheft 2, 1983, S. 159 Rn 490.

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3. Was sind die Strafbarkeitsvoraussetzungen? a) Tauglicher Täter kann nach §183 StGB nur ein Mann sein. Ein Mann ist ein Mensch männlichen Geschlechts jenseits des Kindesalters. Dies bedeutet nicht, dass Frauen keine exhibitionistischen Handlungen begehen könnten. §183 I StGB nennt Männer als mögliche Täter und exhibitionistische Handlungen gesondert. §183 IV StGB geht von der vortatbestandlichen Möglichkeit, dass eine Frau sich (nach anderen Strafrechtsnormen strafbar) exhibitioniert, aus. Dies ist sachgerecht. Auch Frauen können sich, etwa durch Zeigen ihres Vaginalbereichs, selbst exhibitionieren. b) Als „eine exhibitionistische Handlung“ gelten legislatorischem Sinnzuweis nach 12 Akte, mit denen ein Mann 13 sein entblößtes (primäres) Geschlechtsteil einer anderen Person ohne deren Zustimmung vorweist, um sich entweder schon dadurch oder zusätzlich durch Beobachten der Reaktion der durch ihn konfrontierten Person oder durch eigene weitere Akte (etwa masturbatorischer Art) sexuell zu erregen oder zu befriedigen. Auch die Kommentarliteratur 14 definiert exhibitionistische Handlungen als selbst begangene Akte von Männern zu, sei es auch vermittelt, eigener sexueller Erregung. Was ist von der Integration der Erfordernisse ‚Mann‘ und ‚sexuelle Erregungsabsicht‘ in dem Begriff der exhibitionistischen Handlung zu halten? Wenig. Dabei sei die Integration von „vornehmen“ (§183 III StGB) in §183 I StGB vorbehalten. aa) Jedes eigenkörperliche, kontextuell unerwartete Vorweisen primärer Geschlechtsteile ist die Vornahme einer sexuellen Handlung vor dem sie Wahrnehmenden (es kann, wenn vor Schutzbefohlenen oder Kindern begangen, nach §§174 II Nr. 1 StGB, 176 IV Nr. 1 StGB strafbar sein.). Es hält dem sie Wahrnehmenden die Sexualität des Vorweisenden drastisch 15 vor. Es demonstriert Sexualisiertheit der sich sexualdrastisch zeigenden Person. Es rechnet auf die Sexualität eines Wahrnehmenden. Es ist ein sexualisiert sexualisierender Kontakt. Sein Sinn ist es, eigene Sexualisiertheit zu kommunizieren. Er kann aus unterschiedlichen Motiven und in vielfältiger Absicht organisiert sein. Er kann unterschiedliche Effekte und Zwecke haben. Er kann dazu verurhebt sein, dem Wahrnehmenden die Privatheit der Wahrnehmung sexualisierten Menschseins zu nehmen. Er kann dazu erwirkt sein, dem Wahrnehmenden in die Gemeinsamkeit 11

SK-Wolters / Horn, StGB, 62. Lfg., 8. Aufl. (2004), §183 Rn 1; vgl. auch BGH bei Dallinger MDR 1974, 544, 546: „Die Vorschrift [...] dient in erster Linie dem Schutz der Betroffenen vor ungewollter Begegnung mit einer möglicherweise schockierenden sexuellen Handlung“. 12 Vgl. BT-Drucks. VI/3521, S. 53. 13 Allgemeine Meinung, vgl. Sick, Brigitte, „Zweierlei Recht für zweierlei Geschlecht“, in: ZStW 1991 (103), 43, 83. 14 MK-Hörnle, StGB (2005), §183 Rn 6; LK-Laufhütte, StGB (1995), §183 Rn 2. 15 Die Drastik macht die sexuelle Tendenz einsehbar.

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solcher Wahrnehmung zu zwingen. Er kann dazu bestimmt sein, dem Wahrnehmenden die Ehre des Diskreten zu nehmen und ihn zu beleidigen. Er kann darauf aus sein, eventuell, sei es auch durch weitere Akte, sexuelle Erregung in sich oder einem Wahrnehmenden zu erreichen. Erreicht der Kommunikationsgehalt des ‚sexualdrastischen‘ Kontaktes einen erwartbar Konfrontierten so, dass dieser ihn erkennt, ist sie eine exhibitionistische Handlung. Das Erfordernis, sich sexuell zu erregen, ist, so gesehen, nicht Begriffsmerkmal einer exhibitionistischen Handlung. Allerdings, nach legislatorischem Sinnzuweis 16 muss das exhibitionistische Handeln, sei es auch vermittelt durch weitere Akte, dem Exhibitionisten zur Erregung oder Verstärkung seiner sexuellen Lust dienen. (1) Dem Gesetz ist das Erfordernis solcher sexuellen Intention kaum zu entnehmen. Dass die Wortfolge „exhibitionistische Handlung“ begrifflich das Erfordernis einer Absicht, sexuelle Lust in sich oder in dem Konfrontierten zu erregen, trägt, wird mangels entsprechend allgemeinsprachlich geübten Wortgebrauchs in §183 StGB ‚hineingedeutet‘. Es wird nicht aus dem Gesetzestext in Exegese geübten Sprachgebrauchs oder aus der Gesetzessystematik ‚herausgelesen‘. Denn anders als §§174 II Nr. 1 StGB nennt der Wortlaut des §183 StGB nicht das Erfordernis, sich oder den Kontaktierten sexuell zu erregen; keine Straftatnorm der §§183 bis 184c StGB fordert zu einem Delikt gegen die negatorische sexuelle Affektionshoheit explizit sexuelle Erregungsabsicht. (2) Dieses Erfordernis ist auch nicht in strafgesetzlicher Adaption etwaig sexologischen Konsenses über die ‚exhibitionistische Handlung‘ 17 als eines ihrer Begriffselemente fixierbar. Habituelle Exhibitionisten mögen allermeist oder stets zur Erregung eigener und / oder fremder Lust agieren. Habitueller Exhibitionismus ist (auch) ein sozial(wissenschaftlich)es Konstrukt. Seine Konstruktion ist vorstrafrechtlich offen. Sie kann de lege lata dahingestellt bleiben. §183 StGB kriminalisiert nicht nur habituelle, sondern auch occasionelle Exhibitionisten. Er kriminalisiert, seinem Wortlaut nach, von einem Mann verurhebte Belästigungen durch exhibitionistische Handlungen. Dieser kann auch aus ‚Machtlust‘ und zur Belästigung handeln. Er kann den Konfrontierten mit sich gemein und / oder gemein machen, d.h. erniedrigen, wollen. Exhibitionistische Handlungen kommunizieren die psychischen Befindlichkeiten und Bestrebungen des Handelnden nicht zwingend. Gezeigtes erigiertes Glied kann gezeigter Priapismus sein. Wer sein Glied masturbiert, mag sich erregen und / oder den beobachteten Beobachter erniedrigen oder erregen wollen. Er mag in puerile Präsentierlust regredieren oder gravierendere Aggressionen antizipieren. Er mag aggressiv gestimmt sein oder nicht. Er drängt sich allemal objektiv dem Konfrontierten möglicherweise belästigend auf. 16

Vgl. BT-Drucks. VI/3521, S. 53. Vgl. zur Definition von Exhibitionismus in der sexuologischen Literatur allg.: Hesse (Hrsg.), Sexuologie: Geschlecht, Mensch, Gesellschaft, 1974–1978, Leipzig. 17

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(3) Das Erfordernis sexueller Lusterregung ist nicht einmal rechtsgutreferentiell begründbar. Im Gegenteil, seine Formulierung ist dem Rechtsgüterschutz dysfunktional. Wer einem anderen in desexualisierten Bereichen der Teilhabe am sozialen Leben seine männliche Geschlechtlichkeit penildrastisch und konfrontativ vorweist, agiert realpornoperformatorisch. Er kontaktiert eine andere Person normbrecherisch. Er verletzt fremdes Rechtsgut. Er deoptimiert optimales Vermögen zur Nichtirritation. Hat sein Konfrontationsakt, je nach Sensitivität, Ignoranz (Nichtwissenwollens) und Toleranz des Konfrontierten, den mit dolus directus erwarteten oder mit Absicht erstrebten Belästigungseffekt, ist sein Akt sozial intolerabel und kriminalisierungsbedürftig. Denn regelmäßig ist ein Inhaber von Sexualität und Sexualsensitivität, der mit penildrastischer Realpornoperformanz konfrontiert wird, nicht rechtlich angehalten, sich nicht belästigt zu fühlen. Derartige Konfrontation ist in deexhibitionierten Lebensbereichen materiell kriminell auch und gerade dann, wenn der sie verurhebende Akt nicht sexuelle Lust erregen, sondern alleine Machtnahme demonstrieren und beängstigen soll. Dies kann gerade bei Gliedzeigern der Fall sein, die ‚einmalig‘ handeln. Mithin: Die Absicht sexueller Lusterregung ist durch teleologische Auslegung vom geschützten Rechtsgut her nicht begründbar. bb) Wenn die Kommentarliteratur und Rechtsprechung gleichwohl sexuellen Zweck im oben definierten Sinne fordern, so erklärt sich dies zum Teil aus einem sachirrigen Verständnis exhibitionistischer Handlungen und deren Unrecht. Es ist zum Teil aus einem Rechtsgutverständnis erklärlich, in dem sich das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zugunsten diffuser Schutzzweckbehauptungen verflüchtigt, die eben deshalb nach (scheinbar sachnahen, weil hier mit Sexualität zu tun habenden) Restriktionen verlangen. Es hebt §183 StGB von §183a StGB, der unstrittig keine Absicht sexueller Lusterregung fordert, nicht nach dem objektiven Charakter pornoperformatorischen Handelns und dessen Negativeffekt ab. Es inkorporiert in die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ein subjektives Moment, das ihnen grundsätzlich und mit rechtsgutreferentiellem Recht fremd ist. c) Straftattauglicher Tatakt ist gesetzestextlich „belästigt“. Mittel hierzu ist „eine exhibitionistische Handlung“. Wo diese Handlung vorgenommen wird, ist – anders als in §183a StGB – gleich. Sie kann auch ‚entre nous‘, unter vier Augen, vorgenommen werden, sofern sie trotz solch relativer Nichtöffentlichkeit erwartungswidrig an deexhibitionierter Stätte oder zu deexhibitionierter Zeit vorgenommen wird. aa) Es wird jemand einem anderen lästig, wer ihm zur Last wird. „Belästigt“ weist seinem Stammwort nach auf den Negativeffekt hin, den die exhibitionistische Handlung auf den mit ihr Konfrontierten hat. Der Negativeffekt muss hier, aus rechtsgutreferentiellen Gründen, eine negative Sexualaffektion sein. Er kann ‚Sexualirritation‘ heißen. Der Vorsilbe ‚be-‘ wohnt schon allgemeinsprachlich ein intentionales Moment inne, das über bloß für möglich gehaltenes Lästig-Werden

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hinausgeht. Es ‚be-lästigt‘ jemand einen anderen, wer sich vorsetzt, in dem anderen negative Empfindungen auszulösen und geeignete Maßnahmen hierzu ergreift, die in negativer Affektion resultieren. Man kann solch gemeinsprachliches Sinnverständnis, rechtsgutreferentiell statthaft und kriminalpolitisch sinnvoll, definitorisch verstärken. Ein ‚be‘-lästigt ist dann bejahbar, wenn der Verurheber einer negativen Affektion diese für den Fall, dass die belästigungsgeeignete Handlung irgendeine andere Person adressiert, intendiert oder wenigstens bezweckt. In Bezug auf den Belästigungseffekt ist – bei für nur möglich haltbarer und etwaig gehaltenen Adressierung irgendeiner Person – mindestens Zweckvorhabe zu fordern. bb) Es exhibitioniert etwas, wer es einer oder mehreren anderen Personen zur Wahrnehmung herausstellt. Das Etwas kann insonderheit etwas Intimes sein, was gemeinhin im Geheimnis des Privaten bleibe und nun gemein wird. In dieser Gesellschaft wird Intimes, etwa in Talkshows, zunehmend öffentlich: ‚gemein‘ gemacht. Es exhibitioniert sich, wer sein privates Leben und / oder seine private Persönlichkeit publik und einen oder mehreren anderen zum Publikum macht. Es könnte, bei so umgangssprachlich vorbereitet weitem Sinnverständnis von Exhibitionismus eine exhibitionistische Handlung schon verurheben, wer, wie auch immer, exhibitionistisch handelt, indem er Privates in das Öffentliche zerrt und einen oder mehrere Wahrnehmende zum Publikum macht. Exhibitionistische Handlungen, durch die jemand eine andere Person in ihrer negatorischen sexuellen Affektionshoheit infringieren und so belästigen kann, sind sinnenger zu definieren. Exhibitionistische Handlungen sind solche von sexualdrastischer, etwa vaginaloder penildrastischer Realpornoperformanz. Sie können Bedrohungsängste auslösen. Sie können arg sein. Sie können irritieren. Sie können belästigen. cc) Es belästigt durch eine exhibitionistische Handlung, wer eine realpornoperformatorische Handlung als Mittel zur möglichen Irritation einsetzt und so den Affektionserfolg, wie vorgesetzt, kausiert. Wer mit exhibitionistischer Handlung nicht konfrontiert wird, sondern sie zu entdecken sucht, mag über das, was er findet, empört sein. Er wird nicht belästigt 18. Wer mit sexualdrastischer Realpornoperformanz in ‚de-exhibitionierten‘ Lebensbereichen konfrontiert wird, dem wird nicht nur als Inhaber von Sexualität seine Freiheit vor exhibitionistischer Adressierung genommen. Ein solches Konfrontiertwerden kann, je nach Kontext, ihm statt zur voyeuristischen Lust zur Last gereichen. Es kann ihn belästigen. Es belästigt ihn, wenn in ihm das Konfrontiertwerden nachvollziehbar Bedrohungsängste oder sonstiges psychisches Unwohlsein nicht unerheblicher Art auslöst; erwartungswidrig effiziertes Amüsement ist nicht Belästigung 19. Nachvollziehbar18 Beispiel: Polizeibeamte oder Bedienstete privater Sicherheitskräfte, die öffentliche Toiletten kontrollieren und Masturbierende finden, werden nicht belästigt. 19 Wer über das, was er sieht, lacht, sich amüsiert oder mit Gleichgültigkeit hinwegsetzt, wird nicht belästigt. Wer es effiziert, macht sich nicht lästig, auch wenn er solches vorhatte. Er belästigt nicht.

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keit wird durch erfahrungsgemäß gegebene Eignung vermittelt. Bloße Eignung der exhibitionistischen Konfrontation genügt nicht. Sie muss auch im Konfrontierten besagtes Gefühl 20 effizieren. Gefühle werden durch Artikulation kommuniziert. Sie müssen bezeugt werden. Das Strafantragserfordernis kanalisiert die Art, in der Belästigung über die Aussage als Zeuge hinaus prozessual bezeugt wird (§183 II StGB). d) Dass der Erfolg negativer Sexualaffektion vom Belästiger selbst, also durch eine eigenkörperliche exhibitionistische Handlung, kausiert sein muss, ist nicht gesetzestextlich in §183 I StGB verlangt. Es wird auch durch den Titel des §183 StGB nicht explizit gefordert. Das so allgemein geteilte Urteil ist interpretatorisches Konstrukt. Die Tat des §183 I StGB wird so in toto als angeblich „eigenhändiges Delikt“ 21 eingestuft. Solcher Konsens konstruiert die Tatbestandsseite des §183 I StGB („Ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt“) so, als ob und auf dass dort stünde: ‚Ein Mann, der sich selbst einer anderen Person in sie belästigender Weise durch seine penildrastische Realpornoperformanz sexuell exhibitioniert‘. Konsens fingiert die Tatbestandsseite so, als ob und auf dass sie hieße: ‚Ein Mann, der sich selbst exhibitioniert und dadurch einer anderen Person psychische Pein verursacht‘. Nur wer sich als Mann also selbst exhibitioniere, belästige i.S.v. §183 I StGB. Was ist davon zu halten? Es ist nur als Uminterpretation zu halten. Dass sie sein muss, ist nicht gesagt. Es ergibt sich lediglich aus einem Umlesen, das legislatorischem Sinnverständnis folgt und die in §183 III StGB im Hinblick auf eine Strafaussetzung zur Bewährung geforderte Erwartung, „dass der Täter [...] keine exhibitionistischen Handlungen mehr vornehmen wird“ retrospektiv für das etwaig verfahrensgegenständliche Belästigen in §183 I StGB rückübersetzt. aa) Notwendig ist diese Konstruktion durch reformulierende Umdeutung nicht. Man könnte, wortlautgetreu, als Tatakt auch das „belästigt“ ansehen. Exhibitionistische Handlungen seien sexuelle Handlungen mit sexualdrastischer Realpornoperformanz in deexhibitionierten Lebensbereichen vor einem anderen. Wo das Gesetz in den §§174ff. StGB die (nota bene: stets eigenkörperliche) Vornahme einer sexuellen Handlung genügen lasse oder fordere, sage es dies. Hier sage es dies nicht. Es lasse die Vornahme, das Vornehmenlassen und dessen Modalität offen. Es stelle, rechtsgutreferentiell korrekt, auf die nach allgemeinen Regeln täterschaftliche Verurhebung einer Belästigung durch (irgend)eine exhibitionistische Handlung ab. Jedermann, der in Ausübung von relevanter Gestaltungsherrschaft 22 in Erfüllung 20

Vgl. Lackner / Kühl, StGB, 26. Aufl. (2007), §183 Rn 3. LK-Laufhütte, 11. Aufl. (2005), §183 Rn 6; Tröndle, StGB, 48. Aufl. (1997), §183 Rn 16. 22 Vgl. Bottke, Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, Struktur der Täterschaft bei aktiver Begehung und Unterlassung als Baustein eines gemeineuropäischen Strafrechtssystems, 1992, S. 44ff. 21

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der Voraussetzungen der §§25, 13 StGB 23 eine Belästigung hervorrufe (verurhebe, organisiere), belästige täterschaftlich. Jeder Mann, der eine andere Person durch irgendeine exhibitionistische Handlung so belästige, belästige i.S.v. §183 StGB. Eine exhibitionistische Handlung könne seine selbst begangene sein. Sie könne die eines anderen Mannes oder einer Frau sein. Denn: Nach Wortlaut und Rechtsgut müsse eine Belästigung nicht „selbst“, durch eine eigene exhibitionistische Handlung, hervorgerufen sein. Sie müsse nur in Anmaßung sexueller Irritationshoheit „durch eine exhibitionistische Handlung“ eines Menschen hervorgerufen sein, über dessen Handeln der Hintermann die relevant überlegene Gestaltungsherrschaft eines mittelbaren Täters ausübe. Es sei z.B. möglich, „durch“ einen nach §20 StGB analog machtschwachen Menschen, der zu sexualdrastischer Personierung seiner Sexualität gebracht werde, eine andere Person zu belästigen. Dass Beteiligungsakte an exhibitionistischen Akten „schwer vorstellbar“ 24 sind, mag sein. Es ist mögliches Vorurteil. Unmöglich sind Beteiligungsakte jedweder Art nicht. bb) Freilich, das Verständnis des Tataktes, dieser sei eine belästigende exhibitionistische Handlung eines sie selbst vornehmenden Mannes, hat historische und systematische Argumente für sich. Es war das Verständnis des Gesetzgebers 25. Es fand partiellen Ausdruck in der Betitelung des §183 StGB, im besonderen Tätermerkmal ‚Mann‘ und in der in §183 III StGB enthaltenen Wendung, „dass der Täter [...] keine exhibitionistischen Handlungen mehr vornehmen wird“. Solche zukunftsorientierte, weil für zukünftige Heilbehandlung gesagte Wendung indiziert im Verein mit legislatorischem Tatbild zu §183 I StGB, dass ein Mann als Täter eine exhibitionistische Handlung vorgenommen hat. §183a StGB, der durch die Verweisklausel dem §183 StGB subsidiär ist, spricht davon, dass jemand sexuelle Handlungen „öffentlich vornimmt und dadurch absichtlich oder wissentlich ein Ärgernis erregt“. Dies ist geringfügig anderes als die Umschreibung, jemand ‚ver-ärgere‘ durch ‚seine‘ exhibitionistische Handlung eine andere Person. Ohne den in §183 StGB implementierten Mitsinn eigener, selbst vorgenommener exhibitionistischer Handlung ist Subsidiarität des §183a StGB kaum nachvollziehbar. Es kommt zweierlei hinzu: Zum einen, wäre genanntem Verständnis trotz ihrer gesetzestextlichen Andeutung in §183 III StGB nicht zu folgen, wäre die Täterqualifikation „Mann“ ohne rechten Strafbegründungssinn. Denn: Sie würde bei 23 Beispiele: Jemand stiftet einen nach §20 StGB schuldunfähigen Gliedvorzeiger zum Gliedvorzeigen an; eine Person, die einen habituellen Gliedvorzeiger als Gefahrenquelle abzuschirmen hat, kommt vorsätzlich ihrer Pflicht nicht nach. 24 LK-Laufhütte, StGB, 11. Aufl. (2005), §183 Rn 6. 25 Vgl. BT-Drucks. VI/3521, S. 53; Horstkotte, in: Protokolle der Beratungen des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform VI / S. 1769: „Es ist freilich gleich festzuhalten, dass bisher in keiner ausländischen Rechtsordnung, [...] der Exhibitionist aus dem Strafrecht herausgenommen worden ist.“

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wortlautfixierter Auslegung des §183 StGB nur bewirken, dass Männer, die sich selbst penildrastisch exhibitionieren oder einen anderen Mann in Ausübung relevanter Gestaltungsherrschaft zu exhibitionistischen Handlungen bringen, strafbar sind. Aber auch Frauen können Belästigung durch einen widerstandsunfähigen Mann verurheben, den sie in quasi mittelbarer Täterschaft dazu bringen, sich einem Dritten exhibitionistisch zu zeigen. Nur Männer bei vergleichbarer Beteiligung an einem penildrastischen Angriff auf sexuelle Irritationshoheit als mittelbare Täter anzusehen, wäre schwerlich kriminalverfassungsrecht. Es wäre minder kompatibel mit dem Statusdiskriminationsverbot 26. Zum anderen, die Tatbestandsseite des §183 I StGB lautet nicht: ‚wer als Mann eine andere Person durch eine männliche exhibitionistische Handlung, die er vornimmt oder durch einen anderen Mann (der widerstandsunfähig, getäuscht oder genötigt ist) vornehmen lässt, belästigt‘. Sie lautet, sei es auch so oder so deutbar oder umdeutbar, so wie sie lautet. Mithin: Es sei §183 I StGB so gelesen, als ob da stünde: ‚Ein Mann, der eine exhibitionistische Handlung vornimmt und hierdurch eine andere Person belästigt‘. Dieses Interpretationsergebnis ist als de lege lata reconstructa rechtsvalid. Es ist zugunsten der Freiheit von Täterstrafe aller Menschen verbindlich, die quasi mittelbar täterschaftlich agierende Belästigungsurheber sind. Es ist verbindlich, auch wenn sie nur eigenkörperlich handelnde Exhibitionisten und unter diesen realtypisch gerade kranke Exhibitionisten den §§25, 183 StGB unterfallen lässt. Nicht als Täter erfasst sind Personen, die eine andere Person durch exhibitionistische Handlungen eines Dritten belästigen. Sie sind nicht erfasst, obschon gerade diese Personen nicht oder weniger häufig wie habituelle Exhibitionisten an schweren Neurosen leiden. Sie sind nicht erfasst, obgleich sie, wenn sie durch einen sich-exhibitionierenden Mann oder durch eine sich exhibitionierende Frau belästigen wollen, voll vorwerfbar durch einen anderen das geschützte Rechtsgut angreifen. e) Die (scil.: selbst, weil eigenkörperlich, vorgenommene) belästigende exhibitionistische Handlung (eines Mannes) kann und wird allermeist, muss aber nicht durch positives Tun erfolgen. Sie kann auch in einem pflichtwidrigen Nichtbedecken entblößten Geschlechtsteils liegen 27, wenn das Unterlassen der Abschirmung eigenkörperlicher Quelle tatbestandsrelevanten Risikos 28 mit der erforderlich psy26

Art. 26 IPbpR. SK-Wolters / Horn, StGB, 62. Lfg., 8. Aufl. (2004), §183 Rn 5. 28 Eigenkörperliche Unterlassungstäterschaft ist hier nach §§13, 25 I 1. Alt., 183 StGB strafbar. Jeder ist Hüter der Risiken, die sein Körper für andere auslöst. Dieses Risiko ist hier die Gefahr der Deoptimierung fremden Vermögens zur Nichtaffektion. Solches Risiko kann auch ein Infektionsrisiko sein, vgl. dazu und zur Figur unmittelbarer, weil eigenkörperlicher Unterlassungstäterschaft Bottke, Täterschaft und Gestaltungsherrschaft. Struktur der Täterschaft bei aktiver Begehung und Unterlassung als Baustein eines gemeineuropäischen Strafrechtssystems, 1992, S. 139ff.; ders., Haftung aus Nichtverhütung von Straftaten Untergebener in Wirtschaftsunternehmen de lege lata, 1994, S. 32f. 27

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chischen Tendenz geschieht und im Belästigungseffekt dem aktiven Vorweisen gleichkommt. f) Ergänzungen zu den psychischen Erfordernissen des §183 StGB sind angebracht. Sie seien getan zu der sexuellen Erregungsabsicht, dem nach §15 StGB notwendigen Tatbestandsvorsatz und der Zweckvorhabe einer Belästigung. aa) Der Irritierte kann, muss aber – nach allgemeiner Ansicht – nicht, die Person sein, auf deren sexuelle Erregung es dem Exhibitionisten ankommt 29. Denn der Exhibitionist kann auch nur sich selbst erregen wollen. bb) Gemäß §15 StGB fordert §183 StGB, wie alle Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Vorsatz. Nach allgemeinen Regeln genügt dolus eventualis. Aber insoweit sind stets tatbestandsspezifische Korrekturen möglich. Korrektur ist hier, was den Irritationserfolg angeht, angebracht. Sie ist zum einen angeraten durch „be-lästigt“. Sie ist zum anderen angeraten durch die Verweisklausel in §183a StGB. Dort wird ein ‚Be-ärgern durch eine selbst vorgenommene exhibitionistische Handlung‘ damit umschrieben, wer öffentlich eine sexuelle Handlung vornehme, sei strafbar, wenn er dadurch absichtlich oder wissentlich ein Ärgernis errege. Fachsprachliches Genügenlassen von bedingtem Vorsatz ist mit dem gemeinsprachlichen Sinn von Be-lästigen kaum noch kompatibel. Zwar muss er nur bedingt vorsätzlich im Hinblick auf die Vornahme seiner penildrastischen exhibitionistischen Handlung handeln. Handelt er im Hinblick auf einen Irritationseffekt, den er als nur möglicherweise eintretend ansieht, mit Absicht, genügt dies. Er muss den Irritationseffekt auch nicht in alleiniger Zweckvorhabe erstreben. Es genügt auch, wenn er ihn als sichere Folge seiner exhibitionistischen Handlung voraussieht oder die Möglichkeit, diesen Erfolg durch seine exhibitionistische Handlung zu erwirken, als höchst naheliegend annimmt und erwirkt. Solches Voraussehen und Annehmen ist dem in §183a StGB verlangten Wissen nah. Es wahrt dem intentionalen Moment des Be-lästigens seinen eigenen Sinn. Allerdings, der Irritierte muss nicht derjenige sein, den der Exhibitionist zu irritieren beabsichtigte. Der Exhibitionist muss nur die Irritation dessen für möglich gehalten haben, den er tatsächlich belästigte. Individualität des Belästigten muss nicht antizipiert sein. Denn: §183 StGB individualisiert nicht das Tatopfer durch die Absichten, die der Exhibitionist hatte. Wer als erwartbarer Wahrnehmender des exhibitionistischen Aktes negativ affiziert wird, ist als „eine andere Person“ durch diesen belästigt. Aber, setzt sich der Täter nicht zumindest auch vor, die adressierte Person zu irritieren, handelt er in Bezug auf eine von ihm erwartungswidrig irritierte Person nicht vorsätzlich; er be-lästigt nicht.

29 Vgl. SK-Wolters / Horn, StGB, 62. Lfg., 8. Aufl. (2004), §183 Rn 3; LK-Laufhütte, StGB, 11. Aufl. (2005), §183 Rn 4; S / S-Lenckner / Perron / Eisele, StGB, 27. Aufl. (2006), §183 Rn 4; Fischer, StGB, 55. Aufl. (2008), §183 Rn 6.

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g) Teilnahme durch Männer und Frauen ist möglich. Dabei ist zweifelhaft, ob und inwieweit das täterqualifizierende Merkmal ‚Mann‘ ein besonderes persönliches Merkmal i.S.d. §28 I StGB ist. Einerseits muss die exhibitionistisch handelnde Person ‚selber‘ ein Mann sein, um „selbst“ als Mann die exhibitionistische Handlung vornehmen zu können. Ob man Mann ist, liegt in und an einem selber. Man kann die biologische Eigenschaft, Mann zu sein, nicht wie eine Amtsträgerstellung, die trotz ihrer ernstlich nicht bestreitbaren Tatunrechtsbezogenheit ergebnisunstrittig besonderes persönliches Merkmal ist, übertragen. Man kann sie allenfalls camouflieren oder um den Preis letztlich ungenügender Geschlechtsumwandlung abändern. Dies spricht nahezu mit scheinbarer Selbstevidenz für die Annahme, Mann sei ein besonderes persönliches Merkmal i.S.d. §28 I StGB 30. Andererseits ist es, wie oben dargetan, möglich, dass Frauen in quasi mittelbarer Täterschaft auf einen (etwa schuldunfähigen) Mann einwirken, ihn zur penildrastischen, pornoperformatorischen Vornahme einer exhibitionistischen Handlung bringen und so durch ihn eine andere Person belästigen können. Sie können fremde Männlichkeit substituieren. Sie können die sexuelle Selbstbestimmung der anderen Person materiell kriminell durch einen Mann angreifen. Gleiches gilt für Männer. Können Merkmale im Wege der mittelbaren Täterschaft substituiert werden, so sind sie nicht höchstpersönliche 31. Würde diese Aussage auch auf quasi mittelbar täterschaftliche Substitution erstreckt, wäre Mann i.S.v. §183 StGB nicht als besonderes persönliches Merkmal i.S.v. §28 I StGB anzusehen. Zudem sanktioniert §183 StGB fragmentarisch das Jedermann-Gebot 32, keine exhibitionistischen Handlungen in deexhibitionierten Lebensbereichen vorzunehmen; es ist insofern tatbezogen. Jedoch, nach der durch legislatorischen Sinnzuweis bedingten Umkonstruktion zu einem eigenkörperlichen (‚eigenhändigen‘) Delikt ist Männern und Frauen mittelbare Täterschaft verunmöglicht. Dies mag „kriminalphänomenologischen Erwägungen“ 33 (auch sachirriger Art) entsprungen sein. Es ist der zu beachtenden Normstruktur so. Es sei so auch samt den aus ihr normativ zu ziehenden Folgen. Strafrechtliche Verbote, die gruppenspezifisch an kraft Tatbestands(um)konstruktion nicht substituierbare persönliche Merkmale anknüpfen, (d.h.: die man selbst haben muss, um Täter zu sein), sind de lege lata constructa nicht über §25 I 2. Alt. StGB substituierbar. Sie sind besondere persönliche Merkmale i.S.v. §28 I StGB. 5. Um eine Gesetzeswertung vorzunehmen: §183 I StGB unterstellt, wenn er so konstruiert wird, wie es dem legislatorischen Tatbild entspricht, dass die Kon30 Ohne Begründung, also kraft Selbstevidenz, vertreten z.B. von SK-Wolters / Horn, StGB, 62. Lfg., 8. Aufl. (2004), §183 Rn 7 a.E; a.A. Lackner / Kühl, StGB, 22. Aufl. (1997), §183 Rn 1a; LK-Roxin, StGB, 11. Aufl. (2003), §28 Rn 67. 31 Höchstpersönliche Merkmale sind solche, die nicht transferibel sind, weil sie am oder im Körper, Status oder psychischen Befindlichsein des Akturhebers siedeln. Man muss sie selber (selbst, mit oder in sich) haben. 32 Vgl. LK-Roxin, StGB, 11. Aufl. (2003), §28 Rn 67. 33 Vgl. LK-Roxin, StGB, 11. Aufl. (2003), §28 Rn 67.

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frontation mit penildrastischer Realpornoperformanz kraft ihrer Drastik besonders kriminalisierungsbedürftig ist. Dies ist nachvollziehbar. Diese Gesellschaft toleriert mediatisierten femininen Nudismus, wenn nicht allüberall, so doch weithin. Der weibliche Körper wahrt, wird er nicht vaginaldrastisch pornoperformatorisch präsentiert, auch als nackter, u.U. selbst bei Erregung, noch ein sexuelles Geheimnis. Er mag zumindest vielen männlichen Beobachtern gemeinhin schön erscheinen. Seine realaktliche Präsentation bereitet ihnen kaum psychische Pein. Männliche Nacktheit zeigt. Sexuell erregter männlicher Körper offenbart Erregung. Vaginaldrastische Realpornoperformanz ist seltener als penildrastische 34. §183a StGB schließt partiell etwaig gegebene Strafbarkeitslücke. Kritisierbar ist aus der Sicht des Schutzes sexueller Irritationshoheit zu §183 I StGB 35 allenfalls die Nichtkriminalisierung der täterschaftlichen Verurhebung jedweder penildrastischer Belästigung, gleichviel, ob sie von einem Mann oder einer Frau, selbst oder in mittelbarer Täterschaft, verurhebt wird. De lege ferenda könnte die Tatbestandsseite des §183 StGB daher lauten: ‚Wer eine männliche exhibitionistische Handlung vornimmt oder vornehmen lässt und so eine andere oder dritte Person belästigt“. Allein, dass für solche Neuregelung unabweisbarer Kriminalisierungsbedarf bestünde, ist sozialwissenschaftlich nicht dartubar. Kritisiert werden die Privilegierungen, die §183 II bis IV StGB für männliche Exhibitionisten im Vergleich zu §183a StGB bringt. Die Erleichterungen der Strafaussetzung zur Bewährung wollen wohl etwaiger Inklination zu habituellem Exhibitionismus Rechnung tragen. Zumindest der Gesetzgeber nahm an, Belästigung durch männliche Exhibitionisten weise auf pathologische Befindlichkeiten des Belästigenden hin 36. Dies kann, muss aber nicht, im Einzelfall so sein. Man sah die Regeln des §183 II bis IV StGB daher als „ideologisiert“ 37 an. Es wird dann möglich, in deren Erstreckung auf andere Exhibitionismusformen, die nur unter §183a StGB fallen können, konsequente Fehlerhaftigkeit zu erblicken. Man kann aber auch bei §183a StGB analoge Anwendung für Exhibitionistin34 MK-Hörnle, StGB, §183 Rn 5; Nedopil, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl. (2000), S. 164; SK-Wolters / Horn, StGB, 8. Aufl. (2004), §183 Rn 7. 35 Nota bene: §183 StGB unterstellt nicht, dass männlicher Exhibitionismus kriminalisierungsbedürftiger als weiblicher Exhibitionismus ist, dem die arge Demonstration erregter Männlichkeit nicht gegeben ist. Denn §183 StGB ist, verglichen mit §183a StGB, eine Privilegierung. Diese greift, der Subsidiaritätsklausel des §183a StGB zufolge, selbst dann zugunsten von Männern, wenn sie als Exhibitionisten öffentliches Ärgernis erregen. Damit ist §183 StGB effectu vero für männliche Exhibitionisten (mit penildrastischer Pornoperformanz im Vergleich zu weiblichen Exhibitionisten mit vaginaldrastischer Realpornoperformanz) begünstigend. Nur für Teilnehmer an Taten nach §183 StGB ist, im Vergleich zu Teilnehmerinnen, in Bezug auf §28 I StGB negative Diskrimination feststellbar. 36 BT-Drucks. VI/3521, S. 53. 37 Schroeder, in: Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT, Bd. 1, 9. Aufl. (2003), S. 234, § 22 II Fn 207.

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nen fordern. Auf Kritisierbarkeit und etwaige Analogie sei in der Erörterung der Subsidiaritätsklausel des §183a StGB rekurriert. II. Erregung öffentlichen Ärgernisses (§183a StGB) §183a StGB 38 bedroht mit Strafe, „wer öffentlich sexuelle Handlungen vornimmt und dadurch absichtlich oder wissentlich ein Ärgernis erregt“. Der Strafrahmen ist mit dem des §183 StGB identisch. §183a StGB kennt weder das relative Strafantragserfordernis nach §183 II StGB noch die Erleichterungen der Strafaussetzung zur Bewährung nach §183 III und IV StGB. Gleichwohl greift §183a StGB nur, „wenn die Tat nicht in §183 StGB mit Strafe bedroht ist“. Versuch ist straflos. 1. Was das Rechtsgut des §183a StGB sei, ist umstreitbar. Denn der Titel des §183a StGB insinuiert mit „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ ein anderes Rechtsgut als das des §183 StGB. Er deutet scheinbar ein Kollektivrechtsgut an. Die Tatbeschreibung des §183a StGB spricht, anders als §183 StGB, nicht von einer anderen Person, die durch eine exhibitionistische Handlung irritiert wird. Sie redet von der öffentlichen Vornahme einer sexuellen Handlung und der dadurch absichtlich oder wissentlich erwirkten Irritation, der Erregung eines Ärgernisses. Beifallswürdig ist die These von einem Kollektivrechtsgut nicht. Auch §183a StGB ist in den Dreizehnten Abschnitt des Besonderen Teils eingeordnet. Auch ihm ist als Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung das individuelle Recht sexueller Selbstbestimmung als Rechtsgut zugewiesen. Dies ist vom Gesetzgeber problembewusst geschehen 39. Der Schutz von Normen, die der Allgemeinheit Lebensbereiche in der berechtigten Erwartung halten, nicht mit sexuellen Handlungen anderer konfrontiert zu werden, ist nur Effekt des §183a StGB. Er ist, wenn überzufällig häufig erwartbar bewirkt, dessen Funktion. Er ist, wenn und soweit gewollt, dessen Zweck. Die Allgemeinheit, ihre Ordnung und ihr Allgemeininteresse an deren Wahrung sind nicht Rechtsgut des §183a StGB. Wäre es so, leistete §183a StGB nicht den Freiheitsdienst, den er de constitutione lata leisten muss. Er gewönne einen Anwendungsbereich, der in seinem Umfang größtmöglicher, gleicher Freiheit aller abträglich wäre. Ihm wäre vielleicht nicht das Erfordernis des ‚Pornoperformatorischen‘ einer sexuellen Handlung fremd. Aber er würde z.B. das additive Erfordernis der tatsächlichen ‚Beärgerung‘ einer Person nicht kennen. Ihm könnten auch sexuelle Handlungen unterfallen, die nicht konfrontativ sind, sondern von dem sie Wahrnehmenden gesucht werden. Wo kein einzelner Be-ärgerter ist, dort muss sich auch ein nicht durch ihn repräsentiertes 38 An Gesetzgebungsmaterialien sind zu nennen: Protokolle der Beratungen des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform VI / S. 1134, 1781, 1789. 39 BT-Drucks. VI/3521, S. 56.

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Publikum ärgern. Was nicht zumindest einem Inhaber von Sexualität handlungsakzidentiell berechtigt Ärgernis war, das kann nachträglich nur beredet und durch Strafverfahren postakzidentielles Spektakulum werden. Es wird dadurch nicht zum aktkoinzidentiellen öffentlichen Ärgernis. Mithin: Geschütztes Rechtsgut des §183a StGB ist und bleibt das Recht individueller sexueller Selbstbestimmung. Das individuelle Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wird nicht durch die These konkretisiert, §183a StGB schütze den „Anspruch des Einzelnen auf Achtung seiner Anschauungen“ 40. Solche Umschreibung verdunkelt eher das Rechtsgut sexueller Selbstbestimmung, als dass sie es tatbestandsreferentiell spezifiziert. Es bedarf seiner Spezifizierung als Recht darauf, nicht als Inhaber von Sexualität und Repräsentant des Publikums mit der öffentlichen Vornahme sexueller Handlungen unter einer unbestimmten Menge möglicherweise ‚beärgerter‘ Personen tatsächlich ärgerniserregend konfrontiert zu werden. Dieses Recht ist Unterrecht des Rechtes auf negatorische sexuelle Irritationshoheit. Öffentliches Leben ist, was Realpornoperformanz angeht, (noch) deexhibitioniert. Die öffentliche Tatmodalität des pornoperformatorischen Aktes effiziert nur die Eignung, einen je einzelnen Inhaber von Sexualität bei seiner Teilhabe am öffentlichen, deexhibitionierten Leben zu irritieren. Wird ihm dort durch realpornoperformatorische Akte das Arg der Irritation zugefügt, wird er als Repräsentant der Öffentlichkeit beärgert. Das Gesetz nennt solche Beärgerung ‚öffentliches Ärgernis‘. Die Erregung öffentlichen Ärgernisses bedeutet nicht, dass das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung ein Allgemeinrechtsgut würde. 2. Damit ist die Definition der Strafbarkeitsvoraussetzungen auch mit dem ‚Stoff‘ bestimmten Rechtsgutes vorbereitet: a) Tauglicher Täter ist, anders als in §183 StGB, jeder Mensch. Welches Geschlecht er hat, ist gleich. b) Taugliches Tatopfer ist jeder irritierungsfähige Inhaber von Sexualität, der am öffentlichen Leben teilnehmen und dort öffentlich, gleichsam als civis ex populo, ‚be-ärgert‘ werden kann. c) Straftattaugliche Tathandlung ist die öffentliche Vornahme sexueller Handlungen. Wer öffentlich sexuelle Handlungen vornimmt, personiert seine Sexualität nicht im Privaten. Er exhibitioniert erwartungswidrig seine Sexualität und deren Gebrauch bei seiner Teilhabe am öffentlichen Leben. Im Einzelnen: aa) Anders als §183 StGB nennt §183a StGB das Erfordernis des Vornehmens ausdrücklich. Vornahme ist hier die eigenkörperliche Organisation sexueller Handlungen. Nur wer eine oder mehrere sexuelle Handlungen selbst verurhebt, nimmt diese vor. Vornahme ist nicht Vornehmenlassen. Täter kann de lege lata nur sein, wer die sexuelle Handlung (scilicet: „selbst“ realaktlich) vornimmt 41. 40

Horstkotte, JZ 1974, 84, 90.

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bb) Anders als in §183 StGB muss die sexuelle Handlung den sie Vornehmenden nicht penildrastisch exhibitionieren. Sie darf es nicht tun; andernfalls wäre §183 StGB vorrangig. Sie taugt aber, wie jede realaktliche Personierung eigener Sexualität in sexuellen Handlungen vor sie Wahrnehmenden, nur dann zu einer kriminellen, wenn sie dem Recht auf sexuelle Nichtaffektion, hier: dem Recht auf sexuelle Nichtirritation, zuwider ist. Hierzu muss der Realakt seinem objektiven, kontextvarianten Kommunikationsgehalt nach pornoperformatorischen Charakter haben 42. Pornoperformatorisch ist regelmäßig nicht der öffentliche Austausch von Zärtlichkeiten, das öffentliche ‚freikörperkulturelle‘ Sonnenlichtbaden 43, das öffentliche, ‚der Not gehorchende‘ Urinieren 44, das öffentliche Reinigen nackten Körpers 45, das öffentliche Zeigen sekundärer weiblicher Geschlechtsteile zu politischem Protest 46, u.v.a.m. Regelmäßig pornoperformatorisch sind öffentliche masturbatorische, onanistische und koitale Akte 47, Zeigen des Vaginalbereiches, usw. cc) Öffentlich sind sexuelle Handlungen realpornoperformatorischer Art, wenn sie unter Teilnahme am öffentlichen Leben geschehen. Sie sind es, wenn sie nach den örtlich-zeitlichen Gegebenheiten, unter denen sie vorgenommen werden, unbestimmt viele Menschen als Inhaber von Sexualität mit ihrem pornoperformatorischen Kommunikationsgehalt konfrontieren können oder, bei zu machender Einschränkung, könnten. Dass die sexuelle Handlung tatsächlich mehrere Menschen konfrontiert, ist nicht notwendig. Ebenso wenig ist es notwendig, dass die Freiheiten bestimmter vieler Menschen hasardiert sind. Es reicht hin, dass sie mit ihrem pornoperformatorischen Kommunikationsgehalt in situatione concreta unbestimmt viele weitere Menschen konfrontieren könnte 48 (und sich solche Eignung in der tatsächlichen Erregung eines individuellen Ärgernisses realisiert). Hierin liegt hinreichende Deoptimierung individuellen Vermögens und / oder individueller Vermögen zur Nichtaffektion. Die Öffentlichkeit des §183a StGB ist, so gesehen, ‚Adressaten- und Erfolgsöffentlichkeit‘. 41 Wie hier i.E. SK-Wolters / Horn, StGB, 62. Lfg., 8. Aufl. (2004), §183a Rn 6; Fischer, StGB, 55. Auflage (2008), §183a Rn 3; a.A. S / S-Lenckner / Perron / Eisele, StGB, 27. Aufl. (2006), §183a Rn 7. 42 Arg.: Andernfalls wäre Kriminalisierung unstatthaft. Das Gesetz ordnet §183a StGB zwischen die §§183, 184 StGB. §183 StGB kriminalisiert penildrastische Pornoperformanz. §184 StGB kriminalisiert das Verbreiten technisch mediatisierter Pornoperformanz. Alle Tatbestände haben grundsätzlich gleichen Strafrahmen. 43 BGH JR 1962, S. 26. 44 BGH NJW 1954, S. 520; RGSt 7, S. 168. 45 Vgl. LK-Laufhütte, StGB, 11. Aufl. (1995), §183a Rn 2. 46 Vgl. Lackner / Kühl, StGB, 22. Aufl. (1997), §183 Rn 2. 47 Vgl. RGSt 23, S. 233ff., 234. 48 Vgl. BGHSt 12, S. 42ff., 46.

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Die Widmung eines Ortes als öffentlicher ist Indiz für mögliche Adressatenund Erfolgsöffentlichkeit 49. Aber, auch an nicht so gewidmeter Stätte kann, je nach den konkreten Umständen des Sachverhaltes, Öffentlichkeit i.S.d. §183a StGB gegeben sein. Umstände, unter denen Adressaten- und Erfolgsöffentlichkeit gegeben ist, verwehren dem Handlungsurheber die Kontrolle darüber, wie viele Personen er tatsächlich konfrontiert 50. An solcher Öffentlichkeit fehlt es, wenn der sexuell Handelnde sich pornoperformatorisch vor einem begrenzten Kreis wahrnehmungswilliger Personen zeigt, dessen Zusammensetzung er, sei es auch mit Hilfe Dritter, gegen den freien Zugang weiterer Wahrnehmer kontrolliert. Denn dann ist Hasardierung der Freiheiten unbestimmt vieler vor Konfrontation mit pornoperformatorischen Akten ausgeschlossen. Dagegen ist es rechtsgutreferentiell unstatthaft, für den Ausschluss von Adressaten- und Erfolgsöffentlichkeit „ein inneres Band wechselseitiger persönlicher Beziehungen“ 51 privater Art 52 zu fordern. Es muss weder ‚private Verbundenheit‘ 53 zwischen den voyeurwilligen Observatoren noch eine solche auch mit dem Pornoperformator 54 bestehen, um eine Verletzung des Rechtes der tatsächlichen und aller möglichen Observatoren vor Konfrontation mit pornoperformatorischen Akten auszuschließen. Es reicht der Ausschluss von Konfrontationsmöglichkeit und damit von Hoheitsanmaßung hin. Solcher Ausschluss kann auch bei einer Zahl bestimmter Zuhörer gewährleistet sein, die in die Hunderte geht 55. Er ist auch bei entgeltlicher Pornoperformanz möglich. Es stehe dahin, ob private Verbundenheit Pornoperformanz und Voyeurismus moralischer macht. Sie ist kein rechtsgutreferentiell sinnvolles Kriterium der Adressaten- und Erfolgsöffentlichkeit. d) Ein Effekt der Tathandlung ist die durch ihre ‚öffentliche‘ Vornahme vermittelte Eignung, unbestimmt vielen Inhabern des Rechtes sexueller Selbstbestimmung ‚arg‘ werden zu können. Man mag insoweit von unbestimmt vielen Ärgernisrisiken sprechen. Ein anderer (und zur Tatvollendung kumulativ de lege lata interpretata rechtsgutreferentiell stets erforderlicher) Effekt ist ein Ärgernis, das mindestens einer Person durch ihre tatsächliche Konfrontation mit der sexuellen Handlung tatsächlich gegeben ist. Andernfalls wäre jene Vergleichbarkeit 49

Vgl. BGH NJW 1969, S. 853. Vgl. KG NStZ 1985, S. 220. 51 Vgl. aber BGHSt 11, S. 282ff., 284. 52 Vgl. i.S. eines Erfordernisses persönlicher Beziehungen z.B. auch Schroeder, in: Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT, Bd. 1, 9. Aufl. (2003), §22 III Rn 9, S. 235. 53 So LK-Laufhütte, StGB, 11. Aufl. (1995), §183a Rn 4. 54 Diese Verbindung fordern Blei, Hermann, in: JA 1971 S. 25ff. (Anm. zu OLG Köln JA 1970 S. 428 = JR 1970, S. 106); Schröder, Horst, in: JR 1970, S. 429ff. (Anm. zu OLG Köln aaO). 55 Also z.B. auch bei einem FKK-Verein mit 800 Mitgliedern, vgl. OLG Köln, NJW 1970, S. 670, a.A. Schroeder, in: Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT, Bd. 1, 9. Aufl. (2003), §22 III Rn 9, S. 235. 50

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nicht gegeben, die das etwaige Zurücktreten des §183a StGB hinter §183 StGB mit erklärlich macht. Was an Realpornoperformanz, deren Sinn nicht technisch mediatisiert ist und daher ständig realaktlicher Repetition zu weiterer Verbreitung bedürfte, nicht wenigstens von einem Konfrontierten gewusst wird, ‚macht nicht heiß‘. Es irritiert nicht. Es irritiert jedenfalls keinen einzelnen Inhaber von Sexualität. Erst tatsächliche Konfrontation mindestens einer, die Menge unbestimmt vieler Personen vergegenwärtigenden Person 56 deoptimiert dieser deren Vermögen zur Nichtirritation. Ist ihr die ihr aufgedrängte Wahrnehmung des als solchen empfundenen 57 pornoperformatorischen Aktes arg, wird ihr und der durch sie repräsentierten Allgemeinheit ‚ein Ärgernis erregt‘ 58, das zur Kriminalisierung als Straftat gegen sexuelle Selbstbestimmung hinreicht. Auf das Erfordernis individuellen Ärgernisses ist trotz der Gesetzesbetitelung nicht verzichtbar. Was als pornoperformatorischer Akt keinem Individuum tatsächlich arg ist und keinen qualifiziert Widerstandsschwachen in seiner Freiheitsbedingung hasardiert (vgl. §§174 II i.V.m. III, 176 V Nr. 1, VI StGB), ist aus der Perspektive des Schutzes individueller (!) sexueller Selbstbestimmung de lege lata nicht kriminell. Es ist auch dann nicht als Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung strafbar, wenn unbestimmt viele es zu ihrem Ärgernis wahrnehmen könnten oder gar können, solches aber keiner tatsächlich in ihm arger Weise tut. aa) Wer sexuelle Handlungen pornoperformatorischer Art wahrzunehmen sucht oder wer ihre Darbietung nach ihm zugegangener Ankündigung 59 aufsucht, wird nicht konfrontiert. Ihn mag das Gesehene empören. Er mag Anstoß nehmen. Er mag sich erregen. Er hat hierzu jedes Recht, das er sich in Ausübung seiner Meinungs- und Gefühlsfreiheit nimmt. Er hat hierzu nicht das strafbewehrte Recht der sexuellen Selbstbestimmung, genauer: das Recht der sexuellen Nichtaffektion. Er hat nicht das Recht, bei Strafbewehrung als jemand zu gelten, dem als Inhaber von Sexualität eine Bedingung seiner Freiheit vor sexualisiert sexualisierender Kontaktierung paralysiert wird. Ihm wird das, was ihm arg und Ärgernis wurde, nicht aufgedrängt. Ihm wird nicht in rechtsgutobjektparalysierender Hoheitsanmaßung seine Freiheit vor pornoperformatorischer Konfrontation genommen. 56

Diese fungiert gleichsam als civis ex populo, als Repräsentant der ‚Öffentlichkeit‘. Wie in §183 StGB, jedoch anders als nach §§174 II Nr. 1, 176 V Nr. 1 StGB, ist die Deutung des wahrgenommenen Aktes als pornoperformatorisch notwendig, vgl. LKLaufhütte, StGB, 11. Aufl. (1995), §183a Rn 5. 58 Vgl. SK-Horn, StGB, 42. Lfg., 6. Aufl. (1998), §183a Rn 1; Schroeder, in: Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT, Bd. 1, 9. Aufl. (2003), § 22 III Rn 10, S. 235. 59 An rechtsgutreferentiell bedeutsamer Konfrontation fehlt es, wenn und weil die Kontaktsituation kraft ihrer Ankündigung kontextuell gemeinhin die Erwartung hegen lässt, pornoperformatorische Akte würden gezeigt werden. Der Begleiterin des Besuchers einer als solchen angekündigten Striptease-Show mag das, was sie sieht, zur Pein gereichen. Sie handelt als Inhaberin von Sexualität auf eigenes Risiko. Sie wird nicht hoheitsanmaßend konfrontiert, wenn sie wider kontaktkontextuell gemeinhin gegebener Erwartung Anstoß nimmt. 57

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Ihm wird sein Ärger nicht als ‚ein Ärgernis erregt‘. Gleiches gilt, wenn ihm die Wahrnehmung des pornoperformatorischen Aktes sonst ohne Einschränkung seiner sexuellen Selbstbestimmung vermeidbar ist. Selbst dann, wenn momentane Konfrontation gegeben ist, ihr ärgerniserregender Effekt aber durch Wegdrehen oder ähnliche Schutzakte vermeidbar ist, fehlt es an strafwürdiger Erregung von Ärgernis. bb) Wem das unerwartet Wahrgenommene zum Vergnügen gereicht, dem ist es nicht arg. Ihm wird kein Ärgernis erregt. Insoweit gilt das zum ‚Belästigen‘ i.S.v. §183 StGB Ausgeführte entsprechend. e) Welche subjektiven Straftaterfordernisse hat die Erregung öffentlichen Ärgernisses? In subjektiver Hinsicht fordert §183a StGB nach §15 StGB Vorsatz. Bedingter Vorsatz genügt nach allgemeinen Regeln. Er reicht hin für die öffentliche Vornahme der pornoperformatorischen, sexuellen Handlung 60. Wer weiß, dass sein pornoperformatorisches Agieren auf Grund der situativen Umstände geeignet ist, unbestimmt viele Personen in ärgerniserregender Weise zu erregen, handelt bedingt vorsätzlich. Die Irritation gerade dieser ‚beärgerten‘ Person muss er nicht voraussehen. Zur Erregung eigener oder fremder sexueller Lust muss der Täter sich nicht pornoperformieren. In Bezug auf die Erregung irgendeines individuellen Ärgernisses muss der Täter wissentlich oder absichtlich handeln. Wissentlich handelt der Täter, wenn er die Erregung eines Ärgernisses irgendeiner Person als sicher voraussieht. Trifft er aus seiner Sicht gegen Adressaten- und Erfolgsöffentlichkeit Präventionsmaßnahmen, die aus seiner Sicht kontrollgeeignet sind, wird es an Wissentlichkeit fehlen. Dies reduziert den realtypischen Anwendungsbereich des §183a StGB wohl auf Akte pornoperformatorischer Provokation oder des Weiterhandelns trotz Abmahnens 61. Absichtlich handelt der Täter, wenn es ihm auf die konkrete Erregung des Ärgernisses mindestens einer Person ankommt, ohne dass er diesen Erfolg als sicher voraussähe. 3. §183a StGB ist §183 StGB nach seiner Verweisklausel („wenn die Tat nicht in §183 mit Strafe bedroht ist“) subsidiär. Er ist subsidiär, auch wenn er mit dem Merkmal der Öffentlichkeit einen anderen und weiteren Erfolg als die exhibitionistische Belästigung nach §183 StGB verlangt. §183a StGB kennt kein Antragserfordernis und keine besonderen Straftatfolgenregelungen, es sei denn, die Tat sei zugleich Straftat nach §183 StGB. Wer seine Sexualität nicht penildrastisch exhibitioniert, sondern anders mit Irritationseffekt öffentlich personiert, wird nicht durch Antragserfordernis und Erleichterung der Strafaussetzung zur Bewährung begünstigt. Man mag die generelle Begünstigung männlicher Exhibitionisten mit einem etwaigen Krankheitswert zu legitimieren suchen, den ihre penildrastische Pornoperformanz aufzeigen könne, vaginaldrastische oder andere 60

Vgl. LK-Laufhütte, StGB, 11. Aufl. (1995), §183a Rn 7. Schroeder, in: Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT, Bd. 1, 9. Aufl. (2003), §23 III Rn 10, S. 220. 61

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Formen irritierender (Ärgernis erregender) Realpornoperformanz jedoch nicht vergleichbar häufig hätten. Solche Legitimation geht mehr schlecht als recht. Im Gesetzgebungsverfahren vielleicht gehegte Annahmen über relative Häufigkeiten kranker Exhibitionisten und kranker Exhibitionistinnen zu nichtkranken waren kaum anderes als alltagstheoretische Spekulationen. Sie sind nicht Wissen. Wissenschaftliche Kenntnis hierzu gibt es nicht. Sogar, wenn es sie gäbe, auch der Einzelfall verlangt sein Recht auf sachgerechte Gleichbehandlung. Im theoretisch bedeutsamen Effekt benachteiligt die Bevorzugung von (männlichen) Exhibitionisten (weibliche) Realpornoperformatorinnen. Die Subsidiaritätsklausel des §183a StGB erhält penildrastisch agierenden Pornoperformatoren 62 eindeutig selbst dann deren nach §183 II bis IV StGB gegebene Begünstigung, wenn sie nicht nur einer Person in privaten Bereichen Pein bereiten, sondern auch, kraft öffentlicher Vornahme, unbestimmt vielen Personen Ärgernis erregen. Es kann de lege lata dahinstehen, ob die ‚Gesetzesväter‘ insoweit ein falsches Bewusstsein hatten und, zeitgeistbedingt, zugunsten von Männern „ideologisiert“ waren. Die Subsidiaritätsklausel ist valides Recht. Jedoch, fragbar bleibt, ob im (zugegeben: seltenen) Fall vaginaldrastischer Realpornoperformanz §183 II bis IV StGB analog anwendbar ist. ‚Weibliche Exhibitionisten‘ sind auf Grund ihres Sexstatus durch die lex domestica scripta benachteiligt. Art. 26 IPbpR gehört der Kriminalverfassung an. Er verbietet gesetzliche Statusdiskrimination, die Nachteile wegen Geschlechtszugehörigkeit zufügt. Die Nichtprivilegierung weiblicher Exhibitionisten ist einer Statusdiskrimination 62 Man(n) könnte politisch versucht sein, die Männer privilegierenden Regeln des §183 II bis IV StGB und die Subsidiaritätsklausel des §183a StGB zu deuten als ‚affirmative action‘ oder ‚umgekehrte Diskrimination‘ durch den Gesetzgeber. Man(n) könnte in ihnen eine rechtliche Kompensation für eine Männlichkeit sehen, die Männer mit höherer Straftatanfälligkeit belaste. Männer seien, so ließe sich sagen, von Natur aus dazu anfällig, ihre Sexualität penildrastisch pornoperformatorisch zu personieren. Man kann Männer, verglichen mit Frauen, eher als krankhaft geneigt zum argen Zeigen primärer Geschlechtsteile oder zu sonstiger Pornoperformanz ansehen. ‚Frau‘ wird es wohl nicht nachvollziehen. Geschlechtsneutrale Strafrechtswissenschaft muss solche Annahme nicht in ihrer strafmildernden Bewertung teilen. Die Tatsache, dass Männer sich eher exhibitionieren oder ihre Sexualisiertheit in sexualisierenden Kontakten zeigen, ist Fakt. Aber, auch andere kriminelle Rechtsgutverletzungen werden mehr von Männern als von Frauen begangen. Männer mögen aus kriminologischer Sicht allgemein eher zur kriminellen Anmaßung von Hoheit über fremde Rechtsgüter disponiert erscheinen. Solche Disposition ist, selbst wenn sie bestünde oder, soweit sie besteht, aus der Perspektive des Rechtsgüterschutzes weder allgemein noch im Besonderen ein einleuchtender Grund, zugunsten erfahrbarer Freiheit aller notwendige Produktion retributiver Mehrkosten allein zugunsten von männlichen Straftaturhebern zu erschweren (§§183 II, 183a StGB) oder abzumildern (§§183 III, 183a StGB). Männlicher Exhibitionismus mag wegen seiner penilen Drastik gesonderter Markierung durch §183 I StGB bedürfen. Dies rechtfertigt aber die Bevorzugung aller penildrastisch agierender Realpornoperformatoren nach §§183 II bis IV, 183a StGB (Subsidiaritätsklausel), verglichen mit der Nichtbegünstigung vaginaldrastisch agierender Exhibitionistinnen, kaum.

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nahe. Die Subsidiaritätsklausel des §183a StGB sollte daher in Verfassungskonformität optimierender Interpretation auf weibliche Exhibitionisten, entgegen allgemein bisher vertretener Meinung 63, so angewandt werden, dass auch sie in den Genuss des §183 II bis IV StGB kommen. §183 IV StGB nimmt die Gleichstellung von Frauen und Männern in Bezug auf §183 III StGB partiell vor. Das dort Vorbereitete ist zur Gänze, also auch in Bezug auf weibliche Straftaten nach §183a StGB und das Antragserfordernis, zu einem zweifelsfrei statusdiskriminationsfreien Ende zu bringen. Dies geschieht durch analoge Anwendung des §183 II bis IV StGB auf weiblichen Exhibitionismus. 4. Im Versuch der Gesetzeswertung: Es ist aus der Sicht des Rechtsgüterschutzdogmas legitim, mit den Mitteln des Strafrechts der tatsächlichen Konfrontation mit realpornoperformatorischen Akten auch nicht penildrastischer Art zu wehren. Tatakte des §183a StGB deoptimieren das Vermögen zur Nichtaffektion eines Individuums erheblich. Dies wird durch dessen Irritation belegt. Sie haben darüber hinaus hasardierenden Effekt auf die Freiheiten anderer, sofern diese nach Sachlage konfrontiert werden könnten. Dass das Öffentlichkeitsmerkmal im Sinne einer zusätzlichen Strafbarkeitsvoraussetzung hierauf abstellen lässt, ist nicht zu tadeln. Denn nichtpenildrastische Realpornoperformanz ist realtypisch weniger irritationsgeeignet. Kritik ist möglich an der Subsidiaritätsklausel. Sie wird durch oben vertretene Analogie in ihrer Berechtigung teilminimiert.

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Vgl. LK-Laufhütte, StGB, 11. Aufl. (1995), §183a Rn 9.

Computersabotage Michael Heghmanns I. Einführung Die Funktionsfähigkeit von (vernetzten) informationstechnischen Systemen ist inzwischen Voraussetzung für jedweden wirtschaftlichen Verkehr geworden und selbst im privaten Bereich verdrängt die netzgestützte elektronische Kommunikation zunehmend traditionelle Informationsmittel wie den Postbrief. Auf der anderen Seite sind elektronische Informationssysteme weitaus störanfälliger als herkömmliche Medien, weshalb sich mit vergleichsweise geringem Aufwand große Schädigungseffekte erzielen lassen, wie die sog. Denial-of-Service-Angriffe 1 (DoS-Angriffe) belegen. Ein solcher – politisch motivierter – Angriff legte beispielsweise bei der Deutschen Lufthansa zeitweise die aus dem Internet für die Kunden zugänglichen Server lahm, woraufhin Buchungen verzögert oder unmöglich wurden. 2 Der rechtliche Schutz elektronischer informationstechnischer Systeme gegen Sabotagehandlungen ist mittlerweile an mehreren Fronten verstärkt worden, in Deutschland zuletzt sogar verfassungsrechtlich durch das vom BVerfG neu erfundene Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. 3 Initiativen zur (intensiveren) strafrechtlichen Bewehrung beruhen jedoch in jüngerer Zeit vornehmlich auf europäischen Vorgaben. Unter ihnen sind zum einen das „Übereinkommen des Europarates über Computerkriminalität vom 23. November 2001“ (die „Convention on Cybercrime“ oder kurz „Cybercrime-Convention“, im Folgenden „Konvention“ genannt) 4 sowie zum anderen der europäische „Rahmenbeschluss 2005/222/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über Angriffe auf Informationssysteme“ 5 hervorzuheben. 1

Dabei werden einzelne Server gezielt durch sinnlose, automatisiert erzeugte, massenhafte Anfragen oder E-Mail-Zusendungen überlastet und funktionsunfähig gemacht. 2 AG Frankfurt / Main NStZ 2006, 399 bzw. OLG Frankfurt / Main MMR 2006, 547 m. Anm. Gercke; es ging um den Protest gegen die Mitwirkung der Lufthansa bei Abschiebungen. Zu weiteren Beispielen vgl. Gercke, JA 2007, 842 (dort Fn. 43 f.). 3 BVerfG NJW 2008, 822. 4 Deutscher Text abrufbar unter www.conventions.coe.int/Treaty/GER/Treaties/Html /185.htm; zu Einzelheiten Kugelmann, DuD 2001, 215. 5 ABl. EU Nr. L 69 S. 67.

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Sowohl Polen 6 als auch Deutschland 7 haben seither den strafrechtlichen Schutz vor Computersabotage, also der schädigenden oder zerstörenden Einwirkung auf informationstechnische Systeme, umgestaltet. Der folgende Beitrag will diese Neuregelungen vergleichend untersuchen, 8 wobei die Thematik des Ausspähens von Datenbeständen informationstechnischer Systeme (sog. „Hacking“) aus Raumgründen ausgespart bleibt. Ich widme meine Überlegungen dem verehrten Jubilar, dem das Computerstrafrecht seit Langem vertraut ist. 9 II. Die Cybercrime-Konvention Obwohl Deutschland und Polen die Cybercrime-Konvention bereits am 23. 11. 2001 unterzeichnet haben, ist sie in beiden Staaten bislang nicht ratifiziert worden. 10 Das hat die Bundesregierung allerdings nicht gehindert, sich im Gesetzgebungsverfahren zum 41. StrÄndG, das unter anderem die Vorschriften zur Computersabotage umgestaltet hat, auf einen (auch) auf der Cybercrime-Konvention beruhenden Umsetzungsbedarf zu berufen. 11 Polen verfuhr ähnlich, denn die Strafvorschriften gegen die Computersabotage (Art. 268a, 269, 269a KK) wurden mit Gesetz vom 18. 03. 2004 12 ebenfalls eingeführt bzw. ergänzt, um das polnische Strafrecht der Konvention anzupassen. 13 Einschlägig sind Art. 4 und 5 der Konvention, wobei Art. 4 die Strafbarkeit der Datenbeschädigung fordert und zugleich die Möglichkeit einräumt, als Voraussetzung einen schweren Schaden zu verlangen. Art. 5 betrifft die eigentliche Computersabotage. Nach ihm sind „die unbefugte schwere Behinderung des Betriebs eines Computersystems durch Eingeben, Übermitteln, Beschädigen, Löschen, Beeinträchtigen, Verändern oder Unterdrücken von Computerdaten, wenn vorsätzlich begangen, ... als Straftat zu umschreiben.“ 6

Gesetz vom 18. 03. 2004, Dz.U. Nr. 69, poz. 626. 41. StrÄG vom 07. 08. 2007, BGBl. I 1786. 8 Für Recherche und Übersetzungen von Dokumenten und Schrifttum in polnischer Sprache danke ich herzlich meiner Wissenschaftlichen Mitarbeiterin Katharina Kusnik. Die polnischen Gesetzestexte werden in der Übersetzung von Mag. Michał Jakowczyk, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), verwendet. 9 Nicht zuletzt als Betreuer der Untersuchung von Mirosław Babiaczyk, Przeste˛pczo´sc´ komputerowa przeciwko mieniu (Computerverbrechen gegen den Staat), 1996. 10 Von inzwischen 44 Unterzeichnerstaaten haben 22 die Ratifizierung durchgeführt. Der jeweilige Stand der Vertragsumsetzung ist abrufbar auf den Seiten des Europarates (http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=185&CM=8&DF=5 /25/2008&CL=ENG). 11 Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 30. 11. 2006, BT-Drs 16/3656, S. 1, 7 f. 12 Dz.U. Nr. 69, poz. 626. 13 Kunicka-Michalska, in: Wa˛sek, Kodeks Karny, Cze˛´sc´ szczególna, Art. 268a, Rn. 2; Wróbel in: Zoll, Kodeks Karny, Cze˛´sc´ szczególna, Art. 268a, S. 1299. 7

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Interessant sind zwei Gesichtspunkte: Zum einen differenziert die Konvention nicht zwischen betrieblichen und privaten Systemen, wie es noch § 303b StGB a.F. tat. 14 Auch private Informationssysteme wären danach strafrechtlich zu schützen. Zum anderen bräuchte nur eine schwere Behinderung unter Strafe gestellt zu werden. III. Der Rahmenbeschluss des Rates vom 24. Februar 2005 Der Rahmenbeschluss über Angriffe auf Informationssysteme, der eigentlich eine verbindliche Umsetzung bis zum 16. 02. 2007 vorsah, 15 lautet in den hier interessierenden Vorschriften ähnlich der Konvention. Gemäß Art. 4 ist die unbefugte Datenbeschädigung unter Strafe zu stellen, sofern kein leichter Fall vorliegt. Nach Art. 3, betitelt „Rechtswidriger Systemeingriff“, sollen die Mitgliedsstaaten sicherstellen, „dass die unbefugte vorsätzliche schwere Behinderung oder Störung des Betriebs eines Informationssystems, durch Eingeben, Übermitteln, Beschädigen, Löschen, Verstümmeln, Verändern, Unterdrücken oder Unzugänglichmachen von Computerdaten, zumindest dann unter Strafe gestellt wird, wenn kein leichter Fall vorliegt.“

Erneut geht es allein um schwere Behinderungen; dass zugleich die Störung genannt wird, dürfte wie so oft bei europäischen Rechtsakten dem Bestreben nach Übersetzungssicherheit geschuldet sein 16 und drückt keine sachliche Differenzierung aus. Ein gleiches gilt für die Mehrzahl der weitgehend deckungsgleichen Begriffe, mit denen der Rahmenbeschluss die Tathandlungen umschreibt. Wie die Konvention unterscheidet er nicht unmittelbar zwischen privater und betrieblicher Nutzung, lässt es aber wegen der Ausklammerung leichter Fälle immerhin als diskutabel erscheinen, Störungen privater Systeme generell als leichte Beeinträchtigungen einzuordnen und auf diesem Wege straflos zu halten. IV. Umgestaltungen in Deutschland durch das 41. StrÄG 1. Struktur von § 303b alter und neuer Fassung Der ursprünglich durch das 2. WiKG 17 eingeführte § 303b StGB a.F. beschränkte sich, wie bereits erwähnt, auf den Schutz betrieblicher oder behördlicher Datenverarbeitung von wesentlicher Bedeutung. Er enthielt eine differenzierte 14 Die dort ebenfalls genannten Datenverarbeitungen von „Unternehmen“ decken sich weitgehend mit den betrieblichen Anlagen und werden daher im Folgenden nicht mehr gesondert erwähnt. 15 Art. 12 I Rahmenbeschluss. 16 Vgl. Schumann, NStZ 2007, 678. 17 2. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 15. 05. 1986 (BGBl. I 721).

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Tathandlungsbeschreibung sowie in der Störung der Datenverarbeitung zusätzlich ein Erfolgselement. Als mögliche Tathandlungen benannte § 303b I Nr. 1 StGB a.F. die Tatbegehung nach § 303a StGB (Löschen, Unterdrücken, Unbrauchbarmachen oder Verändern von Daten) sowie in § 303b I Nr. 2 StGB a.F. das Zerstören, Beschädigen, Unbrauchbarmachen, Beseitigen oder Verändern von Datenverarbeitungsanlagen oder Datenträgern. Der Tatbestand der Nr. 1 stellte eine Qualifikationsbestimmung zu § 303a StGB, der Tatbestand der Nr. 2 teilweise eine solche zu § 303 StGB dar. Hinsichtlich des dort genannten Beseitigens bildete § 303b I Nr. 2 StGB a.F. aber eine eigenständige Straftat. Durch das 41. StrÄG 18 hat § 303b StGB ein neues Gesicht erhalten. Nunmehr enthält § 303b I StGB den Ausgangstatbestand, der fremde Datenverarbeitungen umfassend schützt, soweit sie eine gewisse Bedeutung besitzen (Höchststrafe drei Jahre Freiheitsstrafe). § 303b II StGB beinhaltet einen Qualifikationstatbestand (Höchststrafe fünf Jahre), soweit die bisher allein geschützten betrieblichen oder behördlichen Datenverarbeitungsanlagen betroffen sind. Für diese findet sich in § 303b IV StGB zudem eine Strafzumessungsvorschrift mit besonders schweren Fällen (Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren), die der Gesetzgeber in der problematischen Regelbeispielstechnik konkretisiert hat. Regelbeispiele sind ein Vermögensverlust großen Ausmaßes, gewerbs- oder bandenmäßige Begehung sowie die Beeinträchtigung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder der Versorgung ihrer Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern oder Dienstleistungen. 2. Der Ausgangstatbestand von § 303b I StGB neuer Fassung Die Tathandlungen von § 303b I Nr. 1 und Nr. 3 StGB entsprechen Nr. 1 und Nr. 2 a.F. Allerdings ist die Qualifikationsfunktion dieser Alternativen inzwischen eine weitgehend symbolische, denn angesichts der abgesenkten Höchststrafe ist der Gewichtsunterschied zwischen den Grunddelikten der §§ 303, 303a StGB und der Qualifikation in § 303b I Nr. 1 und Nr. 3 StGB marginal geworden. Hinzu tritt in § 303b I Nr. 2 StGB das Eingeben oder Übermitteln von Daten in der Absicht, einem anderen Nachteil zuzufügen. Diese neue Bestimmung zielt auf DoS-Angriffe, 19 deren Strafbarkeit nach altem Recht bezweifelt wurde, 20 freilich zu Unrecht. Zwar trifft es zu, dass keine Daten durch DoS-Angriffe unterdrückt werden, weil es hierbei auf die Verfügbarkeit für den Berechtigten (und nicht für den Kunden) ankommt. 21 Soweit aber der Angriff zur Unerreichbarkeit eines Ser18 Zu umfassenderen Darstellungen des 41. StrÄG sei auf Ernst, NJW 2007, 2661; Marberth-Kubicki, ITRB 2008, 17, sowie Schumann, NStZ 2007, 675, verwiesen. 19 RegE BT-Drs 16/3656, S. 13. 20 Ernst, NJW 2007, 2665; Kraft / Meister, MMR 2003, 372; Faßbender, Angriffe auf Datenangebote im Internet und deren strafrechtliche Relevanz, 2003, S. 81 ff.; RegE BT-Drs 16/3656, S. 8.

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vers führt, ist dieser als „Datenverarbeitungsanlage ... unbrauchbar [ge]macht“, wobei sich allenfalls noch die Frage stellt, wie lange eine Einwirkung andauern muss, um von einer wesentlichen Herabminderung der Funktionsfähigkeit als Voraussetzung eines Unbrauchbarmachens 22 sprechen zu können. Dass eine Anlage jedenfalls nicht erst dann „unbrauchbar“ ist, wenn sie endgültig unverwendbar wird, ergibt sich aus dem Vergleich mit den ebenfalls korrigierbaren Einwirkungen des Beschädigens oder Beseitigens. Die Frage der zeitlichen Abgrenzung zu Behinderungen unterhalb der Erheblichkeitsschwelle des zeitweise Unbrauchbaren ist wiederum für § 303b StGB dadurch obsolet, dass ohnehin eine erhebliche Störung eintreten muss, was neben einem qualitativen zugleich ein zeitlich-quantitatives Kriterium enthält. Ist die Funktionsfähigkeit des Systems unverzüglich wiederherstellbar, so kann von einer erheblichen Störung keine Rede sein. 23 Das genannte Erheblichkeitskriterium ist zwar erst in der Neufassung explizit enthalten, war indes als ungeschriebene Einschränkung bereits zuvor anerkannt. 24 Damit waren DoS-Angriffe jedenfalls beim nicht nur kurzfristigen Zusammenbruch des Servers bereits nach altem Recht erfasst, die Neufassung daher an sich überflüssig. Bestenfalls dient sie der Klarstellung. Als völlig überflüssig erweist sich zudem das subjektive Merkmal der Nachteilszufügungsabsicht. Wenn die Gesetzesbegründung meint, es bedürfe seiner, damit „beispielsweise in der Netzwerkgestaltung begründete gängige Aktivitäten oder andere zulässige Maßnahmen der Betreiber oder Unternehmen nur dann unter Strafe gestellt werden, wenn diese missbräuchlich, das heißt in Schädigungsabsicht erfolgen“, 25 so würden solche Aktivitäten ohnehin kein unerlaubtes Risiko verwirklichen und blieben schon deshalb straflos. Zudem wird im nächsten Satz der Gesetzesbegründung das Erfordernis der Schädigungsabsicht sogleich wieder relativiert, weil die Auslegung an § 274 I Nr. 1 StGB zu orientieren sei, also bereits die sichere Vorhersicht des Schadens genügt. Eine gravierende Neuerung bildet demgegenüber die Streichung der einschränkenden Merkmale einer betrieblichen oder behördlichen Datenverarbeitung, als deren Folge nun auch private Computersysteme erfasst werden, soweit sie von wesentlicher Bedeutung für einen anderen sind. Die Entwurfsbegründung beruft 21

Faßbender (Fn. 20), S. 63; Kraft / Meister, MMR 2003, 372; OLG Frankfurt / Main, MMR 2006, 547 (551); Heghmanns, in: Achenbach / Ransiek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht (HWSt), 2. Aufl., Rn. VI 1 136; a. A. offenbar Gercke, JA 2007, 842, sowie Hilgendorf / Wolf, K&R 2006, 546. 22 Schönke / Schröder-Stree, § 303b Rn. 15 i.V. m. § 316b Rn. 7 (dort Cramer / SternbergLieben); etwas strenger Fischer, § 303b Rn. 13 (Aufhebung der Verwendungsfähigkeit). 23 SK-Hoyer, § 303b Rn. 8; Schönke / Schröder-Stree, § 303b Rn. 10; HWSt-Heghmanns, Rn. VI 1 141. 24 RegE BT-Drs 16/3656, S. 13 („dient der Klarstellung.“); Schumann, NJW 2007, 679; Arzt / Weber, Strafrecht BT § 12 Rn. 56; Fischer § 303b Rn. 10. 25 RegE BT-Drs 16/3656, S. 13.

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sich hinsichtlich des Filters der wesentlichen Bedeutung auf die Ermächtigungen in Art. 3 des Rahmenbeschlusses („kein leichter Fall“) sowie in Art. 5 der Konvention, 26 wobei letzteres verkennt, dass sich das dort genannte Merkmal der „schweren Behinderung“ auf den Störungserfolg, nicht aber auf das Tatobjekt bezieht. Im Falle einer Ratifizierung der Konvention bestünde daher erneuter Nachbesserungsbedarf. In der Sache ist die angestrebte Ausblendung von Bagatellfällen freilich nur sachgerecht. Allerdings bleibt das Merkmal der wesentlichen Bedeutung unbestimmt 27 und die beispielhaften Erläuterungen der Gesetzesbegründung 28 sind zu seiner Auslegung ebensowenig hilfreich wie die tautologisch anmutende Floskel von der „zentrale[n] Funktion ... für die Lebensgestaltung“. 29 Mit dem Bezug auf die (individuelle, willkürliche) private Lebensgestaltung erhielte die persönliche Schwerpunktsetzung zudem ein unangemessenes Gewicht und die private Spielkonsole ebenso wie ein DVD-Archivierungssystem 30 eine potenziell wesentliche Bedeutung. Will man derartigen Affektionsinteressen – wie auch sonst im Strafrecht – die Anerkennung versagen und eine Berechenbarkeit der Strafnorm gewährleisten, so wäre das Merkmal in Anlehnung an die bisherigen Überlegungen zur betrieblichen Datenverarbeitung in § 303b a.F. 31 zu verobjektivieren: Die betroffene Datenverarbeitung müsste einer betrieblichen, beruflichen oder sozialen Tätigkeit dienen, auf welche ohne Nachteil nicht verzichtet werden kann, und sie darf nicht ohne nennenswerten Mehraufwand zu ersetzen sein. Bedeutend wäre danach eine Datenverarbeitung nur dann, wenn sie den wirtschaftlichen Interessen der Privatperson oder ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft (z. B. im politischen oder kulturellen Kontext) dient. Das schließt Spieltätigkeiten ebenso aus wie die rein private Korrespondenz per E-Mail, während der PC, auf welchem ein Doktorand seine Dissertation verfasst, geschützt bliebe (sofern nicht eine Sicherungskopie und ein zweiter PC bereit stehen). 3. Die qualifizierte Sabotage betrieblicher und behördlicher Systeme Für die (einfache) Sabotage betrieblicher und behördlicher Datenverarbeitungen ergeben sich durch die Neufassung keine Veränderungen, denn der Strafrahmen der Qualifikationsbestimmung in § 303b II StGB entspricht dem früheren Rechts26

RegE BT-Drs 16/3656, S. 13. Fischer, § 303b Rn. 6 f. 28 Nach dem RegE BT-Drs 16/3656, S. 13, „wird eine Datenverarbeitung im Rahmen einer Erwerbstätigkeit, einer schriftstellerischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Tätigkeit regelmäßig als wesentlich einzustufen sein, nicht aber jeglicher Kommunikationsvorgang im privaten Bereich oder etwa Computerspiele.“ 29 RegE BT-Drs 16/3656, S. 13. 30 Vgl. Ernst, NJW 2007, 2665, der diese Fälle immerhin als „erst noch zu klären“ einstuft; ähnlich Schumann, NStZ 2007, 679. 31 Vgl. HWSt-Heghmanns, Rn. VI 1 143; Lackner / Kühl, § 303b Rn. 2; NK-Zaczyk, § 303b Rn. 6; LK-Tolksdorf, § 303b Rn. 6 ff.; Volesky / Scholten, IuR 1987, 284. 27

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zustand. Allerdings wurde für sie der Strafrahmen durch die Anfügung besonders schwerer Fälle in § 303b IV StGB noch einmal ausgeweitet, wobei der Sinn dieser Ausweitung kaum einleuchtet. 32 Bislang reichten die Urteile der Strafgerichte nicht einmal annähernd an die Grenze des (jetzigen Qualifikations-)Strafrahmens heran, 33 weshalb ein Bedürfnis für die Ermöglichung von Strafen noch oberhalb der Fünfjahresgrenze von § 303b II StGB schlicht nicht existiert. 34 Nicht zuletzt durch derartige symbolische Rechtsetzung ist der in der früheren Fassung noch erfreulich knappe Tatbestand nunmehr zu einem komplizierten, unübersichtlichen Gebilde verkommen. 4. Vorbereitung, Versuch und Teilnahme sowie Strafantragserfordernis Versuch und Teilnahme sind entsprechend der Vorgaben von Konvention 35 und Rahmenbeschluss 36 bereits nach alter Fassung strafbar gewesen. Hinzu getreten ist der Vorbereitungstatbestand in § 303b V StGB mit seinem Verweis auf § 202c StGB (Herstellen, Verschaffen usw. von Computerprogrammen, deren Zweck die Sabotage ist 37), der nicht auf den Rahmenbeschluss, wohl aber auf Art. 6 I a (I) der Konvention zurückgeht. 38 Allerdings bestand im Hinblick auf Art. 6 III der Konvention insoweit gar kein Umsetzungsbedarf, was aber im Gesetzgebungsverfahren anscheinend nicht beachtet wurde. Gemäß § 303c StGB setzt die Strafverfolgung – mit Ausnahme der besonders schweren Fälle des § 303b IV – alternativ einen Strafantrag oder die Annahme eines besonderen öffentlichen Interesses seitens der Staatsanwaltschaft voraus. V. Umgestaltungen in Polen durch das Gesetz vom 18. 03. 2004 Während der ältere Art. 268 § 2 KK weitgehend gleichen Inhalts ist wie § 303a StGB, wird die eigentliche Computersabotage in Art. 268a (mit einer teilweisen Qualifikationsbestimmung in Art. 269) sowie in Art. 269a KK geregelt. Eine Ver32

Ähnlich kritisch Schumann, NStZ 2007, 679. Nach den Strafverfolgungsstatistiken für die Jahre 2002 –2006 wurde ein einziges Mal eine (Bewährungs-)Strafe oberhalb eines Jahres ausgeurteilt; alle übrigen Strafen lagen bei maximal sechs Monaten Freiheitsstrafe, zumeist aber noch darunter. 34 Der Strafrahmen von § 303b II hätte auch den Anforderungen von Art. 7 des Rahmenbeschlusses für bestimmte Erschwerungsfälle vollauf genügt. Art. 13 I der CybercrimeKonvention verlangt ohnehin nur pauschal „wirksame Sanktionen ... einschließlich Freiheitsentziehung“. 35 Art. 11 I, II Cybercrime-Konvention. 36 Art. 5 I, II Rahmenbeschluss. 37 Zur Problematik dieser Zweckbestimmung vgl. Fischer, § 202c Rn. 4 f.; zur ähnlichen Vorschrift des § 263a III Husemann, NJW 2004, 108; Schönke / Schröder-Perron, § 263a Rn. 33. 38 RegE BT-Drs 16/3656, S. 14. 33

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suchsstrafbarkeit besteht bei allen genannten Delikten wie bei jedem vorsätzlichen Vergehen. 39 1. Die Computersabotage nach Art. 268a KK Allerdings enthält Art. 268a § 1 KK unter anderem Tatumschreibungen, die sich parallel zu Art. 268 § 2 KK mit der Zerstörung, Beschädigung, Entfernung, Änderung von Daten oder der Erschwerung des Zugangs zu ihnen begnügen. Insoweit besteht daher Gesetzeskonkurrenz, bei welcher der auf „wesentliche“ Informationen beschränkte Art. 268 KK als lex specialis Vorrang genießen sollte. 40 Eine eigenständige Bedeutung besitzen in Art. 268a § 1 KK die Alternativen des Störens oder Verunmöglichens der automatischen Verarbeitung, Speicherung oder Übermittlung von Daten in einem wesentlichen Grade. Während in § 303b StGB die ausschließliche Verwendung des Begriffs der „Datenverarbeitung“ zu einem Streit darüber geführt hat, ob eine tatbestandliche Störung bereits durch den einzelnen Datenverarbeitungsvorgang zu bewirken ist, 41 kann dies für Art. 268a KK angesichts seiner übrigen, auf einzelne Daten abstellenden Alternativen ohne Weiteres bejaht werden. 42 Da die genannten Tatvarianten keine nähere Handlungsbeschreibung enthalten, handelt es sich strukturell um ein Erfolgsdelikt, so dass jede entsprechende Störung oder Verhinderung des Verarbeitungs-, Speicherungsoder Übermittlungsvorgangs den Tatbestand verwirklicht, wie auch immer sie bewirkt wird. Vergleichbar dem deutschen Recht („erheblich“) wird indes immerhin eine Störung „in einem wesentlichen Grad“ verlangt. Die Strafvorschrift erscheint zwar wegen ihres Charakters als bloßes Erfolgsdelikt vordergründig weiter gezogen als § 303b StGB, Rahmenbeschluss und Konvention. Berücksichtigt man freilich, dass dort durch die umfänglichen, oft redundanten Tathandlungsbeschreibungen im Ergebnis alles Denkbare erfasst wird, was kausal die tatbestandliche Störung bewirkt, so ist der durch die Addition dieser Merkmale erzielte Bestimmtheitszuwachs ein nur scheinbarer. Der Gewinn an Klarheit in Art. 268a KK wiegt von daher jeden vorstellbaren Verlust an Gesetzesbestimmtheit auf. Die Strafdrohung liegt mit maximal drei Jahren Freiheitsstrafe im Grundtatbestand leicht über dem deutschen Niveau. Im besonders schweren Fall des Art. 268a § 2 KK (bei bedeutendem Vermögensschaden 43) steigt sie im Mindestmaß auf drei 39 Vgl. Art. 13 ff. KK (im Unterschied zur Vorbereitungsstrafbarkeit, die gemäß Art. 16 § 2 KK expliziter Anordnung bedarf). 40 Anders Kunicka-Michalska, in: Wa˛sek, Kodeks Karny, Cze˛´sc´ szczególna, Art. 268a, Rn. 22, die eine Konsumtion von Art. 268 KK annimmt. 41 Bejahend NK-Zaczyk, § 303b Rn. 3; Schönke / Schröder-Stree, § 303b Rn. 3; SKHoyer, § 303b Rn. 8; verneinend LK-Tolksdorf, § 303b Rn. 3; Hilgendorf, JuS 1996, 1082 f. 42 Vgl. Adamski, Buszuja˛cy w sieci, Cybernowelizacja prawa karnego, Rzeczp. z 27. 10. 2003r.

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Monate und im Höchstfall auf fünf Jahre an. Der vergleichbare Fall in § 303b IV Nr. 1 StGB läge hingegen – bei Störung betrieblicher Datenverarbeitungen – schon zwischen sechs Monaten und zehn Jahren. Wie das Grunddelikt ist auch der Qualifikationsfall mit einem Strafantragserfordernis gekoppelt (Art. 268a § 3 KK); ohne Strafantrag des Verletzten kann keine Strafverfolgung erfolgen, da das polnische Recht eine Kompensation durch eine entsprechende Erklärung der Staatsanwaltschaft über das besondere öffentliche Verfolgungsinteresse nicht kennt. 44 2. Die Computersabotage bezüglich besonderer Daten nach Art. 269 KK Die Strafbestimmung des Art. 269 § 1 KK bedroht mit erhöhter Strafe (sechs Monate bis acht Jahre Freiheitsstrafe) die Sabotage besonders neuralgischer Daten bzw. sie betreffender Datenverarbeitungsprozesse. Betroffen sind Daten mit besonderer Bedeutung für Landesverteidigung, Verkehrssicherheit, Regierungs-, Staatsinstitutions- oder territoriale Verwaltung. Die Tathandlungen entsprechen Art. 268a § 1 KK, jedoch mit einer kleinen Erweiterung, weshalb man die Strafbestimmung auch nicht als reinen Qualifikationstatbestand einordnen darf: 45 Verlangt Art. 268a § 1 KK noch eine Störung „in einem wesentlichen Grad“, so fehlt diese Einschränkung in Art. 269 § 1 KK. Auch minimale Eingriffe, etwa die nur geringfügige Verlangsamung von Rechnerprozessen, wären daher strafbar. Art. 269 § 2 KK bietet dazu eine etwas seltsam anmutende Ergänzung. Seine Tathandlungen, die sich auf die Hardware und Datenträger beziehen, entsprechen zwar denen des § 303b I Nr. 2 StGB. Allerdings sollen sie „bei Begehung der in § 1 bezeichneten Tat“ stattfinden, was mehrere Deutungen erlaubt: Verlangte man dazu eine vollendete Tat nach § 1, so bliebe der Sinn von § 2 unerfindlich, da er den bereits verwirklichten Strafrahmen nach § 1 trotz der Addition weiterer Unrechtsmerkmale nicht modifiziert. Aus systematischer Sicht liegt es daher näher, die Tat nach § 2 schon in der Versuchsphase von § 1 anzusiedeln. Die gegenüber einfacher Sachbeschädigung erhöhte Strafe träte somit schon dann ein, wenn die betroffene Hardware beispielsweise in ein Verkehrssicherheitssystem eingebunden ist, es aber aufgrund von Backup-Systemen bzw. Reserveanlagen zu keiner Beeinträchtigung der Verarbeitungsprozesse und damit der Verkehrslenkung kommt. Vom Regelungsgehalt her entspricht Art. 269 KK einigen Qualifikations- bzw. Straferschwerungsalternativen in § 303b II (behördliche Datenverarbeitung) und § 303b IV Nr. 3 StGB (Beeinträchtigung der Versorgung der Bevölkerung so43 Legaldefinition in Art. 115 §§ 5, 7 KK: Zweihundertfaches des monatlichen Mindestlohnes. 44 Vgl. Art. 12 KPK. 45 Deshalb verdrängt er Art. 268a KK auch nicht insgesamt im Wege der Spezialität, sondern in den abweichenden Varianten im Wege der Subsidiarität.

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wie der Sicherheit der Bundesrepublik). Soweit es um die behördliche Datenverarbeitung geht, droht Art. 269 KK allerdings eine höhere Strafe bereits für geringfügigere Beeinträchtigungen an. 3. Störung einer Anlage nach Art. 269a KK Der im Unterschied zu den an Art. 4 der Konvention orientierten, eher die Daten selbst schützenden Art. 268a f. KK fußt Art. 269a KK mit seiner Fokussierung des Computersystems auf Art. 5 der Konvention. Das Delikt ist wie § 303b StGB zweiaktig konstruiert. Als Tathandlungen werden zum Teil solche aus Art. 268a KK benannt (Datenzerstörung, -entfernung, -beschädigung und -veränderung). Hinzugefügt wurde die Übertragung von Daten, also auch das Zuspielen bzw. Übermitteln in das System, wie es bei den DoS-Angriffen geschieht. Durch diese Tathandlungen muss ein Erfolg eintreten, die Störung des Betriebes in einem wesentlichen Grad, und zwar entweder eines Computersystems oder eines teleinformatischen Netzes. 46 Die gesonderte Nennung des letzteren dient offenbar im Ergebnis nur der Klarstellung, denn angesichts heutiger computergestützter Telekommunikationstechnik wäre wohl stets zugleich ein Computersystem betroffen. Unter den Begriff des Computersystems fällt bereits der einzelne PC und nicht erst ein Netzwerk. 47 Erfasst werden entsprechend § 303b I StGB auch private Anlagen. Eine Einschränkung auf Systeme von einer gewissen Bedeutung erfolgt nicht, weshalb die Norm sehr weit erscheint, vor allem im Hinblick auf die nicht unerhebliche Strafdrohung von drei Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe. Mit ihr liegt Art. 269a KK nicht nur über derjenigen von Art. 268a § 1 KK, sondern auch deutlich über derjenigen des viel engeren § 303b I StGB. Im Verhältnis zu Art. 268a KK ist Art. 269a KK eine lex specialis, während mit Art. 269 KK, der auf spezielle Daten zielt, aber keinen Betriebsstörungseffekt verlangt, Tateinheit möglich wäre. Eines Strafantrages bedarf es nicht, was vor dem Hintergrund der Einbeziehung privater Systeme und der Regelung in Art. 268a § 3 KK nicht ganz widerspruchsfrei erscheint. 4. Das System der polnischen Straftaten der Computersabotage Die Darstellung der einzelnen Tatbestände zeigt zahlreiche Überschneidungen auf, die vor allem darauf beruhen, dass die Differenzierung zwischen Daten und Datenverarbeitung als Angriffsobjekte nicht strikt durchgehalten wurde. So 46 Der Begriff des „teleinformatischen Netzes“ ist im Gesetz zum Schutz nichtöffentlicher Daten vom 22. 11. 1999 (ustawa o ochronie informacji niejawnych, Dz.U. z. 2005 r. Nr. 196, poz. 1631) definiert. Gemäß Art. 2 Punkt 9 dieses Gesetzes handelt es sich bei einem teleinformatischen Netz um eine organisatorische und technische Verbindung von teleinformatischen Systemen. 47 Kunicka-Michalska, in: Wa˛sek, Kodeks Karny, Cze˛´sc´ szczególna, Art. 269a, Rn. 11.

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finden sich in den an sich datenschützenden Art. 268a, 269 § 1 KK mit den Alternativen des Störens oder Unmöglichmachens der automatischen Verarbeitung, Speicherung oder Übermittlung auch solche Tathandlungen, die den Datenverarbeitungsprozess in den Mittelpunkt rücken, deren Strafschutz eigentlich Art. 269a KK vorbehalten sein sollte. Striche man entweder die genannten Tathandlungen aus den Art. 268a, 269 § 1 KK oder stattdessen (was angesichts seiner aufgezeigten Probleme vorzugswürdig erschiene) Art. 269a KK im Ganzen, so gewänne man an Gesetzesklarheit, änderte aber an den Strafbarkeitsgrenzen im Ergebnis vermutlich nichts. Überflüssig erscheint zudem nach der Einführung von Art. 268a KK die praktisch inhaltsgleiche Vorschrift des Art. 268 § 2 KK. Auch sie könnte daher ohne Schaden aufgehoben werden. Im Zusammenspiel der Art. 268a, 269 KK wären dann gleichwohl alle wesentlichen Sabotagehandlungen mit einem im Prinzip sinnvoll abgestuften Rechtsfolgensystem erfasst. Lediglich die hohe Mindeststrafdrohung von Art. 269 KK erscheint bedenklich, solange die Strafvorschrift minimale Störungen mit erfasst. Die so skizzierte Regelung erwiese sich den gegenwärtigen deutschen Strafvorschriften der §§ 303a, 303b StGB gegenüber schon wegen ihrer Kürze und Klarheit als überlegen, ohne die Vorgaben von Konvention oder Rahmenbeschluss zu missachten. Die derzeitige polnische Regelungslage hingegen erscheint unübersichtlich und verwirrend. Dies ist – wie ein Blick auf die ansonsten stringenten Regelungen des KK belegt – nicht zuletzt der Übernahme europäischer Vorgaben und Terminologien geschuldet, die auch in Deutschland zu mancherlei „Gesetzesmonstern“ geführt hat, denkt man etwa an die §§ 261, 232 f., 236 oder eben § 303b StGB. VI. Die Umsetzung der europäischen Vorgaben – ein misslungenes Unterfangen Im Ergebnis erfüllen die polnischen und deutschen Strafvorschriften zur Computersabotage die Vorgaben des Rahmbeschlusses, während § 303b I StGB mit seiner Begrenzung auf Systeme von wesentlicher Bedeutung der Konvention wohl nicht entspricht. Diese in der Sache trotz ihrer Auslegungsprobleme sinnvolle Einschränkung bleibt unschädlich, solange Deutschland wie Polen die Konvention nicht ratifiziert, was wiederum angesichts der faktischen Anerkennung ihrer wesentlichen Elemente in der Gesetzgebung beider Länder auch entbehrlich erscheint. Beiden Gesetzgebungen ist freilich vorzuwerfen, dass die wenig phantasievolle Umsetzung unter mehr oder weniger unveränderter Übernahme von Terminologie und Systematik des Rahmenbeschlusses und der Konvention zu überlangen Vorschriften mit unsystematischen Überschneidungen sowie – vor allem in Deutschland – überflüssigen Ausdifferenzierungen erschwerter Fälle geführt hat. Etwas Nachdenken – auch unter angemessener, nicht überstürzter Beteiligung der

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Strafrechtswissenschaft – hätte zu deutlich einfacheren und klareren Vorschriften führen können. Dabei wären Ansätze zu vernünftigen, einfachen und klaren Tatbeständen vor allem im polnischen Regelungswerk durchaus zu finden. Allerdings scheint es in beiden Ländern leider in Vergessenheit zu geraten, dass (um zum Schluss einen im doppelten Sinne bildhaften Vergleich zu bilden) ein Rahmen (-beschluss) bei einem (Gesetzes-)Kunstwerk eben nur einen Rahmen zu liefern vermag, der seiner möglichst ideenreichen Ausfüllung harrt. Besteht hingegen das gesamte Bild allein aus der Wiedergabe des Rahmens, so führt es sich selbst ad absurdum.

Auschwitz-Lüge Witold Kulesza Professor Andrzej Szwarc verdanke ich das Wissen über die für meine Untersuchung wichtigen Einzelheiten bezüglich des Prozesses des Gauleiters Artur Greiser, der vor dem Nationalgerichtshof in Posen in der Zeit vom 21.06. bis zum 09.07.1946 stattgefunden hatte, sowie bezüglich des Nürnberger Prozesses, der mit dem Urteil vom 02.10.1946 endete. Die mitgeteilten Informationen, die in keinem Schrifttum zu finden sind, über die Ereignisse, die im Hintergrund der beiden Prozesse stattgefunden haben, kenne ich insbesondere aus den Gesprächen, die Prof. Szwarc mit Prof. Marian Pospieszalski geführt hatte, der sich an seine Teilnahme als Sachverständiger am Prozess von Greiser und als Kenner des Nürnberger Prozesses erinnerte. Der Meinungsaustausch mit Prof. Szwarc über die Wege, auf denen die strafrechtlichen Beurteilungen der Taten der in beiden Prozessen Verurteilten formuliert wurden, war für mich eine Inspiration zur Erörterung des Problems bezüglich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für zeitgenössische Behauptungen und Publikationen, die die Nazi-Verbrechen leugnen. In Polen wurden die während der Besatzungszeit begangenen Verbrechen nach dem 2. Weltkrieg nur vor Gerichten geleugnet und nur die Angeklagten, ihr Recht auf Verteidigung nutzend, haben die Verbrechen in Abrede gestellt. Dabei muss man unterstreichen, dass die Schreibtischtäter, um sich gegen die in der Anklage formulierten Vorwürfe zu wehren, meistens ihr Wissen über die Verbrechen und nicht das Faktum der Verbrechen, die durch die Zeugen beschrieben wurden, geleugnet haben. Ein Beispiel für solch eine Haltung sind die Aussagen des Angeklagten Greiser, die im Stenogramm der Verhandlung festgehalten wurden. Die Zeugen haben ausgesagt, dass sie den Angeklagten in Chełmn (Kulmhof) gesehen haben, wo Juden aus dem Lodzer Getto vernichtet wurden, indem sie in Gaskammer-Wagen ermordet wurden, und dass Greiser den Mitgliedern des Sonderkommandos – Täter dieses Verbrechens – seine Anerkennung zum Ausdruck gebracht hatte. Im Stenogramm der Verhandlung wurde die Stellungnahme des Angeklagten zu den Aussagen der Zeugen festgehalten: „Es ist mir nichts bekannt (...) über das Bestehen dieses Lagers. Schildern Sie es mir noch einmal genau.“ 1 Seine Verteidigungslinie hat der Angeklagte auch nach der Aussage des in diesem Prozess als Zeuge aussagenden Kommandanten des Lodzer Gettos, Hans Biebow, 1

Proces Artura Greisera przed Najwy˙zszym Trybunałem Naradowym [Prozess gegen Artur Greiser vor dem Nationalgerichtshof], Warszawa 1946, S. 106.

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nicht geändert, der gesagt hatte, er habe Gauleiter Greiser Gold geliefert, das die in Chełmno ermordeten Juden zurückgelassen hatten. Auf die Frage des Gerichts, ob die Beamten der Reichsstatthalterei wussten, dass die aus Chełmno gebrachten Kleidung und Kostbarkeiten den dort ermordeten Bewohnern des Lodzer Gettos gehörten, hat der Zeuge Biebow Folgendes gesagt: „Ich bin tief überzeugt davon, dass sie es gewusst haben“. 2 Das Gericht hat mit großer Geduld die Erklärungen des Angeklagten gehört, der konsequent behauptete, dass er als Gauleiter und Reichsstatthalter von den auf dem ihm untergeordneten Gebiet des Warthelandes begangenen Verbrechen nichts gewusst habe. Die Duldung des Rechts des Angeklagten auf Leugnung aller in der Anklage formulierten Vorwürfe ist eine der Prämissen, die einen Prozess heute als fair trial bezeichnen lässt. Man muss jedoch anmerken, dass das Gericht sich in der Begründung des Urteils über die Haltung des Angeklagten mit einer Art von Ironie geäußert hat, was die folgenden Worte zeigen: „Er selber – der höchste Parteileiter und Statthalter des ‚Muster‘ Warthelandes hätte davon nichts gewusst (...) als säße er ‚im goldenen Käfig‘ im Schloss (...) und als hätte er gar nichts von den Krematorien in Chełmno für die Juden (...) und von den Beziehungen, die im Lodzer Getto herrschten, gewusst, als ob er keine Bekanntmachungen auf den Plätzen und Straßen über die Exekutionen, die mit seinem Namen unterzeichnet wurden, gelesen hätte.“ 3 Davon, dass Greiser vor dem Gericht gelogen hat, zeugen Belege, die während des Prozesses vorgelegt wurden, und heute kann man seine Haltung beurteilen, wenn man einen viele Jahre danach in einem deutschen Archiv gefundenen Brief mit dem Datum vom 19.03.1943 an den Reichsführer-SS, Himmler, berücksichtigt. In diesem Brief meldete er: „Ich habe vor einigen Tagen (...) das Sonderkommando in Kulmhof (...) besucht und dabei eine Haltung der Männer des Sonderkommandos vorgefunden (...). Die Männer des Sonderkommandos erfüllen nicht nur treu und brav und in jeder Beziehung konsequent die ihnen übertragene schwere Pflicht, sondern repräsentieren darüber hinaus auch noch haltungsmäßig bestes Soldatentum“. Der Brief endete mit einer Bitte an den Adressaten: „Ich bitte Sie, mir (...) zu genehmigen, daß ich die Männer bei dem zustehenden Urlaub zum Teil als meine Gäste auf meine Landgüter einlade und ihnen außerdem eine namhafte Beihilfe gewähre, die ihnen den Urlaub verschönern soll. Heil Hitler! (handschriftlich) Greiser.“ 4 In der damaligen Zeit, als der Angeklagte Greiser sein Wissen über die an Polen und Juden begangenen Verbrechen verneinte, wäre es irrational gewesen – auch für andere, die wegen der Nazi-Verbrechen angeklagt wurden – die Tatsache dieser Verbrechen selbst zu verneinen. In diesen Prozessen, bei denen bewiesen wurde, dass die Angeklagten eigenhändig die Verbrechen begangen hatten, die ihnen von den Staatsanwälten vorgeworfen wurden, brachten sie zu ihrer Verteidigung vor, 2

Ebenda, S. 304. Ebenda, S. 412. 4 Zentrale Stelle der LJV Ludwigsburg. Archiv, Abteilung 420 Mikrofilm 1602. Der Reichsstatthalter im Reichsgau Wartheland an Reichsführer SS. 3

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dass ihr Verhalten unter den Bedingungen eines „Befehlsnotstands“ stattgefunden habe. Die Aburteilung der Täter der Nazi-Verbrechen erfolgte auf Grund des Erlasses vom 31.08.1944 „Über die Strafzumessung für die faschistisch-hitlerischen Verbrecher, die sich wegen Tötungen und Quälens der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen schuldig gemacht haben...“. Obwohl es in Polen angesichts der großen Verluste, die die Gesellschaft während des Krieges erlitten hatte, kein reales Bedürfnis gab nach Bestrafung eventueller Sympathie mit der Ideologie, die zu den Verbrechen geführt hatte, wie sie in dem Erlass beschrieben wurden, wurde doch in derselben Zeit eine Vorschrift eingeführt, die einen symbolischen Charakter hatte. Das Strafgesetzbuch des Polnischen Heeres vom 23.09.1944 bestimmte im Kapitel über den „Hochverrat“, Art. 103, dass einer Strafe bis zu 10 Jahren Gefängnis oder der Todesstrafe jeder unterliegen wird, „der den Faschismus, den Nationalsozialismus, die Hitlerverbrechen öffentlich befürwortet oder dazu auffordert, sie zu begehen...“. Diese Vorschrift finden wir auch in dem Erlass „Über die besonders gefährlichen Verbrechen, die während des Wiederaufbaus des Staates begangen wurden“ vom 16.11.1945, mit einer stilistischen Änderung insofern, als die Formulierung „Faschismus, den Nationalsozialismus befürwortet“ in die Worte „Faschismus oder eine Art des Faschismus befürwortet“ abgewandelt wurde. Darüber hinaus sah die Vorschrift keine Todesstrafe mehr für das darin beschriebene Verhalten vor (Art. 19). In der nicht geänderten Fassung wurde die Vorschrift dann in einem Erlass vom 13.06.1946, der „das kleine Strafgesetzbuch“ genannt wurde, unter demselben Titel wiederholt („Über die besonders gefährlichen Verbrechen ...”). Im Strafgesetzbuch von 1969 bestimmte die Vorschrift in der gekürzten Version, dass einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis 8 Jahren derjenige unterliege, „der Faschismus oder eine Art des Faschismus öffentlich befürwortet“. Eine wesentliche Änderung des Inhalts der Vorschrift erfolgte im heute geltenden StGB von 1997, dessen Art. 256 Folgendes besagt: „Wer eine faschistische oder eine andere totalitäre Staatsverfassung öffentlich befürwortet (...), unterliegt einer Geldstrafe, einer Freiheitsstrafe oder einer Gefängnisstrafe bis zu 2 Jahren“. Von der symbolischen Rolle der Vorschrift über die Verantwortlichkeit für die faschistische Propaganda – wie die öffentliche Befürwortung des Faschismus bezeichnet wurde – zeugen die Kommentare: „In Bezug auf grundsätzliche Aspekte wird die Missbilligung des Faschismus sowohl als eine Doktrin und Ideologie als auch als eine politische Aktion zum Ausdruck gebracht“. Dabei wurde unterstrichen, dass es in der polnischen Realität keinen Grund gibt, um sich vor der Ausübung faschistischer Propaganda zu fürchten. Rein hypothetisch hatte man überlegt: „Für den Fall, dass der Täter einer solchen Tat vor unseren Gerichten stünde, wird ihm die in der Vorschrift vorgesehene Strafe zugemessen“. Als eine potentielle Quelle für die Wiedergeburt des Faschismus hatte man „den deutschen Revisionismus in der Bundesrepublik Deutschland“ gehalten. 5 In der

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Rechtsprechung und im Schrifttum hatte man angenommen, dass die Befürwortung des Faschismus in Form von Gesten und Aussagen vorkommen (z.B. bei der faschistischen Begrüßung durch Hebung einer Hand) und auch in der öffentlichen Ausstellung faschistischer Symbole zum Ausdruck kommen kann (z.B. des Hakenkreuzes, über das in einem der Urteile geschrieben wurde, dass es ein „Symbol des Hitlerismus ist und die allgemeine Produktion von Hakenkreuzen mit der Befürwortung des Hitlerismus gleichgesetzt wird“). 6 Beispiele für eine Verurteilung wegen des Verbrechens der Befürwortung des Faschismus gab es selten, obwohl eine in den letzten Jahren deutlich sichtbare Tendenz zur Verstärkung dieser Erscheinung festzustellen ist, was man etwa dann beobachten kann, wenn einzelne Jugendgruppen öffentlich die faschistische Symbolik verwenden, um ihre rassistischen und nationalistischen Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Im polnischen Schrifttum wurden Aussagen erörtert, die in anderen Ländern vorkommen und die Wahrheit über die Nazi-Verbrechen, die zur Zeit des 2. Weltkrieges begangen wurden, in Frage stellen. Es wurde keine strafrechtliche Beurteilung dieser Publikationen, die man als „Auschwitzlüge“ bezeichnet, vorgenommen, weil man glaubte, dass die richtige Reaktion auf den Inhalt der Publikationen die Verbreitung des historischen Wissens über die Verbrechen sei, die an polnischen Bürgern in der Besatzungszeit begangen wurden. Mit einer solchen Begründung hatte man u.a. die Dokumentation des Prozesses von Hans Biebow, des Kommandanten des Gettos in Lodz, veröffentlicht. 7 Die Frage, ob öffentliche Aussagen, die Nazi-Verbrechen leugnen, strafbar sind bzw. sein sollten, ist im Lichte des polnischen Rechts in den 90-er Jahren entstanden. Einen wichtigen Ansporn, eine solche Frage zu stellen, hat vor allem das Verhalten des Neonazis B.Althans gegeben, der vor dem Tor des Vernichtungslagers in Auschwitz sowie auf dem Gebiet von Birkenau seine Ansichten zum Ausdruck brachte, die außerdem in einem Dokumentarfilm verwendet wurden. Für die weiteren Überlegungen seien Fragmente seiner Aussagen hier zitiert. 8 Nachdem er ein Buch in einem Kiosk neben dem Tor vor Auschwitz gekauft hatte, las er dessen Titel vor: „Bei uns in Auschwitz...“ und fügte hinzu: „Gern!“, und dann sagte er: „Da gibt’s was zu lachen auf der Rückfahrt!“ Die Lagerstraße entlang gehend, kommentierte er: „Einfach eine völlige, riesengroße Verarschung, die da stattfindet. Es bringt einfach absolut nichts. Und nach Birkenau fährt eh fast kein Mensch, außer der Papst, zum Beispiel.“ In dem Raum, in dem es eine 5 J.Bafia, L.Hochberg, M.Siewierski, Ustawy karne PRL. Komentarz, Warszawa 1965, S. 54, 55. 6 I.Andrejew, L.Kubicki, J.Waszczy´nski (Hrsg.), System Prawa Karnego. T.IV. Teil II, Wrocław-Łód´z 1989, S. 741,742. 7 Prozess von Hans Biebow, Bearb. J.Lewi´nski, Einführung von J.Waszczy´nski, Warszawa 1987, S. 5. 8 Zitiert nach: Rolf Seubert, der die Aussagen von Althans in dem in Auschwitz realisierten Dokumentarfilm „Nazi von Beruf“ in Form eines Manuskripts festgehalten hat.

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Gaskammer gab, hat Althans in Frage gestellt, dass in der Gaskammer mit Zyklon B gemordet wurde, und nach der Mahnung eines älteren Deutschen („Sie als Deutscher stellen sich hierher! Ich muß mich schämen. Scheren Sie sich raus!“) antwortete er: „Jawohl, ich als Deutscher, ich stelle mich hierher und wehre mich dagegen, daß Millionen von Menschen hier durch Attrappen geführt werden. Ich wehre mich dagegen, daß hier Lügen verbreitet werden und daß junge Menschen dann ganz einfach glauben, was ihnen...“ Dann im Gespräch mit einem jungen Amerikaner stellte er fest: „Das war ein Konzentrationslager! [in Auschwitz] (...) aber kein Vernichtungslager...“ Über die Juden in Auschwitz sagte er: „... wir haben sie auch nicht vernichtet, denn sie haben alle überlebt und sie alle bekommen nun Geld aus Deutschland. In der ganzen Welt sind diese Überlebenden und machen Propaganda gegen uns.“ Am Ende erklärte er: „Ich kämpfe für die Wahrheit!“ und bezeichnete Auschwitz als „ein Walt-Disney-Land für Osteuropa!“ Eine andere Prämisse für die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Althans auf Grund des deutschen Strafrechts – nachdem er in Deutschland verurteilt wurde – war die Feststellung, ob dort, wo er sich auf diese Weise verhalten hatte, also in Polen, die oben zitierten Aussagen rechtswidrig sind. Die semantische Analyse dieser Aussagen hat zur Folge, dass sie kein Verbrechen einer Befürwortung des Faschismus sind, wie dieses in Art. 270 §2 des damals geltenden Strafgesetzbuches von 1969 beschrieben wurde. Deswegen hatte man als Grundlage für die strafrechtliche Beurteilung andere Vorschriften dieses Gesetzbuches herangezogen, die von der Strafbarkeit für die Missbilligung eines Denkmals (Art. 284 §2 StGB), der Erniedrigung mancher Bevölkerungsgruppen (Art. 274 §1 StGB) sowie der Aufforderung zur Ausein-andersetzung mit nationalem oder rassistischem Hintergrund (Art. 272 StGB) handeln. Die erste dieser Vorschriften stellte fest, dass einer Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren, einer Gefängnisstrafe oder einer Geldstrafe derjenige unterliegt, „der ein Denkmal oder ein anderes öffentliches Werk missbilligt, das zur Erinnerung an ein historisches Ereignis oder zur Ehrung einer Person dient“. Das Ziel der von Althans verwendeten Bezeichnungen „riesengroße Verarschung“, „Attrappen“, „Walt-Disney-Land für Osteuropa“ in Bezug auf Auschwitz hatte tatsächlich einen missbilligenden Charakter. Jedoch erweckte die Qualifizierung seiner Aussage als Missbilligung eines Denkmals Zweifel daran, ob das gesetzliche Merkmal „Denkmal“ das Vernichtungslager AuschwitzBirkenau umfasst. Nach einem Kommentar zu Art. 284 StGB von 1969 ist „ein Denkmal“ ein architektonisches oder architektonisch-bildhauerisches Werk in der Form einer Statue, einer Platte usw., das zum Gedenken einer Person oder eines historischen Ereignisses errichtet wurde. 9 Auschwitz wurde weder „errichtet“, noch „ausgestellt“, sondern in dem Zustand erhalten, in dem sich das Lager zur Zeit seiner Befreiung im Januar 1945 befand, damit es einen Beweis für den dort stattgefundenen Völkermord darstellt. Aus diesem Grund war es notwendig, eine 9

´ I.Andrejew, W. Swida, W.Wolter, Kodeks karny z komentarzem, Warszawa 1973, 846.

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breitere Auslegung dieser Vorschrift zu ermöglichen, damit sich ihr Inhalt auf ein historisches Denkmal ausdehnt, das zweifelslos das Vernichtungslager ist. Diese Auslegung hat jedoch die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für die Leugnung des Völkermordes in Aussagen und Publikationen, deren Form keinen missbilligenden Charakter hat, nicht gelöst. Mit anderen Worten wurde die Frage offen gelassen, ob Althans ein Verbrechen begangen hätte, wenn er andere Worte als die oben zitierten Formulierungen benutzt hätte, das heißt: wenn er den Inhalt seiner Aussage auf eine andere Weise geäußert hätte. Eine eindeutige Antwort auf diese Frage erbrachten auch andere Vorschriften des Strafgesetzbuches nicht, in deren Licht die Aussage des Täters analysiert wurde. Die Vorschrift des Art. 274 §1 StGB beschrieb als eine verbotene Tat die öffentliche Verachtung, Verspottung oder Erniedrigung einer Bevölkerungsgruppe wegen ihrer Staats-, ethnischen oder Rassenzugehörigkeit. Ein so aufgefasster Komplex von Merkmalen erfasste jedoch nicht alle möglichen Formen einer Aussage, deren Inhalt eine Auschwitzlüge darstellte. Auch die nächste Vorschrift bildete keine ausreichende Grundlage für das fragliche Problem, weil sie das Strafverhalten – öffentliche „Aufforderung zu Auseinandersetzungen mit nationalem oder rassistischem Hintergrund“ (Art. 272 StGB) – nicht präzise bestimmte. Die Zweifel, die im Zusammenhang mit dem Bedürfnis einer Qualifikation von Aussagen, die die Auschwitzlüge enthalten, als strafbar auf der Grundlage des polnischen Rechts entstanden, begründeten das Postulat der Einführung einer Vorschrift in das System des Strafrechts, die es den Richtern ermöglichen würde, eindeutig zu entscheiden, wenn diese Täter vor polnische Gerichten gestellt wären. Bei den Arbeiten an dem Projekt einer solchen polnischen Vorschrift wurde die Entwicklung des deutschen Strafrechts berücksichtigt. 10 Für die deutsche Jurisprudenz hatte das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 18.09.1979 entscheidende Bedeutung. In dem Urteil wurde angenommen, dass die Leugnung der Ermordung der Juden im 3. Reich jeden jüdischer Abstammung beleidigt, dem aus diesem Grunde Rechtsschutz vor dieser Missbilligung zusteht. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass durch Aussagen dieser Art auch die Personen misshandelt wurden, die nach 1945 geboren wurden, wenn sie im 3. Reich als Juden verfolgt worden wären. 11 Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 27.04.1982 festgestellt, dass die Vernichtung der Juden im 3. Reich eine allgemein bekannte Tatsache ist und keiner weiteren Beweise bedarf, weshalb der Nachweis der Wahrheit im Strafverfahren gegen diejenigen, deren missbilligende Aussagen die Vernichtung verneinen, unnötig ist. 12 10 W.Kulesza, Zaprzeczenie prawdy o ludobójstwie dokonanym w okresie II Wojny ´ Swiatowej w s´wietle prawa karnego, Acta Universitatis Lodziensis – Folia Iuridica 63, 1995, S. 57ff. 11 VI ZR 140/78, Juristenzeitung 1979, Nr. 23/24, S. 811. 12 I BvR 1838/81, nach H.Ostendorf, Im Streit: Die strafrechtliche Verfolgung der „Auschwitzlüge“, Neue Juristische Wochenschrift 1985, H.19, S. 1062.

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Bei allen Beleidigungsdelikten war jedoch grundsätzlich ein Strafantrag als Prozessvoraussetzung erforderlich. Die 21.Novellierung des Strafrechts vom 13.06.1985 führte eine Neuregelung ein: „Ist die Tat durch Verbreiten oder öffentliches Zugänglichmachen einer Schrift (...), in einer Versammlung oder durch eine Darbietung im Rundfunk begangen, so ist ein Antrag nicht erforderlich, wenn der Verletzte als Angehöriger einer Gruppe unter der nationalsozialistischen oder einer anderen Gewalt- und Willkürherrschaft verfolgt wurde, diese Gruppe Teil der Bevölkerung ist und die Beleidigung mit dieser Verfolgung zusammenhängt.“ (§194 Abs. StGB). Durch diese verfahrensrechtliche Lösung hat der deutsche Gesetzgeber die Strafverfolgung der Auschwitzlüge als Beleidigung nach den §§185ff. StGB bezeichnet und dabei auch die Beleidigung von Opfern anderer Gewalt- und Willkürherrschaften einbezogen. Kritisiert wurde daran, dass es unklar sei, um welche konkreten Opfer anderer totalitärer Systeme es in der so formulierten Vorschrift geht. 13 Die These, nach der die Leugnung der Verbrechen im analysierten Kontext eine Beleidigung der Opfer sein kann, ist auf die kritische Bemerkung gestoßen, dass „damit dem strafrechtlichen Ehrschutz eine Funktion zugeschrieben wird, die er bisher nicht hatte und die er auch nicht haben kann, wenn dies nicht zur völligen Verwischung der Konturen der Ehrverletzungstatbestände und letztlich zu ihrer Auflösung führen soll“. 14 Diese Kritik – wie man vermuten kann – war eines der Argumente, die für die Schaffung einer von den Vorschriften über die Beleidigung getrennten Vorschrift als rechtlicher Grundlage einer Verfolgung der Auschwitzlüge sprachen. Dies kam zustande am 28.10.1994 durch die Ergänzung des §130 StGB über die Volksverhetzung mit folgender Formulierung: „(3) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalismus begangene Handlung der in §220a Abs. 1 [Völkermord] bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost.“ Der so gefasste Tatbestand hat eine Kritik hervorgerufen, die darauf hinwies, dass er u.a. kaum lösbare Probleme bezüglich der Frage des Vorsatzes schaffe. Das Ziel des Gesetzgebers war es, dass auch die Aussagen derjenigen, die als „Überzeugungstäter“ zu bezeichnen sind, strafbar sein sollten, weil „... den Unbelehrbaren auch mit den Mitteln des Strafrechts begegnet werden muss“. 15 Der strafrechtlichen Verantwortung sollten also auch die Täter unterliegen, die mit der subjektiven Überzeugung von der Richtigkeit des vorgebrachten Leugnens des systematischen Gaskammermords an Juden handelten. Jedoch – wie in dem Kom13 K.Vogelgesang, Die Neuregelung zur sog. „Auschwitzlüge“ – Beitrag zur Bewältigung der Vergangenheit oder „widerliche Aufrechnung“? Neue Juristische Wochenschrift 1985, H.40, S. 2387. 14 T.Lenckner, in: A.Schönke, H.Schröder: Strafgesetzbuch. Kommentar, München 1997, S. 1387. 15 T.Lenckner, a.a.O. (ob. Fn. 14), S. 1111.

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mentar kritisch hervorgehoben wurde – ist Leugnen objektiv das Inabredestellen von etwas Wahrem, so dass vorsätzliches Leugnen, wie es die zitierte Vorschrift (Abs. 3) verlangt, nach allgemeinen Regeln nur ein Bestreiten sein kann, dessen Unwahrheit der Täter kennt oder jedenfalls in Kauf nimmt, mag auch die fragliche Tatsache für alle anderen noch so offenkundig sein. Sollte demnach gemäß diesen Regeln die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters begrenzt sein, dann: „In der Tat würde die Vorschrift den mit ihr vom Gesetzgeber verfolgten Zweck verfehlen, wenn sie sich nur gegen die bewußte Lüge richten würde.“ 16 Der zitierte Autor bemerkt dabei: „Geht es aber auch um die Unbelehrbaren, die mit Blindheit geschlagen, nach wie vor davon überzeugt sind, daß es Auschwitz nie gegeben habe, so ist deren Einbeziehung nur möglich, wenn Abstriche beim Vorsatz gemacht werden bzw. diesem ein anderer Inhalt gegeben wird.“ In der Zusammenfassung seiner Überlegungen formulierte der Autor die Schlussfolgerung: „So wie Auschwitz immer ein Trauma der Deutschen bleiben wird, so ist ein solches offenbar auch die ‚Auschwitzlüge‘ für das deutsche Strafrecht.“ 17 Der Rechtszustand, der in der BRD galt, und Ansichten der deutschen Doktrin wurden im polnischen Schrifttum berücksichtigt, wo das Postulat einer Einführung einer Vorschrift in das Strafgesetzbuch formuliert wurde, wonach zu Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren verurteilt werden kann, „wer öffentlich, den historischen Fakten entgegen, die Unwahrheit über die Verbrechen des Völkermordes, die an der Polnischen Nation oder auf dem Gebiet des Polnischen Staates zur Zeit des 2. Weltkrieges begangen wurden, behauptet oder verbreitet“. 18 Die Vorschrift in der geänderten stilistischen Form fand jedoch nicht Eingang in das Strafgesetzbuch von 1997, sondern in das Gesetz vom 18.12.1998 über das Institut des Nationalen Gedenkens – der Kommission zur Verfolgung der Verbrechen gegen die Polnische Nation. Diese Vorschrift ist in Art. 55 dieses Gesetzes enthalten und lautet: „Wer öffentlich und den Fakten entgegen, die Verbrechen, über die im Art. 1 Pkt. 1 die Rede ist, [die Naziverbrechen, kommunistische Verbrechen und Verbrechen gegen den Frieden oder die Kriegsverbrechen, die nach dem 1.September 1939 begangen wurden] verneint, unterliegt der Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren. Das Urteil wird öffentlich bekanntgegeben.“ Das Rechtsgut, das in dieser Vorschrift geschützt wird, ist die Würde der Nation, weil die historische Wahrheit über die während des 2. Weltkrieges begangenen Verbrechen ein Teil des nationalen Bewusstseins ist, das die Grundlage für das Gefühl der Würde der einzelnen Personen bildet, die zu einer Nation gehören. Unter dem Begriff der Nation wird eine historisch geprägte, feste Gemeinschaft verstanden, die im Laufe der gemeinsamen geschichtlichen Ereignisse entstanden ist. Es wurde ein Verständnis des Begriffes „Nation“ angenommen, die der Haupt16 17 18

Ebenda. Ebenda. W.Kulesza, a.a.O. (ob. Fn. 10), S. 65.

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schöpfer des polnischen Gesetzbuches im Jahre 1932 formuliert hatte, indem er schrieb, dass die polnische Nation als eine rechtliche Kategorie nicht nur die Bürger der polnischen Nationalität, sondern auch alle die polnische Gesellschaft bildenden „ethnischen Elemente“ sind. 19 Ein solches Verständnis des Begriffes „Nation“ lässt die Behauptung zu, dass es eine Beleidigung der nationalen Würde ist, heutzutage die Verbrechen zu verneinen, die an den Opfern begangen wurden, die zur polnischen Gesellschaft vor dem Kriegsausbruch gehört haben, und zwar unabhängig von ihrer Nationalität, d.h. sowohl hinsichtlich der Verbrechen an Polen als auch an Juden und auch an Sinti und Roma. Die Verneinung der historischen Fakten, die besonders tief dem nationalen Bewusstsein eingeprägt sind, weil sie sich auf bestimmte Teile beziehen, die die polnische Nation im juristischen Sinne bilden, kann als eine Tat eingeschätzt werden, die gegen die Würde aller Personen verstößt, die sich der nationalen Gemeinschaft bewusst sind. Die Verneinung der Verbrechen, die durch Hitlerismus und Stalinismus an den Opfern nur deswegen begangen wurden, weil sie zu der Nationalität gehörten, die von diesen Ideologien als Ziele der Verfolgung festgesetzt wurden, muss auf eine Reaktion des polnischen Gesetzgebers stoßen, der mit Hilfe einer Strafvorschrift das Gefühl der nationalen Würde aller zeitgenössischen polnischen Bürger schützt. Die Strafvorschrift schützt auf diese Weise nicht die Gefühle der lebenden Mitglieder der Familien von Opfern der nationalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen, auf die man einen besonderen Wert legen sollte, sondern – in größerem Umfang – schützt sie das Gedenken der Nation, dass vor dem 2. Weltkrieg die Nation auch andere als nur polnische „ethnische Elemente“ gebildet haben, die 1/3 der Bevölkerung ausmachten. Das Gedenken der Schicksale aller derjenigen, die die Nation gebildet haben und zu Opfern der Verbrechen gegen die Menschheit geworden sind, ist die rechtlich geschützte Grundlage für die nationale Selbstidentifizierung der zeitgenössischen Polen. Aussagen, die eine „Auschwitzlüge“ darstellen, können, so gesehen, die historische Wahrheit über die Nazi-Verbrechen weder ändern noch sie bedrohen, weil die Wahrheit unverändert bleibt, jedoch sind sie eine Form der Beleidigung der polnischen Nation in ihrem historischen Bewusstsein. Eine Straftat besteht in der Verneinung der Verbrechen „entgegen den Fakten“, was die Verneinung derjenigen Fakten bedeutet, die zum allgemeinen Wissen in der polnischen Gesellschaft gehören. Aus diesem Grunde wird die Richtigkeit der Tatsachen, die der Täter in Frage stellt, vor dem Gericht nicht bewiesen, weil sie zum historischen Grundwissen über den 2. Weltkrieg gehören. Das Gericht stellt jedoch fest, ob der Täter sich des Inhalts seiner Aussage bewusst war, die sich eben auf die allgemein bekannten Fakten bezieht, und dann, wenn er sich dessen bewusst war, ob er die Fakten bewusst verneint hatte. Mit anderen Worten ist für die strafrechtliche Verantwortung des Täter von Bedeutung, ob er gewusst hat, was das 19

J.Makarewicz, Kodeks Karny z komentarzem, Lwów 1938, S. 404.

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allgemeine Wissen umfasst, und ob er bewusst ausgesprochen hat, dass die Fakten des Verbrechens gar nicht stattgefunden haben. Seine subjektive Überzeugung, dass „es nicht so gewesen ist“, wie das Allgemeinwissen über die historischen Fakten besagt, schließt seine strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht aus. Ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht, entscheidet sich daran, ob der Täter sich des Wissens über die Fakten des Verbrechens, die jedem bekannt sind, bewusst war und er sie bewusst öffentlich verneint. In wissenschaftlichen Publikationen ist es von Bedeutung, ob der Täter den Aussagen anderer Autoren, die die Verbrechen verneinen, zustimmt, und gleichzeitig das allgemeine Wissen verschweigt, im Lichte dessen die Aussagen mit den historischen Fakten unvereinbar sind. Auf der Grundlage des polnischen Rechts ist demnach sowohl die Verneinung der Nazi-Verbrechen als auch der sowjetischen Verbrechen, die während des 2. Weltkrieges begangen wurden, strafbar. Dabei sollte man unterstreichen, dass die Verneinung der Fakten auch in der Zuschreibung der Verbrechen an andere Täter bestehen kann, wie zum Beispiel im Falle der Katy´n-Lüge. Die Verneinung dieses sowjetischen Verbrechens wurde im Nürnberger Prozess mit den Worten des russischen Staatsanwalts Pokrowski zum Ausdruck gebracht, der Folgendes sagte: „Wir haben in der Anklage festgestellt, dass eines der wichtigsten Verbrechen, für die die Hauptkriegsverbrecher verantwortlich sind, die Massenexekution der polnischen Kriegsgefangenen war, die im Wald von Katy´n in der Nahe von Smole´nsk durch die faschistischen Eindringlinge begangen wurde“. 20 Das Beweisverfahren gab dem Gerichtshof an sich eine Grundlage dafür, um in seinem Urteil zum Ausdruck bringen zu können, dass Täter dieses Verbrechens die Sowjets sind, was er aber nicht getan hat, indem er in seinem Urteil die Sache von Katy´n ganz verschwieg. Die Verlegenheit und sogar die Verärgerung der Richter des Gerichtshofs gibt ein Fragment des Verhandlungsstenogramms wieder, in dem die Worte von Latersner, dem Verteidiger der Wehrmacht, aufgenommen wurden: „Die Sache von Katy´n ist eine der ersten Anklagen, die gegen eine Gruppe gerichtet wurden.“ 21 Der Vorsitzende des Gerichtshofes, Lawrence, hat dem Verteidiger nicht zugestanden, dem deutschen Zeugen (Ahrens) Fragen zu stellen, dessen Reaktion eindeutig bewies, dass die Deutschen dieses Verbrechen nicht begangen haben, und er sagte: „Der Gerichtshof ist sich des Werts des Vorwurfs bezüglich Katy´n bewusst und hat nicht vor, eine Ausnahme in dieser Sache zu machen, deswegen will er Sie nicht hören, Sie sollen sich bitte setzen.“ 22 Kurz danach sagte der Verteidiger: „Herr Vorsitzender, darf ich mit anderen Worten fragen? Darf ich eine Frage an die Anklage richten, wer die Verantwortung für das Verbrechen von Katy´n trägt?“ Der Vorsitzende des Gerichtshofs hielt die so formulierte Frage 20 Trial of The Major War Criminals before International Military Tribunal. Official Text, Nuremberg 1947, Vol. VII.S. 425. 21 Trial a.a.O. (ob. Fn. 20), Vol. XVII, S. 286. 22 Ebenda.

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nach den tatsächlichen Tätern des Verbrechens – die einzige während des ganzen Prozesses – für eine Art von Provokation, wovon seine Worte zeugen: „Ich habe nicht die Absicht, Fragen dieser Art zu beantworten.“ 23 Dass man im Urteil des Nürnberger Militärgerichtshofs nicht festgestellt hatte, wer das Verbrechen von Katy´n beging, wird heute von einem russischen Autor verwendet, der die allgemein bekannten Fakten über die sowjetische Täterschaft dieses Verbrechen verneint. 24 Im Lichte der Vorschrift des polnischen Rechts, die eine solche Verneinung für eine strafbare Tat hält, muss man feststellen, dass das Merkmal „Tatsache“ sowohl das Verbrechen, als auch seine Täter umfasst. Das Allgemeinwissen davon, dass das Verbrechen von Katy´n der NKWD auf Befehl von Stalin im Frühling 1940 begangen hat, ist ein Teil des historischen Bewusstseins Polens, und die Verneinung dieser Tatsache ist wegen der Beleidigung des Gedenkens der Opfer eine Straftat gegen die Gefühle der Mitglieder der betroffenen Familien und des Gefühls der nationalen Würde der polnischen Gesellschaft. Wenn in der Aussage, die die während des 2. Weltkrieges begangenen Verbrechen verneint, auch Formulierungen enthalten sind, die Verachtung gegenüber einer bestimmten nationalen, ethnischen, rassischen oder Bekenntnisgruppe zum Ausdruck bringen, dann sollten wegen der strafrechtlichen Qualifikation der Art. 55 des Gesetzes über das Institut des nationalen Gedenkens – der Kommission zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Polnische Nation und die Vorschrift des Art. 256 StGB herangezogen werden, der die Beleidigung einer bestimmten Gruppe der Bevölkerung erfasst. In dieser Situation stellen wir eine reale Konkurrenz dieser beiden Rechtsnormen fest, was dazu führt, dass das Gericht den Autor der Aussagen wegen eines Verbrechens aufgrund beider Vorschriften verurteilen wird (Art. 11 §2 StGB). Sowohl die Aussagen, die eine Auschwitz-, als auch die Aussagen, die eine Katy´n-Lüge enthalten, sind strafbar, wenn sie öffentlich präsentiert werden, d.h. an eine unbestimmte oder größere Anzahl von Empfängern, z.B. auf einem öffentlichen Platz, auf der Straße, oder an eine größere Anzahl bestimmter Personen, etwa die Teilnehmer einer Versammlung, gerichtet sind. Alle Aussagen in den Medien werden als öffentliche Verbreitung der darin enthaltenen Inhalte angesehen. In der Praxis der Rechtsprechung ist bisher nur ein Fall eines rechtskräftig beendeten Strafverfahrens bekannt, das gegen einen Autor geführt wurde, der in seinem Buch mit dem Titel „Niebezpieczne tematy“ (Gefährliche Themen), das im Jahre 1999 in einigen hunderten Exemplaren herausgegeben wurde, den Behauptungen anderer Autoren zustimmte, die das Bestehen von Gaskammern in Auschwitz in Zweifel gezogen hatten. Das Gericht stellte fest, dass die Publikation inkriminierte Inhalte enthielt, jedoch stellte es das Strafverfahren wegen des 23 24

Ebenda. J.I. Muchin, Katynskij detektiv, Moskwa 1995, S. 175.

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niedrigen Grades der gesellschaftlichen Gefahr der Tat unter Vorbehalt ein, weil man im Laufe des Verfahrens festgestellt hatte, dass in der Buchhandlung, in der das Buch verkauft wurde, überhaupt nur zwei Exemplare des Buches gekauft wurden. Die Tatsache, dass keine anderen Verfahren mehr wegen der Verneinung von Nazi-Verbrechen im Gange sind, lässt vermuten, dass diese Vorschrift auch eine präventive Funktion ausübt. Man muss festhalten, dass dann, wenn es im polnischen Recht keine Strafvorschrift gegen die Auschwitzlüge gäbe, man sich ein Buch im Kiosk vor dem Vernichtungslager vorstellen könnte, das für Neonazis herausgegeben wurde und das „wissenschaftlich“ beweist, dass dies nicht der Ort sei, an dem ein Völkermord stattgefunden hat. Es ist unvorstellbar – schon wegen der möglichen Konsequenzen – dass Aussagen, die in Frankfurt an der Oder strafrechtswidrig sind, in Słubice rechtlich indifferent wären.

The Palermo U.N. Convention A Global Challenge against Transnational Organised Crime Vincenzo Militello I. Introductive remarks In inaugurating the Palermo conference for the signature of the U.N. Convention against transnational organised crime („Palermo Convention“), the President of the Italian Republic, Ciampi, had no hesitation in defining the document and its protocols as „the first worldwide legal instruments“ against transnational organised crime (TOC) and its most serious related offences. Certainly, former examples of potentially global cooperation to counter forms of criminality that cross national boundaries are not lacking: the most significant one is the U.N. Convention against Illicit Traffic in Narcotic Drugs and Psychotropic Substances of 1988. 1 However, the Palermo Convention marks a turning point in the commitment of the community of states to cooperate against transnational crime. The objective of increasing the effectiveness of international cooperation in this matter represents a constitutive and founding value for the entire Convention as indicated in its statement of purpose (art. 1). The practical implementation of this declaration of principles has been remitted to a set of provisions jointly designed to provide greater standardisation or coordination of national policy in the legislative, administrative and enforcement approach to counter organised crime. In particular, the text offers common definitions in a field (the notion of organised crime), that has always been plagued with uncertainties (art. 2). The Convention provides also a wide range of substantial and procedural measures such as the obligation to incriminate some forms of conducts, criteria of sentencing, measures to enhance the protection of witnesses and victims. Moreover, it stresses the importance of both law enforcement cooperation and the recourse to enhanced investigative techniques, such as undercover operations, electronic surveillance and controlled delivery, and also the analysis and exchange of information on 1 For the text of the Convention see International Legal Materials, 1989, 493ff.; see also Kaufman, United Nations: International Conference on Drug Abuse and Illicit Trafficking, in Harvard International Law Journal, 1988, 581ff.

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organised crime. Furthermore, it does not neglect the importance of streamlining international judicial assistance between member states (art. 18), the transfer of judicial proceedings (art. 21), the extradition (art. 16), the adoption of measures against illegal proceeds of crime (art. 12 and 13). Nor, in conclusion, have the importance of preventive action (art. 31) or the guarantee of providing technical assistance to the countries in the implementation phase of the Convention been overlooked (art. 30, 32). In this general framework which heightens the overall level of inter-state cooperation, substantial measures, and especially the adoption of common definitions of offences and the related obligation of criminalization imposed on all states in order to achieve a homogeneous standard of penal protection, acquire particular importance, II. The role of legislative harmonisation in modern international cooperation on penal matters In order to understand the importance of the Palermo Convention it should be remembered that the principle of national sovereignty on criminal matters has traditionally excluded the definition of crimes and relative sanctions from international operations in the fight against crime. 2 The classical form of legal intergovernmental assistance is regulated by the basic rules of international law and suffers its inner limits: the principle of non-interference in the internal affairs of other (sovereign) states and, the non-recognition, in principle, of foreign penal systems. This means limiting legal assistance mainly to bilateral relations between states and, then, limiting it to individual and highly circumscribed procedural matters. The internalisation of forms of judicial assistance in criminal matters illustrates that states now share a common interest in this field. The relationships brought into being are no longer limited to bilateral relations but involve a growing number of member states. In this more-modern cooperative context, the harmonisation of the penal laws of national states has become a major priority, at least with regard to the legislative sectors regulating forms of crime not confined to a single legal system. The resistance represented by the principle of state sovereignty in laying down penal laws can be overcome by international agreement on penal provisions only if very rigorous conditions also apply. Such conditions refer to activities that can 2 For this reason, the more developed domain of international cooperation against crime has been for a long time at the police level. But also here the sovereignty issue and the differences between legal systems play an important role: see Zagaris, US International Cooperation against Transnational Organized Crime, in International Review of Penal Law, 1999, 497ff., 506.

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be performed within an institutional framework embracing all parties and just if there is the common acceptance by the member states of specific objectives in terms of criminal policy. There is no difficulty in recognising such conditions in international organisations of regional type, as, for example, in the context of the European Union, which with the Amsterdam Treaty has recognised harmonisation in criminal matters as a necessary instrument to grant European citizens an „area of freedom, security and justice“. And in relation to crucial sectors such as „organised crime, terrorism and unlawful drug trafficking“ the Union must progressively adopt measures establishing „minimum rules relating to the constituent elements of criminal acts and to penalties“ (art. 31(e) TEU). 3 From another perspective, the structure of global-type international organisations such as the United Nations, which comprises states with highly different legal systems, makes it very difficult to reach the agreement on a common political purpose that is necessary if harmonisation on penal measures is to be achieved. Moreover, the contents required for such harmonisation entail, respectively, very difficult decisions in terms of the legal model to be chosen and adopted, given the many existing models among the legal systems concerned. Yet for over 25 years the United Nations have been trying to achieve a common position on the question of organised crime and in doing so they have produced a large number of documents before reaching the formulation of the Palermo Convention in 2000. 4 In this Convention the obligation imposed on member states to criminalise participation in a transnational criminal organisation has more than a simple exemplary value with regard to the various obligations set forth in the text. Above all, it is important in terms of the definition of a legal basis if this common objective is not to be watered down by uncertainties on how to represent the criminal phenomenon to be controlled. We should bear in mind the well-known accusations levelled at the notion of organised crime as being too imprecise to be taken as the foundation for any kind of legislative activity. Thus, the question becomes that of ascertaining whether or not the innovation contained in the Palermo Convention is suitable for contributing to the general objective of improving international cooperation in penal questions. To do this we have to consider if it satisfies the canons of correct legislative harmonisation 3 For some normative proposals to counter organised crime in this framework see Militello / Huber, Towards a European Criminal Law Against Organised Crime, Freiburg, 2000, 7ff.; also on the matter Fijnaut, Controlling Organized Crime and Terrorism In The European Union, in Bassiouni / Militello / Satzger (eds.), European Cooperation in Penal Matters: Issues and Perspectives, Padova, 2008, 243ff. 4 For a complete documentation on the subject up to 1998, see Bassiouni / Vetere (edt.) and Vlassis (coop.), Organized Crime: a compilation of U.N. Documents 1975 –1998, New York, 1998.

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on penal matters, particularly in the light of the legislative differentiation existing within the different penal systems. This verification has first of all, a theoretical value: understanding and comparing the various solutions adopted in the various legal systems brings to light not only reciprocal differences but also fundamental features common to them all. At the same time an analysis conducted in this manner has important practical consequences with respect to the possibility of implementing the Convention in question – the greater the distances between the legal systems of the state parties the harder it will be to implement the new judicial standards fixed by the Convention in each state. The assessment of the situation in question will provide valuable indications on how to perform technical assistance, as provided by the Convention (art. 30 and 32) to those systems that are the farthest from common solutions. Precisely for the purpose of obtaining a better understanding of the present situation in the various areas of the world in the matters considered by the Convention, I prepared a questionnaire on behalf of the I.S.P.A.C in preparation for an international seminar aimed at ascertaining the chances and difficulties of implementing the Palermo Convention. 5 The questions, which were submitted to the representatives of twenty countries in different parts of the world (Latin America, Africa, Asia, East Europe, as well as G-8 countries), mainly addressed the state of domestic law in the various countries as well as the profiles of international penal law. Particular attention was given to information on the provisions contained in the individual penal systems concerning not only the offences laid out in the Convention and the relative Protocols but also such additional elements related to such provisions as the liability of legal persons and the corresponding types of sanctions. However, the states were also requested to express their own assessments on the effectiveness of existing international instruments of cooperation (agreements on extradition and mutual legal assistance; law enforcements agencies as contact point to cooperate with other countries in countering transnational organised crime). The answers obtained from the states that replied to the questionnaire are analysed here in relation to the examination of one of the most important innovations introduced by the Convention, the obligations to incriminate certain conducts: the first is related with the definition of criminal organisation.

5 International seminar „Towards the entry into force of the UN Convention against Transnational Organised Crime“, held in Courmayer September, 13 –16 2001, sponsored by ISPAC (International Scientific and Professional Advisory Council of the United Nations Crime Prevention and Criminal Justice Programme).

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III. The Structure of the organised criminal group in the Convention The long preparatory work to formulate a common definition of the participation in a criminal organisation has produced a solution that distinguishes two aspects of the problem. In the first, the salient terms of the notion of criminal organisation are fixed. In the second, the conduct to be incriminated by the states is specified. A. With regard to the first aspect, art. 2 lays down that for the purposes of this Convention, an organised criminal group shall mean a structured group of three or more persons, existing for a period of time and acting in concert with the aim of committing one or more serious crimes or offences established in accordance with this Convention, in order to obtain, directly or indirectly, a financial or other material benefit. The definition brings together naturalistic and legislative elements, both of which require further definition. The naturalistic elements include, firstly, the participation of at least three persons and, secondly, activities concerted among the subjects comprising the group that last over a certain period of time. The legislative elements include the references to the structured group and to serious crimes. For greater certainty, the text makes a further specification of these two concepts even if the references adopted are, in one case, too rigid and, in the other, not sufficiently precise. Regarding to the notion of serious crime considered as the subject matter of the operations of group, a fixed parameter has been adopted (all offences punishable by a maximum deprivation of liberty of at least four years or a more serious penalty). In doing so, however, the law ends up by embracing groups of subjects involved in highly differentiated criminal activities that vary according to the countries in which they operate. Thus a fixed level of sanctions as reference for „serious crime“ disregards the considerable differences existing among the legal systems of the more than 190 UN Member States in the matter of sentencing. This consideration can be borne out by a comparison between very similar penal systems. For example, the maximum level of custodial sentences in Germany is fifteen years, half of the one existing in Italy, where the maximum prison sentence is thirty years, and also lower than the one provided in Portugal which is limited to twenty-five years. On the contrary, life sentences are provided in Germany as well as in Italy, but not in Portugal. Probably, it would have been better to leave the specification of the notion of serious crime to the single states, in the following stage of ratification of the Convention, and to only indicate a catalogue of offences to be regarded as serious for purposes of the Convention. Referring to the other element, the definition of the structured group, the formula adopted is not as rigorously defined as that of serious crime in that it only requires that the group should not be randomly formed for the immediate commission of

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an offence. Consequently, it may be held that the notion of the structured group should be limited to situations in which the group presents some kind of stability in its components and in their respective criminal roles. But this is expressly excluded: the norm states „the group does not need to have formally defined roles for its members, continuity of its membership or a developed structure“. However, this solution is not in line with other recent international documents on this matter. For example, the first resolution of the last A.I.D.P. Budapest Congress in September 1999, dedicated to the notion of organised crime, contains the requirement of a highly structured organisation. It must be noted, though, that such reference could, without good grounds, restrict the phenomenology of organised crime. A rigid organisational model is only one of the forms adopted by modern day criminality, which can also take the form of a temporary alliance among groups in the pursuit of criminal interests. Although the formula adopted in the convention has quite rightly not neglected these forms of criminality, it has ended up by proposing a solution that is so wide so to eclipse the necessary distinction between the simple complicity of two persons in a single crime and the specific danger represented by an organisation whose programme covers an indeterminate number of crimes. As far as complicity is concerned, reference can be made to the notion of the group as randomly formed for the immediate commission of an offence, which has been excluded from the definition of a structured group in the Convention. However, in order to achieve a better definition of this difficult concept it would be advisable to view the organisational condition as a division of labour among at least three persons. Such operational structures are the sign of the rationalisation of criminal work that increases the range of the activities performed by the group, and can thus justify the punishment of participation in an organised group. In this respect, the Convention’s decision to opt for a less-precise choice, is probably due to the influence exercised by common law penal systems, where the category of conspiracy covers not only the forms of simple consent to commit crimes but also the actual performance of one or more crimes by an organised group. This ambiguity is perfectly represented by the double definition of conduct to be criminalised as participation in an organised criminal group. B. The first form of conduct is related to the agreement with only one other person to commit a serious crime for a purpose directly or indirectly related to the obtainment of a financial or other material benefit. This definition is clearly linked to the Anglo-Saxon category of conspiracy, which includes an agreement between two or more persons aimed at the perpetration of an unlawful act or at the performance of a lawful fact by unlawful means. In this manner, however, the Convention does not correctly focus upon the specific danger of a criminal organisation, understood as a „quid pluris“ with respect to the mere participation in the single crime. It is not sufficient to overcome this obstacle by merely including the reference to a financial or other material benefit as the necessary purpose of the

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agreed action, since the intent to acquire unlawful material advantages is present in a very large number of crimes. Thus, this is a necessary but not sufficient condition in order to legitimise the worldwide criminalisation of participation in an organised group. Nor should we overlook the fact that the punishment of the mere agreement to commit a crime has a critical legitimation within the liberal penal tradition. From the latter standpoint unlawful agreements are not, as such, liable to punishment unless they are or become actual attempts to put such harmful or dangerous conduct into practice. To avoid this confusion the Convention states that parties can request the punishment of a material act actually committed pursuant to an unlawful agreement. This is a solution that, on one hand, respects the national specificity of penal systems in the critical matter involving the ascertainment of the grounds and limits of penal action but, on the other, runs the risk of once again compromising the harmonisation of the legislation in the various legal systems. Moreover, for those states that require the unlawful agreement to be translated into a material act in order to obtain the domestic ratification of the Convention, the boundaries between participation in a criminal organisation and the mere consent of persons to the unlawful act will once again be blurred. Furthermore, this unwanted effect might be replicated in a much wider context. Behaviours such as organising, directing, abetting, facilitating or counselling are not directly referred to the criminal organisation per se but to the perpetration of serious crimes included among the activities of such organisations (art. 5 1b). It is easy to see that on many occasions the responsibility for sustaining such conduct is based upon general laws on complicity rather than upon a special law concerning the participation in a criminal organisation. Nevertheless, the conduct of participations well described, expressing, as it does, the subjective and objective characteristics that justify the autonomous incrimination of a criminal organisation. In subjective terms, it is requested that the subject be aware of the unlawful activities of the criminal group or at least those concerning unlawful aims. In objective terms it is necessary that he participates either directly in the group’s criminal activity or only in such other activities that are, however, designed to achieve the unlawful aims of the criminal group. But the formulation of the provision is not actually free from technical imperfections. For example, participatory conduct in not directly unlawful activities replicates what was originally stated with regard to the subjective element, that is the subject’s necessary knowledge of the criminal purposes of the organisation. IV. Comparative models of incrimination at an international level We should not be surprised of the technical difficulties encountered in formulating the norm. The definition of a model of incrimination that could be

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potentially valid for every penal system is certainly not an easy task. Thus delicate problems are raised in relation to what standard should be taken as between the various solutions available in the sector so as also to be able to accommodate the possible diversities in the way in which crimes can manifest themselves in different social and geographical contexts. Nevertheless, the solutions adopted by the Convention have benefited not only from a long period of preliminary debate but also from the existence of other international documents on the matter covered by the Convention. Among such international documents there is, for example, the Joint Action adopted at the end of 1998 in the ambit of the third pillar of the European Union, 6 which is closest in terms of time and content to the Convention. In binding Member States to make it a criminal offence to participate in a criminal organisation, the european text makes reference to a structured association, established over a period of time and composed of more than two persons acting in concert – thus, according to a division of tasks – with a view to realising a qualified criminal plan. The crimes in question must be of a predetermined seriousness in general (which must not in any case be less than a four year deprivation of liberty or detention order). Moreover, the relative conduct can be underpinned by a desire to obtain material benefits or to improperly influence the operation of public authorities. Rather than making a detailed comparison between the two documents it is important to emphasize a fundamental feature: the chances of success in the field of international cooperation in the fight against crime of both the European Joint Action and the Palermo Convention depend upon their capacity to contribute not only to the goal of achieving further legislative harmonisation but also to the aim of reaching greater effectiveness in the fight against the phenomenon, while remaining in a framework that continues to respect the safeguards of the rights of the individual. It is worthwhile recalling that with respect to the relevance of the activities of organised crime three principal models can be identified, ranked according to an increasing higher level of legal formalisation of the requisites characterising the phenomenon. They can be labelled as „no crime solution“, „generic crime solution“ and „specific crime solution“. A. No crime solution: it denies the necessity to criminalise in an independent and separate way collective structures in connection with criminal organisations. The criminal relevance of the conduct of the various individuals involved depends upon the commission of a different crime or at least an attempt to commit such a crime, with the possibility then of applying the general rules governing 6 Joint Action, referring to the incrimination of participation in a criminal organisation in the Member States of the European Union, published in Official Journal of the European Communities L351 of 29.12.1998.

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participation. With respect to the individual position, participation in a criminal organisation can be relevant at most as an aggravating circumstance to be taken into account in the sentencing stage, but it makes no difference in the constituent elements of crime. B. Generic crime solution: the independent and separate criminal relevance of an association owing to the unlawful nature of its aims or the means employed to achieve its aims is the most widespread solution currently adopted by many criminal law systems irrespectively of the legal tradition such systems belong to. In the majority of the cases, the association is punished for pursuing a plan prohibited by law in general terms. No particular elements are required in relation to the method of implementing the plan or the collective structures that must support the unlawful implementation. Only in some cases criminal relevance is also attributed to the unlawful methods employed for illegal purposes, but the methods characterising the actions of organised crime are never specified. C. Specific crime solution: the express consideration of organised crime as a specific type of criminal enterprise to be outlawed separately represents the most recent solution adopted in this field, but so far only by a limited number of States. The relative provisions are regarded as being special rules with respect to unlawful associations in general. It is interesting to see how the foregoing models have been implemented in the penal codes of different nations. Here we provide some indications on this phenomenon that takes account of the results of two preceding researches. The first, undertaken in Europe, made use of the traditional technique based on a comparative-statistical survey involving the direct collection of pertinent data. The second, instead, was made by compiling a questionnaire for the representatives of twenty countries belonging to different parts of the world (Latin America, Africa, Asia, East Europe, as well as G-8 countries) in preparation for a seminar directed to ascertain the chances and the difficulties of the implementation of the Palermo Convention. 1. The first model (A) characterises the Penal Codes of Northern Europe: Finland (chapter 6, section 2; in particular, chapter 50 on drug related crimes); Denmark (par. 80(2) for the possible relevance in sentencing); Sweden (where separate criminalisation exists but only in cases in which the group of individuals takes the form of an armed gang or is of a paramilitary nature: chapter 18, section 4). There are also examples in Latin America (Bolivia, Ecuador); Asia (Cambodia art. 69 Penal Code); Central America (Bahamas, Trinidad and Tobago, although they criminalise conspiracy to commit a particular offence as an agreement between two or more persons to commit an offence). 2. The second model (B) boasts a long tradition: in the Latin countries the unlawful organisation took the form of the association de malfaiteurs, present for a long time in the French criminal law (art. 450 –1 of the French Penal Code,

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mirroring art. 256 of the former French Penal Code of 1810) and exported to other legal systems under various names but with similar contents (art. 416 of the Italian Penal Code; art. 515 of the Spanish Penal Code; art. 299 of the Portuguese Penal Code; art. 322 of the Belgian Penal Code; art. 322 of the Luxembourg Penal Code; art. 140 of the Dutch Penal Code; art. 187 of the Greek Penal Code). This model is followed in East Europe (Romania: art. 323 Penal Code) as well as in Africa (e.g. in Algeria: art. 176 Penal Code) and in Latin America (Colombia: art. 340 Penal Code). In the German area, there is a similarity with the structure of „Kriminelle Vereinigung“ (par. 129, 129a terrorist organisation of the German Penal Code). Even in the different common law tradition, the concept of conspiracy is deeply rooted, even if this offence is comprehensive of the agreement between two or more persons to commit an offence (also like the no crime solution), as well as of a structured group (as in Great Britain and in the USA). 3. Regarding the third model (C), the adoption of a specific crime has notably increased in recent years. For example, criminal organisations are now punishable in Italy (par. 416 bis of the Penal Code), Austria (par. 278a of the Penal Code), Belgium (art. 324 bis and 324 ter of the Penal Code) and Luxembourg (art. 324 bis and 324 ter of the Penal Code). In East Europe e.g. in Polen (art. 258 of the Penal Code); in Latin America e.g. in Mexico (art. 2 Federal Statute against organised crime). V. The „hybridisation“ of the participation in an organised criminal group Comparing well-known international solutions with the provisions contained in the Palermo Convention in the matter of the incrimination of participation in a criminal organisation, the latter seems to be the outcome of a kind of „hybridisation“ of the models. The definition of an organised criminal group is influenced by the experience of penal systems that have recently introduced specific offences against organised crime. But the two types of participatory conduct juxtapose the simple unlawful agreement model even if only between two persons 7 with the model that, as with the association des malfaiteurs, rquires a more ample grouping (at least three persons) 8. And, respectively, not only is criminal activity in the performance of the 7 Art. 5 (Criminalization of participation in an organized criminal group): 1. Each State Party shall adopt such legislative and other measures as may be necessary to establish as criminal offences, when committed intentionally: (a) Either or both of the following as criminal offences distinct from those involving the attempt or completion of the criminal activity: (i) Agreeing with one or more other persons to commit a serious crime for a purpose relating directly or indirectly to the obtaining of a financial or other material benefit and, where required by domestic law, involving an act undertaken by one of the participants in furtherance of the agreement or involving an organized criminal group.

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group’s programme subsumed under this second category but also those activities which, albeit lawful, are carried out in the knowledge that they contribute towards the fulfilment of the criminal aim of the group. This has been made possible by constructing responsibility not as internal participation in the group but as a kind of complicity involving an external subject. This situation of „external participation“ has a bearing upon the experience, comprising the case law of the Italian penal system. In almost 20 years of the application of the specific provision on Mafia-type organised crime, this supplement to the general provisions on complicity has led to attempts to repress links between organised crime and the economy, which were hidden in the more elevated social classes (professional people, politicians, judges). However, rather than in the difficulties associated with probative evidence, here we are interested in stressing that the choice made by the Convention’s provision ends up by putting very different situations on the same level. Such different situations in the penal systems of individual states derive from judicial models that are neither historically nor functionally homogeneous. The choice of creating a hybrid model is an attempt to maximize the supranational coverage of activities related to organised crime. We are in total agreement with the objective of sidetracking the shortcoming and delays of the different penal systems in repressing the extremely variegated manifestations of organised crime, by means of an instrument that surmounts the great differences in the legal systems of the world. However, in our opinion this hybrid model cannot prevent us from overlooking the fundamental need to make the punishment adequate to the crime. The forms of conducts that are treated as equal with regard to the obligation of incrimination must re-acquire their differences when the supranational obligation is ratified by the national states. Once the Convention takes legal force it will be important to have it implemented as part of national penal systems. It will be especially important to ascertain that the single penal systems ensure a different kind of sanction to the mere illicit agreement involving only 2 persons and to the agreements formed in the context of structured groups and followed by the performance of unlawful activities. In order to repress organised crime the proportionality of the penal sanction to the substantial seriousness of the fact, as determined by national codes, is no less important in producing a common platform for fighting such crimes at a worldlevel. However, re-establishing the diversity in the punishment imposed for the 8 Art. 5 (Criminalization of participation in an organized criminal group): (...)(ii) Conduct by a person who, with knowledge of either the aim and general criminal activity of an organized criminal group or its intention to commit the crimes in question, takes an active part in: a. Criminal activities of the organized criminal group; b. Other activities of the organized criminal group in the knowledge that his or her participation will contribute to the achievement of the above-described criminal aim.

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multiple activities of organised crime will not constitute an impediment to the activities of international cooperation in the examined matter by virtue of the homogeneous framework outlined in the comprehensive terms of the Palermo Convention. VI. The objectives of the criminal organisation in the other specific offences of the Palermo-Convention In addition to the structural characteristics of organised crime, which refer to a particular configuration of the group performing a series of criminal acts, account must also be taken of the objectives pursued by criminal groups, which are of no lesser importance for repressing this phenomenon. Among these the objective of procuring illegal proceeds has a leading role in the decision to undertake criminal activities: the combination of the forces operating in these associations offers economic advantages that in terms of the time required and level of the proceeds procured are absolutely unequalled by either criminals acting alone or groups acting in a legal framework. The relationship between organised crime and illegal gains is so close as to have conditioned the discussion on the concept of organised crime, and the latter is, in fact, frequently identified with economic crime. Without wanting to confuse the two phenomena that beyond their points of contact do have different aspects (for example, the systematic recourse to force, intimidation and violence), actions designed to repress organised crime would certainly not be effective unless the illegal proceeds associated with them are taken into account. Attention should, in particular, be addressed not only to the direct results of unlawful activity but also to the much vaster issue of the re-deployment of such capital in the lawful economy as also in the enhanced criminal activity designed to multiply the illicit proceeds. The Palermo Convention has attached a specific importance to such approaches towards repressive action. The state parties undertake to take direct action against illegal wealth by means of such instruments as seizure and confiscation but also to prosecute the laundering of illicit proceeds. Moreover, a close substantial connection exists between the availability of illicit capital and corruption through which organised crime is enabled to infiltrate economic systems without reverting to violence, albeit compromising market rules. From another side, in order to realise its own illicit objectives, organised crime does not hesitate to apply pressure or revert to threats and violence, especially in order to obstruct the activities of judicial bodies. In so doing it attempts to guarantee an area of immunity for itself while at the same time contributing to the establishment of a climate of intimidation, perceived as such by numerous sectors of the society at large. Corruption and the obstruction of justice are very important areas upon which actions designed to counter organised crime must concentrate, which explains the decision of including special measures in the

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Palermo Convention obliging state parties to prosecute such activities on the basis of shared standards. We shall thus examine these certainly not secondary measures in relation to the state of domestic laws by referring to the information gleaned from the above mentioned questionnaire. 1. Action against illicit proceeds Art. 12 of the Convention indicates various measures to the state parties for taking action against illicit proceeds. First of all, there are the traditional means of not only the confiscation of the proceeds obtained from crime but also the means which are necessary for undertaking criminal acts. 9 At the same time in order to prevent the easy concealment of the direct proceeds from crime, states are expected to adopt appropriate measures to identify and confiscate the foregoing objects or means, 10 as well as endowing themselves with measures to confiscate or sequester any other goods into which the illicit proceeds may have been converted or transformed. 11 The importance of such ways of recycling illicit capital is at the heart of another measure that provides for the criminalisation of the laundering of illicit proceeds. This includes all forms of concealment or disguise of the illegal origin of a good when it is known that it is the result of a crime committed by another subject and there is the wish to help him to escape the legal consequences of his actions. 12 The incrimination of conduct performed to acquire, possess or use the proprietorship of 9 Art. 12 (Confiscation and seizure): 1. States Parties shall adopt, to the greatest extent possible within their domestic legal systems, such measures as may be necessary to enable confiscation of: (a) Proceeds of crime derived from offences covered by this Convention or property the value of which corresponds to that of such proceeds; (b) Property, equipment or other instrumentalities used in or destined for use in offences covered by this Convention. 10 Art. 12 (Confiscation and seizure): 2. States Parties shall adopt such measures as may be necessary to enable the identification, tracing, freezing or seizure of any item referred to in paragraph 1 of this article for the purpose of eventual confiscation. 11 Art. 12 (Confiscation and seizure): 3. If proceeds of crime have been transformed or converted, in part or in full, into other property, such property shall be liable to the measures referred to in this article instead of the proceeds. 4. If proceeds of crime have been intermingled with property acquired from legitimate sources, such property shall, without prejudice to any powers relating to freezing or seizure, be liable to confiscation up to the assessed value of the intermingled proceeds. 5. Income or other benefits derived from proceeds of crime, from property into which proceeds of crime have been transformed or converted or from property with which proceeds of crime have been intermingled shall also be liable to the measures referred to in this article, in the same manner and to the same extent as proceeds of crime. 12 Art. 6 (Criminalization of the laundering of proceeds of crime):1. Each State Party shall adopt, in accordance with fundamental principles of its domestic law, such legislative and other measures as may be necessary to establish as criminal offences, when committed

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goods whose illegal origin is known is, on the other hand, subject to the reservation of such incrimination being compatible with the principles of national judicial systems. 13 Moreover, with regard to the definitions of the so-called predicate offences that give rise to proceeds that cannot be re-utilised, the Convention while hopefully prospecting a maximum list of such offences, lays down a minimum list. The former is based on the desire that the states will cooperate to compile a list as complete as possible, whereas the latter covers all „serious crimes“, as defined by art. 2 of the Convention, as well as crimes that the Convention regards to be matter of an obligation of criminalisation by the state parties. 14 However, a review of the domestic legal systems of the countries, that replied to the questionnaire, reveals that these supranationally-inspired instruments have not been uniformly implemented. Although forms of seizure and confiscation of the direct proceeds of crime are more or less common to all systems, the possibilities of seizing property obtained from recycling these proceeds are less frequently encountered. Some of the areas which are not covered refer to the direct incrimination of money laundering, and this seems mainly to be the result of the diversity among the various national systems in identifying predicate offences. Therefore to sum up: A. The seizure and confiscation of the benefits and goods directly procured by crime are traditionally considered penal sanctions, even in the numerous cases coming under the special category of security measures. In European systems, there are the examples of the French (art. 131 –21 penal code), Italian (art. 240 penal code) and Spanish (art. 127 penal code) penal systems, but also ex-communist countries such as Bulgaria and Romania (art. 118 penal code) intentionally: (a) (i) The conversion or transfer of property, knowing that such property is the proceeds of crime, for the purpose of concealing or disguising the illicit origin of the property or of helping any person who is involved in the commission of the predicate offence to evade the legal consequences of his or her action; (ii) The concealment or disguise of the true nature, source, location, disposition, movement or ownership of or rights with respect to property, knowing that such property is the proceeds of crime. 13 Art. 6 (Criminalization of the laundering of proceeds of crime):... (b) Subject to the basic concepts of its legal system: (i) The acquisition, possession or use of property, knowing, at the time of receipt, that such property is the proceeds of crime; (ii) Participation in, association with or conspiracy to commit, attempts to commit and aiding, abetting, facilitating and counselling the commission of any of the offences established in accordance with this article. 14 Art. 6 (Criminalization of the laundering of proceeds of crime): 2. For purposes of implementing or applying paragraph 1 of this article: (a) Each State Party shall seek to apply paragraph 1 of this article to the widest range of predicate offences; (b) Each State Party shall include as predicate offences all serious crime as defined in article 2 of this Convention and the offences established in accordance with articles 5, 8 and 23 of this Convention. In the case of States Parties whose legislation sets out a list of specific predicate offences, they shall, at a minimum, include in such list a comprehensive range of offences associated with organized criminal groups.

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incorporate these provisions. This is also true of other systems based on the French tradition, especially in Africa: for example Algeria (art. 15, 15bis, 16, 20 and 25 penal code), Burkina Faso (concerning specific crimes and offences such as drug trafficking and corruption) and Nigeria. This solution is widespread in South America too: for example Argentina (art. 23 penal code), Colombia (art. 100 penal code) and Mexico, at both a federal (art. 24 No.. 8, art. 40 Federal penal code) and state (art. 48 penal code of the State of Mexico) level. The measures adopted have, in some cases, administrative nature, in others penal nature. Bolivian legislation provides us with an example in this sense as it provides financial enquiries by special administrative bodies. Moreover, common law systems have parallel civil and criminal forfeiture systems (e.g. in U.S. the 18 U.S.C. par. 981 and 982), with a different distribution between the parties of the burden of proof. B. Forms of the seizure of property that are equivalent to goods directly procured by the crime are, instead, less frequently found among the countries that replied to the questionnaire. However, this is not a phenomenon confined to specific geographical contexts. For example Germany, Bulgaria and Romania all made provision in domestic legislation for the seizure of assets that correspond to the proceeds of crime (the latter in the case of money laundering: art. 25 l. No. 21/1999). Some replies to the questionnaire made a generic reference to the presence in their respective law systems of penal measures for confiscating proceeds of crime, but without specifying if these were measures that covered assets that were equivalent to both goods procured by crime and proceeds deriving from its laundering (as in, for example, the reply of Poland). C. Money laundering is currently a crime in numerous countries, despite the fact that notable differences still remain in the contents of specific forms of conduct defined as criminal. From the widest solution, with which every investment of capital obtained from any type of crime is incriminated (for example France in art. 324 –1 penal code but also Poland and Mexico), we pass to a much more particularised range of restrictions referring to predicate offences. This notion is described in some systems in terms of a generic reference to entire categories of offence (e.g. in Italy all cases of fraud) while, in other countries it is related to crimes of a specified seriousness (for example Spain: art. 301 penal code). However, in the other cases single classes of offence are usually specified, although the references in question vary considerably between the various penal systems (there are more than 100 crimes of this type indicated in the USA, while in Ecuador, Trinidad and Tobago and Burkina Faso only crimes connected to drug trafficking are considered). But there are also mixed solutions that vary from solutions in which the seriousness of the crime is supplemented by the express specification of an additional list of predicate offences (thus, for example, art. 261 of the German penal code) to those that link single crimes to entire criminal categories (e.g. art. 323 of the Columbian penal code likens extortion and kidnapping to crimes against the financial system and crimes against the public administration).

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On the other hand, it should not be overlooked that in a number, albeit limited, of countries money laundering is not a crime. For example, among the countries replying to the question, Holland (although there is a bill under discussion on the matter) and Algeria. In such a highly variegated scenario, which creates the opportunity of switching illegal money to countries where it can be safely laundered, the importance of achieving a homogeneous normative standard is self-evident. The Palermo Convention moves in this direction not only with regard to the request of repressing money laundering addressed to those legal systems where the phenomenon is tolerated, but also with regard to the commitment of all the other systems to associate the single internal incriminations to a minimum list of predicate offences. Certainly, assuming that money laundering is a predicate offence implies an additional requisite relating to the structure of the crime, at least with regard to the conduct of the persons who are the actual authors of the offences predicated; i.e. the author must be aware that the money is the result of expressly mentioned crimes. Such a knowledge is not easy to prove in trial proceedings, even if, precisely to allay the risk of undermining the enforceability of the norm, the Convention states that this „knowledge ... may be inferred from objective factual circumstances“, (art. 6 par. 2 lett. f). On the other hand, because the extreme variety of solutions adopted on the matter of predicate offences limits the list to a small number of counts it also makes it easier to reach a first level of harmonisation on predicate offences at a world-wide level. Furthermore, in connection with the need to overcome the difficulties of cogent evidence presented by the subject, account must be taken of the Convention’s indication in terms of a generalised recognition of forms of asset seizure. This seizure is for a value equivalent to the goods procured by illegal activity, when the latter have been laundered, although the failure to provide guidelines for reducing the burden of proof necessary prior to the confiscation and the seiziure of goods procured by organised crime is disappointing. As it is known, the crucial point is whether or not to admit the possibility, in the case of volumes of property deemed disproportionate to legal earning capacity, that the defendant has to establish that his possessions are not the product of illegal proceeds, rather than leaving the task of proving this connection to the public prosecutor. Certainly the Convention could not expect that this solution would be generally accepted in penal law, as too many legal systems would hold that the onus of proof had been switched from the prosecution to the defence. However, in the light of the present forms of civil seizure in common law systems, as well as similar administrative measures in other systems, the Convention could have followed the example of other transnational texts: stimulate the spread of the foregoing particular assignment of the burden of proof by leaving to single national systems the choice of applying it to civil, penal or administrative confiscation measures. 15 For that matter this solution, that 15

For such solutions in the European context see recommendation 19 of the Action plan to Combat Organised Crime 1997, OJEC C251 of 15.8.1997.

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has been adopted in connection with the establishment of the direct responsibility of legal persons for crimes that constitute the subject matter of the Palermo Convention, as in art. 10 par. 2 and 4 does not specify if administrative, civil or penal responsibility is involved. The specification in this case is left to the choice of the individual nations, in this case following the example of previous transnational texts. 16 2. Action against forms of corruption The duty of criminalising corruption is limited to an essential nucleus of behaviour which is variously sanctioned in the different legal systems. It is foreseen that these would render suborning a public official to commit an act related to his or her function and the opposite situation, in which the public official incites or accepts illicit advantages to commit an act related to his or her function, equally punishable. 17 The definition of the norm is striking on account of its relative simplicity because it does not directly express the complexity of the possible connections between corruption and organised crime. 18 However, we should not lose sight of the complex framework in which the norm in question must operate. The entire Palermo Convention is designed to apply to specific types of crime – among which corruption and other crimes that entail the obligation of incrimination by State Parties – insofar as the conduct referred to in each crime has a transnational character and involves an organised criminal group. 19 16 So e.g. art.3 of the Joint Action, referring to the incrimination of participation in a criminal organisation in the Member States of the European Union, OJEC L351 of 29.12.1998. See also. 5 of the Joint Action on the corruption in the private sector, OJEC L358 of 31.12.1998. 17 Art. 3 (Scope of application): 1. This Convention shall apply, except as otherwise stated herein, to the prevention, investigation and prosecution of: (a) The offences established in accordance with articles 5, 6, 8 and 23 of this Convention; and (b) Serious crime as defined in article 2 of this Convention; where the offence is transnational in nature and involves an organized criminal group. 18 Art. 8 (Criminalization of corruption): 1. Each State Party shall adopt such legislative and other measures as may be necessary to establish as criminal offences, when committed intentionally: (The promise, offering or giving to a public official, directly or indirectly, of an undue advantage, for the official himself or herself or another person or entity, in order that the official act or refrain from acting in the exercise of his or her official duties; (The promise, offering or giving to a public official, directly or indirectly, of an undue advantage, for the official himself or herself or another person or entity, in order that the official act or refrain from acting in the exercise of his or her official duties. 19 Art. 3 (Scope of application): 1. This Convention shall apply, except as otherwise stated herein, to the prevention, investigation and prosecution of: (a) The offences established in accordance with articles 5, 6, 8 and 23 of this Convention; and (b) Serious crime as defined in article 2 of this Convention; where the offence is transnational in nature and involves an organized criminal group.

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The objective of safeguarding the Convention also explains the absence of a transnational norm addressed to types of corruption, despite that they have been recognised in many different legal systems. For example, no distinction is made as to types of corruption in relation to the subject of the illicit exchange; in other words whether or not the act in question is contrary to or it is in conformity with the official duties of an official. Such a distinction between so-called proper and improper corruption indicates the degree to which the safeguard is concerned with the impartiality and correct action of the public administration. And in this case instances of corruption that seek to obtain acts contrary to official duties would merit a more serious punishment than those which do not subvert the rules of administrative action. On the other hand, the Palermo text indicates corruption as one of the principle activities of organised crime. But because it did not have the remit of safeguarding the public administrations of single nations, the Convention’s norm could not address the distinction between proper and improper corruption. However, this issue only really boils down to a matter of the degree to which the respective sanctions are applied and as such it has been left entirely to the discretion of the single nations in order to overcome difficulties in implementing transnational indications. The choice of limiting illicit conduct liable to incrimination to a minimum, obviously reduces the risk that the single penal systems would encounter internal resistance to the Convention on this point. The present orientation of penal legislation is, at large, in line with the provisions of the transnational norm. This is shown by the concordance registered in the replies to the questionnaire, which demonstrates that there is a widespread penal reaction to the basic forms of corruption. Hence in Algeria (art. 126 s. penal code), Argentina (art. 256 –259 penal code), Bahamas (Prevention of Bribery Act, chapter 81 Statute Laws of The Bahamas); Bolivia (art. 145 –147, 151, 158, 173 bis penal code); Bulgaria (even if limited to only material advantages); Burkina Faso (art. 156 –159 PC); Cambodia (art. 38 criminal law); Colombia (art. 404 –407 PC); Ecuador; France (art. 433 – 1; art. 432 –11; art. 434 – 5 PC); Germany (art. 331 and 333 penal code, where payment is not necessarily referred to a specific act; art. 332 and 334 PC); Mexico (art. 222 PC); Netherlands (art. 177 –178, 328 ter, 362 – 363 PC); Poland (art. 228 –229 PC); Romania (art. 254 –256 as supplemented by Act 78/2000 on the prevention, discovery and criminal liability of corruption); Russia; Spain (art. 419 –427 PC); Trinidad and Tobago (Prevention of Corruption Act 1987); USA (par. 201 18 US-code). However such generalised uniformity at the level of the statute book does not apply to all expressions of the phenomenon. Thus the extension of criminal liability to cases in which corruption refers to foreign functionaries, introduced by art. 8 subsection 2 of the Convention and already provided by numerous supranational instruments, is at present only recognised by a small number of systems. Positive replies have been forthcoming from: Argentina (art. 258bis

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penal code) Colombia (art. 433 PC); France, Germany (Eu BriberyAct 1998; Act on combating International Bribery 1999); Spain (art. 445 bis penal code); USA (Foreign Corrupt Practices Act). Nevertheless, the subject is a source of politicalcriminal interest: for example, Romania’s reply to the questionnaire provides news of a parliamentary discussion on the matter, and the Palermo Convention does appear to have given an important impulse towards the production of a wider legal basis for manifestations of transnational crime. On the other hand, the Convention’s silence on the delicate theme of private sector corruption raises a more serious problem as this can represent one of the most direct ways in which organised crime infiltrates the legal economy. It is precisely the large volumes of illicit capital made available by organised crime that causes the subversion of legal market rules without resort to violence. The phenomenon can only be countered by making appropriate recourse to civil, administrative and penal instruments. It would, therefore, have been very useful if the preliminary phase of the Convention had also addressed extreme forms of corruption in the private sphere, or, at least, the more serious or not otherwise preventable forms of conduct, which would have deserved a common basis for incrimination. The wider framework of repressing organised transnational crime could have presented a more certain reference for the enlargement process of a number of countries that already punish private sector corruption, for example and again with reference to the countries responding to the questionnaire, France, Germany (par. 299 penal code) as well as, although in more limited circumstances, the USA. On this matter, Poland has stated that a bill on the question is under discussion. The Palermo Convention has not specifically taken account of the case where the public official in question is a judge. In a large number of national penal systems the delicacy of this function entails a more serious liability (e.g. Algeria: art. 126 bis penal code; Argentina: art. 256bis subsection, 257; Bolivia: art. 173bis penal code; Ecuador: art. 289 penal code; Germany: art.335 penal code; Italy: art. 319ter penal code; Netherlands: art. 364 penal code). Yet it could be argued that such a difference is not irrelevant with regard to the political – criminal perspective of the Convention. A significant number of countries are characterised by the actual risk that organised crime can condition trial proceedings in such a manner as to interfere with the administration of justice. Consequently, the factual enforceability of penal law is compromised, including the norms on corruption, money laundering and organised crime. The formal existence of legal provisions certainly does not ensure the effective enforceability of the latter, if the persons that must apply such provisions are at the service of organised crime and its enormous capacity for corruption. Consequently, the Palermo Convention has made special provision for duty of incrimination in the event of obstruction of justice. But it would have been more appropriate to bring the two strands of the phenomenon together and expressly consider the types of corruption connected

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to the exercise of judicial functions as a particularly insidious form of organised criminal action. 3. Action against the obstruction of justice The explanation for not taking judicial corruption into consideration is found in the foregoing norm dedicated to the obstruction of justice, and has a double aspect. The first is systematic in nature, while the second can be inferred from the text of the norm. The inclusion of an obligation of incrimination under the head of the obstruction of justice reveals its distance from the other types of incrimination provided by the Convention. It is part of the procedural part of the text, by means of which the effectiveness of the instruments of international judicial cooperation are enhanced (extradition: art. 16; mutual legal assistance: art. 18) and the freedom of action and evaluation of the various procedural parties is safeguarded (witnesses, judges as well as victims in their capacity as witnesses: art. 23 – 24). Secondly, the norm requires the incrimination of violent or threatening forms of conduct performed for purposes of conditioning testimonial evidence, the collection of other evidence, or the work of a judge or police officer in the performance of his duties. Moreover, corruption is also construed as a mean of altering testimonial evidence and the preparation of evidence, although this is not provided in relation of the conditioning of a judge or police officer. This reveals that a particularly serious form of criminal phenomena has not been properly accounted for, as it is only included in the general prohibition on corruption. 20 However, overall, the choice of limiting transnational incrimination of obstruction of Justice to a relatively limited number of counts has the advantage of providing a homogeneous and single reference framework for the single national systems. Not only does this facilitate the implementation of art. 23 of the Convention in systems that do not provide for such incrimination and are, therefore, obliged to remedy the absence (which is the case of Holland, according to questionnaire data) but it also helps many of the other countries in which the forms of conduct defined in the transnational norm are disseminated over a series of distinct norms, some of which outside the penal safeguards for the administration of justice; and such fragmentation certainly does not help to highlight the essential 20 Art. 23 (Criminalization of obstruction of justice): Each State Party shall adopt such legislative and other measures as may be necessary to establish as criminal offences, when committed intentionally: a) The use of physical force, threats or intimidation or the promise, offering or giving of an undue advantage to induce false testimony or to interfere in the giving of testimony or the production of evidence in a proceeding in relation to the commission of offences covered by this Convention; b) The use of physical force, threats or intimidation to interfere with the exercise of official duties by a justice or law enforcement official in relation to the commission of offences covered by this Convention.

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homogeneity of the deviance represented by these forms of conduct especially when perpetrated by organised crime. The replies given to the question posed by the questionnaire as to the existence, within national penal systems, of domestic laws incriminating facts laid out in art. 23 of the Convention show a great deal of differentiation in relation of both the crimes mentioned and the safeguards in place for the corresponding subjects. For example, the French indicated that there were three articles in the new penal code, of which the first regulate intimidation against whoever holds a public function (art. 433 –3 penal code), although this was contained in a distinct section from that specifically dedicated to the obstruction of justice. However, the other two articles are included in this section (art. 434 –1 and 434 –21). In Spain, instead, there are many norms incorporated in crimes against both the administration of justice (art. 464 – 465 penal code), and the public order (art. 550 – 556 penal code). And the increase in the number of subjects deemed fit for protection keeps pace with the number of crimes involved. The Germans, for example, replied to the ISPAC questionnaire by referring to the incitement to make a false declaration (even if only attempted: par. 159 –160 penal code) and many other different offences, such as bodily harm (par. 223 penal code) or those against personal liberty (coercion and threat: par. 240 –241 penal code), corruption (par. 334 penal code) obstruction of punishment (per. 258) and extortion of testimony (par. 343 penal code). In addition, although in a different geographical setting, the reply of Columbia indicates that the transnational norm on the obstruction of justice figures in at least nine new crimes in new penal code (ley 599 of the 2000, in force from 24.07.2001) between the section dedicated to the protection of the administration of justice (art. 435, 441, 442, 444, 446, 453) and that designed to safeguard the public administration. 429, 430, 433). Notwithstanding this, it has also been recognised that art. 23 of the Palermo Convention requires a change of this legal framework, at least when the conduct in question is perpetrated by criminal organisations. An adjustment in this sense seems necessary also with regard to the legal systems of the USA, Mexico and Poland, that, instead, declared that they were fully in line with the so mentioned art. 23. It should be noted that the Columbian reply also made reference to norms such as false accusation and testimony (art. 435, 436, 442 penal code) and the corruption of a foreign functionary (transnational subornation: art. 433 penal code) which fall outside the scope and the purposes of art. 23 of the Palermo Convention. Similarly, in the reply received from Bolivia, it is recognised that a specific incrimination for the obstruction of justice does not exist but it is held that the forms of conduct in question would, nevertheless, be covered by other crimes (art. 169, 170, 179, 179 BIS, 293 and 294 penal code). However, in substantiating this claim we discover that the crimes in question are in part different (such as false testimony: art. 169 penal code) and in part more general (such as those referring to threat and coercion: art. 293 and 294).

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The replies (from the participants in the initiative) to the part of the questionnaire dealing with the question of the obstruction of justice were found to be the least reliable sources of information on the distance between national penal systems and the transnational norm. For example, it is not always clear if some of the replies (such as those of Algeria and Argentina) concern crimes of false testimony: as already noted when the replies of Bolivia and Colombia were commented, this reference ignores the fact that in this crime the witness is not a victim of intimidation but rather the author of false information. In other cases, reference was made to the crimes of refusing or delaying justice in which the judge is the author of the crime rather than the victim of violence or intimidation (thus once again the reply of Argentina that refers to art. 273 and 274 penal code). Then there are generic statements of the conformity of domestic legislation to transnational incrimination (thus, for example Bulgaria, Burkina Faso and above all, Russia): but in the absence of more specific indications on the norms in question, it is difficult to verify whether or not some adjustment to the laws in force is really needed in order to implement the transnational norm in question. In other cases some laws are referred to but in an incomplete manner with respect to the scope of art. 23 of the Palermo Convention (thus Ecuador refers to incitement to make a false declaration, but not to the corruption of a judge: art. 289 penal code and a similar omission is found in the replies of Romania and Trinidad and Tobago). The difficulties of decoding the replies on the point, along with the imprecision in some of them in addressing the core conduct that art. 23 sets out to repress, anticipate the obstacles that many legal systems will strew on the path of the adjustments needed to implement the obligation of incrimination. The programme of technical assistance in the implementation phase of the Convention in national legal systems should, therefore, accurately indicate the areas of intervention in single penal systems and the adjustments that may, from time to time, be necessary. However, this is a more general problem that concerns the entire text of the Palermo Convention. VII. The crucial implementation phase in internal penal systems The variety of situations covered by the penal systems in relation to the incriminations provided by the Convention will, certainly, affect the present phase of ratification by the signatory states and the adjustments to be made to internal penal systems. In the light of the foregoing considerations, the choices that the Convention opted for with respect to obligation of incrimination mirror, in a contradictory manner, the need to find solutions able to command the widest possible consensus on international actions to combat organised crime. Thus, on the one hand, a structural definition was reached on an extremely vast phenomenon that embraces not only the simple agreement between two subjects for purposes of perpetrating a transnational crime but also out-and-out, structurally

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established, criminal organisations. This solution can only be justified by the fear that any other approach would undermine the effectiveness of an international instrument to deal with particular forms of the phenomenon in question. On the other hand, with reference to the types of crime connected to the various objectives being pursued by illegal activity only a relatively limited number of forms of conduct end up as being liable to international incrimination. In this regard a closer examination of some of the particular ways in which the crimes dealt with manifest themselves is lacking, although in some situations precisely these ways have represented a favourite area for organised crime to exercise its influence (the corruption of judges, or the corruption of directors of private companies). In both sectors the implementation phase in internal legal systems will call for a very careful work of inserting and tailoring the elements of the crime into the regulatory archipelago of each penal system. The profiles onto which our attention should be focused are various: we must rationalize – also in terms of sanctions- the corresponding incriminations; avoid superfluous redundancies as between various internal laws; and seize the occasion for codifying the statutory regulations on illegal activities at present regulated in a fragmentary manner. This determines the importance – already mentioned – of ensuring adequate technical assistance for countries involved in such a difficult passage, especially those nations whose judicial culture is not familiar with the solutions contained in the Convention and lacks the technical skills necessitated by international penal law. It should, for that matter, also be noted that the Convention has not made use of the more incisive instruments mentioned in international debates and / or in the experience of some penal systems. Consider, for example, the responsibility of the leaders of criminal organisations for crimes committed by its members, or even simpler forms of the burden of proof in cases of confiscation of unlawful proceeds. However, here a not secondary problem is represented by the compatibility of solutions of this kind with the need to safeguard the individual against the state enshrined in the rule of law, despite the fact that this has still not been firmly codified at an international level. The sense of the Palermo Convention should not be sought in having introduced this or that single and more or less innovative and effective measure to combat crime. Instead it largely seems to consist in having developed a common language in the fight against organised crime. And this objective is the most important if we consider the confusion that used to reign in the debates on the question. Nevertheless, the signature of the Convention by a truly large number of states only represents a partial success, because the task has still to be completed. We shall conclude with a last consideration: the contest will only be won if after the implementation and execution of the convention, the attention of the international community that brought the nations together to stipulate a new chapter in the fight against organised transnational crime does not wane.

Vorteilsannahme durch Abgeordnete – internationale Verpflichtungen und nationale Schwierigkeiten Roland Schmitz I. Einleitung Korruption in allen ihren Facetten ist eines der Themen unserer Zeit – international, national, politisch, strafrechtlich; auf allen Ebenen wird sie diskutiert und angeprangert. Deutschland macht dabei keine Ausnahme, auch wenn das Problem anderenorts drängender sein mag als in diesem vergleichsweise gut funktionierenden Rechtsstaat. Allein der Umstand, dass Deutschland auf der von der Nichtregierungsorganisation Transparency International geführten Rangliste über Korruptionsanfälligkeit (CPI) jahrelang auf Platz 16 von insgesamt 180 Ländern geführt wurde (für das Jahr 2008 immerhin aber auf Platz 14), 1 gibt ständigen Anlass für Überlegungen zur Verbesserung der Situation – obwohl es danach ja immerhin in 166 (164) Ländern schlimmer zu sein scheint 2 und es sich bei den Ländern auf den Plätzen 1 bis 15 (13) durchweg um sehr viel bevölkerungsärmere als Deutschland handelt. Die Strafwürdigkeit der Vorteilsannahme (Bestechlichkeit) von Amtsträgern im „klassischen“ Sinne, also insbesondere der in §11 Abs. 1 Nr. 2 a), b) StGB genannten Beamten, Richter und öffentlichen Angestellten, dürfte in unserem Kulturkreis im Grundsatz unstrittig sein; 3 respektive die Vorteilsgewährung (Bestechung) an sie. Über die Ausgestaltung der §§331ff. StGB im Einzelnen wird man diskutieren können (insbesondere im Hinblick auf die grundsätzliche Einbeziehung der Drittmitteleinwerbung durch Universitäten und Forschungseinrichtungen), doch 1

Vgl. die CPI 2008 – 2005 (Stand 25.10.2008), „http://transparency.de/TabellarischesRanking.1237.0.html“. 2 Im Jahr 2001 konnte Möhrenschlager denn auch bei Würdigung des von BMI und BMJ vorgelegten „Ersten Periodischen Sicherheitsberichts“ konstatieren, dass „die allgemeine Aufgeregtheit über Korruption ... in einem umgekehrten Verhältnis zum Stand empirisch gesicherten Wissens“ steht; vgl. wistra 2001, Reg R LII; zum empirischen Wissen über Korruption vgl. auch die (inzwischen nicht mehr ganz aktuelle) Einschätzung von Kerner / Rixen, Ist Korruption ein Strafrechtsproblem?, GA 1996, 355, 364ff. m.w.N. 3 Ob dies in gleichem Maß für die in §11 Abs. 1 Nr. 2 c), Nr. 4 StGB genannten Amtsträger und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten in dieser Allgemeinheit gesagt werden kann, erscheint mir zweifelhaft, muss hier aber dahinstehen.

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soll dies hier nicht thematisiert werden. 4 Die Vielgestaltigkeit der modernen (Leistungs-)Verwaltung hat es im Übrigen mit sich gebracht, dass der Kreis der Personen, bei denen eine Vorteilsannahme im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit für die öffentliche Hand als strafwürdig (und -bedürftig) angesehen wird, in den letzten Jahrzehnten nicht unerheblich erweitert wurde, insbesondere durch das „Gesetz zur Bekämpfung der Korruption (Korruptionsbekämpfungsgesetz – KorrBekG)“. 5 Zudem wurden in Umsetzung europäischer und internationaler Verpflichtungen auch europäische und weltweit ausländische Amtsträger durch das EuBestG 6 und das IntBestG 7 in die nationalen Strafdrohungen mit einbezogen. Zur Implementierung dieser strafrechtlichen Weiterungen in die §§331ff. StGB liegt seit einiger Zeit ein Entwurf für ein „2. Korruptionsbekämpfungsgesetz“ 8 bzw. der „Entwurf eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes“ 9 vor, der gleichzeitig mit einer zusätzlichen Erweiterung der Strafbarkeit über die Regelungen des IntBestG hinaus verbunden ist, indem auf den Bezug zum wirtschaftlichen Geschäftsverkehr verzichtet wird. 10 Nur am Rande ist anzumerken, dass auch die Strafbarkeit der „Bestechung und Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr“ durch das KorrBekG eine „Aufwertung“ durch Überführung aus §12 UWG a.F. in §299 StGB erfuhr; auch dieser Tatbestand soll mit dem genannten neuen Strafrechtsänderungsgesetz erweitert werden. 11 4 Zur Drittmitteleinwerbung siehe etwa BGHSt 47, 295; Bernsmann, Die Korruptionsdelikte (§§331ff. StGB) – Eine Zwischenbilanz, StV 2003, 521ff.; Schmitz, Le recenti modifiche normative in materia di corruzione e le loro ripercussioni sulla ricerca scientifica (Neuerungen im deutschen Korruptionsstrafrecht und ihre Auswirkungen auf die Drittmittelforschung), Annuario di diritto tedesco 2001 (Milano 2002), S. 427ff.; je m.w.N. 5 G.v. 13.8.1997, BGBl. I S. 2038; vgl. dazu etwa Bernsmann (Fn. 4) StV 2003, 521ff. m.w.N.; Dölling, Die Neuregelung der Strafvorschriften gegen Korruption, ZStW 117 (2000), 334, 337ff. m.w.N. 6 EU-Bestechungsgesetz v.10.9.1998, BGBl. II S. 2340. 7 Gesetz zur Bekämpfung internationaler Bestechung v.10.9.1998, BGBl. II S. 2327; vgl. zum EuBestG und IntBestG Korte, Der Einsatz des Strafrechts zur Bekämpfung der internationalen Korruption, wistra 1999, 81ff.; Dölling (Fn. 5) ZStW 117 (2000), 334, 351ff. m.w.N.; Gänßle, Das Antikorruptionsstrafrecht, NStZ 1999, 543ff.; Schuster / Rübenstahl, Praxisrelevante Probleme des internationalen Korruptionsstrafrechts, wistra 2008, 201ff.; Tinkl, Strafbarkeit von Bestechung nach dem EUBestG und dem IntBestG, wistra 2006, 126ff.; Wolf, Die Modernisierung des deutschen Antikorruptionsstrafrechts durch internationale Vorgaben, NJW 2006, 2735ff.; Zieschang, Das EU-Bestechungsgesetz und das Gesetz zur Bekämpfung internationaler Bestechung, NJW 1999, 105ff. m.w.N. 8 Referentenentwurf (des BMJ) v.19.9.2006; Möhrenschlager, wistra 2007, Reg R XXXIIff. m.w.N.; Wolf, Internationalisierung des Antikorruptionsstrafrechts: Kritische Analyse zum Zweiten Korruptionsbekämpfungsgesetz, ZRP 2007, 44ff. 9 BT-Drucks. 16/6558 v.4.10.2007 bzw. BR-Drucks. 548/07 v.10.8.2007; dazu Möhrenschlager, wistra 2007, Reg R XLVf. m.w.N. 10 Vgl. Art. 1 Nr. 13 bis 15 des Entwurfs.

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Weitgehend unbehelligt von der zunehmenden Kriminalisierung von Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung sind in Deutschland bislang die Abgeordneten der Parlamente geblieben. Zwar steht seit dem 14.1.1994 die Abgeordnetenbestechung in §108e StGB 12 (erneut) 13 unter Strafe, doch ist die Reichweite des Tatbestands deutlich kleiner als die der §§331ff. StGB, weil er lediglich das „Kaufen“ oder „Verkaufen“ einer Stimme für eine Wahl oder Abstimmung unter Strafe stellt. 14 §108e StGB wurde deshalb schon von Anfang an als symbolisches Strafrecht bezeichnet, das zudem ein hohes Maß an Täuschungselementen aufweise – weil es mehr zu bewirken scheine als es leisten könne. 15 Die (geringe) Reichweite des Tatbestands ist nun seit einigen Jahren verstärkter Kritik ausgesetzt, 16 zumal Deutschland im Dezember 2003 die VN-Konvention gegen Korruption 17 gezeichnet hat, die jedenfalls eine über §108e StGB hinausgehende 11

Vgl. dazu Möhrenschlager a.a.O. sowie die Kritik an der Ausweitung bei Rönnau / Golombek, Die Aufnahme des „Geschäftsherrenmodells“ in den Tatbestand des §299 – ein Systembruch im deutschen StGB, ZRP 2007, 193ff.; Rönnau in Achenbach / Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2008, Kap. III, Abschn. 2, Rn. 65ff.; Stellungnahme der BRAK 39/2007 vom September 2007 (abrufbar unter http://www.brak.de/seiten/pdf /Stellungnahmen/2007/Stn39.pdf); Pressemitteilung des Bayerischen Justizministeriums 161/07 vom 24.10.2007 (abrufbar unter http://www.justiz.bayern.de/ministerium/presse /archiv/2007/detail/161.php). 12 Eingeführt durch das 28.StrÄndG v.13.1.1994, BGBl. I S. 84; das Gesetz folgt weitgehend den §§404, 409 E62; vgl. dazu BT-Drucks. 12/1630 S. 5; Becker, Korruptionsbekämpfung im parlamentarischen Bereich, Diss. Bonn 1998, S. 28 m.w.N.; Epp, Die Abgeordnetenbestechung – §108e StGB, 1997, S. 48ff.; Möhrenschlager, Die Struktur des Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung auf dem Prüfstand – Historisches und Zukünftiges, in: FS für Weber (2004), S. 217, 222; Richter, Lobbyismus und Abgeordnetenbestechung, 1997, S. 39. 13 Die Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung fand sich schon in §109 RStGB, der jedoch im Zuge des 3.StrÄndG 1953 so umgestaltet wurde, dass Abgeordnete nicht mehr erfasst waren; vgl. dazu sowie zur geschichtlichen Entwicklung überhaupt Becker (Fn. 12) S. 1ff., 17ff.; Schaller, Strafrechtliche Probleme der Abgeordnetenbestechung, Diss. Tübingen 2002, S. 4ff., 9ff.; Schlüchter, Zur Unlauterkeit in Volksvertretungen, in: Kriminalistik und Strafrecht (FS für F. Geerds), 1995, S. 713, 726f. m.w.N.; Möhrenschlager (Fn. 12), FS für Weber (2004), S. 217ff. 14 Genau: das Unternehmen (§11 Abs. 1 Nr. 6 StGB) des Kaufens oder Verkaufens. 15 Vgl. Barton, Der Tatbestand der Abgeordnetenbestechung (§108e StGB), NJW 1994, 1098, 1100; ebenso etwa von Arnim, Der gekaufte Abgeordnete – Nebeneinkünfte und Korruptionsproblematik, NVwZ 2006, 249, 252 m.w.N.; Richter (Fn. 12) S. 131f.; Nw. weiterer kritischer Stimmen etwa bei Heisz, Die Abgeordnetenbestechung nach §108e StGB – Schließung einer Regelungslücke?, 1998, S. 49ff., 109ff. – Siehe dazu auch Epp (Fn. 12) S. 476ff. 16 Insbesondere von Möhrenschlager (Fn. 12), FS für Weber (2004), S. 217, 230ff.; ders. wistra 2008 H. 6, VII m.w.N. („Trauerspiel“); von Arnim (Fn. 15), NVwZ 2006, 249, 252; Sanchez-Hermosilla, Rechtspolitik zur Korruptionsbekämpfung, Kriminalistik 2003, 74, 77; BGH wistra 2006, 299, 303f.; Entwurfsbegründung für einen neuen §108e StGB der Fraktion DIE LINKE v.25.4.2008, BT-Drucks. 16/8979 S. 5; vgl. außerdem Wolf (Fn. 8), ZRP 2007, 44, 46. – A. A. Michalke, Abgeordnetenbestechung (§ 108e StGB), in: FS für Hamm (2008), S. 459, 467 ff.

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Strafbewehrung verlangt. 18 Ratifiziert wurde die Konvention bislang von 126 der 140 Unterzeichnerstaaten, 19 allerdings nicht von Deutschland. 20 Bereits vier Jahre zuvor hatte zudem der Europarat die „Criminal Law Convention on Corruption“ verabschiedet, 21 die in Art. 4, 6 und 10 die Kriminalisierung der aktiven und passiven Bestechung von Parlamentariern in einer über §108e StGB hinausgehenden Weise 22 verlangt. 23 Von Seiten der parlamentarischen Opposition sind deshalb inzwischen zwei Entwürfe zur (erheblichen) Ausweitung der Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung in den Bundestag eingebracht worden, über die bislang noch nicht verhandelt worden ist. 24 Es keimt bei vielen der Verdacht auf, die Abgeordneten des deutschen Bundestages zögerten eine sie selbst betreffende Strafbarkeitserweiterung aus „guten“, nämlich höchst eigennützigen Gründen heraus. 25 Ein solcher Verdacht passt besonders in eine Zeit, in der offenbar die Mehrheit der Bevölkerung die Mitglieder von Parteien und Legislativorganen pauschal als „korrupt“ einstuft. 26 Und vermutlich ist dieser Verdacht auch nicht völlig unbegründet. Aber möglicherweise ist 17 United Nations Convention against Corruption (UNCAC) v.31.10.2003, Doc. A/58/ 422, http://www.unodc.org/unodc/en/treaties/CAC/index.html. 18 Vgl. dazu van Aaken, Genügt das deutsche Recht den Anforderungen der VN-Konvention gegen Korruption?, ZaöRV 65 (2005), 407, 423ff.; sowie unten III. 19 Vgl. http://www.unodc.org/unodc/en/treaties/CAC/signatories.html. 20 Stand: 20.10.2008. – In Kraft getreten ist die Konvention gleichwohl, da hierfür gem. Art. 68 UNCAC die Ratifizierung von 30 Staaten ausreichend war; dies war am 14.12.2005 der Fall, vgl. http://www.unodc.org/unodc/en/treaties/CAC/index.html. 21 Übereinkommen vom 27.1.1999, European Treaty Series (ETS) Nr. 173 (auch unter www.conventions.coe.int abrufbar); dazu Möhrenschlager, wistra 1999 H. 2, Vf.; ders. (Fn. 12), FS für Weber (2004), S. 217, ders. in: Handbuch der Korruptionsprävention, hrsg. v. Dölling, 2007, 8. Kap. Rn. 275ff. m.w.N. 22 Insoweit besteht zwar eine Vorbehaltsmöglichkeit für jeden Unterzeichnerstaat, deren Wahrnehmung aber, wie Möhrenschlager (Fn. 12), FS für Weber (2004), S. 217, 230 treffend einschätzt, nach der Unterzeichung des VN-Abkommens gegen Korruption politisch nicht mehr zu begründen wäre. 23 Auf Ebene der EU gibt es i.Ü. auch Bestrebungen zur Rechtsangleichung betreffend die strafrechtliche Sanktionierung der Abgeordnetenbestechung; vgl. dazu den Bericht von Tiedemann, Betrug und Korruption in der europäischen Rechtsangleichung, in: FS für Otto, 2007, S. 1055, 1060ff. m.w.N. 24 Gesetzentwurf der Fraktion „Bündnis 90 / DIE GRÜNEN“ v.16.10.2007, BTDrucks. 16/6726, dazu Möhrenschlager, wistra 2007, Reg R XLVIf., LXIVf. m.w.N.; Gesetzentwurf der Fraktion „DIE LINKE“ v.25.4.2008, BT-Drucks. 16/8979, dazu Möhrenschlager, wistra 2008, H. 6, VIIf. 25 Exemplarisch Geilen, Lexikon des Rechts – Strafrecht, Strafverfahrensrecht, hrsg. v.Ulsamer, 2. Aufl. 1996, S. 1115: „parlamentarische Selbstbedienung“, „Alibiveranstaltung“; kritisch dazu mit Recht Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, §108e Rn. 2. 26 Nach einer jährlichen (weltweiten) Umfrage von Transparency International stehen politische Parteien und Legislativorgane bei den in Deutschland Befragten (mit) an erster

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das Zögern, die Reichweite des §108e StGB zu vergrößern, ganz objektiv gesehen ebenfalls nicht unbegründet. Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. 27 II. Gängige Forderungen zur Erweiterung einer Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung §108e StGB wurde eingeführt, um (letztendlich) die Legitimität der parlamentarischen Demokratie zu schützen; 28 aus diesem Grund sollen das öffentliche Interesse an der Integrität parlamentarischer Prozesse und der Unabhängigkeit der Mandatsausübung sichergestellt werden. 29 Deshalb wurde für die Tatbestandsfassung auch das plakative und symbolische 30 „Kaufen oder Verkaufen“ der Stimme gewählt, um das besondere Unrecht der Tat zu kennzeichnen und gleichzeitig den Tatbestand zu konturieren; 31 entsprechend lautete schon der Vorschlag der Großen Strafrechtskommission. 32 Da der Tatbestand aber als Unternehmensdelikt ausgestaltet ist, ist er bereits dann vollendet, wenn nur eine dieser Handlungen versucht wird (§11 Abs. 1 Nr. 6 StGB). Der Abschluss einer „Unrechtsvereinbarung“ ist also keineswegs erforderlich. Da die (noch) h.M. bei Unternehmensdelikten die Rücktrittsregel des §24 StGB nicht gelten lassen will, 33 soll es auch unbeachtlich sein, wenn der „Verkäufer“ (der Abgeordnete) sich innerlich vorbehält, sein Stimmund dritter Stelle der korruptesten Institutionen der Gesellschaft; vgl. zuletzt „TI Global Corruption Barometer 2007“, Annex 4.2, http://transparency.org/content/download/27256 /410704/file/GCB_2007_report_en_02=12=2007.pdf (Stand: 25.10.2008); dort auch frühere Umfragen abrufbar; weitere Nachweise bei van Aaken (Fn. 18), ZaöRV 65 (2005), 407f. 27 Der Beitrag beschränkt sich weitgehend auf die Vorteilsannahme(-forderung) und spart die Seite des Gewährenden / Versprechenden aus. Für sie gelten die Überlegungen aber vice versa. 28 Zutreffend Fischer (Fn. 25) §108e Rn. 2; ähnlich Rudolphi in: SK-StGB Bd. II, 53. Lfg., 6. Aufl. (Oktober 2001), §108e Rn. 6. 29 Vgl. Bauer / Gmel in: LK-StGB Bd. 4, 12. Aufl. 2007, §108e Rn. 1; Epp (Fn. 12) S. 159ff. m.w.N.; Eser in: Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, §108e Rn. 1; Fischer (Fn. 25) §108e Rn. 2 m.w.N.; H.E. Müller in: MüKo-StGB Bd. 2/2, 2005, §108e Rn. 1; Lackner / Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, §108e Rn. 1; Rudolphi in: SK-StGB (Fn. 28), §108e Rn. 6; Schaller (Fn. 13) S. 25ff. 30 Die Begriffe „Kaufen“ bzw. „Verkaufen“ sind nicht im Sinne der zivilrechtlichen Vorschriften, sondern vielmehr bildlich gemäß dem allgemeinen Sprachgebrauch zu verstehen, vgl. H.E. Müller in: MüKo-StGB (Fn. 29) §108e Rn. 16. 31 Vgl. dazu auch Schlüchter (Fn. 13) FS für F. Geerds, S. 713, 728f.; kritisch Barton (Fn. 15) NJW 1994, 1098, 1099: „beides gelingt nicht“. 32 Vgl. die insoweit gleichlautenden BT-Drucks. 12/1630 und 12/5927, jeweils S. 5, 6. 33 Vgl. nur Berz, Formelle Tatbestandsverwirklichung und materieller Rechtsgüterschutz, 1986, S. 131; Fischer (Fn. 25) §108e Rn. 10; BGHSt 15, 198, 199 m.w.N.; w.N. etwa bei Radtke in: MüKo-StGB Bd. 1, 2003, §11 Rn. 88. – A.A. Radtke a.a.O.; Herzberg in: MüKo-StGB Bd. 1, 2003, §24 Rn. 214; Schmitz in: MüKo-StGB Bd. 4, 2006, §357

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verhalten nicht an der „Unrechtsvereinbarung“ zu orientieren. 34 Die Reichweite des Tatbestands in der Auslegung der h.M. ist daher weiter als offenbar vielfach angenommen. 35 Die häufigste Kritik an der Regelung des §108e StGB bezieht sich allerdings darauf, dass ausschließlich das Kaufen oder Verkaufen einer Stimme für eine Wahl oder Abstimmung bei Strafe verboten wird. Damit fielen die eigentlichen Beeinflussungen im Vorfeld einer parlamentarischen Entscheidung ebenso heraus wie die generelle Beeinflussung von Abgeordneten durch Dritte, insbesondere Lobbyisten (das „Anfüttern“). Auch die nachträgliche „Belohnung“ eines bestimmten Abstimmungsverhaltens bliebe unsanktioniert. Nur ganz „törichte“ und „dreiste“ Abgeordnete, die es allerdings in dieser Form nicht oder höchst selten gebe, könnten sich nach §108e StGB strafbar machen. 36 Aus diesen Gründen müsse der Tatbestand entweder so erweitert werden, dass er nicht mehr auf Wahlen und Abstimmungen beschränkt ist, oder die Abgeordneten seien den Amtsträgern gleichzustellen, um so eine Sanktionierung nach den §§331ff. StGB zu erreichen. 37 1. Gleichstellung von Abgeordneten mit den Amtsträgern Eine Gleichstellung der Abgeordneten mit den Amtsträgern wird zwar nicht von der Mehrheit der Kritiker des §108e StGB befürwortet, entspräche aber international gesehen durchaus einer weit verbreiteten Üblichkeit. Sie kommt auch in §§1, 2 IntBestG zum Ausdruck, indem dort ausländische Amtsträger und Abgeordnete den nationalen Amtsträgern gleichgestellt werden. Die Gleichstellung von Abgeordneten mit Amtsträgern erfolgt nach einer Untersuchung des MPI Freiburg aus dem Jahr 1997 38 z.B. in einer Reihe europäischer Staaten, nämlich in Belgien, 39 Frankreich, 40 Italien, 41 den Niederlanden, 42 Slowenien, 43 Spanien 44 Rn. 35; Frank, StGB, 18. Aufl. 1931, §357 Anm. 1 m.w.N.; ausführlich Wolters, Das Unternehmensdelikt, 2001, S. 224ff., 254f. 34 Vgl. Fischer (Fn. 25) §108e Rn. 10 m.w.N. 35 Fischer (Fn. 25) §108e Rn. 10; Michalke (Fn. 16), FS für Hamm (2008), S. 459, 473; grundsätzlich positiv auch Schlüchter (Fn. 13) FS für F. Geerds, S. 713, 728ff. 36 Vgl. Barton (Fn. 15) NJW 1994, 1098, 1100 m.w.N. 37 Kritik und Forderungen etwa bei von Arnim (Fn. 15) NVwZ 2006, 249, 252 m.w.N.; Becker (Fn. 12) S. 45f. m.w.N.; Dölling, Verhandlungen des 61. DJT 1996, Bd. 1, S. C83 m.w.N.; ders. (Fn. 5) ZStW 112 (2000), 334, 354; Geilen, Lexikon des Rechts (Fn. 25) S. 1115ff.; Sanchez-Hermosilla (Fn. 16) Kriminalistik 2003, 74, 77; Rudolphi in: SKStGB (Fn. 28) §108e Rn. 2ff. m.w.N.; Schaupensteiner, Wachstumsbranche Korruption, Kriminalistik 2003, 9, 12. 38 MPI, Korruptionsbekämpfung durch Strafrecht, Rechtsvergleichendes Gutachten zu den Bestechungsdelikten, hrsg. v.Eser / Überhofen / Huber, 1997. 39 A.a.O. S. 12; näher dazu Becker (Fn. 12) S. 69ff. m.w.N.; Heisz (Fn. 15) S. 100ff. m.w.N.

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und der Türkei 45. Darüber hinaus werden auch in Estland, 46 Portugal, Schweden, der Slowakei und der Tschechischen Republik 47 sowie in Polen die Abgeordneten den Amtsträgern gleichgestellt 48 – in Polen aufgrund einer erweiternden Auslegung von Art. 115 §13 Kodeks Karny durch Rechtsprechung und Wissenschaft. 49 Insbesondere sind Abgeordnete den Amtsträgern auch in den USA gleichgestellt. 50 Deren maßgeblicher Einfluss auf die Verabschiedung der VN-Konvention gegen Korruption wie des OECD-Übereinkommens, das dem IntBestG zugrunde liegt, 51 kann wohl kaum überschätzt werden. Schließlich hatte der Foreign Corrupt Practices Act (FCPA) von 1977, der die Bestechung ausländischer Amtsträger für in den USA ansässige Personen und Unternehmen unter Strafe stellte, die US-amerikanischen Unternehmen – aus deren Sicht und bald auch aus Sicht der Regierung – in eine wettbewerblich nachteilige Lage gebracht, da nur in den USA die Bestechung ausländischer Amtsträger mit Strafe bedroht war. 52 Eine Ausdehnung des Amtsträgerbegriffs auch auf Abgeordnete wäre aber dennoch die schlechteste aller denkbaren Lösungen. Es kann nicht übersehen werden,

40 A.a.O. S. 111 (Art. 432 –11, 433 –1 N.C.P.); vgl. dazu auch van Aaken (Fn. 18) ZaöRV 65 (2005), 407, 419ff. m.w.N.; Becker (Fn. 12) S. 72ff. m.w.N.; Heisz (Fn. 15) S. 73ff. m.w.N. 41 A.a.O. S. 223 (Art. 357 c.p.); vgl. auch Becker (Fn. 12) S. 77ff. m.w.N.; Heisz (Fn. 15) S. 86ff. m.w.N. 42 A.a.O. S. 362 (Art. 84 Abs. 1 nlStGB); vgl. auch Becker (Fn. 12) S. 63ff. m.w.N.; Heisz (Fn. 15) S. 92ff. m.w.N. 43 A.a.O. S. 556 (Art. 126 Abs. 2 slStGB). 44 A.a.O. S. 579f. (Art. 24, 422 CP); vgl. auch Becker (Fn. 12) S. 84f. m.w.N. 45 A.a.O. S. 626 (Art. 279 tüStGB). 46 Dazu van Aaken (Fn. 18) ZaöRV 65 (2005), 407, 421ff. m.w.N. 47 Vgl. zu diesen Staaten Möhrenschlager (Fn. 12) FS für Weber (2004), S. 217, 225 m.w.N. 48 Zu weiteren Ländern siehe Möhrenschlager (Fn. 12) FS für Weber (2004), S. 217, 224. 49 Siehe dazu den Bericht von GRECO (Group of States against corruption), Evaluation Report on Poland, 2002, S. 4 (Nr. 13), www.coe.int/t/dg1/greco/evaluations/round1/reports (round1)_en.asp; Möhrenschlager (Fn. 12) FS für Weber (2004), S. 217, 225 m.w.N. 50 Vgl. dazu MPI, Korruptionsbekämpfung durch Strafrecht (Fn. 38) S. 666; van Aaken (Fn. 18) ZaöRV 65 (2005), 407, 418 m.w.N.; Heisz (Fn. 15) S. 78ff. m.w.N. 51 Übereinkommen v.17.12.1997 über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr, abgedruckt in BGBl. II 1998, 2329ff. (Anhang zum IntBestG v.10.9.1998). 52 Dazu sowie zum Inhalt des OECD-Übereinkommens Korte (Fn. 7) wistra 1999, 81, 85f.; Pieth in: Handbuch der Korruptionsprävention, hrsg. v.Dölling, 2007, 9. Kap. Rn. 2ff. m.w.N.; Schünemann, Das Strafrecht im Zeichen der Globalisierung, GA 2003, 299, 308ff. m.w.N. – A.A. Kubiciel, Korruptionsbekämpfung – Internationale Rechtsentwicklung und Rechtswandel in Transitionsstaaten, ZStW 120 (2008), 429, 431ff.

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dass Tätigkeit und Aufgaben von Parlamentariern gerade in einem demokratischen Rechtsstaat anders gehandhabt werden müssen als die von Amtsträgern. a) Unterschiedliche Aufgaben von Abgeordneten und Amtsträgern Amtsträger haben in erster Linie Gesetze zu vollziehen und sollen dieses tun, ohne den Vollzug von der Erlangung eines persönlichen Vorteils abhängig zu machen oder auch nur den Anschein einer solchen Abhängigkeit zu erzeugen. Dementsprechend sollen die §§331ff. StGB nach allgemeiner Ansicht (mit Nuancen im Detail) die Lauterkeit des öffentlichen Dienstes und das Vertrauen der Allgemeinheit in eben diese Lauterkeit (im Sinne einer unparteilichen und sachbezogenen Verwaltung) schützen. 53 Demgegenüber stehen Abgeordnete nicht in der Pflicht zum Gesetzesvollzug, sondern sollen vor allem die je nach Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft notwendigen Gesetze erlassen. Da sie politischen Parteien angehören, sollen oder dürfen Abgeordnete sich jedenfalls dabei auch von den politischen Erwartungen ihrer Wähler leiten lassen oder einseitig Partei für neu aufkommende Anschauungen in der Gesellschaft ergreifen. Sie sind nicht nur, aber auch Interessenvertreter. 54 Unparteilichkeit kann also gar nicht erwartet werden, Sachbezogenheit im Sinne einer alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen berücksichtigenden Politik ebenso wenig. Eine Gleichsetzung mit Amtsträgern wäre daher schon im Ansatz verfehlt. 55 Es ist daher nichts dagegen zu erinnern, dass bei der Einführung des §108e StGB dieser Ansatz abgelehnt wurde und weiterhin abgelehnt wird. 56 Dass es dennoch Überschneidungen von Mandat als Abgeordneter und Amtsträgereigenschaft geben kann wie z.B. im Bereich der Kommunalparlamente, 57 ändert nichts an der grundsätzlichen Verschiedenheit der Aufgaben, sondern macht 53

Vgl. nur Fischer (Fn. 25) §108e Rn. 3 m.w.N. Vgl. Dölling, Gutachten 61. DJT (Fn. 37) S. C82 m.w.N.; Zieschang (Fn. 7) NJW 1999, 105, 107; Entwurfsbegründung für einen neuen §108e StGB der Fraktion DIE LINKE v.25.4.2008, BT-Drucks. 16/8979 S. 5 (einschränkend). 55 Ebenso Dölling, Gutachten 61. DJT (Fn. 37) S. C82; Epp (Fn. 12) S. 211f.; Kerner / Rixen (Fn. 2) GA 1996, 355, 387; Michalke (Fn. 16), FS für Hamm (2008), S. 459, 468; Schaller (Fn. 13) S. 95f.; Schulze, Zur Frage der Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung, JR 1973, 485, 486f.; a.A. Heisz (Fn. 15) S. 129f. 56 Vgl. die insofern gleichlautenden Begründungen der Gesetzesentwürfe von SPDFraktion und der Fraktionen von CDU / CSU und FDP, BT-Drucks. 12/1630 S. 5, BTDrucks. 12/5927 S. 5; Gesetzentwurf für einen neuen §108e StGB der Fraktion BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN v.16.10.2007, BT-Drucks. 16/6726 S. 4; im Ergebnis ebenso Entwurfsbegründung für neue §§108e, 108f StGB der Fraktion DIE LINKE v.25.4.2008, BTDrucks. 16/8979 S. 3. 57 Vgl. dazu BGH wistra 2006, 299ff. (einschränkend); LG Köln StV 2003, 507ff. (mit extensiver Auslegung); Bernsmann (Fn. 4) StV 2003, 521, 525; Dahs / Müssig, Strafbarkeit kommunaler Mandatsträger als Amtsträger, NStZ 2006, 191ff. (194ff.). 54

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es den gewählten Personen nur umso schwieriger, sich richtig – also straffrei – zu verhalten. b) Unterschiedliche Arbeitsweisen von Abgeordneten und Amtsträgern Aus den unterschiedlichen Aufgaben ergibt sich auch unmittelbar, dass Abgeordnete anders arbeiten müssen als Amtsträger. Sie können nicht nur den offenen Dialog im jeweiligen Parlament oder Wahlkreis suchen, sondern müssen sich auch in mitunter intransparenten Zirkeln, Gruppen und Gesprächskreisen ihre Meinung bilden – etwas, das jedenfalls Amtsträger der „normalen“ (Leistungs-) Verwaltung gerade nicht tun dürfen. 58 Anderenfalls würden Abgeordnete kaum die notwendigen Informationen erhalten, um komplexere Sachverhalte beurteilen zu können. Insofern wäre es auch unangemessen, hinter jedem intransparenten Meinungsaustausch eine „Mauschelei“ zu vermuten – wobei natürlich eine solche im Einzelfall auch nicht ausgeschlossen werden kann. Aber wegen Einzelfällen gleich jede Möglichkeit solcher Informationserlangung bei Strafe zu verbieten, wäre in einer Demokratie auch nicht vernünftig. Vice versa gilt dies für den Bürger, dem nicht nur „erlaubt“ ist, bei Wahlen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments auszuüben, sondern der auch versuchen darf, Einfluss auf einzelne Abgeordnete zu nehmen, um seine Anliegen und Interessen zu verfolgen und wahrnehmbarer zu machen. Dass dies Angehörigen bestimmter Berufsgruppen oder Bevölkerungsschichten besser gelingt als anderen, bedeutet noch nicht, dass das Prinzip falsch ist – die Ungleichheit in der Durchsetzung von Meinungen ist ein allgemeines, auch in einer Demokratie nicht gänzlich überwindbares Problem. c) Notwendigkeit der Beeinflussbarkeit von Abgeordneten Zentraler Punkt im Hinblick auf die nicht (sinnvoll) mögliche Gleichsetzung von Abgeordneten und Amtsträgern ist denn auch die gewollte, mindestens aber zulässige Beeinflussbarkeit von Abgeordneten. 59 Die Beeinflussbarkeit reicht dabei bis zu einer Abhängigkeit von Partei, Fraktion oder Wählerschaft. Es ist für einen Abgeordneten notwendig und legitim, dass er bei seinen Entscheidungen deren Vorstellungen und Forderungen berücksichtigt – auch im Hinblick auf seine eigene Karriere im Parlament oder bei der Wiederwahl. 60

58 Dass für spezielle Bereiche der Verwaltung wie den Geheimdiensten und auch der Polizei zumindest teilweise anderes gilt, ist unbestritten. 59 Vgl. BVerfGE 5, 85, 232 ff.; Kerner / Rixen (Fn. 2) GA 1996, 355, 372f. m.w.N. 60 Ebenso Barton (Fn. 15) NJW 1994, 1098; Dölling, Gutachten 61. DJT (Fn. 37) S. C82; Epp (Fn. 12) S. 211; Schaller (Fn. 13) S. 95f.; Schulze (Fn. 55) JR 1973, 485, 486f.

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Politik lebt entscheidend von Kompromissen, die gegenseitiges Nachgeben und Vorteilsuchen beinhalten. Die Vorstellung, Abgeordnete wären entsprechend Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG Vertreter des ganzen Volkes in dem Sinne, dass sie stets das Interesse des gesamten (Wahl)Volkes gleichmäßig vertreten müssen, wäre nicht nur naiv, sondern von ihren Wählern wohl auch nicht gewünscht – sonst bedürfte es nicht verschiedener politischer Parteien. Der demokratische Prozess lebt gerade von dem Widerstreit verschiedener Interessen und Vorstellungen. Dies bedeutet natürlich nicht die Befürwortung einer schrankenlosen Klientelpolitik, die auch dem verfassungsrechtlichen Gehalt von Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG widerspräche. 61 Das Repräsentationsprinzip des Art. 38 Abs. 1 GG stellt den Abgeordneten vielmehr vor die Aufgabe, bei der Durchsetzung bestimmter politischer Vorstellungen das Gemeinwohl stets auch zu berücksichtigen. 62 Abgeordnete dürfen also sehr wohl bei ihrem Abstimmungsverhalten zukünftige Vorteile für sich oder Dritte (insbesondere andere Parteimitglieder) einkalkulieren – und später auch annehmen; etwas, das Amtsträgern nach den §§331f. StGB verboten ist. Es ist ihnen insbesondere auch erlaubt, Parteispenden anzunehmen, sofern die durch §25 PartG vorgegebenen Schranken und Verfahren eingehalten werden. Gleichwohl kann natürlich auch nicht verkannt werden, dass Abgeordnete vielfach starken und gezielten Beeinflussungsversuchen ausgesetzt sind, die von zahlreichen Lobbyisten aus der Wirtschaft, aber auch anderen gesellschaftlichen Gruppen unternommen werden, und mit denen versucht werden kann, die demokratischen „Spielregeln“ zu sehr zugunsten einer bestimmten Interessengruppe zu verändern. Dabei bleibt es nicht nur bei (zahlreichen) informellen Kontakten, die mit kleineren Vorteilen wie Essenseinladungen des Abgeordneten einhergehen, was kaum als problematisch angesehen werden kann. Eine weit stärkere Einflussnahme ist mit dem Abschluss sog. Beraterverträge verbunden, die Abgeordnete gegen Gewährung einer Vergütung zu einer Gegenleistung verpflichten. 63 In diesen Fällen läuft der Abgeordnete Gefahr, sich außerhalb des von Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gezogenen Rahmens zu bewegen, indem er sein Mandat nicht mehr frei im eigentlichen Sinn ausübt, geschweige denn das Gemeinwohl im Blick behält. Man könnte deshalb allein schon zum Schutz der Abgeordneten eine strafrechtliche Sanktionierung des Lobbyistentums in Erwägung ziehen. 64 Dennoch spricht dies nicht für eine Gleichstellung der Abgeordneten mit den Amtsträgern, weil dann auch die Fälle (systemimmanent) zulässiger Berücksichti61

Siehe etwa BVerfG NVwZ 2007, 916, 920; BVerfGE 102, 239f. Vgl. dazu Kerner / Rixen (Fn. 2) GA 1996, 355, 372f. m.w.N.; auch Richter (Fn. 12) S. 111ff. m.w.N. 63 Vgl. dazu Richter (Fn. 12) S. 19f. m.w.N. 64 So noch 1990 von Arnim, Abgeordnetenkorruption, JZ 1990, 1014, 1017; ebenso Schubert in: Wabnitz / Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 2. Aufl. 2004, S. 752. 62

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gung von Vorteilen allein wegen der unerwünschten Fälle strafrechtlich sanktioniert würden. Es kann daher nur um die Frage gehen, ob und wenn ja inwieweit §108e StGB eine Ausweitung erhalten sollte. 2. Ausweitung des §108e StGB Aus dem Vorstehenden folgt unmittelbar, dass eine den §§331ff. StGB entsprechende Ausdehnung des §108e StGB ebenfalls verfehlt wäre. 65 Dennoch nähern sich die vorliegenden Entwürfe zur Neufassung der Abgeordnetenbestechung 66 den §§331, 333 StGB stark an. Die zentrale Forderung der Kritiker lautet aber vor allem, die Beschränkung des Tatbestands auf Wahlen und Abstimmungen aufzugeben. a) Keine Beschränkung auf Wahlen und Abstimmungen Die Kritik an der Beschränkung des Tatbestands auf Wahlen und Abstimmungen wird damit begründet, dass in der heutigen Parlamentsarbeit die eigentliche Meinungsbildung nicht mehr in offener Diskussion im Plenum erfolge, sondern schon vorher in den Fraktionen oder Arbeitskreisen 67; dort fielen bereits auch die maßgeblichen Entscheidungen. Somit bleibe der entscheidende, besonders sensible Bereich strafrechtlich ungeschützt. 68 Abstimmungen in Ausschüssen sollen dagegen nach h.M. von §108e StGB erfasst werden, sofern es sich um rein parlamentarische Ausschüsse handelt; 69 eindeutig nicht erfasst werden dagegen z.B. der Vermittlungsausschuss (Art. 77 Abs. 2 GG) oder der Richterwahlausschuss (Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 95 Abs. 2 GG). 70 Im Hinblick auf den Wortlaut ist aber auch die Einbeziehung der parlamentarischen Ausschüsse zweifelhaft, 71 da eine Abstimmung im Europäischen 65

A.A. insbesondere von Arnim (Fn. 15) NVwZ 2006, 249, 252. Vgl. oben Fn. 24; dazu unten II.2.c). 67 A.A. bzgl. der Arbeit in Fraktionen und Arbeitskreisen aber Heisz (Fn. 15) S. 110, die sie bereits als tatbestandlich erfasst ansieht; dagegen z.B. Epp (Fn. 12) S. 396ff. m.w.N. 68 Vgl. etwa Barton (Fn. 15) NJW 1994, 1098, 1100; H.E. Müller in: MüKo-StGB (Fn. 29) §108e Rn. 7, 13; Schaller (Fn. 13) S. 31; Dölling, Gutachten 61. DJT (Fn. 37) S. C83; Schaupensteiner (Fn. 37) Kriminalistik 1994, 514, 523; von Arnim (Fn. 15) NVwZ 2006, 249, 252; Bauer / Gmel in: LK-StGB (Fn. 29) §108e Rn. 3; vgl. auch die Nw. oben Fn. 37. 69 Vgl. van Aaken (Fn. 18) ZaöRV 65 (2005), 407, 425; Epp (Fn. 12) S. 393ff. m.w.N.; Schaller (Fn. 13) S. 30; Heisz (Fn. 15) S. 12; Bauer / Gmel in: LK-StGB (Fn. 29) §108e Rn. 9; Eser in: Schönke / Schröder (Fn. 29) §108e Rn. 4. 70 Zu diesen Epp (Fn. 12) S. 413ff. 71 Zweifelnd auch Barton (Fn. 15) NJW 1994, 1098, 1100 (Fn. 28) m.w.N.; Becker (Fn. 12) S. 35. 66

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Parlament oder in einer Volksvertretung erforderlich ist – worunter üblicherweise etwas anderes als unter einer Abstimmung innerhalb eines Parlaments verstanden wird. 72 Die Einbeziehung wird denn auch vor allem damit gerechtfertigt, hier sei der Schutz vor Korruption „besonders dringlich geboten“. 73 Mit einem solchen teleologischen Argument könnte die Überschreitung des Wortlauts allerdings nicht gerechtfertigt werden. 74 Gefordert wird daher entweder, den Tatbestand um Abstimmungen in Fraktionen und (allen) Ausschüssen zu erweitern 75 oder gleich den Bezug zu einer konkreten Handlung des Abgeordneten aufzugeben. 76 Auf die zweite Forderung läuft auch der jüngste Gesetzgebungsvorschlag der Fraktion DIE LINKE hinaus; 77 dazu sogleich unter II.2.c. Unabhängig davon, ob man eine solche Erweiterung für erforderlich hält oder nicht, muss konstatiert werden, dass angesichts der Unterzeichnung der VN-Konvention gegen Korruption 78 durch Deutschland eine Erweiterung des Tatbestands auf Fraktionen und Ausschüsse nicht ausreichen wird – es sei denn, Deutschland wollte sich auf Dauer die Blöße geben, die Konvention nicht zu ratifizieren. Insofern wird eine Einbeziehung aller Handlungen im Zusammenhang mit der Wahrnehmung des Mandats erforderlich. 79 b) Die ungleiche Reichweite des §108e StGB und des Art. 2 §2 IntBestG Zutreffend ist ohne weiteres der Hinweis auf die Diskrepanz zwischen §108e StGB und Art. 2 §2 IntBestG, 80 auch wenn sich letzterer allein an den Vorteilsgeber und nicht an den einen Vorteil annehmenden ausländischen Parlamentarier 72

Vgl. dazu auch Epp (Fn. 12) S. 394 m.w.N., die die Bedenken jedoch zurückweist. van Aaken (Fn. 18) ZaöRV 65 (2005), 407, 425; Schaller (Fn. 13) S. 30; ebenso H.E. Müller in: MüKo-StGB (Fn. 29) §108e Rn. 14 m.w.N.; Bauer / Gmel in: LK-StGB (Fn. 29) §108e Rn. 9. 74 Vgl. dazu Schmitz in: MüKo-StGB Bd. 1, 2003, §1 Rn. 67 m.w.N. 75 So etwa Dölling, Gutachten 61. DJT (Fn. 37) S. C83; Epp (Fn. 12) S. 396ff., 411ff., 499 m.w.N.; Schaller (Fn. 13) S. 159f. – A.A. Ransiek, Strafrecht und Korruption, StV 1996, 446, 452. 76 Vgl. Becker (Fn. 12) S. 188ff. 77 Vgl. BT-Drucks. 16/8979 S. 4. – Nicht ganz eindeutig ist insofern der Beschluss des 61. DJT zu dieser Frage, da eine Erweiterung „auf den Kauf und Verkauf aller Handlungen eines Abgeordneten in Ausübung seines Mandats“ gefordert wurde; vgl. Verhandlungen des 61. DJT 1996, Bd. 2 (Beschlüsse), S. L193 Nr. 16 b). 78 Oben Fn. 17. 79 Vgl. dazu unten III. 80 Vgl. etwa Zieschang (Fn. 7) NJW 1999, 105, 107; van Aaken (Fn. 18) ZaöRV 65 (2005), 407, 428f.; Möhrenschlager (Fn. 12) FS für Weber (2004), S. 217, 228; Korte (Fn. 7) wistra 1999, 81, 87; Bauer / Gmel in: LK-StGB (Fn. 29) §108e Rn. 4. 73

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richtet. Art. 2 §2 IntBestG kennt weder die Beschränkung auf Abstimmungen und Wahlen noch die Voraussetzung einer konkreten Unrechtsvereinbarung. 81 Dass die Vorteilsgewährung gegenüber einem ausländischen Abgeordneten in weit stärkerem Maß mit Strafe bedroht wird als gegenüber einem deutschen, kann nur dem oben genannten Verdacht Vorschub leisten, die Bundestagsabgeordneten würden versuchen, strafrechtlichen Einfluss auf sich selbst abzuschirmen. Die Diskrepanz wird auf Dauer nicht durchzuhalten sein, sondern sollte so bald wie möglich beseitigt werden. Dabei sollte vor allem im Blick behalten werden, dass Art. 2 §2 IntBestG eine Unrechtsvereinbarung dergestalt voraussetzt, dass eine (konkrete) Gegenleistung vereinbart sein muss. Auf diese Weise wird auch das strafwürdige Unrecht konkretisiert, das in der Manipulierbarkeit des Abgeordneten gesehen werden kann. Die notwendige Angleichung bedeutet aber nicht, dass bei der Erfassung ausländischer Abgeordneter in Zukunft auf das Erfordernis des Zusammenhangs mit dem geschäftlichen Verkehr verzichtet werden sollte, wie es der derzeitige Entwurf für eine Neufassung der §§331ff. StGB vorsieht. 82 Denn man mag den Wettbewerb im internationalen Wirtschaftsverkehr als ausreichendes Schutzgut des Strafrechts ansehen, wie es der Idee des IntBestG und des ihm vorausgegangenen OECDAbkommens entspricht. 83 Warum aber das deutsche Strafrecht „das öffentliche Interesse an der Integrität parlamentarischer Prozesse“ bzw. das Vertrauen in diese Integrität bezüglich jedes ausländischen Staates schützen sollte, ist nicht erkennbar – insbesondere deshalb nicht, weil in zahlreichen ausländischen Staaten ganz offenkundig eine solche Integrität nicht gegeben ist, von einem Vertrauen in diese ganz zu schweigen. c) Vorliegende Gesetzentwürfe zur Erweiterung des §108e StGB In Folge der seit Jahren andauernden Diskussion um die Ausweitung der Inkriminierung der Vorteilsannahme durch Abgeordnete haben die Oppositionsfraktionen BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und DIE LINKE je einen Entwurf zur Erweiterung und Umgestaltung des Tatbestands der Abgeordnetenbestechung vorgelegt. Beide Entwürfe wollen die (anstehenden) Verpflichtungen aus den internationalen Abkommen (Konvention des Europarats, VN-Konvention) 84 umsetzen, unterscheiden sich aber im Ansatz und in der Reichweite.

81 Eine ganz andere Einschränkung der Reichweite folgt (noch) aus dem Erfordernis des Vorteils im internationalen geschäftlichen Verkehr. 82 Vgl. oben Fn. 9. 83 Vgl. oben die Nachweise in Fn. 7. 84 Vgl. oben Fn. 17 und 21.

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(1) Der Entwurf der Fraktion BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN stellt darauf ab, dass Kern der Straftat die Annahme etc. eines Vorteils für die Vornahme oder Unterlassung einer (konkreten) Handlung in Ausübung des Mandats bleibt. 85 Er geht insofern also über den bisherigen §108e StGB (weit) hinaus, als die Beschränkung auf Wahlen und Abstimmungen aufgegeben wird und alle Handlungen, die Ausdruck der Ausübung des Mandats sind, tauglicher Gegenstand der Unrechtsvereinbarung sein können. Gleichzeitig werden in Absatz 4 des Tatbestands die Bewerber um ein Mandat den Abgeordneten gleichgestellt. 86 Er hält aber zu Recht an dem Erfordernis einer eindeutigen, auf eine bestimmte Handlung oder Unterlassung bezogenen Unrechtsvereinbarung fest. Er trägt damit den oben genannten Umständen Rechnung, insbesondere der Möglichkeit der Annahme von Parteispenden, deren Erfassung auch nach der VN-Konvention nicht gefordert wird. 87 Der Entwurf schafft es dennoch nicht, den Tatbestand ausreichend einzugrenzen. Vorausgesetzt wird nämlich nur ein „rechtswidriger Vorteil“; was darunter zu verstehen sein soll, wird in Absatz 3 des Entwurfs beschrieben: „Ein rechtswidriger Vorteil liegt vor, wenn seine Verknüpfung mit der Gegenleistung als verwerflich anzusehen ist“. Schon der Ansatz einer „Anlehnung an die Systematik und Rechtsprechung zur Nötigung (§240 StGB)“ 88 ist verfehlt, da die Verwerflichkeitsklausel des §240 Abs. 2 StGB weitgehend beliebige Urteile zulässt und damit die Reichweite der Strafbarkeit nicht Ausdruck der Norm ist, sondern in der Hand des Gerichts liegt. 89 85 Vgl. BT-Drucks. 16/6726 S. 3; §108e Abs. 1 StGB soll danach folgende Fassung erhalten: (1) Wer als Mitglied 1. einer Volksvertretung ... 2. eines Gesetzgebungsorgans eines ausländischen Staates ... einen rechtswidrigen Vorteil für sich oder einen Dritten als Gegenleistung dafür fordert, sich versprechen lässt oder annimmt, dass er in Ausübung seines Mandates in der Volksvertretung oder im Gesetzgebungsorgan eine Handlung zur Vertretung oder Durchsetzung der Interessen des Leistenden oder eines Dritten vornehme oder unterlasse, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 86 Damit würde die Lösung des BGH im Fall Kremendahl, BGHSt 49, 275, 288ff., abgeschnitten, nach der die Annahme von Parteispenden durch Amtsträger im Zusammenhang mit einem Wahlkampf aus Gleichheitsgründen von §331 StGB ausgenommen werde müsse; kritisch zur Lösung des BGH Kargl, Parteispendenakquisition und Vorteilsannahme, JZ 2005, 503, 505ff. 87 So ausdrücklich die Entwurfsbegründung, BT-Drucks. 16/6726 S. 5. 88 Entwurfsbegründung a.a.O. 89 Vgl. die Kritik an §240 Abs. 2 StGB bei Calliess, Der strafrechtliche Nötigungstatbestand und das verfassungsrechtliche Gebot der Tatbestandsbestimmtheit, NJW 1985, 1506, 1507; Arthur Kaufmann, Der BGH und die Sitzblockade, NJW 1988, 2581, 2582. Zu Recht

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Dabei nennt §240 Abs. 2 StGB wenigstens noch einen Ansatz für das Verwerflichkeitsurteil, während der Gesetzentwurf zu §108e StGB hier völlig offen bleibt. Damit bleibt der Tatbestand aber zu unbestimmt, als dass er praktikabel wäre (von einer Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG ganz abgesehen). (2) Demgegenüber stellt der Entwurf der Fraktion DIE LINKE darauf ab, dass eine Handlung oder Unterlassung des Abgeordneten „seiner aus dem Mandat folgenden rechtlichen Stellung widerspricht“. Gleichzeitig verzichtet er auf das Erfordernis einer konkreten Unrechtsvereinbarung, sondern erfasst alle Handlungen, die im Zusammenhang mit der Ausübung des Mandats stehen; der bisherige §108e Abs. 1 StGB soll dazu einen Qualifikationstatbestand mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten Freiheitsstrafe abgeben. 90 Als Vorteil soll auch ein immaterieller ausreichen 91 – anders als nach bisherigem Recht. 92 Der Entwurf will erklärtermaßen eine umfassende Inkriminierung aller Handlungen, die nicht unmittelbar und ausschließlich am Interesse der Allgemeinheit orientiert sind; 93 wie damit dann die Berücksichtigung der eigenen Wählerschaft, die zulässig sein soll, 94 in jedem Fall vereinbar wäre, bleibt allerdings offen. Offen bleibt angesichts der Weite des projektierten Tatbestands auch, wie noch eine nennenswerte Spendenpraxis zugunsten der Parteien möglich sein soll – die ja im Grundsatz gewünscht ist. 95 Die Parteispende, die ausschließlich aus Idealismus in Bezug auf die (viel gescholtene) „Parteiendemokratie“ gezahlt wird (am besten an alle Parteien gleichermaßen), wird – wenn nicht Utopie – Ausnahme bleiben, was allen Beteiligten bekannt ist. Die Annahme von Parteispenden kann aber auch nicht ohne Weiteres als mit der „aus dem Mandat folgenden rechtlichen Stellung“ vereinbar angesehen werden. Der BGH hat im Zusammenhang mit der deshalb deutliche Kritik von Michalke (Fn. 16), FS für Hamm (2008), S. 459, 470, an dem Gesetzentwurf. 90 Vgl. BT-Drucks. 16/8979 S. 4; §108e Abs. 1 StGB soll danach folgende Fassung erhalten: (1) Ein Mitglied 1. einer Volksvertretung ... 2. eines Gesetzgebungsorgans eines ausländischen Staates ... das für eine Handlung oder Unterlassung, die im Zusammenhang mit der Ausübung seines Mandats steht, einen Vorteil für sich oder einen Dritten fordert, sich versprechen lässt oder annimmt, wird, wenn dies seiner aus dem Mandat folgenden rechtlichen Stellung widerspricht, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 91 Vgl. Entwurfsbegründung a.a.O. S. 2. 92 Vgl. dazu Schaller (Fn. 13) S. 73 m.w.N.; Heisz (Fn. 15) S. 15. 93 Vgl. Entwurfsbegründung a.a.O. S. 5. 94 A.a.O. S. 6. 95 Vgl. dazu BVerfGE 85, 264, 287ff.; BVerfGE 52, 63, 89; BVerfGE 20, 56, 102; BVerfGE 8, 51, 68; Saliger / Sinner, Korruption und Betrug durch Parteispenden, NJW 2005, 1073, 1074.

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Annahme von Parteispenden durch kommunale Wahlbeamte klar gemacht, dass seine Rechtsprechung zur legalen Einwerbung von Drittmitteln durch Universitätsangehörige 96 nicht übertragbar ist: Kommunale Wahlbeamte seien zum einen nicht gesetzlich aufgefordert, Spenden einzuwerben, dies werde vielmehr von den Parteien erwartet; zum anderen könnten die Regeln des Parteiengesetzes nicht die Transparenz erzeugen, die bei ordnungsgemäßer Einwerbung und Verwaltung von Drittmitteln in der Forschung entstehe. 97 Diese Argumentation lässt sich m.E. auch auf Abgeordnete übertragen. Auch unabhängig von der Frage nach noch zulässigen Parteispenden nähert sich der Entwurfstatbestand (gewollt) 98 weitgehend der Strafbarkeit von Amtsträgern an, weshalb die oben genannten Gesichtspunkte gegen eine derart umfassende Kriminalisierung sprechen. III. International bedingte Ausweitung der Strafbarkeit Eine Ratifizierung der VN-Konvention gegen Korruption würde zwingend eine Ausweitung der Strafbarkeit nach §108e StGB nach sich ziehen; Art. 15 99 i.V.m. Art. 2 (a) 100 VN-Konvention fordern unzweifelhaft eine weitergehende Kriminalisierung. 101 Dies sollte aus den vorstehend genannten Gründen aber gerade kein Anlass einer umfassenden Inkriminierung jeder Form von Vorteilsannahme durch

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BGHSt 47, 295. Vgl. BGHSt 49, 275, 284ff. (Fall Kremendahl). – Anders noch das LG Wuppertal in der Vorinstanz (NJW 2003, 1405ff.). 98 Vgl. Entwurfsbegründung a.a.O. S. 6. 99 Art. 15 der „United Nations Convention against Corruption“ (oben Fn. 17) lautet: „Bribery of national public officials Each State Party shall adopt such legislative and other measures as may be necessary to establish as crime offences, when committed intentionally: (a) The promise, offering or giving, to a public official, directly or indirectly, of an undue advantage, for the official himself or herself or another person or entity, in order that the official act or refrain from acting in the exercise of his or her official duties; (b) The solicitation or acceptance by a public official, directly or indirectly, of an undue advantage, for the official himself or herself or another person or entity, in order that the official act or refrain from acting in the exercise of his or her official duties.“ 100 Art. 2 – „Use of terms For the purpose of this Convention: (a) „Public official“ shall mean: (i) any person holding a legislative, executive, administrative or judicial office of a State Party, whether appointed or elected, whether permanent or temporary, whether paid or unpaid, irrespective of that person’s seniority; ...“. 101 Das Verdikt von Barton (Fn. 15) NJW 1994, 1098, 1100, eine Ausweitung müsse mangels ausreichender Konkretisierungsmöglichkeiten unterbleiben, wäre mit der Ratifizierung obsolet. 97

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Abgeordnete sein. 102 Vielmehr sollte überlegt werden, inwiefern es ihrer überhaupt bedarf und welche Alternativen zur Verfügung stehen. 1. Parlamentarische Verhaltensregeln und die „Vierte Gewalt“ Jedenfalls Abgeordnete des Bundestages und der Landesparlamente stehen in der „Mediendemokratie“ unter ständiger Beobachtung der Presse. Dies hat zur Folge, dass – tatsächlich oder auch nur vermeintlich – anrüchiges Verhalten in den Medien angeprangert wird, sobald es auffällt. Dies gilt umso mehr, seit die parlamentarischen Verhaltensregeln den Abgeordneten mehr Transparenz im Hinblick auf Nebeneinnahmen und Abhängigkeiten gegenüber Dritten verordnet haben. 103 Auch der Umstand, dass die Verhaltensregeln noch in mancherlei Hinsicht verbesserungsfähig sind, ist für viele Journalisten Anlass, bei den Abgeordneten genauer hinzusehen und eventuelle Verfehlungen aufzudecken. Eine Aufdeckung von Verfehlungen – zu denen in den Medien wie selbstverständlich stets auch die Annahme von Vorteilen durch Abgeordnete gehört – kann für den betroffenen Abgeordneten schnell zu einem Knick in der Karriere, wenn nicht sogar zu ihrem Ende führen. 104 Hiervon dürfte eine erheblich höhere Abschreckungswirkung ausgehen als von einer Strafdrohung – erst recht, wenn man mit einbezieht, dass die Aufdeckung einer Straftat sicherlich nicht leichter erfolgt als die Feststellung einer Verletzung der Verhaltenspflichten. Realistisch betrachtet würde eine Straftat – wenn überhaupt – ebenfalls nur in Folge der „Überwachung“ durch die Presse bekannt werden. Die Angst, wegen einer Straftat sanktioniert zu werden, kann daher nicht größer sein als die Angst, wegen einer von der Bevölkerung als anstößig angesehenen Verhaltensverfehlung sanktioniert zu werden. Bezieht man die Kommunalparlamente mit ein, ergibt sich natürlich ein anderes Bild, da sie in den wenigsten Fällen eine ebenso intensive Aufmerksamkeit der Presse auf sich ziehen. Auch dürfte die Vorstellung der Kommunalparlamentarier über eine (un)bedenkliche Annahme von Vorteilen häufig weniger ausgeprägt sein als bei den professionellen Abgeordneten auf Ebene des Bundes und der Länder. Insofern kann es sein, dass hier das Wissen um einen auf Abgeordnete zielenden Straftatbestand wenn nicht eine Abschreckungswirkung, so doch einen Anlass zu stärkerer Selbstkontrolle bieten kann. Doch sind dies mehr Spekulationen als eine valide Basis kriminalpolitischer Überlegungen. Effektiver wären vermutlich auch 102 Insofern erscheint mir auch der Vorschlag von Möhrenschlager (Fn. 12) FS für Weber (2004), S. 217, 232, zu weitgehend, da er fast an den Entwurf der Fraktion DIE LINKE heranreicht. 103 Vgl. §§1, 2, 3, 4, 6 der Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages (i.V.m. §18 GO des Bundestages und §44b AbgeordnetenG). 104 Vgl. dazu Kerner / Rixen (Fn. 2) GA 1996, 355, 373.

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hier konkrete Verhaltensmaßstäbe, an denen sich die Parlamentarier orientieren können. Eine sinnvolle Verhaltenssteuerung setzt aber voraus, dass die Verhaltensregeln für Abgeordnete präziser gefasst werden. Nur allgemeine Richtlinien können gerade im Hinblick auf die vielfältigen Möglichkeiten der Aufgabenwahrnehmung nicht ausreichen. Erst recht gilt dies für die Frage, unter welchen Umständen die Annahme von Vorteilen zulässig oder eben unzulässig ist. Hieran müssten auch die Abgeordneten selbst ein Interesse haben, weil eine stärkere Konkretisierung mit einer größeren Unanfechtbarkeit des eigenen Verhaltens verbunden wäre. Mithilfe konkreter Verhaltensrichtlinien ließen sich auch am besten die unerwünschten Auswüchse eines ausufernden Lobbyistentums zurückstutzen. 105 2. Anknüpfung des Straftatbestandes an Verstöße gegen die Verhaltensregeln Hinreichend konkrete Verhaltensregeln böten dann auch eine sinnvolle Möglichkeit für eine Erweiterung des §108e StGB in Form eines Blanketttatbestandes. 106 Dieser hätte eine größere Bestimmtheit für sich als jeder Versuch der Umschreibung des verbotenen Verhaltens durch normative Tatbestandsmerkmale und wäre für die Betroffenen unmittelbar verständlich. 107 Der Gesetzgeber könnte zudem sehr präzise die Verhaltensregeln einbeziehen, deren Übertretung er für strafwürdig hält und die den Anforderungen von Art. 15 der VN-Konvention gegen Korruption entsprechen. Da die Einschätzung des Gesetzgebers, gerade der „Kauf oder Verkauf“ einer Stimme bei Wahlen und Abstimmungen mache das Unrecht der Abgeordnetenbestechung besonders deutlich, zutreffend erscheint, sollte der bisherige Tatbestand als plakative Hervorhebung erhalten bleiben und zusätzlich um einen Blanketttatbestand im vorstehenden Sinne ergänzt werden. 108 IV. Fazit Abgeordnete bewegen sich selbstverständlich nicht in einem strafrechtsfreien Raum. Verhaltensweisen, die in eindeutiger Weise die Integrität parlamentarischer Prozesse angreifen, können im Hinblick auf das hohe Schutzgut „Legitimität der parlamentarischen Demokratie“ durchaus als strafwürdig eingestuft werden. So105

Vgl. Richter (Fn. 12) S. 196ff. Ebenso (als weitere Möglichkeit) Möhrenschlager (Fn. 12) FS für Weber (2004), S. 217, 233. Ablehnend Michalke (Fn. 16), FS für Hamm (2008), S. 459, 471. 107 Zuzugeben ist allerdings, dass dies für den Vorteilsgeber, der nicht unmittelbar mit den Verhaltensregeln konfrontiert ist, nicht unbedingt genauso ist. 108 A.A. Barton (Fn. 15) NJW 1994, 1098, 1100f. 106

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weit es um die Vorteilsannahme durch Abgeordnete geht, sollte man sich allerdings von der Wirkung des Strafrechts nicht allzu viel versprechen. Wo vielfältige Interessen gegeneinander streiten und die Beeinflussung der Handelnden durch Außenstehende zum „Geschäft“ gehört, werden nur sehr klare und eindeutige Verhaltensregeln eine (gegenläufige) Wirkung entfalten. 109 Eine Strafdrohung, die außerhalb solcher Verhaltensmaßstäbe ansetzt, wird kaum etwas ausrichten. Sie wird es allerdings auch dann nicht in großem Umfang tun, wenn sie auf den Verhaltensregeln aufsetzt, weil die meisten Abgeordneten ohnehin bereit sein werden, die (selbst aufgestellten) Maßstäbe zu akzeptieren, ohne dass sie dazu mit den Mitteln des Strafrechts angehalten werden müssen. Und diejenige Minderheit, die dazu möglicherweise nicht bereit ist, wird sich auch von einer Strafdrohung kaum dazu anhalten lassen. Angesichts der überwiegend nicht offen stattfindenden Beeinflussung ist das Entdeckungsrisiko regelmäßig als niedrig einzuschätzen. Eine Entdeckung wird, wenn überhaupt, ohnehin nur durch die „Vierte Gewalt“ Presse erfolgen – mit den damit verbundenen sozialen Sanktionen. Die Umsetzung der VN-Konvention gegen Korruption wird daher, sofern sie maßvoll erfolgt, in der Praxis voraussichtlich keine großen Folgen haben. Sollte sie allerdings in einer Form wie der vorgelegten Gesetzesentwürfe durchgeführt werden, könnten neben den genannten Bedenken derart unbestimmte Tatbestände auch dazu genutzt werden, „unliebsame“ Abgeordnete zu beschädigen. Daran kann niemand ein Interesse haben.

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Vgl. Dölling, Gutachten 61. DJT (Fn. 37) S. C84.

Schutz des „öffentlichen Friedens im Ausland“? Kurt Schmoller Zwischen polnischen und österreichischen Strafrechtswissenschaftler(inne)n besteht seit langem eine enge Verbundenheit und vielfache persönliche Freundschaft. Als junger Assistent von Otto Triffterer durfte ich erstmals im Herbst 1981 (kurz vor Ausrufung des „Kriegsrechts“ durch General Jaruzelski) an einem Strafrechtsseminar in Warschau mit österreichischen und polnischen Student(inn)en teilnehmen. Während meines HumboldtStipendiums am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in den 80-er Jahren konnte ich dann mit zahlreichen weiteren polnischen Kolleg(inn)en bis heute währende Freundschaften schließen. Schon früh durfte ich dabei auch Andrzej Szwarc kennen lernen, dessen große Bekanntheit, Versiertheit und Internationalität mich von Anfang an faszinierten und dessen Freundschaft mich in besonderer Weise ehrt. In all den Jahren haben wir uns bei Vorträgen, Konferenzen, Seminaren und gemeinsamen Projekten viele Male getroffen, zuletzt bei einem Treffen der Dekane europäischer Rechtsfakultäten. Ebenso freue ich mich darüber, dass meine langjährige Assistentin und Mitarbeiterin Gudrun Hochmayr heute in Frankfurt / Oder gemeinsam mit Andrzej Szwarc polnische Student(inn)en unterrichtet. Ich wünsche dem Freund und Jubilar noch viele erfüllte und schöne Jahre und würde mich in besonderer Weise freuen, falls der nachfolgende Beitrag, der sich in einem Teilbereich gegen die Überbetonung von Staatsgrenzen richtet, auf das Interesse dieses vorbildlich völkerverbindenden Strafrechtswissenschaftlers stößt.

I. Endet der Schutz des „öffentlichen Friedens“ an der Staatsgrenze? 1. Fragestellung Im österreichischen StGB 1974 wurde eine Gruppe praktisch relevanter Straftatbestände als „Strafbare Handlungen gegen den öffentlichen Frieden“ zusammengefasst (§§274 –287 öStGB). Als Vorbild diente dabei die Systematisierung im StGB der Schweiz (Art. 258 –263 schwStGB). Ähnliche Deliktsgruppen finden sich – mit Abweichungen im Einzelnen – auch in anderen Strafgesetzbüchern. Beispielsweise enthält das deutsche StGB „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“ (§§123 –145d dStGB), deren Rechtsgut aber auch verschiedentlich als „öffentlicher Frieden“ bezeichnet wird 1, weil dieser Begriff in einigen der Straftatbestände ausdrücklich enthalten ist (§§126, 130, 140 sowie außerhalb des Abschnitts §166 dStGB) 2. Ebenso enthält auch das polnische StGB, wenngleich wiederum in etwas

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anderer Zusammensetzung, einen Abschnitt über „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“ 3 (Art. 252 –264 polnStGB). Die genannten Deliktsgruppen sind zumeist Sammelbecken für im Einzelnen recht unterschiedliche Straftatbestände, wie die Teilnahme an der gewalttätigen Zusammenrottung einer Menschenmenge 4, die Versetzung eines großen Personenkreises durch Drohung oder Täuschung in Furcht und Schrecken 5, die Verabredung oder sonstige Vorbereitung schwerer Straftaten 6, die Bildung von bzw. Teilnahme an kriminellen Vereinigungen, kriminellen Organisationen oder terroristischen Vereinigungen 7, unerlaubte Bewaffnungen 8, das Auffordern zu oder Gutheißen von Straftaten 9, das Hetzen gegen bestimmte Personengruppen 10, die Unterlassung der Verhinderung einer Straftat 11 und die Begehung einer Straftat im Vollrausch 12. Bei grundsätzlich allen diesen Straftatbeständen wirft die Zuordnung zum Schutz des „öffentlichen Friedens“ (bzw. der „öffentlichen Ordnung“) die Frage auf, ob damit Störungen des öffentlichen Friedens (bzw. der öffentlichen Ordnung), wo immer diese stattfinden, erfasst werden oder ob letztlich nur der „innere Frieden“ (bzw. die „innere Ordnung“) im eigenen Staat, also im Geltungsbereich der eigenen Rechtsordnung, gemeint ist. Deckt also das österreichische Strafrecht auch den Schutz des öffentlichen Friedens (bzw. der öffentlichen Ordnung) z.B. in Polen oder in der Schweiz, in den USA, in Russland oder in China ab? Oder sollen die österreichischen Straftatbestände nur den öffentlichen Frieden (bzw. die öffentliche Ordnung) im österreichischen Hoheitsbereich, also innerhalb 1 Z.B. Arzt / Weber, Strafrecht Besonderer Teil (2000) §44 Rz. 1; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil II 9 (2005) §60 Überschrift und Rz. 7ff.; Ostendorf , Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch Bd. 1 2 (2005) Vor §§123ff. Rz. 2. 2 Umgekehrt enthalten einige der Straftatbestände „gegen den öffentlichen Frieden“ in Österreich als Tatbestandsmerkmal die Eignung, die „öffentliche Ordnung“ zu gefährden (§§276, 283 öStGB). 3 Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch. Kodeks karny (1998). 4 „Landfriedensbuch“ gem. §274 öStGB, §125dStGB, Art. 260 schwStGB, Art. 254 polnStGB. 5 „Landzwang“ gem. §275 öStGB und „Verbreitung falscher, beunruhigender Gerüchte“ gem. §276 öStGB, „Schreckung der Bevölkerung“ gem. Art. 258 schwStGB, „Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten“ gem. §126dStGB. 6 „Komplott“ gem. §277 öStGB, „Strafbare Vorbereitungshandlungen“ gem. Art. 260 bis schwStGB. In Deutschland wird dieser Strafbarkeitsbereich allerdings über den Allgemeinen Teil des StGB (§30 Abs. 2dStGB) abgedeckt. 7 §§278 –278b öStGB, §§129 –129b dStGB, Art. 260 ter schwStGB, Art. 258 polnStGB. 8 §§279, 280 öStGB, §127dStGB, Art. 260 quater schwStGB, Art. 263 polnStGB. 9 §§282 öStGB, §§130a, 140 dStGB, Art. 259 schwStGB, Art. 255 polnStGB. 10 §283 öStGB, §130dStGB, Art. 261 bis schwStGB, Art. 257 polnStGB. 11 §286 öStGB, §138dStGB; außerhalb des Abschnitts auch Art. 240 polnStGB. 12 §287 öStGB, Art. 263 schwStGB, außerhalb des Abschnitts auch §323a dStGB, in Polen inhaltlich anders geregelt innerhalb des Allgemeinen Teils in Art. 31 §3 polnStGB.

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der österreichischen Staatsgrenzen sicherstellen? So stellt sich etwa die Frage, ob nach §§274ff. öStGB allenfalls auch ein Täter bestraft werden kann, der an einer gewalttätigen Zusammenrottung von Menschen in Warschau teilnimmt (§274 öStGB?), der in einer schweizerischen Zeitung zur Begehung von Straftaten in der Schweiz aufruft (§282 öStGB?), der durch Androhung eines Anschlags in Moskau die dortige Bevölkerung in Furcht versetzt (§275 öStGB?) oder der eine Vereinigung fördert, die die Begehung von Straftaten in den USA plant (§§278f. öStGB?). Von vornherein ist dabei klarzustellen, dass es bei diesen Fragen nicht um das Strafrechtsanwendungsrecht 13 geht, sondern um die Reichweite des materiellrechtlichen Straftatbestands. Die Grenzen des Strafrechtsanwendungsrechts setzen stets voraus, dass der betreffende Straftatbestand materiellrechtlich verwirklicht wurde. Ist ein Verhalten dagegen tatbestandlich gar nicht erfasst, gehen die Regeln des Strafrechtsanwendungsrechts insoweit ins Leere. Dies lässt sich durch ein Beispiel aus einem anderen Zusammenhang verdeutlichen: Der Straftatbestand der Bestechung gem. §307 Abs. 2 öStGB ist ausdrücklich auf die Vorteilsgewährung an österreichische Amtsträger, Amtsträger in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union und Gemeinschaftsbeamte beschränkt. Da die Bestechung z.B. eines russischen Amtsträgers deshalb den Tatbestand des §307 Abs. 2 StGB von vornherein nicht erfüllt 14, kommt es insoweit auf die Regeln des Strafrechtsanwendungsrechts nicht mehr an. Die aufgeworfene Problematik, ob die Straftatbestände gegen den „öffentlichen Frieden“ auch Friedensstörungen im Ausland erfassen, zeigt sich deshalb am deutlichsten in Fällen, in denen nach dem Strafrechtsanwendungsrecht eine eindeutige Anknüpfung für die österreichische Gerichtsbarkeit gegeben wäre, sodass im Fall einer materiellrechtlichen Tatbestandsmäßigkeit an der Zuständigkeit der österreichischen Gerichte kein Zweifel bestünde. Dies ist etwa der Fall, wenn die Tathandlung im Inland gesetzt wurde (§62 öStGB) oder wenn der Täter, z.B. als eigener Staatsbürger, an den Tatortstaat nicht ausgeliefert wird (§65 Abs. 1 öStGB). Soll also z.B. nach §275 öStGB strafbar sein, wer von Österreich aus durch die Androhung von Anschlägen die Moskauer Bevölkerung in Furcht und Schrecken versetzt hat, oder nach §274 öStGB, wer als Österreicher an der gewalttätigen Zusammenrottung einer Menschenmenge in Ägypten teilgenommen hat?

13 Dieses ist geregelt in §§62ff. öStGB, §§3ff. dStGB, Art. 3ff. schwStGB, Art. 109ff. polnStGB. 14 Anderes würde für eine Bestechung nach §307 Abs. 1 öStGB gelten, weil dort die Bestechung jedes Amtsträgers, also generell auch eines anderen Staates oder einer internationalen Organisation, miteinbezogen ist (§74 Abs. 1 Z 4a öStGB).

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2. Restriktive Äußerungen in Österreich und in der Schweiz In Österreich hat H. Steininger im Jahr 1988 anlässlich seiner Kommentierung der §§274ff. öStGB festgestellt, dass „die Frage, ob die Strafbestimmungen des vorliegenden Abschnitts nur den öffentlichen Frieden im Inland zu schützen bestimmt sind oder gleichermaßen auch den Schutz des Gemeinschaftsfriedens im Ausland bezwecken, ... bisher weder von der Rechtsprechung noch im Schrifttum näher erörtert wurden“ 15. Er selbst geht davon aus, dass es, „abgesehen von allfälligen zwischenstaatlichen Vereinbarungen, nicht Aufgabe des österreichischen Strafrechts ist, den inneren Frieden eines fremden Staates strafrechtlich zu schützen“, weil es dabei um „letztlich fremde staatliche Interessen“ gehe. Deshalb erstrecke sich der „tatbestandsimmanente Schutzbereich“ der §§274ff. öStGB „nur auf den Gemeinschaftsfrieden in Österreich“; das geschützte Rechtsgut sei „kein universelles, sondern ein ausschließlich inländisches“ 16. Allerdings macht H. Steininger eine Ausnahme für drei Straftatbestände, die er den „Friedensdelikten iwS“ zuordnet und denen er einen „übernationalen Schutzzweck“ zuerkennt: §277 öStGB („Komplott“ = Verabredung zu einer schweren Straftat), §286 öStGB (Unterlassung der Verhinderung einer Straftat) und §287 öStGB (Begehung einer Straftat im Vollrausch) 17. Dieser Ansicht, die H. Steininger auch bei späteren Gelegenheiten aufrecht gehalten hat 18, sind in Österreich bisher alle einschlägigen Stellungnahmen gefolgt; die grundsätzliche Beschränkung auf den inländischen öffentlichen Frieden ist in Österreich somit heute hM 19. 15

H. Steininger, Wiener Kommentar zum StGB 1 (1988) Vorbem. zu den §§274ff. Rz. 7. H. Steininger (oben Fn. 15) Rz. 8. 17 H. Steininger (oben Fn. 15) Rz. 8. 18 Leukauf / Steininger, Kommentar zum StGB 3 (1992) Vorbem. §§274ff. Rz. 3 (in der 1. und 2. Aufl. war diesbezüglich noch keine Stellungnahme enthalten); H. Steininger, Wiener Kommentar zum StGB 2 (2000) Vorbem. zu §§274ff. Rz. 8. 19 Plöchl, Wiener Kommentar zum StGB 2 (Austauschheft 2006) Vorbem. zu §§274ff. Rz. 8 (die Kommentierung von H. Steininger wird wortgleich fortgeführt); Hinterhofer, Strafrecht Besonderer Teil II 4 (2005) Vorbem. §§274ff. Rz. 1 („der Schutzbereich der §§274ff. erstreckt sich nur auf die Sicherung des Gemeinschaftsfriedens in Österreich“; die von H. Steininger gemachten Ausnahmen erwähnt Hinterhofer nicht). Für einzelne Delikte ebenso: Oshidari / Althuber, Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch §274 Rz. 4 (2005) („Da es nicht Aufgabe des österr. Strafrechtes ist, den inneren Frieden fremder Staaten zu schützen, erstreckt sich der Schutzbereich des §274 nur auf die Sicherung des österreichischen Gemeinschaftsfriedens.“); Rosbaud, Salzburger Kommentar zum StGB, §279 Rz. 10 (2002) („§279 schützt, wie alle Friedensdelikte, nur den öffentlichen innerstaatlichen Frieden. Friedensstörungen, die ausschließlich das Ausland betreffen, werden von §279 nicht erfasst ....“); ders., a.a.O. §280 Rz. 11 („Im Rahmen der strafbaren Handlungen gegen den öffentlichen Frieden ist nur der innerstaatliche Friede geschützt.“); Mayerhofer, Das österreichische Strafrecht, Erster Teil Strafgesetzbuch 5 (2000) §283 Anm. 3 („Bei der Verhetzung gegen eine ausländische Gruppe kommt dem Tatbildmerkmal der Eignung, die (inländische) öffentliche Ordnung zu gefährden, entscheidende Bedeutung zu.“); ders., a.a.O. §280 Anm. 9 („Das geschützte Rechtsgut ist ein inländisches. Dass in Serbien 16

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In der Schweiz lassen sich nur wenige Stellungnahmen zur angesprochenen Problematik finden, diese gehen jedoch in dieselbe restriktive Richtung wie in Österreich. So wird zu einzelnen Straftatbeständen die Auffassung vertreten, dass „das schweizerische Strafrecht nicht den ‚öffentlichen Frieden‘ im Ausland regeln kann“; der schweizerische Strafgesetzgeber sei „zum Schutze von ausschließlich im Ausland angesiedelten Rechtsgütern nicht generell berufen“ 20. 3. Meinungsstand in Deutschland In Deutschland stößt man zur angesprochenen Frage auf ein differenzierteres Meinungsbild, wobei in den letzten Jahren eine zunehmende Tendenz festgestellt werden kann, in die Delikte zum Schutz der „öffentlichen Ordnung“ auch Sachverhalte einzubeziehen, bei denen eine Störung des öffentlichen Friedens nur im Ausland eingetreten ist. Noch 1999 hat Obermüller eine ausführliche Untersuchung vorgelegt, in der er zum Ergebnis gelangt, dass nur Individualrechtsgüter „ohne Einschränkung oder Differenzierung nach der Nationalität oder der Rechtsform ihres Trägers vom deutschen Strafrecht geschützt“ werden, dass hingegen ausländische „Kollektivrechtsgüter“, sofern der Gesetzgeber den Schutz nicht ausdrücklich auf ausländische Rechtsgüter ausgedehnt hat, nicht „unter den deutschen Strafrechtsschutz“ fallen 21. Im Jahr 2001 hat allerdings das OLG Celle geurteilt, dass der Straftatbestand des Landfriedensbruchs gem. §125 dStGB auch dann erfüllt ist, wenn ein deutscher Staatsbürger infolge der Begehung des Delikts in Frankreich (im Zusammenhang mit Ausschreitungen während der Fußball-Weltmeisterschaft im Juni 1998) Personen bewaffnet werden sollen, stellt den Tatbestand nicht her. Friedensstörung im Ausland fällt nicht unter den Schutzbereich ...“); auch Triffterer, Salzburger Kommentar zum StGB §177a Rz. 6 („Straftaten gem. §280 ... stören ... (lediglich) den öffentlichen innerstaatlichen Frieden.) – Abweichend (generelle Ausdehnung auf den Schutz des öffentlichen Friedens auch im Ausland) nunmehr allerdings Kienapfel / Schmoller, Studienbuch Strafrecht Besonderer Teil III 2 (in Druck) Vorbem. §§274ff. Rz. 20. 20 Fiolka, Basler Kommentar Strafrecht II 2 (2007) Art. 258 Rz. 23 und Art. 259 Rz. 16 (in ausdrücklicher Anknüpfung an die in Österreich vertretene Ansicht von H. Steininger); ebenso Vest / Schubarth, Delikte gegen den öffentlichen Frieden (Art. 258 –263 StGB) (2007) Art. 258 Rz. 20. 21 Obermüller, Der Schutz ausländischer Rechtsgüter im deutschen Strafrecht im Rahmen des Territorialitätsprinzips (1999) zusammenf. S. 214f. Obermüller nennt noch zwei weitere Ausnahmen, bei denen auch ausländische Kollektivrechtsgüter mitgeschützt würden; es handelt sich dabei aber nicht um wirkliche Ausnahmen, sondern nur um besondere Fallkonstellationen: (1) der Angriff auf ein ausländisches Kollektivrechtsgut beinhaltet gleichzeitig den Angriff auf ein inländisches Kollektivrechtsgut und (2) ein Tatbestand schützt neben dem Kollektivrechtsgut gleichrangig ein Individualrechtsgut. – Für einen Überblick über den Meinungsstand bis 1999 vgl. Obermüller a.a.O. S. 71ff.

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allein den öffentlichen Frieden in Frankreich gestört hat. Denn es ergebe „die Auslegung des §125 StGB weder, dass Schutzgut dieser Vorschrift allein die öffentliche Sicherheit in Deutschland ist, noch, dass seine Anwendung daran scheitert, dass die hier vorgeworfene Auslandsstraftat ausschließlich ausländische Rechtsgüter verletzt hat“ 22. Zur Begründung beruft sich das OLG Celle darauf, dass der Landfriedensbruch gem. §125 dStGB „gleichrangig ein Kollektiv- und ein Individualdelikt“ sei, sodass das Ergebnis mit dem Lösungsvorschlag von Obermüller 23 kompatibel erscheint. In seiner Urteilsanmerkung stimmt Hoyer dem Ergebnis des OLG Celle zu, präzisiert aber die Begründung: Hoyer trennt zu Recht zwischen staatlichen Rechtsgütern, bei denen staatliche Institutionen geschützt werden und bei denen einschlägige Straftatbestände regelmäßig nicht den Schutz auch ausländischer Einrichtungen umfassen, und Kollektivrechtsgütern, die sich aus einer Summe einzelner Individualrechtsgüter zusammensetzen. „Bei der öffentlichen Sicherheit handelt es sich ... nicht um ein staatliches, sondern um ein Kollektivrechtsgut“; in diesem Fall gelte wie bei den Individualrechtsgütern keine Beschränkung auf das eigene staatliche Territorium; deshalb „ist eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit in Frankreich tatbestandsmäßig im Sinne des deutschen §125 StGB“ 24. Im Schrifttum treten darüber hinaus vor allem Rudolphi / Stein für die Ausdehnung des Schutzbereichs der Delikte gegen die „öffentliche Sicherheit“ bzw. den „öffentlichen Frieden“ auf das Ausland ein. Sie gehen wie Hoyer davon aus, dass die öffentliche Sicherheit „kein staatliches Rechtsgut“, sondern „ein ‚Kollektivrechtsgut‘ sei, das sich aus Individualinteressen einer unbestimmten Vielzahl von Personen zusammensetzt“ 25; deshalb bestehe „keine Veranlassung, nur die öffentliche Sicherheit im Inland“ als geschützt anzusehen; „auch Taten, die lediglich die öffentliche Sicherheit im Ausland gefährden“, könnten deshalb dem inländischen Strafrecht unterfallen 26. Wenn deshalb der „öffentliche Frieden“ von einzelnen Autoren mit dem „inneren Rechtsfrieden“ gleichgesetzt werde, sei dies zu eng, weil „es gerade nicht mehr nur um Gewaltausübung geht, die dem Staat vorbehalten ist, sondern auch um per se illegale Gewaltausübung“ 27; zum Unrechtsgehalt gehöre deshalb „auch die Gefährdung des öffentlichen Friedens in einem weiteren, nicht nur auf den Zustand der inländischen Gesellschaft bezogenen Sinne“ 28.

22

OLG Celle JR 2002, 33 = NJW 2001, 2734. Vgl. oben bei Fn. 21. 24 Hoyer, JR 2002, 36 (Urteilsanm.). 25 Rudolphi / Stein, SK-StGB 7 §125 Rz. 2 und 12a. 26 Rudolphi / Stein, SK-StGB 7 §125 Rz. 12a (zum „Landfriedensbruch“), ebenso §126 Rz. 6 (zur „Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten“), §127 Rz. 2 (zur „Bildung bewaffneter Gruppen“), §130 Rz. 1f. (zur „Volksverhetzung“). 27 Rudolphi / Stein, SK-StGB 7 §127 Rz. 2. 23

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Eine Besonderheit der deutschen Rechtslage ist in diesem Zusammenhang die im Jahr 2002 eingefügte Regelung in §129b dStGB, nach der die Straftatbestände über die „Bildung krimineller Vereinigungen“ und „terroristischer Vereinigungen“ gem. §§129, 129a dStGB grundsätzlich „auch für Vereinigungen im Ausland“ gelten 29. Mit dieser Vorschrift, die zur Umsetzung europäischen Rechts eingefügt wurde 30, wurde immerhin für zentrale Vorschriften der „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“ klargestellt, dass sich diese nicht allein auf den inländischen öffentlichen Frieden beschränken. §129b dStGB berechtigt nicht etwa zu einem Umkehrschluss dahin, dass die anderen Straftatbestände dieses Abschnitts auf inländische Sachverhalte beschränkt seien. Denn diese Vorschrift wurde nicht als gezielte Ausnahmevorschrift erlassen; in ihr kommt vielmehr die zunehmende – durch europäisches Recht unterstützte – Tendenz zum Ausdruck, im öffentlichen Frieden bzw. in der öffentlichen Sicherheit zunehmend ein den Staaten gemeinsames Anliegen zu sehen. Es liegt deshalb nahe, die in §129b dStGB zum Ausdruck gebrachte Tendenz auf die anderen Straftatbestände des Abschnitts zu übertragen. 4. Ausgangsposition Die vorstehenden Erörterungen haben gezeigt, dass die Frage, ob in den Schutzbereich der Straftaten gegen den „öffentlichen Frieden“ bzw. die „öffentliche Sicherheit“ jeweils auch der Frieden bzw. die Sicherheit jenseits der eigenen Staatsgrenze einzubeziehen ist, nicht einheitlich beantwortet wird. Den bisher sehr restriktiven Stellungnahmen in Österreich und der Schweiz steht die neuere Entwicklung in Deutschland gegenüber, die zunehmend auch den Schutz des „öffentlichen Friedens“ bzw. der „öffentlichen Sicherheit“ außerhalb des eigenen 28

Rudolphi / Stein, SK-StGB 7 §130 Rz. 1f. – Unklar ist allerdings, warum Rudolphi / Stein allein im Bereich des §140 dStGB („Belohnung und Billigung von Straftaten“) ohne Bezugnahme auf die bei den anderen Tatbeständen vertretene Auffassung die diametral entgegengesetzte Position einnehmen, nämlich „dass es nur um den inländischen öffentlichen Frieden gehen kann, ... denn die nationale Rechtsordnung hat keine Veranlassung, einen strafrechtlichen Schutz des gesellschaftlichen Klimas in beliebig strukturierten fremden Gesellschaftsordnungen vorzusehen.“ §140 dStGB sei deshalb nur auf Fälle anzuwenden, „in denen der inländische öffentliche Friede berührt sein kann“; so Rudolphi / Stein, SKStGB 7 §140 Rz. 2a und 5. 29 Näher z.B. Altvater, Das 34. Strafrechtsänderungsgesetz – §129b StGB, NStZ 2003, 179; Stein, Kriminelle und terroristische Vereinigungen mit Auslandsbezug seit der Einführung von §129b StGB, GA 2005, 433; Kreß, Das Strafrecht in der Europäischen Union vor der Herausforderung durch organisierte Kriminalität und Terrorismus, JA 2005, 220. – §129b dStGB enthält allerdings implizit auch ausdrückliche Regeln über die inländische Gerichtsbarkeit, deren Verhältnis zu §§3ff. dStGB nicht endgültig geklärt ist. 30 Art. 4 Gemeinsame Maßnahme des Rates der Europäischen Union vom 21.12.1998 (ABl. L351, 1); Art. 9 Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union zur Terrorismusbekämpfung vom 13.6.2002 (ABl. L164, 3).

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Staatsgebiets als Anliegen sieht. Freilich ist auch bei einer solchen Ausdehnung des Schutzbereichs die inländische Gerichtsbarkeit durch die Vorschriften des Rechtsanwendungsrechts, die durchweg einen gewissen Bezug der konkreten Tat zu inländischen Interessen verlangen, begrenzt. II. Präzisierung des geschützten Rechtsguts 1. Kein „staatliches“ Rechtsgut Die verbreitete Beschränkung der „Straftaten gegen den öffentlichen Frieden“ auf Störungen innerhalb der eigenen Staatsgrenzen dürfte (unter anderem) auf eine unzureichende Trennung dieser Deliktsgruppe vom Schutz „staatlicher“ Rechtsgüter zurückzuführen sein. In Österreich wird eine solche Vermengung dadurch begünstigt, dass die „Straftaten gegen den öffentlichen Frieden“ im öStGB inmitten der Delikte zum Schutz staatlicher Rechtsgüter eingeordnet wurden, also sowohl die vorangehenden als auch die nachfolgenden Delikte staatliche Rechtsgüter schützen 31. Bei staatlichen Rechtsgütern liegt tatsächlich nahe, dass nur die betreffenden Institutionen oder Anliegen des eigenen Staats geschützt werden. Dies gilt z.B. für den Widerstand gegen die Staatsgewalt gem. §269 öStGB (nur Widerstand gegen Beamte nach österreichischem Recht), für die Falschaussagedelikte gem. §§288ff. öStGB (nur Falschaussage vor österreichischen Institutionen) oder für den Amtsmissbrauch gem. §302 öStGB (nur Missbrauch einer Amtsstellung nach österreichischem Recht). Freilich können auch bei staatlichen Rechtsgütern ausnahmsweise entsprechende Institutionen oder Anliegen fremder Staaten mitgeschützt werden; dazu bedarf es aber jeweils einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung. Eine solche findet sich etwa in §§316f. öStGB („Hochverräterische Angriffe gegen einen fremden Staat“, „Herabwürdigung fremder Symbole“) oder bei den Straftatbeständen gegen Korruption (§§304ff. öStGB), da der Begriff „Amtsträger“ ausdrücklich auch Funktionäre fremder Staaten und internationaler Organisationen umfasst bzw. mit den „Gemeinschaftsbeamten“ auch Funktionäre der Europäischen Union einbezogen werden (vgl. §74 Abs. 1 Z 4a u. 4b öStGB). Wo eine solche ausdrückliche gesetzliche Anordnung jedoch fehlt, beschränkt sich der Schutz staatlicher Rechtsgüter auf solche des eigenen Staates. In Deutschland wird jedoch zu Recht betont, dass die „öffentliche Sicherheit“ bzw. der „öffentliche Frieden“ kein staatliches Rechtsgut in dem Sinn ist, dass spezifisch staatliche Institutionen oder Anliegen geschützt würden 32. Vergegenwärtigt man sich die einzelnen hier eingeordneten Straftatbestände 33, zeigt sich vielmehr, 31 Krit. zu dieser Einordnung Kienapfel / Schmoller (oben Fn. 19) Vorbem. §§274ff. Rz. 2 und Vorbem. §§269 ff. Rz. 3. 32 Z.B. Hoyer und Rudolphi / Stein (oben Fn. 24 und 25). 33 Vgl. den Überblick oben in Fn. 4 bis 12.

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dass deren Anwendungsbereich ganz unabhängig von staatlichen Organisationsstrukturen, von einzelnen staatlichen Institutionen oder von sonstigen Eigenheiten des jeweiligen Staatsgefüges ist. So haben z.B. grundsätzlich alle Staaten ein identisches Interesse an der Verhinderung von gewalttätigen Zusammenrottungen oder von Drohungen oder Täuschungen, die die Bevölkerung in Furcht und Schrecken versetzen. Ein ebensolches gemeinsames Interesse besteht an der Bekämpfung krimineller oder terroristischer Vereinigungen und Organisationen, am Unterbleiben umfangreicherer Bewaffnungen, des Aufforderns zu bzw. Gutheißens von schweren Straftaten, des Hetzens gegen einzelne Bevölkerungsteile oder der Begehung einer Vollrauschtat. Es handelt sich dabei in ähnlicher Weise um ein gemeinsames Interesse der Staaten wie bei der Verhinderung von Mord, Diebstahl, Vergewaltigung und Urkundenfälschung. Teilweise richten sich die Straftaten gegen den öffentlichen Frieden unmittelbar gegen Individualrechtsgüter der jeweils Betroffenen, etwa des Gewaltopfers beim Landfriedensbruch oder des Deliktsopfers bei einer Vollrauschtat. Aber auch wenn man – zutreffend – davon ausgeht, dass die Delikte gegen den „öffentlichen Frieden“ (zumindest zum Teil) darüber hinaus ein Gemeinschaftsrechtsgut beeinträchtigen (näher unten 2. und 3.), handelt es sich nicht um ein „staatliches“ Rechtsgut, sondern um ein (sonstiges) „Kollektivrechtsgut“, dessen Schutz zwar im Interesse der Allgemeinheit liegt, das aber nicht auf ein bestimmtes Staatsgefüge zugeschnitten ist. Deshalb verkürzt Obermüller die Problematik, wenn er alle überindividuellen Rechtsgüter als „Kollektivrechtsgüter“ zusammenfasst und gleich behandelt 34. Erst die Erkenntnis, dass staatliche und sonstige Kollektivrechtsgüter zu unterscheiden sind, ermöglicht eine zutreffend differenzierte Sicht. Worin das (überindividuelle) Rechtsgut der Straftaten gegen den „öffentlichen Frieden“ genau besteht, bedarf allerdings noch einer Präzisierung. 2. Der „öffentliche Frieden“ als Rechtsgut? Verschiedentlich wird der „öffentliche Frieden“ selbst (bzw. die „öffentliche Sicherheit“) als Rechtsgut genannt 35. In Wahrheit bezeichnet dieser Begriff aber kein hinreichend spezifisches Rechtsgut, an dem sich die Rechtsanwendung orientieren könnte. Denn zum einen beein34

Oben bei Fn. 21. Z.B. in Österreich Plöchl (oben Fn. 19) Vorbem. zu §§274ff. Rz. 6; Oshidari / Althuber (oben Fn. 19) §274 Rz. 3; Hinterhofer (oben Fn. 19) Vorbem. §§274ff. Rz. 1; Lendl, §281 StGB: Ein bisher wenig beachteter Tatbestand, ÖJZ 1997, 551 (553); für die Schweiz Vest / Schubarth (oben Fn. 20) Vor Art. 258 Rz. 4f.; für Deutschland z.B. Maurach / Schroeder / Maiwald (oben Fn. 1) §60 Rz. 6; Schönke / Schröder / Lenckner / SternbergLieben, Strafgesetzbuch, Kommentar 27 Vorbem. §§123ff. Rz. 1. 35

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trächtigt jede Straftat – zusätzlich zur allfälligen individuellen Beeinträchtigung der Interessen des Opfers – auch das „friedliche Zusammenleben der Bevölkerung“ und damit den „öffentlichen Frieden“; dieser wird somit durch das Strafrecht insgesamt geschützt, sodass der Begriff zur Charakterisierung einzelner Delikte zu unspezifisch ist 36. Zum andern sind den Delikten gegen den „öffentlichen Frieden“ auch Straftatbestände zugeordnet, die nicht notwendig voraussetzen, dass über die Beeinträchtigung eines Individualrechtsguts hinaus auch ein Kollektivrechtsgut betroffen ist. So verlangt etwa das „Komplott“ gem. §277 öStGB allein die Verabredung von mindestens zwei Personen zur gemeinsamen Ausführung einer schweren Straftat, etwa eines Mordes. Die Verabredung eines Mordes beeinträchtigt aber kein anderes Rechtsgut als der Mord selbst und bleibt in ihrer Intensität sogar deutlich hinter dem Mord zurück. Ähnlich verhält es sich mit der „Unterlassung der Verhinderung einer Straftat“ gem. §286 öStGB, wonach strafbar ist, wer die unmittelbar bevorstehende Straftat eines anderen (ab einer gewissen Schwere der Straftat) nicht verhindert. Auch hier leuchtet ein, dass die Nichtverhinderung einer Straftat kein anderes Rechtsgut verletzt als die nicht verhinderte Straftat selbst; die Eingriffsintensität des Nichtverhinderns bleibt wiederum hinter der Begehung jener Straftat zurück 37. Die Delikte gegen den „öffentlichen Frieden“ schützen somit nicht ein einheitliches Rechtsgut des „öffentlichen Friedens“, vielmehr dient diese Umschreibung als Sammelbezeichnung für im Einzelnen recht unterschiedliche Straftatbestände, bei denen sich mindestens zwei verschiedene Rechtsgutausrichtungen feststellen lassen. 3. Sammelbegriff für unterschiedliche Rechtsgutausrichtungen Bei einem Teil der Delikte gegen den „öffentlichen Frieden“ lässt sich – über die Beeinträchtigung von Individualrechtsgütern Betroffener hinaus – eine zusätzliche Wirkung für die Allgemeinheit feststellen, die sich am ehesten als „Störung des öffentlichen Lebens“ bezeichnen lässt. Dabei kann an den Wortlaut der in Österreich im Jahr 2001 eingefügten Deliktsqualifikationen angeknüpft werden, nach denen bei einzelnen Delikten dieses Abschnitts eine „schwere oder längere Zeit anhaltende Störung des öffentlichen Lebens“ einen höheren Strafrahmen auslöst 38. 36

Z.B. Fiolka (oben Fn. 20) Vor Art. 251 Rz. 3f.; Stratenwerth / Bommer, Schweizerisches Strafrecht Besonderer Teil II (2008) Vor §39 Rz. 1; Lendl, ÖJZ 1997, 553f.; ausführlich Hörnle, Grob anstößiges Verhalten (2005) S. 90ff. 37 Z.B. Plöchl (oben Fn. 19) §286 Rz. 2; Hinterhofer, Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch (2001) §286 Rz. 4; Durl, Die Pflicht zur Verhinderung von mit Strafe bedrohten Handlungen gem. §286 StGB (1999) S. 109ff. m.w.N. 38 §275 Abs. 2 Z 1 und §276 Abs. 2 Z 1 öStGB, jeweils eingefügt durch das StRÄG 2001 (BGBl I 130). Dieselbe Formulierung wurde mit dem StRÄG 2002 (BGBl I 134) auch in § 278c Abs. 1 öStGB übernommen.

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Das „öffentliche Leben“ soll dabei in einem weiten Sinn verstanden werden, der den gesamten Lebensbereich außerhalb des häuslichen Lebens erfasst 39. In diesem Sinn gehören zum „öffentlichen Leben“ die gesamte Wirtschafts- und Arbeitswelt, der gesamte Bereich der Mobilität wie Straßen- Wasser- und Luftverkehr sowie alle Arten von Freizeitunternehmungen etc. 40. Zu diesen Delikten zählen etwa der Landfriedensbruch 41 oder das Versetzen der Bevölkerung in Furcht und Schrecken durch Drohung oder Täuschung 42. Denn gewalttätige Zusammenrottungen von Menschenmengen oder angedrohte oder gerüchteweise bevorstehende Terroranschläge beeinträchtigen den reibungslosen Ablauf des Wirtschafts- und Arbeitslebens, die zwanglose Mobilität sowie unbeschwerte Freizeitunternehmungen, da viele Menschen ihr Verhalten auf die Bedrohungslage einstellen und nicht mehr uneingeschränkt am öffentlichen Leben teilnehmen werden. Sieht man in der Verhinderung solcher Einschränkungen eine wesentliche Zielrichtung der genannten Straftatbestände, lässt sich das Rechtsgut als „störungsfreier Ablauf des öffentlichen Lebens“ bezeichnen 43. Hierher gehören ferner die Straftatbestände zur Verhinderung krimineller Organisationen und terroristischer Vereinigungen 44, weil allein schon deren Existenz das unbeschwerte öffentliche Leben beeinträchtigt. Gleiches gilt für jene Delikte, die sich gegen die Bewaffnung einer größeren Zahl von Personen richten 45. Allerdings enthalten die Straftaten gegen den öffentlichen Frieden, wie bereits angesprochen, auch Straftatbestände, bei denen sich nicht feststellen lässt, dass das öffentliche Leben mehr gestört würde als durch jede sonstige Begehung einer Straftat. Die Besonderheit dieser zweiten Deliktsgruppe besteht vielmehr darin, dass bei ihr zwar traditionelle Rechtsgüter wie Leib und Leben, Freiheit, Ehre, Vermögen etc. beeinträchtigt werden, die konkrete Straftat aber je nach ihrer Begehungsweise im Einzelfall einmal gegen das eine, einmal gegen das andere Rechtsgut gerichtet ist, sodass keine Festlegung auf eines der bedrohten Rechtsgüter erfolgen kann. Beispiele bilden etwa die Verabredung zu oder Vorbereitung einer Straftat 46, das Auffordern zu oder Gutheißen einer Straftat 47, die Unterlassung der Verhinderung einer Straftat 48 oder die Vollrauschtat 49. So richtet sich die 39 Bei diesem weiten Verständnis kann die in §275 Abs. 2 Z 2 und §276 Abs. 2 Z 2 öStGB ebenfalls qualifizierend wirkende „schwere Schädigung des Wirtschaftslebens“ als ein Unterfall der „Störung des öffentlichen Lebens“ angesehen werden. 40 Vgl. Kienapfel / Schmoller (oben Fn. 19) Vorbem. §§274ff. Rz. 13. 41 Oben Fn. 4. 42 Oben Fn. 5. 43 Kienapfel / Schmoller (wie oben Fn. 40). 44 Oben Fn. 7. 45 Oben Fn. 8. 46 Oben Fn. 6. 47 Oben Fn. 9. 48 Oben Fn. 11. 49 Oben Fn. 12.

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Verabredung einer Straftat gegen dasselbe Rechtsgut wie die verabredete Straftat, wobei dieses Rechtsgut je nach Art der verabredeten Straftat wechseln kann. Es handelt sich somit um einen Straftatbestand mit „changierendem“ Rechtsgut, das je nach konkreter Begehung wechselt. Bei derartigen Straftatbeständen ist die Zuordnung zu den Delikten gegen den „öffentlichen Frieden“ nicht erfolgt, weil der öffentliche Frieden mehr als bei sonstigen Delikten tangiert wäre, sondern deshalb, weil in Folge des changierenden Rechtsguts keine eindeutige andere Zuordnung möglich war 50. Beide Rechtsgutausrichtungen sind im Rahmen der folgenden Erörterung einer Ausdehnung des Schutzes auf ausländische Sachverhalte im Auge zu behalten. III. Plädoyer für eine Erstreckung auf Auslandsgeschehen 1. Situation bei Individualrechtsgütern Bei den Individualrechtsgütern wie Leib und Leben, Freiheit, Vermögen etc. ist unbestritten, dass diese auch dann tatbestandlich geschützt sind, wenn der Rechtsgutträger Ausländer ist und sich im Ausland befindet. Diesbezüglich wurde bisher nicht behauptet, die Aufgabe der Rechtsordnung ginge nur dahin, das Leben eigener Staatsbürger oder von Personen im eigenen Staat zu schützen; das Interesse des Einzelnen wird vielmehr über die – ohnehin oft willkürlich gezogenen – Staatsgrenzen gestellt. Freilich ist es nicht Aufgabe der inländischen Strafverfolgungsbehörden, weltweit jeden Mord oder Diebstahl zu verfolgen. Die sinnvolle Eingrenzung ist diesbezüglich seit jeher dem Strafrechtsanwendungsrecht überlassen 51. Die Vorgangsweise, nicht auf der Ebene des tatbestandlichen Schutzbereichs zu differenzieren, sondern nach den Kriterien des Strafrechtsanwendungsrechts, wird – jedenfalls im Bereich der Individualrechtsgüter – allgemein als sachgerecht empfunden. 2. Konsequenzen für Delikte mit „changierendem“ Rechtsgut Für jenen Teil der Delikte gegen den „öffentlichen Frieden“, die vorstehend als Delikte mit „changierendem“ Rechtsgut bezeichnet wurden (oben II.3.), liegt nahe, dass die einzelnen Rechtsgüter nicht in engerem Rahmen geschützt werden sollen als bei jenen Delikten, die spezifisch auf diese Rechtsgüter zugeschnitten sind. Wenn sich beispielsweise die Verabredung zu einer Straftat oder die Unterlassung der Verhinderung einer Straftat im Einzelfall gegen genau jenes Rechtsgut richten, das durch die verabredete bzw. nicht verhinderte Straftat verletzt wird, so 50 51

Kienapfel / Schmoller (oben Fn. 19) Vorbem. §§274ff. Rz. 15ff. Oben Fn. 13.

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leuchtet nicht ein, warum der Schutzbereich der Verabredung bzw. Nichtverhinderung auf die Beeinträchtigung inländischer Rechtsgüter beschränkt sein sollte. Wenn also z.B. das österreichische Strafrecht die Ermordung eines Franzosen in Warschau durch einen Italiener tatbestandlich erfasst (§75 öStGB), gibt es kein Argument dafür, warum die Verabredung zur gemeinsamen Ausführung dieses Mordes (§277 öStGB) oder die Unterlassung der Verhinderung dieses Mordes z.B. durch einen Spanier (§286 öStGB) tatbestandlich nicht vom österreichischen Strafrecht umfasst sein sollte. Auch wenn die Ermordung im Beispielsfall durch einen volltrunkenen Täter geschehen sollte (§287 öStGB), würde nicht einleuchten, dass der Tatbestand der Vollrauschtat, nur weil er im Rahmen der Delikte gegen den öffentlichen Frieden angesiedelt ist, die betreffende Tat wegen ihres Auslandsbezugs tatbestandlich nicht erfassen sollte. Jedenfalls für – bei den Delikten gegen den öffentlichen Frieden eingeordnete – Straftatbestände mit „changierendem“ Rechtsgut ist deshalb festzuhalten, dass eine tatbestandliche Beschränkung auf inländische Rechtsgüter sachwidrig wäre. Ob freilich die österreichische Gerichtsbarkeit im Einzelfall eingreift, richtet sich nach dem Strafrechtsanwendungsrecht 52. 3. Übertragung auf Delikte zum „Schutz des öffentlichen Lebens“? Etwas anders gelagert ist die Situation bei jenen Delikten, die über den Schutz des einzelnen betroffenen Rechtsguts hinaus einen „störungsfreien Ablauf des öffentlichen Lebens“ gewährleisten sollen (vgl. wiederum oben II.3.). Darin liegt ein eigener Rechtsgutaspekt, der über den Schutz des allenfalls betroffenen Individualrechtsguts hinausgeht, sodass die tatbestandliche Reichweite nicht einfach an den betroffenen Individualrechtsgütern orientiert werden kann. Vielmehr gilt es hier zu beantworten, ob der „störungsfreie Ablauf des öffentlichen Lebens“ jeweils nur im eigenen Staat oder auch darüber hinaus geschützt wird. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, sprechen gewichtige Argumente dafür, den tatbestandlichen Schutz auch insoweit nicht an den eigenen Staatsgrenzen enden zu lassen.

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Die in Österreich von H. Steininger und Plöchl vertretene Auffassung, die von ihrer grundsätzlichen tatbestandlichen Beschränkung auf den inländischen öffentlichen Frieden punktuelle Ausnahmen bei den §§277, 286 und 287 öStGB machen (oben Fn. 7), lässt sich wohl auf den – von den genannten Autoren allerdings nicht angesprochenen – Gesichtspunkt zurückführen, dass es sich bei diesen Delikten um solche mit „changierendem“ Rechtsgut handelt, die insoweit wie Delikte gegen ein Individualrechtsgut zu behandeln sind. Allerdings müsste diese Ausnahme dann konsequenterweise auf alle Straftatbestände mit „changierendem“ Rechtsgut ausgedehnt werden, also etwa auch auf §282 öStGB (Aufforderung zu und Gutheißung von Straftaten) sowie auch §278 (Kriminelle Vereinigung i.S. des Zusammenschlusses mehrerer Personen zu einer einzigen oder zu mehreren der Art nach bestimmten Straftaten).

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a) Sinkende Bedeutung der Staatsgrenzen für das „öffentliche Leben“ Versteht man das „öffentliche Leben“ in einem weiten Sinn als „nicht häusliches“ Leben, sodass es die gesamte Wirtschafts- und Arbeitswelt, die Mobilität sowie alle Freizeitunternehmungen abdeckt, muss gefragt werden, ob die Staatsgrenze diesbezüglich wirklich eine so wichtige Rolle spielt, dass sie gleichzeitig als Grenze des tatbestandlichen Anwendungsbereichs dienen soll. Die Antwort darauf lautet, dass Staatsgrenzen heute – jedenfalls in Europa, aber auch in weiten Regionen darüber hinaus – keine ins Gewicht fallende Barriere des öffentlichen Lebens mehr darstellen. Es hat gewiss Zeiten gegeben, wie insbesondere in der Zwischenkriegszeit und auch noch nach dem 2.Weltkrieg, unter anderem bis zum Fall des Eisernen Vorhangs, in denen Staatsgrenzen das öffentliche Leben massiv geteilt haben, indem sich die Wirtschafts- und Arbeitswelt, die Mobilität sowie die Freizeitunternehmungen, von Ausnahmen abgesehen, wesentlich im eigenen Staat abgespielt haben. Mit der fortschreitenden europäischen Integration, aber auch der generellen Globalisierung, trifft dies heute – was sehr erfreulich ist – nicht mehr zu. Das öffentliche Leben spielt sich vielmehr in weiten Bereichen so ab, als würde es Staatsgrenzen nicht geben. Beispielsweise ist heute einem Salzburger das bayerische München nicht fremder als das österreichische Innsbruck oder Wien, die durch eine Staatsgrenze geteilten Gebiete Nordtirol und Südtirol (Alto Adige) können sich wieder als eine zusammengehörende Region fühlen, und geteilte Städte wie das deutsche Frankfurt (Oder) und das polnische Słubice wachsen wieder zusammen. Natürlich haben Staatsgrenzen weiterhin eine wichtige politische und rechtliche Bedeutung 53, für die Wirtschaft, die Arbeitswelt, den Verkehr oder sonstige Unternehmungen bildet die Staatsgrenze heute – jedenfalls in Europa – aber kaum mehr ein Hindernis. Findet das öffentliche Leben heute staatenübergreifend statt, sollte jeder Staat auch ein Interesse daran haben, dass das öffentliche Leben im Nachbarstaat oder anderen Staaten ebenso wenig gestört wird wie im Inland. Wenn beispielsweise ein Österreicher von Salzburg aus Terroranschläge in München androht und dadurch die Bevölkerung Münchens in Furcht und Unruhe versetzt (§275 öStGB), sollte dies das österreichische Strafrecht ebenso berühren wie die Tat eines Österreichers, der z.B. vergiftete Pralinen zwecks eines Mordes nach München schickt. Der Standpunkt, es kümmere das österreichische Strafrecht prinzipiell nicht, wenn die Bevölkerung von München durch Terrordrohungen in Furcht und Unruhe versetzt wird (wie in der Beschränkung auf den inländischen öffentlichen Frieden durch die in Österreich bisher hM zum Ausdruck kommt 54), lässt sich in einem vielfach 53 Dies verdeutlichen besonders drastisch die hohen Strafdrohungen für Schlepperei bzw das Einschleusen von Ausländern (§§114ff. österr. FremdenpolizeiG, §96 deutsches AufenthaltsG, Art. 116 schweizerisches AusländerG, Art. 264 polnStGB), die nach wie vor die Staatsgrenzen gegenüber einer allgemeinen Freizügigkeit sichern. 54 Nachweise oben in Fn. 19.

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verflochtenen Europa nicht mehr aufrechthalten. Ebenso kann der von einem österreichischen Täter – etwa im Anschluss an ein Fußballspiel gemeinsam mit anderen „Fans“ – begangene Landfriedensbruch in einer deutschen, französischen oder italienischen Stadt vom österreichischen Strafrecht nicht ignoriert werden 55. b) Internationale Vorgaben In einem Teilbereich der Straftaten gegen den „öffentlichen Frieden“ bzw. die „öffentliche Ordnung“ bestehen sogar internationale Verpflichtungen, ein entsprechendes Verhalten unabhängig davon, ob dieses im eigenen Hoheitsgebiet begangen wurde, unter Strafe zu stellen. So verpflichtet EU-Recht dazu, im Bereich der kriminellen Vereinigungen bzw. Organisationen sowie der terroristischen Vereinigungen eine Jurisdiktion teilweise auch in Fällen vorzusehen, in denen das Aktionsgebiet der betreffenden Vereinigung nicht im eigenen Staatsgebiet liegt 56. Ähnliche Vorgaben gelten auf der Ebene der Vereinten Nationen für den Bereich der Terrorismusfinanzierung 57. In Umsetzung dieser internationalen Verpflichtungen haben staatliche Gesetzesänderungen stattgefunden, um Taten mit Auslandsbezug besser erfassen zu können, etwa in Deutschland durch die Einfügung des §129b dStGB 58, in Österreich durch die Erweiterung des Strafrechtsanwendungsrechts um §64 Abs. 1 Z 9 und 10 öStGB 59, wodurch die inländische Gerichtsbarkeit für terroristische Vereinigungen, terroristische Straftaten und Terrorismusfinanzierung (§§278b–278d öStGB) erweitert wurde. Die angesprochenen internationalen Verpflichtungen und deren gesetzliche Umsetzung würden geradezu konterkariert, bliebe der tatbestandliche Anwendungsbereich der Vorschriften tendenziell auf Störungen des inländischen öffentlichen Friedens beschränkt. So würde beispielsweise die Ausdehnung des Strafrechtsanwendungsrechts in §64 Abs. 1 Z 9 und 10 öStGB weitgehend leerlaufen, würde man den Anwendungsbereich von §§278b–278d öStGB – wie dies in Österreich offenbar befürwortet wird 60 – von vornherein auf Störungen des inländischen öffentlichen Friedens beschränken! Eine solche, dem Willen des Gesetzgebers geradezu entgegenlaufende Auslegung erscheint keinesfalls sachgerecht.

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Vgl. dazu die Entscheidung des OLG Celle (oben Fn. 22). Vgl. Art. 9 Rahmenbeschluss des Rates zur Terrorismusbekämpfung vom 13.6.2002 (ABl. L164, 3); Art. 4 Gemeinsame Maßnahme des Rates betreffend die Strafbarkeit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 21.12.1998 (ABl. L351, 1). 57 Art. 7 UN-Terrorismusfinanzierungsübereinkommen (in Österreich: 902 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXI. GP). 58 Oben bei Fn. 29. 59 Eingefügt durch das StRÄG 2002 (BGBl I 134). 60 Vgl. erneut die Nachweise oben in Fn. 19. 56

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c) Unsachliche Vermengung mit Strafrechtsanwendungsrecht Gerade die letzte Überlegung zeigt, dass die tatbestandliche Einschränkung des Anwendungsbereichs auf das Inland teilweise mit den (großzügigeren) Vorschriften des Strafrechtsanwendungsrechts kollidieren kann. Es erscheint indes systematisch unschlüssig, die inländische Gerichtsbarkeit auszudehnen, das Ergebnis aber durch einen engen tatbestandlichen Anwendungsbereich des betreffenden Straftatbestands weitgehend zu unterlaufen. Vielmehr sollten Fragen des örtlichen Anwendungsbereichs stets nur über das Strafrechtsanwendungsrecht, nicht über die Tatbestandsauslegung gesteuert werden. Abgesehen von den tatsächlichen „staatlichen“ Rechtsgütern (oben II.1.) ist deshalb tatbestandlich grundsätzlich von einem universalen Anwendungsbereich auszugehen, die Würfel der inländischen Gerichtsbarkeit fallen dann im Rahmen des Strafrechtsanwendungsrechts. d) Einschränkungen als Ausnahme Auch wenn man die Beschränkung des tatbestandlichen Schutzbereichs auf den inländischen öffentlichen Frieden grundsätzlich ablehnt, ist einzuräumen, dass punktuelle tatbestandliche Einschränkungen des Schutzbereichs auf einen Inlandsbezug dort zu machen sind, wo das Gesetz dies ausdrücklich vorschreibt. So beschränkt beispielsweise der Straftatbestand der „Verhetzung“ in §283 öStGB den Adressatenkreis ausdrücklich auf „eine im Inland bestehende Kirche oder Religionsgesellschaft“. Diese gesetzliche Einschränkung ist zu akzeptieren; handelt es sich jedoch um eine „im Inland bestehende Kirche oder Religionsgemeinschaft“, greift nach dem hier vertretenen Ansatz §283 öStGB auch dann ein, wenn die tatbestandliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung außerhalb des Inlands liegt. Auch bei Tatbeständen wie §281 öStGB (Aufforderung zum Ungehorsam gegen ein Gesetz) mag Vieles dafür sprechen, darunter nur ein österreichisches Gesetz zu verstehen. Derartige punktuelle Einschränkungen müssen allerdings die wohlbegründete Ausnahme bilden; aus ihnen ist nicht abzuleiten, dass die Delikte gegen den öffentlichen Frieden generell nur den öffentlichen Frieden im Inland im Auge hätten. 4. Ergebnis Insgesamt lässt sich deshalb festhalten, dass die Straftatbestände „gegen den öffentlichen Frieden“ bzw. „gegen die öffentliche Ordnung“ grundsätzlich – d. h. abgesehen von bei einzelnen Tatbeständen eigens zu begründenden Ausnahmen – auch den öffentlichen Frieden bzw. die öffentliche Ordnung außerhalb des Inlands schützen. Dies gilt sowohl für den Teilbereich der Delikte mit „changierendem“ Rechtsgut (oben 2.) als auch für jenen Teilbereich von Delikten, deren Schutzgegenstand im „störungsfreien Ablauf des öffentlichen Lebens“ zu sehen ist (oben 3.).

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IV. Zusammenfassung und Ausblick Die in Österreich und in der Schweiz vorherrschende restriktive Auffassung, der zufolge die „Straftaten gegen den öffentlichen Frieden“ jeweils nur den inländischen öffentlichen Frieden schützen, sollte aufgegeben werden; Stellungnahmen der Rechtsprechung und des Schrifttums in Deutschland weisen dafür den Weg. Maßgeblich erscheint, dass der „öffentliche Frieden“ (bzw. die „öffentliche Ordnung“) kein „staatliches“ (d.h. spezifisch auf einzelne staatliche Institutionen oder Anliegen zugeschnittenes) Rechtsgut ist. Soweit die Delikte gegen den „öffentlichen Frieden“ ohnehin nur (wenngleich wechselnde) Individualrechtsgüter schützen, leuchtet ein, dass der tatbestandliche Schutzbereich nicht enger gezogen werden kann als bei den vergleichbaren Delikten gegen Individualrechtsgüter. Aber auch bei jenen Delikten, die als zusätzliches Rechtsgut den „störungsfreien Ablauf des öffentlichen Lebens“ schützen, erscheint eine Beschränkung auf den Schutz des öffentlichen Lebens im Inland aus heutiger Sicht kleinbürgerlich und steht zumindest bei einem Teil der Delikte im Widerspruch zu internationalen Verpflichtungen. Da Staatsgrenzen für das heutige öffentliche Leben kaum mehr eine Barriere darstellen, ist nicht einzusehen, warum sich der Schutz des öffentlichen Lebens gerade an Staatsgrenzen orientieren soll. Die erfreuliche Errungenschaft eines staatenübergreifenden öffentlichen Lebens muss auch im Strafrecht ihren Ausdruck finden. Keinem Staat sollte gleichgültig sein, wenn jemand z.B. im Nachbarstaat durch die Androhung von Terroranschlägen die Bevölkerung in Furcht und Schrecken versetzt. Freilich kann die inländische Strafgerichtsbarkeit nicht für alle Delikte weltweit zuständig sein. Die insoweit notwendigen Einschränkungen ergeben sich aber ohnehin – wie beim Individualrechtsgüterschutz – aus dem Strafrechtsanwendungsrecht. Wenn es mit den vorstehenden Überlegungen gelungen ist, die trennende Wirkung von Staatsgrenzen (in einem kleinen Teilbereich) etwas zu relativieren, erscheint dies im Sinn der europäischen Integration und darüber hinaus der Völkerverständigung nur erwünscht. Weiter reichende Ziele, wie die Ersetzung von Staatsgrenzen durch eine allgemeine Freizügigkeit und eine weitgehende Harmonisierung des Strafrechts in Europa sollten – auch wenn sie in naher Zukunft nicht realistisch erscheinen – jedenfalls nicht aus den Augen verloren werden.

Apokryphe Kriminalisierung und das Milderungsgebot Das Beispiel des §34 AWG n.F. Lorenz Schulz Kriminalisierung ist die Losung der Rechtspolitik der Gegenwart auch bei rechtsvergleichender Betrachtung. Dies bestätigen, wie im Folgenden gezeigt wird, selbst Beispiele der Ent- oder zumindest Dekriminalisierung. Wenn dabei das Beispiel des deutschen Außenwirtschaftsstrafrechts im Vordergrund steht, so wird es für den Jubilar einen Anlass liefern, das Ergebnis anhand der polnischen Dogmatik des Milderungsgebots zu würdigen und wie so oft Überlegungen der deutschen Strafrechtswissenschaft produktiv zu spiegeln. De- und entkriminalisierende Schritte des Gesetzgebers sind selten geworden. Die jüngsten Beispiele entstammen dem Nebenstrafstrafrecht, einem Feld, auf dem der Gesetzgeber im Schatten des medienträchtigen Kernstrafrechts größere Gestaltungsfreiheit als dort besitzt. Selbst diese Beispiele bestätigen den für die moderne Kriminalpolitik charakteristischen Hang zur Kriminalisierung. So breitete der Gesetzgeber über die Streichung des §370a AO als dem jüngsten Fall einer nennenswerten Entkriminalisierung den Mantel des Schweigens aus, indem er sie für die weitere Öffentlichkeit unauffindbar in einer strafprozessualen Novelle verortete. 1 Dogmatisch ertragreicher ist indes die Analyse des Beispiels einer offen erklärten Dekriminalisierung – der Novellierung des §34 AWG –, weil sie auch dogmatischen Ertrag für den Allgemeinen Teil liefert. Der Novelle des §34 AWG gelingt es, die vielfältigen Schwierigkeiten bei der Anwendung des Grundsatzes „in dubio mitius“ (§2 Abs. 3 StGB) um eine neue Variante zu bereichern. Das wird im Folgenden in vier Schritten ausgeführt. Nach der Darstellung der Novelle (I.) und der Vorstellung der aktuell verfolgten Fälle von Embargoverstößen (II.) wird im dritten Schritt eine Reihe von Schwierigkeiten für die Anwendung des Milderungsgebots erörtert, namentlich die Frage der Unrechtskontinuität (III.). 1 Nachdem der 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in seinem Beschluss vom 22.07.2004 (5 StR 85/04), NJW 2004, 2990, der Kritik des Schrifttums Rechnung getragen und die Norm apokryph außer Geltung gesetzt hatte, kam der Gesetzgeber aus redaktionellen Gründen (Nennung des §370a AO in §100a StPO a.F.) nicht umhin, darauf zu reagieren. Die Streichung des Tatbestands wurde in das „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG“) eingefügt.

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Schließlich wird die Frage beantwortet, ob beim Embargoverstoß die Alt- oder Neufassung das mildere Gesetz ist (IV.). I. Die Novellierung von §34 Abs. 4 AWG geht auf ein Monitum der Rechtsprechung zurück. Weil die starre Einstufung von Verstößen gegen ein UN-Embargo als schweres, mit einer Mindeststrafe von zwei Jahren Freiheitsentzug zu ahndendem Verbrechen in §34 Abs. 4 AWG a.F. von ihr als unverhältnismäßig angesehen wurde, forderte sie den Gesetzgeber zum Handeln auf. Gewünscht wurde eine gestufte und differenzierte Sanktionierung von Embargoverstößen. Der Gesetzgeber folgte diesem Wunsch durch das am 08. April 2006 in Kraft getretene 12. Gesetz zur Änderung des AWG und der Außenwirtschaftsverordnung (AWV). 2 Die einzelnen Änderungen gehen aus der Synopse von altem und neuem Recht hervor: AWG §34 Straftaten (a.F.)

AWG §34 Straftaten (n.F.)

(4) Mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren wird bestraft, wer einer Vorschrift dieses Gesetzes oder einer auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnung oder einem im Bundesgesetzblatt oder im Bundesanzeiger veröffentlichten Rechtsakt der Europäischen Gemeinschaften zur Beschränkung des Außenwirtschaftsverkehrs, die der Durchführung einer vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme dienen, zuwiderhandelt. In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren.

(4) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer 1. einer Rechtsverordnung nach §2 Abs. 1 in Verbindung mit §5 oder §7 Abs. 1 oder 3 Satz 1 zuwiderhandelt, die der Durchführung a) einer vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen oder b) einer vom Rat der Europäischen Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme dient, soweit die Rechtsverordnung für einen bestimmten Tatbestand auf diese Strafvorschrift verweist und die Tat nicht in Absatz 6 Nr. 3 mit Strafe bedroht ist oder

2 BGBl. 1/2006, 574. Nach eigenem Bekunden verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, „bestehende Strafbarkeitslücken im Rahmen der genehmigungspflichtigen technischen Unterstützung zu schließen und die Strafbewehrung von Embargoverstößen differenzierter zu gestalten und damit auch den Bedürfnissen der Justiz anzupassen.“ (BT-Drs. 16/33, S. 10); ausf. zur Genese s. Bieneck, NStZ 2006, 608ff. Zum Verhältnis zwischen altem und neuem Recht s. Ahlbrecht, wistra 2007, 88.

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2. einem im Bundesanzeiger veröffentlichten, unmittelbar geltenden Ausfuhr-, Verkaufs-, Liefer-, Bereitstellungs-, Weitergabe-, Dienstleistungs-, Investitions-, Unterstützungs- oder Umgehungsverbot eines Rechtsaktes der Europäischen Gemeinschaften zuwiderhandelt, der der Durchführung einer vom Rat der Europäischen Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme dient. (5) In den Fällen der Absätze 1 und 2 ist (5) In den Fällen der Absätze 1, 2 und 4 ist der Versuch strafbar. der Versuch strafbar. (6) In besonders schweren Fällen der Absät- (6) Mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahze 1 und 2 ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht ren wird bestraft, wer unter zwei Jahren. Ein besonders schwerer 1. durch eine in Absatz 1 oder 2 bezeichnete Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter Handlung 1. die Gefahr eines schweren Nachteils für a) die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt oder Deutschland herbeiführt, b) das friedliche Zusammenleben der Völ2. gewerbsmäßig oder als Mitglied einer ker stört oder Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung c) die auswärtigen Beziehungen der Bunsolcher Straftaten verbunden hat, unter Mitdesrepublik Deutschland erheblich stört, wirkung eines anderen Bandenmitglieds handelt. 2. eine in Absatz 1, 2 oder 4 bezeichnete Handlung gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Straftaten verbunden hat, unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitglieds begeht 3. eine in Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 bezeichnete Handlung begeht und dadurch einem im Bundesanzeiger veröffentlichten Ausfuhrverbot der dort genannten Güter zuwiderhandelt, das in a) einer Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen oder b) einem Rechtsakt der Europäischen Union im Bereich der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik enthalten ist oder

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Lorenz Schulz 4. eine in Absatz 4 bezeichnete Handlung begeht, die geeignet ist, a) die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, b) das friedliche Zusammenleben der Völker oder c) die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland erheblich zu gefährden.

(7) Handelt der Täter in den Fällen der Absätze 1, 2 oder 4 fahrlässig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. (8) Ohne Genehmigung im Sinne des Absatzes 1 handelt auch, wer auf Grund einer durch unrichtige oder unvollständige Angaben erschlichenen Genehmigung handelt. Satz 1 gilt in den Fällen der Absätze 2 und 4 entsprechend.

(8) Ohne Genehmigung im Sinne des Absatzes 1 handelt auch, wer auf Grund einer durch Drohung, Bestechung oder durch Zusammenwirken eines Amtsträgers mit dem Antragsteller zur vorsätzlichen Umgehung der Genehmigungsvoraussetzung erwirkten oder durch unrichtige oder unvollständige Angaben erschlichenen Genehmigung handelt. Satz1 gilt in den Fällen der Absätze 2 und 4 entsprechend.

Die Herabstufung des früheren Verbrechenstatbestands zum Vergehen durch §34 Abs. 4 AWG n.F. ist gewissermaßen teuer erkauft. So wurde die Mindeststrafe für Verstöße gegen §34 Abs. 4 AWG n.F. mit sechs Monaten so hoch wie möglich angesetzt. Weiterhin entfiel der minder schwere Fall des §34 Abs. 4 S. 2 AWG a.F. mit einer Mindeststrafe von 3 Monaten ersatzlos. In §34 Abs. 5 AWG n.F. wurde für den §34 Abs. 4 AWG die Versuchsstrafbarkeit eingeführt. Der nunmehr als Qualifikation ausgestaltete Abs. 6 wurde auch auf Abs. 4 erstreckt. Eine zusätzliche Ausdehnung des Tatbestands bewirkte die Gleichstellung des UN-Embargos mit dem EG-Embargo, dessen Verstoß bisher nur als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden konnte. 3 Weiterhin dehnt die in Anpassung an die Begrifflichkeit der DualUse-VO vorgenommene Ersetzung des Begriffs der Waren durch den der Güter den Tatbestand von §34 Abs. 1 und 3 AWG n.F. aus, weil nun beim Merkmal der Förderung jede Art von Technik (Hardware und Software) erfasst wird. Auch die verfahrensrechtlichen Zugriffsmöglichkeiten wurden durch die gesteigerte Informationspflicht des Betroffenen (§44 AWG n.F.) erweitert. Danach hat der Verpflichtete seine Daten dem jederzeitigen behördlichen Zugriff auf eigene Kosten zu öffnen. Schließlich trug der Gesetzgeber in Abs. 6 mit der Ausgestaltung 3

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der bisherigen Regelbeispiele als Qualifikationsmerkmale der Kritik an der Regelbeispielstechnik Rechnung, die insbesondere auf die Unbestimmtheit zielte, die sich durch den möglichen unbenannt schweren Fall ergibt. 4 Im Ergebnis kann man nicht einfach von Herabstufung oder Dekriminalisierung sprechen. Vielmehr erreichte der Gesetzgeber subkutan das Gegenteil, so dass ein Fall apokrypher Kriminalisierung vorliegt. 5 Denn selbst für die Fälle von Privatpersonen, für die eine gesetzgeberische Herabstufung angemahnt wurde, kann man zwar vordergründig auf die mit der Herabstufung verbundene Flexibilisierung in der Aburteilung (Einstellungen, Absprachen etc.) verweisen, die vormals nur indirekt über den minder schweren Fall zu erreichen war. 6 Dem steht im Hinblick auf den minder schweren Fall die Anhebung von drei auf sechs Monate gegenüber. Hinzu kommt durch die Aufgabe der Regelbeispielstechnik in Abs. 6 eine gravierende Verschärfung für den Fall, dass Personen in den Verdacht geraten, gewerbsmäßig zu handeln. 7 Wenngleich der Embargo-Verstoß nach Abs. 4 ein Vergehen ist, liegt im Fall der Gewerbsmäßigkeit dann ein Verbrechen gem. Abs. 6 vor. Zwar ändert sich damit nicht der bereits nach a.F. in Abs. 4 gegebene Strafrahmen. Doch es entfällt die mit der vorherigen Milderungsmöglichkeit einhergehenden Flexibilität der Aburteilung. Apokryphe Kriminalisierungen zeugen nicht nur von schlechtem Stil. Das zeigt eine überraschende Schwierigkeit, die bei unserem Beispiel für den Meistbegünstigungsgrundsatz (in dubio mitius) auftritt. Wenn nämlich die funktionale Äquivalenz des minder schweren Falls nach altem Recht und der Regelstrafbarkeit nach neuem Recht bei Tageslicht zweifelhaft ist, stellt sich zugleich die Frage, welches Gesetz nun das mildere ist. Diese Frage wird geschärft, wenn man die Ersetzung der Regelbeispiele durch Qualifikationsmerkmale hinzu nimmt. Sie erhält ihr für §34 AWG spezifische Wendung dadurch, dass der feindstrafrechtliche Tatbestand des §34 Abs. 4 AWG a.F. nur die Suggestion der in §34 Abs. 6 AWG a.F. enthaltenen Regelbeispiele enthält. Während das Narrativ vom „Ausschwitz in der Wüste“, das in erster Linie zur Ausgestaltung des §34 AWG zu einem scharfen Schwert für den außenwirtschaftsstrafrechtlichen Kreuzzug des damaligen Gesetzgebers führte, noch den Feind assoziieren lässt, ist er schier nicht mehr zu identifizieren in jenen Fällen, die in der jüngeren Vergangenheit die deutschen Strafverfolgungsbehörden systematisch beschäftigt haben. Sie zeigen, dass die Außenwirtschaftskriminalität keinen Anlass für ein Sonderstrafrecht liefert, sondern nicht mehr ist als ein Beispiel von Wirtschaftskriminalität.

4

Vgl. MK-Schmitz, §2 Rn. 54. Vgl. Schulz, L., ZIS 2006, 499ff. 6 BT-Drs. 16/33, S. 10. 7 Dies betrifft typischerweise das Handeln für Unternehmen, deren Aktivität profitorientiert und auf dauerhafte Geschäfte ausgerichtet ist. 5

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II. Oil for Food Im Juli 1990 beschloss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unter Führung der USA und des Vereinigten Königreichs Großbritannien mit zeitweiliger Unterstützung durch Frankreich ein umfassendes und unbefristetes Paket von Überwachungsmaßnahmen, Reparationen und Wirtschaftssanktionen, d.h. ein Embargo gegen den Irak (UN-Dok. S / RES/661 – 1990 – vom 6.8.1990 und UNDok. S / RES/670 – 1990 – vom 25.9.1990). Dieses Embargo wurde in Deutschland durch die 10.Änderungsverordnung zur Außenwirtschaftsverordnung vom 9. August 1990 umgesetzt. Da eine Beendigung des Embargos einen erneuten Beschluss des Sicherheitsrates erfordert hätte, der wegen eines zu erwartenden Vetos der USA illusorisch war, verfolgte die UN zur Unterstützung der notleidenden Zivilbevölkerung eine Strategie der Lockerung des Embargos. 8 Um die Versorgung der irakischen Bevölkerung zu verbessern, wurde das so genannte Programm Oil for Food („Öl für Lebensmittel“) beschlossen, mit dem das Embargo im April 1995 gelockert wurde. 9 Danach sollte der Irak kontrolliert Öl verkaufen dürfen und aus dem Erlös des Ölverkaufs über ein UN-Treuhandkonto Nahrungsmittel und Medizin für die irakische Zivilbevölkerung importieren. Die Auswahl der beteiligten Firmen musste allerdings dem Irak überlassen werden. Die UN nahm damit politische und ökonomische Manipulationen durch den Irak in Kauf. 10 Der Irak verlangte von den UN zunächst eine Zusatzabgabe auf Ölverkäufe, vorgeblich um seine Ölanlagen erneuern zu können. Als dies abgelehnt wurde, begann das Regime inoffiziell, „loading fees“ und „commissions“ zu erheben. 11 Gerade Unternehmen, die humanitäre Güter in den Irak lieferten, wurden systematisch zu embargowidrigen Zahlungen veranlasst. Im Herbst 2000 erklärte der Oberste Kommandorat einen Aufschlags in Höhe von 10 % des Auftrags für verpflichtend. Interne Dokumente, die vom UNUntersuchungsausschuss herangezogen wurden, belegen, dass Zahlungen an die „ISCWT“ als durch die irakische Regierung kontrolliert galten. 12 Die Umsetzung des Programms in EU-Recht erfolgte mit den EG-Verordnungen Nr. 3541/92 und Nr. 2465/96, die für das deutsche Recht unmittelbare Wirkung entfalteten. In der Außenwirtschaftsverordnung (AWV) wurde dies ergänzend durch die §§69a und 69e AWV geregelt. 13 Zahlungen oder Vermögensübertragungen durch Gebiets8

Vgl. Williams, Ian, „Öl für Lebensmittel“. Das Programm, der „Skandal“ und die Geschichte dahinter, in: Vereinte Nationen 2007, 10f. 9 UN-Dok. S / RES/986 – 1995 – vom 14.4.1995. 10 Paul A.Volcker / Richard J.Goldstone / Mark Pieth, The Management of the United Nations Oil-For-Food Programme, September 7, 2005, 4 Volumes, I pp 49 ff, IV pp 109 ff (Zusammenfassung 170 ff). 11 Paul A.Volcker / Richard J.Goldstone / Mark Pieth, Manipulation of the Oil-For-Food Programme by the Iraqi Regime, October 27, 2005, Report and Tables, Report Nr. 3. 12 Volcker / Goldstone / Pieth, Manipulation, a.a.O. (Fn. 11), 276 ff und 271.

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ansässige wurden so gem. §69e Abs. 2 AWV genehmigungsfähig. Sie konnten durch das Bundesamt für Außenwirtschaft (BAFA) und die UN, deren Sanktionsausschuss die Ausfuhr regelmäßig zu bestätigen hatte, genehmigt werden. Hierin lag eine Ausnahme vom grundsätzlichen Zahlungsverbot, das jegliche Zahlungen oder Vermögensübertragungen in den Irak hinein umfasste. 14 Nimmt man die Lieferung von medizinischen Bedarfsgütern als Beispiel, verlief das Procedere wie folgt: Über den Antrag, den die Lieferfirma bei der jeweiligen irakischen „State Company“ oder dem zuständigen Gesundheitsministerium (Ministery of Health, MOH) bzw. deren Einkaufsbehörde (KIMADIA) zu stellen hatte, entschieden MOH / KIMADIA nach eigenem Gutdünken (und nicht nach UN-Vorgaben). Wurde der Zuschlag erteilt, war der entsprechende Vertrag einschließlich zahlreicher Unterlagen durch die Lieferfirma dem UN-Sanktionsausschuss zur Genehmigung vorzulegen. Genehmigte dieser den Auftrag, gab er Geld aus dem Verkauf von Erdöl, d.h. aus dem entsprechenden Treuhandkonto der UN, im Rahmen des laufenden Tenders frei. Nach Genehmigung war das Geschäft innerhalb eines halben Jahres abzuwickeln. Parallel dazu erteilte die irakische Zentralbank der Bank, bei der das Treuhandkonto geführt wurde (hier: die BNP Paribas), den Auftrag, unwiderruflich zugunsten der Lieferfirma ein Akkreditiv zu eröffnen. Die Auszahlung erfolgte nach Vorlage der handelsüblichen Dokumente, der erwähnten Genehmigung und einer Lieferbestätigung durch die UN. Gegen Ende der Laufzeit wurde durch das Programm die weit überwiegende Mehrheit der Zivilbevölkerung (80 %) mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt. Wenngleich die amerikanischen Besatzungsbehörden nach ihrem Einmarsch in den Irak im Jahr 2003 an der Weiterführung des Programms interessiert waren, wurde es durch die UN-Sicherheitsrats-Resolution 1482 (2003) vom 22.05.2003 beendet. 15

13 ABl. EG Nr. L337, S. 1, BAnz. Vom 28.01.1997, S. 747 (zu Anlage, S. 4 f); weiterhin Haug / Häge, in: Bieneck, Handbuch Außenwirtschaftsrecht, 2. Aufl. 2005, §12 Rn. 39ff. und Bieneck, in: a.a.O., §30 Rn. 20ff; Khan / Woll, Teil IV, Kap. VII a (§69a AWV), in: Hohmann / John, Ausfuhrrecht, 2002, vor §69a AWV Rn. 1 ff, 14; Ogiermann, in: Achenbach / Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2004, III Rn. 53ff. 14 Die Möglichkeit einer Genehmigung durch das BAFA im Rahmen des Programms beseitigte die grundsätzlich gegebene Strafbarkeit (§34 Abs. 4 AWG i.V.m. §69e AWV). 15 Zur Genese und zur Beendigung des Programms unter politischen Aspekten vgl. Meyer, Jeffrey A. / Califano, Mark G., Good Intentions Corrupted, New York 2006, basierend auf dem Report des von Paul A.Volcker geführten unabhängigen Untersuchungsausschusses und mit einer 40seitigen Einführung Volckers; siehe dazu die Kritik von Williams, a.a.O. (Fn. 8), 10 –15. Die UN-Resolution wurde in Deutschland durch Aufhebung der Sanktionsvorschriften (namentlich des §69e AWV) durch die am 27.08.2003 in Kraft getretene 60.Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung vom 26.08.2003 umgesetzt; BT-Drs. 15/1499.

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Inzwischen wurde Oil for Food zum Stichwort für zahlreiche Strafverfahren in den USA und mehr noch in Europa, wo vor allem Österreich und die Schweiz mit jeweils ca. 40 Verfahren sowie Deutschland mit ca. 60 Verfahren zu nennen sind. 16 Obwohl die Bestechungstatbestände fern lagen, 17 wurde von den Nichtregierungsorganisationen und den Medien der Embargomissbrauch als „größter Bestechungsskandal aller Zeiten“ publikumsträchtig skandalisiert. 18 In Deutschland nutzte „Transparency International“ die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vor dem G-8-Treffen in Heiligendamm, um darauf hinzuweisen, dass 57 deutsche Firmen im Verdacht ständen, im Rahmen des UN-Programms durch angebliche „Schmiergeldzahlungen“ gegen die OECD-Leitsätze zur Vermeidung der Korruption verstoßen zu haben. 19 Über den Gang der deutschen Verfahren wird von beteiligten Strafverteidigern wenig Verallgemeinerungsfähiges berichtet: Die Aburteilungspraxis ist – wegen einer Reihe von unbestimmten Rechtsbegriffen im Straftatbestand des §34 AWG nicht überraschend – nicht einheitlich; die für das Wirtschaftsstrafrecht typische Erledigungspraxis reicht von Einstellungen nach §170 Abs. 2 StPO bis zu Einstellungen §153a StPO. III. In dubio mitius Der Grundsatz der Meistbegünstigung (§2 Abs. 3 StGB) sieht die Anwendung nicht des Tatzeitstrafgesetzes, sondern des mildesten Gesetzes vor, wenn das Gesetz, welches bei Beendigung der Tat galt, vor der Entscheidung eines Gerichts geändert wird. Die Strafrahmenänderung durch den §34 Abs. 4 AWG n.F. ist nur dann ein Fall der Anwendung des Meistbegünstigungsgrundsatzes, wenn §34 Abs. 4 AWG allein oder mit der in Bezug genommenen, durch die 60. Änderungsverordnung zur AWV vom 21. August 2003 aufgehobenen Verbotsnorm des 69e AWV 20 kein Gesetz ist, das nur für bestimmte Zeit gilt (Zeitgesetz, §2 Abs. 4 S. 1 StGB).

16

Zur Strafverfolgung in der Schweiz s. Pieth, Mark, „Öl für Lebensmittel“ – Aufpreise für Aufträge, Festschrift Tiedemann 2008. 17 Pieth, a.a.O. (Fn. 16). 18 Beispielhaft Sonia Mikich im ARD-Magazin „Monitor“ vom 3.11.2005. 19 TI hatte zugleich eine juristisch ominöse „Beschwerde“ beim Bundeswirtschaftsministerium eingelegt; Süddeutsche Zeitung vom 6.6.2007. 20 Beschränkungen aufgrund der Resolutionen 1483 (2003) vom 7. Juli 2003 und 1546 (2004) vom 8. Juni 2004 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (Kapitel VII der Charta).

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a) Zeitgesetz gem. §2 Abs. 4 StGB Zeitgesetze sind nicht nur kalendermäßig befristete Gesetze (Zeitgesetz i.e.S.), sondern für die Rechtsprechung auch Gesetze, mit denen der Gesetzgeber keine Regelung auf Dauer treffen, sondern in erster Linie eine flexible Regelung nach Zweckmäßigkeit erreichen will (Zeitgesetz i.w.S.). 21 Ein Indiz für ein Zeitgesetz liegt darin, dass ein Gesetz nur novelliert wurde, um es den sich ändernden Umständen anzupassen. 22 So werden Zeitgesetze als Gesetze begriffen, die ausschließlich auf besondere Zeitverhältnisse zugeschnitten sind und mit deren Beendigung die Regelung ihren Gegenstand verliert. 23 Embargostraftatbestände sind typischerweise nicht auf Dauer angelegt und zählen zu den geläufigen Beispielen von Zeitgesetzen, mit denen auf Wirtschafts- oder politische Krisen reagiert wird. 24 So wurde beispielsweise von der Rechtsprechung das Serbien-Embargo (Art. 69k AWV a.F.) als Zeitgesetz angesehen. 25 Das spricht vorliegend für die Annahme eines Zeitgesetzes. 26 Allerdings ist die Rahmennorm, auf die sich die Regelungen der AWV beziehen, selbst ohne jegliche Zeitbeschränkung ausgestattet. §34 Abs. 4 AWG selbst ist deshalb als Blankettstrafgesetz ein Tatbestand, der auf Dauer angelegt die in ihrer Geltung nicht befristete Grundnorm für die Sanktionierung von historisch kontingenten Verstößen gegen das Außenwirtschaftsrecht liefert. 27 Nach diesem Ausgangspunkt ist nur die Ausfüllungsnorm des Art. 69e AWV selbst aufgrund der beschränkten Geltung für die Dauer des Irak-Embargos als Zeitgesetz gem. §2 Abs. 4 StGB. Damit kann §2 Abs. 3 StGB auf §34 Abs. 4 AWG bezogen werden. b) Vergleichbarer Tatbestand (Unrechtskontinuität; §2 Abs. 3 StGB) Neben der Voraussetzung des Nichtvorliegens eines Zeitgesetzes erfordert die Anwendung von §2 Abs. 3 StGB eine Unrechtskontinuität zwischen alter und neuer Fassung. Das in dem früheren Gesetz definierte Delikt darf in seinem Kern von der Gesetzesänderung nicht angetastet werden. 28 Das wäre dann der Fall, 21

Vgl. BGH NJW 1952,72, BGHSt 18,12,14; 40, 378, 381f. BGHSt 20,177,183. 23 Vgl. Fischer, StGB, 55. Aufl., §2 Rn. 13; Eser, in: Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, §2 Rn. 36 m. N. 24 Zu nennen sind auch befristete Investitionszulagen, der Einführung eines Sonntagsfahrverbots u.ä.; siehe Eser, in: Schönke-Schröder, §2 Rn. 38 m.N. 25 BGH StV 99, 26. 26 Vgl. Bieneck, a.a.O. (Fn. 13), §25 Rn. 36. 27 Hohmann, Harald, Teil III (AWG), in: ders. / John, Ausfuhrrecht, München 2002, vor §§33, 34, Rn. 160. 28 BGHSt 26, 167, 172f; insoweit zustimmend Eser, in: Schönke-Schröder, §2 Rn. 24; Fischer, §2 Rn. 5; siehe auch Dannecker / Freitag, ZStW 116 (2004), 815 zu §34 Abs. 4 AWG a.F.; kritisch NK-Hassemer / Kargl, §2 Rn. 29. 22

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wenn der Gesetzgeber durch die umfassende Neugestaltung eines Tatbestands zu erkennen gibt, dass er nicht mehr das bislang pönalisierte, sondern ein wesentlich anderes Verhalten als Unrecht vorstellt. Die Vergleichbarkeit, die mit der Unrechtskontinuität einhergeht, besteht namentlich dann, wenn der Gesetzgeber die Altregelung nur verbessern will. §34 Abs. 4 S. 1, 1.Alt AWG a.F. stellt Verstöße gegen Rechtsverordnungen zur Beschränkung des Außenwirtschaftsverkehrs unter Strafe, die der Durchführung einer vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme dienen. Das gilt gleichermaßen für die Neuregelung, die nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers eine gerechtere Lösung für die vormaligen Fälle geringer Schuld enthalten sollte. Würde man den Vergleich isoliert auf §34 Abs. 4 AWG beziehen, dann ließe sich die Unrechtskontinuität bejahen, weil das früher pönalisierte Verhalten der Ausgangspunkt der Novelle ist und §34 Abs. 4 n.F. im Vergleich zum alten Recht im Wesentlichen das Strafmaß nur verringert. Nach der Rechtsprechung, die an das Vorliegen eines gemeinsamen Unrechtskerns von altem und neuem Recht keine hohen Anforderungen stellt und insbesondere in der Differenz von Strafzumessungsregeln und Qualifikationsmerkmalen nur eine rein gesetzestechnische, den materiellen Kern nicht berührende Frage sieht, 29 läge diese Weichenstellung nahe. Am Fortbestehen des Grundtatbestands des Embargoverstoßes nach §34 Abs. 4 AWG n.F. besteht kein Zweifel, der Neugestaltung in Abs. 6 käme nur formaler Wert zu. Nach dieser Lösung wären die nachfolgenden Überlegungen allein bei der Prüfung des milderen Gesetzes von Belang. Dann wäre das Ergebnis vorgezeichnet, wie die Entscheidung des Großen Senats vom 10. Juli 1975 zeigt. Bei ihr ging es um den Zusammenhang von Straßenraub (§250 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F.) und Raub zur Nachtzeit in einem bewohnten Gebäude (§250 Abs. 1 Nr. 4 StGB a.F.) im Verhältnis zum Raub mit Waffen (§250 Abs. 1 Nr. 2 StGB a.F.). Den Qualifikationstatbestand des Straßenoder Nachtraubs hatte der Gesetzgeber aufgehoben, weil er erkannt hatte, dass sich dabei um einen Normalfall des Raubes handelte. An die Stelle der vormaligen Qualifikation trat der Raub mit nicht geladenen Waffen. Wenn die h.L. auch der Rechtsprechung in der Lehre der Unrechtskontinuität gefolgt ist, der Annahme der Kontinuität im Hinblick auf die genannten Qualifikationsmerkmale hat sie mit Recht widersprochen und im genannten Fall eine Strafbarkeit nur nach dem Grundtatbestand (§249 StGB) angenommen. 30 29

BGHSt 26, 167, 173 („formale Frage der Gesetzestechnik“). Tiedemann, JZ 1975, 693; Eser, in: Schönke / Schröder, §2 Rn. 25; LK-Dannecker, §2 Rn. 73; MK-Schmitz, §2 Rn. 23; NK-Hassemer / Kargl, §2 Rn. 28; Jescheck / Weigend, AT §15 IV 5; Roxin, AT, 4. Aufl., §5 Rn. 674. 30

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Vor diesem Hintergrund ist für §34 AWG n.F. bereits für die Frage der Unrechtskontinuität die Gesamtregelung, insbesondere das Gefüge von Grundtatbestand und Qualifikation, zu beachten. Hier gilt es, die bereits genannten Gesichtspunkte abzurufen (Hebung des Strafrahmens beim minder schweren Fall auf sechs Monate etc.) und mit ihnen die Frage der Vergleichbarkeit wieder aufzunehmen. Maßgeblich für die Antwort ist nicht ein der Formulierung des Tatbestands vorgelagerter, vager „Unrechtskern“ oder „Unrechtstyp“, sondern seine spezifische Vertypung in einem gesetzlichen Tatbestand (Art. 103 Abs. 2 GG), der Voraussehbarkeit garantiert und damit das Schuldprinzip wahrt. 31 Im Hinblick auf den Sachverhalt ist für den Vergleich vom Sachverhalt im Zeitpunkt der Handlung auszugehen, d.h. vom Sachverhalt, wie er sich nach dem alten Recht dem Normadressaten dargestellt hat. Das schließt den Vorsatz ein. Wird nach neuem Recht verurteilt, muss nicht zuletzt die Vorsatzkontinuität gewährleistet sein. 32 c) Mildestes Gesetz Wenn die vorstehenden Ausführungen nun auf den Fall des §34 Abs. 4, 6 AWG a.F. / n.F. gewendet werden, fällt die Frage der Unrechtskontinuität sachlich zusammen mit der Frage, welche Fassung die mildere ist. Die Frage nach dem milderen Gesetz ist nach allgemeiner Ansicht aufgrund einer konkreten Betrachtung zu beantworten, 33 in der die Gesamtheit der dem Täter drohenden Strafnachteile berücksichtigt wird. 34 Ändert der Gesetzgeber beispielsweise eine Norm so, dass ihr für besonders schwere Fälle ein höherer, für besonders leichte ein geringerer Strafrahmen hinzugefügt wird, dann soll das mildere Gesetz nur jenes sein, das in concreto den besonders leichten Fall ergibt. 35 Anerkannt ist dies für die Verjährungsfrist, da die Verjährung als Verfahrenshindernis nicht die Strafdrohung an sich, sondern nur die Verfolgbarkeit berührt. 36 Demnach ist die durch die Novellierung von §34 Abs. 4 AWG bedingte erhebliche Verkürzung der Verjährung beachtenswert. 37 31

Vgl. LK-Dannecker, §2 Rn. 74; NK-Hassemer / Kargl, §2 Rn. 30. LK-Dannecker, §2 Rn. 76. 33 Roxin, AT §5 Rn. 65; Eser, in: Schönke / Schröder, §2 Rn. 30; Fischer, §2 Rn. 10, jeweils m.N. 34 Da es für unseren Zusammenhang des §34 AWG nicht um Nebenstrafen und Nebenfolgen geht, kommt es auf eine Auseinandersetzung mit dem Grundsatz der strikten Alternativität nicht an, mit dem die Rechtsprechung der konkreten Betrachtung eine spezifische Pointe verliehen hat; zur Kritik s. LK-Dannecker Rn. 115; MK-Schmitz Rn. 35; Eser, in: Schönke / Schröder, §2 Rn. 34; NK-Hassemer / Kargl, §2 Rn. 45. 35 Vgl. bereits RGSt 75, 310. 36 BVerfG NJW 2000, 1554. 37 OLG München, wistra 2007, 34, 35; vgl. Fischer, §2 Rn. 7; Lackner / Kühl §2 Rn. 6 a; NK-Hassemer / Kargl, §2 Rn. 24. Während nach altem Recht in Verbindung mit §§78 Abs. 3 Nr. 2, 38 Abs. 2 StGB eine Frist von zwanzig Jahren galt, verkürzt sich diese nach neuem Recht auf fünf Jahre. 32

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Für den vorliegenden Zusammenhang könnte man die beim Versicherungsbetrug nach dem 6. StrRG entwickelte Rechtsprechung zum Ausgangspunkt nehmen. Danach kann die Abstufung zum Vergehen durch eine Aufstufung mittels strafschärfender Regelbeispielen ausgeglichen werden. 38 Dies ist zwar nicht auf Qualifikationsmerkmale gemünzt, doch könnte der Ausgleich erst recht für den Fall des §34 AWG gelten und sich dann §34 AWG a.F. als günstigere Norm erweisen, 39 weil das Qualifikationsmerkmal ein Regelbeispiel in den oben genannten Hinsichten überbietet. Diese Lösung setzt indes voraus, was oben offen geblieben ist: die Unrechtskontinuität zwischen altem und neuem Recht. Beim Vergleich zwischen §34 Abs. 4 und 6 AWG a.F. und §34 Abs. 4 und 6 AWG n.F. geht es, darin liegt die Pointe der Novellierung, nicht um die schlichte Ersetzung der Regelbeispiele durch Qualifikationsmerkmale. Vielmehr geht die Herabstufung von Abs. 4 zum Vergehen damit einher, dass Abs. 6 auch für Abs. 4 gilt. Nur eine abstrakte, am „Unrechtskern“ jenseits der Vertatbestandlichung orientierte Betrachtung könnte es ermöglichen, mit Verweis auf den analogen Strafrahmen Abs. 6 a.F. in Abs. 4 a.F. gewissermaßen materiell hineinzulesen und damit das Problem auf eine „bloß formale“ Ersetzung von Regelbeispielen durch Qualifikationsmerkmale zu reduzieren. Dem kann nach den vorstehenden Ausführungen nicht gefolgt werden. IV. Die Lösung kann danach nur lauten, dass für den Embargoverstoß nach §34 Abs. 4 AWG eine Unrechtskontinuität nur im Bezug auf den Grundtatbestand (Abs. 4) besteht; die Qualifikation von Abs. 6 hat unberücksichtigt zu bleiben. 40 Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass der alte Tatbestand ohnehin sämtliche Verstöße gegen UN-Embargos einheitlich als besonders strafwürdig einstufte und Abs. 4 die banden- oder gewerbsmäßige Begehung nicht ausdrücklich benennen musste. Wäre dem so, dann wäre der Gesetzgeber in Zukunft seiner Aufgabe entledigt, Tatbestandsvarianten, Schärfungen, Qualifikationsmerkmale etc. zu formulieren und könnte sich darauf beschränken, einen Pflichtenverstoß zu 38

BGH vom 15.9.1998 – 1StR 290/98, NStZ 1999, 32, 33; BGH vom 20.5.1999, – 4 StR 718/98, NStZ 1999, 556; BGH vom 19.10.1999 – 4 StR 471/99, NStZ 2000, 93; BGH vom 28.10.1999 – 4 StR 460/99, NStZ 2000, 136 zur Neuregelung des Versicherungsbetrugs gem. §265 StGB durch das zum 1.4.1998 in Kraft getretene 6. StrRG, der formell subsidiär zum neu eingeführten §263 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 ist. 39 Zum argumentum a minore ad maius s. Joerden, Logik im Recht, Berlin / Heidelberg 2005, 323ff. 40 Vgl. Eser, in: Schönke / Schröder, §2 Rn. 34; MK-Schmitz, §2 Rn. 36; in diesem Sinn für die Oil for Food-Fälle Ahlbrecht, wistra 2007, 88.

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normieren und daran eine hohe Strafdrohung zu knüpfen. Mehr als eine Suggestion der in §34 Abs. 6 AWG a.F. enthaltenen Regelbeispiele ist dem Tatbestand des §34 Abs. 4 AWG a.F. nicht zu entnehmen. Dass nur der Grundtatbestand und nicht §34 Abs. 6 AWG n.F. herangezogen werden darf, bestätigt die Vorsatzprüfung. Mag der Täter auch banden- oder gewerbsmäßig gehandelt haben, so kann dies für die Vorsatzprüfung keine Rolle spielen, weil es am gesetzlich normierten, objektiven Anknüpfungspunkt fehlt, auf den sich der Vorsatz beziehen könnte. Zu fragen bleibt demnach, ob die Alt- oder Neufassung von §34 Abs. 4 AWG für den Normadressaten günstiger ist. Zwar hebt die Neufassung gegenüber dem minder schweren Fall nach §34 Abs. 4 S. 2 AWG a.F. die Mindeststrafe auf sechs Monate an, doch erweist die Gesamtwürdigung der Nachteile im konkreten Fall die Neufassung das die mildere Norm. Damit gehört die Novelle des §34 AWG zu dem klassischen Fall einer Milderung. 41 Entscheidend ist die durch die Herabstufung zum Vergehen bewirkte Verkürzung der Verjährungfrist auf 5 Jahre. 42 Nach dieser Lösung sind die bei den Fällen Oil for Food inkriminierten, nicht genehmigten Zahlungen in den Irak nach §34 Abs. 4 AWG n.F. ausschließlich als Vergehen zu verfolgen.

41 42

Vgl. Eser, in: Schönke / Schröder, §2 Rn. 30; MK-Schmitz, §Rn. 36. So auch OLG München, wistra 2007, 34.

Der Schutz der internationalen Rechtspflege durch das nationale Strafrecht am Beispiel der Aussagedelikte (§§153ff. StGB) Arndt Sinn I. Einführung Mit der Errichtung internationaler und supranationaler Gerichte geht auch die Notwendigkeit einher, die damit etablierte internationale Rechtspflege durch das Strafrecht zu schützen. Hinsichtlich der Verfahren vor den internationalen Gerichten bedeutet das, Falschaussagen bestrafen zu können. In der Regel fehlt den internationalen Gerichten aber mangels auf sie anwendbarer Straftatbestände die Macht, eine solche Bestrafung herbeiführen zu können, weshalb die nationalen Straftatbestände dieses Machtvakuum beseitigen sollen. Die Aussagedelikte sind ein gutes Beispiel dafür, dass sich der Schutz der internationalen Rechtspflege nicht ohne Weiteres in das nationale Strafrecht integrieren lässt. Vielmehr gilt es, die Straftatbestände einerseits und das sog. Internationale Strafrecht (Strafanwendungsrecht, §§3ff. StGB) andererseits aufeinander abzustimmen und die Prinzipien des Strafrechts dabei nicht aus den Augen zu verlieren. Der folgende Beitrag stellt den Schutz der internationalen Rechtspflege im Zusammenhang mit den Vorschriften des Strafanwendungsrechts am Beispiel der Aussagedelikte dar und geht dabei insbesondere auf den kürzlich neu eingefügten §162 Abs. 1 StGB („Internationale Gerichte“) ein. II. Ausgangslage: nationales Strafrecht Damit die nationalen Aussagestraftatbestände auch zum Schutz der internationalen Rechtspflege Geltung beanspruchen und auch Auslandstaten erfasst werden können, müssen zwei Hürden überwunden werden. Das ist erstens die Hürde des Schutzbereiches des nationalen Straftatbestandes (III. – IV.) und zweitens die der Reichweite des deutschen Strafrechts bei Straftaten, die im Ausland begangen werden (V.). Denn das sog. internationale Strafrecht (Strafanwendungsrecht) kann den Anwendungsbereich der Strafvorschrift nicht beeinflussen, vielmehr nimmt es die Strafvorschrift so, wie es sie vorfindet. 1 1

Vgl. Lüttger, in: FS Jescheck, 1985, S. 121 (175).

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Arndt Sinn

III. Die Reichweite des Schutzbereichs der Aussagedelikte (§§153ff.) Zwar würde der Wortlaut der §§153ff. StGB es durchaus zulassen, auch internationale Gerichte in die Definition des Begriffs „Gericht“ einzubeziehen, allerdings schützen die Aussagedelikte grundsätzlich nur die innerstaatliche Rechtspflege. 2 Aufgrund dieses Befundes geht die h.M. auch davon aus, dass Aussagen vor internationalen oder supranationalen Gerichten nur dann entsprechend den nationalen Strafvorschriften bestraft werden können, wenn ein Gesetz oder ein ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag dies ausdrücklich vorsehen. 3 IV. Schutzbereichserweiterung durch vertragliche Vereinbarungen Für eine Vielzahl völkerrechtlicher Verträge zur Errichtung internationaler oder supranationaler Gerichte wird angenommen, dass sich bereits aus den entsprechenden vertraglichen Vereinbarungen (insb. den Verfahrensordnungen) eine Schutzbereichserweiterung ergebe. 4 Dies sei bspw. für Art. 72 der Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 2.5.1991 5, Art. 46 der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 18.9.1959 i.d.F. vom 27.11.1989 6 und der Bekanntmachung vom 3.1.1992 7 und Art. 70 Abs. 4 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes vom 17.7.1998 8 sowie bei Art. 30 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 26.2.2001 9 anzunehmen. Methodisch kann der Schutzbereich eines Tatbestandes also dadurch erweitert werden, dass völkervertragliche Vereinbarungen die Reichweite der Norm ausdehnen. 10 Dazu ist aber stets erforderlich, dass der Vertragstext hinreichend bestimmte 2 Vgl. Lackner / Kühl, 26. Aufl. 2007, Vor §§3 –7 Rn. 9 und Vor §153 Rn. 2; Lüttger (ob. Fn. 1), S. 121 (159ff.); Müller, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2005,Vor §§153ff. Rn. 23; Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 1983, Rn. 234 und 782; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, 48. Lfg., 6. Aufl. (August 1999), Vor §153 Rn. 4; Werle / Jeßberger, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2006, Vor §§3ff. Rn. 301; a.A. Hoyer, in: Systematischer Kommentar zum StGB, 26. Lfg., 6. Aufl. (Juni 1997), Vor §3 Rn. 35. 3 Lackner / Kühl (Rn. 2) vor §153 Rn. 2; Sch / Sch / Eser, 27. Aufl. 2006, Vorbem §§3 –7 Rn. 21; Werle / Jeßberger (ob. Fn. 2) Rn. 302. 4 Vgl. etwa Werle / Jeßberger (ob. Fn. 2) Rn. 302f. mit entspr. Nw. zu den Verträgen. 5 Vgl. ABl. 1991 L136, S. 1ff. 6 Vgl. BGBl. II, S. 955. 7 Vgl. BGBl. II, S. 70. 8 Vgl. IStGH-Statut, BGBl. 2000 II, S. 1393. 9 BGBl. II, S. 1687.

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Regelungen enthält. 11 Ein Beispiel, wie eine solche Schutzbereichserweiterung gelingen kann, stellt Art. 30 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 26.2.2001 12 dar: „Jeder Mitgliedstaat behandelt die Eidesverletzung eines Zeugen oder Sachverständigen wie eine vor seinen eigenen in Zivilsachen zuständigen Gerichten begangene Straftat. Auf Anzeige des Gerichtshofs verfolgt er den Täter vor seinen zuständigen Gerichten.“

Mit Art. 30 der EuGH-Satzung wird die Anwendung sämtlicher Strafrechte der Mitgliedstaaten auf jedweden Meineid, unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Täters und des Tatorts angeordnet. 13 Für den einzelnen Mitgliedstaat bedeutet das, sein nationales Strafrecht auf Meineide vor dem EuGH anzuwenden. Dabei ist es im Ergebnis für die Anwendbarkeit des §154 StGB gleichgültig, ob diese im Wege eines supranationalen Gesamttatbestandes 14 hergestellt oder ob nur ein europäisierter nationaler Straftatbestand 15 anzunehmen ist. Von Bedeutung werden die beiden Ansichten erst dann, wenn es um die Anwendbarkeit der §§3ff. StGB geht (vgl. dazu unten XIII.). Ein Beispiel dafür, wie unbestimmt vertragliche Regelungen hinsichtlich einer Schutzbereichserweiterung sein können, stellt Art. 72 der Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 2.5.1991 dar: 16 „Hat ein Zeuge oder Sachverständiger vor dem Gericht unter Eid falsch ausgesagt, so kann das Gericht nach Anhörung des Generalanwalts beschließen, dies der in Anlage III der Zusätzlichen Verfahrensordnung des Gerichtshofes genannten zuständigen Stelle des Mitgliedstaats anzuzeigen, dessen Gerichte für eine Strafverfolgung zuständig sind; Artikel 71 wird berücksichtigt.“

Allein aus der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Strafverfolgung kann man wohl kaum ableiten, dass eine Schutzbereichserweiterung kraft Art. 72 der Verfahrensordnung stattgefunden hat. Zur Erweiterung der nationalen Aussagestraftatbestände gelangt man höchstens durch eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung. Die wenigsten Vertragstexte, welche die internationale oder supranationale Gerichtsbarkeit betreffen, enthalten klare Bestimmungen bezüglich der Aussage10

Vgl. Oehler (ob. Fn. 2) Rn. 912ff.; Müller (ob. Fn. 2) §153 Rn. 47; Ambos, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2003, Vor §§3 –7 Rn. 85; Lackner / Kühl (ob. Fn. 2) Vor §153 Rdn. 2; Lüttger (ob. Fn. 1), S. 166. 11 Vgl. Lüttger (ob. Fn. 1), S. 166; Zieher, Das sog. Internationale Strafrecht nach der Reform, 1977, S. 120; Oehler (ob. Fn. 2) Rn. 782, 912. 12 Vgl. Fn. 9. 13 Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 388. 14 So die h.M. vgl. Hecker, Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2007, §7 Rn. 14. 15 So bspw. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2008, §7 Rn. 18; ders. (ob. Fn. 13), S. 387ff. 16 ABl. L136 v.30.5.1991, S. 1ff.

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delikte. Teilweise beinhalten sie nur „Mitteilungen“ von Eidesverletzungen an den Mitgliedstaat und Zuständigkeitserklärungen. 17 Dies genügt einer Schutzbereichserweiterung nicht. 18 Selbst in den gelungenen Fällen eines völkervertraglichen Textes ist jedoch nicht zu übersehen, dass mit der Einbeziehung der Vertragstexte in die Auslegung des nationalen Straftatbestandes ein „stillschweigender Bedeutungswandel“ 19 einhergeht. Dieser „stillschweigende Bedeutungswandel“ von Vorschriften, die grundsätzlich dem Schutz der innerstaatlichen Rechtspflege dienen, aber erst über eine Schutzbereichsanalyse im Zusammenhang mit völkerrechtlichen Verträgen ihre wahre Reichweite offenbaren, wird zwar wahrgenommen, aber nur sehr zurückhaltend beklagt. 20 So richtig es ist, dogmatisch die Notwendigkeit einer Wortlautanpassung ggf. zu verneinen, so richtig ist aber auch, dass durch die „stillschweigende“ Einbeziehung der internationalen Rechtspflege in den Schutzbereich der Aussagedelikte die Rechtsklarheit verloren geht. V. Die Reichweite des deutschen Strafrechts Hat man die erste Hürde zur Einbeziehung der internationalen Rechtspflege in den Schutzbereich einer nationalen Norm mit Hilfe einer Schutzbereichserweiterung überwunden, so stellt sich das nächste Problem: Der Schutz der internationalen Rechtspflege bei Aussagen vor internationalen Gerichten ist nur dann vollkommen, wenn auch Auslandstaten bestraft werden können. Die Schutzbereichserweiterung bewirkt zunächst nur, dass bei Inlandstaten deutsches Strafrecht ohne weiteres anwendbar wird. Für Auslandstaten gelten die §§3ff. StGB. Für die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts sind dann die §§6 Nr. 9 oder 7 Abs. 2 StGB anzuwenden. Durch §6 Nr. 9 StGB wird blankettartig ermöglicht, dass deutsches Strafrecht auf alle Auslandstaten anzuwenden ist, zu deren Verfolgung sich die Bundes17 Vgl. bspw. Art. 72 der Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 2. Mai 1991 (ABl. L136 vom 30.5.1991, S. 1) oder Art. 45 der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 27. November 1989 (BGBl. II, S. 955). Letztere Verfahrensordnung wurde nicht einmal von den Vertragsstaaten vereinbart. Die Verfahrensordnung des EGMR wurde mehrfach geändert. Der Inhalt des Art. 45 findet sich zuletzt in Art. 69 (vgl. BGBl. II, S. 1080ff.). In der Bekanntmachung der Neufassung der Verfahrensordnung vom 27. Juli 2006 (BGBl. II, S. 693ff.) sind dem Art. 69 entsprechende Regelungen nicht mehr enthalten. 18 Anders wohl Werle / Jeßberger (ob. Fn. 2) Rn. 303f., da dort auch auf unbestimmte Regelungen Bezug genommen wird. 19 Werle / Jeßberger (ob. Fn. 2) Rn. 304. 20 Vgl. Werle / Jeßberger (ob. Fn. 2) Rn. 304; Oehler (ob. Fn. 2) Rn. 916 Anm. 7; Satzger (ob. Fn. 13), S. 390f.

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republik Deutschland in einem zwischenstaatlichen Abkommen verpflichtet hat. Die Vorschrift erlangt nur dann Bedeutung, wenn das Abkommen nicht bereits selbst die Geltung des deutschen Strafrechts anordnet. 21 Der deutsche Gesetzgeber kommt mit §6 Nr. 9 StGB seiner völkervertraglichen Verfolgungspflicht nach, indem er innerstaatlich die materiellen Voraussetzungen der Strafverfolgung, im Hinblick auf zukünftige Verträge bereits vor der Entstehung der Pflicht, blankettartig geschaffen hat. 22 Für die Bestimmtheit kommt es also auf die geltungsbereichsregelnden völkerrechtlichen Vereinbarungen an. Der Inhalt dieser kann variieren. Der Vertrag kann Verhaltensweisen umschreiben und sie pauschal der Bewertung des nationalen Strafrechts zuweisen, er kann eigenständige Vertatbestandlichungen schaffen und dem nationalen Strafrecht dessen Durchsetzung überantworten und er kann schließlich die Anwendung des nationalen Strafrechts auf Auslandssachverhalte bestimmen. 23 Über die im Vertragstext genannten Voraussetzungen setzt §6 Nr. 9 StGB keinen weiteren „legitimierenden Anknüpfungspunkt“ voraus. §6 StGB beruht auf dem Weltrechtsgrundsatz. Aufgrund seiner Reichweite kann die Berufung auf dieses Prinzip zu Konflikten führen, denn die Ausdehnung der nationalen Strafnormen auf Auslandsachverhalte ohne Inlandsbezug könnte eine Verletzung des Nichteinmischungsgrundsatzes bedeuten. Deshalb wird insbesondere von der Rechtsprechung in den Fällen des §6 StGB in der Regel im Einzelfall ein „legitimierender Anknüpfungspunkt“ verlangt, der einen unmittelbaren Bezug der Strafverfolgung im Inland herstellt und die Anwendung innerstaatlichen (deutschen) Strafrechts rechtfertigt. 24 Für §6 Nr. 9 StGB neigt der 3. Strafsenat des BGH jedoch dazu, einen solchen Anknüpfungspunkt nicht zu fordern. 25 Da die Bundesrepublik Deutschland in Erfüllung einer völkerrechtlich bindenden, auf Grund eines zwischenstaatlichen Abkommens übernommenen Verfolgungspflicht die Auslandstat eines Ausländers an Ausländern verfolgt und nach deutschem Strafrecht ahndet, kann schwerlich von einem Verstoß gegen das Nichteinmischungsprinzip die Rede sein. 26

Über §6 Nr. 9 StGB wird nun der Zusammenhang mit den bereits in anderem Kontext erörterten völkerrechtlichen Verträgen wiederhergestellt, denn ein solcher Vertrag kann nicht nur den Schutzbereich eines Straftatbestandes erweitern, er kann auch die Reichweite des nationalen Strafrechts auf Auslandssachverhalte vorsehen. 21 Vgl. Zieher (ob. Fn. 11), S. 167; Henrich, Das passive Personalitätsprinzip im deutschen Strafrecht, S. 72 Fn. 16. 22 Vgl. Zieher (ob. Fn. 11), S. 167. 23 Vgl. zu diesen Fallgruppen vgl. Zieher (ob. Fn. 11), S. 166. 24 Vgl. BGHSt 34, 334; BGH NStZ 1994, 232 mit Anm. Oehler, NStZ 1994, 485; BGH NStZ 1999, 236; BGHSt 45, 64; vgl. zur Rspr. auch Hilgendorf, FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002, S. 333 (348ff.). 25 BGHSt 46, 292 (307) mit grds. zustimmender Anm. Hilgendorf, JR 202, 82 (83); vgl. auch Ambos, NStZ 1999, 226 (227); NStZ 1999, 404 (405); a.A. BGH, NStZ 1999, 236; BayObLG, NJW 1998, 392 (393). 26 In St 45, 64 (69) hat der BGH das noch offengelassen.

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Sieht man sich nun die Regelungen des Art. 30 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften und Art. 72 der Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften an, so wird in keinem der beiden Fälle ausdrücklich und bestimmt genug die Geltung des deutschen Strafrechts angeordnet. Es wird aber bei Art. 30 EuGH-Satzung immerhin ansatzweise deutlich, dass Auslandstaten bestraft werden sollen. Genau in diesen Fällen greift §6 Nr. 9 StGB ein, der nun die Funktion erfüllt, die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf Auslandstaten anzuordnen. 27 VI. Zwischenfazit Wie gesehen ist es nicht leicht, die internationale Rechtspflege in den Anwendungsbereich einer nationalen Strafrechtsnorm durch völkerrechtliche Verträge einzubeziehen. Bedarf es zur Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf Auslandssachverhalte dann auch noch der Verknüpfung des Vertragstextes mit dem Strafanwendungsrecht, so führt die Kombination aus dem „stillschweigenden Bedeutungswandel“ (Schutzbereichserweiterung der Strafnorm) und der Blankettvorschrift des §6 Nr. 9 StGB zur Etablierung eines Strafrechts, dem es an Normenklarheit, Vorhersehbarkeit und Transparenz mangelt. Dem eben dargestellten Trend zur stillschweigenden Schutzbereichserweiterung innerhalb der Internationalisierung und Europäisierung des Strafrechts wirkt die Einführung des neuen §162 Abs. 1 StGB („Internationale Gerichte“) entgegen. Allerdings hat der Gesetzgeber dem Rechtsanwender mit dessen Einführung auch neue Probleme bereitet. VII. Kern der Neuregelung Durch das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie 28 wurde §162 Abs. 1 in das StGB mit folgendem Inhalt eingefügt: „Die §§153 bis 161 sind auch auf falsche Angaben in einem Verfahren vor einem internationalen Gericht, das durch einen für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Rechtsakt errichtet worden ist, anzuwenden.“ Der Rahmenbeschluss beinhaltet keinerlei Verpflichtung zur Erweiterung des Anwendungsbereichs der Aussagedelikte auf Verfahren vor internationalen Ge27 Für die Eidesdelikte vor dem EuGH hat auch der Gesetzgeber die Anwendbarkeit der Vorgängervorschrift des §6 Nr. 9 StGB angenommen, vgl. BT-Drs. IV/650, S. 110. Zustimmend Satzger (ob. Fn. 13), S. 390 Anm. 1696. 28 BGBl. I, S. 2149.

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richten. Vielmehr hat der Gesetzgeber die Umsetzung des Rahmenbeschlusses nur zum Anlass genommen, dem sich aus Art. 70 Abs. 4 lit. a i.V.m. Abs. 1 lit. a des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs 29 ergebenden Umsetzungsbedarf im Hinblick auf die Aussagedelikte Rechnung zu tragen 30. Das Statut verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, die nationalen Strafvorschriften auf vorsätzliche Falschaussagen auszudehnen, die in einem beim Gerichtshof anhängigen Verfahren im Inland oder von einem Angehörigen des Vertragsstaats im Ausland gemacht werden. 31 §162 Abs. 1 StGB geht über den Verpflichtungsrahmen hinaus, indem auch der fahrlässige Falscheid und die fahrlässige Versicherung an Eides Statt (§161) 32 ausdrücklich eine Erweiterung erfahren und nun auf Verfahren vor einem internationalen Gericht anwendbar sind. Das Statut von Rom ist ein völkerrechtlicher Vertrag und als solcher, wie gesehen, prinzipiell geeignet, den Schutzbereich der nationalen Straftatbestände auszudehnen. Über §6 Nr. 9 StGB oder §7 Abs. 2 StGB können auch Auslandstaten erfasst werden. Ob es also aus rechtstechnischen Gründen tatsächlich notwendig war, die §§153ff. StGB wörtlich anzupassen, kann bezweifelt werden. 33

VIII. Konsequenzen des §162 Abs. 1 §162 Abs. 1 StGB erweitert ausdrücklich den Schutzbereich der §§153 –161 StGB. Grundsätzlich schützen die §§153ff. StGB nur die innerstaatliche Rechtspflege. 34 Durch die Einbeziehung „internationaler Gerichte“ wird der Schutzbereich nun auf die internationale Gerichtsbarkeit ausgedehnt. §162 Abs. 1 StGB beschränkt sich nicht nur auf den Internationalen Strafgerichtshof, wie der Ursprung der Vorschrift (Art. 70 Abs. 4 lit. a i.V.m. Abs. 1 lit. a des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs) nahelegen könnte. Vielmehr werden alle internationalen Gerichte einbezogen, die durch einen für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Rechtsakt errichtet worden sind. 35 Aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrags, dessen Partei die Bundesrepublik Deutschland ist, wurde insbesondere der Internationale Strafgerichtshof 36, der Internationale Gerichtshof 37, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 38, der Gerichtshof der 29

BGBl. 2000 II, S. 1393. Vgl. BT-Drs. 16/3439, S. 7. 31 BT-Drs. 16/3439, S. 7; vgl. auch Werle, JZ 2001, 885 (886 Anm. 17). 32 §163 wurde im Zuge des o.g. Gesetzes (vgl. Fn. 28) in §161 umnummeriert. Es handelt sich dabei um eine Folgeänderung zur Einführung des neuen §162. Da §162 auch Straftaten nach §163 a.F. erfasst, wurde diese Vorschrift als §161 vor §162 eingestellt (vgl. BT-Drs. 16/3439, S. 7). 33 Vgl. dazu noch unten XII. 34 Vgl. die Nw. oben Fn. 2. 35 BT-Drs. 16/3439, S. 8. 36 IStGH-Statut, BGBl. II, S. 1393. 30

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Europäischen Gemeinschaften 39 und das Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften 40 errichtet. Aufgrund anderer für die Bundesrepublik Deutschland verbindlicher Rechtsakte wurden der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda errichtet. Die Verbindlichkeit resultiert aus den Resolutionen auf der Grundlage des Kapitel VII (Art. 41f.) der Satzung der Vereinten Nationen. Schließlich fordert §162 Abs. 1 StGB, dass die Falschaussage im Zusammenhang mit einem Verfahren vor einem internationalen Gericht steht. IX. Bewertung der Neuregelung Die wörtliche Einbeziehung der internationalen Gerichtsbarkeit in den Schutzbereich der Aussagedelikte ist zu begrüßen. Zum einen wird damit gewährleistet, dass hinsichtlich Falschaussagen vor internationalen Gerichten kein rechtsfreier Raum entsteht. Zum anderen hat der Gesetzgeber nun den Schwierigkeiten vorgebeugt, die – wie gesehen – mit der Auslegung völkerrechtlicher Verträge verbunden sein können. Die wörtliche Einbeziehung ist also trotz bestehender völkerrechtlicher Vereinbarungen nicht als bloße Förmelei abzutun. Vielmehr dient sie der Rechtsklarheit, der Normakzeptanz und der Vorhersehbarkeit der Folgen eigenen Handelns. X. Reichweite der deutschen Aussagetatbestände Hinsichtlich der Reichweite der deutschen Aussagestraftatbestände ist zwischen Auslandstaten und Inlandstaten sowie dem Schutz der inländischen und der internationalen Rechtspflege zu unterscheiden. Das liegt daran, dass die Schutzbereichserweiterung durch §162 Abs. 1 StGB nicht die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts im Ausland herzustellen vermag. Diese Aufgabe erfüllen die §§3ff. StGB. Das sog. Internationale Strafrecht (§§3ff. StGB) ist „nur“ Rechtsanwendungsrecht, genauer Strafanwendungsrecht. Es bezieht sich auf die Tatbestände des Besonderen Teils so wie es sie vorfindet, ohne ihren tatbestandlichen Schutzbereich zu verändern. 41 Im Folgenden soll es also um die Wechselwirkungen 37

Vgl. BGBl. II, S. 505. Vgl. Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950 (BGBl. II, S. 685) in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Mai 2002 (BGBl. II, S. 1054). 39 Vgl. Art. 220 – 245 EGV. 40 Beschluss 88/591 des Rates vom 24. Oktober 1988; ABl. L319 vom 25.11.1988, S. 1. 41 Vgl. Lüttger (ob. Fn. 1), S. 175; Oehler (ob. Fn. 2) Rn. 123; Satzger (ob. Fn. 15) §3 Rn. 8. 38

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zwischen der Schutzbereichserweiterung und dem Strafanwendungsrecht und den sich daraus ergebenden Problemen gehen. 1. Inlandstaten, die innerstaatliche Rechtspflege betreffend Für Inlandstaten, die die innerstaatliche Rechtspflege betreffen, gelten die §§153ff. StGB. 2. Inlandstaten, die internationale Rechtspflege betreffend Für Inlandstaten, welche die internationale Rechtspflege betreffen, konnte vor der Einfügung des §162 Abs. 1 StGB eine Bestrafung nur dann erfolgen, wenn ein Gesetz oder ein ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag dies ausdrücklich vorgesehen hat. 42 Durch die Schutzbereichserweiterung der §§153ff. StGB durch §162 Abs. 1 StGB ist die internationale Rechtspflege nun auch im Wortlaut in den Geltungsbereich der §§153ff. StGB einbezogen worden. 3. Auslandstaten, die innerstaatliche Rechtspflege betreffend Für Straftaten, die im Ausland begangen werden, die aber die innerstaatliche Rechtspflege betreffen, gelten die §§153, 154, 156 i.V.m. §5 Nr. 10 43 StGB. Die Vorschrift ist vor allem für Falschaussagen von Bedeutung, die bei Rechtshilfeverfahren vor ausländischen Behörden oder vor deutschen Auslandsvertretungen (§12 Nrn. 2, 3, §15 Abs. 2 KonsularG) gemacht werden. 44 §7 Abs. 2 Nr. 1 StGB ist nicht anwendbar, da die Vorschrift die Folge des aus Art. 16 Abs. 2 GG folgenden Auslieferungsverbotes ist und nur verhindern möchte, dass ein deutscher Staatsangehöriger bei einer Auslandstat ungestraft bleibt. Indem §5 Nr. 10 StGB aber eine abschließende Aussage darüber trifft, in welchen Fällen das deutsche Strafrecht bei Taten im Ausland, welche die inländische Rechtspflege betreffen, anzuwenden ist, vermag §7 Abs. 2 Nr. 1 StGB diesen Anwendungsbereich nicht auszudehnen. §7 Abs. 2 Nr. 1 StGB ist also nur anwendbar, wenn es im konkreten Fall nicht um den Schutz inländischer Interessen geht. 45 4. Auslandstaten, die internationale Rechtspflege betreffend Aufgrund der Schutzbereichserweiterung (§162 Abs. 1 StGB) und der §§7 Abs. 2 oder 6 Nr. 9 StGB werden auch Auslandstaten, welche die internationale Rechtspflege betreffen, von den §§153ff. StGB erfasst. 46 42 43 44 45

Vgl. die Nw. in Fn. 3. Vgl. Ambos (ob. Fn. 10) §5 Rn. 30. Vgl. Werle / Jeßberger (ob. Fn. 2) §5 Rn. 140. Vgl. Lackner / Kühl (ob. Fn. 2) §7 Rn. 4.

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XI. Probleme 1. Umfangreicherer Schutz der internationalen im Vergleich zur innerstaatlichen Rechtspflege Durch die Schutzbereichserweiterung auf Grund §162 Abs. 1 StGB wird der Schutz der internationalen Rechtspflege bei Auslandstaten auch durch §159 StGB (Versuch der Anstiftung zur Falschaussage), §160 StGB (Verleitung zur Falschaussage) und §161 StGB (fahrlässiger Falscheid, fahrlässige falsche Versicherung an Eides Statt) i.V.m den entsprechenden Normen des Strafanwendungsrechts (§§6 Nr. 9 oder 7 Abs. 2 StGB) gewährleistet. Damit reicht der Schutz der internationalen Rechtspflege bei im Ausland begangenen Aussagedelikten weiter als der der innerstaatlichen Rechtspflege bei im Ausland begangenen Aussagedelikten, denn §5 Nr. 10 StGB erfasst die §§159, 160 und §161 47 StGB gerade nicht. Diese Ungleichbehandlung ist entweder ein Versehen des Gesetzgebers, der allerdings ausdrücklich keine Veranlassung gesehen hat, Änderungen im Allgemeinen Teil vorzunehmen, 48 oder man versucht den Widerspruch mit der geringeren Verletzungs- und Gefährdungsqualität dieser Taten hinsichtlich der deutschen Rechtspflege auszuräumen, 49 was dann eine geltungsbereichsrechtlich andere Beurteilung von Auslandstaten ggü. Inlandstaten zur Folge hat. Diese Sichtweise vermag schon intrasystematisch nicht zu überzeugen. Geht es bei §5 Nr. 10 StGB um den Schutz der innerstaatlichen Rechtspflege, so ist nicht einzusehen, weshalb es bei einer Auslandstat im Vergleich zu einer Inlandstat an der Angriffsintensität oder am Gefährdungscharakter mangeln soll. Die örtliche Distanz zwischen dem ausländischen Tatort und dem Inland wird gerade durch die Formulierung in §5 Nr. 10 StGB „in einem Verfahren, das im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes bei einem Gericht oder einer anderen deutschen Stelle anhängig ist“ aufgehoben. Dass der Gesetzgeber sich dennoch dazu entschied, die innerstaatliche Rechtspflege bei Auslandstaten weniger intensiv zu schützen, beruht eher auf dem Grundgedanken des 2. StrRG 50, welches das Territorialprinzip zum Ausgangspunkt (vgl. §3 StGB) des Strafanwendungsrechts wählte. Vor diesem Hintergrund ist die Ausklammerung der §§159, 160, 161 StGB aus dem Geltungsbereich des §5 Nr. 10 StGB eher als Selbstbeschränkung des Gesetzgebers im Vergleich zur vor dem 2. StrRG geltenden Rechtslage zu bewerten. Danach wurden Auslandstaten gemäß den §§159, 160, 161 StGB bestraft, wenn sie von Deutschen begangen wurden. Auch wenn man dieser Argumentation nicht folgen will, so hat §162 Abs. 1 StGB jedenfalls eine neue Diskussionsgrundlage geschaffen, denn hinsichtlich 46 47 48 49 50

Vgl. BT-Drs. 16/3439, S. 8. Vgl. zur Umnummerierung des §163 in §161 oben Fn. 32. BT-Drs. 16/3439, S. 8. So Zieher (ob. Fn. 11), S. 120f. im Zusammenhang mit der Regelung des § 5 Nr. 10. Vom 4.7.1969 (BGBl. I, S. 717).

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§161 StGB bestand völkerrechtlich keine Notwendigkeit, 51 die fahrlässige Begehung einzubeziehen. Es ist vielmehr der alleinige Wille des Gesetzgebers, u.a. die fahrlässige Falschaussage im Ausland vor internationalen Gerichten zu bestrafen, während die fahrlässige Falschaussage im Ausland zum Nachteil der nationalen Rechtspflege ungesühnt bleibt. Die Ungleichbehandlung zwischen der inländischen und der internationalen Rechtspflege kann nun nicht mehr auf den Unterschied zwischen Auslands- und Inlandstat, also auf eine geltungsbereichsrechtliche Argumentation gestützt werden. Die Ungleichbehandlung betrifft zwei im Ausland stattfindende Sachverhalte mit unterschiedlichem Bezugsgegenstand (einerseits innerstaatliche Rechtspflege, andererseits internationale Rechtspflege). Schützt der nationale Gesetzgeber bei Auslandstaten seine eigene Rechtspflege weniger intensiv als die internationale, so könnte man dieses Ergebnis ebenfalls dem gesetzgeberischen Ermessen zuschreiben. Da der Schutz der internationalen Rechtspflege aber nur über das nationale Strafrecht gewährleistet werden kann, erscheint es nicht sinnvoll, den Schutz der nationalen Rechtspflege hinter dem der internationalen Rechtspflege bei Auslandstaten zurückstehen zu lassen. Aufgrund des eindeutigen Wortlauts des §162 StGB und des §5 Nr. 10 StGB, scheidet die Beseitigung dieser Ungleichbehandlung im Wege der Auslegung aus, und der Gesetzgeber muss tätig werden. 2. Auslandstaten Deutscher hinsichtlich der internationalen Rechtspflege Auch bezüglich Auslandsstraftaten, welche die internationale Rechtspflege betreffen, stellen sich einige Fragen. Da die Errichtung der internationalen Gerichte auf für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Rechtsakten beruht, liegt es nahe, bei Auslandstaten §6 Nr. 9 StGB anzuwenden. Das bedeutet, dass in dem Rechtsakt die Strafverfolgung für bestimmte Auslandsdelikte zwingend angeordnet sein muss. 52 Ist dies nicht der Fall, so kommt für die Anwendung deutschen Strafrechts §7 Abs. 2 StGB zum tragen. Für deutsche Staatsbürger gilt dann aber §7 Abs. 2 Nr. 1 StGB, der jedoch im Gegensatz zu §6 Nr. 9 StGB die Strafbarkeit am Tatort voraussetzt. Daran schließt sich die Frage an, was „Strafbarkeit am Tatort“ in diesem Zusammenhang bedeutet. Mit „Tatort“ im Sinne des §7 Abs. 2 1. Halbsatz StGB ist der geografische Ort, an dem die Tat begangen wird, gemeint. 53 Maßgeblich ist also das an diesem Ort geltende Recht des Tatortstaates. Da es um den Schutz der internationalen Rechtspflege geht, können dies nicht die Tatortnormen zum Schutz der jeweiligen innerstaatlichen Rechtspflege sein. Hinsichtlich §7 Abs. 2 Nr. 1 StGB könnte man daran denken, den deutschen Maßstab 51

Vgl. oben VII. Zur Bestimmtheit des Vertrages vgl. Ambos (ob. Fn. 10) §6 Rn. 19; Werle / Jeßberger (ob. Fn. 2) §6 Rn. 112. 53 Vgl. Werle / Jeßberger (ob. Fn. 2) §7 Rn. 13. 52

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anzulegen. Der deutsche Staatsbürger würde damit gegenüber Bürgern anderer Staaten nicht schlechter gestellt, da es für seine Strafbarkeit auf Grund der Schutzbereichserweiterung durch §162 Abs. 1 StGB keinen Unterschied mehr machen soll, ob er die innerstaatliche oder die internationale Gerichtsbarkeit angreift. Dass wenige Rechtsordnungen die falsche uneidliche Aussage vor Gericht für strafbar erklären, 54 stünde dem nicht entgegen, da dies anzuerkennende Entscheidungen anderer Rechtsordnungen sind. Allerdings verstößt eine solche Sichtweise klar gegen den Wortlaut des §7 Abs. 2 Nr. 1 StGB und ist deshalb mit dem Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) nicht zu vereinbaren. Es bleibt also nur die Möglichkeit, als tatortidentische Norm gedanklich auf den Schutz der internationalen Rechtspflege zurückzugreifen und prinzipiell eine Norm am Tatort zu fordern, die ebenfalls den Schutz der internationalen Rechtspflege bezweckt. Bezieht also das ausländische Recht des Tatortes in gleicher Weise wie das deutsche Recht den Schutz der internationalen Rechtspflege ein, so steht der Anwendung des §7 Abs. 2 Nr. 1 StGB nichts mehr im Wege. XII. Besonderheiten bei Verfahren vor dem IStGH Wie gesehen hat das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs den deutschen Gesetzgeber zur ausdrücklichen Einbeziehung „internationaler Gerichte“ in den Anwendungsbereich der Aussagedelikte veranlasst. Bereits in der Entwurfsbegründung zum Ausführungsgesetz des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes wurde §162 StGB angekündigt. 55 Betrachtet man den Text des Art. 70 Abs. 4 des IStGH-Statuts aber näher, so ist diesem keine völkerrechtliche Verpflichtung zur ausdrücklichen Schutzbereichserweiterung zu entnehmen. Vielmehr konnte die Erweiterung des Schutzbereiches der Aussagedelikte bezüglich des IStGH de lege lata bereits aus dem Vertragstext abgeleitet werden. Dies beweist, welche große legislative Kraft das Statut den nationalen Gesetzgebern über die core crimes hinaus zu verleihen scheint. Für vorsätzliche Falschaussagen vor dem IStGH kann als tatortidentische Norm i.S.d. §7 Abs. 2 1. Halbsatz StGB ausnahmsweise direkt auf das Statut Bezug genommen werden, da Art. 70 Abs. 1 und 3 des Statuts eine Straf- und Gerichtsbarkeitsregelung darstellt, die die dort genannten gegen die Rechtspflege des Gerichtshofs begangenen Taten direkt unter Strafe stellt, unabhängig davon, wo sie begangen wurden. 56 Die Anwendbarkeit der §§153ff. StGB auf Auslandstaten, die von Ausländern innerhalb eines Verfahrens vor dem IStGH begangen werden, kann nicht über 54 55 56

Vgl. Werle / Jeßberger (ob. Fn. 2) Rn. 142; Oehler (ob. Fn. 2) Rn. 914. Vgl. BT-Drs. 14/8527, S. 98. Vgl. auch BT-Drs. 14/8527, S. 98.

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§6 Nr. 9 StGB hergestellt werden, da Art. 70 Abs. 4 lit. a i.V.m. Abs. 1 lit. a des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs nur eine Verpflichtung der Vertragsstaaten hinsichtlich einer Schutzbereichserweiterung bei auf eigenem Hoheitsgebiet begangener Straftaten (§162 Abs. 1 StGB) enthält und bezüglich Auslandstaten nur eine Verpflichtung zur Strafbarkeit eigener Staatsangehöriger verlangt. Somit ermöglicht allein §7 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m §§153ff. StGB und §162 Abs. 1 StGB die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts in diesen Fällen. Entsprechend Art. 70 Abs. 1 lit. a des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs übt der IStGH die Gerichtsbarkeit nur bezüglich vorsätzlicher Falschaussagen aus. 57 In Bezug auf die in §161 StGB genannten fahrlässigen Delikte fehlt ihm also eine eigene Verfolgungsmacht. Deshalb ist allein die deutsche Gerichtsbarkeit zur Aburteilung von fahrlässig begangenen Inlandstaten berufen, und wenn die Voraussetzungen der §§7 Abs. 2 oder 6 Nr. 9 StGB vorliegen, gilt dies auch für Auslandsstraftaten. XIII. Besonderheiten bei Verfahren vor dem EuGH Für beeidete Aussagen vor dem EuGH ist Art. 30 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 26.2.2001 58 zu beachten. Wie gesehen bewirkt dieser, dass auch die supranationale Rechtspflege vom Schutzbereich des §154 StGB erfasst werden kann. Dabei ist es im Ergebnis für die Schutzbereichserweiterung des §154 StGB gleichgültig, ob diese im Wege eines supranationalen Gesamttatbestandes 59 hergestellt oder ob nur ein europäisierter nationaler Straftatbestand 60 anzunehmen ist. Bedeutung erlangen die beiden Positionen aber dann, wenn es darum geht, ob das Strafanwendungsrecht (§§3ff. StGB) anwendbar ist. 61 Nimmt man an, dass Art. 30 EuGH-Satzung aufgrund seiner primärrechtlichen Natur mit §154 StGB einen supranationalen Gesamttatbestand bildet, so ist für die §§3ff. StGB kein Platz mehr. Im Ergebnis würde also das deutsche Strafanwendungsrecht durch Art. 30 EuGH-Satzung suspendiert werden. 62 Derartige gravierende Eingriffe in die innerstaatliche Souveränität lassen nicht nur die Kompetenzfrage aufkommen, sondern auch, ob Art. 30 EuGH-Satzung überhaupt hinreicht, eine an Art. 103 Abs. 2 GG zu messende Ergänzungs- und Suspendierungsfunktion wahrzunehmen. Diesen hohen Anforderungen genügt die Vorschrift nicht. 63 57 Art. 70 Abs. 2 IStGH-Statut verweist auf die Rules of Procedure and Evidence (ICCASP/1/3), Rules 162ff. 58 BGBl. II, S. 1687. 59 So die h.M. vgl. Hecker (ob. Fn. 14) §7 Rn. 14 m.w.N. 60 So bspw. Satzger (ob. Fn. 15) §7 Rn. 18; ders. (ob. Fn. 13), S. 387ff. 61 Vgl. dazu verneinend Hecker (ob. Fn. 14) §7 Rn. 14; bejahend Satzger (ob. Fn. 15) §7 Rn. 18; ders. (ob. Fn. 13), S. 388ff.; Dannecker, Jura 2006, S. 95 (99). 62 Vgl. Ambos (ob. Fn. 10) vor §§3 – 7 Rn. 16; Dannecker, Jura 2006, S. 95 (99).

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Art. 30 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 26.2.2001 64 erweitert den Anwendungsbereich des §153 StGB nicht, da die Regelung auf Eidesverletzungen beschränkt ist. Die Schutzbereichserweiterung des §162 Abs. 1 StGB führt dazu, dass §153 StGB auch auf Auslandstaten anwendbar ist, wenn die weiteren Voraussetzungen des §7 Abs. 2 StGB oder des §6 Nr. 9 StGB vorliegen. Dementsprechend bedarf es zur Einbeziehung der supranationalen Rechtspflege nicht mehr der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des §153 StGB. 65 XIV. Resumé Dieser Beitrag konnte nicht auf alle Widersprüche im Zusammenhang mit der Schutzbereichserweiterung durch §162 Abs. 1 StGB und den sich daraus ergebenen Wechselwirkungen mit dem Strafanwendungsrecht der §§3ff. StGB eingehen. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Internationalisierung des Strafrechts mehr und mehr in den Kernbereichen erkennbar wird. Dieser Trend ist zu begrüßen, denn ein Strafrecht ohne Transparenz gerät in den Verdacht, der Effektivität und der Globalisierung des Rechts die Leitidee der Gesetzesbestimmtheit zu opfern. Die Weiterentwicklung des Strafanwendungsrechts bzw. dessen Harmonisierung scheint der Gesetzgeber demgegenüber nicht mit gleicher Priorität zu verfolgen wie die Internationalisierung des Kernstrafrechts.

63 Vgl. auch Satzger (ob. Fn. 13), S. 198ff.; ders. (ob. Fn. 15) §7 Rn. 18, der nachweist, dass Art. 30 EuGH-Satzung keine einzige Voraussetzung einer unmittelbaren Anwendung erfüllt. 64 BGBl. II, S. 1687. 65 Zu diesem Vorschlag vor der Einfügung des §162 vgl. Hecker (ob. Fn. 14) §10 Rn. 69.

Der Tatbestand des Amtsmißbrauchs im polnischen Strafgesetzbuch – ein mögliches Vorbild für eine entsprechende deutsche Bestimmung?! Gerhard Wolf und Michał Jakowczyk I. Erläuterung des Themas Nach dem deutschen StGB sind in den §§331ff. StGB als „Straftaten im Amt“ zunächst vor allem Bestechungstatbestände und Verletzungen des Amtsgeheimnisses unter Strafe gestellt, darüber hinaus gibt es einige Qualifizierungen allgemein begehbarer Delikte (z.B. §340 StGB, Körperverletzung im Amt, oder §348 StGB, Falschbeurkundung im Amt) und schließlich zahlreiche Straftatbestände für einzelne in der Rechtspflege tätige Amtsträger, insbesondere für Richter (Rechtsbeugung, §339 StGB) und für Strafverfolgungsbeamte (z.B. §343 StGB, Aussageerpressung; §344 StGB, Verfolgung Unschuldiger; §345 StGB, Vollstreckung gegen Unschuldige) 1. Einen allgemeinen Tatbestand, der jede (vorsätzliche, vgl. §15 StGB) Amtspflichtverletzung unter Strafe stellt, enthält das deutsche Strafgesetzbuch nicht. Beispielsweise ein in einer Baubehörde tätiger Beamter, der vorsätzlich rechtswidrig eine Baugenehmigung erteilt, bleibt also straflos? Und was gilt, wenn eine Stadtverwaltung zum Preis von 1.500 Euro für die Teeküche der Beamten einen Espressoautomaten kauft? Insbesondere die zweckwidrige bzw. maßlose Ver(sch)wendung öffentlicher Mittel sorgt immer wieder für Schlagzeilen. Sind derartige Vorgänge für die Verantwortlichen de lege lata tatsächlich im Ergebnis straf- und folgenlos? Und wenn ja, sollte man diese „Strafbarkeitslücke“ dann nicht schleunigst schließen? Das polnische Strafgesetzbuch (kodeks karny, k.k.) enthält bereits seit langem eine allgemeine Bestimmung über den Amtsmißbrauch. Die geltende Fassung in Art. 231 k.k. lautet: „§1 Ein Angestellter im öffentlichen Dienst, der zum Schaden des öffentlichen oder eines privaten Interesses handelt, indem er seine Befugnisse überschreitet 1 Die Bestimmung für Rechtsanwälte (§356 StGB, Parteiverrat) ist an dieser Stelle systematisch verfehlt, weil Rechtsanwälte keine Amtsträger (wie die Überschrift des Kapitels suggeriert), sondern freiberuflich tätig sind.

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oder die ihm obliegenden Pflichten nicht erfüllt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft. §2 Handelt der Täter einer Tat im Sinne des §1 in der Absicht, einen Vermögensoder persönlichen Vorteil zu erlangen, wird er mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. §3 Handelt der Täter einer Tat im Sinne des §1 fahrlässig und richtet er einen bedeutenden Schaden an, wird er mit Geldstrafe, mit Freiheitsbeschränkungsstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. §4 Erfüllt die Tat die Merkmale der in Art. 228 bezeichneten verbotenen Tat, findet §2 keine Anwendung.“ Könnte diese Bestimmung nicht als Vorlage für einen entsprechenden Tatbestand in Deutschland dienen? II. Historische Regelungen in Deutschland In der deutschen Strafrechtsgeschichte waren Amtsträger nicht immer derart weitgehend vor Strafverfolgung so sicher, wie sie es heute erscheinen bzw. sind. Der achte Abschnitt des XX. Titels des preußischen ALR 2 handelte „Von den Verbrechen der Diener des Staats“. §333 (XX. Titel) lautete: „Wer den Vorschriften seines Amts vorsätzlich zuwider handelt, der soll sofort cassirt; außerdem, nach Beschaffenheit des Vergehens, und des verursachten Schadens, mit verhältnismäßiger Geld-, Gefängniß- oder Festungsstrafe belegt; und zu allen fernern öffentlichen Aemtern unfähig erklärt werden.“ Das ALR pönalisierte im einzelnen mehrere Verhaltensweisen sowohl bei der „Erlangung“ als auch bei der „Verwaltung“ eines Amtes. Hatte ein Amtsträger „Dieberei, Contrebande, Defraudation und andre gemeine Verbrechen“ unter Mißbrauch des „Amtsansehens“ begangen, wirkte sich dies strafschärfend auf die wegen dieser Straftaten verhängte Strafe aus (§338, XX. Titel des ALR). Die „Veruntreuung der Casse“ (§420, XX. Titel des ALR) war ebenso wie die vorsätzliche „Drückung“ des Steuerzahlers (§413, XX. Titel des ALR) eine besondere Straftat. Insgesamt enthielt das ALR 185 (!) Strafvorschriften, die sich gegen die „Diener des Staates“ richteten und systematisch noch vor den „Privatverbrechen“ geregelt waren. Nur ein Beispiel: „Beamte, welche bey Ausmittelung, Bestimmung, oder Einziehung der Abgaben, das Publicum vorsätzlich drücken, sollen das zu viel Genommene, oder sonst zur Ungebühr Erhobene, dem Beschädigten vierfach ersetzen“ (§413 ALR). „Außerdem muß ein solcher Officiant durch ernstliche Verweise, und nach Befinden 2

Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten vom 5. Februar 1794.

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durch verhältnismäßige Geldstrafe, zu mehr Aufmerksamkeit und Genauigkeit in seinem Dienste angehalten werden“ (§416 ALR). „Gute alte Zeit“? Wäre es für den Bürger nicht auch heute befreiend, wenn einem Amtsträger ab und zu („nach Befinden“) mit einer Geldstrafe verdeutlicht würde, daß er seine Dienstpflichten gewissenhaft zu erfüllen hat? III. Die Bestimmungen im polnischen StGB von 1932 Einen anderen, weit weniger kasuistischen Weg als das ALR beschritten die Verfasser des polnischen Strafgesetzbuchs von 1932 (pStGB-1932). Im 41. Kapitel enthielt dieses Gesetzbuch „Straftaten der Amtsträger“, darunter Art. 286 mit folgendem Wortlaut: „§1. Ein Amtsträger, der durch Überschreitung seiner Macht oder durch Nichterfüllung einer Pflicht zum Nachteil eines öffentlichen oder privaten Interesses handelt, wird mit Gefängnisstrafe bis zu 5 Jahren bestraft. §2. Handelt der Täter mit dem Ziel, einen Vermögens- oder persönlichen Vorteil für sich oder eine andere Person zu erlangen, wird er mit Gefängnisstrafe bis zu 10 Jahren bestraft. §3. Handelt der Täter fahrlässig, wird er mit Arreststrafe bis zu 6 Monaten bestraft.“ Diese Bestimmung war damals und ist bis heute der „Grundtypus“ aller Amtsdelikte 3. Sie wurde daher im wesentlichen in die nachfolgenden Strafgesetzbücher von 1969 und 1997 (vgl. den eingangs zitierten Art. 231 k.k.) übernommen. Dennoch sind es vor allem die dabei vorgenommenen scheinbar geringfügigen Änderungen, die Aufschluß über die Zweckmäßigkeit und Problematik eines solchen Tatbestands geben und daher im Folgenden genauer untersucht werden sollen: Das ursprüngliche Gesetz definierte – im Gegensatz zu den genannten späteren Strafgesetzbüchern – den Begriff des Amtsträgers nicht. Die „Macht des Amtsträgers“ wurde sehr weit und sehr allgemein als die Gesamtheit der Befugnisse ausgelegt, die mit dem vom jeweiligen Täter bekleideten Amt verbunden waren. Diese Befugnisse erstreckten sich auf die Tätigkeit des Amtsträgers zu Gunsten oder zu Lasten von Privatpersonen, des Staates, der kommunalen Selbstverwaltung oder der Allgemeinheit 4. Die Pflichten und Befugnisse des Amtsträgers waren 3 Gardocki in: Andrejew / Kubicki / Waszczy´nski, System prawa karnego. Tom IV. O przeste˛pstwach w szczególno´sci. Cze˛´sc´ II [Das System des Strafrecht. Band IV. Über die Straftaten im Besonderen. Teil II.], Wrocław u.a. 1989, §104 VI. (S. 578). 4 Makarewicz, Kodeks karny z komentarzem [Strafgesetzbuch mit Kommentar], Lwów 1932, Art. 286 (S. 333).

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dabei keineswegs nur den Gesetzen oder anderen Rechtsakten zu entnehmen, ihr Umfang richtete sich vielmehr nach dem „Wesen des Amtes“. Die Überschreitung der auf diese Weise bestimmten Befugnisse oder die Verletzung von Handlungspflichten genügten jedoch für sich allein noch nicht, um den Tatbestand des Amtsmißbrauchs zu erfüllen. So war die bloße Anmaßung einer Zuständigkeit zwar möglicherweise ein Dienstverstoß, aber keine Straftat, wenn kein Nachteil beim Staat, der Gesellschaft oder dem Einzelnen entstand 5. Der Nachteilsbegriff wurde in Rechtsprechung und Schrifttum allerdings nicht etwa im engen vermögensrechtlichen Sinne, sondern weit aufgefaßt: Beispielsweise 6 ein Gefängnisaufseher, der unbegründet Disziplinarmaßnahmen gegen einen Gefangenen anordnet, überschreitet danach seine Befugnisse und handelt deswegen sowohl zum Nachteil des Gefangenen als auch zum Nachteil der Gesellschaft. Der Nachteil beim Gefangenen ist die Einbuße in seinen Rechten, der der Gesellschaft entstehende Nachteil ist in der dadurch verursachten Verbitterung des Gefangenen gegenüber der Gesellschaft und seiner auf diese Weise fehlgeschlagenen Resozialisierung zu sehen. Daß mit diesem „Grundtypus“ eine Vielzahl von Amtspflichtverletzungen erfaßt und Detailbestimmungen daher weitgehend entbehrlich werden, liegt auf der Hand. Beispielsweise die erwähnte „Drückung des Publicums“, also die Erhebung höherer als gesetzlich zulässiger Gebühren, ist nach dem geltenden deutschen StGB in Spezialtatbeständen erfaßt (§§352f. StGB; Gebührenüberhebung, Abgabenüberhebung, Leistungskürzung) – nach dem pStGB-1932 fällt das Verhalten bereits unter den allgemeinen Tatbestand des Amtsmißbrauchs nach Art. 286. Auch die verschärfte Verantwortlichkeit wegen Amtsmißbrauchs mit dem Ziel, einen Vermögens- oder persönlichen Vorteil für sich oder einen Dritten zu erlangen (Art. 286 §2 pStGB-1932) war sehr weit gefaßt. Diese Vorteilsverschaffungsabsicht erfaßte nicht nur Geldleistungen, sondern auch die Erlangung einer Stellung oder Position, die geldwerte Leistungen mit sich bringt wie z.B. ein besser dotierter Posten 7. Als weitere Beispiele für persönliche Vorteile nannte das Schrifttum sogar die Verleihung eines Ordens oder einer sonstigen Auszeichnung oder gar die Gewährung des Zutritts zu einem geschlossenen gesellschaftlichen Kreis 8. IV. Die Bestimmungen im polnischen StGB von 1969 Das Strafgesetzbuch von 1969 übernahm wie gesagt im wesentlichen die Vorschrift aus dem pStGB-1932. Die einzige Änderung im Grundtatbestand des – nach 5 6 7 8

Makarewicz, Art. 286 (S. 333). Nach Makarewicz, Art. 286 (S. 333). Makarewicz, Art. 286 (S. 334), Art. 120 (S. 181). Makarewicz, Art. 286 (S. 334), Art. 120 (S. 181).

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neuer Numerierung – Art. 246 pStGB-1969 war eine abweichende Bestimmung des Tatobjekts. Aus ideologischen Gründen konnte die Tat nunmehr zum Nachteil eines „sozialen Guts“ oder von Einzelpersonen begangen werden. Die fahrlässige Tatbegehung war nur dann strafbar, wenn der Täter einen ernsthaften Schaden verursacht hatte. Eine grundlegende Änderung erfuhr die Vorschrift allerdings durch die Einführung einer sehr weiten Subsidiaritätsklausel in §4, die für die Gesamtthematik zentrale Bedeutung hat: Nach der neu eingefügten Bestimmung war eine Bestrafung wegen Amtsmißbrauchs ausgeschlossen, wenn die Tat die Merkmale einer anderen Straftat erfüllte (also Gesetzeskonkurrenz vorlag), ferner aber auch dann, wenn die Überschreitung der Befugnisse oder die Nichterfüllung der jeweiligen Pflichten durch den Amtsträger zu den Merkmalen einer anderen Straftat gehörte. Damit war Art. 246 pStGB-1969 nur noch dann anwendbar, wenn – so ist die zweite Alternative zu verstehen – eine Überschreitung von Befugnissen bzw. Nichterfüllung von Pflichten vorlag, die nicht Merkmale einer anderen Straftat sind, und zwar unabhängig davon, ob die übrigen Merkmale dieser Straftat erfüllt sind 9. Als Grund für die Anordnung einer derart weitgehenden Subsidiarität wurde im Schrifttum zunächst die Uferlosigkeit des alten Tatbestandes genannt, man hielt ihn für eine Überdehnung der Grenzen des Strafrechts 10. Dem ist deshalb zuzustimmen, weil die Befugnisse und Pflichten des Amtsträgers wie bereits erwähnt nicht anhand konkreter juristischer Entstehungstatbestände, sondern nebulös nach dem „Wesen des Amtes“ 11 bestimmt wurden. Daraus ergab sich beispielsweise die Frage, ob nur Handlungen, für die der Amtsträger grundsätzlich zuständig war, aber die ihm verliehene Macht überschritten, unter den Tatbestand des Art. 286 pStGB1932 fielen. Unklar blieb nach dieser Auslegung ferner, ob auch Handlungen, die nur anläßlich der Amtsausübung begangen worden waren, tatbestandsmäßig waren. Auch die Frage, wann eine solche Handlung zum Nachteil eines öffentlichen oder privaten Interesses begangen worden war, war kaum zu beantworten: Mußte der Einzelne insoweit einen Anspruch auf fehlerfreies staatliches Handeln haben? War ein Handeln zum Nachteil des öffentlichen Interesses wirklich bereits dann gegeben, wenn der Amtsträger durch fehlerhaftes Handeln die Autorität des Staates schädigte (wie in dem Beispiel des Machtmißbrauchs durch den Gefängnisaufseher, in dem der Nachteil für die öffentlichen Interessen darin gesehen wurde, daß der zu Unrecht bestrafte Häftling den „Glauben“ an den Staat verlor)? Kurz: Bei Zugrundelegung der Auslegung der Bestimmung in Rechtsprechung 9 Siewierski in: Bafia / Mioduski / Siewierski, Kodeks karny. Komentarz. Tom II. Cze˛´sc´ szczególna, Warszawa 1987 [Strafgesetzbuch. Kommentar. Band II. Besonderer Teil], Art. 246 Anm. 34 (S. 410). 10 Gardocki, §104 VI. (S. 579). 11 Makarewicz, Art. 286 (S. 333); allerdings wurde auch unter Geltung des Art. 246 pStGB-1969 angenommen, daß sich der Umfang der Befugnisse und Pflichten des Amtsträgers nach dem „Wesen des Amtes“ richtet, vgl. Gardocki, §104 V. (S. 576).

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und Schrifttum ergaben sich in der Tat erhebliche Zweifel an der erforderlichen gesetzlichen Bestimmtheit der Strafbarkeit (nulla poena sine lege). Der zweite Grund für die genannte Subsidiaritätsklausel und die mit ihr verbundene wesentliche Eingrenzung des Anwendungsbereichs des Art. 246 pStGB-1969 war die Schaffung zahlreicher Spezialtatbestände, die den Mißbrauch amtlicher Befugnisse regelten, vor allem die Untreue des Verwalters öffentlichen Vermögens (Art. 217 pStGB-1969), die Kürzung öffentlichen Vermögens in Bezug auf Geld oder Waren (Art. 218 pStGB-1969), die Verletzung von Arbeitnehmerrechten (Art. 190 pStGB-1969) und die Verletzung von Arbeitsschutzregeln (Art. 191 pStGB-1969) 12. Jedenfalls die beiden erstgenannten Straftaten fielen unter Geltung des pStGB-1932 unter Art. 286 13. Neben der Subsidiaritätsklausel gab es weitere Gründe dafür, daß – und dies wurde auch im polnischen Schrifttum hervorgehoben – im Vergleich zu Art. 286 pStGB-1932 im Bereich der Amtsdelikte eine weitreichende Entkriminalisierung eintrat 14. Zu nennen sind u.a.: Nach 1945 entfiel der „Amtsträger“ zur Bestimmung der beruflichen Stellung des Täters von Sonderdelikten, an seine Stelle trat ein „öffentlicher Angestellter“; die Legaldefinition dieses Merkmals war dann in Art. 120 §11 pStGB-1969 enthalten. Diese Legaldefinition war allerdings sehr eng 15, zudem erschöpfend 16. Zum Kreis der öffentlichen Angestellten gehörten danach neben den klassischen „Beamten“ – Richtern, Staatsanwälten, Angehörigen der Staatsmiliz, Soldaten – zwar auch Personen, die in der öffentlichen Verwaltung oder in „staatlichen Organisationseinheiten, Genossenschaften oder anderen sozialen Körperschaften des arbeitenden Volkes“ angestellt waren. Andererseits war klar, daß nicht alle Angestellten des Staates in diesem Sinne „öffentliche Angestellte“ waren, daher wurden die unterschiedlichen beruflichen Positionen nach dem „sozialen Gewicht der ausgeübten Funktionen“ unterschieden. Man beschränkte die Strafbarkeit auf solche Personen, die einerseits eines erhöhten Schutzes bei Bedrohung ihrer Rechte (z.B. beim tätlichen Angriff gem. Art. 233 pStGB-1969) bedurften, die aber andererseits auf besondere Art und Weise strafrechtlich verantwortlich gemacht werden sollten, wenn sie das in sie gelegte soziale Vertrauen mißbrauchten (wie beim Amtsmißbrauch nach Art. 246 pStGB-1969) 17. Wie schwierig aus heutiger 12

Die beiden letztgenannten Tatbestände sind in das neue StGB von 1997 übernommen worden (Art. 218 und Art. 220f. im 28. Kapitel über Straftaten gegen Rechte der Arbeitnehmer). 13 Gardocki, §104 V. (S. 575). 14 Gardocki, §104 V. (S. 576). 15 Gardocki, §104 V. (S. 576). 16 Siewierski in: Bafia / Mioduski / Siewierski, Kodeks karny. Komentarz. Tom I. Cze˛´sc´ ogólna, Warszawa 1987 [Strafgesetzbuch. Kommentar. Band I. Allgemeiner Teil], Art. 120 Anm. 28 (S. 363).

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Sicht die Bestimmung des damals tauglichen Täters des Delikts des Amtsmißbrauchs wurde, macht vor allem auch die Rechtswirklichkeit bis 1989 deutlich: Es gab nahezu keine Privatwirtschaft, die meisten Menschen waren in staatlichen Betrieben oder sonstigen staatlichen Einrichtungen beschäftigt, so daß nahezu jeder ein „öffentlicher Angestellter“ hätte sein können. Deswegen wurden neben Art. 246 pStGB-1969 Spezialbestimmungen für Täter mit besonderen Funktionen geschaffen. So war tauglicher Täter des Delikts der Verkürzung des öffentlichen Vermögens in der Warenwirtschaft auch ein Lagerdisponent, der zwar kein „öffentlicher Angestellter“ war, aber über Gelder und Waren der staatlichen Wirtschaft verfügte. Das pStGB-1969 beschränkte damit den zuvor umfassend strafbaren Amtsmißbrauch auf einen engen Kreis von Tätern, die dem Staat in bestimmten Funktionen einen bestimmten Schaden zufügten. Nicht zuletzt erklärt sich die Entkriminalisierung des Amtsmißbrauchs aber auch durch die damals herrschende Ideologie. Der mit dem Anspruch des Vorrangs des arbeitenden Volkes agierende sozialistische Staat war naheliegenderweise nicht sonderlich daran interessiert, die zahlreichen Unregelmäßigkeiten des Handelns seiner Angestellten offenzulegen. Der Schutz von privaten Interessen trat ohnehin – selbstverständlich und im Zivilrecht verankert – hinter den Schutz des gemeinsamen Eigentums des Staates und des Volkes zurück. Die partielle Kriminalisierung hatte eher praktische Gründe: Der Lagerdisponent oder gar die Fleischverkäuferin genossen aufgrund ihrer Möglichkeit, auf seltene und begehrte Güter zuzugreifen, hohes Ansehen. Nicht selten „verkürzten“ sie auch staatliches Vermögen, indem sie eine „inoffizielle Güterverteilung“ vornahmen 18. Dies durfte der sozialistische Staat aus ideologischen Gründen natürlich nicht zulassen, was die Einführung der Tatbestände der Veruntreuung des öffentlichen Vermögens und dessen Verkürzung in der Geld- und Warenwirtschaft erklärt. Die skizzierten Veränderungen bewirkten wenig überraschend einen deutlichen Rückgang der Verurteilungen: Anfang der 70er Jahre waren es 0,28% aller Verurteilungen im Jahr, bis 1984 ging die Zahl der Verurteilungen auf 0,06% (in absoluten Zahlen: 82) zurück 19.

17 Vgl. Siewierski in: Bafia / Mioduski / Siewierski, Kodeks karny. Komentarz. Tom I. Cze˛´sc´ ogólna, Warszawa 1987 [Strafgesetzbuch. Kommentar. Band I. Allgemeiner Teil], Art. 120 Anm. 28 (S. 363). 18 Diese Praxis hat Nachwirkungen bis heute und erklärt die relativ hohe Korruption in den Ländern des ehemaligen Ostblocks: Die Schatten- und Günstlingswirtschaft, die ständige „Jagd“ nach Waren und Konsumgütern, die eine Entlohnung deren Beschaffer nach sich zog, waren durch die zentrale Plan- (und Mangel-)wirtschaft bedingt. 19 Gardocki, §104 Tabelle 9 (S. 577).

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V. Auslegung der Bestimmungen im geltenden kodeks karny Im neuen kodeks karny von 1997 ist der Tatbestand des Amtsmißbrauchs als Art. 231 k.k. im 29. Kapitel: „Straftaten gegen die Tätigkeit der Institutionen des Staates und der territorialen Selbstverwaltung“ enthalten. Die weite Subsidiaritätsklausel wurde rigoros eingeschränkt. Nunmehr ist Art. 231 k.k. in der Variante des § 2 – dem Handeln mit Vorteilserlangungsabsicht – nur dann nicht anwendbar, wenn der Tatbestand der Vorteilsannahme nach Art. 228 k.k. erfüllt ist. Die Auslegung dieser Bestimmung durch die polnische Rechtsprechung und Literatur läßt sich wie folgt zusammenfassen: Art. 231 k.k. ist nach der dogmatischen Zuordnung im polnischen Recht ein echtes Individualdelikt (was nach dem Verständnis der deutschen Dogmatik dem Sonderdelikt entspricht). Rechtsgut des Art. 231 k.k. ist den überwiegend vertretenen Auffassungen zufolge nicht etwa das Vermögen des Staates oder des Einzelnen, sondern die ordnungsmäßige Tätigkeit der Institutionen des Staates und der Selbstverwaltung und die sich daraus ergebende Autorität dieser Institutionen 20. Teilweise wird als Schutzgut das öffentliche oder private „Interesse“ genannt, worunter ein materielles oder ideelles, bestehendes oder künftiges Gut verstanden wird, das vom Staat anerkannt ist 21. Dieses Interesse wird von den Vertretern der erstgenannten Auslegung allerdings nur als ergänzendes bzw. subsidiäres Schutzgut des Art. 231 k.k. verstanden 22. Bei der Bestimmung des für Taten nach Art. 231 k.k. in Betracht kommenden Täterkreises ist eine Heranziehung der Legaldefinition in Art. 115 §13 k.k. erforderlich. Dort werden die „Angestellten im öffentlichen Dienst“ genannt, der übrige Täterkreis aber anhand der jeweiligen Amtshandlungen umschrieben. Der Katalog ist – wie unter Geltung des pStGB-1969 – abschließend. Im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz betonte das Oberste Gericht, daß die Auslegung des Art. 115 §13 k.k. eng sein müsse, weil sie sich strafbegründend auswirkt 23. Problematisch sind vor allem die Fälle der Nr. 4 –7: Art. 115 §13 Nr. 4 k.k. umschreibt als „Angestellte im öffentlichen Dienst“: eine Person, die Angestellter in der Regierungsverwaltung oder in einem anderen Staatsorgan oder Organ der territorialen Selbstverwaltung ist, es sei denn, sie nimmt lediglich Dienstleistungstätigkeiten vor, ferner eine andere Person in einem Umfang, in dem sie zum Erlaß von Verwaltungsakten befugt ist. Die Aus20 Zoll et al. / Barczak-Oplustil, Art. 231 Anm. 2; Mozgawa (Hrsg.) / Kulik, Art. 231 Anm. 1. 21 Wa˛sek / Górniok, Art. 231 Rn. 4f. 22 Mozgawa (Hrsg.) / Kulik, Art. 231 Anm. 1. 23 Beschl.des OG v.8.12.2004 (Az. IV KK 126/04), OSNKW 1/2005, Nr. 9.

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klammerung von Dienstleistungstätigkeiten soll das Büro- und sonstige Personal ausschließen, das keine gesetzlich bestimmten Aufgaben des Organs erfüllt, bei dem es angestellt worden ist oder für das es arbeitet 24 (z.B. Sekretärinnen 25, Fahrer, Boten, Putzpersonal, Portier, Versorgungs- und technisches Personal). Hingegen sind taugliche Täter nach Art. 231 k.k. Personen, die zwar nicht in der öffentlichen Verwaltung im weiten Sinne beschäftigt sind, jedoch Verwaltungsakte erlassen können. Die Berechtigung hierzu kann aus Gesetz oder einem Verwaltungsvertrag herrühren. Eine solche Person ist „Angestellte im öffentlich Dienst“ nur insoweit, als sie Verwaltungsakte erläßt. Nach Art. 115 §13 Nr. 5 k.k. ist Angestellter im öffentlichen Dienst ferner: eine Person, die Angestellter eines staatlichen Kontrollorgans oder eines Kontrollorgans der territorialen Selbstverwaltung ist, es sei denn sie nimmt lediglich Dienstleistungstätigkeiten vor. Die staatlichen Kontrollorgane im Sinne dieser Vorschrift sind Finanzämter und Finanzkammern, staatliche Aufsichtsorgane wie z.B. die Handels- oder Arbeitsinspektion sowie regionale Rechnungskammern. Bezüglich der Angestellten dieser Organe gilt ebenfalls die Beschränkung auf das „Kernpersonal“ unter Ausschluß des Dienstleistungspersonals. Nach Art. 115 §13 Nr. 6 k.k. ist tauglicher Täter weiter eine Person, die eine leitende Stelle in einer anderen Staatsinstitution bekleidet. Die „leitende Stelle in einer Staatsinstitution“ schließt zunächst Personen aus, die solche Stellen (Posten) in der Selbstverwaltung bekleiden. Dies ergebe sich aus dem Umkehrschluß aus Art. 115 §13 Nr. 4 k.k., wo „staatliche“ und „territoriale Selbstverwaltung“ getrennt behandelt werden 26. Aus dem Wortlaut ergebe sich darüber hinaus, daß es sich dabei zum einen um Personen handelt, die die Institution als solche leiten, zum anderen aber auch um die Leiter von Einheiten innerhalb einer solchen Institution 27. Schließlich sieht Art. 115 §13 Nr. 7 k.k. vor, daß ein Beamter des zum Schutz der öffentlichen Sicherheit berufenen Organs oder ein Beamter des Gefängnisdienstes ein Angestellter im öffentlichen Dienst ist. Zu beachten ist bei der Auslegung, daß die Vorschrift sich nicht auf die Einhaltung der öffentlichen Ordnung, sondern nur der Sicherheit bezieht. Deswegen wurde vertreten, daß aus dem Kreis der Angestellten im öffentlichen Dienst die Angestellten der städtischen Ordnungsdienste ausgeschlossen waren 28. Das Oberste Gericht hat indes angenommen, daß diese 24

Zoll / Majewski, Art. 115 §13 Anm. 7 (S. 1456). Marek, Art. 115 Anm. 6 (S. 342). 26 Zoll / Majewski, Art. 115 §13 Anm. 11 (S. 1458). 27 Zoll / Majewski, Art. 115 §13 Anm. 12 (S. 1458) m.w.N.; zum alten Recht so auch Mioduski in: Bafia / Mioduski / Siewierski, Art. 39 Anm. 9 (S. 147): „Leitende Stellen“ ist die Leitung eines Betriebes, einer Organisationseinheit oder eines Mitarbeiterteams. 28 Marek, Art. 115 Anm. 9 (S. 343) mit Verweis auf Beschl.des OG v.22.12.1992 (II KZP 30/93); ebenso Zoll / Majewski, Art. 115 §13 Anm. 13 (S. 1459). 25

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Angestellten zwar nicht Amtsträger im Sinne von Art. 115 §13 Nr. 7 k.k. sind, aber als Angestellte der territorialen Selbstverwaltung nach Art. 115 §13 Nr. 4 k.k. Amtsträger und taugliche Täter der Straftat des Amtsmißbrauchs sind 29. Angestellte im öffentlichen Dienst sind die Beamten der Polizei, der Militärpolizei, des Grenzschutzes, des Bahnschutzdienstes und der Agentur für Innere Sicherheit. Die Tathandlung besteht in der Überschreitung der Befugnisse oder in der Nichterfüllung von Pflichten. Die Quelle der Befugnisse und Pflichten sind Rechtsakte wie Gesetze oder Verordnungen, darüber hinaus Dienstvorschriften und interne Regelungen der jeweiligen Behörde. Neben diesen abstrakten Quellen kommen auch konkrete dienstliche Weisungen als Entstehungstatbestände für Befugnisse und Pflichten in Betracht. Die Rechtsprechung hat bereits zur Rechtslage von 1932 – und auch unter Geltung des StGB von 1969 – die Auffassung vertreten, daß sich die Befugnisse und Pflichten aber auch mittelbar aus dem „Wesen der amtlichen Tätigkeit“ ergeben können 30. Heute wird als Quelle für Musterverhalten eines Amtsträgers der Europäische Kodex der guten Verwaltung 31, konkretisierend die Erfahrung des Amtsträgers genannt 32. Bei der Überschreitung der Befugnisse muß festgestellt werden, daß diese Handlung im unmittelbaren Zusammenhang mit dem amtlichen Zuständigkeitsbereich steht. Handlungen, die nur anläßlich bzw. bei Gelegenheit der Ausübung einer Amtspflicht unternommen werden, erfüllen nicht dieses Merkmal. Beispiel 33: Ein Beamter, der während der Erledigung einer Angelegenheit einen Bürger körperlich mißhandelt, überschreite nicht seine Befugnisse, weil der Schutz körperlicher Integrität eines anderen nicht zu seinen Pflichten gehört. Ebensowenig überschreite ein Amtsarzt, der die untersuchte Patientin vergewaltigt, seine Befugnisse. Umstritten ist, ob die Straftat nach Art. 231 k.k. ein schlichtes Tätigkeitsdelikt ist. Teilweise wird behauptet, für die Erfüllung der Merkmale des Art. 231 §1 k.k. bedürfe es des Eintritts einer konkreten Gefährdung einer der geschützten Interessen 34. Zwischen der Tathandlung und der Gefährdung für ein öffentliches oder privates Interesse müsse ein Kausalzusammenhang bestehen, m.a.W. es müsse nachgewiesen werden, daß zumindest die Möglichkeit eines Schadenseintritts besteht. Allein die Verletzung von Dienstpflichten, auch wenn sie die Tatbestandsmerkmale der Tathandlung erfüllen, könne allenfalls disziplinarische Verantwortlichkeit nach sich ziehen 35. Unter Berufung auf die Rechtsprechung wird hingegen 29

Beschl.des OG v.21.9.2005 (Az. I KZP 28/05), Wokanda 6/2006, S. 22. Vgl. bereits oben die Kommentierung von Makarewicz. 31 Zoll et al. / Barczak-Oplustil, Art. 231 Anm. 9. 32 Zoll nach Wa˛sek / Górniok, Art. 231 Rn. 14. 33 Wa˛sek / Górniok, Art. 231 Rn. 16. 34 Wa˛sek / Górniok, Art. 231 Rn. 7. 35 Unter Berufung auf (seit 1933, inzwischen wohl ständige) Rspr. und Schrifttum das OG im Beschl.v. 25.2.2003 (Az. WK 3/03), OSNKW 5 –6/2003, Nr. 53 (LEX Nr. 78485). 30

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vertreten, daß es keiner konkreten Gefährdung für ein geschütztes Interesse bedürfe, vielmehr soll es ausreichen, daß die Bedingungen für einen eventuellen Schadenseintritt geschaffen worden sind 36. Die Rechtsprechung selbst qualifiziert die Straftat des Art. 231 k.k. ausdrücklich als abstraktes Gefährdungsdelikt: Der Nachteil für das geschützte Interesse sei kein besonderer Erfolg, sondern einzig und allein eine Eigenschaft der Handlung des Täters 37. Tatsächlich ist der Wortlaut nicht eindeutig, das Handeln „zum Nachteil“ kann ebenso als zusätzliches Erfolgsmerkmal verstanden werden. Die systematische Auslegung führt indes zu dem Schluß, daß der Nachteil in der Tat nicht eintreten muß: Der k.k. bedient sich bei der Konstruktion der Tatbestände einer klaren Methode, wonach bei Erfolgsdelikten das Merkmal der Verursachung eines Nachteils oder eines Schadens ausdrücklich im Wortlaut enthalten ist. Der fahrlässige Amtsmißbrauch nach Art. 231 §3 k.k. enthält dieses Merkmal. Im Umkehrschluß muß gelten, daß beim Grundtatbestand kein Nachteil eingetreten sein muß 38. Daraus ergibt sich, daß ein schlichtes Überschreiten der Amtspflichten schon dann strafbar sein soll, wenn der Amtsträger mit Nachteilszufügungsabsicht handelt, m.a.W. der Vorsatz muß sich auch auf den Nachteil beziehen 39. Art. 231 § 2 k.k. ist eine Qualifizierung zu Art. 231 §1, der Grundtatbestand wird durch das Erfordernis der Vorteilserlangungsabsicht qualifiziert 40. Ob der Täter dabei einen solchen Vorteil tatsächlich erlangt hat, ist ohne Bedeutung. Zu dem Konkurrenzproblem, das sich zu Art. 296 k.k. (Untreue) stellt, wenn der Amtsträger zugleich mit der Betreuung des Vermögens einer Institution des Staates oder der Selbstverwaltung betraut ist, werden im Schrifttum – Rechtsprechung hierzu ist nicht ersichtlich – zwei gegensätzliche Meinungen vertreten: – Überwiegend wird nur Strafbarkeit nach Art. 296 k.k. angenommen, wenn die Handlung einen Bezug zur wirtschaftlichen Betätigung einer öffentlichen Institution – als Wirtschaftssubjekt – aufweist. Überschreitet der Amtsträger dagegen seine Befugnisse oder erfüllt er seine Pflichten nicht, die mit der Ausübung der Staatsgewalt durch die Institution verbunden sind, komme ausschließlich Art. 231 k.k. in Betracht 41. 36 Zoll et al. / Barczak-Oplustil, Art. 231 Anm. 14f.; vgl. auch da die Nachweise zur Gegenansicht. 37 Urt. des OG v.2.12.2002 (Az. IV KKN 273/01), LEX Nr. 74484. 38 Eine exakte Analyse des Gesetzeswortlauts ergibt, daß §3 nicht etwa nur dadurch qualifiziert ist, daß ein auch nach §1 erforderlicher Nachteil hier „bedeutend“ sein muß: In Abs. 1 ist der Nachteil nur das Ziel der Handlung des Täters, in §3 muß der Schaden eingetreten sein: Der Täter muß die Tatbestandserfordernisse des Abs. 1 erfüllen „und ... einen bedeutenden Schaden an(richten)“. 39 Vgl. den Beschluss des OG in Fn. 34. 40 Wa˛sek / Górniok, Art. 231 Rn. 2. 41 Wa˛sek / Górniok, Art. 231 Rn. 25; Mozgawa (Hrsg.) / Kulik, Art. 231 Anm. 12.

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– Andere Autoren nehmen – ohne Begründung – Idealkonkurrenz zwischen Art. 231 und Art. 296 k.k. an 42 und bilden eine Gesamtstrafe 43. Die Rechtsprechung des Obersten Gerichts zu Art. 231 k.k. konzentriert sich im wesentlichen auf die Frage, ob der im Einzelfall Angeklagte die Merkmale eines Angestellten im öffentlichen Dienst im Sinne des Art. 115 §13 k.k. erfüllt: Das Gericht hat mehrmals die Gelegenheit gehabt, diese Eigenschaft von Angeklagten zu überprüfen. Exemplarisch für die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, ist der Fall eines wegen Art. 231 k.k. angeklagten Forstwächters 44: Ein Forstwächter sei als Angestellter des staatlichen Unternehmens „Staatswälder“ kein Angestellter im öffentlichen Dienst, weil dieses Unternehmen nicht der staatlichen Verwaltung im Sinne des Art. 115 §13 Nr. 4 k.k., sondern der Staatskasse zuzurechnen sei. Obwohl die „Staatswälder“ damit eine „staatliche Institution“ im Sinne des Art. 115 §13 Nr. 6 k.k. seien, fehle es beim Forstwächter an der Eigenschaft der leitenden Stellung. Auch die Tatsache, daß ein Forstwächter Bußgelder verhängen kann, vermöge kein anderes Ergebnis zu begründen, weil der Betroffene stets eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidung des Forstwächters begehren dürfe 45. Zwar werden die Angestellten der „Staatswälder“ zur Bekämpfung von Straftaten und Übertretungen in den Staatswäldern eingesetzt, allerdings sei dies nur ein Teil ihrer Pflichten, so daß sie auch kein „zum Schutz der öffentlichen Sicherheit berufenes Organ“ im Sinne des Art. 115 §13 Nr. 7 k.k. seien. Letztlich enthält das Waldgesetz eine Bestimmung, wonach die Angestellten der „Staatswälder“ den Schutz der Angestellten im öffentlichen Dienst genießen. Daraus sei der Umkehrschluß zu ziehen, daß sie gerade nicht den Status dieser Angestellten genossen. In einer früheren Entscheidung sah das Oberste Gericht die Sache anders. Fraglich war, ob der Gerichtsvollzieherreferendar 46 ein Angestellter im öffentlichen Dienst ist. Das Gericht stellte fest, daß der Referendar zwar nicht direkt unter Art. 115 §13 k.k. falle, bei Ausübung der ihm übertragenen Befugnisse des Gerichtsvollziehers jedoch – passiv – den Angestellten im öffentlichen Dienst zustehenden strafrechtlichen Schutz genießt und deswegen – aktiv – tauglicher Täter des Amtsmißbrauchs sei 47. 42

Zoll et al. / Barczak-Oplustil, Art. 231 Anm. 25. Vgl. Zoll et al. / Zoll, Art. 11 Anm. 22. 44 Beschl.des OG v.8.12.2004 (Az. IV KK 126/04), OSNKW 1/2005, Nr. 9. 45 Dieses Argument ist fragwürdig, weil die Verfassung in Art. 78 grundsätzlich die Anfechtbarkeit erstinstanzlicher Entscheidungen vorsieht. 46 Die postuniversitäre Juristenausbildung in Polen ist – anders als in Deutschland – von Anfang an berufsgebunden. Hier handelte es sich um einen Juristen mit Hochschulabschluß, der den Beruf des Gerichtsvollziehers – der studierter Jurist sein muß – ergreifen wollte und eine entsprechende praktische Ausbildung absolvierte. 47 Beschl.in einer Rechtsfrage v. 30.4.2003 (Az. I KZP 12/03), OSNKW 5 –6/2003, Nr. 42. 43

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In Bezug auf die Pflichtwidrigkeit des Handelns eines Amtsträgers scheint das Oberste Gericht eine weite Auslegung zu bevorzugen. In einem entschiedenen Fall 48 verabredeten zwei Beteiligte eines fingierten Autounfalls mit einem Polizisten die Tatzeit und den Tatort. Der angeklagte Polizist sorgte dafür, daß an die Unfallstelle „geeignete Beamte“ geschickt werden, die wegen herannahenden Dienstschlusses die genauen Umstände nicht ermitteln würden. Das Gericht stellte zunächst fest, daß die Unfallaufnahme als solche zu den Pflichten der Polizeiangestellten gehört. Sodann stellte es die Behauptung auf, eine Überschreitung von Befugnissen könne auch dann vorliegen, wenn das Handeln des Angestellten im öffentlichen Dienst – hier des Polizisten – zwar formell durch seine Befugnisse gedeckt sei. Dennoch bestehe die Überschreitung der Befugnisse in der Art und Weise der Ausführung der Diensthandlung, die nicht vom „rechtlichen Rahmen“ der Ermächtigungsgrundlage im Polizeigesetz umfaßt sei 49. Das Oberste Gericht vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, daß im Rahmen des Art. 231 §1 k.k. kein Schaden eintreten muß. Ausreichend ist als objektives Merkmal die „Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts“ 50, auf subjektiver Seite der diesbezügliche Vorsatz 51. Rechtsprechung und Schrifttum zu Art. 231 k.k. lassen sich danach auf den Nenner bringen, daß bereits die Gefährdung eines öffentlichen oder privaten Interesses zur Bejahung des Tatbestandes des Art. 231 k.k. führt, wenn dies auf pflichtwidrigem Tun eines Angestellten im öffentlichen Dienst beruht. Die Pflichtwidrigkeit muß dabei nicht in der Verletzung einer konkreten Rechtsnorm bestehen, schon die Art und Weise der an sich rechtlich zulässigen Amtsausübung kann diese Pflichtwidrigkeit begründen, wenn die umfassende – auch systematische – Auslegung der einschlägigen Ermächtigungsnormen die Vorgehensweise des Amtsträgers verbietet. Das entscheidende Merkmal ist die Eigenschaft des Täters als Angestellter im öffentlichen Dienst, das letztlich auch nur durch Auslegung der die Tätigkeit begründenden Spezialgesetze bestimmt werden kann.

48

Urt. des OG v.28.11.2006 (Az. III KK 152/06), OSNKW 2/2007, Nr. 15. Der Polizist handelte in Vorteilserlangungsabsicht nach Art. 231 §2 k.k. Daneben hat sich der Polizist der Beihilfe zum Betrug strafbar gemacht (Art. 286 §1 i.V.m. Art. 11 §2 k.k.). 50 Gegen dieses Merkmal müssen allerdings dieselben Bedenken wie im Hinblick auf die „schadensgleiche Vermögensgefährdung“ im Rahmen des §263 bzw. §266 StGB angemeldet werden. Wann ist der Eintritt eines Schadens wahrscheinlich und wann „nur“ möglich und ist diese Möglichkeit etwa ausreichend? Dies ist in der Rechtsprechung und im Schrifttum ungeklärt. 51 Beschl.des OG v.25.2.2003 (Az. WK 3/03), OSNKW 5 –6/2003, Nr. 53. 49

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VI. Die Bestimmungen in Österreich, in der Schweiz und in Frankreich Ein Blick in die Strafgesetzbücher anderer europäischer Staaten zeigt, daß Art. 231 k.k. keineswegs eine außergewöhnliche Regelung darstellt, die Gesetzgebung allerdings nicht einheitlich ist. Drei Beispiele: a) Nach §302 Abs. 1 öStGB ist ein Beamter, der mit dem Vorsatz, dadurch einen anderen an seinen Rechten zu schädigen, seine Befugnisse beim Gesetzesvollzug wissentlich mißbraucht, mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen. §302 öStGB ist im Hinblick auf die subjektive Tatseite enger als Art. 231 k.k. Andererseits setzt §302 öStGB keine Vorteilserlangungsabsicht wie die Qualifizierung in Art. 231 §2 k.k. voraus. Bei der Auslegung der objektiven Merkmale sind viele Gemeinsamkeiten augenscheinlich. Der Grundtypus des Delikts ist damit nach beiden Rechtsordnungen gleich: Fälle des Mißbrauchs von Befugnissen im Rahmen hoheitlichen Handelns werden allgemein unter Strafe gestellt. b) Auch die beiden Strafbestimmungen des sStGB ähneln stark dem polnischen StGB. Art. 314 sStGB ist allerdings als (schädigendes) Erfolgsdelikt konzipiert, während Art. 231 k.k. wie festgestellt ein schlichtes Tätigkeitsdelikt (Amtsmißbrauch) enthält. Die fahrlässige Tatbegehung ist nach schweizerischem Recht nicht strafbar. c) Das französische Strafgesetzbuch enthält dagegen keine allgemeine Bestimmung, die den Mißbrauch der Befugnisse durch Amtsträger pönalisiert. Auch andere Bestimmungen, die unter dem Stichwort „Mißbrauch von Hoheitsgewalt gegen einzelne“ zusammengefaßt werden können, sind mit den Art. 231 k.k., §302 öStGB und den Art. 312, 314 sStGB nicht vergleichbar. Die hier als Vergleichsmaßstab in Betracht kommenden Tatbestände der Steuerüberhebung (Art. 432 – 10fStGB) oder der Amtsuntreue (Art. 432 –15 und Art. 432 –16fStGB) lassen sich vielmehr systematisch unter andere Tatbestände als die des Amtsmissbrauchs einordnen. In einem Satz zusammengefaßt lautet also das Ergebnis: Das deutsche Recht bleibt – wie die Bestimmungen in Frankreich – hinter der polnischen, aber auch hinter der österreichischen und schweizerischen Regelung des Amtsmißbrauchs deutlich zurück. VII. Rechtspolitische Analyse: Vorbild(er) für einen entsprechenden deutschen Tatbestand? Die skizzierten Entwicklungen in der Beurteilung des Amtsmißbrauchs im deutschen und polnischen Recht sowie die Analyse der geltenden polnischen, österreichischen, schweizerischen und französischen Regelungen dürften die möglichen Konzeptionen einer gesetzlichen Regelung der Probleme hinreichend aufgezeigt

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haben. Über die rechtspolitische (!) Frage, welche Konzeption den Vorzug verdient, läßt sich – wie über alle politischen Fragen – von beliebigen Positionen aus trefflich streiten. Der Wunsch, es bei weitgehender Straflosigkeit zu belassen, ist dabei ein ebenso möglicher Standpunkt wie die Forderung nach grundsätzlicher Strafbarkeit des vorsätzlichen Mißbrauchs eines öffentlichen Amtes. Dennoch gibt es einige systematische Eckdaten, die bei der Diskussion nicht außer Acht gelassen werden dürfen und die sich anhand der erörterten Bestimmungen beispielhaft belegen lassen: a) Keiner näheren Begründung bedarf, daß ein Tatbestand des Amtsmißbrauchs eine klare Bestimmung sowohl des Täterskreises als auch der in Betracht kommenden Tathandlungen treffen müßte. Die polnischen Bestimmungen von 1932 dürften mit dem Grundsatz nulla poena sine lege schlicht unvereinbar sein. Diese historischen Mängel ließen sich allerdings leicht überwinden, wenn der Täterkreis so klar eingegrenzt wird, wie dies im deutschen Strafrecht in §11 Abs. 1 Nr. 2 und 4 StGB ebenso wie in der erwähnten Rechtsprechung zum k.k. jedenfalls im wesentlichen gelungen ist. Übernimmt man darüber hinaus die traditionelle deutsche Unterscheidung zwischen Handeln in Ausübung des Amtes und Handeln nur bei Gelegenheit der Amtsausübung und beschränkt die Tathandlungen auf eindeutige Pflichtwidrigkeiten ergibt sich insoweit jedenfalls die Möglichkeit einer klar umrissenen Tatbestandsstruktur. b) Das zweite Kernproblem neben der Eingrenzung des Täterkreises ist die präzise Bestimmung des Nachteils, wenn man denn einen solchen Nachteil für die Tatbestandserfüllung überhaupt für erforderlich hält und die Bestimmung nicht als schlichtes Tätigkeitsdelikt konzipiert: – Beschränkt man den Tatbestand auf vermögensrechtliche Nachteile, reduziert man den allgemeinen Tatbestand des Amtsmißbrauchs auf die Amtsuntreue. Insoweit mag man eine Strafschärfung für Amtsträger vorsehen (vgl. §266 Abs. 2 i.V.m. 263 Abs. 3 Nr. 4 StGB), aber bei diesem Ansatz gehört die jeweilige Strafbestimmung nicht in den Abschnitt über die Amtsdelikte, sondern der Sache nach zu den Vermögensdelikten: Bestraft wird dann die vorsätzlich pflichtwidrige Schädigung; daß es sich um einen Amtsmißbrauch handelt, ist in diesem Konzept ein zusätzlicher Straf-(schärfungs-)grund nur für das Vermögensdelikt (da bei den Amtsdelikten de lege lata ein allgemeinerer Grundtatbestand fehlt). Insoweit gilt aber ganz einfach: Diebstahl, Untreue, Betrug oder Untreue sind schlicht kriminelle Delikte, auch wenn sie im Amt begangen werden. Insoweit sind die beispielhaft erwähnten §§340, 348 und auch 266 Abs. 2 i.V.m. 263 Abs. 3 Nr. 4 StGB konzeptionell völlig richtig. Der Grund der Strafbarkeit ist bei dieser Gesetzessystematik nicht die Amtsstellung, sondern das Vermögensdelikt. – Jeder Versuch, ein Tatbestandserfordernis eines Nachteils zu konstruieren, der nicht notwendig ein vermögensrechtlicher Nachteil sein muß, ist demgegenüber zum Scheitern verurteilt: Hierfür liefert die polnische Literatur zum StGB 1932

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ausreichendes Anschauungsmaterial: Selbstverständlich ist es immer irgendwo und für irgendwen nachteilig, wenn ein Amtsträger seine Pflichten nicht erfüllt. Für eine strafrechtliche Differenzierung zwischen den verschiedenen Nachteilen ist insoweit allerdings kein Ansatzpunkt ersichtlich. Die Alternative zu einer Konzeption als qualifiziertes Vermögensdelikt (Amtsuntreue) kann daher nur darin bestehen, auf den Eintritt eines tatbestandsmäßigen Nachteils zu verzichten – die Pflichtverletzung ist dann per se (abstrakt) nachteilig. Die polnische Konzeption als schlichtes Tätigkeitsdelikt ist also jedenfalls völlig konsequent. c) Die danach einzig verbleibende Frage, ob man eine derart weitgehende Strafbarkeit für vorsätzlich mißbräuchlich handelnde Staatsdiener politisch will oder nicht, kann nur der demokratisch legitimierte Gesetzgeber beantworten. Immerhin sollte man folgendes berücksichtigen: – Das naheliegende Argument, daß es einer Ahndung des Mißbrauchs einer Amtsstellung mit einer Kriminalstrafe nicht bedürfe, da sich ja zwei wesentlich einfachere andere „Ahndungen“ anbieten, nämlich die persönliche zivilrechtliche Haftung des Amtsträgers und die disziplinarische Ahndung, geht nachweislich an der Realität vorbei: Für Dienstvergehen gibt es zwar umfangreiche spezialgesetzliche Regelungen, die eine Fülle von Maßnahmen – vom einfachen Verweis bis hin zur Entfernung aus dem Amt unter Kürzung oder Streichung der Versorgungsbezüge – vorsehen. Daß diese Ahndungen in der Praxis nicht hinreichend funktionieren („formlos, fristlos, zwecklos“; „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“; strafrechtliche Verurteilungen bis zu 90 Tagessätzen hat ein Beamter „frei“), ist allerdings evident. – Das gegenwärtige Fehlen einer allgemeinen Strafbestimmung für vorsätzlichen Amtsmißbrauch wirft aber auch grundlegende dogmatische Fragen nach der Schlüssigkeit der Regelungskonzeption des 31. Abschnitts auf: Ist es wirklich überzeugend, die Korruptionstatbestände derart in den Vordergrund zu stellen, und Bestechlichkeit und Bestechung letztlich nur als Strafschärfung der Vorteilsnahme und –gewährung zu regeln? Eine Regelung, die die Bestechungstatbestände als Qualifizierung des allgemeinen Amtsmißbrauchs und die Tatbestände der Vorteilsnahme und –gewährung als ergänzende Tatbestände ausgestaltet, wäre in sich wesentlich stimmiger. – Hinzu kommt, daß bei zutreffender Analyse des Untreuetatbestands die Strafbarkeit wegen eines Vermögensdelikts in weitaus größerem Umfang gegeben ist, als dies in Rechtsprechung und Schrifttum heute angenommen wird 52. Wenn der Täter der öffentlichen Hand also beispielsweise durch die Anschaffung geringwertiger Büromaterialien unter Verstoß gegen die Vergaberichtlinien einen 52

Vgl. Gerhard Wolf , Die Strafbarkeit der rechtswidrigen Verwendung öffentlicher Mittel, Frankfurt / Main, 1998.

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geringfügigen Vermögensnachteil zufügt, ist er wegen eines kriminellen Delikts strafbar. Wenn er dagegen, wie im Eingangsbeispiel erwähnt, Baugenehmigungen rechtswidrig erteilt oder versagt, die Zulassung gefährlicher Stoffe rechtswidrig genehmigt u.ä. soll er straffrei bleiben? Es stellt sich hier ein ähnliches Problem, wie es James Goldschmidt im Verhältnis zwischen Nötigung und Erpressung festgestellt hat, als er auf die Fälle hinwies, die als Erpressung strafbar sind, auch wenn es nur um 1 Reichsmark geht, dagegen straffrei bleiben, wenn nicht ein vermögensschädigendes, sondern ein vermögensneutrales Verhalten abgenötigt wird 53. – Es liegt nach alledem nahe, die Straflosigkeit des Amtsmißbrauchs auf die bekannte und nur mühsam auszumerzende konzeptionelle Schwäche des Strafgesetzbuchs zurückzuführen, die Vermögensdelikte gegenüber anderen Straftaten „überzubewerten“. – Das scheinbar auf der Hand liegende Argument, schließlich sei auch nicht jede zivilrechtliche Pflichtverletzung eine Kriminalstraftat, liegt in Wahrheit neben der Sache: Bei den Amtsdelikten geht es um Rechtsstaatsdelikte, nicht um bloße läßliche Dienstpflichtverletzungen, und zwar nicht nur in der Rechtspflege, sondern auch in Regierung und Verwaltung. Die Annahme oder Gewährung von Geld ist doch nur das häufigste Motiv – es geht um die Korrektheit des Handelns des Staatsapparats, was in Art. 231 k.k. unmißverständlich zum Ausdruck kommt. – Die erforderliche strikte Beschränkung auf „schwerwiegende“ Amtspflichtverletzungen ergibt sich in Wahrheit nicht aus der Art und Weise der Pflichtverletzung oder der Bedeutung der jeweiligen Amtspflicht, sondern aus dem Vorsatzerfordernis! Ein Beamter der sich wissentlich über die Beschränkungen seines Amtes hinwegsetzt, soll straflos sein? – Die Strafbarkeit auch fahrlässigen Verhaltens ist demgegenüber nicht hinreichend durchdacht, wenn man nicht jede Behördenschlamperei kriminalisieren will. Hier kann man es bei disziplinarischen Maßnahmen belassen. Insoweit verdient die Schweizer Regelung uneingeschränkte Zustimmung. – Für eine Subsidiaritätsklausel gibt es keinen ersichtlichen Grund. Das Zusammentreffen mit anderen Delikten ist daher ein Fall der Ideal-, nicht der Gesetzeskonkurrenz. Die Begründung, bei vorsätzlichem Amtsmißbrauch auf eine allgemeine Strafbarkeit zu verzichten, fällt also jedenfalls wesentlich schwerer als die für den gegenteiligen Standpunkt. Schon das Bestehen des Straftatbestands hätte faktische Rückwirkungen auf die dienstrechtliche Ahndung.

53

James Goldschmidt, „Die Strafbarkeit der widerrechtlichen Nötigung nach dem Reichsstrafgesetzbuch“, Breslau 1897, S. 4f.

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Art. 231 k.k. ist nach alledem eine Bestimmung, die genügend (Zünd-)Stoff für die politische und wissenschaftliche Diskussion in Deutschland bietet. Ob die Schaffung eines entsprechenden Tatbestands im deutschen Recht angesichts der Zusammensetzung des Deutschen Bundestages („Beamtenparlament“ 54) eine realistische Perspektive ist, steht auf einem anderen Blatt.

54

So z.B. Leo Kißler, Der deutsche Bundestag, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Neue Folge, Jg. 1976, hrsg. von Gerhard Leibholz, S. 129ff.

IV. Zum Medizinstrafrecht

Der „Nikolaus-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts und seine Bedeutung für das Medizinstrafrecht und die Rationierung bei Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen Gerhard Dannecker und Anne Franziska Streng Der verehrte Jubilar hat sowohl im Kernbereich des Strafrechts gearbeitet als auch international brisante und aktuelle Fragen aufgegriffen und diese unter Einbeziehung seiner internationalen Erfahrungen wegweisenden Lösungen zugeführt. Sein großes Engagement bei nationalen und internationalen Tagungen und bei der deutsch-polnischen Juristenausbildung weisen ihn als einen Experten aus, der schon lange vor dem Beitritt Polens zur Europäischen Union rechtsvergleichend tätig war und die Notwendigkeit einer Harmonisierung des Rechts in Europa erkannt und immer wieder angemahnt hat. Außerdem hat er sich eingehend mit medizinstrafrechtlichen Fragen auseinandergesetzt. 1 Ihm soll deshalb der folgende Beitrag gewidmet werden, der sich mit der Frage nach der Anerkennung eines verfassungsrechtlich garantierten medizinischen Existenzminimums durch den „Nikolaus-Beschluss“ 2 des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 befasst und die Konsequenzen dieser Entscheidung für das deutsche Medizinstrafrecht aufzeigt. I. Problemaufriss Die Grenzen des Tötungsverbots stellen für die Rechtswissenschaft und die Rechtsprechung, aber auch für die Gesetzgebung eine Herausforderung dar, die zu einer intensiven Diskussion geführt hat, die vom vorgeburtlichen Schutz des pränidativen 3 und pränatalen 4 Lebens über Zulässigkeit und Grenzen der Sterbehilfe 5 und dem Erfordernis von Patientenverfügungen 6 bis zum Abschuss von 1

Szwarc, AIDS und Strafrecht, Berlin 1996. BVerfG, NJW 2006, 891ff. 3 Vgl. hierzu: Böckenförde, JZ 2003, 809ff.; Dreier, JZ 2007, 261 (270); ders., in: Dreier / W. Huber, Bioethik und Menschenwürde, 2002, S. 9ff.; ders., in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1 I, Rn. 77ff.; W. Graf Vitzthum, JZ 1985, 201 (207f.); Hufen, MedR 2001, 440ff.; Ipsen, JZ 2001, 989ff. 4 Vgl. hierzu: BVerfGE 33, 1ff.; 88, 203ff.; Dreier, JZ 2007, 261 (267ff.). 2

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zivilen Flugzeugen im Zusammenhang mit terroristischen Akten 7 reicht. Hierbei ist eine Entwicklung dahingehend festzustellen, dass sich die Wertschätzung des Lebens, auch und gerade des individuellen Lebens, in den letzten Jahrzehnten ganz erheblich gesteigert hat, so dass Horst Dreier in seinem Beitrag zu den „Grenzen des Tötungsverbots“ 8 zu dem Ergebnis kommt: „Während Schiller noch schreiben konnte, das Leben sei der Güter höchstes nicht, hat das Bundesverfassungsgericht ganz im Gegensatz hierzu vom Grundrecht auf Leben als einem Höchstwert gesprochen.“ Der so genannte „Nikolaus-Beschluss“ 9 des Bundesverfassungsgerichts betrifft prima facie eigentlich eine ganz andere Problematik: Im „Nikolaus-Beschluss“ setzte sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage auseinander, ob die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) die Verpflichtung trifft, über den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hinausgehende medizinische Interventionen zu finanzieren, sofern der Versicherte an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Krankheit leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, und ernsthafte Hinweise auf eine Heilung oder positive Beeinflussung des Krankheitsverlaufs existieren. Das Gericht bejahte diese Frage im Ergebnis. Der „Nikolaus-Beschluss“ bezieht sich somit ausdrücklich nur auf die Finanzierungsfrage, also letztlich auf das Sozialversicherungsrecht, und nicht auf die Grenzen des auch gegenüber der Ärzteschaft Geltung beanspruchenden Tötungsverbots. Deshalb gibt der Leitsatz des „Nikolaus-Beschlusses“ keine Veranlassung dazu, über eine Verschärfung des medizinstrafrechtlichen Sorgfaltsmaßstabs nachzudenken. Da das Medizinstrafrecht im Grundsatz gegenüber dem Sozialversicherungsrecht autonom ist, weil beide Rechtsgebiete verschiedene Zwecke verfolgen und unterschiedliche Interessen schützen, besteht auch unter dem Aspekt der Einheit der Rechtsordnung keine Veranlassung, die für die Finanzierung geltenden Maßstäbe auf den strafrechtlichen Haftungsmaßstab zu übertragen. Das gilt umso mehr, als die Einheit der Rechtsordnung keinen Grundsatz, sondern lediglich ein Postulat darstellt, dem nach Möglichkeit Rechnung zu tragen ist, und dieses Postulat keine verfassungsrechtliche Fundierung aufweist. 10 Insofern 5 Vgl. hierzu: BGHSt 32, 367ff.; 37, 376; Dreier, JZ 2007, 317 (319); Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, 2004; Bottke, Suizid und Strafrecht, 1982; Hufen, NJW 2001, S. 849ff.; Woellert / Schmiedebach, Sterbehilfe, 2008. 6 Vgl. hierzu: Taupitz (Hrsg.), Zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens – Eine internationale Dokumentation, 2000; A. Roth, JZ 2004, 494ff. 7 Vgl. hierzu: BVerfG, JZ 2006, 408ff.; R. Merkel, in: Die Zeit v.18.07.2004, S. 33; Dreier, JZ 2007, 261 (265ff.); Höfling / S. Augsberg, JZ 2005, 1080; Kersten, NVwZ 2005, 661 (661). 8 Dreier, JZ 2006, 261ff. (317ff.). 9 BVerfG, NJW 2006, 891ff. 10 Eingehend dazu: Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 401.

Der „Nikolaus-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts

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fügt sich der „Nikolaus-Beschluss“ prima facie nicht in die oben aufgezeigte Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Lebensschutz ein. Da das Bundesverfassungsgericht zur Begründung des im „Nikolaus-Beschluss“ zuerkannten Finanzierungs-Anspruchs gegenüber der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) jedoch unter anderem auf eine von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) geforderte medizinische Mindestversorgung 11 rekurrierte, drängt sich die Frage auf, ob der „Nikolaus-Beschluss“ durch die Anerkennung eines grundrechtlichen Teilhaberechts auf medizinische Versorgung vor dem Hintergrund des Gebots zur grundrechtskonformen Auslegung des einfachen Rechts 12 eine nun extensivere Auslegung der auch gegenüber der Ärzteschaft Geltung beanspruchenden Straftatbestände der fahrlässigen Körperverletzung (durch Unterlassen) 13 und der fahrlässigen Tötung (durch Unterlassen) gebietet und sich der „Nikolaus-Beschluss“ so mittelbar doch in die oben aufgezeigte Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Lebensschutz einfügt. Eine Übertragung der Aussagen im „Nikolaus-Beschluss“ auf die ärztliche Sorgfaltspflicht hätte zur Folge, dass ein Arzt, um eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung (durch Unterlassen) gemäß §§222, 229 (§13) StGB zu vermeiden, schulmedizinisch austherapierte Patienten über jede ärztlich angewandte Heilmethode, die eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung bietet oder eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verspricht, aufklären müsste und gegebenenfalls diese Heilmethoden anschließend selbst anwenden oder den Patienten an einen entsprechend qualifizierten Arzt überweisen müsste. Dieser weit reichenden Verpflichtung könnte ein Arzt nur nachkommen, wenn er sich umfassende, über den Bereich der Schulmedizin hinausreichende Kenntnisse auf dem Gebiet der zahlreichen „Außenseitermethoden“ aneignete, sich über neueste Entwicklungen auch außerhalb der Schulmedizin informierte und sich Kenntnis verschaffte, welche Ärzte auf welche „Außenseitermethoden“ spezialisiert sind und diese anwenden. Zudem müsste er die schulmedizinischen Entwicklungen von Anfang an in einem solchen Maß verfolgen, dass er es wagen könnte, „Neulandbehandlungen“ einzusetzen. Dies würde eine erhebliche Verschärfung des medizinstrafrechtlichen Sorgfaltsmaßstabs gegenüber den von der herrschenden Meinung bislang statuierten Pflichten des Arztes bedeuten. Praktische Auswirkungen hätte diese Verschärfung des me11

BVerfG, NJW 2006, 891 (894). Hierzu: Dannecker, in: StGB, Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, §1, Rn. 326ff. 13 Im Bereich des Arztstrafrechts kommt der vorsätzlichen Körperverletzung (durch Unterlassen) und der vorsätzlichen Tötung (durch Unterlassen) eine eher untergeordnete praktische Bedeutung zu, weshalb sie in der vorliegenden Untersuchung nicht berücksichtigt werden. 12

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dizinstrafrechtlichen Sorgfaltsmaßstabs eher im Bereich der durch positives Tun verwirklichten Körperverletzungs- und Tötungsdelikte als im Bereich der durch Unterlassen verwirklichten Körperverletzungs- und Tötungsdelikte. Einer Strafbarkeit des Arztes wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen wegen unterlassener Aufklärung über eine in Betracht kommende „Außenseitermethode“ sowie wegen unterlassener Durchführung einer solchen Behandlung bzw. unterlassener Überweisung an einen entsprechend qualifizierten Arzt würde nämlich in der Praxis jedenfalls in der Regel der erforderliche Kausalnachweis entgegenstehen. Denn beim (fahrlässigen) Unterlassungsdelikt ist nach der zutreffenden herrschenden Meinung im Rahmen der Kausalität darauf abzustellen, ob die unterlassene Handlung den tatbestandlichen Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte. 14 Eine bloße Risikoverminderung reicht dagegen nach herrschender Meinung nicht aus. 15 Der Nachweis, dass eine Behandlung, die dem allgemein anerkannten medizinischen Standard nicht entspricht, das Leben des Patienten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verlängert hätte, wird jedoch in der Regel nicht geführt werden können. Viel praxisrelevanter wäre die Verwirklichung eines Körperverletzungsdelikts durch den Arzt. Eine strafrechtlich relevante Körperverletzung wäre nämlich bereits dann zu bejahen, wenn der Arzt bei einem schulmedizinisch austherapierten Patienten eine als tatbestandliche Körperverletzung zu qualifizierende Behandlung durchführt (z.B. Morphiuminjektion zur Schmerztherapie), ohne den Patienten über in Betracht kommende „Außenseitermethoden“ aufzuklären. Die Einwilligung des Patienten in die durch die ärztliche Behandlung verursachte Körperverletzung wäre infolge der fehlenden Aufklärung über die (alternativ zu dem palliativ-medizinischen Eingriff) in Betracht kommenden „Außenseitermethoden“ unwirksam, und es wäre daher eine rechtswidrige Körperverletzung zu bejahen, wenn der Patient der ärztlichen Behandlung nicht in jedem Fall zugestimmt hätte. II. Der „Nikolaus-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts und seine dogmatische Begründung 1. Kernaussagen des „Nikolaus-Beschlusses“ des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht führt im „Nikolaus-Beschluss“ aus, dass es „mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip 14 Vgl. für diese h.M.: BGHSt 48, 77 (93); BGH, NStZ 2000, 583; BGH, NJW 2000, 2754 (2757); BGH, NStZ 2001, 189; Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, Vor §13, Rn. 39. 15 Im Bereich des Arztstrafrechts kommt der vorsätzlichen Körperverletzung (durch Unterlassen) und der vorsätzlichen Tötung (durch Unterlassen) eine eher untergeordnete praktische Bedeutung zu, weshalb diese Delikte in der vorliegenden Untersuchung nicht berücksichtigt werden.

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und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar (ist), einem gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“ 16. Das Bundesverfassungsgericht stützt den Leistungsanspruch des Versicherten somit auf folgende drei Rechtsprinzipien: die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) und das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). 2. Verfassungsrechtliche Fundierung des Leistungsanspruchs durch das Bundesverfassungsgericht Als Hauptargumente zieht das Bundesverfassungsgericht zunächst die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) heran. Das Gericht argumentiert, es sei mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, „den Einzelnen unter den Voraussetzungen des §5 SGB V (Sozialgesetzbuch V) einer Versicherungspflicht in der GKV (Gesetzlichen Krankenversicherung) zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge die notwendige Krankenbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode durch die Krankenkasse auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung zu verweisen“ 17. Insofern stützt sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Begründung in erster Linie auf das durch die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) gebotene Verhältnis von Leistung und Gegenleistung in einer öffentlich-rechtlichen Pflichtversicherung. 18 Daneben stellt das Gericht in seiner Begründung auf das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ab: Zwar ergebe sich aus den Grundrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere spezieller Gesundheitsleistungen. 19 Jedoch habe die Gestaltung des Leistungsrechts der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sich an der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend 16 17 18 19

BVerfG, NJW 2006, 891. BVerfG, NJW 2006, 891 (894). Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, im Druck, S. 385. BVerfG, NJW 2006, 891 (893).

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und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen. 20 Vor dem Hintergrund, dass der Staat mit dem System der gesetzlichen Krankenversicherung Verantwortung für das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Versicherten übernehme, sei dieser Schutzpflicht nur unter der Voraussetzung Genüge getan, dass dem Versicherten der im „Nikolaus-Beschluss“ anerkannte Anspruch zusteht, da er zum Kernbereich der von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geforderten Mindestversorgung gehöre. 21 Unter Hinweis auf das Sozialstaatsprinzip argumentiert das Bundesverfassungsgericht auch mit der besonderen Schutzbedürftigkeit der Versicherten. Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) erfasse nach der gesetzlichen Typisierung jedenfalls diejenigen Personengruppen, die aufgrund ihres geringen Einkommens im Krankheitsfall schutzbedürftig sind, wobei dieser Schutz durch Zwang zur Eigenvorsorge erreicht werden solle. 22 Mit dieser Versicherungsform solle auch einkommensschwachen Bevölkerungsteilen ein voller Krankenversicherungsschutz zu moderaten Beträgen ermöglicht werden. 23 Es bedürfe daher einer besonderen Rechtfertigung vor Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, wenn dem Versicherten durch gesetzliche Bestimmungen oder durch deren fachgerichtliche Auslegung und Anwendung Leistungen für die Behandlung einer Krankheit und insbesondere einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung vorenthalten werden. 24 III. Sozial- und strafrechtliche Rechtslage vor Erlass des „Nikolaus-Beschlusses“: „allgemein anerkannter Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ als gemeinsamer Maßstab des Sozial- und Strafrechts Vor dem Erlass des „Nikolaus-Beschlusses“ durch das Bundesverfassungsgericht kam dem Begriff des „allgemein anerkannten Stands der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ im Sozialrecht wie auch im Medizinstrafrecht zentrale Bedeutung zu. Sowohl die strafrechtliche Kostenerstattungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) als auch die strafrechtliche Verantwortung des Arztes bestimmten sich nach diesem Maßstab.

20 21 22 23 24

BVerfG, NJW 2006, 891 (893). BVerfG, NJW 2006, 891 (894). BVerfG, NJW 2006, 891 (892). BVerfG, NJW 2006, 891 (892). BVerfG, NJW 2006, 891 (892).

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1. Die Bedeutung des „allgemein anerkannten Stands der medizinischen Erkenntnisse“ im Sozialrecht Im Bereich der ambulanten Versorgung bestand ein (sozialrechtlicher) Leistungsanspruch gemäß §27 Abs. 1 SGB V (Sozialgesetzbuch V) bzw. ein Kostenerstattungsanspruch nach §27 Abs. 1 SGB V (Sozialgesetzbuch V) nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nur, wenn der Bundesausschuss die Behandlungsmethode positiv bewertet und festgestellt hatte, dass diese Methode dem „allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse“ entsprach. 25 Ohne eine solche Empfehlung kam ein Kostenerstattungsanspruch nur in Betracht, wenn das Anerkennungsverfahren willkürlich oder aus sachfremden Gründen blockiert oder verzögert wurde und die Behandlungsmethode zudem dem „allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse“ entsprach. 26 Im Bereich der stationären Versorgung war zwar keine Anerkennung durch den Bundesausschuss erforderlich, jedoch war für einen Leistungs- / Kostenerstattungsanspruch gemäß §27 Abs. 1 SGB V (Sozialgesetzbuch V) nichtsdestominder konstitutiv, dass die Behandlungsmethode tatsächlich zu „dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse“ zu rechnen war und der Bundesausschuss diese Methode nicht durch Negativrichtlinien vom Leistungsumfang der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgeschlossen hatte. 27 Diese Grundsätze galten auch im Falle lebensbedrohlicher oder regelmäßig tödlich verlaufender Erkrankungen. 2. Die Bedeutung des „allgemein anerkannten Stands der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ im Medizinstrafrecht Im Medizinstrafrecht kam – jedenfalls vor Erlass des „Nikolaus-Beschlusses“ – dem „allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ eine strafbarkeitsbegründende und zugleich eine strafbarkeitsbegrenzende Wirkung zu. Denn als medizinstrafrechtlicher Sorgfaltsmaßstab galt der so genannte „Facharztstandard“ 28, welcher inhaltlich dem im Sozialrecht verwendeten Begriff des „allgemein anerkannten Stands der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ entspricht, da der „Facharztstandard“ inhaltlich mit dem früher gebräuchlichen „Stand der Wissenschaft“ identisch ist. Hierunter verstand man das nach wissenschaftlicher Erkenntnis gesicherte und von einem durchschnittlich befähigten Facharzt verlangte Maß an Kenntnis und Können. 29 Zumindest bis zum Erlass des „Nikolaus-Beschlusses“ schuldete der Arzt dem Patienten weder die Aufklärung 25

BSGE 89, 54ff.; BSGE 89, 184ff. BSGE 89, 54ff.; BSGE 89, 184ff. 27 Dettling, GesR 2006, 97 (98) m.w.N. 28 Ulsenheimer, in: Laufs / Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002, §139, Rn. 18; ders., Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, §1, Rn. 18; BGH, JZ 1987, 879; OLG Oldenburg, MDR 1993, 955 (956). 26

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über medizinische „Außenseitermethoden“ und „Neulandbehandlungen“ noch die Anwendung solcher Methoden. 30 Diese Begrenzung wurde zu Recht auch als sachgerecht angesehen. Schließlich darf der Patient regelmäßig nur auf die Praktizierung der Schulmedizin vertrauen, und für den Arzt ist ein Orientierungsrahmen erforderlich, um unzumutbare strafrechtliche Haftungsrisiken zu vermeiden. 31 Für diesen Orientierungsrahmen bieten die Grundsätze der Schulmedizin den besten Maßstab. 32 IV. Sozialrechtliche und strafrechtliche Rechtslage nach Erlass des „Nikolaus-Beschlusses“: Fortentwicklung sozialrechtlicher Leistungsrechte unter Beibehaltung des „Facharztstandards“ als strafrechtlicher Sorgfaltsmaßstab 1. Aussagegehalt des „Nikolaus-Beschlusses“ Für den Bereich der lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheiten dispensiert der „Nikolaus-Beschluss“ nun von der bislang für einen (sozialrechtlichen) Kostenerstattungsanspruch gegenüber der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) konstitutiven Voraussetzung, dass die Behandlungsmethode dem „allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse“ entsprechen muss. Damit stärkt er die (Sozialleistungs-)Rechte lebensbedrohlich erkrankter gesetzlich Versicherter. 2. Notwendigkeit einer Neujustierung des Medizinstrafrechts aufgrund des „Nikolaus-Beschlusses“? Da dem „allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse“, von dem der „Nikolaus-Beschluss“ für den Bereich der lebensbedrohlich und tödlich verlaufenden Krankheiten für einen sozialrechtlichen Kostenerstattungsanspruch nun dispensiert, vor Erlass des „Nikolaus-Beschlusses“ nicht nur wesentliche Bedeutung für die Erstattungsfähigkeit einer Heilbehandlung, sondern auch für den medizinstrafrechtlichen Sorgfaltsmaßstab zukam, stellt sich die Frage, ob man aufgrund der im „Nikolaus-Beschluss“ entwickelten verfassungsrechtlichen Vorgaben annehmen muss, dass den Arzt die strafbewehrte Verpflichtung trifft, im Falle einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung, für die allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungen 29 Ulsenheimer, in: Laufs / Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002, §139, Rn. 18; ders., Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, §1, Rn. 18; BGH, JZ 1987, 879; OLG Oldenburg, MDR 1993, 955 (956). 30 Siebert, Strafrechtliche Grenzen ärztlicher Therapiefreiheit, 1983, S. 74, 133; a.A. Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, §1, Rn. 19 c. 31 Siebert, Strafrechtliche Grenzen ärztlicher Therapiefreiheit, 1983, S. 74. 32 So Siebert, Strafrechtliche Grenzen ärztlicher Therapiefreiheit, 1983, S. 74.

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nicht zur Verfügung stehen, den betroffenen Patienten über alle ärztlich angewandten Heilungsmethoden aufzuklären, die eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen, oder ihn gar entsprechend zu behandeln (was die oben beschriebenen strafrechtlichen Folgen für den Arzt hätte), oder ob der Arzt auch weiterhin nur dem sog. „Facharztstandard“ genügen muss. Im letztgenannten Fall wäre der Arzt weder dazu verpflichtet, über Heilmethoden aufzuklären, die dem „allgemein anerkannten medizinischen Standard“ nicht entsprechen, jedoch eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen, noch entsprechende Behandlungen durchzuführen oder durchführen zu lassen, da der Standard eines erfahrenen Facharztes inhaltlich dem „allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ entspricht. a) Anerkennung eines für die Auslegung der Körperverletzungsund Tötungsdelikte relevanten, verfassungsrechtlich geschützten Interesses durch das Bundesverfassungsgericht? Eine Neujustierung des medizinstrafrechtlichen Sorgfaltsmaßstabs wäre vor dem Hintergrund der Geltung des Gebots zur grundrechtskonformen Auslegung des einfachen Rechts dann diskutabel und gegebenenfalls geboten, wenn das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungsformel des „Nikolaus-Beschlusses“ auf ein für die Auslegung der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte relevantes rechtliches Interesse gestützt hätte. Das Bundesverfassungsgericht hat den sozialrechtlichen Leistungsanspruch in erster Linie damit begründet, dass es angesichts des Zwangscharakters der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der gesetzlichen Zusage der notwendigen Krankenbehandlung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit darstellen würde, den Versicherten, der an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die keine schulmedizinische Behandlungsmethoden vorliegen, von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu verweisen. 33 Hierin liegt die – nach Auffassung von Dettling 34 besser im Rahmen von Art. 14 GG (Eigentumsfreiheit) anzusiedelnde – Statuierung des von Verfassungs wegen gebotenen Verhältnisses von Beitragsleistung und Gegenleistung in einer öffentlich-rechtlichen Pflichtversicherung. Das von Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) gebotene Verhältnis von Leistung und Gegenleistung in einer öffentlich-rechtlichen Pflichtversiche33

BVerfG, NJW 2006, 891, 894. Dettling, GesR 2006, 97, 106; a.A. Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 384, Fußn. 360. 34

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rung ist für die Auslegung der dem Gesundheits- und Lebensschutz gewidmeten Körperverletzungs- und Tötungsdelikte jedoch irrelevant. Wegen seines eindeutigen vermögensrechtlichen Bezugs stellt dieses Verhältnis gerade kein von den Körperverletzungs- und Tötungsdelikten geschütztes und somit bei der (verfassungskonformen) Auslegung dieser Vorschriften zu berücksichtigendes Interesse dar. Eine Neujustierung des medizinstrafrechtlichen Sorgfaltsmaßstabs wäre jedoch dann zu erwägen, wenn die Andeutung des Bundesverfassungsgerichts bezüglich einer von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) geforderten medizinischen Mindestversorgung 35 als Statuierung eines – vom Bundesverfassungsgericht 36 selbst bislang als solches noch nicht anerkannten – medizinischen Existenzminimums zu interpretieren wäre. Ein solches aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde) – gegebenenfalls in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip – abgeleitetes medizinisches Existenzminimum könnte angesichts des Gebots zur verfassungskonformen Auslegung des einfachen Rechts 37 für die Auslegung der dem Gesundheits- bzw. Lebensschutz dienenden (einfachgesetzlichen) Körperverletzungs- und Tötungsdelikte beachtlich sein. b) Fehlende Anerkennung eines medizinischen Existenzminimums (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip) durch das Bundesverfassungsgericht Trotz des Hinweises des Bundesverfassungsgerichts im „Nikolaus-Beschluss“ auf eine von „Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) geforderte Mindestversorgung“ 38 sprechen die überzeugenderen und besseren Argumente dagegen, dass das Bundesverfassungsgericht mit dem „Nikolaus-Beschluss“ ein sehr weit verstandenes, von der Ausgestaltung des Krankenversicherungssystems unabhängiges verfassungsunmittelbares Recht auf das medizinische Existenzminimum statuieren wollte. 35

BVerfG, NJW 2006, 891 (894). BVerfG, NJW 1997, 3085; BVerfG, NJW 1998, 1775 (1776); für die Anerkennung eines medizinischen Existenzminimums dagegen: Huster, Zur Bedeutung des Sozialhilferechts für die Bestimmung einer medizinischen Mindestsicherung, in: Mazouz / Werner / Wiesing (Hrsg.), Krankheitsbegriff und Mittelverteilung, 2004, S. 157; ders., Grundversorgung und soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Schöne-Seifert / Buyx / Ach (Hrsg.), Gerecht behandelt?, S. 121ff.; Neumann, NZS 1998, 401ff.; Schmidt-Assmann, NJW 2004, 1689ff. 37 Vgl. hierzu: Dannecker, in: StGB, Leipziger Kommentar, Band 1, 12. Aufl. 2007, §1, Rn. 326ff. 38 BVerfG, NJW 2006, 891 (894). 36

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Der Anerkennung eines grundrechtlichen Anspruchs auf ein medizinisches Existenzminimum im „Nikolaus-Beschluss“ steht schon der Umfang des im „Nikolaus-Beschluss“ zuerkannten Anspruchs entgegen. Es besteht nämlich Einigkeit darüber, dass die Teilhabedimension der Grundrechte lediglich soziale Minima zu begründen vermag und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sich somit kein Grundrecht auf Gesundheit im Sinne eines Anspruchs auf Finanzierung aller zur Aufrechterhaltung der Gesundheit erforderlichen Maßnahmen entnehmen lässt 39, da „soziale Leistungsrechte mit Verfassungsrang, jedenfalls dann, wenn sie über ein strikt eingrenzbares Minimum hinausgehen, für die Architektur des Verfassungsstaats außerordentlich gefährlich sind“ 40. Der vom Bundesverfassungsgericht im „Nikolaus-Beschluss“ anerkannte Anspruch geht jedoch – zumindest für den Bereich lebensbedrohlicher Krankheiten – weit über ein medizinisches Existenzminimum hinaus, unabhängig davon, ob man das medizinische Existenzminimum nun egalitaristisch oder freiheitsfunktional-suffizienzorientiert 41 definiert. Denn der Leistungsanspruch umfasst auch solche Behandlungen, die „bloß nicht evident ungeeignet“ 42 sind, und läuft damit faktisch auf einen Anspruch auf eine medizinische Maximalversorgung hinaus. Dagegen gebietet das medizinische Existenzminimum, wie auch immer es definiert wird, allenfalls „die Sicherstellung solcher medizinischer Leistungen, die evident medizinisch erforderlich und sinnvoll sind, die also Anforderungen wie denen des §2 Abs. 1 Satz 3 SGB V entsprechen, nicht dagegen die Kostenübernahme für medizinische Leistungen, die bloß nicht evident ungeeignet sind“ 43. Das von Verfassungs wegen gebotene medizinische Existenzminimum beginnt nämlich zumindest nicht schon unmittelbar jenseits esoterischer Heilmethoden, sondern frühestens mit dem, was „gemessen an den üblichen Standards medizinischer Erkenntnisse gesichert erforderlich ist“ 44. Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht, hätte es einen verfassungsunmittelbaren und von der jeweiligen Ausgestaltung des Versicherungssystems unabhängigen Anspruch auf das medizinische Existenzminimum statuieren wollen, den im „Nikolaus-Beschluss“ zugestandenen Anspruch zum einen nicht ausschließlich gesetzlich krankenversicherten Patienten hätte vorbehalten dürfen, sondern diesen auch Nichtversicherten und Privatversicherten hätte zugestehen müssen, und zum anderen diesen Anspruch nicht ohne Rücksicht auf die Bedürftigkeit der Versicherten hätte gewähren dürfen. 39

Vgl. Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, Soziale Grundrechte, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2. Aufl. 2000, §112 Rn. 97. 40 Huster, Anmerkung, JZ 2006, S. 466 (468). 41 Diese Differenzierung verwendet Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, im Druck. 42 Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, im Druck, S. 391. 43 Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, im Druck, S. 391; im Ergebnis auch Huster, JZ 2006, 466 (468). 44 Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, im Druck, S. 391; im Ergebnis auch Huster, JZ 2006, 466 (468).

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Außerdem hätte das Bundesverfassungsgericht – hätte es ein medizinisches Existenzminimum statuieren wollen – ausschließlich auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG, gegebenenfalls in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, zurückgreifen und die in Art. 2 Abs. 1 GG garantierte allgemeine Handlungsfreiheit außen vor lassen müssen, anstatt – wie geschehen – Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip zum vorrangigen Maßstab für die verfassungsrechtliche Prüfung 45 zu erklären. Auch läge in der Anerkennung eines vom Versicherungssystem unabhängigen medizinischen Existenzminimums ein radikaler Bruch mit der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, nach der sich aus dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit kein Anspruch gegen die Krankenversicherung auf Bereitstellung spezieller Gesundheitsleistungen ergibt. 46 Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung im „Nikolaus-Beschluss“ sogar explizit bestätigt. 47 Für die Richtigkeit der hier vertretenen Deutung, dass das Bundesverfassungsgericht kein aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG abgeleitetes Recht auf ein medizinisches Existenzminimum anerkannt hat, spricht schließlich die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: In einer nach dem „Nikolaus-Beschluss“ ergangenen Entscheidung 48, die die Kostentragungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für eine als neue Behandlung zu qualifizierende Hyperthermiebehandlung betraf, 49 hat das Bundesverfassungsgericht den Anspruch auf Finanzierung neuer Behandlungsmethoden im Fall einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Krankheit ausschließlich auf die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip gestützt und das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), die sedes materiae für das Recht auf das medizinische Existenzminimum ist, gänzlich unerwähnt gelassen. 3. Fazit: Irrelevanz des „Nikolaus-Beschlusses“ für den medizinstrafrechtlichen Haftungsmaßstab Somit bleibt festzuhalten, dass die im „Nikolaus-Beschluss“ entwickelten verfassungsrechtlichen Vorgaben und Aussagen jeglichen Überlegungen hinsichtlich einer Neujustierung des strafrechtlichen Haftungsmaßstabs im Medizinstrafrecht eine Absage erteilen. Damit gilt der Facharztstandard auch im Bereich der Behand45 46 47 48 49

BVerfG, NJW 2006, 891; BVerfG, NJW 1998, 1775 (1776). BVerfG, NJW 1997, 3085. BVerfG, NJW 2006, 891 (893). BVerfG, 2007-11-29, 1 BvR 2496/07. BVerfG, 2007-11-29, 1 BvR 2496/07.

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lung lebensbedrohlicher oder regelmäßig tödlich verlaufender Erkrankungen, für die keine dem anerkannten medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht, weiterhin fort. Im Falle einer solchen Erkrankung besteht somit für den behandelnden Arzt weder eine Verpflichtung, über ärztlich angewandte Heilmethoden aufzuklären, die eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen, noch muss er derartige Behandlungen selbst durchführen oder den Patienten an einen eine derartige Behandlung durchführenden Facharzt überweisen oder gar an einen Heilpraktiker verweisen, der diese Methode anwendet. Mit dem „Nikolaus-Beschluss“ hat das Bundesverfassungsgericht kein medizinisches Existenzminimum statuiert, das eine derartige Verschärfung des strafrechtlichen Sorgfaltsmaßstabs nahelegen würde. Vielmehr befasst sich dieser Beschluss ausschließlich mit dem von Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) gebotenen Verhältnis von Leistung und Gegenleistung in einem öffentlichrechtlichen Pflichtversicherungssystem. Damit weist der „Nikolaus-Beschluss“ einen klaren und eindeutigen vermögensrechtlichen Bezug auf und berührt kein von den Körperverletzungs- und Tötungsdelikten geschütztes und somit bei der Auslegung dieser Delikte zu berücksichtigendes Interesse. Festzuhalten bleibt daher, dass nicht alle medizinischen Leistungen, die von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) finanziert werden müssen, von jedem Arzt auch tatsächlich zu erbringen sind, um eine Strafbarkeit zu vermeiden. Im Strafrecht gilt vielmehr nach wie vor der „Facharztstandard“, der Umfang und Grenzen der strafrechtlichen Verantwortung bestimmt. V. Der „Nikolaus-Beschluss“ als Grenze für die Rationierung 49 bei Leistungen der Gesetzlichen Krankenkassen? Der „Nikolaus-Beschluss“ bewirkt keine Verschärfung des medizinstrafrechtlichen Sorgfaltsmaßstabs. Jedoch verhindert der „Nikolaus-Beschluss“, dass es in nächster Zukunft zu einer Absenkung des (bisher geltenden) medizinstrafrechtlichen Sorgfaltsmaßstabs kommt, die durch eine Änderung des Krankenversicherungsrechts veranlasst ist: Zwar müsste das Medizinstrafrecht einer Streichung lebensverlängernder oder lebensqualitätsteigernder medizinischer Leistungen aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) durch Absenkung des (bisher geltenden) medizinstrafrechtlichen Sorgfaltsmaßstabs Rechnung tragen. Denn das Strafrecht kann aufgrund seiner „ultima ratio“-Funktion nicht 50 Vgl. hierzu nur: Ebsen, Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 77 (1997), S. 109ff.; Nettesheim,VerwArch 93 (2002), S. 315ff.; SchmidtAßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, Verfassungsrechtliche Anforderungen an Entscheidungsgremien in der gesetzlichen Krankenversicherung und im Transplantationswesen, 2001.

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dazu eingesetzt werden, solche Leistungen zu erzwingen, die sich eine Gesellschaft nicht mehr leisten kann oder nicht mehr leisten will, weil man ansonsten mit dem Strafrecht Sozialleistungen von Privaten einfordern würde. Jedoch verbietet der „Nikolaus-Beschluss“ gegenwärtig eine Rationierung lebensverlängernder oder lebensqualitätsteigernder medizinischer Leistungen und damit eine Streichung entsprechender Leistungen aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), weshalb es in nächster Zukunft nicht zu einer durch die Änderung des Krankenversicherungsrechts veranlassten Absenkung des medizinstrafrechtlichen Sorgfaltsmaßstabs kommen kann. Allerdings verhindert der „Nikolaus-Beschluss“ nicht solche Leistungsbeschränkungen, die zumindest mittelfristig aufgrund der demographischen Entwicklung und insbesondere angesichts des medizinisch-technischen Fortschritts im öffentlichen Gesundheitswesen unausweichlich werden. Denn das Bundesverfassungsgericht anerkennt kein medizinisches Existenzminimum; es garantiert keinen umfassenden Gesundheits- und Lebensschutz, sondern bezieht seine Ausführungen auf ein konkretes Versicherungssystem, das dem Bürger die von ihm erworbenen Rechte gewähren muss. Somit steht der „Nikolaus-Beschluss“ nicht per se Rationierungsüberlegungen im Krankenversicherungsrecht entgegen. Aber auch für das gegenwärtige Versicherungssystem der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) stellt der „Nikolaus-Beschluss“ keine absolute Rationierungsgrenze dar: Dadurch, dass das Bundesverfassungsgericht den im „NikolausBeschluss“ gestützten Finanzierungsanspruch auf das von der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) gebotene Verhältnis von Leistung und Gegenleistung in einer öffentlich-rechtlichen Pflichtversicherung gestützt hat, steht der „Nikolaus-Beschluss“ einer Kürzung auch lebenserhaltender Leistungen nur so lange entgegen, wie die Kosten der von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erbrachten Gesundheitsleistungen noch durch die Beiträge der Versicherten finanzierbar sind. Sollte sich dieses Gleichgewicht aufgrund des medizinischen Fortschritts und der Überalterung der Gesellschaft einmal dramatisch verschieben, so ist es – auch wenn dies zu bedauern ist – durchaus denkbar, dass sich dem „Nikolaus-Beschluss“ nicht einmal mehr ein Anspruch auf die Finanzierung jeder lebenserhaltenden Maßnahme (ganz zu schweigen von lebensqualitätsverbessernden Maßnahmen) entnehmen lassen wird. Damit erlangt die Aussage Schillers, das Leben sei der Güter höchstes nicht, an Aktualität. Die Diskussion um die ärztlichen Grenzen der Rationierung medizinischer Leistungen muss geführt werden, ohne dass auf die schlichte Anerkennung des Grundrechts auf Leben als ein Höchstwert durch das Bundesverfassungsgericht zurückgegriffen werden kann. Hierbei wird es notwendig sein, klare und für den Arzt vorhersehbare Kriterien zu erarbeiten, die der Gesetzgeber festschreiben muss, um den rechtlichen Handlungsrahmen für die Ärzte abzustecken und damit seiner Aufgabe nachzukommen, Orientierungssicherheit durch hinreichend bestimmte und demokratisch legitimierte Regelungen für die Ärzteschaft zu bieten.

Zur mutmaßlichen Einwilligung bei medizinischen Eingriffen Zugleich eine Besprechung des Urteils des polnischen Obersten Gerichts in Strafsachen vom 27. November 2007 Joanna Długosz und Jan C. Joerden I. Vorbemerkung Andrzej J. Szwarc, dem dieser Beitrag in herzlicher Verbundenheit zu seinem 70. Geburtstag gewidmet ist, hat sich in seinem wissenschaftlichen Werk immer wieder einmal mit der Problematik der Reichweite der Einwilligung auseinandergesetzt. 1 So etwa im Sportrecht, wo es bekanntlich u.a. darum geht, inwieweit die Einwilligung auch bei Regelverstößen des Einwilligungsadressaten noch rechtfertigend wirken kann und welche Wirksamkeit die Einwilligung bei der Beteiligung an (lebens-)gefährlichen Sportarten hat. Aber auch im Bereich der strafrechtlichen Beurteilung von Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Immunschwächekrankheit AIDS haben Beiträge des Jubilars die Frage nach den rechtlichen Auswirkungen einer ggf. erteilten Einwilligung thematisiert. Wir hegen daher die Hoffnung, dass der nachfolgende Beitrag zu einigen Aspekten von Einwilligung und mutmaßlicher Einwilligung auf das Interesse des Jubilars stoßen könnte, und freuen uns schon auf angeregte Diskussionen mit ihm zu dieser Problematik. Zumindest sind wir uns sicher, dass er polnisch-deutsche Ko-Produktionen wie diese immer mit tiefem Verständnis für die damit verbundenen Schwierigkeiten einer die Grenzen überschreitenden Rechtserforschung begleiten wird.

1 So etwa in Szwarc, Zgoda pokrzywdzonego jako podstawa wyła˛czenia odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe (Einwilligung des Verletzten als Strafausschließungsgrund bei Sportunfällen), Pozna´n 1975; ders., Niektóre inne podstawy wyła˛czenia odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe (Weitere Gründe der Ausschließung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei Sportunfällen), Sport Wyczynowy 1972, Nr. 6, S. 49 –53; ders., Granice bezkarno´sci wypadków sportowych (Die Grenzen der Straflosigkeit bei Sportunfällen), Sport Wyczynowy 1972, Nr. 7, S. 39 –43; ders., Karalno´sc´ zaka˙zenia wirusem HIV (Die Strafbarkeit wegen HIV-Infizierung), Problemy HIV i AIDS 1995, Nr. 1, S. 39 –43; ders., Dopingrecht in Polen, in: Vieweg (Hrsg.), Doping. Realität und Recht, Berlin 1998, S. 279 – 305; ders., Die Strafbarkeit wegen HIV-Infizierung. Art. 161 §1 k.k., in: G. Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 5/6. Das neue polnische Strafgesetzbuch (Kodeks karny), Berlin 2002, S. 299 – 308.

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II. Problemstellung Kann die Einwilligung eines sich in Lebens- oder Leibesgefahr befindenden Patienten nicht rechtzeitig eingeholt werden, so kommt die Rechtfertigung eines medizinischen Eingriffs durch sog. mutmaßliche Einwilligung in Betracht. Dabei wird die Frage, ob eine solche mutmaßliche Einwilligung möglich ist, wesentlich von der objektiven Lage des Patienten im Moment des Eingriffs mitbestimmt, insbesondere dann, wenn keine vorgängige Verfügung des Patienten oder Indizien vorhanden sind, aus denen auf den Willen des Patienten geschlossen werden könnte. Wie noch näher zu zeigen sein wird, stellt das polnische Recht – anders als das deutsche Recht – zusätzlich formelle Anforderungen an die Wirksamkeit einer mutmaßlichen Einwilligung, wenn ein medizinischer Eingriff erfolgen soll. Im vorliegenden Beitrag wird es insbesondere darum gehen, die rechtliche Reichweite solcher zusätzlicher formeller Anforderungen näher zu bestimmen. Dies soll anhand eines unlängst veröffentlichten Urteils 2 des polnischen Obersten Gerichts in Strafsachen zur Zulässigkeit der Durchführung von Operationseingriffen ohne Einwilligung des Patienten geschehen. Einwilligung und mutmaßliche Einwilligung bei medizinischen Eingriffen 3 werden im polnischen Recht im Wesentlichen aufgrund von Vorschriften des Gesetzes über den Arztberuf 4 sowie des polnischen Strafgesetzbuches (Kodeks karny) 5 näher geregelt. Zu beachten sind dabei allerdings weiterhin die Bestimmungen des Kodex der ärztlichen Ethik (Kodeks Etyki Lekarskiej) 6, der eine Reihe nichtgesetzlicher Normen enthält, die im polnischen Recht eine unterstützende 2 Urteil des Obersten Gerichts in Strafsachen vom 28. November 2007 (V KK 81/ 07) veröffentlicht in: Orzecznictwo Sa˛du Najwy˙zszego, Izba Karna (Rechtsprechung des Obersten Gerichts, Strafkammer) 2008, Nr. 2, S. 5ff. 3 Im geltenden polnischen Recht wird der Begriff eines medizinischen Eingriffs nicht explizit definiert. Eine entsprechende Definition wurde jedoch im polnischen Schrifttum erarbeitet. Danach werden mit diesem Begriff alle ärztlichen Handlungen erfasst, die im vorbeugenden, diagnostischen, therapeutischen oder Rehabilitationsstadium vorgenommen werden und wegen der dabei angewandten medizinischen Technik mit der Verletzung der körperlichen Integrität eines Patienten infolge Verletzung seines Körpergewebes oder mit einer physischen Invasion in seinen Körper verbunden sind. Näher dazu siehe Filar u.a., Odpowiedzialno´sc´ lekarzy i zakładów opieki zdrowotnej (Die Verantwortlichkeit der Ärzte und der Gesundheitszentren), Warszawa 2004, S. 188ff.; ders., Lekarskie prawo karne (Das Arztstrafrecht), Zakamycze 2000, S. 245ff. 4 Ustawa z dnia 5.12.1996 o zawodzie lekarza (Das Gesetz über den Arztberuf ), Dz. U. (Gesetzblatt) 2005, Nr. 226, Pos. 1943 mit späteren Änderungen (im Folgenden: ArztG). 5 Ustawa Kodeks Karny (Gesetz: Das polnische Strafgesetzbuch) vom 6.6.1997, Dz. U. (Gesetzblatt) 1997, Nr. 88, Pos. 553 mit späteren Änderungen (im Folgenden: KK). Die im vorliegenden Beitrag erwähnten Vorschriften des KK werden grundsätzlich in der Übersetzung von Ewa Weigend zitiert, vgl. E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch vom 6. Juli 1997, Freiburg im Breisgau 1998. 6 Kodeks Etyki Lekarskiej (Kodex der ärztlichen Ethik) vom 2.1.2004 (im Folgenden: KEL). Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass der KEL keine Rechtsquelle

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Funktion bei der Beurteilung ärztlichen Handelns haben. Wie die entsprechenden Normen ineinander greifen, zeigt das Beispiel des hier näher zu besprechenden Urteils des polnischen Obersten Gerichts in Strafsachen. III. Die Entscheidung des polnischen Obersten Gerichts in Strafsachen vom 27. November 2007 1. Zur prozessualen Vorgeschichte der Entscheidung Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, dass er bei der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeiten als Assistenzarzt einer chirurgischen Abteilung in einem Krankenhaus einen Operationseingriff zur Behebung eines Leistenbruchs ohne die Einwilligung des Patienten durchgeführt habe, obwohl der Patient keiner unverzüglichen medizinischen Hilfe bedurfte und ein sofortiger Operationseingriff seinerzeit nicht erforderlich war, da keine unmittelbare Gefahr für das Leben und die Gesundheit des Patienten bestand. Während der Behandlung hatte der Angeklagte jedoch eine Lebensgefahr für den Patienten angenommen und deshalb die Operation zur Behebung eines Leistenbruchs ohne die an sich erforderliche Einwilligung durchgeführt. In der Anklage wurde die Tat als Medizinischer Eingriff ohne Einwilligung des Patienten gem. Art. 192 §1 KK 7 qualifiziert. Während des ersten Verfahrens wurde der Angeklagte von dem erstinstanzlich entscheidenden Amtsgericht (sa˛d rejonowy) freigesprochen. Das Urteil wurde durch Entscheidung des Bezirksgerichts (sa˛d okre˛gowy) aufgehoben und die Sache zur erneuten Prüfung an das Amtsgericht zurückverwiesen. In dem erneuten Verfahren hat das Amtsgericht den Angeklagten wegen eines Medizinischen Eingriffs ohne Einwilligung des Patienten gem. Art. 192 §1 KK verurteilt. Diese Verurteilung wurde von dem Verteidiger des Angeklagten zu dessen Gunsten angefochten. Das Urteil des Amtsgerichts wurde allerdings wiederum durch Entscheidung des Bezirksgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Prüfung an das Amtsgericht zurückverwiesen. Während des daraufhin durchgeführten weiteren Verfahrens vor dem Amtsgericht in dieser Sache wurde der Angeklagte nunmehr wiederum freigesprochen. im engeren Sinne darstellt, so dass Verstöße gegen die dort enthaltenen Bestimmungen nicht rechtlich sanktioniert werden können, wenn sie nicht zugleich gegen ein gesetzliches Gebot oder Verbot verstoßen oder einer gesetzlichen Erlaubnis nicht entsprechen, vgl. Beschluss des polnischen Verfassungsgerichtshofes (Trybunał Konstytucyjny) vom 17.3.1993, veröffentlicht in: Orzecznictwo Trybunału Konstytucyjnego (Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes) 1993/1/16, W16/92. 7 Art. 192 KK: §1. Wer bei einem Patienten ohne dessen Einwilligung einen medizinischen Eingriff vornimmt, wird mit Geldstrafe, mit Freiheitsbeschränkungsstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. §2. Eine Straftat im Sinne des §1 wird auf Antrag des Verletzten verfolgt.

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Dieses Urteil wurde sowohl von der Staatsanwaltschaft als auch von dem Bevollmächtigten des Nebenklägers angefochten. Das Bezirksgericht hat die Entscheidung des Amtsgerichts jedoch in Kraft gelassen. Gegen dieses Urteil des Bezirksgerichts wurde von dem Bevollmächtigten des Nebenklägers die Kassation beim Obersten Gericht beantragt. 2. Die zum Kassationsantrag führenden Gründe In dem Verfahren, das dem Kassationsantrag zugrunde lag, hatte das erstinstanzlich entscheidende Amtsgericht – wie dargestellt – den Angeklagten von dem Vorwurf der Begehung einer Straftat nach Art. 192 §1 KK (Medizinischer Eingriff ohne Einwilligung des Patienten) freigesprochen. Das Gericht war dabei davon ausgegangen, dass – entgegen der Anklage – die Notwendigkeit zur Operation des Leistenbruchs während des Eingriffs tatsächlich entstanden war, was die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale der vorgeworfenen Straftat aus Art. 192 §1 KK ausschließe. Eine solche Auslegung dieser Norm durch das Amtsgericht bedeutete vor allem, dass das Gericht die Notwendigkeit einer Einwilligung des Patienten in diesem Falle letztlich gar nicht in Betracht zog, obwohl es durchaus festgestellt hatte, dass eine solche Einwilligung nicht erteilt wurde. Bei der Anfechtung dieses freisprechenden Urteils des Amtsgerichts sowohl durch die Staatsanwaltschaft als auch durch den Bevollmächtigten des Nebenklägers trug die Staatsanwaltschaft vor, das Gericht habe seine Entscheidung auf eine fehlerhafte Anwendung des Tatbestands gestützt, indem es irrtümlich die Notwendigkeit des Operationseingriffs als Tatbestandsausschluss habe gelten lassen, obwohl auch die Vornahme eines solchen Eingriffs die Einwilligung des Patienten erfordere. Demgegenüber betonte der Bevollmächtigte des Nebenklägers, das Urteil des Amtsgerichts verstoße gegen die Bestimmungen des Art. 192 §1 KK i.V.m. Art. 35 Abs. 1 und 2 ArztG 8. Der Angeklagte möge zwar dazu berechtigt gewesen sein, den Operationseingriff ohne die Einwilligung des Patienten durchzuführen, habe aber andere, in Art. 35 ArztG normierte Anforderungen nicht erfüllt, indem 8 Art. 35 ArztG: Abs. 1. Wenn während der Durchführung eines Operationseingriffs oder der Anwendung einer Heil- oder diagnostischen Methode Umstände auftreten, bei deren Nichtbeachtung dem Patienten der Verlust des Lebens, eine schwere Körperverletzung oder eine schwere Gesundheitsbeschädigung droht, und es nicht möglich ist, die Einwilligung des Patienten oder seines gesetzlichen Vertreters einzuholen, darf der Arzt, ohne diese Einwilligung, den Umfang des Operationseingriffs oder die Methode der Heilung oder der Diagnostik in einer die Umstände des Falles berücksichtigenden Weise ändern. In einem solchen Fall obliegt es dem Arzt, soweit dies möglich ist, ein Gutachten eines anderen Arztes einzuholen, der, nach Möglichkeit, in demselben Fachgebiet tätig ist. Abs. 2. In den in Abs. 1 genannten Situationen hat der Arzt einen entsprechenden Vermerk in die medizinische Dokumentation aufzunehmen sowie den Patienten, dessen gesetzlichen Vertreter oder faktischen Betreuer oder das Vormundschaftsgericht zu informieren.

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er den Fall mit keinem anderen Arzt besprochen sowie keinen entsprechenden Vermerk in die medizinische Dokumentation aufgenommen habe. Das Bezirksgericht als Berufungsinstanz ließ das angefochtene Urteil des Amtsgerichts in Kraft. Dabei gab das Gericht zwar dem Bevollmächtigten des Nebenklägers insofern Recht, als der Angeklagte den Anforderungen des Art. 35 Abs. 1 und 2 ArztG nicht nachgekommen sei. Jedoch habe dieser sich zugleich in einer insoweit anomalen Situation – d.h. in einer Notstandssituation – befunden, als er gezwungen war, sich zwischen der Beachtung der Autonomie des Patienten und der Erforderlichkeit der Rettung des Lebens und der Gesundheit des Patienten zu entscheiden. Daher sei das Verhalten des Angeklagten nicht als rechtswidrig anzusehen. Unabhängig davon hat das Bezirksgericht darauf hingewiesen, dass selbst bei Annahme der Rechtswidrigkeit der Tat des Angeklagten keine Grundlage dafür bestehe, ihm einen Schuldvorwurf zu machen. Den Gegenstand der gegen das Urteil des Bezirksgerichts von dem Bevollmächtigten des Nebenklägers beantragten Kassation bildete die Rüge einer offensichtlichen Verletzung des materiellen Rechts, und zwar einer Verletzung von Art. 26 §1 KK 9 (Notstand). Diese wurde darin gesehen, dass vom Bezirksgericht angenommen worden war, der Angeklagte habe in einer anomalen Situation gehandelt, und dies, obwohl die fehlende Einwilligung des Patienten grundsätzlich die Rechtmäßigkeit der ärztlichen Handlungen ausschließe und nur die Erfüllung aller aus Art. 35 ArztG folgender Anforderungen von der Erforderlichkeit der Einholung einer solchen Einwilligung befreien könne. Der Angeklagte habe es jedoch unterlassen, diese Anforderungen zu erfüllen, obwohl ihm dies in der konkreten Sachlage durchaus zumutbar gewesen sei. Darüber hinaus wurden in dem Antrag auf Kassation zahlreiche Verletzungen des Prozessrechts gerügt; so seien nicht alle im Verlauf des Verfahrens bekannt gewordenen Umstände durch das Gericht berücksichtigt worden, was dazu geführt habe, dass die Möglichkeit eines ärztlichen Kunstfehlers bzw. einer fahrlässigen Körperverletzung gar nicht erst in Betracht gezogen worden sei. Demgegenüber hatte die Staatsanwaltschaft die Abweisung der Kassation beantragt. 9 Art. 26 KK: §1. Wer zum Zwecke der Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr handelt, die einem Rechtsgut droht, begeht keine Straftat, wenn die Gefahr nicht anders abwendbar ist und das geopferte Gut einen niedrigeren Wert als das gefährdete darstellt. §2. Auch wer ein Rechtsgut unter den Voraussetzungen des §1 rettet und hierzu ein Rechtsgut opfert, das keinen offensichtlich höheren Wert als das gefährdete darstellt, begeht keine Straftat. §3. Werden die Grenzen des Notstands überschritten, so kann das Gericht die außerordentliche Strafmilderung anwenden oder sogar von der Verhängung der Strafe absehen. §4. Hat der Täter ein Rechtsgut geopfert, zu dessen Schutz er sogar unter Gefährdung der eigenen Person besonders verpflichtet war, so findet §2 keine Anwendung. §5. Kann der Täter nur eine von mehreren ihm obliegenden Pflichten erfüllen, so gelten die §§1 bis 3 entsprechend.

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3. Die Entscheidungsgründe des Obersten Gerichts Das Oberste Gericht hat zunächst festgestellt, dass es wegen des Verbotes einer reformatio in peius keine Stellung dazu nehmen dürfe, ob der Verurteilte durch sein Verhalten die Merkmale eines ärztlichen Kunstfehlers bzw. einer fahrlässigen Körperverletzung verwirklicht hat, weil dieser nur wegen der Durchführung eines Medizinischen Eingriffs ohne Einwilligung des Patienten gem. Art. 192 §1 KK verurteilt und das rechtskräftige Urteil nur zu seinen Gunsten angefochten wurde. 10 Aus diesem Grunde gehe die Behauptung, der Verurteilte könnte möglicherweise eine Straftat der Körperverletzung begangen haben, über den Rahmen der in einem Kassationsverfahren zulässigen Überprüfung hinaus. Demgegenüber hat das Oberste Gericht den Einwand einer unbegründeten Annahme einer Notstandssituation durch das Bezirksgericht als zutreffend angesehen. Es stehe außer Frage, dass der Verurteilte keine Schritte unternommen habe, die ihn von der Verantwortlichkeit für die Durchführung eines chirurgischen Eingriffs ohne die Einwilligung des Patienten befreien könnten. Es stelle sich daher die Frage, ob es möglich sei anzunehmen – wie dies das Bezirksgericht getan hatte –, dass der Verurteilte sich auf den Rechtfertigungsgrund aus Art. 26 §1 KK berufen könne. Dieses Problem sei in der Rechtsprechung bisher nicht eingehend untersucht worden. Im Schrifttum werde jedoch fast einhellig angenommen, dass das geltende Recht die Annahme einer Notstandssituation nach Art. 26 §1 KK bzw. nach Art. 26 §5 KK im Falle eines Konflikts zwischen dem Recht des Patienten auf Selbstbestimmung einerseits und der Erforderlichkeit der Rettung seines Lebens und seiner Gesundheit andererseits nicht zulasse. 11 Nur dann, wenn ein Arzt bei fehlender Einwilligung des Patienten in die Durchführung 10 Gemeint ist dabei das zweite Urteil des Amtsgerichts in dieser Sache, mit dem der Angeklagte nach Art. 192 §1 KK verurteilt wurde und das er (zunächst erfolgreich) angefochten hatte, indem das Urteil des Amtsgerichts durch Entscheidung des Bezirksgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Prüfung an das Amtsgericht zurückverwiesen wurde. Infolge des daraufhin durchgeführten weiteren Verfahrens vor dem Amtsgericht wurde der Angeklagte nunmehr wiederum freigesprochen. Erst gegen diesen vom Bezirksgericht bestätigten Freispruch wandte sich der Kassationsantrag. 11 So u.a. auch A. Zoll, Granice legalno´sci zabiegu leczniczego (Die Grenzen eines rechtmäßigen ärztlichen Eingriffs), Prawo i Medycyna 1999, Nr. 1, S. 29; Zieli´nska, Powinno´sci lekarza w przypadku braku zgody na leczenie oraz wobec pacjenta w stanie terminalnym (Ärztliche Pflichten bei fehlender Einwilligung in medizinische Eingriffe und gegenüber dem Patienten im terminalen Zustand), Prawo i Medycyna 2000, Nr. 5, S. 73; Kardas, Zgoda pacjenta za zabieg leczniczy a problem odpowiedzialno´sci karnej lekarza za niewypełnienie obowia˛zku zapobiegania skutkowi (Die Einwilligung des Patienten in einen medizinischen Eingriff und das Problem der ärztlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit für die Nichterfüllung der Pflicht zur Erfolgsverhinderung), Przegla˛d Sa˛dowy 2005, Nr. 10, S. 55. Eine davon abweichende Ansicht vertritt Krystyna Daszkiewicz, vgl. dazu K. Daszkiewicz, Uchylenie odpowiedzialno´sci lekarza za wykonanie zabiegu bez zgody pacjenta (Die Aufhebung der ärztlichen Verantwortlichkeit für die Durchführung eines Eingriffs ohne die Einwilligung des Patienten), Palestra 2002, Nr. 11 –12, S. 31ff.

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eines Eingriffs bzw. bei der Ausweitung des Umfangs dieses Eingriffs alle Voraussetzungen des Art. 35 Abs. 1 und 2 ArztG erfülle, werde er von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit aus Art. 192 §1 KK befreit. Folglich sei anzunehmen, dass die Befreiung eines Arztes von dieser Verantwortlichkeit für die Änderung des Umfangs eines Operationseingriffs ohne Einwilligung des Patienten aufgrund von Art. 26 §1 oder §5 KK und bei gleichzeitiger Nichterfüllung der Voraussetzungen aus Art. 35 Abs. 1 und 2 ArztG nicht zulässig sei, weil dies eine Missachtung der aus der letzteren Vorschrift folgenden Garantien bedeuten würde. Das Gericht fasst seine Entscheidung in einem Leitsatz prägnant so zusammen: „Es ist nicht zulässig, einen Arzt von der Verantwortlichkeit für die Änderung des Umfangs eines Operationseingriffs ohne die Einwilligung des Patienten gem. Art. 26 §1 bzw. §5 KK und bei Nichterfüllung der Voraussetzungen aus Art. 35 Abs. 1 und 2 ArztG freizustellen, weil dies eine Missachtung der aus der letzteren Vorschrift folgenden, Garantiecharakter aufweisenden Einschränkungen bedeuten würde.“ 12 IV. Zu den Rechtsgrundlagen der Entscheidung Da das ArztG im Hinblick auf das Strafgesetzbuch (KK) lex specialis ist, soll auf das ArztG zunächst eingegangen werden; auf das Strafgesetzbuch wird allerdings zurückzukommen sein. Nach dem ArztG darf ein Arzt – soweit nichts anderes bestimmt ist – nur dann eine Untersuchung bzw. eine andere medizinische Leistung an einem Patienten vornehmen, wenn der Patient seine Einwilligung dazu erteilt hat (vgl. Art. 32 Abs. 1 ArztG). Ist der Patient minderjährig oder zur bewussten Erteilung der Einwilligung nicht in der Lage, so ist die Erteilung einer Einwilligung durch seinen gesetzlichen Vertreter obligatorisch. Dagegen ist die Einwilligung des Vormundschaftsgerichts dann erforderlich, wenn der einwilligungsunfähige Patient keinen Vertreter hat bzw. wenn eine Verständigung 13 mit 12

Dementsprechend hat das Oberste Gericht den Freispruch des Angeklagten aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht zur erneuten Verhandlung zurücküberwiesen. Das zuvor erlassene Urteil des Amtsgerichts sowie die es aufrechterhaltende Entscheidung des Berufungsgerichts (Bezirksgerichts) verloren damit ihre Wirksamkeit. Dies bedeutet, dass nach der Kassation nunmehr ein neues Verfahren vor dem Amtsgericht stattfindet. Dabei kann eine neue Entscheidung des Amtsgerichts im Laufe des neuen Verfahrens nochmals angefochten und – soweit die Sache durch das Bezirksgericht als Berufungsgericht überprüft wird – gegen das Urteil des zweitinstanzlich entscheidenden Gerichts wiederum die Kassation beantragt werden. – Hinzuweisen ist allerdings noch auf zwei Vorschriften der polnischen StPO (Kodeks poste˛powania karnego, KPK), die die Zulässigkeit der nochmaligen Kassation einschränken. Zum einen ist zu beachten, dass eine Kassation gegen denselben Angeklagten und gegen dieselbe Entscheidung von jedem Berechtigten nur einmal eingelegt werden kann (vgl. Art. 522 KPK). Zum anderen wird in Art. 539 KPK normiert, dass eine Kassation gegen die Kassationsentscheidung des Obersten Gerichts unzulässig ist. 13 Es muss allerdings hervorgehoben werden, dass die Auslegung der Begriffe der „Unfähigkeit zur Einwilligungserteilung“ sowie der „Unmöglichkeit einer Verständigung“

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ihm unmöglich erscheint. Im Falle eines Operationseingriffs oder der Anwendung einer Heil- oder diagnostischen Methode, die ein erhöhtes Risiko für einen Patienten schafft, muss die von ihm erteilte Einwilligung Schriftform haben (vgl. Art. 34 Abs. 1 ArztG). In einem engen Zusammenhang mit diesen Vorschriften steht auch die Regelung im Kodex der ärztlichen Ethik, wonach ein diagnostisches, therapeutisches oder vorbeugendes Verfahren die Einwilligung des Patienten erfordert (vgl. Art. 15 KEL). Eine häufig vorkommende und für den vorliegenden Fall besonders relevante Fragestellung bezieht sich auf die Zulässigkeit der Vornahme von Heileingriffen ohne die Einwilligung des Patienten. Man kann insoweit an das Vorliegen einer Pflichtenkollision denken, die hier dann vorliegt, wenn der Arzt nur eine von mehreren ihm auferlegten Pflichten erfüllen kann. In einem solchen Spannungsverhältnis steht im vorliegenden Kontext die Pflicht eines Arztes zur Rettung des menschlichen Lebens einerseits sowie seine Pflicht zur Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten andererseits, der eigentlich in den Heileingriff einwilligen müsste, dessen Einwilligung aber gerade nicht vorliegt. Geht es um die Frage, welcher dieser beiden Pflichten der Vorrang zukommt, wird im polnischen Schrifttum häufig angenommen, dass der Schutz des menschlichen Lebens absoluten Vorrang genießt, 14 was – dieser Ansicht entsprechend – auch allgemein dem in Polen geltenden Recht zugrunde liegt, indem dieser Grundsatz nicht nur durch nationale Verfassungsprinzipien, 15 sondern auch durch internationale Rechtsakte geschützt wird, etwa durch Art. 6 Abs. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte 16 oder durch Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 17. sehr problematisch erscheint. Es ist dem Gesetz nicht zu entnehmen, was genau darunter zu verstehen ist und wer die Kompetenz zur Beurteilung dieser Fähigkeiten hat. Näher zu dieser Problematik siehe K. Daszkiewicz, a.a.O., S. 41ff. 14 Vgl. etwa K. Daszkiewicz, a.a.O., S. 34f.; Cie´slak, in: Andrejew u.a. (Hrsg.), System prawa karnego (Das System des Strafrechts), Band IV, Teil 1, Warszawa 1985, S. 291f. In der polnischen Literatur gibt es jedoch auch Stimmen, die das Recht des Patienten auf Selbstbestimmung zumindest im Falle der ausdrücklichen Verweigerung der Einwilligung in den Vordergrund stellen. Dies betrifft jedoch nur einen erwachsenen und mit Bewusstsein handelnden Patienten, vgl. dazu etwa Liszewska, Problem zgody pacjenta jako dylemat aksjologiczny (Das Problem der Einwilligung eines Patienten als ein axiologisches Dilemma), Prawo i Medycyna 1999, Nr. 1, S. 86; A. Zoll, Zaniechanie leczenia – aspekty prawne (Das Unterlassen einer Heilleistung – rechtliche Aspekte), Prawo i Medycyna 2000, Nr. 5, S. 35. Zusammenfassend Kardas, a.a.O., S. 55ff. 15 Vgl. etwa Art. 38 der polnischen Verfassung, der jedem Menschen den rechtlichen Schutz seines Lebens gewährleistet. 16 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR-International Covenant on Civil and Political Rights). Er wurde am 16. Dezember 1966 in New York City geschlossen und trat 1976 in Kraft. Art. 6 Abs. 1: Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen. Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden.

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Der Vorrang des Lebensschutzes kann sich möglicherweise auch aus den Vorschriften des bereits erwähnten Gesetzes über den Arztberuf ergeben. Das Gesetz enthält nämlich eine Reihe von Regelungen, die eine absolute Pflicht zur Rettung des menschlichen Lebens in den Vordergrund stellen und somit nicht nur die Durchführung einer lebensrettenden Operation, sondern auch einer anderen ärztlichen Leistung ohne (und in einigen Fällen wohl sogar gegen) den Willen eines Patienten zulassen. Sogar der entgegenstehende Wille des Patienten kann daher unter Umständen unbeachtlich sein. In diesem Zusammenhang ist insbesondere Art. 30 ArztG 18 zu nennen. Auffallend ist dabei zunächst, dass die Erfüllung der in dieser Vorschrift normierten Pflicht zur Lebens- bzw. Gesundheitsrettung dem reinen Wortlaut der Vorschrift zufolge auch dann gefordert ist, wenn der Arzt ohne die Einwilligung der betroffenen Person handeln muss. Dabei sind nicht nur Fälle einer direkten Lebensgefährdung erfasst, sondern alle Situationen der Vornahme einer Untersuchung oder einer anderen ärztlichen Leistung zugunsten des Patienten, wenn der Patient unverzüglicher medizinischer Hilfe bedarf und etwa wegen seines Gesundheitszustands oder Alters nicht imstande ist, eine Einwilligung zu erteilen, und die Kontaktaufnahme mit seinem gesetzlichen Vertreter oder faktischen Betreuer 19 nicht möglich ist (vgl. Art. 33 Abs. 1 ArztG). 20 Darüber hinaus wird auch die Ansicht vertreten, dass die Vornahme einer ärztlichen Behandlung unter Umständen auch gegen den Willen des Patienten zulässig sein könne. 21 Dies kann allerdings auch nach Ansicht dieser Autoren nur dann der Fall sein, wenn der Patient zwar zunächst bewusst seine Einwilligung 17 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (bezeichnet auch als Deklaration der Menschenrechte) ist das ausdrückliche Bekenntnis der Vereinten Nationen zu den allgemeinen Grundsätzen der Menschenrechte. Es wurde am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris genehmigt und verkündet und ist Grundlage des humanitären Völkerrechts. Art. 3: Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. 18 Art. 30 ArztG: Der Arzt ist verpflichtet, medizinische Hilfe in jedem Falle zu leisten, in dem eine Verzögerung der Hilfeleistung zu einer Lebensgefahr oder der Gefahr einer schweren Körperverletzung oder Gesundheitsbeschädigung führen könnte, sowie auch in anderen Notfällen. 19 Laut Art. 31 Abs. 8 ArztG ist mit diesem Begriff eine Person gemeint, die, ohne dazu gesetzlich verpflichtet zu sein, die ständige Obhut über einen Patienten ausübt, der wegen seines Alters, Gesundheitszustands oder psychischen Zustands einer solchen Obhut bedarf. 20 Art. 33 ArztG: Abs. 1. Eine Untersuchung bzw. eine andere medizinische Leistung an einem Patienten ist ohne dessen Einwilligung zulässig, wenn er unverzüglicher medizinischer Hilfe bedarf und wegen seines Gesundheitszustands oder Alters nicht imstande ist, eine Einwilligung zu erteilen, und die Kontaktaufnahme mit seinem gesetzlichen Vertreter oder faktischen Betreuer nicht möglich ist. Abs. 2. Die Entscheidung über die Vornahme medizinischer Aktivitäten in den in Abs. 1 genannten Situationen soll der Arzt, nach Möglichkeit, einen anderen Arzt konsultieren. Abs. 3. Die in Abs. 1 und 2 genannten Situationen sind in die medizinische Dokumentation aufzunehmen.

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verweigert, dann aber, nach der Verschlechterung seines Gesundheitszustandes, nicht mehr imstande ist, seinen Willen zu äußern. Es wird angenommen, dass die Fassung des Art. 33 Abs. 1 ArztG dann die Möglichkeit der Vornahme einer unverzüglich erforderlichen ärztlichen Leistung zugunsten des bewusstlosen Patienten zulässt, und zwar in Fällen, in denen der Wille des Patienten nicht mehr nachvollziehbar ist. Alle diesbezüglichen Bedenken sollen daher zugunsten der Rettung des menschlichen Lebens bzw. der Gesundheit gelöst werden, und zwar sogar dann, wenn dies in dem Vorwurf der Nichtbeachtung des Willens eines Patienten resultieren könnte. In einer solchen Situation ist der Arzt demnach nicht berechtigt, eine ärztliche Leistung zu unterlassen, und zwar deswegen, weil man niemals vollkommen ausschließen kann, dass der bewusstlose Patient bei Kenntnis seines Gesundheitszustandes nicht seine Meinung ändern würde. Art. 33 Abs. 1 ArztG kann daher für einen Arzt als ein rechtlicher Schutz vor dem Vorwurf der Verletzung von Art. 192 §1 KK gelten. Ein ärztliches Verhalten führt nämlich nur dann zur Verletzung einer Strafnorm, wenn es tatsächlich gegen ein durch diese Norm geschütztes Rechtsgut gerichtet ist, d.h. zur Gefährdung bzw. zur Steigerung der bereits entstandenen Gefährdung für dieses Rechtsgut führt. Aus diesem Grunde kann ein lege artis und ohne die bewusste Verweigerung der Einwilligung vorgenommener ärztlicher Eingriff nicht als Verletzung einer Norm gelten, die gerade den Schutz von Leben und Gesundheit gebietet, soweit die vorgenommene ärztliche Leistung der Neutralisierung bzw. der Verringerung der Gefährdung für Leib und Leben dient. 22,23 Aus alledem folgt, dass ein Arzt, welcher der aus Art. 30 ArztG folgenden Pflicht nicht nachkommt, der beruflichen und in den meisten Fällen auch der strafrechtlichen Haftung unterliegt, 24 und zwar insbesondere auch dann, wenn eine Einwilligung des betroffenen Patienten nicht erreichbar ist. In strafrechtli21 Vgl. Kubiak, Przypadki braku wymogu zgody uprawnionego jako przesłanki zabiegów leczniczych i nieterapeutycznych (Fälle der mangelnden Anforderung einer Einwilligung des Berechtigten als Grundlage ärztlicher und nichttherapeutischer Eingriffe), Studia Prawno-Ekonomiczne 2000, Nr. 62, S. 99ff.; Liszewska, a.a.O., S. 85ff. 22 Vgl. A. Zoll, Zaniechanie ..., a.a.O., S. 31ff. 23 Ergänzend hinzuweisen ist dabei auf die Übereinstimmung der polnischen Rechtslage mit den europäischen Standards, die in der Bioethikkonvention vom 4. April 1997 enthalten sind, wonach dann, wenn die Einwilligung wegen einer Notfallsituation nicht eingeholt werden kann, jede Intervention umgehend erfolgen kann, die im Interesse der Gesundheit der betroffenen Person medizinisch unerlässlich ist (vgl. Art. 8 der Konvention). Siehe Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des Europarates (SEV-Nr. 164). Es wurde am 4. April 1997 in Oviedo zur Unterzeichnung aufgelegt und trat am 1. Dezember 1999 in Kraft. 24 Neben der im Rahmen des vorliegenden Beitrags näher in Betracht gezogenen Strafbarkeit aus Art. 162 KK kommen noch weitere Straftatbestände in Betracht, etwa Art. 160 KK (Lebens- oder Gesundheitsgefährdung) bzw. bei Vorliegen einer Garantenstellung die allgemeinen Tötungsdelikte.

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cher Hinsicht wäre hier in erster Linie an eine Strafbarkeit wegen Unterlassener Hilfeleistung aus Art. 162 KK 25 zu denken. In diesem Zusammenhang muss allerdings hervorgehoben werden, dass in dem ArztG strengere Voraussetzungen für eine Haftung des Arztes wegen des Unterlassens unverzüglicher Hilfeleistung formuliert werden. Art. 162 §1 KK erfasst nämlich nur solche Situationen, in denen die betroffene Person einer Lebensgefahr bzw. der Gefahr einer schweren Gesundheitsbeschädigung ausgesetzt ist, während nach Art. 30 ArztG die Pflicht zur Hilfeleistung schon dann besteht, wenn eine solche Gefahr infolge einer vom Arzt zu vertretenden Verzögerung eintreten kann. Denkbar wären also auch Fälle, in denen ein Arzt zwar nicht strafrechtlich, aber doch aufgrund des ArztG berufsrechtlich zur Verantwortung gezogen wird. 26 Die vorstehend erwähnte Kollisionslage gewinnt nun auch dann an Bedeutung, wenn nicht der betroffene Patient, sondern sein gesetzlicher Vertreter bzw. faktischer Betreuer die Einwilligung erteilen muss und diese verweigert. 27 Im Lichte der obigen Ausführungen ist jedoch anzunehmen, dass die Nichtbeachtung dieses Willens durch einen Arzt nicht zu dessen Strafbarkeit aus Art. 192 KK führt. Vielmehr macht sich der Arzt nur dann strafbar, wenn er aus Rücksicht auf den Widerspruch des gesetzlichen Vertreters bzw. des faktischen Betreuers seiner Pflicht zur Rettung des Lebens des Patienten nicht nachkommt. 28 Damit aber sein ohne bzw. sogar gegen den Willen des gesetzlichen Vertreters vorgenommenes Handeln als rechtmäßig anerkannt werden kann, müssen die Anforderungen des ArztG erfüllt werden, d.h., um einen Operationseingriff bei einem einer Lebensgefahr oder der Gefahr einer schweren Körperverletzung oder Gesundheitsbeschädigung ausgesetzten Patienten ohne die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters durchführen zu dürfen, muss der Arzt eine Einwilligung des Vormundschaftsgerichts erwirken (vgl. Art. 34 Abs. 6 ArztG) 29. Wenn jedoch das Verfahren zur Erlangung 25

Art. 162 KK: §1. Wer es unterlässt, einem Menschen, der einer unmittelbaren Lebensgefahr oder der unmittelbaren Gefahr einer schweren Gesundheitsbeschädigung ausgesetzt ist, Hilfe zu leisten, obwohl ihm dies möglich wäre, ohne das eigene Leben oder das Leben einer anderen Person zu gefährden und ohne seine eigene Gesundheit oder die Gesundheit eines anderen der Gefahr einer schweren Beschädigung auszusetzen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. §2. Keine Straftat begeht, wer eine Hilfeleistung unterlässt, zu der er sich notwendigerweise einem ärztlichen Eingriff unterziehen müsste, oder wer die Hilfeleistung in einer Situation unterlässt, in der sofortige Hilfe durch eine hierzu berufene Institution oder Person möglich war. 26 Als mögliche Sanktion kommt hier etwa das Verbot, eine bestimmte Stellung zu bekleiden oder einen bestimmten Beruf auszuüben, in Betracht. Näher dazu siehe K. Daszkiewicz, a.a.O., S. 35f. 27 Denkbar ist beispielsweise eine Situation, in welcher ein Kind einer unmittelbaren Lebensgefahr ausgesetzt ist und seine Eltern aus religiösen Gründen Widerspruch gegen die Durchführung einer Heilbehandlung erheben. Näher zu einem solchen Fall vgl. Nestorowicz, Prawo medyczne (Das Medizinrecht), Toru´n 2005, S. 105f. 28 Vgl. A. Zoll, Zaniechanie ..., a.a.O., S. 31ff.

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der Einwilligung zu einer Verzögerung führen würde, in deren Folge der Patient einer Lebensgefahr oder der Gefahr einer schweren Körperverletzung oder Gesundheitsbeschädigung ausgesetzt wird, kann der Operationseingriff auch ohne die erforderliche Einwilligung des Gerichts vorgenommen werden (vgl. Art. 34 Abs. 7 ArztG) 30. Ebenso geregelt ist der Fall einer Operationserweiterung bei Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung des betroffenen Patienten, wie er dem Sachverhalt der Entscheidung des Obersten Gerichts zugrunde lag, sowie bei einer Ausweitung bzw. Änderung des Umfangs eines Operationseingriffs. Wie bereits erwähnt, lässt Art. 35 ArztG es zu, die Durchführung eines Operationseingriffs oder die Anwendung einer Heil- oder diagnostischen Methode zu ändern, wenn Umstände auftreten, bei deren Nichtbeachtung dem Patienten der Verlust seines Lebens, eine schwere Körperverletzung oder Gesundheitsbeschädigung droht, und es nicht möglich ist, die Einwilligung des Patienten oder seines gesetzlichen Vertreters einzuholen. Schließlich bleibt noch zu ergänzen, dass dem ohne (bzw. sogar auch gegen) den Willen des gesetzlichen Vertreters eines Patienten oder des Vormundschaftsgerichts handelnden Arzt noch weitere Pflichten auferlegt werden. Und zwar muss der Arzt in einem solchen Fall einen anderen Arzt, der nach Möglichkeit in demselben Fachgebiet tätig ist, konsultieren und er muss über seine Tätigkeit den gesetzlichen Vertreter, den faktischen Betreuer oder das Vormundschaftsgericht informieren, sowie einen entsprechenden Vermerk in die medizinische Dokumentation aufzunehmen (vgl. Art. 34 Abs. 7 und 8 sowie Art. 35 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 ArztG). Das geltende polnische Strafgesetzbuch enthält nun einen Tatbestand des Medizinischen Eingriffs ohne die Einwilligung des Patienten (vgl. Art. 192 KK) 31, der – wie bereits erwähnt – in dem Verfahren des Obersten Gerichts eine wesentliche Rolle gespielt hat. Die Vorschrift wird in der polnischen strafrechtlichen 29 Art. 34 ArztG: Abs. 1. Der Arzt kann einen Operationseingriff durchführen oder eine Heil- oder diagnostische Methode, die ein erhöhtes Risiko für einen Patienten schafft, anwenden, nachdem er eine schriftliche Einwilligung des Patienten erlangt hat. (...) Abs. 6. Wenn der gesetzliche Vertreter eines Minderjährigen, eines Unzurechnungsfähigen oder einer Person, die zur bewussten Erteilung der Einwilligung nicht in der Lage ist, mit der Durchführung der in Abs. 1 genannten und für die Behebung einer Lebensgefahr oder der Gefahr einer schweren Körperverletzung oder Gesundheitsbeschädigung für den Patienten erforderlichen Maßnahmen nicht einverstanden ist, bedarf der Arzt für die Durchführung dieser Maßnahmen einer Einwilligung des Vormundschaftsgerichts. 30 Art. 34 ArztG: Abs. 7. Der Arzt darf die in Abs. 1 genannten Maßnahmen ohne die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters eines Patienten oder des zuständigen Vormundschaftsgerichts durchführen, wenn in Folge der durch das Verfahren zur Erlangung einer Einwilligung entstandenen Verzögerung der Patient einer Lebensgefahr oder der Gefahr einer schweren Körperverletzung oder Gesundheitsbeschädigung ausgesetzt würde. (...) 31 Zum Wortlaut dieser Norm siehe oben Fn. 7.

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Literatur allerdings u.a. im Hinblick darauf kritisiert, dass ihre Fassung einen inhaltlichen Fehler aufweise; denn der Gesetzgeber habe übersehen, dass es auch solche Fälle geben kann, in denen die Durchführung eines medizinischen Eingriffs trotz fehlender Einwilligung gesetzlich zulässig ist. Dies werde in der geltenden Fassung dieser Norm nicht berücksichtigt, so dass nach dem heute geltenden Recht eigentlich jeder medizinische Eingriff ohne die Einwilligung des Patienten unter Strafe stehen müsste. Gefordert wird daher eine Änderung dieser Vorschrift, indem man ihren Tatbestand durch das Merkmal des Handelns „ohne die gesetzlich erforderliche Zustimmung“ bzw. „entgegen den gesetzlichen Voraussetzungen“ korrigiert bzw. ergänzt. 32 In Bezug auf den strafrechtlichen Rahmen der Durchführung von Heileingriffen ohne die erforderliche Einwilligung ist noch auf die Frage einzugehen, ob eine derartige Handlung eventuell durch eine Notstandssituation gem. Art. 26 KK 33 gerechtfertigt werden kann. Wie bereits erwähnt, wird diese Problematik in der polnischen Literatur fast einhellig behandelt, 34 wobei angenommen wird, dass der Gesetzgeber die Rechtmäßigkeit eines medizinischen Eingriffs expressis verbis von der Einwilligung des betroffenen Patienten abhängig gemacht hat. Das aber bedeutet, dass die Anwendung der Regelungen für eine Notstandssituation auf derartige Fälle der Umgehung der Verbotsnorm des Art. 192 KK dienen würde. Darüber hinaus entstehen Bedenken im Hinblick auf die bereits angesprochene Rechtsgüterkollision. Es ist nämlich problematisch, ob durch die Notstandsvorschrift auch die Kollisionen solcher Rechtsgüter erfasst werden können, die derselben Person angehören. Die Erteilung einer Einwilligung in einen medizinischen Eingriff sowie die Möglichkeit der Verweigerung einer solchen Einwilligung gehören zu den Grundfreiheiten, die in Polen rechtlichen Schutz genießen. Dieser Schutz erstreckt sich allerdings nicht auf solche Verhaltensweisen, die zwar die eigene Weltanschauung und das eigene Wertesystem des Einzelnen berücksichtigen, aber gegen Grundrechte und Grundfreiheiten anderer Personen verstoßen, mit den Grundsätzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht vereinbar sind oder sogar einen Straftatbestand erfüllen. 35 Wie jedoch bereits ausgeführt, ist dieser Schutz des Selbstbestimmungsrechts eines Patienten nicht absolut, indem die polnische Rechtsordnung eine Reihe von Situationen anerkennt, in denen ein medizinischer Eingriff ohne oder sogar gegen den Willen des Patienten durchgeführt werden kann bzw. sogar muss. 32 Näher zu der Diskussion um die Formulierung dieser Vorschrift siehe K. Daszkiewicz, a.a.O., S. 40f. 33 Zu dem Wortlaut dieser Norm siehe oben Fn. 9. 34 Vgl. u.a. Zoll, Granice legalno´sci ..., a.a.O., S. 29; Zieli´nska, a.a.O., S. 73; Kardas, a.a.O., S. 55. Zu einer abweichenden Ansicht vgl. K. Daszkiewicz, a.a.O., S. 43ff. 35 Vgl. K. Daszkiewicz, a.a.O., S. 39.

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Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, dass die dieser Problematik zugrunde liegenden Regelungen des KK, des ArztG (und des KEL) an vielen Stellen nicht unerheblich voneinander abweichen. Einen gewissen Vorrang genießt zwar an sich das ArztG, da es inhaltlich lex specialis gegenüber dem KK ist (allerdings natürlich unabhängig von der Rechtsfolgenfrage betrachtet); es beinhaltet jedoch missverständlich und unklar formulierte Regelungen, die zu sich widersprechenden Lösungen führen können. Aber auch der KK löst die entstehenden Probleme nicht immer in jeder Hinsicht zufriedenstellend. Besonders problematisch erscheint dabei der zum Teil mangelnde Schutz besonders schützwürdiger Personengruppen (insbesondere Minderjähriger, Entmündigter), die gelegentliche Missachtung rechtlicher Garantien (insbesondere des Prinzips der Autonomie), sowie Eingriffe in verfassungsrechtlich geschützte Grundrechte (insbesondere in das Selbstbestimmungsrecht). In diesem Zusammenhang sind insbesondere die problematische Fassung der Vorschrift des Art. 192 KK sowie derjenigen Bestimmungen des ArztG 36 zu kritisieren, die die Zulässigkeit eines ärztlichen Eingriffs ohne bzw. gegen den Willen des Patienten oder seines gesetzlichen Vertreters nicht eindeutig normieren und eine diesbezügliche Entscheidung damit letztlich dem Arzt überlassen. V. Anmerkungen zu den Entscheidungsgründen des Obersten Gerichts Der dargestellte Fall des Obersten Gerichts gibt Anlass, die Reichweite der Rechtfertigungsfigur der sog. mutmaßlichen Einwilligung etwas näher zu erörtern. Es spricht dabei viel dafür, diesen Rechtfertigungsgrund so zu interpretieren, dass er dann eingreift, wenn sich der Patient in erheblicher Gefahr befindet und ohne die medizinische Maßnahme diese Gefahr sich in einem Verletzungs- oder sogar Todeserfolg realisieren würde. Begründen kann man die Rechtfertigung durch mutmaßliche Einwilligung durch eine Bezugnahme auf die (allgemeinere) Notstandsvorschrift, im polnischen Strafrecht also auf Art. 26 KK. Anders als im deutschen Strafgesetzbuch, wo §34 StGB für eine Rechtfertigung kraft Notstands verlangt, dass „das geschützte Interesse das beeinträchtigte Interesse wesentlich überwiegt“, fordert Art. 26 §1 KK nur, dass „das geopferte Gut einen niedrigeren Wert als das gefährdete darstellt.“ Während die deutsche Notstandsvorschrift ihrem Wortlaut nach daher eigentlich nur auf die Fälle zugeschnitten ist, in denen zur Abwendung der Notstandsgefahr in die Interessen eines Dritten eingegriffen wird (sog. Aggressivnotstand), weil 36 Bedenken entstehen hier insbesondere im Hinblick auf die mögliche Zulässigkeit eines ärztlichen Eingriffs gegen den zuvor kundgegebenen Willen eines Patienten (Art. 33 Abs. 1 ArztG) sowie im Hinblick auf den rechtlichen Rahmen der Zulässigkeit eines ärztlichen Eingriffs bei der Verweigerung der Einwilligung durch den gesetzlichen Vertreter eines minderjährigen oder entmündigten Patienten und bei zugleich fehlender Einwilligung des Vormundschaftsgerichts (Art. 34 Abs. 6 und 7 ArztG).

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die Inanspruchnahme der Solidarität des Dritten allenfalls bei einem wesentlichen Überwiegen des gefährdeten (und durch den Notstandseingriff geschützten) Interesses über das bei dem Dritten beeinträchtigte Interesse akzeptabel erscheint, ist dies ihrem Wortlaut nach in der polnischen Notstandsvorschrift anders. 37 Dabei ist hier nicht der Frage weiter nachzugehen, ob Art. 26 §1 KK für Fälle eines Aggressivnotstandseingriffs nicht ein zu weitgehendes Recht gewährt, indem nach seinem Wortlaut auch ein einfaches Überwiegen des geschützten Interesses über das beeinträchtigte Interesse ausreichen würde. Vielmehr ist gerade im Hinblick auf die Rechtsfigur der mutmaßlichen Einwilligung die Interessensabwägungsklausel in Art. 26 §1 KK durchaus angemessen. Denn das Interesse des Gefährdeten, ist bei einem Eingriff in seine Interessen durchaus gewahrt, wenn der Saldo insgesamt positiv bleibt; was auch dann der Fall ist, wenn das geschützte Interesse das beeinträchtigte Interesse desselben Rechtsgutsinhabers nur schlicht, aber nicht wesentlich überwiegt. Da Art. 26 §1 KK auch als Rechtfertigungsgrund interpretiert werden kann (obwohl die Formulierung „begeht keine Straftat“ in Art. 26 §1 KK insoweit an sich offen ist), steht auch nichts entgegen, ihn im Falle einer Verwirklichung von Art. 192 §1 KK (Medizinischer Eingriff ohne Einwilligung des Patienten) zur Rechtfertigung heranzuziehen. Art. 26 §1 KK (hier interpretiert im Sinne mutmaßlicher Einwilligung) rechtfertigt dann ggf. eine Erfüllung des Tatbestands von Art. 192 §1 KK, wenn der Arzt in einer Notsituation so in die Interessen des aktuell nicht einwilligungsfähigen Patienten eingreift, dass dessen überwiegende Interessen gewahrt werden. 38 Beispiel: Arzt A amputiert den Arm des ohnmächtigen Patienten P, um dessen Leben zu retten. Allerdings steckt in der Anwendung von Art. 26 §1 KK auf Art. 192 §1 KK noch ein weiteres Problem, das offenbar auch zu entsprechenden Diskussionen in der polnischen Strafrechtswissenschaft beigetragen hat (vgl. oben IV.). Denn während im Fall des Aggressivnotstands, wenn also in die Interessen eines Dritten eingegriffen wird, um ein gefährdetes Rechtsgut zu retten, dies naheliegenderweise immer ohne bzw. gegen den Willen dieses Dritten erfolgen wird (denn sonst ist der Eingriff ohnehin gestattet und braucht nicht gerechtfertigt zu werden), ist es bei der Konstellation der mutmaßlichen Einwilligung, die man mit Art. 26 §1 KK in den Griff bekommen will, anders. Hier ist nicht a priori klar, ob der Eingriff nun nur dann erlaubt ist, wenn ohne den Willen des Patienten gehandelt wird, oder sogar 37

Siehe zum Vergleich zwischen Art. 26 KK und §34 StGB näher Joerden, Das System der Rechte und Pflichten in Notsituationen und seine Umsetzung im polnischen und im deutschen Recht, in: G. Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet 5 / 6, Das neue polnische Strafgesetzbuch (Kodeks Karny), Berlin u.a. 2002, S. 33ff.; polnischsprachige Fassung in: Przeste˛pczo´sc´ przygraniczna. Tom 2: Nowy polski kodeks karny, G. Wolf (Hrsg.), Frankfurt (Oder) u.a. 2003, S. 167ff. 38 Einer (zusätzlichen Heranziehung) von Art. 26 §5 KK bedarf es dazu nicht, da dann, wenn nach Art 26 §1 KK ein Eingriffsrecht besteht, die Pflicht des Arztes zur Rettung des Patienten nicht mehr in Frage steht und auch nicht mehr mit einer entsprechenden Unterlassungspflicht kollidiert.

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auch dann, wenn gegen dessen Willen eingegriffen wird. Lässt sich m.a.W. nicht auch die aufgedrängte Hilfshandlung nach Art. 26 §1 KK rechtfertigen, zumindest dann, wenn es um die Rettung des wohl wichtigsten Gutes, also des Lebens des Patienten geht? (Einmal beiseite gesetzt, dass dann rein äußerlich natürlich kein Raum mehr für die „Mutmaßung“ einer Einwilligung gegeben ist, wenn diese explizit verweigert wurde.) Ganz so deutlich wird dies – auch in der polnischen Strafrechtswissenschaft – zwar nicht gefordert, aber zumindest die Argumente in Fällen, in denen zunächst die Einwilligung in eine lebensrettende Operation ausdrücklich verweigert wurde (Beispiel: Der Zeuge Jehovas lehnt eine lebensrettende Operation ab, weil sie mit einer Fremdbluttransfusion verbunden wäre), der Eingriff dann aber rechtmäßig sein soll, wenn der Patient bewusstlos geworden ist, deuten darauf hin, dass hier bei der Kollision von Lebensinteresse einerseits und Patientenautonomie andererseits (zumindest im Zweifel) dem Leben der Vorzug gegeben werden soll (obwohl doch etwa im Fall des bewusstlosen Zeugen Jehovas, der vorher seine Einwilligung verweigert hatte, kaum plausibel angenommen werden kann, dass er seine Meinung geändert haben könnte, nachdem er bewusstlos wurde). Warum also rechtfertigt die Kollision zwischen Lebensinteresse und (entgegengesetzter) Selbstbestimmung des Patienten (entgegen dem Wortlaut von Art. 26 §1 KK und wohl auch von §34 StGB) den lebensrettenden Eingriff nicht? Ein übliches Argument geht dahin, dass eine Hilfeleistung im Rahmen eines Notstands dem Gefährdeten nicht aufgedrängt werden dürfe. Aber dies ist nur die Antwort auf die Frage, nicht der Grund für ihre Beantwortung. Vielmehr setzt diese These ihrerseits voraus, dass man die altbekannte Kollision zwischen dem Prinzip der Patientenautonomie und dem des Paternalismus grundsätzlich zugunsten des ersten Glieds dieser Alternative gelöst hat. In einer nicht mehr paternalistisch orientierten Medizin hat die Selbstbestimmung des (freiverantwortlichen und aufgeklärten) Patienten Vorrang, und zwar selbst dann, wenn ihn dies das Leben kostet. Wer anders entscheidet, entscheidet notwendig paternalistisch. Wobei das Wort „Paternalismus“ hier gar nicht pejorativ verwendet wird, sondern nur eine bestimmte Haltung zu der Problematik kennzeichnen soll. 39 Im Fall des Obersten Gerichts tritt nun allerdings noch eine andere Frage hinzu: Welche Konsequenzen hat es, wenn der Arzt bei einer an sich gegebenen Situation der mutmaßlichen Einwilligung die formellen Anforderungen nach Art. 35 Abs. 1 und 2 ArztG nicht erfüllt, d.h., es versäumt, eine Konsultation mit einem anderen Arzt zu suchen, den Vertreter des Patienten oder das Vormundschaftsgericht zu informieren bzw. einen Vermerk in die medizinische Dokumentation aufzunehmen? Zumindest was die Konsultation des anderen Arztes betrifft, ist diese Regelung 39 „Paternalismus“ muss hier auch nicht bedeuten, dass der Vertreter dieser Position immer paternalistisch entscheidet; er könnte dann, wenn es nicht um das Leben geht, sondern um andere Rechtsgüter, durchaus der Autonomie den Vorzug geben.

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des ArztG wohl primär zum Schutz des Patienten gedacht, sodass der Arzt, der einen medizinischen Eingriff ohne Einwilligung vornehmen will, diese Pflicht an sich erfüllen muss, wenn er nicht des Rechtfertigungsgrundes der mutmaßlichen Einwilligung verlustig gehen will. Aber auch die Verletzung dieser Pflicht kann durch mutmaßliche Einwilligung (bzw. Notstand, auf den diese gegründet ist) gerechtfertigt sein, und zwar genau dann, wenn die Angelegenheit so eilig ist, dass der Patient möglicherweise (insbesondere) sein Leben verlieren würde, wenn der behandelnde Arzt erst noch einen anderen Arzt herbeizöge. Insofern ist die Entscheidung des Obersten Gerichts (zumindest in ihrem „Leitsatz“; vgl. oben III.3.) wohl zu rigoros formuliert. Zu beachten ist vielmehr, dass Art. 35 Abs. 1 S. 2 ArztG die Pflicht zur Einholung des Gutachtens eines anderen Arztes unter die Bedingung stellt „soweit dies möglich ist“. Damit dürfte auch der Fall erfasst sein, in dem die Einholung eines solchen Gutachtens den Eingriff so verzögern würde, dass dem Patienten erhebliche Gefahren daraus erwüchsen. Ließe man insoweit keine Rechtfertigung (wiederum) unter dem Gesichtspunkt der mutmaßlichen Einwilligung zu, müsste der Patient eventuell sterben, wenn das Gutachten des anderen Arztes nicht rechtzeitig zu beschaffen wäre. Erst recht kann ein Verstoß gegen die Vorschrift, einen entsprechenden Vermerk in die medizinische Dokumentation aufzunehmen – entgegen der Ansicht des Obersten Gerichts – nicht dazu führen, dass die Rechtfertigung aus mutmaßlicher Einwilligung (zudem noch rückwirkend, bedingt durch Nicht-Dokumentation) entfällt. Denn entscheidend ist, ob zum Zeitpunkt der tatbestandsmäßigen Handlung des Arztes die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Eingriff vorlagen oder nicht. Diese Feststellung, die u.a. auch darüber entscheidet, ob gegen den Eingriff von Dritten Notwehrhilfe geübt werden dürfte etc., kann nicht von einem nachträglichen Verhalten des Arztes (Dokumentation) abhängig sein. Soweit eine Aufnahme in die Dokumentation allerdings schon vor dem Eingriff gefordert sein sollte (was eine Auslegung von Art. 35 ArztG ergeben müsste, aber wenig plausibel erscheint, wenn man den Alltag im Krankenhaus bedenkt), wäre deren Versäumung ebenfalls einer Rechtfertigung durch mutmaßliche Einwilligung (sofern es dabei überhaupt um den Schutz von Interessen des Patienten geht), zumindest aber der Rechtfertigung unter Notstandsgesichtspunkten (soweit es insoweit um die Interessen Dritter, wie etwa des Krankenhauses, geht) zugänglich. Sollten indes die tatsächlichen Voraussetzungen für eine derartige Rechtfertigung der Verstöße gegen Art. 35 ArztG objektiv nicht vorgelegen haben, käme zumindest auch noch in Betracht, dass der Angeklagte diese Umstände subjektiv angenommen hat (dies gilt natürlich auch bereits im Hinblick auf seine Annahme einer Notwendigkeit der Leistenbruchoperation und der damit zusammenhängenden tatsächlichen Umstände). Lässt sich dies nicht mehr hinreichend aufklären, so dürfte im vorliegenden Fall zumindest in dubio pro reo von einer entsprechenden Annahme des Arztes auszugehen sein. Dann aber würde Art. 29 KK eingreifen, der im polnischen Strafrecht den Fall der irrigen Annahme rechtfertigender Um-

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stände im Wesentlichen ähnlich der Konzeption der sog. strengen Schuldtheorie 40 löst, wie sie aus dem deutschen Strafrecht bekannt ist. Geht man davon aus, dass insofern eine „entschuldbare irrige Annahme“ (Art. 29 S. 1 KK) vorliegt, wäre der Angeklagte zumindest aus diesem Grunde (entsprechend der Ansicht der beiden Vorinstanzen) freizusprechen gewesen. Das Oberste Gericht ist zu dem gegenteiligen Ergebnis gekommen, wohl vor allem deshalb, weil es zu meinen scheint, dass derjenige, der – wie der Angeklagte – eine Ausnahme (Rechtfertigung trotz fehlender Einwilligung des Patienten) in Anspruch nimmt, auch alle Formvorschriften in diesem Zusammenhang genau zu erfüllen habe. So sehr es zu begrüßen ist, dass das Oberste Gericht auf diese Weise offenkundig die Patientenautonomie weitestgehend schützen möchte, ist dem doch entgegenzuhalten, dass diese Betrachtung sich erheblich zu Lasten des jeweiligen Patienten auswirken kann. Denn wie wäre zu entscheiden gewesen, wenn der Arzt nun erst alle Vorschriften aus Art. 35 ArztG erfüllt hätte, die Operation dann aber zu spät gekommen und der Patient gestorben wäre? Wer hier sagen würde, der Angeklagte hätte aber doch (zumindest aus Art. 162 KK, wenn nicht darüber hinaus als Garant) die Pflicht gehabt, das Leben des Patienten zu retten, räumt damit inzident ein, dass er diese Pflicht jedenfalls mit der Operation des Patienten im vorliegenden Fall erfüllt hat. 41 Und wer dies einräumt, muss auch einräumen, dass der Angeklagte gegen die Pflichten aus Art. 35 ArztG verstoßen durfte, wenn und soweit dies notwendig war, um den Patienten zu retten.

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Vgl. dazu etwa die Nachweise bei Lackner / Kühl, StGB, 26. Aufl., 2007, §17 Rdn.9. Resp. sich entsprechende tatsächliche Umstände vorgestellt hat.

Das „Einwilligungsprinzip“: ein ausreichendes Konzept gegenüber den Herausforderungen des Genom-Zeitalters? Eine Gedankenskizze Albin Eser * „Aus der Not eine Tugend machen“: nichts anderes bleibt mir als Devise, um zur wohlverdienten Ehrung von Andrzej Szwarc noch einige Betrachtungen beizutragen. Dabei hoffe ich, aus dem sich aus meiner Gastprofessur in der alten japanischen Kaiserstadt Kyoto ergebenden Zeitdruck insofern eine Tugend machen zu können, als ich durch die Wahl eines Themas aus meinem hiesigen Medizinrechtsseminar in zweifacher Hinsicht besonders gepflegte Interessen des Jubilars ansprechen kann: seine vielfältigen Beiträge zum Medizinstrafrecht und sein verdienstvolles Engagement für japanisch-polnisch-deutsche Wissenschaftsbeziehungen. Auch der von Japan aus nicht ganz einfache Zugang zu einschlägiger Literatur mag sich als tugendhaft erweisen: Statt sich tiefschürfend in bereits Geschriebenem zu verlieren und vielleicht bereits Bekanntes ermüdend zu wiederholen, bleibt mir kein anderer Weg, als einige der hier gemachten Eindrücke aufzugreifen und kritisch zu überdenken. Deshalb kann und will dieser Beitrag nicht mehr als eine vorläufige Gedankenskizze sein: eine spontane Reflexion unter dem Vorbehalt der Revision. Den Anstoß dazu gab ein an der Waseda Universität in Tokio veranstaltetes internationales Symposium zu Herausforderungen des Medizinrechts angesichts des „Post-Genome Age“. Gewiss ließe sich bereits diese Kennzeichnung hinterfragen; denn wenn man das lateinische „post“ im Sinne von „danach“ versteht, könnte man darüber streiten, ob wir das Genomzeitalter bereits hinter uns haben oder wir uns nicht vielmehr erst an dessen Beginn befinden. Meine diesbezüglich geäußerten Zweifel wurden denn in der Tat von nicht wenigen aufgegriffen und geteilt. Indes war es weniger dieses – genau besehen nicht nur terminologisch bedeutsame – Situationsverständnis, das mir Unbehagen bereitete, als vielmehr die fast * Professor Dr. Dr. h.c.mult., M.C.J., Direktor em. am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, Gastprofessor an der Ritsumeikan Universität in Kyoto / Japan.

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schon gebetsmühlenhafte Beschwörung von „informed consent“, mit der man nahezu allen Gefahren und Bedürfnissen, die sich aus den Entwicklungen der modernen Medizin und Biotechnologie ergeben könnten, meint begegnen zu können. Gleich ob es – ohne Anspruch auf eine vollständige Auflistung – um klassische Organtransplantationen oder moderne Gewebeentnahmen und -analysen geht, ob verschiedenartige Formen medizinisch assistierter Reproduktion in Frage stehen, wie Präimplantationsdiagnostik und pränatale Techniken zu bewerten sind oder wie sonst mit den neuesten Errungenschaften der Genomanalyse und der Gentherapie umzugehen ist: wo immer Schutzinteressen auf dem Spiel stehen, scheint man sein Heil im „Einwilligungsprinzip“ finden zu können. Auch erscheint dies derart einleuchtend und zwingend, dass man sich leicht einem Häresieverdacht ausgesetzt sieht, wenn man auch nur einen Anflug von Zweifel erkennen läßt, ob dieses Prinzip wirklich der unverzichtbare Schlüssel zur Lösung aller einschlägigen Probleme ist, oder ob es nicht – einerseits – auch noch zusätzlicher Absicherungen bedürfen könnte, oder ob nicht – andererseits – dieser Schlüssel durch einen anderen zu ersetzen wäre. Zudem ist mit einer Unentbehrlichkeit des Einwilligungsschlüssels noch nichts darüber gesagt, wann er von wem unter welchen Bedingungen und mit welcher Reichweite einzusetzen ist. Um nur einige Beispiele anzuführen, in denen das herkömmliche Verständnis von Aufklärung und Einwilligung – einschließlich seiner Voraussetzungen und Reichweite – auf Schwierigkeiten stößt, die eine Revision, wenn nicht gar eine teilweise Substituierung erforderlich erscheinen lassen: – Wenn etwa schon im Hinblick auf die „klassische“ Organtransplantation darüber gestritten wird, ob und inwieweit es auf Spenderseite um den Schutz von „ownership“ am betreffenden Organ und damit um den Transfer von Besitz- und Eigentumsrechten geht, für die als Gegenleistung eine Art von Vergütung erwartet werden darf, dann steht im Grunde nur die Beachtung von Kaufvertrags- und Eigentumsübertragungsregeln auf dem Spiel, während das, was eigentlich mit „Einwilligung“ in einen Eingriff in die körperliche Integrität gemeint ist, ganz zu schweigen von Aspekten der Menschenwürde, auf der Strecke bleibt. Damit wird die „Einwilligung“ verkürzt auf die Äquivalenz von Leistung (in Gestalt eines funktionsfähigen Organs) und Gegenleistung (in Form einer angemessenen Honorierung), wobei die Einwilligung in den körperlichen Eingriff bestenfalls noch im Hinblick auf den vergütungsmäßig mit zu berücksichtigenden Risikofaktor einer Organentnahme eine Rolle spielt. – Die schon bei normaler Organtransplantation in Frage gestellte Rolle der Einwilligung sieht sich noch größeren Zweifeln ausgesetzt, wenn es um die Extraktion von Gewebe und dessen diagnostische Untersuchung geht. Bedenkt man, dass schon das kleinste Gewebe eine Masse von genetischen Informationen enthält, so wird mit irgendwelchen Eigentumsvorstellungen allenfalls das somatische Material, nicht aber der daraus zu gewinnende Informationsgehalt erfasst. Auch geht es dann nicht mehr nur um den unmittelbar betroffenen Gewebespender. Vielmehr

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gehören dann zu den Betroffenen auch alle mit ihm verwandten Personen, auf deren genetische Eigenschaften sich Rückschlüsse aus dem untersuchten Gewebe ziehen lassen. Auf wessen Einwilligung in die Extraktion und Diagnostik soll es dann ankommen? Und wer muss zuvor mit in welchem Umfang und mit welcher Reichweite aufgeklärt werden? – Damit ist schon ein weiterer Problemkomplex angedeutet: Selbst wenn die Gewinnung von Gewebe durch eine Einwilligung des Spenders gedeckt sein mag, wie sieht es mit der weiteren Verwendung von gewonnenen Daten aus, wenn über den ursprünglichen Verwendungszweck hinaus unvorhergesehene neue Verwendungsbedürfnisse auftreten? Soll man dann, falls eine erweiterte Einwilligung des Spenders nicht mehr erlangbar ist, an ursprüngliche Beschränkungen gebunden bleiben, selbst wenn damit Lebens- oder Gesundungschancen anderer vertan werden? – Noch schärfer zugespitzt stellt sich damit die grundsätzliche Frage, ob und inwieweit dem „Recht sich erforschen zu lassen“ gleichermaßen das „Recht nicht erforscht zu werden“ gegenübersteht und sich dadurch der eine möglicherweise nutzbringenden Erkenntnissen für andere soll verschließen dürfen. Schon diese wenigen Beispiele mögen genügen, um die Hinlänglichkeit des bisherigen Einwilligungskonzepts bei modernen biotechnologischen Verfahren zu überdenken. Dies muss jedoch in gleichsam konträrer Hinsicht geschehen: Einerseits – und dies in geradezu aufdrängender Weise – im Hinblick auf die Frage, ob und inwieweit die Einwilligung unmittelbar Betroffener überhaupt hinreichend ist oder ob darüber hinaus nicht auch noch weitere Absicherungen erforderlich erscheinen. Andererseits aber – und das mag auf den ersten Blick vielleicht geradezu provokant erscheinen – auch im Hinblick auf die Frage, ob unter bestimmten Umständen von einem Einwilligungserfordernis sogar abzusehen wäre, diese also nicht einmal eine notwendige Eingriffsvoraussetzung darstellt. In beiderlei Richtung wird den sich im Zeitalter moderner Medizin und Biotechnologie stellenden Fragen wohl nur dann in angemessener Weise beizukommen sein, wenn man drei verschiedene Phasen des Umgangs mit Organen und Geweben einer besonderen Betrachtung unterzieht: die Gewinnung von Material, dessen genetische Analyse einschließlich der Dokumentierung und Aufbewahrung daraus erlangter Daten, sowie deren Offenbarung, Weitergabe und Verwendung. Noch am einfachsten erscheint die Rechtslage bei der Gewinnung von Geweben und Organen, könnte doch hierfür die nach entsprechender Aufklärung erteilte Einwilligung eine gleichermaßen notwendige wie hinreichende Bedingung sein. – Genau besehen mag dies jedoch nur für jene begrenzte Zahl von Fällen außer Frage stehen, in denen es sich um die Aufklärung und Einwilligung von einsichts- und urteilsfähigen Personen handelt und die Verwendung des dem Körper entnommenen Materials für einen genau voraussehbaren und dementsprechend bestimmten Zweck, wie insbesondere einer Organspende, erfolgen soll.

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– Doch selbst für diesen Fall bleibt die Frage, ob über die Einwilligung des Betroffenen hinaus nicht auch noch gewisse Allgemeininteressen Beachtung erheischen können und sich damit die Einwilligung als zwar notwendige, aber für sich allein nicht hinreichende Bedingung für eine Organgewinnung erweist: wie etwa dann, wenn – wie in manchen Rechtsordnungen vorgesehen – eine Lebendspende nur zugunsten eines Angehörigen und / oder unter Ausschluss ausländischer Organempfänger erfolgen darf, um auf diese Weise einem – im öffentlichen Interesse zu unterbindenden – Organhandel vorzubeugen. Mit gleicher Wirkung kann sich aufgrund von familiären Gegeninteressen die Einwilligung des Betroffenen als nicht hinreichende Bedingung in Frage gestellt sehen, wenn beispielsweise eine für den Todesfall erklärte Einwilligung vor einer Organentnahme auch noch der Billigung der Familie bedarf. – Andererseits kann sich auch in umgekehrter Richtung die Frage stellen, ob die Einwilligung tatsächlich für alle Fälle als notwendige Bedingung unverzichtbar ist. Wenn beispielsweise die Organentnahme von einem toten Spender nach der sogenannten „Widerspruchslösung“ zulässig und demzufolge schon bei mangelndem Widerspruch möglich sein soll, so vermögen selbst raffinierteste Konstruktionen, wie etwa eine aus mangelndem Widerspruch zu entnehmende mutmaßliche Einwilligung, nicht darüber hinweg zu täuschen, dass es an einer tatsächlichen Einwilligung fehlt, ganz abgesehen davon, dass deren Wirksamkeit eine entsprechende Aufklärung voraussetzen würde. Wenn man die „Widerspruchslösung“ gleichwohl für erforderlich hält – und dafür sprechen im altruistischen Interesse sonst einem ungewissen Schicksal ausgelieferter Organaspiranten durchaus gute Gründe –, dann bedarf ihre Legitimierung der Ergänzung durch eine notstandsähnliche Interessenabwägung. Dadurch aber wird insoweit das Einwilligungsprinzip nicht nur relativiert, sondern teilweise substituiert. – Auf dasselbe läuft letztlich auch die Organentnahme bei Kindern oder sonstwie nicht voll entscheidungsfähigen Personen hinaus. Selbst soweit dies von vorne herein auf die vitale Hilfe für engste Verwandte wie Eltern und Geschwister beschränkt bleiben und über die Zustimmung der gesetzlichen Vertreter hinaus eine gerichtliche Genehmigung erforderlich sein soll, ist auf diesem Wege keinesfalls eine persönliche, sondern allenfalls eine stellvertretende Einwilligung zu erlangen. Stellvertretung in höchstpersönlichen Angelegenheiten (wie gerade der eines Eingriffs in die körperliche Integrität) ist jedoch im Grunde immer nur insoweit legitimierbar, als sie im Interesse und zum Wohl des Vertretenen ausgeübt wird. Davon aber kann auf Seiten des zu betreuenden Organspenders nicht die Rede sein. Wenn man also Organ- oder Gewebeentnahmen von nicht selbst voll entscheidungsfähigen Personen rechtfertigen will – und solchen vitalen Konstellationen, wie beispielsweise im genetisch identischen Verhältnis zwischen einem gesunden und einem auf ein Transplantat angewiesenen Zwilling, wird man sich schwerlich entziehen können –, dann ist das mit einer allein auf Einwilligung gestützten Stellvertretung nicht zu machen: Dann bedarf diese ihrerseits der zusätzlichen Le-

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gitimierung nach notstandsähnlichen Abwägungsgrundsätzen. Auch durch diese Relativierung erweist sich das Einwilligungsprinzip nicht nur als eine für sich allein nicht hinreichende, sondern sogar teilweise ersetzbare Bedingung. Zu dieser ohnehin schon schwierigen ambivalenten Rolle der Einwilligung kommen weitere Probleme hinzu, wenn man sich der genetischen Analyse von Gewebematerial und der Dokumentation und Aufbewahrung von daraus gewonnenen Daten zuwendet. – So stellt sich bereits zur genetischen Analyse von Gewebematerial und der Gewinnung von Daten die Frage, wer dazu seine Einwilligung geben muss und dementsprechend zuvor darüber aufzuklären ist. Anders als bei einer normalen Organtransplantation, die sich bilateral allein zwischen Spender und Empfänger abspielt, kann eine genetische Analyse darüber hinausgehend multilaterale Auswirkungen haben. Da Gewebe bekanntlich eine Fülle von Informationen enthält, die nicht nur über die Eigenschaften dessen, dem das Gewebe entnommen wurde, sondern auch über die seiner Verwandten Auskunft geben können, sind diese im Grunde als Mitbetroffene zu betrachten. Demzufolge müssten sie, wenn nicht schon über die vorzunehmende Analyse, so jedenfalls über die Dokumentation und Aufbewahrung aufgeklärt und um Einwilligung ersucht werden. Dies wird freilich nicht immer leicht zu bewerkstelligen sein. Vielleicht abgesehen von dem immer ungewöhnlicher werdenden Fall, dass alle Verwandten einer genetisch zu untersuchenden Person am selben Ort wohnen und nach Befragung problemlos zustimmen, kann schon allein die Identifizierung aller von einer genetischen Analyse möglicherweise Betroffenen ein mühsames Unterfangen sein, ganz zu schweigen von der dann noch zu leistenden Aufklärungsarbeit und dem vor einem Scheitern nicht gefeiten Bemühen um Einwilligung. Wenn man deren Erlangung für zu umständlich und letztlich auch unsicher hält, bedarf es für einen Einwilligungsersatz wiederum einer Legitimierung. Auch dafür bietet sich in erster Linie der Rückgriff auf notstandsähnliche Abwägungsgrundsätze an: so das etwaige Lebens- und Gesundheitsinteresse des durch die Gewebeentnahme unmittelbar Betroffenen einerseits und das persönliche Geheimhaltungsinteresse mittelbar Betroffener andererseits. Dabei dürfte wohl kaum Durchschlagendes dagegen sprechen, die Waage sich zugunsten des Lebens- und Gesundheitsinteresses zuneigen zu lassen. Ob gleiches auch zugunsten von allgemeinen Forschungsinteressen gelten könnte, ist wesentlich schwerer zu entscheiden. Dazu wäre, ohne dies hier bis zum letzten ausloten zu können, einerseits das Individualinteresse mittelbar von einer genetischen Analyse Betroffener zu beachten und diesem gegenüber die nach Art und Grad von einer genetischen Analyse – möglicherweise im Verbund mit weiteren Analysen anderer Personen – zu erwartenden Erkenntnisse für den wissenschaftlichen Fortschritt im Allgemeinen und deren medizinische Anwendbarkeit zugunsten bestimmter Individuen zu gewichten. – Noch weitaus schwieriger wird die Legitimierung von genetischen Analysen dort, wo nicht bloß aus pragmatischen Gründen auf den Nachweis der Einwilligung

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möglicherweise Betroffener verzichtet, sondern diese ausdrücklich verweigert wird. Während ersterenfalls ein Betroffener, falls befragbar, zugestimmt haben könnte, hier also lediglich ohne förmlichen Einwilligungsnachweis eine genetische Analyse vorgenommen werden soll wird damit das Einwilligungsprinzip nicht von Grund auf in Frage gestellt. Demgegenüber steht dieses fundamental auf dem Spiel, wenn sich ein Betroffener ausdrücklich gegen eine genetische Analyse oder, falls er dieser zunächst zugestimmt hatte, gegen deren Dokumentation und weitere Aufbewahrung ausspricht. In diesem Fall geht es nicht nur um ein Vorgehen ohne, sondern sogar gegen den Willen des Betroffenen. Gleich ob sich eine solche Einwilligungsverweigerung schon aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht oder speziell aus einem heute gern postulierten „Recht nicht erforscht zu werden“ begründen lässt, stellt sich die Frage nach der ausnahmslosen Unabdingbarkeit dieser Rechte und der möglichen Substituierung einer mangelnden Einwilligung durch eine andere Legitimationsgrundlage. Da die Antwort dazu nicht zuletzt vom individuellen Verständnis des Menschen abhängt, wird darauf in allgemeinerem Zusammenhang zurückzukommen sein. – Während es vorangehend vornehmlich um die Einwilligung als notwendige Bedingung für den Umgang mit genetischen Analysen und Daten ging, kann sich auch die umgekehrte Frage nach der Einwilligung als für sich allein hinreichende Eingriffsvoraussetzung stellen. Selbst wenn alle Betroffenen in eine genetische Analyse und Datenaufbewahrung eingewilligt haben mögen, könnte sich aus öffentlichen Schutzinteressen das Bedürfnis nach zusätzlichen Absicherungen ergeben. Denn während eine einverständliche Einzelanalyse unproblematisch sein mag, kann sich aus deren Zusammenführung mit anderen genetischen Daten ein Gefahrenpotential entwickeln, das missbraucht werden könnte, ohne dass dies für den Einzelnen voraussehbar war und daher auch bei seiner Einwilligung nicht adäquat gewürdigt werden konnte. Solchen Bedrohungen wird – über das individuelle Einwilligungserfordernis hinaus – wohl nur durch zusätzliche prozedurale Vorkehrungen, wie etwa besonderen Genehmigungs-, Dokumentierungs- und Informationspflichten, zu begegnen sein. Für solche überindividuellen Absicherungen erwächst ein umso größeres Bedürfnis, je mehr die Gewinnung und Aufbewahrung genetischer Daten in den Verwendungsbereich hineinführt und dafür eine Offenlegung und Weitergabe an Dritte erforderlich werden kann. – Vielleicht könnte man auf den ersten Blick meinen, auch in diesem Bereich unerwünschte Weiterungen mit dem individuellen Einwilligungserfordernis unter Kontrolle halten zu können. Damit kann man jedoch leicht in das Dilemma unterschiedlich dysfunktionaler Alternativen geraten: Versucht man das Einwilligungsprinzip ernst zu nehmen, indem nur solche genetischen Daten offenbarungsfähig und verwendbar sein sollen, über die alle direkt und indirekt Betroffenen zuvor hinsichtlich jeder denkbaren Verwendungsweise aufgeklärt worden waren und dementsprechende Einwilligungserklärungen abgegeben ha-

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ben, so könnte das schon bei Einwilligungsverweigerung auch nur eines einzigen Mitbetroffenen zu einer totalen Datenblockade führen – und damit in der Verhinderung möglicherweise vitaler medizinischer Erkenntnisse enden. Versucht man andererseits solche Wege offen zu halten, indem man sich mit der Einwilligung des unmittelbar Betroffenen und der Gewinnung seines Gewebes begnügt und auch jede Weiterverwendung freizeichnen lässt, dann gilt für die Verwendungsphase das Einwilligungserfordernis im Grunde nur noch zum Schein – und wird damit praktisch wertlos. Auch wenn sich hier gewisse Zwischenlösungen denken ließen, bleibt doch die Frage nach Ergänzungsregeln, und zwar sowohl in einschränkender als auch in erweiternder Hinsicht: einschränkend in der Weise, dass für die Verwendung genetischer Daten nicht schon jede Einwilligung genügen soll, sondern zusätzliche prozedurale Absicherungen einzuhalten sind; und verwendungserweiternd in der Weise, dass gewisse Einwilligungsmängel unter bestimmten Voraussetzungen nach allgemeinen Abwägungsgrundsätzen ersetzt werden können. – Letzteres erscheint vor allem für den Fall veranlasst, dass jemand mit Berufung auf ein – tatsächliches oder vermeintliches – „Recht nicht erforscht zu werden“ die Analyse und Auswertung von genetischen Daten verweigert, die für einen Verwandten oder Lebenspartner von existentieller Bedeutung sein können: sei es, dass man sich von einer Analyse Aufschluss über eine genetische Disposition eines behandlungsbedürftigen Kranken erhofft oder dass ein gesunder Partner vor einer genetisch bedingten Infektion zu schützen ist, vergleichbar dem Fall, dass ein Arzt um die HIV-Infizierung eines Patienten weiß und gegen dessen Widerspruch die ahnungslose Ehefrau darüber informieren will. Sowenig man wohl einerseits soweit gehen könnte, einem Menschen gegen seinen Willen Gewebe für eine genetische Analyse zu entnehmen, so schwer wäre es andererseits zu verstehen, die Analyse von einverständlich erlangtem Material und die Offenlegung daraus gewonnener Daten selbst dann unterlassen zu müssen, wenn damit einem anderen Menschen aus einer existentiellen Gefährdung zu helfen wäre. Für solche Fälle scheint mir das Einwilligungsprinzip an eine Grenze zu stoßen, die eines Überdenkens bedarf. Wenn wir uns damit schwer tun, so könnte dies aus unserem traditionellen Verständnis von der Autonomie des Individuums zu erklären sein. Indem bei Übersetzung ins Deutsche das Individuum als „Einzelner“ und die Autonomie als „Selbstbestimmung“ verstanden wird, kann sich der Einzelne nicht nur als vereinzelt vorkommen, sondern auch als im Gegensatz zu allen anderen und damit insbesondere auch gegenüber der Gesellschaft und dem Staat gestellt sehen, ebenso, wie Selbstbestimmung leicht als unbeschränktes Selbstverfügen verstanden werden kann. Demgegenüber ist mit „Individuum“ – und wohl noch deutlicher mit dem griechischen Äquivalent des „átomon“ – im Grunde nicht mehr ausgesagt, als dass der Mensch als ein „Unteilbares“ zu begreifen ist, dem damit auch Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit und Unverletzlichkeit zukommen soll.

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Ohne nun diese Individualität als Wesenskern des Menschen in Frage stellen zu wollen, scheint mir der Mensch doch um eine wesentliche Dimension verkürzt zu bleiben, wenn man ihn ausschließlich als Individuum begreifen wollte. Vielmehr ist er zugleich auch Mitmensch, wobei dies weder in humanitär-empathischem Sinne von bloßem Altruismus, noch in kommunitaristischem Verständnis von Gemeinsinn und noch viel weniger in landläufigen Vorstellungen von Geselligkeit gemeint ist, sondern durchaus als kategorial-essentiell: So primär auch immer die Existenz des Menschen eine individuale ist, so sehr ist und bleibt der Mensch zugleich auch immer einer unter anderen. Mag er sich auch noch so weit in Vereinzelung zurückziehen oder in Opposition begeben, so verdankt doch jeder Mensch seine Entstehung und sein Werden anderen Menschen, wobei selbst in bewusster Distanzierung eine – und sei es auch nur negativ zum Ausdruck kommende – Anerkennung des Anderen liegt. Insofern ist der Mensch – im Guten wie im Bösen – wesenhaft Mit-Mensch. Um zu zeigen, dass es sich dabei nicht um ein nur marginal zu verstehendes Element des Menschseins handelt, wäre dies auch terminologisch zum Ausdruck zu bringen. In Ermangelung eines noch unverbrauchten Wortes könnte man das über die Individualität des Menschen hinausgehende Mit-Mensch-Sein als „co-hominitas“ (im Sinne von „homo cum homine“) bezeichnen: und zwar als existentielle Kohominität in dem Sinne, dass der Mensch nicht erst akzidentiell, sondern schon essentiell gar nicht anders als in seiner Kontingenz von und mit anderen Menschen begriffen werden kann. So gesehen ist es denn auch weniger seine Individualität als vielmehr seine Kohominität, aus der sich jene immanenten Schranken individualer Freiheit ergeben, die der Mensch nur insoweit ausüben und als respektiert beanspruchen darf, als er nicht an die gleiche und gleichermaßen zu achtende Freiheit und Rechtssphäre seiner Mitmenschen stößt. Diese transindividuale Prägung des Menschen ist zudem in zwei kohominalen Dimensionen zu sehen: auf der horizontalen Ebene aufgrund gleicher Zeitgenossenschaft mit den lebenden Mitmenschen, wie auch in vertikaler Ausrichtung gegenüber den vorausgehenden und nachfolgenden Menschheitsgenerationen. In gleicher Weise nämlich, wie die gerade Lebenden von ihren Vorfahren empfangen haben und diese entsprechenden Respekt verdienen, dürfen auch die Nachkommenden von den Lebenden Vorsorge erwarten. Insofern steht der individuelle Mensch im Kreuzungspunkt einer horizontalen Verbindung mit seinen Mitmenschen und einer vertikalen intergenerativen Verantwortlichkeit gegenüber seinen Vor- und Nachfahren. Bei einem solchen kohominalen Verständnis des Menschen erscheint auch das Einwilligungsprinzip im Rahmen der modernen Medizin und Biotechnologie in neuem Licht. Dann ist die Einwilligung weder als ein unabdingbar notwendiges noch als ein immer hinreichendes Eingriffserfordernis zu verstehen, sondern in kohominaler Mitverantwortlichkeit auch für Andere zu sehen.

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Zu einer solchen transindividualen Sichtweise, die natürlich noch weiterer Reflexion und Explikation bedarf, sehe ich mich nicht zuletzt durch den japanischen Genius loci inspiriert. So wurde ich während der Genom-Tagung in Tokio an eine frühere internationale Konferenz über „Life Sciences“ erinnert, auf der ich die in einem Vortrag angesprochene „Menschenwürde“ als „dignity of mankind“ übersetzt hörte. Darauf angesprochen, ob „Menschenwürde“ nicht eher mit „dignity of man“ oder „human dignity“ zu übersetzen sei, erklärte mir die japanische Dolmetscherin, dass man dies nach asiatischer Weltanschauung anders sehe: Die Würde des „Menschen“ sei ohne die Würde der „Menschheit“ nicht zu denken. Könnte nicht auch das ein Grund zu weiterem Überdenken sein?

Die strafrechtliche AIDS-Diskussion: Bilanz und neue empirische Entwicklungen Wolfgang Frisch Um die strafrechtlichen Probleme von HIV und AIDS, an deren Diskussion sich auch der verehrte Jubilar maßgeblich beteiligt hat, 1 ist es still geworden. Vorbei ist die Zeit, in der in kurzen Abständen immer neue Beiträge zu diesem Thema erschienen, die rechtlichen Probleme von AIDS Gegenstand von Kongressen und Symposien mit höchster Aufmerksamkeit waren und es für die Diskussion der Gesamtthematik von AIDS sogar ein eigenes publizistisches Forum gab. Heute widmen Kommentare und Lehrbücher der Thematik nur noch einige dürre, auf diese Diskussion Bezug nehmende Sätze; eigenständige neue Beiträge zum Thema erscheinen praktisch nicht mehr. 2 Die Rechtsprechung hat sich – nicht nur in Deutschland – festgelegt; 3 die Kritik, die an dieser Rechtsprechung in Deutschland geübt wurde, 4 ist verstummt – oder hat resigniert. Bei dieser Sachlage bedarf es tragfähiger Gründe dafür, das Thema AIDS und Strafrecht hier noch einmal aufzugreifen. Solche Gründe gibt es indessen – und die Festschrift für Andrzej Szwarc, der das letzte große Symposion zur Thematik veranstaltet hat, ist dafür geradezu der ideale Platz.

1 Vgl. Szwarc, Karnoprawne problemy AIDS in: Szwarc (Hrsg.), Prawne problemy AIDS, 1990, S. 103ff. (mit deutscher Zusammenfassung S. 138f.); ders. (Hrsg.), AIDS und Strafrecht, 1996. 2 Zwei Ausnahmen: der sich selbst als Nekrolog auf eine beendete Diskussion verstehende Beitrag von Schünemann in der FS für Eser, 2005, S. 1141ff. und Sinn, Sonderheft des Ärzteblatts Mecklenburg-Vorpommern 2007, S. 14ff. 3 Vgl. für Deutschland die Entscheidungen BGHSt 36, 1ff. und 36, 262ff.; für die Schweiz BGE 116 IV, 125ff.; 125 IV, 242ff. und 255ff. sowie 131 IV, 1ff.; für Schweden OGH Nytt juridiskt arkiv I 1994, 119 und 2004, 176ff., 193ff.; für Italien Cassazione penale, Sez. I, 8. Settembre 2000, in: Diritto penale e processo, 11/2001, 1397ff.; für Großbritannien den Court of Appeal im Fall Kanzoni, Court of Appeal Reports 2005, 198 (dazu Weait, Intimacy and Responsibility, 2007, S. 28, 37ff.). 4 Überblick bei Frisch, JuS 1990, 362ff.

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I. Zur Notwendigkeit eines Überdenkens des Vorhandenen Zum einen hat sich seit der Leitentscheidung des BGH 5, die der Diskussion in Deutschland schon bald die Richtung gab, der heute herrschenden Meinung zugrunde liegt und zum Teil auch auf die Judikatur anderer Staaten ausstrahlte, doch einiges verändert. Das gilt nicht nur für die Gesetzeslage in Deutschland und einigen anderen Staaten. 6 Entscheidende Veränderungen haben sich – von den wenigsten Strafjuristen bemerkt – vor allem im empirischen und medizinischen Bereich ergeben. Im Lichte dieser Veränderungen erweisen sich nicht nur gewisse Aussagen, die das empirische Fundament der bisherigen Rechtsprechung und herrschenden Meinung bilden, als so nicht mehr haltbar. Es stellen sich auch neue Fragen, auf die die bisherige Rechtsprechung und Literatur noch keine Antworten bereithalten. Darüber hinaus dürften die neuen Erkenntnisse im empirisch-medizinischen Bereich aber auch dazu führen, dass bestimmte Felder der bisherigen strafrechtlichen AIDS-Diskussion schon bald der Rechtsgeschichte angehören werden. Freilich geben nicht nur neue Entwicklungen und Einsichten im empirischen und medizinischen Bereich Anlass dazu, die Diskussion um „AIDS und Strafrecht“ noch einmal aufzunehmen. Zu denken geben sollte auch, dass trotz der Herausbildung einer deutlich herrschenden Meinung die Kritik am Kurs der deutschen Rechtsprechung und herrschenden Meinung bis heute nicht erloschen ist. Nicht nur von den durch die strafrechtliche Rechtsprechung Betroffenen, auch von den AIDS-Hilfe-Organisationen und ihren Repräsentanten wird die Bestrafung HIV-Infizierter wegen vorsätzlicher Körperverletzung, meist in der Form der versuchten Körperverletzung, als unangemessen und ungerecht empfunden. 7 Diese Kritik sollte man nicht vorschnell abtun. Zwar dürfte sie überziehen, soweit sie die Berechtigung einer strafrechtlichen Reaktion in Fällen ungeschützten einverständlichen Geschlechtsverkehrs seitens eines den Sexualpartner nicht über seine Infektion aufklärenden HIV-Infizierten überhaupt bestreitet. 8 Als Kritik an der Adäquität der Form der strafrechtlichen Reaktion, insbesondere der Adäquität 5

BGHSt 36, 1ff. vom 4.11.1988. Vgl. z.B. für Deutschland die Änderungen im Bereich der Körperverletzungsdelikte durch das 6. Strafrechtsreformgesetz von 1998 (insbes. Streichung des §229 StGB a.F.; Ergänzung der gefährlichen Körperverletzung durch die Nr. 1 des §224 Abs. 1 StGB); für Polen etwa die neue Vorschrift des Art. 161 §1 (Aussetzung der Gefahr einer HIV-Infektion) im StGB von 1997; für Dänemark die Ergänzung des §252 des dänischen StGB durch die Abs. 2 und 3 (Verursachung der Gefahr, dass ein anderer mit einer lebensbedrohenden und unheilbaren Krankheit angesteckt wird). 7 Beispielhaft dafür die Resolution des 120. bundesweiten Positiventreffens vom 20.06.2007 (www.frankfurt-aidshilfe.de/geschäftsstelle/news/192) und die Stellungnahme der AIDS-Hilfe Schweiz vom Januar 2001. 8 Siehe dazu eingehend Frisch, in: Alkier (Hrsg.), HIV / AIDS-Ethische Perspektiven, 2009, III. und IV. 6

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des erhobenen Unrechts- und Schuldvorwurfs, enthält sie aber möglicherweise einen durchaus berechtigten Kern. Vielleicht ist die deutsche Lösung, die genannten Sachverhalte über die Körperverletzung, insbesondere über den Versuch der (lebensgefährdenden) Körperverletzung, zu erfassen, doch eher eine der zeitgebundenen Gesetzeslage geschuldete, durch Gewohnheit fortgeschriebene Notlösung. Die auch im dogmatischen Schrifttum gegen diese Lösung zunächst vorgebrachte Kritik 9 könnte dafür ebenso sprechen wie der Umstand, dass in manchen anderen Staaten die Hauptlast der strafrechtlichen Aufarbeitung der genannten Fallkonstellationen auf anderen Tatbeständen, insbesondere eigenständigen Gefährdungsdelikten, ruht. II. Probleme und Verwerfungen der strafrechtlichen Aufarbeitung von HIV / AIDS auf der Basis der Verletzungserfolgsdelikte 1. Die strafrechtliche Aufarbeitung der Fälle der erfolgten oder möglichen Übertragung des HI-Virus, insbesondere durch Sexualverkehr, stand in Deutschland von Anfang an unter einem ungünstigen Vorzeichen. Sie war, von einigen spektakulären Ausnahmefällen abgesehen, im Grunde auf die Tatbestände der Körperverletzungsdelikte, also auf den Einsatz von Verletzungserfolgsdelikten, angewiesen. Spezialtatbestände, die an bestimmte mit der Gefahr der Übertragung des Virus verbundene Verhaltensweisen anknüpfen, existierten nur in Bezug auf andere Krankheiten, insbesondere Geschlechtskrankheiten. 10 Ihre Ausweitung in Richtung auf Verhaltensweisen, die mit der Gefahr der Übertragung des HI-Virus verbunden sind, war zwar erwogen worden. 11 Im Gegensatz zu einer Reihe anderer Staaten, die diesen Weg beschritten und entweder spezielle neue Gesetze schufen oder für die Anwendbarkeit bereits vorhandener Gefährdungstatbestände sorgten, wurde eine solche Lösung jedoch in Deutschland aus politischen Gründen verworfen. Sie erschien den tragenden politischen Kräften, die bei der Bekämpfung von AIDS ganz auf Prävention durch Beratung setzten, entweder als unangemessen, weil kranke Menschen kriminalisierend, oder aber als die Präventionsbotschaft störende Vorgehensweise – konnte sie doch u.a. dazu führen, dass möglicherweise 9 Vgl. etwa Frisch, JuS 1990, 362ff. m.w.N.; Lüderssen, StV 1990, 83 ff.; siehe auch die strafrechtlichen Stellungnahmen von Kreuzer, Prittwitz und Böllinger in: Prittwitz (Hrsg.), Aids, Recht und Gesundheitspolitik, 1990, S. 115ff., 125ff. und 151ff. 10 Vgl. dazu §6 Abs. 1 und 3 des Gesetzes zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten von 1953, das im Jahre 2001 durch das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen abgelöst wurde, welches vergleichbare Vorschriften nicht mehr enthält. Kritisch gegenüber dieser Gesetzesentwicklung Schünemann, FS Eser, 2005, S. 1141ff. 11 Vgl. zur damaligen Diskussion etwa Gauweiler, Steinbach und Gerhardt, in: Schünemann / Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 37ff., 61ff. und 73ff.; rückblickend Schünemann, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 9, 50ff. und FS Eser, S. 1141ff. sowie Sinn (ob. Fn. 2), sub B I.2. Für die Schweiz Kunz, ZStrR 107 (1990), 39, 40ff.

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HIV-infizierte Personen, um einer Bestrafung zu entgehen, auf sinnvolle Testverfahren verzichteten und es auf diese Weise zu einer weiteren Ausbreitung des Virus kommt. Gleich wie man zu diesen Argumentationen steht, bedeutete diese vor allem von Gesundheitspolitikern verfochtene, sich letztlich auf der politischen Ebene durchsetzende Lösung, dass für die von der weit überwiegenden Bevölkerung erwartete auch strafrechtliche Aufarbeitung gewisser in den Medien drastisch geschilderter Fälle von tatsächlicher oder möglicher Übertragung des HI-Virus praktisch im Wesentlichen nur die Körperverletzungstatbestände zur Verfügung standen. Dass diese von der Rechtsprechung im Blick auf „Präventionsbotschaften“ einfach negiert würden, durfte in einem Rechtsstaat nicht ernsthaft erwartet werden. 12 Eher war damit zu rechnen, dass die unter starkem Erwartungsdruck der Öffentlichkeit stehende Strafjustiz angesichts des Fehlens spezieller, das Problem moderat angehender Vorschriften die Körperverletzungstatbestände so ausschöpfen würde, dass den Bestrafungserwartungen der Öffentlichkeit, soweit diese auch ihr gerechtfertigt erschienen und sich über die Körperverletzungsdelikte verwirklichen ließen, Rechnung getragen wird. Diesen Weg ist die Strafjustiz dann auch gegangen. Sie hat dabei die Anwendungsmöglichkeiten der Körperverletzungsdelikte im Zusammenspiel mit gewissen prozessualen Instituten 13 bis an die Grenze ausgeschöpft, vielleicht auch partiell überstrapaziert, um der nach ihrer Auffassung zu bejahenden materiellen Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit bestimmter zumindest gesundheitsgefährdender Verhaltensweisen zu entsprechen. 2. Einen ersten Niederschlag einer solchen extensiven Anwendung der Körperverletzungsdelikte bildet das Verständnis schon der bloßen Infektion als Körperverletzungserfolg. 14 Hätte man stattdessen erst die Sachverhalte des Ausbruchs der Krankheit als Körperverletzungserfolg erachtet, so wäre es praktisch unmöglich gewesen, gewisse Verhaltensweisen strafrechtlich zu ahnden, die der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung (und auch den Vertretern der Strafjustiz selbst) eindeutig strafwürdig und strafbedürftig erschienen. Denn in den Fällen bereits ausgebrochener Krankheit war es wegen der inzwischen verstrichenen Zeit und im Blick auf wechselnde Kontakte in aller Regel unmöglich, diese Krankheitsfolgen auf das Verhalten bestimmter lebender Personen zurückzuführen; und in den Fällen allein vorliegender, noch nachweisbar auf das Verhalten bestimmter infizierter 12

Eindeutig gegebene Tatbestandserfüllungen lassen sich von einer nach der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) an Gesetz und Recht gebundenen Rechtsprechung nicht einfach mit Rücksicht auf politische Programme und „Botschaften“ beiseite schieben; siehe dazu Frisch (ob. Fn. 8), I.2. 13 Insbesondere der begrenzten Revisibilität der Beweiswürdigung, vgl. BGHSt 36, 1, 12f. und 14 (zur tatrichterlichen Feststellung des Vorsatzes); ähnlich für die Schweiz BGE 125 IV, 242, 252. 14 BGHSt 36, 1, 6f.; ganz entsprechend für die Schweiz BGE 125 IV, 242, 246 (trotz des Art. 231 Schweiz. StGB).

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Personen zurückführbarer Infizierung hätte es damit an einem Körperverletzungserfolg gefehlt. Damit wäre nicht nur eine Strafbarkeit aus dem Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung von vornherein ausgeschieden. Auch eine Strafbarkeit wegen Versuchs hätte sich wohl kaum begründen lassen. Denn angesichts des oft langen Zeitraums zwischen der Infizierung und dem Ausbruch der Krankheit hätte jenes Argument, das nach der Auffassung der Rechtsprechung in aller Regel dem Tötungsvorsatz entgegensteht, auch der Annahme eines auf einen so konzipierten Körperverletzungserfolg bezogenen Verletzungsvorsatzes entgegengestanden: Man hätte dem die Infektion Übertragenden schwerlich widerlegen können, dass er angesichts des langen Zeitraums zwischen Infektion und Ausbruch der Krankheit darauf vertraut habe, der Wissenschaft werde es gelingen, rechtzeitig Medikamente zu finden, die doch jedenfalls den Ausbruch der Krankheit verhinderten. 15 An diesem Einwand scheiterte die Anwendung der vorsätzlichen Körperverletzungsdelikte nur dann nicht von vornherein, wenn man schon die bloße Infektion als Körperverletzungserfolg gelten ließ. Denn gegenüber der Infektion, die, wenn sie eintritt, alsbald eintritt, lässt sich so nicht argumentieren. Hier erschien es damit durchaus nicht ausgeschlossen, HIV-Infizierten, die von ihrer Infektion wussten und über die Anstreckungsgefahr aufgeklärt worden waren, Vorsatz in Gestalt des Dolus eventualis vorzuhalten – und damit selbst bei fehlender Ansteckung des Partners ggf. über die Versuchsstrafbarkeit zu einer strafrechtlichen Ahndung zu kommen. Sachlich war damit über den Versuch der Körperverletzung 16 die Möglichkeit einer strafrechtlichen Ahndung gesundheitsgefährdenden Verhaltens eröffnet, die in einer Reihe anderer Staaten über entsprechende Spezialtatbestände bereits möglich war oder (durch deren Schaffung) ermöglicht wurde. 17 3. Ohne weiteres erreichbar war mit dieser – sachlich gut begründbaren und die Strafbarkeit als solche im internationalen Niveau haltenden 18 – weiten Interpretation des Körperverletzungserfolgs allerdings nur die Strafbarkeit in den Fällen einer eingetretenen Ansteckung. Denn dann griff – unabhängig von der 15 Zu dieser Einstellung als den Tötungsvorsatz ausschließendem psychischen Sachverhalt BGHSt 36, 1, 15f. 16 Genauer: der gefährlichen Körperverletzung in Gestalt der „lebensgefährdenden Behandlung“ (§223a StGB a.F.); denn der Versuch der einfachen Körperverletzung war bis 1998 straflos. 17 Etwa in Dänemark durch §252 des dänischen StGB, in Finnland durch Kap. 21 §13 des finnischen StGB, in Norwegen durch §155 des norwegischen StGB, in Österreich durch §§178, 179 des österreichischen StGB, in Polen durch Art. 161 §1 des polnischen StGB, in Schweden durch Kap. 3 §9 des schwedischen StGB und in Spanien früher durch Art. 348 bis des Código penal (dazu Silva Sánchez, Revista Brasileira de Ciêncas Criminais 1997, 33, 42f.). Art. 231 des schweizerischen StGB, dessen Anwendbarkeit auf HIV-Sachverhalte allerdings umstritten ist (vgl. Trechsel, Schweizerisches StGB, 2. Aufl., 2005, Art. 231 Rn. 8), setzt dagegen neben dem gefährdenden Verhalten die Übertragung der Krankheit voraus, sonst kommt nur eine Strafbarkeit wegen Versuchs in Betracht (vgl. die Nachweise a.a.O. Rn. 8 und 18). 18 Siehe dazu näher Frisch, in: Alkier (ob. Fn. 8), II.

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Einstellung des die Infektion Übertragenden – doch zumindest der Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung, wenn die Übertragung der Infektion nachweisbar auf den bereits infizierten Täter zurückführbar war. Anders in den zahlreichen Fällen, in denen zwar das gesundheitsgefährdende Verhalten feststand, es aber nicht zu einer Ansteckung gekommen war: Hier war eine strafrechtliche Ahndung, anders als in den Staaten, die das gefährdende Verhalten als solches in spezifischen Gefährdungstatbeständen unter Strafe gestellt hatten und stellen, 19 nur über die Annahme einer versuchten Körperverletzung möglich. Auch wenn man dafür – wie das deutsche Strafrecht und viele andere Strafrechtsordnungen – im Bereich des Vorsatzerfordernisses den so genannten Dolus eventualis ausreichen lässt, war damit eine Bestrafung des Täters nur möglich, wenn dieser bei seinem Verhalten (nach der Überzeugung des Gerichts) die Anforderungen des Dolus eventualis erfüllt hat. An dieser Stelle liegt die eigentliche Problematik der Ahndung materiell strafwürdigen Gefährdungsverhaltens über das Verletzungserfolgsdelikt der vorsätzlichen Körperverletzung. Das gilt ganz besonders, wenn man für den Eventualvorsatz jene voluntative Komponente fordert, die nach der Rechtsprechung das eigentliche Wesen des Eventualvorsatzes ausmachen soll: dass der Handelnde den Erfolgseintritt nicht nur als möglich angesehen, sondern ihn auch billigend in Kauf genommen hat. 20 Denn bedenkt man das geringe, im Promillebereich liegende Risiko einer Ansteckung, das in den meisten Fällen des ungeschützten Sexualverkehrs allein besteht, 21 so ist es durchaus nicht unplausibel, dass ein entsprechend informierter Täter fest darauf vertraut, es werde zu einer Anstreckung nicht kommen, und daher weit davon entfernt ist, eine solche Ansteckung wirklich zu billigen oder billigend in Kauf zu nehmen. 22 Auch dass es dem Handelnden gleichgültig gewesen sei, ob es zu einer Ansteckung des Sexualpartners kommt, wird sich – streng genommen – oft nicht sagen lassen, insbesondere wenn der Handelnde durch das Ergreifen von – wenngleich objektiv nicht ausreichenden – Schutzvorkehrungen gezeigt hat, dass ihm die Frage einer Ansteckung des anderen nicht gleichgültig 19

Siehe die Nachweise ob. Fn. 17. Vgl. dazu statt vieler BGHSt 7, 363ff.; 36, 1, 9ff. m.w.N.; für die Schweiz BGE 121 IV, 249; 125 IV, 242, 251. 21 Das LG Nürnberg / Fürth war in seinem der Entscheidung BGHSt 36, 1ff. zugrunde liegenden Urteil von einem Risiko von 1:1.000 ausgegangen; heute werden die Risiken, je nach der Art der sexuellen Handlungen, z.T. im Bereich von 1:10.000 und geringer angesiedelt (in einer Entscheidung des BGH z.B. bei 1 zu einer Million, BGH 5 StR 99/07 v.17.04.2007, S. 7); vgl. zum Ganzen Marcus, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2000, 449ff. und Powers / Poole / Pettifor / Cohen, in: The Lancet: Infections Disease, Online-Publikation, 5.August 2008, 1ff., die auch auf die Problematik der einschlägigen Schätzungen hinweisen. 22 Vgl. dazu schon Frisch, JuS 1990, 362, 366ff. m.w.N.; ders., Gedächtnisschrift Meyer, 1990, S. 533, 550ff.; Herzog / Nestler-Tremel, StV 1987, 360, 363ff.; Kreuzer, ZStW 100 (1988), 786, 798f.; Lüderssen, StV 1990, 83, 85f.; Prittwitz, JA 1988, 493ff. 20

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ist. Aber selbst wenn man das voluntative oder emotionale Moment noch stärker zurücknimmt und es ausreichen lässt, dass der Handelnde das Risiko des Erfolgseintritts ernst genommen und sich mit dem möglichen Erfolgseintritt abgefunden hat, 23 bleibt die Bejahbarkeit des Dolus eventualis bei realistischer Betrachtung zweifelhaft: Wie will man dem Handelnden angesichts eines im Promillebereich liegenden Risikos widerlegen, dass er fest darauf vertraut habe, es werde schon nichts passieren, also von einem ernsthaften Risiko im konkreten Fall nicht ausgegangen sei? Dass er nicht hätte vertrauen dürfen, reicht nicht aus – das ist lediglich geeignet, Leichtfertigkeit und Fahrlässigkeit zu begründen. Und ebenso wenig ist der Umstand, dass der Täter den Eintritt des Erfolgs im Rahmen des verbleibenden Restrisikos dem Zufall überlassen hat, 24 geeignet, den Vorsatz zu belegen – denn auch das trifft für viele Sachverhalte zu, die von der Rechtsprechung stets als Fahrlässigkeitssachverhalte angesehen wurden. Das gilt insbesondere für gefährliche Manöver im Straßenverkehr oder im Arbeitsleben, bei denen der Eintritt oder das Ausbleiben des Erfolgs zu einem erheblichen Teil oft zufällig ist und das Risiko des Erfolgseintritts nicht selten über Risiken im Promillebereich liegt. 25 Wir brauchen das Ganze nicht weiter auszuführen. Schon die bisherigen Darlegungen zeigen, dass das Bemühen, gewisse materiell strafwürdig erscheinende und in einer Reihe von Staaten auch über spezielle Gefährdungstatbestände unter Strafe gestellte gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen über die Figur des Versuchs einer vorsätzlichen Körperverletzung zu erfassen, zu erheblichen Verwerfungen geführt hat. Es war im Grunde nur um den Preis einer Relativierung von Vorsatzanforderungen zu realisieren: indem gewissen Einstellungen, die sonst als vorsatzausschließend anerkannt werden, diese Wirkung im Zusammenhang der hier interessierenden Fallkonstellationen abgesprochen wird. Man braucht kein Hellseher zu sein, um sagen zu können, dass all diese Verwerfungen vermieden worden wären, wenn der Gesetzgeber, statt einseitig gesundheitspolitischen Ideologien zu folgen und das Rechtsbewusstsein weiter Kreise der Bevölkerung zu negieren, das getan hätte, was in einer Reihe anderer Staaten getan worden ist: Tatbestände zu schaffen, die nicht hinnehmbare Gesundheitsgefährdungen anderer als solche unter Strafe stellen. 26 Man hätte dann vielleicht auch in Deutschland das sehen können, was andere Staaten uns zeigen: dass Prävention und Strafrecht sich nicht ausschließen, sondern sinnvoll ergänzen.

23 So die wohl h.M. in der Lit., vgl. z.B. Rudolphi, SK-StGB, 7. Aufl., Stand Oktober 2002, §16 Rn. 43 m.w.N. 24 Darauf hebt der BGH ab; vgl. BGHSt 36, 1, 11. 25 Siehe ergänzend zum Ganzen Frisch, JuS 1990, 362, 366ff.; ders., Gedächtnisschrift Meyer, S. 533, 550ff. 26 Vorschläge dazu bei Schünemann, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 9, 36f.; Scherf, AIDS und Strafrecht. Schaffung eines Gefährdungsstraftatbestandes zur Bestrafung ungeschützten Geschlechtsverkehrs, 1992, S. 139ff., 146ff.; Sinn (ob. Fn. 2), sub B I.2.

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4. Die einseitig gesundheitspolitische Ausrichtung der Gesetzgebung hat freilich durch ihr Nichttätigwerden nicht nur nicht verhindern können, dass die gesundheitliche Gefährdung anderer durch HIV-Infizierte auch strafrechtliche Konsequenzen hat, und damit im Ergebnis nichts weiter als Verwerfungen der Rechtsprechung programmiert, die anderen Staaten zum Teil erspart geblieben sind. Sie hat leider auch zur Folge gehabt, dass ein rechtlich relativ einfacher Sachverhalt – nämlich die Verbotenheit und Strafwürdigkeit von Handlungen, die eine erhebliche Gefährdung der Gesundheit (nichtwissender) Anderer darstellen – in ganz unnützer Weise mit Zusatzproblemen belastet wurde. Tatsächlich setzt ja auch die Verurteilung wegen versuchter Körperverletzung eines voraus: dass der Erfolg, dessen Eintritt der Handelnde für möglich erachtet hat, ihm im Falle des Eintritts zugerechnet werden könnte. Da gerade in den Fällen des einverständlich ungeschützten Geschlechtsverkehrs durchaus auch an eine Selbstgefährdung des Opfers gedacht werden mag, 27 wird die Frage nach der Strafbarkeit des HIV-Infizierten damit zusätzlich mit der Problematik der Erfolgszurechnung und des Verhältnisses von Erfolgszurechnung und Selbstgefährdung belastet. Zwar ist es dabei hier im Ergebnis nicht zu Verwerfungen gekommen wie im Rahmen der Vorsatzproblematik – denn in Wahrheit hebt die Nichtergreifung von Selbstschutzmaßnahmen seitens des Opfers die Verantwortlichkeit des Infizierten für eine etwa erfolgende Ansteckung nicht völlig auf, sondern begründet allenfalls eine Mitverantwortlichkeit des Opfers. 28 Aber misslich, weil mit in concreto unnützen Belastungen und Streitfronten verbunden, ist es schon, wenn in Fällen, in denen ein Erfolg überhaupt nicht eingetreten ist, über Fragen der Erfolgszurechnung diskutiert werden muss – nur weil ein schlecht beratener Gesetzgeber das nicht getan hat, was in anderen demokratischen Staaten getan wurde: Verhalten, das die Gesundheit anderer ohne deren Wissen gravierend gefährdet, als solches unter Strafe zu stellen. Andere Staaten, gerade auch Polen, haben sich hier vernünftiger verhalten. 5. Freilich leidet die bisherige strafrechtliche Bewältigung der HIV / AIDSProblematik in Deutschland (und einigen anderen Staaten) nicht nur bis auf den heutigen Tag daran, dass wegen gesetzgebungspolitischer Versäumnisse Notwege beschritten werden mussten, um gewissen Rechtsprinzipien und dem Rechtsbewusstsein der Bevölkerung Rechnung zu tragen. Auch die Rechtsprechung, die diese Notwege beschreiten musste, hat – trotz insoweit grundsätzlich richtiger Generalrichtung – in entscheidenden Fragen nicht vertieft genug gearbeitet. Die zentralen Passagen der grundlegenden Entscheidung BGHSt 36, 1ff. erscheinen 27 In diesem Sinne erwägend ja der BGH selbst (BGHSt 36, 1, 17f.) im Anschluss an die dort im Einzelnen aufgeführte literarische Diskussion, z.B. Bottke, in: Schünemann / Pfeiffer (ob. Fn. 11), S. 171, 205ff.; Herzog / Nestler-Tremel, StV 1987, 360, 369f.; weit. Nachw. bei Frisch, JuS 1990, 362, 369f. 28 Näher dazu m.w.N. Frisch, in: Alkier (ob. Fn. 8), III.2. und 3.; siehe auch Kunz, ZStrR 107 (1990), 39, 551, und Sinn (ob. Fn. 2), sub B I.1. d.

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aus heutiger Sicht doch etwas technisch vordergründig und sprechen gewisse für die Akzeptanz des Entscheidungsergebnisses maßgebliche Gesichtspunkte noch nicht einmal an. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, dass die AIDS-Judikatur bei den von ihr Betroffenen und bei AIDS-Hilfe-Organisationen bis heute kritisch oder zwiespältig aufgenommen wird. Sicher ist aber jedenfalls, dass diese Judikatur nur ein unzureichendes Fundament zur Beantwortung gewisser Fragen bildet, vor die sich die Rechtsprechung wegen empirischer Fortschritte in der AIDS-Behandlung schon bald gestellt sehen dürfte. III. Neue empirische Entwicklungen als Prüfstein und Zwang zur Nachbesserung bisheriger Begründungen 1. Den Ausgangspunkt der Leitentscheidung des BGH zur AIDS-Problematik bildete bekanntlich ein Sachverhalt ungeschützten Sexualverkehrs, der zu keiner Infektion des Opfers geführt hatte. Tragend für die Annahme einer versuchten Körperverletzung seitens des BGH war hier, dass das Landgericht den bedingten Vorsatz des Angeklagten aus der Sicht des BGH rechtsfehlerfrei bejaht hatte – nämlich ohne Rechtsfehler zur Überzeugung gelangt war, dass der Angeklagte die Möglichkeit einer Ansteckung des Sexualpartners erkannt und diese Ansteckung billigend in Kauf genommen hatte. 29 Die so erfolgte Bejahung des Vorsatzes reichte dem BGH als tragende Säule für die Annahme eines strafbaren Versuchs aus; ob sich der Vorsatz angesichts der statistischen Geringfügigkeit des Risikos auf ein rechtlich missbilligtes Risiko bezog, wird im Rahmen der Begründung der Strafbarkeit nicht diskutiert. Diese Frage taucht überhaupt erst an späterer Stelle, nämlich im Kontext eines etwaigen Fortfalls der Strafbarkeit, auf. Hier erörtert der BGH die Frage, ob die Strafbarkeit nicht deshalb entfalle, weil ein Sachverhalt des erlaubten Risikos vorliegt oder von einer Selbstgefährdung des Opfers auszugehen ist. Die erste Frage wird unter Hinweis auf die fehlende Sozialadäquanz des Verhaltens des Angeklagten und die (nicht ergriffene) Möglichkeit der Risikoreduzierung (durch Benutzung eines Kondoms) verneint, wobei der BGH ausdrücklich, freilich ohne Begründung, betont, dass der geringe „Grad der Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Ansteckung kommt, nicht ins Gewicht fällt“ 30. An einer zur Straflosigkeit führenden Selbstgefährdung aber fehle es, wenn der Täter – wie in dem vom BGH beurteilten Fall – „kraft überlegenen Sachwissens ... das Risiko besser erfasst hat als der sich selbst Gefährdende“ 31.

29 Vgl. BGHSt 36, 1, 12f. und 13f.; ähnlich der Schweiz. Kassationshof BGE 125 IV, 242, 252f. 30 Vgl. BGHSt 36, 1, 16f.; eingehender insoweit der Schweiz. Kassationshof in BGE 125 IV, 242, 254. 31 Vgl. BGHSt 36, 1, 17f., wobei der BGH a.a.O. S. 18 ausdrücklich betont, dass das auch „gilt, wenn der Betroffene, der das konkrete Risiko einer HIV-Übertragung nicht

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Diese Begründung ist, selbst wenn man dem BGH im Ergebnis recht geben sollte, aus heutiger Sicht substanziell nicht sehr stark. Auch der Versuch lässt sich danach nicht einfach über begriffliche Erwägungen zu den Vorsatzkomponenten begründen. Unverzichtbar ist vielmehr – gerade in Fällen eines statistisch außerordentlich geringen Risikos –, dass sich Wissen und Wollen des Täters auf ein Risiko beziehen, dessen Schaffung rechtlich verboten ist. 32 In der substanziell überzeugenden Begründung dafür, dass das in den Fällen des ungeschützten Sexualverkehrs trotz des statistisch außerordentlich niedrigen Risikos einer Ansteckung der Fall ist, hätte dementsprechend eine wichtige, wenn nicht überhaupt die Begründungsleistung des BGH bestehen müssen. Der die Begründungslast verkehrende Hinweis darauf, dass das Verhalten des Angeklagten den – schwammigen – Topos der Sozialadäquanz nicht erfülle, reicht dafür ebenso wenig wie die schlichte, durch den bloßen Hinweis auf einen Aufsatz in einer Ausbildungszeitschrift verstärkte Behauptung, dass der (geringe) Grad der Wahrscheinlichkeit nicht ins Gewicht falle. 33 Diese substanzielle Schwäche der Grundsatzentscheidung des BGH in einem zentralen Punkt der Begründung hat zwar der Leitfunktion der Entscheidung des BGH für die Instanzgerichte in den Fällen des ungeschützten Sexualverkehrs HIVInfizierter keinen Abbruch getan. Sie bildet aber wohl mit einen Grund dafür, dass die Judikatur des BGH zur AIDS-Problematik von Betroffenen und AIDS-HilfeOrganisationen nicht recht verstanden und akzeptiert wurde. Weil der Entscheidung des BGH eine tiefere substanzielle Begründung fehlt, hat sie auch jenseits der von ihr direkt behandelten Sachverhalte (des ungeschützten Sexualverkehrs) keine Orientierung mehr zu geben vermocht. Das zeigt in großer Deutlichkeit die Diskussion um die Frage der richtigen strafrechtlichen Behandlung der Fälle des geschützten Sexualverkehrs. 34 In ihr tauchen zwar die vom BGH benutzten Topoi (Sozialadäquanz und statistische Risikohöhe) noch auf, doch werden daraus ganz unterschiedliche Konsequenzen gezogen. Diese Kontroversen dürften sich vermutlich noch verstärken, wenn sich die strafrechtliche Diskussion gezielt mit gewissen empirischen Entwicklungen beschäftigt, zu denen es in den letzten Jahren, von der Strafrechtswissenschaft weitgehend unbemerkt, gekommen ist. 2. Zwar ist es der medizinisch-pharmazeutischen Forschung noch nicht gelungen, ein Mittel zu entwickeln, das den HIV-Infizierten endgültig (und ohne erkannt hat, damit rechnet, daß er den Sexualverkehr mit einer Person ausübt, die einer der so genannten Risikogruppen angehört“. Ähnlich der Schweiz. Kassationshof BGE 131 IV, 1, 8f. m. Anm. Kunz, www.weblaw.ch/jusletter v. 14.2.2005. 32 Vgl. dazu z.B. Frisch, JuS 1990, 362, 363f.; ders., Vorsatz und Risiko, 1983, S. 82ff.; Herzberg, JuS 1986, 249, 259ff.; ders., JR 1986, 7ff.; Küper, GA 1987, 479, 505f.; Schlehofer, NJW 1989, 2017, 2020. 33 Vgl. BGHSt 36, 1, 17 m. Verweis auf Prittwitz, JA 1988, 427, 440. 34 Vgl. dazu mit eingehender Übersicht über den Meinungsstand Bottke, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 277, 294ff. und die kontroverse Diskussion zwischen Bottke a.a.O. und Knauer, GA 1998, 429, 439ff.

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dass es der Einnahme weiterer Medikamente bedürfte) von seiner Infektion heilt. Durchaus geglückt ist jedoch die Entwicklung von Medikamenten, deren regelmäßige Einnahme es verhindert, dass es bei einem HIV-Infizierten zum Ausbruch der verschiedenen Formen der AIDS-Krankheit kommt. Durch die (rechtzeitige) Dauerbehandlung mit derartigen antiretroviralen Mitteln lässt sich auch der dem Ausbruch der AIDS-Krankheit regelmäßig folgende AIDS-bedingte vorzeitige Tod inzwischen verhindern. 35 Dementsprechend kann bei entsprechender Behandlung auch keine Rede mehr davon sein, dass – wie es in der Leitentscheidung des BGH aus dem Jahre 1988 noch heißt – „jede HIV-Übertragung einen ... mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlich verlaufenden Eingriff in die Lebensgüter des Infizierten darstellt“ 36. Doch nicht nur das. Die Dauerbehandlung mit antiretroviralen Medikamenten vermag auch die Viruslast des HIV-Infizierten so zu senken, dass diese unter die Nachweisgrenze fällt und der HIV-Infizierte damit seine Infektiosität (jedenfalls im heterosexuellen Verkehr) unter bestimmten Bedingungen praktisch verliert. Diese einschlägigen Spezialisten offenbar schon seit einiger Zeit geläufige Einsicht ist zu Beginn des Jahres 2008 durch eine Veröffentlichung der Eidgenössischen AIDS-Kommission erstmals auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. 37 In dieser Veröffentlichung zieht die Eidgenössische AIDS-Kommission zugleich Konsequenzen für die strafrechtliche AIDS-Judikatur. Nach ihrer Ansicht ist damit in Bezug auf HIV-Infizierte, die die im Bericht genannten Bedingungen erfüllen, die Basis für eine Verurteilung wegen (versuchter) Körperverletzung oder wegen der Gefahr der Verbreitung gefährlicher übertragbarer Krankheiten auch für den Fall ungeschützten Geschlechtsverkehrs entfallen; die entsprechende Judikatur bedürfe einer Revision. 38 Ob diese Auffassung zutrifft und welche Relevanz damit die neuen Entwicklungen im empirischen Bereich für die strafrechtliche AIDS-Diskussion, insbesondere die Strafbarkeit des Geschlechtsverkehrs HIV-Infizierter haben, die über ihre Infektion nicht aufklären, lässt sich anhand der von der (deutschen) Rechtsprechung gegebenen Strafbarkeitsbegründung nicht beurteilen. Dazu ist diese in der entscheidenden Frage, nämlich der Begründung dafür, dass der HIV-Infizierte, der mit dem Partner ungeschützt verkehrt, ohne auf seine HIV-Infektion aufmerksam gemacht zu haben, eine rechtlich zu missbilligende Gefährdung des anderen schafft (die bei Erfüllung der Vorsatzanforderungen dann auch die Versuchsstrafbarkeit 35 Vgl. statt vieler Kamps, in: Hoffmann / Rockstroh / Kamps (Hrsg.), HIV. Net 2007, S. 27, 35, 44; Hoffmann, daselbst, S. 95ff., 97 und Nüesch / Fehr / Itin / Rudin / Stenerwald / Vernazza / Battegay, in: Marre / Mertens / Trautmann / Zimmerli (Hrsg.), Klinische Infektiologie, 2. Aufl. 2008, S. 850ff., 866f. 36 BGHSt 36, 1, 16f.; ähnlich auch Ende 2004 noch der Schweiz. Kassationshof BGE 131 IV, 1, 3. 37 Vgl. dazu im Einzelnen Vernazza / Hirschel / Bernasconi / Flepp, in: Schweizerische Ärztezeitung 2008, S. 165ff. 38 Vgl. a.a.O. (ob. Fn. 37), S. 167f.

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des Täters trägt), viel zu kursorisch. Der Hinweis auf die fehlende Sozialadäquanz trifft das eigentlich Entscheidende nicht und ist daher auch für die hier zu beantwortende Frage ein unbrauchbarer Kompass. Herauszuarbeiten ist vielmehr erst einmal, warum in den von der Rechtsprechung bisher als strafbar angesehenen Verhaltensweisen wirklich eine rechtlich missbilligte Gefährdung der Gesundheit des anderen durch den HIV-Infizierten liegt. Im Lichte dieser grundsätzlichen Erwägungen wird auch klar werden, dass und warum die geringe statistische Höhe des Risikos der Missbilligung (und Strafbarkeit) nicht entgegensteht. Erst wenn diese Begründung gefunden und die bisherige Rechtsprechung damit insoweit im Ergebnis als richtig ausgewiesen ist, lässt sich auch die Frage beantworten, welche Bedeutung die geschilderten Entwicklungen im empirischen Bereich haben. Und auch die kontrovers beantwortete Frage nach einem Fortfall von Unrecht und Strafbarkeit bei Kondombenutzung ist nur auf dieser Basis überzeugend zu beantworten. 3. Der eigentlich tragende Grund für die rechtliche Missbilligung ungeschützten Sexualverkehrs seitens eines HIV-Infizierten, der seinen Partner nicht über seine Krankheit aufgeklärt hat, bleibt verdeckt, solange man dieses Verhalten nur nach vagen Maßstäben wie denen der sozialen Adäquanz zu beurteilen versucht. Denn der gesuchte Grund liegt primär nicht auf der Ebene solcher behaupteter gesamtgesellschaftlicher Wertungen oder der Maßstäbe staatlichen Handelns, sondern auf der Ebene der Rechtsverhältnisse der Einzelnen untereinander. Er hat etwas mit den Konstitutionsprinzipien dieser Rechtsverhältnisse und mit dem Inhalt und den Grenzen der Rechte zu tun, die sich vernünftige am Rechtsdiskurs Beteiligte gegenseitig zuerkennen. 39 Im Kern geht es um die Frage, wie vernünftige Personen, die sich wechselseitig in ihrer Autonomie respektieren, bei der Zuerkennung und Begrenzung ihrer Rechte mit dem Fall umgehen (würden), dass das Handeln der einen Person mit ihr bekannten Gesundheitsrisiken für eine andere (passive oder mitagierende) Person verbunden ist, die von der spezifischen Risikobehaftetheit des Vorgangs nichts weiß. Die Antwort, die um die Bildung einer wechselseitig akzeptablen Verhaltensregel bemühte Vernünftige zu dieser Konstellation geben würden, ist eindeutig. Kein Vernünftiger käme auf die Idee, dem das Gesundheitsrisiko Erkennenden hier ein Recht zuzuerkennen, ohne Rücksicht auf die Interessen der Unwissenden zu handeln. Denn damit würde er sich, wenn er selbst in die Rolle des vom Risiko Betroffenen geriete, schutzlos der Willkür des anderen aussetzen. Dem Willen des Vernünftigen entspricht es vielmehr, dass solches riskantes Handeln entweder 39 Vgl. zu diesem Grundansatz etwa Frisch, in: Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles, 2005, S. 83, 87ff.; speziell für die HIV / AIDS-Problematik ders., in: Alkier (ob. Fn. 8), III.2.; im Rahmen der Selbstgefährdungsproblematik grundlegend Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, insbesondere S. 307ff., und Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, 1993, S. 23ff., 30ff., je m.w.N.

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unterbleibt oder (für eine vernünftige Person) risikolos gestellt wird 40 oder doch jedenfalls nur erfolgt, wenn der vom Risiko Betroffene sich als vernünftige Person selbst dafür entschieden hat, das Risiko einzugehen. Dafür wiederum ist es zumindest regelmäßig erforderlich, dass der um das Risiko Wissende den anderen so informiert, dass diesem eine autonome Entscheidung (über die Eingehung des Risikos oder zu dessen Entschärfung) möglich ist. 41 Tut er das nicht, sondern handelt er, ohne dem anderen eine autonome Entscheidung (oder Einrichtung) zu ermöglichen (und damit regelmäßig gegen den Willen des Betroffenen), so bewegt er sich eindeutig außerhalb dessen, was vernünftige Personen sich gegenseitig als Rechte zuerkennen würden. Was vernünftige Personen in diesem Sinne im (gedachten) Rechtsdiskurs zum Inhalt ihrer Rechtsverhältnisse machen (oder nicht machen) würden, kann der Staat bei der inhaltlichen Ausgestaltung des staatlich garantierten Rechts nicht übergehen. Es ist für einen instrumental gedachten Staat vielmehr Richtschnur bei der Schaffung staatlich garantierten Rechts. Ein solcher Staat hat dementsprechend vor Verhaltensweisen, die sich vernünftige Personen als Gegenstand von Rechten nie zuerkennen würden, sondern vor denen sie durch Handlungsverbote und Aufklärungspflichten zur Ermöglichung einer autonomen Entscheidung (oder eigenen risikofreien Mitagierens oder Handelns) geschützt sein wollen, durch staatliches Recht (also Handlungsverbote, Aufklärungspflichten usw.) zu schützen. Allein dadurch wird er seiner instrumentalen Funktion und Schutzaufgabe gerecht. Bezogen auf die strafrechtliche AIDS-Problematik bedeutet das, dass Rechtsprechung und herrschende Meinung im Ergebnis recht haben: Ungeschützter Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten mit einem unwissenden Partner ist ein Verhalten, mit dem sich der HIV-Infizierte außerhalb seines Rechts bewegt und durch das er damit prinzipiell rechtlich nicht mehr gedeckte, also missbilligte Risiken gegenüber dem Partner schafft. Das gilt jedenfalls dann, wenn die nichtausschließbare Möglichkeit eines Kontakts virusbelasteter Körperflüssigkeiten mit infektionsanfälligen Körperpartien des Sexualpartners besteht. Freilich liegt der Grund für die Missbilligung nicht einfach im Faktum der Risikokenntnis HIV-Infizierter oder der fehlenden Sozialadäquanz des Verhaltens. Er liegt vielmehr darin, dass der mit Risikowissen Handelnde damit etwas tut, was dem Rechtsverhältnis Vernünftiger widerspricht und wovor davon betroffene Personen als Vernünftige durch staatliches Recht prinzipiell geschützt sein wollen – zumindest in dem Sinne, dass es ihnen durch die rechtliche Notwendigkeit einer dem 40 Das kann z.B. beim Vertrieb von Produkten wie Gebrauchsgegenständen oder Arzneimitteln usw. auch durch Selbstschutz ermöglichende Hinweise (in Gebrauchsanweisungen) erfolgen. 41 Paradefall dafür: die ärztliche Aufklärungspflicht; dazu statt vieler Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, Rn. 53ff. – Zu den Querverbindungen und Parallelen zur AIDS-Problematik näher Frisch, in: Alkier (ob. Fn. 8), III.2.; Huber, ZStrR 115 (1997), 113, 120f., 125f.

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riskanten Handeln vorausgehenden Aufklärung ermöglicht wird, eine autonome Entscheidung über die Eingehung des Risikos überhaupt oder die Angebrachtheit besonderer Schutzmaßnahmen zu treffen. 42 4. Vor dem Hintergrund des eben Gesagten wird zugleich deutlich, dass und warum der relativ niedrige Grad des Risikos, das auch in den Fällen des ungeschützten Verkehrs allein besteht, der Missbilligung nicht entgegensteht. Auch das hat etwas mit dem Willen und der Autonomie vernünftiger Personen zu tun. Dass ein Infektionsrisiko von z.B. 1:10.000 bestehe, bedeutet, dass von 10.000 Personen, denen gegenüber eine bestimmte prinzipiell ansteckungstaugliche Handlung vorgenommen wird, eine Person tatsächlich infiziert wird. Diese Person trifft das statistisch aufgespaltene Risiko aber voll; ihr nützt es nichts, dass die statistische Quote der Infektion nur 1:10.000 ist. Nun kommt das Entscheidende: Wer diese Person ist, die vom Risiko voll getroffen wird, weiß niemand. Dies hängt von Umständen ab, die wir nur zum Teil kennen und von deren Gegebensein im Zeitpunkt der möglicherweise infizierenden Handlung wir selbst dann regelmäßig nichts oder nur wenig wissen – angefangen bei Schleimhautläsionen, über die Viruslast des HIV-Infizierten bis hin zu eigenen Anfälligkeiten gegenüber dem HI-Virus. 43 Bei dieser Sachlage, bei der im Grunde jeder von der riskanten Handlung Betroffene der eine Infizierte sein kann, entspricht es der Selbstbestimmung eines jeden Vernünftigen, nicht ungefragt und ohne darüber selbst entscheiden zu können, einem solchen Risiko ausgesetzt zu werden. Diese Grundentscheidung besteht auch gegenüber statistisch sehr geringen Risiken, die, wenn sie sich verwirklichen, den Betroffenen voll treffen und für ihn unter Umständen lebenslange Einschränkungen zur Folge haben. Auch mit solchen Risiken, die das Leben entscheidend verändern, wenn sie sich realisieren, will eine vernünftige Person nicht ohne ihr Einverständnis überzogen werden – weil sie diese regelmäßig allenfalls unter gewissen Voraussetzungen und aus für sie zureichenden Gründen eingehen wird. Dem hat der Staat bei der inhaltlichen Gestaltung seiner Rechtsordnung Rechnung zu tragen. Pointiert: Eine Freigabe riskanten Handelns in den hier interessierenden Fällen mit Rücksicht (allein) auf die doch relativ geringe statistische 42 Dazu, dass allein eine solche Lösung auch ethisch fundierbar ist, vgl. Hösle, Inwieweit ist man dafür verantwortlich, sich über sich selbst zu informieren? Moral- und rechtsphilosophische Reflexionen im Zusammenhang der AIDS-Pandemie, in: Alkier (ob. Fn. 8), III. und IV.; Frisch, in: Alkier (ob. Fn. 8), III.3. (dort auch näher dazu, dass diese Lösung zugleich rechtsökonomisch allein adäquat ist). – Verzichtbar ist eine solche Aufklärung nur, wenn der von dem Risiko betroffene Sexualpartner zu erkennen gibt, dass er auf eine Aufklärung keinen Wert legt – was sich auch aus den Gesamtumständen ergeben kann. 43 Vgl. dazu auch die Ausführungen der Eidgenössischen AIDS-Kommission (ob. Fn. 37), S. 165, 167; ferner Marcus, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2000, S. 449f. und Powers / Poole / Pettifor / Cohen (ob. Fn. 21), 1, 7ff. m. eingeh. Nachw.

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Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung wäre nicht nur eine Verletzung der staatlichen Schutzpflicht gegenüber jenem zahlenmäßig begrenzten Kreis von Personen, die vom statistisch geringen Risiko individuell voll getroffen werden. Eine solche Freigabe wäre auch eine Missachtung der Autonomie Millionen Vernünftiger, die erwarten, mit bestimmten, von ihnen in der individuellen Risikohöhe regelmäßig gar nicht erkennbaren Risiken nicht überzogen zu werden. 5. Wenn nach allem die geringe statistische Höhe des Infektionsrisikos aus der Sicht der von dem Risiko betroffenen Vernünftigen kein Grund ist, sich ohne autonome Entscheidung dem Risiko aussetzen zu lassen, so stimmt das auch skeptisch gegenüber manchen holzschnittartigen Argumentationen zum Sexualverkehr HIV-Infizierter unter Kondombenutzung. Gewiss ist es richtig, dass durch die Benutzung von Kondomen das Risiko der Übertragung des HI-Virus statistisch noch einmal deutlich gesenkt wird. 44 Aber bedeutet das allein wirklich schon, dass der HIV-Infizierte, der beim Geschlechtsverkehr ein Kondom benutzt, damit von Rechts wegen nicht mehr gehalten ist, den Partner auf seine Infektion hinzuweisen – so dass in der Durchführung des Sexualverkehrs ohne diesen Hinweis keine missbilligte Risikoschaffung liegt? 45 Richtig wäre das aus grundlagenorientierter Sicht nur dann, wenn davon ausgegangen werden könnte, dass es bei dieser Sachlage vernünftigen Personen unter Risikoaspekten völlig gleichgültig ist, ob der Sexualpartner eine HIV-Infektion aufweist oder nicht – so dass sie deshalb auch auf eine Information hierüber keinen Wert legen. Das ist, mit Verlaub, schlicht lebensfremd. Jeder Mensch mit Lebenserfahrung weiß, dass es bei Kondombenutzung Schutzlücken gibt – so dass es auch bei dieser Sachlage, wenngleich statistisch seltener, zu dem Zustand kommen kann, zu dem es bei ungeschütztem Verkehr regelmäßig kommt (und dem der Vernünftige wegen der mit diesem Zustand verbundenen Risiken nicht ausgesetzt sein will): dem Kontakt virusbelasteter Körperflüssigkeit mit infektionsanfälligen Körperregionen des gesunden Partners. Das Kondom kann fehlerhaft verwendet oder zu Sexualpraktiken benutzt werden, denen gegenüber es keinen ausreichenden Schutz bietet; das Material kann Undichtigkeiten aufweisen oder manuell beschädigt worden sein. 46 Man muss es angesichts solcher Möglichkeiten respektieren, wenn Personen, die wegen der erheblichen mit einer HIV-Infektion 44

Wobei freilich überaus umstritten ist, wie sehr sich das Infektionsrisiko in solchen Fällen statistisch tatsächlich verringert; näher dazu Knauer, AIFO 1994, 463, 464; Bottke, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 277, 295f. und Marcus (ob. Fn. 43), S. 440, 455f., nach dem die Reduzierung des statistischen Risikos im Falle geschützten Analverkehrs (ausweislich empirischer Studien) doch sehr begrenzt ist. 45 Im Sinne eines erlaubten Risikos in solchen Fällen z.B. die Enquête-Kommission des 11. Deutschen Bundestages, AIDS: Fakten und Konsequenzen, Endbericht, 1990, S. 371; Bruns, NJW 1987, 683, 689; Herzberg, NJW 1987, 1461, 1462; Herzog / Nestler-Tremel, StV 1987, 360, 366; Prittwitz, JA 1988, 427, 437; weit. Nachw. bei Bottke, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 277, 294f., dort auch (in Fn. 55) Nachweise zur Gegenauffassung.

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verbundenen Risiken und Einschränkungen keinerlei vermeidbares Risiko einer HIV-Infizierung eingehen wollen, zur Vermeidung auch dieser Risiken über eine bekannte Infektion informiert sein wollen. Denn die Achtung der Autonomie des gesunden Partners gebietet es, dass dieser selbst darüber entscheiden kann, ob er sich den auch in solchen Fällen verbleibenden und ggf. voll verwirklichenden Restrisiken aussetzen will. 47 Diese Entscheidung kann weder der HIV-Infizierte noch „die Gesellschaft“ dem gesunden Partner ohne Missachtung seiner Autonomie einfach nehmen. Auch hier ist somit Aufklärung unverzichtbar. Das gilt um so mehr, als erst durch sie der gesunde Partner in den Stand gesetzt wird, selbst in besonderem Maße zur Risikoreduzierung beizutragen. Auch die Eröffnung dieser Möglichkeit ist der Autonomie der Person geschuldet. Gegenüber diesem aus der Sicht der Autonomie relativ eindeutigen Ergebnis besagen die immer wieder als Argument angeführten Empfehlungen, zur Verhütung von HIV-Infektionen Kondome zu benutzen, und bisweilen zu findende Behauptungen sozialer Adäquanz solchen Verhaltens normativ wenig. 48 Die genannten Empfehlungen sind in erster Linie Aufruf zum Selbstschutz des Gesunden, in Richtung auf die HIV-Infizierten daneben Aufruf zur unverzichtbaren Risikoreduzierung. Sie als Aussage zu verstehen, dass es einem HIV-Infizierten rechtlich erlaubt sei, unter Verschweigung seiner Infektion mit einem gesunden Partner sexuelle Handlungen vorzunehmen, sofern er dabei ein Kondom benutzt, wäre ein Fehlschluss und eine Überinterpretation dieser Empfehlungen. Aber selbst wenn diese so gemeint sein sollten, bleibt zu bedenken, dass es sich um nichts weiter als Empfehlungen von Verbänden, vielleicht auch von Behörden und Regierungsorganen handelt, die nicht befugt sind, Recht zu schaffen oder zu ändern – das fällt allein in die Kompetenz des demokratischen Gesetzgebers. 49 Selbst die verbindliche Feststellung des Inhalts des geltenden Rechts ist nicht Sa46

Dazu, dass derartige Fälle auch statistisch durchaus signifikant sind und Kondomversagen bei HIV-positiven Sexualpartnern ein keineswegs seltener Grund für erfolgte Infizierungen ist, vgl. die Auswertung amerikanischer Studien bei Marcus (ob. Fn. 43), S. 449, 456. 47 So grundsätzlich auch Bottke, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 296f., der freilich im Folgenden relativiert, weil „der Kondomgebrauch heute auch den Informationsgehalt einer möglicherweise erfolgten HIV-Vorinfektion des Kondomgebrauchers hat“ (S. 300) – was so freilich zu pauschal erscheint. Dass in solchen Fällen bei entsprechenden risikorelevanten Fakten ein Verzicht des Gesunden auf eine Aufklärung (dazu schon ob. Fn. 42) vorliegen kann, ist eine andere Frage. Dann ist – anders als z.B. bei falschen Versicherungen oder von der Infektion ablenkenden anderen Erklärungen des Kondomgebrauchs – auch die Autonomie nicht übergangen. 48 Erst recht ist unerfindlich, wie ein geringer Wahrscheinlichkeitsgrad für sich allein ausreichen soll, dass es nicht mehr auf die Autonomie der Personen ankommt, die Schutz verlangen, sondern auf die Meinung jener Autoren, die bestimmte Risiken einfach für unerheblich erklären: Woher glauben so Urteilende eigentlich, die Kompetenz zu beziehen, andere in der Ausübung ihrer Autonomie ignorieren zu können? – Sehr vage zu dieser entscheidenden Frage Knauer, GA 1998, 428, 440.

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che von Verbänden oder behördlichen Kampagnen, sondern in einem Rechtsstaat den Gerichten vorbehalten. Diese haben sich dabei nicht an Empfehlungen von Verbänden und Behörden, sondern an Gesetzen und Rechtsprinzipien zu orientieren, zu denen im vorliegenden Zusammenhang gerade auch die Achtung der Autonomie der Person gehört, ob sie sich bestimmten (Rest-)Risiken aussetzen will. Gegenüber der Notwendigkeit der Achtung der Autonomie all derer, die nicht bereit sind, sich ohne ihr Einverständnis gewissen Restrisiken einer HIV-Übertragung auszusetzen, besagen auch bisweilen vorzufindende Hinweise auf eine angebliche Sozialadäquanz 50 wenig. Dies nicht nur deshalb, weil die, die in diesem Zusammenhang mit Sozialadäquanz argumentieren, jeden empirischen Beleg für ihre Behauptung schuldig bleiben und das empirische Fundament solcher Sozialadäquanz alles andere als selbstverständlich ist: Zu belegen wäre ja nicht, dass die Benutzung von Kondomen zur Vermeidung von HIV-Übertragungen allgemein als sozialadäquates (oder richtiges) Verhalten angesehen wird. Notwendig wäre der Beleg, dass die Bevölkerung es als sozialadäquates Verhalten ansieht, wenn ein HIV-Infizierter seine Infektion dem gesunden Partner verschweigt, sofern er nur ein Kondom benutzt. Dass das in der Bevölkerung weit überwiegend als angemessenes und der Autonomie des Partners Rechnung tragendes Verhalten angesehen wird, darf nachdrücklich bezweifelt werden. Doch selbst wenn erhebliche Teile der Bevölkerung das Verhalten so bewerten würden, bleibt ein Problem: Wie eigentlich soll die Auffassung einiger Gruppen der Bevölkerung, ein Verhalten sei sozialadäquat, die autonome Entscheidung derer, die sich solchen Restrisiken nicht oder nur nach Information auf der Basis entsprechender Kontrollmöglichkeit aussetzen wollen, objektiv zur Seite schieben und bedeutungslos machen können? In Wahrheit handelt es sich hier um ein schlichtes Konglomerat von Behauptungen und Zirkelschlüssen. Allenfalls dann, wenn die Entscheidung derer, die auch in den hier interessierenden Fällen noch Information erwarten, Ausdruck einer exotischen Minderauffassung wäre, mit der der HIV-Infizierte nicht rechnen und auf die er sich daher von sich aus auch nicht einstellen muss, könnte das insofern anders sein, als nun derjenige, der diese Einstellung hat, sich entsprechend artikulieren müsste. Doch davon sind wir noch weit entfernt – ganz abgesehen davon, dass auch in diesem Fall eine entsprechend artikulierte Autonomie nicht ignoriert werden dürfte. Dass es in den Fällen, in denen der HIV-Infizierte dem gesunden Partner unter Kondombenutzung seine Infektion verschweigt, nicht zur Strafbarkeit des HIVInfizierten kommt, hat nach allem seinen Grund nicht darin, dass der HIV-Infizierte 49 Auch eine Enquête-Kommission des Bundestags (ob. Fn. 45) ist nicht der demokratische Gesetzgeber! – Siehe zum Ganzen auch Bottke, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 277, 293ff.; Knauer, GA 1998, 428, 439f. 50 Vgl. z.B. Herzberg, JZ 1989, 470, 475; Herzog / Nestler-Tremel, StV 1987, 360, 366; siehe auch Knauer, GA 1998, 429, 442: erlaubtes Risiko.

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hier rechtmäßig handelt, weil der gesunde Partner es eben hinzunehmen hat, vom HIV-Infizierten gewissen Restrisiken ohne sein Einverständnis ausgesetzt zu werden. Es ist allein darauf zurückzuführen, dass es in diesen Fällen regelmäßig an anderen Voraussetzungen der Strafbarkeit fehlt. 51 Wenn es nicht zu einer Infektion kommt, scheidet eine Bestrafung wegen einer fahrlässigen Körperverletzung von vornherein aus – selbst dann, wenn der Infizierte die notwendige Sorgfalt bei der Verwendung des Kondoms versäumt hat. Der Bestrafung wegen eines Vorsatzdelikts wiederum steht in solchen Fällen regelmäßig der fehlende Verletzungsvorsatz des HIV-Infizierten entgegen. 52 Das Risiko einer Bestrafung besteht in solchen Fällen also nur, wenn es zu einer Infektion des Opfers kommt und dessen Ansteckung auf ein fahrlässiges Verhalten des Infizierten zurückgeht – wie etwa dann, wenn dieser das Kondom ganz unsachgemäß verwendet hat. Dass in einem solchen Fall des Hinwegsetzens über die Autonomie des Partners Strafrecht von vornherein ausscheiden soll, ist nicht einzusehen. 6. Es bleibt die Frage, welche Bedeutung für die hier erörterte Problematik die neuen empirischen Erkenntnisse haben, nach denen die Infektiosität eines unter wirksamer antiretroviraler Therapie stehenden HIV-Infizierten praktisch ausgeschlossen sei, nämlich gegen Null tendiere. Die Eidgenössische AIDSKommission, die mit diesen Aussagen im Januar 2008 an die Öffentlichkeit trat, 53 misst den von ihr veröffentlichten Erkenntnissen offenbar erhebliche Bedeutung bei: Sie sieht damit in den von ihr beschriebenen Fällen wirksamer antiretroviraler Behandlung die Grundlage für eine Bestrafung auch bei ungeschütztem Sexualverkehr mangels realistischer Infektionsgefahr als nicht mehr gegeben an. Man darf vermuten, dass ganz entsprechende Schlüsse demnächst auch von denjenigen gezogen werden, die schon bisher bei geringer Infektionsgefahr – wie etwa bei der Benutzung von Kondomen – das Handeln des HIV-Infizierten als sozialadäquat bewertet haben. Indessen ist auch an dieser Stelle vor zu weit gehenden und voreiligen Schlüssen zu warnen. Das gilt zunächst in extensionaler Hinsicht. Die Stellungnahme ist bereits selbst an die Erfüllung einer Reihe von Voraussetzungen geknüpft, zu denen insbesondere eine wirksame, ärztlich kontrollierte Behandlung mit bestimmten Medikamenten, eine seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze liegende Viruslast und das Fehlen bestimmter übertragungsbegünstigender Infektionskrankheiten gehören. Sie bezieht sich zudem ausdrücklich nur auf heterosexu51 Die Vermengung von Fragen der Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit mit solchen der Straflosigkeit bzw. der Strafbarkeit (trotz Unrechtmäßigkeit des Verhaltens) ist ein leider in der AIDS-Diskussion besonders häufiger Mangel (auch bei Knauer, GA 1998, 428, 442; zutreffend dagegen Bottke, in: Szwarc [ob. Fn. 1], S. 300f., 302). 52 Zutreffend Bottke, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 300, 302 (dort auch für den Fall des coitus interruptus); Sinn (ob. Fn. 2), sub B I.1. b. 53 Vgl. Vernazza / Hirschel / Bernasconi / Flepp, in: Schweizerische Ärztezeitung 2008, S. 165ff.

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ellen Verkehr. Damit sollte zunächst schon eines klar sein: In allen Fällen, in denen diese und gewisse andere in der Stellungnahme der Kommission ausdrücklich betonte Voraussetzungen nicht erfüllt sind, bleibt es beim bisher Gesagten. Keine Grundlage für eine Entwarnung und Änderung der strafrechtlichen Beurteilung bietet die Stellungnahme der Kommission also insbesondere für jene mit erhöhtem Übertragungsrisiko verbundenen Verhaltensweisen, die bislang das Hauptfeld der Übertragung des HI-Virus repräsentierten: homosexuelle Handlungen mit Analverkehr. 54 Anlass zu einer Modifizierung der bisher gemachten Ausführungen besteht mit anderen Worten allenfalls insoweit, als eine HIV-infizierte Person objektiv alle Voraussetzungen erfüllt, bei deren Gegebensein eine Ansteckung nach der Auffassung der Kommission im Blick auf die von dieser ausgewerteten Erfahrungen ausgeschlossen erscheint. Selbst in diesem begrenzten Rahmen ist freilich vor einer Überschätzung der rechtlichen Bedeutung der Kommissionsaussagen zu warnen. Bedeutsam wären die Aussagen der Kommission im hier interessierenden Kontext ja nur dann, wenn damit in jenen Fällen, die die von der Kommission genannten Voraussetzungen objektiv erfüllen, für den gesunden Partner ein vernünftiger und beachtlicher Grund, auf Information und Einverständnis im Interesse der Erhaltung der eigenen Gesundheit zu bestehen, schlicht nicht mehr existierte – so dass auch das staatliche Recht keinen Grund mehr hätte, hieran festzuhalten. Das erscheint nun freilich überaus zweifelhaft. Es gibt trotz der Stellungnahme der Eidgenössischen AIDS-Kommission noch immer gute Gründe für den gesunden Partner, ungeschütztem Sexualverkehr mit dem HIV-Infizierten im Interesse seiner Gesundheit nicht ohne Information und Einverständnis ausgesetzt zu werden. Nicht zu übersehen ist zunächst, dass schon in der Stellungnahme selbst das Nichtgegebensein der sexuellen Infektiosität an Bedingungen geknüpft ist, die ganz überwiegend nur der behandelnde Arzt feststellen und kompetent beurteilen kann. 55 Bei manchen dieser Bedingungen bestehen Beurteilungsspielräume und sind Fehleinschätzungen nicht ausgeschlossen. Bei dieser Sachlage besteht ein begreifliches Interesse gesunder Partner daran, sich ggf. – etwa in einem Gespräch auch mit dem Arzt – zu vergewissern, dass wirklich alle Risikofaktoren ausgeräumt und die in der Stellungnahme erwähnten Bedingungen eindeutig erfüllt sind. 56 54 Zu dem insoweit, insbesondere wegen der Gefahr von Schleimhautläsionen, besonders hohen Übertragungsrisiko vgl. auch die Stellungnahme der Kommission selbst, Schweizerisches Ärzteblatt 2008, S. 165ff. sowie Marcus (ob. Fn. 43). 55 Z.B. die Höhe der Viruslast, das Vorhandensein bestimmter übertragungsbegünstigender Infektionskrankheiten. 56 Auch die Stellungnahme der AIDS-Kommission selbst, die heterosexuellen Partnern u.a. die Entscheidung für ein Kind durch den Hinweis auf die ausschließbare Gefahr einer Infizierung (des anderen Partners und des Kindes) erleichtern will, ist ersichtlich auf eine solche Dreier-Konstellation mit entsprechenden Gesprächen bezogen (vgl. a.a.O. [ob. Fn. 53], S. 167) und will wohl kaum als Freibrief zur Übergehung der Autonomie des Sexualpartners verstanden sein. Dazu, dass sich ihre Aussagen auf homosexuelle Handlungen schon thematisch nicht beziehen, vgl. den Inhalt der Erklärung selbst.

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Das alles und damit eine autonome Entscheidung des gesunden Partners, ob er das nie ganz ausschließbare Risiko einer etwaigen Fehlbeurteilung eingehen will, ist nur möglich, wenn er vor den sexuellen Kontakten vom anderen über dessen HIV-Infektion aufgeklärt wird. Mindestens ebenso wichtig ist ein zweiter Gesichtspunkt. Die Stellungnahme der Eidgenössischen AIDS-Kommission hat zwar Gewicht, und man darf annehmen, dass sie verantwortungsbewusst erarbeitet worden ist. Aber es fällt doch auf, dass eine so dezidierte Stellungnahme bislang eher vereinzelt geblieben ist. Andere Kommissionen haben sich bislang nicht in vergleichbarer Weise geäußert; namhafte Institute und Virologen halten sich zurück, relativieren 57 – oder widersprechen praktisch, wie das amerikanische Center of Disease Control. 58 Der kritische und vernünftige Betrachter der Diskussion muss aus dieser damit fast zwangsläufig den Eindruck gewinnen, dass die Dinge angesichts der Zurückhaltung vieler doch noch nicht so klar und unter Fachleuten so allgemein anerkannt sind, wie man es der Stellungnahme der Eidgenössischen Kommission vielleicht entnehmen könnte. Dies gilt um so mehr, als die Stellungnahme an einer Stelle selbst einräumt, dass „die heute vorliegenden medizinischen und biologischen Fakten streng wissenschaftlich den Beweis nicht erbringen können, dass eine HIVInfektion unter wirksamer antiretroviraler Therapie nicht möglich ist“ 59. Dass bei dieser Sachlage eine vernünftige, an der Ausschaltung eines Infektionsrisikos interessierte Person nicht damit einverstanden ist, ungefragt dem danach aus seiner Sicht noch nicht eindeutig ausgeschlossenen Risiko einer HIV-Infektion ausgesetzt zu werden, erscheint begreiflich und muss von einem die Autonomie seiner Bürger achtenden Staat bei der Gewährleistung der Rechtsverhältnisse respektiert werden. Das alles gilt um so mehr, als sich gegen die generalisierende Aussage der Stellungnahme der Eidgenössischen AIDS-Kommission aus wissenschaftstheoretischer Sicht sogar ein gewichtiger Einwand formulieren lässt. Grundlage der generalisierenden Aussage der Stellungnahme zur fehlenden Infektiosität bei Einhaltung einer bestimmten Therapie sind einige Längsschnittstudien an jeweils zahlenmäßig relativ begrenzten serodifferenten Partnerschaften. Der Umstand, dass es in diesen Partnerschaften bei durchgehaltener antiretroviraler Therapie im Beobachtungszeitraum von einigen Jahren zu keiner HIV-Infektion des HIVnegativen Partners gekommen ist, stellt gewiss eine wichtige und erfreuliche 57 Vgl. etwa die Äußerung von Hamouda (zuständiger Fachgebietsleiter des RobertKoch-Instituts) in der F.A.Z. vom 5.Februar 2008 (Nr. 30, S. 36) und die Gemeinsame Stellungnahme der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, des Robert-KochInstituts und der deutschen AIDS-Hilfe e.V. vom 28.Februar 2008. 58 Vgl. die Reaktion des amerikanischen CDC vom 1.Februar 2008, in der unmissverständlich auf das Fehlen wissenschaftlicher Beweise für ein sog. Null-Risiko und die Notwendigkeit des Schutzes hingewiesen wird. 59 Vgl. a.a.O. (ob. Fn. 53), S. 165.

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Erkenntnis dar. Aber aus wissenschaftstheoretischer Sicht besagen die Ergebnisse doch allenfalls, dass bei Personen, die einen den Probanden (unter dem Aspekt möglicher Übertragung einer HIV-Infektion) ganz vergleichbaren körperlichen Status aufweisen, unter wirksamer antiretroviraler Therapie nicht mit einer HIV-Infizierung zu rechnen ist. Ob sich das Ergebnis auch auf Personen mit einem körperlichen Status übertragen lässt, der in der Klasse der Probanden nicht repräsentiert war, ist eine offene Frage 60 – desgleichen, ob es insoweit nicht Abweichungen gibt, die besondere Anfälligkeiten begründen, bei denen auch eine unter der Nachweisgrenze liegende Viruslast des Infizierten noch ein Infektionsrisiko begründet. 61 Solange dies noch offen ist und sich nicht eindeutig beantworten lässt, ist es begreiflich, dass vernünftige Menschen, die ihren HIV-relevanten Anfälligkeitsstatus überhaupt nicht kennen, nicht ohne ihr Einverständnis gewissen aus ihrer Sicht keineswegs zweifelsfrei ausgeräumten Restrisiken ausgesetzt werden wollen. Auch aus diesem Grund ist es dem Staat – zumindest gegenwärtig noch – verwehrt, die Aufklärungspflicht des HIV-Infizierten aufzuheben und es diesem bei wirksamer antiretroviraler Therapie zu gestatten, den gesunden Partner ohne Aufklärung Risiken auszusetzen, denen viele, wenn überhaupt, nur mit ihrem Einverständnis ausgesetzt sein wollen. Folgenlos ist die deutliche Senkung der Infektiosität bei antiretroviraler Behandlung des HIV-Infizierten gleichwohl nicht. Auch wenn sie gegenwärtig aus verschiedenen Gründen noch nicht zu einer Änderung in der rechtlichen Missbilligung insbesondere des ungeschützten Sexualverkehrs HIV-Infizierter reicht, hat sie doch jedenfalls erhebliche Bedeutung für die Frage der Strafbarkeit überhaupt: In der Regel werden HIV-Infizierte, die sich an den Aussagen und Voraussetzungen der Eidgenössischen AIDS-Kommission orientieren, fest darauf vertrauen, dass es zu keiner Infizierung kommt – womit ihr Vorsatz ausgeschlossen ist. Und auch einen Fahrlässigkeitsvorwurf wird man dem, der auf die Stellungnahme der Kommission vertraut, in der Regel kaum machen können – selbst wenn es, nach den Ausführungen der Kommission „wider Erwarten“ 62, zu einer Infektion käme.

60 Methodologisch handelt es sich bei der Schlussfolgerung der Eidgenössischen Kommission also um einen Schluss, der problematisch ist, weil er aus einer begrenzten Zahl von Verläufen einen Allsatz ableitet. 61 In diesem Zusammenhang erklärungsbedürftig ist z.B. auch, dass die Kommission ihre Aussage zwar nicht auf Fälle erstrecken will, in denen der HIV-Infizierte auch an einer Geschlechtskrankheit leidet (vgl. a.a.O. [ob. Fn. 53], S. 165), dagegen übertragungsbegünstigende Infektionskrankheiten mit Schleimhautläsionen oder überhaupt Schleimhautläsionen beim gesunden Partner ganz unerwähnt lässt. Insoweit daher nachvollziehbar zusätzlich relativierend z.B. Robert-Koch-Institut in HIV-Nachrichten Nr. 126 März 2008. 62 Vgl. a.a.O. (ob. Fn. 53), S. 165, 167.

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IV. Obsolet werdende Diskussionsfelder aufgrund neuer empirischer Entwicklungen Gravierender noch als die Senkung der Infektiosität bei antiretroviraler Behandlung dürfte eine andere Entwicklung im empirischen Bereich die strafrechtliche AIDS-Diskussion verändern. Die HIV-Infektion kann zwar gegenwärtig durch Medikamente noch nicht geheilt werden. Doch ist es möglich, durch medikamentöse Behandlung den Ausbruch der verschiedenen Krankheitsformen von AIDS sowie den vorzeitigen AIDS-bedingten Todeseintritt zu verhindern. 63 Diese Entwicklung wird Auswirkungen auf die Relevanz der Tötungsdelikte und bestimmter Formen der qualifizierten Körperverletzungsdelikte für Sachverhalte der HIV-Infektion haben. 1. Im Vergleich zu den Körperverletzungsdelikten spielten die Tötungsdelikte trotz zahlreicher AIDS-bedingter Todesfälle im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Aufarbeitung von HIV / AIDS-Sachverhalten schon bislang nur eine ausgesprochene Nebenrolle. 64 Zu Verurteilungen wegen eines Tötungsdelikts ist es nur ganz selten gekommen, etwa in Finnland und in Italien. 65 In Deutschland und der Schweiz ist die Frage einer möglichen Strafbarkeit aus den Tatbeständen der (vorsätzlichen) Tötungsdelikte zwar auch in höchstrichterlichen Entscheidungen diskutiert worden; sowohl der BGH als auch das Schweizerische Bundesgericht haben in den von ihnen behandelten Fällen die Strafbarkeit wegen eines (vorsätzlichen) Tötungsdelikts jedoch (mit über die konkreten Fälle hinausreichenden Begründungen) abgelehnt. 66 Diese geringe praktische Bedeutung der Tötungsdelikte hatte schon bislang mehrere Gründe. In den meisten Fällen des lange Zeit nach der Infizierung eingetretenen Todes ist dieser nicht mehr auf die Infizierung seitens einer bestimmten 63

Vgl. die Nachweise oben Fn. 35. Jedenfalls in der Rechtspraxis; literarisch wurde z.T. engagiert diskutiert – man vergleiche nur die heftige Diskussion über die Thesen Herzbergs und Schünemanns auf der vom Jubilar in Posen veranstalteten Tagung; siehe dazu Herzberg, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 61ff., den Diskussionsbericht auf S. 93ff. sowie Schünemann, daselbst, S. 9, 18ff. und dazu wiederum Bottke, daselbst, S. 277, 304ff. 65 Vgl. für Finnland die Entscheidung des finnischen OGH aus dem Jahre 1993 (Högsta Domstolen 1993:92), in der der Angeklagte wegen grobfahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden war; für Italien z.B. die Entscheidung des Obersten Gerichts vom 8.September 2000, Cassazione penale, Sez. I, Pres. Teresi, ric. La Marina, in: Diritto penale e processo 11/2001, 1397ff. m. Anm. Saldo. 66 Vgl. BGHSt 36, 1, 15f., wo die verallgemeinerungsfähige Verneinung des voluntativen Vorsatzelements durch das LG als Vorinstanz bestätigt wird, sowie für die Schweiz BGE 125 IV, 255, wo mit Rücksicht auf den langen Zeitraum zwischen Infektion und Todeseintritt die Zurechenbarkeit des Todeseintritts und damit auch der für den Versuch erforderliche, auf ein Tötungsgeschehen gerichtete Vorsatz verneint wird (S. 258f.). Siehe dazu noch den folgenden Text. 64

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lebenden Person zurückführbar 67 bzw. fehlt es auch schon am Interesse hieran. Umgekehrt fehlt es in den Fällen, in denen die Infizierung seitens einer bestimmten Person feststeht, regelmäßig noch an der tatbestandlichen Folge der Tötungsdelikte. Kommt es hier zur Verurteilung wegen einer Körperverletzung, so steht diese Verurteilung beim späteren Eintritt des Todes regelmäßig der Verurteilung auch wegen eines Tötungsdelikts entgegen. 68 Praktische Relevanz konnten die Tötungsdelikte damit schon bisher im Grunde nur in der Gestalt des Versuchsdelikts erlangen. Aber selbst insoweit blieben sie fast bedeutungslos. Die versuchte Tötung setzt voraus, dass der Täter mit dem Vorsatz handelt, den Tod des anderen herbeizuführen. Ein solcher Tötungsvorsatz ist zwar nicht nur dann gegeben, wenn der Täter auf den Tod des Opfers zielt. Vorsatz in der Form des so genannten Eventualvorsatzes liegt auch dann vor, wenn der Handelnde den Todeseintritt nur als möglich angesehen und sich mit dem möglichen Todeseintritt abgefunden hat. Aber selbst daran wird es in den meisten Fällen fehlen – sogar bei einem Handelnden, der sich mit dem Eintritt einer Infektion abgefunden hat. Auch dieser konnte schon bisher aus den verschiedensten Gründen darauf vertraut haben, dass es doch nicht zum Ausbruch der Erkrankung oder gar zum Tod kommen würde – angefangen beim Vertrauen auf die Abwehrkräfte des anderen bis zum Glauben, dass sich der Tod des anderen durch die rechtzeitige Entdeckung eines diese Folge verhindernden Medikaments werde verhüten lassen. 69 Zumindest wird sich die Einlassung einer Person, diese Vorstellungen gehabt zu haben, in aller Regel nicht widerlegen lassen. Rechtspraktisch bleiben damit für die Annahme eines versuchten Tötungsdelikts allenfalls die zwar spektakulären, aber doch höchst seltenen Fälle, in denen eine Person im Zusammenhang mit ihrem (infektionsriskanten) Verhalten selbst bekundet hat, die andere Person töten zu wollen, oder dies nachträglich zugibt – wie etwa der Fall, in dem der (nicht infizierte!) Täter dem Opfer HIV-verseuchtes Blut einspritzte, um dieses – wie er laut kundtat – für dessen Verhalten mit dem Tod durch AIDS zu bestrafen. 70 Selbst insoweit lässt sich der Vorwurf einer versuchten Tötung rechtspraktisch nicht mehr aufrechterhalten, wenn der Täter sich im Verfahren darauf beruft, zwar so gesagt, aber doch selbst daran nicht geglaubt zu 67

Zu den Schwierigkeiten des Kausalitätsnachweises näher Scherf (ob. Fn. 26), S. 61ff. Jedenfalls wenn man von einer Rechtskraftsperre auch gegenüber der Berücksichtigung nachträglich eingetretener, deliktsverändernder Umstände ausgeht, was freilich nicht in allen Staaten so gesehen wird; zum deutschen Prozessrecht etwa (im Sinne einer Rechtskraftsperre) Kühne, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. K Rn. 90; Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rn. 604.2 m.w.N. auch der Gegenauffassung; zum italienischen Prozessrecht z.B. Mansdörfer, Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht, 2004, S. 75f. 69 Vgl. die in BGHSt 36, 1, 15f. wiedergegebene, dem Angeklagten seitens des Instanzgerichts (vom BGH unbeanstandet) zugutegehaltene Einstellung. 70 Vgl. die bei Herzberg, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 61f. wiedergegebenen Duisburger und Amsterdamer Fälle. 68

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haben, dass es infolge seines Verhaltens letztlich wirklich zum Tod des Opfers kommen würde. Darüber hinaus wurden gerade im Zusammenhang mit dieser Fallkonstellation in der Literatur auch erhebliche dogmatische Bedenken an der Anwendbarkeit der Tötungsdelikte geäußert: Die vorsätzlichen Tötungsdelikte seien ihrem Zuschnitt nach auf solche Sachverhalte beschränkt, in denen der Tod relativ bald nach dem Täterverhalten eintritt; der Tod aufgrund langen Siechtums sei durch die insoweit eingreifenden qualifizierten Körperverletzungsdelikte mitabgegolten. 71 Andere verneinten die Zurechenbarkeit von Todesfolgen, die erst nach langer Zeit eintreten, 72 und leiteten aus der damit begründeten Nichterfüllung des objektiven Tatbestands oder aus anderen Überlegungen 73 die Nichtbegründbarkeit auch eines Versuchs ab, wenn der Wille des Täters nur auf ein solches Geschehen gerichtet ist. 74 Die eingangs geschilderten Entwicklungen im empirischen Bereich dürften diesen Diskussionen, aber auch der Relevanz der Tötungsdelikte für die HIV / AIDS-Problematik überhaupt, in Zukunft wohl schon die tatsächliche Grundlage weitgehend entziehen – jedenfalls im Geltungsbereich der Strafrechtsordnungen, mit denen wir uns üblicherweise beschäftigen. Mit der Möglichkeit, den Ausbruch der Krankheitsformen von AIDS und den AIDS-bedingten vorzeitigen Tod durch medikamentöse Therapie zu verhindern, wird es in den Ländern, in denen die nötigen Medikamente für jeden HIV-Infizierten zur Verfügung stehen, zu einem fortschreitenden und drastischen Rückgang des Todes durch AIDS kommen. 75 Zwar werden auch in diesen Ländern noch Fälle bleiben, in denen die Infektion einen letalen Verlauf nimmt. 76 Denn die medikamentöse Verhinderung des Ausbruchs der Krankheit und damit auch des vorzeitigen Todes setzt die Mitwirkung des Infizierten und die regelmäßige Einnahme der erforderlichen Medikamente voraus – daran kann es ebenso fehlen wie an der Bereitschaft des mit seiner Infek71 In diesem Sinne etwa Schünemann, in: Schünemann / Pfeiffer (ob. Fn. 11), S. 373, 484f.; ders., JR 1989, 89ff.; ders., in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 21ff.; dagegen Bottke, AIFO 1988, 632, 638 und in Szwarc (ob. Fn. 1), S. 304f.; Gomez Rivero, GA 2001, 283, 288; Knauer, GA 1998, 428, 433f. 72 Vgl. etwa Kunz, ZStrR 107 (1990), 39, 47f., 67f.; Schünemann, in: Schünemann / Pfeiffer (ob. Fn. 11), S. 373, 483f.; siehe auch Herzberg, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 61, 65ff.; Schlehofer, NJW 1989, 2017, 2024f., die die Parallelität der Sachverhalte zu den Konstellationen der Verjährung ansprechen. 73 Wie dem Fehlen eines so genannten Versuchserfolgs, den insbesondere Herzberg, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 61, 74ff., 90 für den strafbaren Versuch als erforderlich ansieht; gegen ihn Bottke, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 305f. 74 Vgl. deutlich Schünemann, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 9, 29; ähnlich der Schweiz. Kassationshof BGE 125 IV, 255, 259. 75 Durchaus anders in den Staaten, in denen es an einer solchen umfassenden medikamentösen Versorgung fehlt: Hier behält die bisherige Diskussion ihre grundsätzliche Relevanz. 76 Gegenwärtig liegt die Reduzierung des Letalitätsrisikos bei etwa 90%; siehe Nüesch u.a. (ob. Fn. 35), S. 866f.

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tion Rechnenden, sich einem Test zu unterziehen und so Gewissheit zu erhalten. Nicht ausgeschlossen ist weiter, dass bei einem zunächst beschwerdefrei lebenden Infizierten, der mit einer Infektion überhaupt nicht rechnet, die Behandlung erst so spät einsetzt, dass sich der letale Ausgang der Krankheit nicht mehr abwenden lässt. Indessen dürften gerade diese verbleibenden Fälle sub specie der vollendeten Tötungsdelikte kaum eine Rolle spielen. Soweit der Infizierte sich der notwendigen Therapie entzieht oder verweigert oder von seinem Zustand „nichts wissen will“, 77 wird man bei Zugrundelegung sonst praktizierter Zurechnungsprinzipien die Zurechenbarkeit des Todes zum Ansteckenden verneinen müssen. 78 Der Tod stellt hier nicht mehr die zwangsläufige Folge der Infektion dar, sondern ist darauf zurückzuführen, dass der Infizierte selbst das unterlassen hat, was von ihm als vernünftiger Person erwartet werden durfte. In den Fällen, in denen der Infizierte überhaupt nicht mit einer Infektion rechnete und deshalb zu spät in die medikamentöse Behandlung kam, lässt sich so zwar nicht argumentieren. Indessen dürfte es in diesen Fällen, in denen ja noch nicht einmal der tatsächlich Infizierte selbst einen Infektionsverdacht hatte, in der Regel auch kaum möglich sein, die erst viele Jahre nach der Ansteckung festgestellte Infektion auf ein konkretes, lange zurückliegendes Verhalten einer lebenden Person so zurückzuführen, dass sich daraus ein Tötungshandeln rekonstruieren lässt – ganz abgesehen davon, dass selbst in einem solchen Fall die Voraussetzungen eines vollendeten Tötungsdelikts nicht erfüllt sind, solange der Infizierte noch lebt. 79 Auch den versuchten Tötungsdelikten wird durch die neuen empirischen Entwicklungen die Grundlage weitgehend entzogen. Da der Todeseintritt bei erfolgter Infektion ja tatsächlich verhindert werden kann, wird man selbst bei angenommenem Eventualvorsatz in Bezug auf eine Ansteckung die Einlassung des Täters, doch jedenfalls auf die Verhinderung des Todeseintritts vertraut zu haben, schwerlich widerlegen können. Mehr noch: Je mehr das, was gegenwärtig nur ein Teil der Bevölkerung weiß, nämlich dass sich der Ausbruch der AIDS-Erkrankung und der Tod medikamentös verhindern lassen, zum Allgemeingut wird, um so wahrscheinlicher wird es, dass der die Infektion in Kauf Nehmende auf den Nichteintritt des Todes auch tatsächlich vertraut hat. Damit dürften dann auch jene spektakulären Fälle nicht mehr vorkommen, die in der literarischen Diskussion um AIDS und Tötungsdelikte angesichts der Schwierigkeiten der Beweisbarkeit des Eventualvorsatzes bislang eine zentrale Rolle spielten: die Fälle, in denen der Täter sein Opfer durch die Ansteckung mit HI-Viren töten will. 80 Wenn erst einmal 77

Zu solchen Fällen Kamps (ob. Fn. 35), S. 35; Nüesch u.a. (ob. Fn. 35), S. 866f. Ebenso für diesen – damals freilich weit entfernt scheinenden – Fall Bottke, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 277, 305. 79 Und natürlich kann man mit dem Strafverfahren gegen den, der das Opfer infiziert hat, nicht solange warten, bis das Opfer verstorben ist! 80 Vgl. etwa die bei Herzberg, in: Szwarc (ob. Fn. 1), S. 61f. geschilderten Fallkonstellationen. 78

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Allgemeingut ist, dass sich der Tod als Folge einer HIV-Infektion medikamentös verhindern lässt, wird es wohl kaum mehr Personen geben, die andere durch die Herbeiführung einer solchen Infektion töten wollen! 2. Die Entwicklung im empirischen Bereich macht indessen nicht nur die Diskussion um „AIDS und Tötungsdelikte“ zu einem Stück Rechtsgeschichte. Auch die Qualifikationen der Körperverletzungsdelikte dürften im Lichte dieser Entwicklung ihre Bedeutung verlieren. Für die Formen der schon bislang kaum bedeutsamen erfolgsqualifizierten Körperverletzung folgt das aus ganz entsprechenden Gründen wie bei den Tötungsdelikten: Da sich der Ausbruch der Vollformen der Krankheit medikamentös verhindern lässt, werden HIV-Infizierte selbst bei Eventualvorsatz in Bezug auf die Ansteckung des anderen doch regelmäßig darauf vertrauen, dass es bei diesem nicht zu schweren Folgen kommt; sollte es erwartungswidrig doch dazu kommen, wird es sich – wie bei den Tötungsdelikten – in unseren Breiten meist um Folgen handeln, die dem Opfer selbst zurechenbar sind oder sich in den Fällen einer lange Zeit gar nicht bemerkten Infektion nicht mehr auf ein bestimmtes infizierendes Verhalten einer noch lebenden Person zurückführen lassen. 81 Aber auch die gefährliche Körperverletzung in Gestalt der das Leben gefährdenden Behandlung, die lange Zeit die eigentliche Grundlage der Strafbarkeit gewisser zur Übertragung des HI-Virus geeigneter Verhaltensweisen war, dürfte ihre Bedeutung verlieren. Die vom BGH in der Leitentscheidung BGHSt 36, 1ff. auf den damaligen „Stand der medizinischen Erkenntnisse über den Verlauf von AIDS“ gegründete Aussage, 82 dass die Infektion „bei der überwiegenden Zahl der Virusträger ... regelmäßig einen tödlichen Verlauf“ nehme, ist angesichts der medizinischen Entwicklung ebenso überholt wie die Annahme der „beträchtlichen Wahrscheinlichkeit eines letalen Ausgangs der Infektion“, auf die der BGH die „grundsätzliche Eignung“ des Täterverhaltens stützt, „das Leben des Partners allgemein in Gefahr zu bringen“. Wenn es zum Tod des infizierten Opfers nur noch durch diesem zurechenbare Versäumnisse oder im Ausnahmefall einer zu späten Entdeckung der Erkrankung kommen kann, so erscheint es zweifelhaft, ob das noch ausreicht, um ein „das Leben des Partners allgemein in Gefahr“ bringendes Verhalten zu bejahen. Näher liegt es hier anzunehmen, dass unter Einbeziehung dessen, was von einem Infizierten oder mit dem einer möglichen Infektion Rechnenden erwartet werden darf, eine Lebensgefahr heute und in Zukunft erst recht nicht mehr besteht. Zusätzlich erleichtert wird ein solcher Verzicht auf die Annahme der Alternative der „lebensgefährdenden Behandlung“ im deutschen Strafrecht dadurch, dass in den wenigen Fällen, in denen sich heute überhaupt 81 Vgl. oben bei Fn. 77 – 79. – Über eine zeitlich orientierte Zurechnungslösung früher im Ergebnis ebenso schon z.B. Kunz, ZStrR 107 (1990), 39, 47f. 82 Die nachfolgenden Zitate finden sich in BGHSt 36, 1, 9; ähnlich auch Ende 2004 noch der Schweiz. Kassationshof BGE 131 IV, 1, 3.

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noch eine vorsätzliche Körperverletzung begründen lässt, regelmäßig ohnehin die Alternative der „Beibringung gesundheitsschädlicher Stoffe“ (§224 Abs. 1 Nr. 1 StGB) gegeben ist. 83 Mit diesen Bemerkungen zu den normativen Auswirkungen erfreulicher empirischer Entwicklungen auf die strafrechtliche AIDS-Diskussion muss es hier sein Bewenden haben. Unerwähnt blieb eine andere, weniger erfreuliche Entwicklung im empirischen Bereich: der deutliche Anstieg der HIV-Infektionen in den letzten Jahren. 84 Diese Entwicklung könnte schon bald auch die rechtpolitische Diskussion wieder neu entfachen. In dieser dürfte vermutlich eine der Kernfragen die Frage sein, ob es wirklich eine adäquate Lösung ist, den Umgang des Strafrechts mit HIV / AIDS auf die Verletzungserfolgsdelikte zu beschränken und auf spezielle Gefährdungsdelikte, wie sie viele andere europäische Staaten kennen, völlig zu verzichten. Die Verwerfungen und die vielen wenig ergiebigen Streitfragen, zu denen die Lösung allein über die Verletzungserfolgsdelikte geführt hat, lassen Zweifel an der Richtigkeit der deutschen Lösung aufkommen.

83 Mit deren Aufnahme in den Katalog der Alternativen der gefährlichen Körperverletzung und der Streichung des durch sie ersetzten Tatbestands der Vergiftung (§229 StGB a.F.) zugleich einem weiteren beliebten Diskussionsfeld der früheren AIDS-Diskussion (für die Anwendbarkeit des §229 StGB a.F. insbes. Schünemann, in: Szwarc [ob. Fn. 1], S. 9, 32f.; dagegen z.B. BGHSt 36, 262, 266; Knauer, AIFO 1994, 463, 475) die Grundlage entzogen worden ist. 84 Vgl. dazu das Epidemiologische Bulletin des Robert-Koch-Instituts vom 2.Mai 2008, Sonderausgabe A.

Rechtliche Aspekte des Kaiserschnitts auf ausdrücklichen Wunsch der Patientin vor dem Hintergrund der polnischen Gesetzeslage Leszek Kubicki Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts beobachtet man eine plötzliche Zunahme an Anzahl der durchgeführten Eingriffe in der Form des sog. Kaiserschnitts, wobei diese Erscheinung besonders intensiv in Industrieländern auftritt. Dies wird durch überzeugende Daten aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika bestätigt. Im Jahre 1970 betrug der Prozentsatz der bei der Anwendung eines Kaiserschnitts erfolgten Geburten 5,5%. Im Jahre 1980 gab es dort bereits einen Anteil der Kaiserschnitte an allen Geburten von 16,5%, 1990 von 22,7% und 2004 von nahezu 29,1%. 1 Ein deutlicher Anstieg von Kaiserschnittgeburten ist auch in den europäischen Ländern festzustellen. Davon zeugt die schnelle Entwicklungsdynamik dieser Eingriffe im Zeitraum des 20. und 21. Jahrhunderts. In Deutschland lag die betreffende Kennziffer im Jahre 2001 bei 23,3% der Geburten und in dem gleichen Jahr wurden in Großbritannien 21% Kaiserschnittgeburten registriert (während es in 1990 noch 12% waren). Eine ähnliche Tendenz entwickelt sich auch in Polen. Der Prozentsatz dieser Eingriffe stieg von 13,8% im Jahre 1994 bis auf 28% im Jahre 2005. 2 Ein wesentliches Merkmal dieser Erscheinung besteht darin, dass der Prozentsatz der Kaiserschnitte in privaten Krankenhäusern im Vergleich zu öffentlichen (staatlichen) Krankenhäusern wesentlich höher ist. In Chile kommen in privaten Kliniken 60% der geborenen Kinder durch Kaiserschnitt zur Welt, wohingegen in öffentlichen Krankenhäusern 22% der Geburten durch Kaiserschnitt erfolgen. Eine in Brasilien durchgeführte vergleichende Studie hat gezeigt, dass der Prozentsatz der Kaiserschnitte in privaten Krankenhäusern bei 72% und in öffentlichen Krankenhäusern bei 21% 3 lag. Diese lawinenartige Zunahme des Prozentsatzes von Kaiserschnitten, die insbesondere in privaten Kliniken zu beobachten ist, kann nur zum Teil durch medizini1 Vgl. S.Suchocki, P.Piec, Cie˛cie cesarskie na przełomie XX i XXI wieku – aktualne problemy, „Ginekologia i Poło˙znictwo“ Nr. 1 (3) 2007, S. 16ff. sowie die dort zitierte internationale Literatur. 2 Ebenda, S. 17. 3 Ebenda, S. 16.

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sche Gründe erklärt werden. Ohne Zweifel ist sie mit einem enormen Fortschritt auf dem Gebiet der Diagnostik, vor allem der pränatalen Diagnostik, verbunden, durch welche die biophysische Aufsicht über den Verlauf der Schwangerschaft erweitert und die medizinischen Indikationen für die Durchführung eines solchen Eingriffs im größeren Ausmaß ermittelt werden konnten. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Fortschritte im Bereich der pränatalen Kardiographie und der Neonatologie zu nennen, die die Überlebenschancen von Neugeborenen mit Untergewicht erhöhen. Von Bedeutung ist schließlich die Erweiterung von außerhalb der Entbindungsmedizin liegenden Indikationen aus anderen medizinischen Fachbereichen. Die Gesamtheit dieser Faktoren vermag jedoch die drastische Erhöhung der Anzahl der Kaiserschnitte kaum zu erklären. Es liegt auf der Hand, dass der entscheidende Faktor in der Änderung der gesellschaftlichen Haltung zu sehen ist, die als Syndrom des Kaiserschnitts „auf Wunsch“ (sogar „auf Verlangen“) ohne das Vorliegen von bestimmten medizinischen Indikationen bezeichnet werden kann. Eine Analyse der Ursachen für das Entstehen dieser Art von Syndrom hat ergeben, dass folgende Änderungen in der Haltung der schwangeren Frauen im Schrifttum genannt werden: 1. eine zunehmende Furcht vor der Entbindung und Angst vor Entbindungsschmerzen, 2. negative Erfahrungen im Zusammenhang mit einer früheren Entbindung, 3. die Überzeugung, dass der Kaiserschnitt eine viel sicherere Entbindungsmethode sowohl für die Frau als auch für das Kind darstellt, 4. die Vermeidung von verschiedenen im Zusammenhang mit der Entbindung stehenden Komplikationen. 4 Gleichzeitig ist die irrtümliche Vorstellung unter nicht sehr erfahrenen Geburtshelfern und Ärzten aus anderen medizinischen Bereichen verbreitet, die über die Indikationen für die Durchführung dieses Eingriffs urteilen, dass der Kaiserschnitt eine sichere, mit einem niedrigeren Risiko verbundene Geburtsmethode darstellt. Im Ergebnis wird zurzeit geschätzt, dass der Kaiserschnitt ohne das Vorliegen von medizinischen Indikationen in 6 bis 50% aller Eingriffsfälle durchgeführt wird 5, wobei der Prozentsatz in privaten Krankenhäusern erheblich höher ist. Die Auffassungen über einen niedrigen Risikograd von Kaiserschnitten finden keine Bestätigung in der Praxis. Empirische Untersuchungen zeigen, dass das Todesrisiko nach einem Kaiserschnitt deutlich höher ist. Vor dem Hintergrund der britischen Untersuchungen, die lediglich den sog. effektiven Kaiserschnitt (unter außer Achtlassung der akuten Eingriffe) betrafen, betrug die Sterberate der Mütter im Falle einer natürlichen Entbindung 2,1 pro hunderttausend, während sie bei 4

R.Pore˛ba, Cie˛cie cesarskie – korzy´sci i zagro˙zenia, in: „Ginekologia i Poło˙znictwo“ Nr. 1 (3), 2007, S. 23. 5 S.Suchocki, P.Piec, S. 19.

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der Durchführung eines Kaiserschnitts bei 5,9 pro hunderttausend lag. Die in Frankreich durchgeführten Untersuchungen bestätigen, dass das Todesrisiko der Mutter 3,6 mal höher ist als im Falle einer natürlichen Geburt. Höher ist auch das Risiko des Auftretens von anderen Komplikationen zu bewerten. In Frankreich wurde z.B. festgestellt, dass bei bis zu 6% der Patientinnen eine Bluttransfusion notwendig war und die Hysterektomie nach einem Kaiserschnitt oft vorkommt. Die Entbindungswissenschaft signalisiert auch die Möglichkeit des Auftretens von anderen Komplikationen bei Müttern, die sich dem Kaiserschnitt unterzogen haben. Ferner – wie die Praxis zeigt – bleibt der Kaiserschnitt nicht ohne Folgen für die Gesundheit des neugeborenen Kindes. 6 Der Kaiserschnitt stellt ohne Zweifel einen Eingriff mit einem voraussehbaren Risikograd dar, der mit dem Risikograd im Falle einer natürlichen Geburt verglichen werden kann. Er sollte folglich als ein Eingriff betrachtet werden, der die Entbindung in solchen Fällen ermöglicht, in denen eine natürliche Geburt bestimmte Gefahren für die Gesundheit der Mutter und des Kindes vor bzw. während der Entbindung hervorrufen würde. Der Kaiserschnitt ist dagegen kein Alternativeingriff, der die natürliche Geburt ersetzt. Eine Gruppe von Experten der Polnischen Gesellschaft für Gynäkologie (PTG) hat in ihrer Sitzung vom 18. Mai 2008 den Kaiserschnitt als „einen Entbindungseingriff“ qualifiziert, dessen Zweck „in der Beendigung der Schwangerschaft oder der Geburt besteht, wenn ein längeres Abwarten ihrer natürlichen Beendigung eine Gefahr für die Mutter und das Kind darstellt.“ 7 Im gleichen Dokument wurde eine Liste der Entbindungsindikationen für die Durchführung des Kaiserschnitts in vier Kategorien eingeteilt: (1) effektive (planmäßige) Indikationen, (2) eilige Indikationen, (3) besonders eilende Indikationen und (4) plötzliche (sofortige) Indikationen. Darüber hinaus wurden die Indikationen für einen Kaiserschnitt im Falle einer Mehrleibesfrucht-Schwangerschaft herausgearbeitet. Eine von der Expertengruppe der PTG erarbeitete Liste enthält auch eine Reihe von außerhalb der Entbindung liegenden Indikationen wie: kardiologische, pulmonologische, ophthalmalogische, orthopädische, neurologische und psychiatrische Indikationen. Hinsichtlich des Kaiserschnittes ausschließlich auf Wunsch der Schwangeren beim Fehlen von jeglichen medizinischen Indikationen hat die PTG einen negativen Standpunkt eingenommen, wonach die PTG diese Art von Eingriffen „nicht empfiehlt“. Die Frage der Zulässigkeit der Durchführung eines Kaiserschnittes durch den Arzt ohne medizinische Indikationen und ausschließlich auf Wunsch der Schwangeren muss auch im rechtlichen Sinne erörtert werden, da die Regeln der Ausübung des ärztlichen Berufes, insbesondere das Verhältnis zwischen dem Arzt und sei6

Vgl. Durchsicht des Schrifttums in der zitierten Bearbeitung, S. 18f. Rekomendacje Polskiego Towarzystwa Ginekologicznego. Cie˛cie cesarskie, in: „Ginekologia Polska“ Nr. 5/2008, S. 378. 7

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nem Patienten, gesetzlich normiert sind. Jede (diagnostische, therapeutische oder die Rehabilitation betreffende) Handlung des Arztes muss mit dem Recht konform gehen, andernfalls besteht die Möglichkeit, den Arzt zur rechtlichen (gerichtlichen und beruflichen) Verantwortung zu ziehen. In Polen gilt das Gesetz über den Beruf des Arztes und Zahnarztes vom 5.12.1996 8, das rechtliche Regeln für die Berufsausübung bestimmt. Nach Maßgabe des Artikels 4 dieses Gesetzes hat der Arzt „die Pflicht, seinen Beruf in Übereinstimmung mit seinem aktuellen medizinischen Wissen, den ihm zugänglichen Methoden und Mitteln der Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten und im Einklang mit ethischen Berufsregeln sowie der erforderlichen Sorgfalt auszuüben“. 9 Aus der Vorschrift geht hervor, dass die grundlegende, den Arzt bindende Verhaltensregel das Handeln gemäß dem aktuellen medizinischen Wissen darstellt. Jede diagnostische und zu Heilzwecken vorgenommene Handlung, insbesondere jede in einem chirurgischen Eingriff bestehende Handlung muss lege artis sein, d.h., sie muss medizinisch – unter Zugrundelegung des aktuellen Standes des medizinischen Wissens – begründet sein. Das Ausbleiben der Begründetheit des Eingriffs, insbesondere die Vornahme einer überflüssigen, nicht erforderlichen oder unüberlegten Handlung führt zum ärztlichen Fehlverhalten. Wenn der Kaiserschnitt nach dem aktuellen medizinischen Wissen als Entbindungseingriff angesehen wird, der nur dann zulässig ist, wenn das Abwarten einer natürlichen Beendigung der Geburt „eine Gefahr für die Mutter und das Kind“ darstellt, so bedeutet das Nichtvorliegen der eine solche Gefahr begründenden Symptome eine Indikation für das Unterlassen des Kaiserschnitts. Das moderne medizinische Fachwissen gibt dem natürlichen, eventuell durch Hilfsmaßnahmen begleiteten Geburtsverlauf den Vorrang, wohingegen der Kaiserschnitt als eine besondere Methode betrachtet wird, die dann zur Anwendung kommt, wenn der konkret überprüfte und der Diagnostik unterzogene Fall diese Methode im Wesentlichen rechtfertigt. In solchen Fällen bedarf der Kaiserschnitt als „Entbindungseingriff“ der Zustimmung der Patientin. Gemäß Art. 34 Abs. 1 des Gesetzes „kann der Arzt einen Eingriff durchführen oder eine zu Heil- bzw. Diagnostikzwecken geplante Handlung vornehmen, die ein erhöhtes Risiko für die Patientin begründet, nachdem die Patientin hierzu ihre schriftliche Zustimmung erteilt hat“. Vor der Erteilung der Zustimmung ist der Arzt verpflichtet (Art. 31 Abs. 1 des Gesetzes), die Patientin über die Indikationen für die Durchführung des Kaiserschnitts, das Wesen und die Technik dieses Eingriffs, über seine voraussehbaren Folgen sowie die Konsequenzen im Falle des Ausbleibens des Eingriffs zu unterrichten. Diese Unterrichtung soll nicht nur die Folgen für die Mutter, sondern auch die Folgen für das Kind umfassen. 8

Vgl. einheitliche Fassung des Gesetzes Dz.U. 2008, Nr. 136, Pos. 857. Im Folgenden: „Gesetz“ genannt. 9 Kursive Hervorhebung vom Verfasser.

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Im Falle von Patientinnen, die minderjährig sind, für unmündig erklärt wurden oder unfähig sind, eine schriftliche Zustimmung bewusst zu erteilen, wird die Zustimmung für den Kaiserschnitt durch ihren gesetzlichen Vertreter erteilt. Fehlt der gesetzliche Vertreter oder ist eine Verständigung mit ihm nicht möglich, wird die Zustimmung zum Eingriff durch das Vormundschaftsgericht erteilt (Art. 34 Abs. 3 des Gesetzes). Eine minderjährige Patientin, die das 16. Lebensjahr vollendet hat, muss – neben der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters – auch eine persönliche schriftliche Zustimmung zum Eingriff geben (Art. 34 Abs. 4). Im Falle ihres Widerspruchs sowie des Widerspruchs einer unmündigen, psychisch kranken oder geistesschwachen Patientin ist die Zustimmung des Vormundschaftsgerichts unabhängig von der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters erforderlich. Bei Todesgefahr oder bei Gefahr einer schweren Gesundheitsbeschädigung der Patientin kann der Kaiserschnitt sogar bei Fehlen der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters vorgenommen werden, sofern das Vormundschaftsgericht zustimmt. In dringenden Fällen ist es zulässig, den Eingriff ohne die gesetzlich erforderliche Zustimmung durchzuführen, wenn – und sofern möglich – die Stellungnahme eines zweiten Arztes des gleichen Fachbereiches eingeholt wird (Art. 34 Abs. 7). Die Frage der Zustimmung der Patientin gestaltet sich ganz anders beim Kaiserschnitt auf ihren Wunsch oder sogar auf ihr ausdrückliches Verlangen. Zwei Fallkonstellationen sollen hier unterschieden werden. Die erste Konstellation umfasst die Fälle, in denen der Wunsch der Patientin nach Durchführung des Kaiserschnitts (und zugleich die durch sie erteilte Zustimmung) sich nach dem aktuellen medizinischen Wissen mit mindestens einer Indikation verbindet. Die Zustimmung der Patientin betrifft die Durchführung eines Eingriffs, der medizinisch vertretbar ist, was das Handeln des Arztes als rechtmäßiges Tun erscheinen lässt, da es mit den in Art. 4 des Gesetzes genannten Anforderungen einhergeht. Die Initiative zur Vornahme des Kaiserschnitts, die durch die Patientin selbst ergriffen wird und noch vor der Feststellung der diesen Eingriff rechtfertigenden Indikationen vorliegt, befreit den Arzt nicht von der in Art. 31 Abs. 1 des Gesetzes verankerten Pflicht zur Unterrichtung der Patientin über die Risiken und die voraussehbaren Folgen. Der ursprünglich und zunächst spontan geäußerte Wunsch der Patientin kann nach der Kenntniserlangung von dem Eingriff und seinen voraussehbaren Folgen geändert werden. Die Änderung der Haltung der Patientin, die sich in einem Rücktritt von der anfänglich gegebenen Zustimmung äußert, gibt dem Arzt keine Befugnis mehr, den Kaiserschnitt trotz des Bestehens deutlicher Indikationen vorzunehmen. Er hat jedoch die Pflicht, die Patientin über die vorliegenden Indikationen sowie über die voraussehbaren Folgen des unterlassenen Eingriffs zu unterrichten. Die zweite Konstellation betrifft die Fälle, in denen die Patientin die Durchführung des Kaiserschnittes wünscht, obwohl keine Indikationen für diesen Eingriff sprechen. In dieser Fallgruppe sind die Reaktion und die Entscheidung des Arztes

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äußerst kompliziert. Er steht vor einem Dilemma – einerseits soll er den autonomen Willen seiner Patientin achten, anderseits einen Eingriff vornehmen, der vom Standpunkt des medizinischen Wissens her unvertretbar, überflüssig und mit einem voraussehbaren Risiko verbunden ist. Es stellt sich nun die Frage, ob die Zustimmung der Patientin eine ausreichende Rechtfertigungsgrundlage für die Zulässigkeit des Eingriffs darstellt oder ob die entscheidende Grundlage für die Zulässigkeit des Eingriffs eine durch medizinisches Fachwissen begründete Indikation abgibt. Wir haben es hier mit zwei sich widersprechenden Verhaltensregeln zu tun: Handeln in Übereinstimmung mit dem Grundsatz des autonomen Willens der Patientin und Handeln in Übereinstimmung mit dem gesetzlichen Musterverhalten bei der Ausübung des ärztlichen Berufes, das dem aktuellen medizinischen Fachwissens adäquat ist. Diese gegensätzlichen Verhaltensregeln sind jedoch nicht symmetrisch. Sofern die Durchführung eines durch medizinische Indikationen angezeigten Kaiserschnitts ohne die Zustimmung der ordnungsgemäß unterrichteten Patientin rechtlich nicht zulässig ist, legalisiert die bloße Zustimmung der Patientin, auch wenn sie in der Form eines kategorisch ausgedrückten Wunsches kundgetan wird, kaum den ohne das Vorliegen von Indikationen durchgeführten Eingriff, um so mehr beim Auftreten von irgendwelchen Gegenanzeigen. Der bloße Zustimmungswille der Patientin rechtfertigt damit nicht die zu Heilzwecken vorgenommene Leistung, die entgegen dem aktuellen ärztlichen Wissen erbracht wird. Gemäß dem Regelungsinhalt des Art. 4 des Gesetzes obliegt dem Arzt die gesetzliche Pflicht, seinen Beruf im Einklang mit dem ärztlichen Wissen auszuüben, wobei die Berufsausübung im Sinne des Art. 2 des Gesetzes sowohl die Beurteilung der Notwendigkeit eines bestimmten Eingriffs oder einer Behandlung sowie die Art und Weise ihrer Ausführung umfasst. Abzulehnen ist die Auffassung, wonach nur „die Art und Weise der Berufsausübung durch den Arzt den Indikationen des aktuellen medizinischen Wissens entsprechen muss, wohingegen die positiven medizinischen Indikationen bei der Entscheidungsfindung – immerhin einer gemeinsamen mit einem ausreichend unterrichteten Patienten – nicht notwendig sind“. 10 Die medizinischen Indikationen – d.h. die auf dem aktuellen medizinischen Wissen beruhenden Indikationen – stellen ein notwendiges Kriterium sowohl für die Richtigkeit der Diagnose als auch für die Richtigkeit der Wahl der Behandlungsmethode und der Art und Weise der Ausführung einer therapeutischen Maßnahme dar. Die Berufung der hier kritisierten Gegenansicht auf die Frage der Rechtmäßigkeit einer reinen Schönheitsoperation überzeugt nicht. Denn die Schönheitschirurgie stellt ebenfalls ein Gebiet des medizinischen Wissens dar, das die Muster und Regeln adäquat zu ihren Aufgaben und Zielen definiert, denen sich die für dieses Fachgebiet spezifischen Behandlungen unterzuordnen haben. 10

M.Boraty´nska, Cie˛cie cesarskie na z˙ yczenie pacjentki, „Medycyna i Prawo“ 2008, Nr. 2, S. 47.

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Die Analogie geht im Übrigen an der Sache bereits aus dem Grunde vorbei, dass der Kaiserschnitt nach dem aktuellen Stand der Entbindungswissenschaft als eine die Geburt ermöglichende Behandlung in den Fällen angesehen wird, in denen eine natürliche Geburt eine konkrete Gefahr für das Leben oder die Gesundheit nicht nur der Mutter, sondern auch des Kindes darstellen würde oder während des Verlaufs der Geburt darstellt. Dieser Umstand schließt die Möglichkeit der Anwendung der Analogie zu einer Schönheitsbehandlung aus. Als Ergebnis ist daher festzustellen, dass die Vornahme eines Kaiserschnitts auf Wunsch der Schwangeren ohne die medizinischen Indikationen das in Art. 4 des Gesetzes verankerte Musterverhalten verletzt und folglich rechtswidrig ist. Diese Feststellung veranschaulicht zugleich die Bedeutung der erarbeiteten Zusammenstellung von medizinischen Indikationen durch die bereits erwähnte Expertengruppe unter der Leitung eines für die Fragen der Entbindung zuständigen Landesbeauftragten. Eine im Mai 2008 durch die PTG veröffentlichte Liste der Indikationen für den Kaiserschnitt stellt ohne Zweifel einen wesentlichen Beitrag für die Vorbereitung der abschließenden Empfehlungen in dieser Frage dar. Es wäre nach meiner Auffassung angezeigt, die Möglichkeit der Erweiterung dieser Liste um eine neue Kategorie der außerhalb des Entbindungsbereiches liegenden Indikationen, und zwar um die psychologischen Indikationen zu erwägen. Die durch die PTG-Liste bereits erfassten psychiatrischen Indikationen könnten sich im konkreten Fall als unzureichend erweisen. Die Angstzustände, die eine schwangere Frau vor der Geburt begleiten, werden nicht immer die Tatbestandsmerkmale einer psychiatrischen Indikation erfüllen. Sie sollten jedoch in bestimmten Situationen nicht bagatellisiert werden, wenn sie entsprechend dem Stand des psychologischen Wissens Berücksichtigung verdienen. Wie soll sich daher ein Arzt gegenüber seiner Patientin verhalten, die den Wunsch auf die Durchführung des Kaiserschnittes ohne das Vorliegen von für diesen Eingriff relevanten medizinischen Indikationen äußert? Nach Art. 31 des Gesetzes soll er die Patientin über das Fehlen der Gründe für den begehrten Eingriff, der überflüssig ist, weil die Geburt auf natürliche Art und Weise erfolgen kann, umfassend unterrichten. Ferner soll der Arzt auch auf alle negativen potentiellen Umstände im Zusammenhang mit dem Kaiserschnitt hinweisen und deutlich machen, dass der Eingriff nach dem aktuellen medizinischen Wissen nicht angezeigt ist. Folgende im Schrifttum geäußerte Auffassung verdient Zustimmung: „Eine Patientin, die sich auf ihren Wunsch einem Kaiserschnitt unterziehen will, soll vor dem Eingriff nicht nur über die gewöhnlichen (normalen und voraussehbaren) Risiken des Eingriffs für sich und ihr Kind, sondern auch über alle Nebenfolgen, darunter über die atypischen Komplikationen, die theoretisch auftreten können und der Medizin bekannt sind (auch wenn sie statistisch vereinzelt und ausnahmsweise passieren), durch den Arzt auf entsprechende Art und Weise (formgemäß und unter Berücksichtigung ihrer Fähigkeit, die Tatsachen und die medizinischen Fachbegriffe zu verstehen) unterrichtet werden. Im Falle eines durch die medizinischen Indikationen nicht angezeigten Eingriffs ist es insbesondere wichtig, dass die Schwangere sich sämtlicher Gefahren bewusst

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ist, die der Kaiserschnitt mit sich bringt. Anders als im Falle eines zu Heilzwecken vorgenommenen Eingriffs, in dem der Arzt einen gewissen Ermessensspielraum hat (und die Patientin auf Verlangen sich über alle eventuellen Folgen des Eingriffs fakultativ informieren kann) besteht im Falle des Eingriffs auf Wunsch eine Pflicht zur Erteilung einer umfassenden Information zwingend und ohne jede Ausnahme.“ 11

Nimmt die Patientin trotz dieser Informationen von dem Verlangen auf die Durchführung des Kaiserschnitts keinen Abstand, ist der Arzt – gemäß Art. 38 Abs. 1 und Abs. 2 des Gesetzes – berechtigt, die Behandlung der Patientin abzubrechen und sie bzw. ihren gesetzlichen Vertreter darüber zu informieren. Der Arzt hat die Pflicht, diesen Vorfall zu registrieren und in medizinischen Unterlagen zu begründen. Der Abbruch der Behandlung ist jedoch in unaufschiebbaren Fällen nicht zulässig (Art. 30 des Gesetzes). Der Abbruch der Behandlung ergibt sich aus dem in Art. 4 des Gesetzes beschriebenen Musterverhalten, er hat daher einen sachlichen und keinen ethischen, durch die Gewissenklausel bestimmten Charakter (Art. 39 des Gesetzes). Die Vornahme des Kaiserschnitts ohne das Vorliegen von medizinischen Indikationen setzt den Arzt einer rechtlichen Verantwortung aus. Dies kann eine zivilrechtliche 12 und eine strafrechtliche Verantwortung nach sich ziehen, die im Abschnitt über die Verbrechen gegen das Leben und die Gesundheit normiert wurde.

11 Vgl. K. Ba˛czyk-Rozwadowska, Problemy prawne zabiegu cesarskiego cie˛cia, in: „Prawo i Medycyna“ 2008, Nr. 4, S. 77. 12 Vgl. die zutreffenden Anmerkungen von J.Haberko, Cywilno – prawne aspekty przeprowadzenia cie˛cia cesarskiego na wyła˛czne z˙ yczenie rodza˛cej, in: „Kliniczna Perinatologia i Ginekologia“, Bd. 42, 2005, Heft 4, S. 65 – 68.

Tod und Recht: Hirntod und Verfügungsrecht über das Leben Hans-Ludwig Schreiber I. Was kann das Recht zum Tod sagen? Was der Tod eigentlich ist, was etwa nach ihm kommt, das kann es nicht wissen. Niemand von uns Menschen ist aus der als Tod bezeichneten Zone in das Leben zurückgekehrt. Recht weiß vom Tod und seinem Sinn so wenig wie die Philosophie, die ausgehend vom Faktum Tod Bewältigungsstrategien anbietet. Wenn man in die Geschichte blickt, so findet man unterschiedliche Verständnisse vom Tod. Philippe Aries hat in seiner Geschichte des Todes die ganz verschiedenen Ansatzpunkte dafür gezeigt. Vom Ende der Existenz 1 über einen materialistischen Begriff des Todes bis hin zu differenzierten Vorstellungen über den Tod als Übergang in eine andere Seinsweise, über das Erwachen zum wahren Leben, die Erhebung in eine höhere Potenz, als das, was im Inneren des Lebens als sein Organisationsprinzip anders ist. Das Recht als das vorläufig wirklich Maßgebliche kann aber nicht wie die Philosophie nur über den Tod reden. 2 Es muss in vielfältiger Hinsicht an den Tod anknüpfen, vor ihm schützen, ihn verbieten und ihn zulassen. Rechtsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit hängen vom Tod ab. Dienstverhältnisse und Ehen enden mit ihm. Vor allem endet der Schutz des Lebens durch das Recht mit dem Tod. Das Recht muss die Grenzen des Lebensschutzes mit dem Tod festlegen. Es verbietet bei Strafe grundsätzlich die Tötung, nicht nur die vorsätzliche, auch die fahrlässige, die durch Sorgfaltsverletzung verursachte Tötung eines anderen Menschen. 3 Die 1 Aries, Philippe, Geschichte des Todes, Lizenzausgabe Darmstadt 1996, franz. Originalausgabe, Editions du Seuil 1978. 2 Eingehend, insbesondere zur modernen Philosophie, Schumacher, Bernard, N., Der Tod in der Philosophie der Gegenwart, Darmstadt 2004. 3 Zum Lebensschutz mit weiteren Nachweisen: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd 3, 2003, Vor §§211ff. Rn 2ff., Rn 27ff.; Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Vor §211 Rn 5ff.

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eigene Tötung ist nicht verboten, allerdings ist die Mitwirkung anderer daran, wenn sie zur Täterschaft wird, unerlaubt. Recht legitimiert die Tötung anderer Menschen, etwa in der Notwehr, im Schutz gegen unerlaubte Eingriffe, sogar – in Grenzen – ins Vermögen. Strikte Verhältnismäßigkeit wird hier nicht gefordert. Der Schutz des Vermögens darf nicht nur ganz unverhältnismäßig sein. Recht gestattet die Tötung im Krieg, es erlaubt den finalen Rettungsschuss, ferner die Tötung jedenfalls durch Unterlassen weiterer medizinischer Behandlung bei Todesnähe und Aussichtslosigkeit (bisher so genannte „passive Sterbehilfe“). II. Wann aber ist der Mensch tot? Tod bezeichnet das Ende menschlichen Lebens. Was der Tod ist, muss also vom Leben her beschrieben werden. Das Recht auf Leben, das jedem nach Art. 2 II Satz 1 des Deutschen Grundgesetzes garantiert ist, meint die biologisch-physische Existenz des Menschen als Lebewesen in seiner körperlich-geistigen Einheit. Das Ende dieser Existenz als Lebewesen nennen wir Tod. Nun wird unter Tod verschiedenes verstanden. Für das Recht schien der Tod lange unproblematisch. So heißt es in der klassischen Definition Friedrich Carl von Savignys im System des heutigen Römischen Rechts (Band 2 [1840], Seite 17): „Der Tod als die Grenze der natürlichen Rechtsfähigkeit ist ein so einfaches Naturereignis, das derselbe nicht wie die Geburt eine genauere Feststellung seiner Elemente nötig macht“. 4 Lange ging man vom Stillstand des Kreislaufs und der Atmung aus und bezeichnete diesen Zeitpunkt als Tod. Gemeint war damit der Moment, bis zu dem menschliches Leben aufrechterhalten oder verlängert werden konnte. Dabei wusste man, dass der Tod nicht einen Moment sondern einen Prozess darstellt, dass Zellen und Gewebe über einen Zeitraum hinweg allmählich absterben. Der Herzund Kreislauftod markierte den Punkt, an dem der Arzt seine Tätigkeit aufgeben musste, das Ende menschlicher Möglichkeiten zur Intervention, um das Leben zu erhalten. Denkbar wäre es, auch auf das Auftreten von Leichenstarre und Totenflecken oder das Absterben sämtlicher einzelner Organe oder Zellen abzuheben. Vorstellbar wäre es, das Ende aller oder der wesentlichen Stoffwechselprozesse oder die Totalnekrose und Autolyse der Körperzellen als Tod zu bezeichnen. Damit käme man auf Tage und Wochen nach dem Ende von Kreislauf und Atmung hinaus. Dass z.B. Fingernägel und Haare noch bis 48 Stunden nach Stillstand von Herz und Kreislauf weiter wachsen ist bekannt. Kaum bestreitbar wird sein, dass 4 Geilen, Legislative Erwägungen zum Todesproblem, Juristenzeitung 1968, S. 150ff. mit Darstellung der Entwicklung; Schreiber, Kriterien des Hirntodes, Juristenzeitung 1983, S. 593ff.; Wolfslast, Grenzen der Organgewinnung, zur Frage einer Änderung der Hirntodkriterien, MedR 1989, S. 164ff.

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der Tod nicht ein biologisch-objektiv vorgegebener Zeitpunkt ist, sondern eine Zäsur in einem zeitlich ausgedehnten Prozess eines gesamtkörperlichen Sterbens. Die Festlegung eines solchen Zeitpunkts verlangt Entscheidungen. Der so genannte „klassische“ Todesbegriff, der Herz- und Kreislauftod, wurde mit der Entwicklung in der Medizin fragwürdig. Herz- und Kreislaufstillstand wurden hintergehbar bzw. überwindbar. 5 Durch Wiederbelebung konnte der Tod überwunden und der Kreislauf wieder in Gang gebracht werden. Im Interesse des Lebens entfernte man sich daher vom Herz- und Kreislauftod. Durch das Komitee der Harvard Medical School im Jahr 1968 wurde, da Herzund Kreislauftod manipulierbar und hintergehbar erschienen, der Hirntod als Abgrenzungskriterium verwandt. 6 Man stellte auf die Irreversibilität des Versagens von Kreislauf und Atmung durch den Ausfall des Gehirns ab. Der Herzstillstand erschien erst dann irreversibel, wenn das Gehirn als zentrales Steuerungsorgan des Menschen vollständig abgestorben war. Dann ist eine Wiederbelebung nicht mehr möglich. Es ist freilich unbestreitbar, dass der Hirntod, also der Ausfall des gesamten Gehirns als Steuerungsorgan menschlichen Lebens, nicht das Ende allen Lebens im menschlichen Körper bedeutet. Mit dem Gehirn aber fällt nicht nur ein spezielles Organ des Menschen aus, sondern der Organismus als Einheit und als Grundlage des Vorhandenseins eines menschlichen Individuums erscheint definitiv beendet. 7 Der Hirntod ist weit definitiver als der Herz- und Kreislauftod. Kreislauf und Atmung können noch nach dem Hirntod weiter künstlich mit Hilfe von Geräten aufrechterhalten werden. Der Hirntod kann zeitlich vor oder nach dem Herztod liegen. Bei Atmungs- und Kreislaufstillstand stirbt das Gehirn wegen der Unterbrechung der Sauerstoffversorgung in kurzer Zeit ab, wenn nicht eine künstliche Beatmung erfolgt. Auf der anderen Seite zieht der Hirntod bei seinem Eintreten in Kürze den Kreislaufstillstand nach sich, falls der Kreislauf nicht künstlich durch Beatmung in Gang gehalten wird. 8 Streitig wurde die Frage nicht allein für die Transplantation. Nicht, als ob das Harvard-Komitee den Hirntod etwa zu Zwecken der Transplantation erfunden hätte. Es ging und geht auch und in erster Linie um die Begrenzung erforderlicher medizinischer Behandlung.

5 Schreiber, wie Note 4; Schroth, in: Schroth / König / Gutmann / Oduncu, Kommentar zum Transplantationsgesetz, 2005, Vor §§3, 4 Rn 2ff. mit ausführlicher Darstellung der Entwicklung, auch zum Folgenden. 6 Beecher, Journal of the American Medical Association, 1968, S. 85ff. 7 Schroth, wie Note 5, Rn 21ff.; Tröndle-Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§211 –216 Rn 8; Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Vor §§211ff. Rn 15ff., jeweils mit vielen weiteren Nachweisen; Bondolfi / Kostka / Seelmann, Hirntod und Organspende, in: Ethik und Recht, Basel 2003. 8 Münchener Kommentar, Vor §§211ff. Rn 17ff.

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III. Die Definition des Todes hängt unmittelbar davon ab, wie man sein Subjekt bestimmt. Wer oder was stirbt und wer oder was ist wann tot? Die Gegner des Hirntodes sprechen von einer cartesianischen Halbierung des Menschen, wenn man das Gesamtgehirn als zentrales Organ des Menschen ansehe und den Menschen damit auf seinen Verstand reduziere. 9 Auf den Grad der Lebensfähigkeit komme es ebenso wenig an wie auf ein bestimmtes Potential an Kognitivität. Das Leben als körperliches Dasein sei maßgeblich, so Höfling, einer der engagiertesten Kämpfer gegen den Hirntod, der jetzt auch mit seinen Mitautoren in dem von ihm herausgegebenen Kommentar zum Transplantationsgesetz diesen Streit fortsetzt. 10 Irrelevant sei, ob jemand noch als Person gelten könne. Person sei der Mensch selbst, nicht ein bestimmter Zustand des Menschen. Mit Recht wird die so genannte Geistigkeitstheorie abgelehnt, die die Beendigung aller geistigen Funktionen zum Kriterium macht. 11 Andererseits wird ganz überwiegend Leben gedeutet als biologisch-körperliches Dasein, als Existenz eines integrationsfähigen Gesamtorganismus. 12 Dieser Gesamtorganismus wird mit dem Ausfall des gesamten Gehirns zerstört, damit ist die Fähigkeit zur Steuerung und Integration des menschlichen Organismus verloren. Es ist nicht richtig, wenn eingewandt wird, außer dem Gehirn erbrächten alle übrigen Organsysteme eines so genannten Hirntoten weiter wichtige Integrationsleistungen für den Gesamtorganismus. Einen solchen Gesamtorganismus gibt es nach Ausfall des integrierenden Gehirns nicht mehr. In einzelnen Organen und Zellen ablaufende Prozesse, insbesondere Stoffwechselprozesse, machen nicht das Leben des Menschen aus. 13 Der Mensch als Organismus ist wie jedes höher entwickelte Lebewesen tot, wenn die Funktionen seiner Organe und Systeme sowie ihre Wechselwirkungen unwiderruflich nicht mehr zur übergeordneten Einheit des Lebewesens zusammengefasst und nicht von ihr gesteuert werden. Der Cortex-Tod ist in Deutschland und Europa bisher mit Recht nur von wenigen als Tod anerkannt worden. Der bloße Ausfall des Bewusstseins ist ebenso wenig Tod, wie der Ausfall des somatischen 9

Hoff , Johannes / In der Schmitten, Jürgen: Wann ist der Mensch tot?, in: Organverpflanzung und Hirntod, 1994, S. 153ff.; Geisler, Linus: Der Hirntod ist eine Phase im Sterben und damit Teil des Lebens, Frankfurter Rundschau vom 24.02.1995, S. 16. 10 Höfling / Rixen, Kommentar zum Transplantationsgesetz (2003), §3 TPG Rn 11ff.; In der Schmitten aaO, Anhang zu §3 Rn 1ff. 11 In der Schmitten, Anhang zu §3 in: Höfling, Transplantationsgesetz, Rn 48ff., Rn 41ff. 12 Schroth, Transplantationsgesetz, Vor §§3, 4, Rn 4ff. 13 Bundesärztekammer, Kriterien des Hirntodes in: Deutsches Ärzteblatt 1993, S. 2177; Klinge, Todesbegriff, Totenschutz und Verfassung (1996), S. 140 mit vielen Nachweisen aus der Literatur.

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Elementes. Maschinell betriebenes organisches Leben, ein aus sich selbst nicht mehr zu einem systemischen Organismus integrierbarer Körper stellt kein Leben dar. Der Hirntod knüpft an exakt naturwissenschaftlich messbare Tatsachen an. Er bedeutet eine qualitative Differenz, nicht nur eine quantitative, als Leben von mehr oder weniger Organen. Mit dem Hirntod endet die gesteuerte Einheit des menschlichen Organismus. Dem Menschen fehlt dann die Basis für das biologische und geistige Leben. 14 Mit dem vollständigen und endgültigen Ausfall der gesamten Hirntätigkeit ist die selbstständige, selbstbestimmte und selbsttätige Lebenseinheit und Lebensordnung des Organismus verloren und damit das Lebewesen selbst zu Ende gegangen. 15 Anthropologisch fehlt dem Menschen, dessen Hirntätigkeit vollständig und endgültig ausgefallen ist, die notwendige und unersetzliche körperliche Grundlage für alles Geistige. Ein solcher Mensch kann nie mehr eine von außen oder aus seinem Inneren kommende Wahrnehmung oder Beobachtung machen, etwas verarbeiten und beantworten, nie mehr einen Gedanken fassen, verfolgen und äußern, nie mehr eine Überlegung anstellen und mitteilen, nicht mehr eine Gemütsbewegung spüren und keine Entscheidung irgendeiner Art treffen. So hat der Neurologe Angstwurm zutreffend formuliert. 16 Diskreditiert haben schließlich die juristischen Hirntodgegner ihre Position vollends. Sie haben in Übereinstimmung mit anderen geäußert, die Ablehnung des Hirntodkriteriums stelle keineswegs eine Absage an die Transplantationsmedizin dar. Vielmehr solle die Entnahme lebenswichtiger Organe aus hirntoten Körpern auch künftig möglich sein, denn der Hirntote habe ein verfassungsmäßiges Recht, als Modus seines Sterbens seine eigene Tötung durch die Explantation seiner Organe zu wählen. Mit persönlicher Einwilligung handele es sich, wenn man den Betroffenen noch als Lebenden ansehe, um eine bloße Beendigung intensivmedizinischer Maßnahmen. Hier solle nur vor Voreiligkeit geschützt werden und von ihrem Normzweck her sei die auf Grundlage eines persönlich zuvor erklärten Einverständnisses erfolgende Organentnahme bei einem Hirntoten nicht durch das Verbot der direkten Tötung erfasst. Nur die ersatzweise Einwilligung durch Angehörige soll nicht erlaubt werden. 17 14

Schreiber, Der Hirntod als Grenze des Lebensschutzes in: Festschrift Walter Remmers (1995), S. 593ff.; Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaft zur Feststellung des Todes (1976), Schweizer. Ärztezeitung, 1977, S. 1173ff. 15 Oduncu, Hirntod und Organtransplantation 1998, S. 161ff.; Schroth, Transplantationsgesetz (2005), Einleitung S. 78ff.; Schreiber, Wann ist der Mensch tot?, in: Firnkorn (Hg.), Hirntod als Todeskriterium (2000), S. 44f. 16 Angstwurm, Heinz: Der Hirntod, in: Hoff / In der Schmitten, Wann ist der Mensch tot? (1974), S. 45ff.; Angstwurm, Tod und sichere Todesfeststellung vor der Organentnahme, in: Oduncu / Schroth / Vossenkuhl (2003), S. 28. 17 Höfling / Rixen, Transplantationsgesetz (2003), §3 Rn 3ff.

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Mit der Erlaubnis, vom lebenden Hirntoten Organe mit Zustimmung des Betroffenen zu entnehmen, würde das Tor für eine fremdnützige Euthanasie geöffnet, wenn wirklich noch menschliches Leben vorhanden sein sollte. Bei der indirekten Euthanasie, mit der die Organentnahme verglichen werden soll, geht es um ein Handeln im Interesse des Betroffenen, um eine im Wege der Notstandsabwägung in Kauf genommene mögliche vorzeitige Lebensbeendigung. Bei einer Organentnahme beim noch Lebenden, durch die dann das Leben beendet werden würde, geht es aber um eine direkte, gezielte Beendigung des Lebens im Fremdinteresse des Organempfängers. Die Zulassung der Organentnahme, wie sie vom „lebenden Hirntoten“ erlaubt werden sollte, hätte weit reichende Konsequenzen für den Lebensschutz im Recht. Leben Hirntote noch, so müsste man jedenfalls ihr Leben gegen fremdnützige aktive Eingriffe zur Lebensbeendigung schützen. Der schlechteste von den Hirntodgegnern vorgeschlagene und das ganze Konzept kompromittierende Kompromiss wäre, den Hirntod zwar nicht als Tod aber als Entnahmekriterium anzuerkennen und dann auf eine enge Zustimmungslösung – Entnahme nur mit Einwilligung des Betroffenen selbst – abzustellen. 18 Das Deutsche Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde gegen das Hirntodkriterium durch Beschluss mit knapper Begründung zu Recht zurückgewiesen. Das Hirntodkriterium verstößt nicht gegen die Verfassung und das Grundrecht auf Leben (Art. 2 GG). 19 Papst Johannes Paul II. hat am 29. August 2000 beim Transplantationskongress in Rom mit Recht den Hirntod als zulässiges Kriterium bezeichnet. Er hat ausgeführt, 20 der Hirntod sei eine wissenschaftlich zuverlässige Methode zur Identifizierung jener biologischen Anzeichen, die den Tod der menschlichen Person eindeutig beweisen. Das heute angewandte Kriterium zur Feststellung des Todes, nämlich das völlige und endgültige Aussetzen jeder Hirntätigkeit, stehe nicht im Gegensatz zu den wesentlichen Elementen einer vernunftgemäßen Anthropologie, wenn es exakt Anwendung findet. Daher könne der für die Feststellung des Todes verantwortliche Arzt dieses Kriterium in jedem Einzelfall als Grundlage benutzen, um jenen Gewissheitsgrad in der ethischen Beurteilung zu erlangen, den die Morallehre als moralische Gewissheit bezeichnet. Diese moralische Gewissheit gelte als notwendige und ausreichende Grundlage für alle aus ethischer Sicht korrekten Handlungsweisen. Die Gegner des Hirntodes haben zwar bei einigen Autoren Anerkennung gefunden. Sie wiederholen aber ihre Gesichtspunkte, ohne irgendwelche neuen Gesichtspunkte zu finden. 21 Im Kern wird dabei angeführt, in Anlehnung an den französischen Philosophen Levinas, der Hirntote trete mir als anderer Mensch, als 18

Schreiber, wie Note 14, S. 593ff. Bundesverfassungsgericht, NJW 1999, S. 3403 = EuGRZ 1999, S. 241f. 20 Johannes Paul II, Ansprache zum Transplantationskongress in Rom 2000, L’Osservatore Romano vom 15.09.2000. 19

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Lebender, als „Antlitz“ entgegen. Der andere Leib als Antlitz besitze transzendente Wahrheit. Erst das tote Antlitz werde zur Maske. Beim Hirntoten bestehe aber noch die lebenswirkliche Lebenseinheit. Erst mit dem irreversiblen Ende der Blutzirkulation breche die Interaktion zwischen Gesamtorganismus und Organen unumkehrbar auseinander. 22 Diese Berufung auf die Erfahrung trägt nicht. Sicher besteht heute hinsichtlich des Hirntodes eine mögliche Diskrepanz zwischen möglicher Erfahrung und der wissenschaftlich-medizinischen Erkenntnis. Die lebenswirkliche Erfahrung geht praktisch noch vom Herz- und Kreislaufstillstand aus. Bei dieser Erfahrung ist es schwierig beim Hinsehen einen Hirntoten, der noch künstlich durchblutet und beatmet wird und lebendig aussieht, als Toten anzusehen. Der Anschein oder das subjektive Gefühl können aber nicht maßgeblich sein. Man sieht ja auch umgekehrt nicht einen bleich und regungslos liegenden, als tot erscheinenden Menschen in lebenswirklicher Perspektive als tot an. Gerade im Interesse des Lebensschutzes durch Recht muss das Problem der Todesgrenze auf der Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnis entschieden werden. 23 Ein sich an bloß äußerlichen Erscheinungen festmachender Phänomenalismus kann nicht zur Orientierung dienen. Auch die Entscheidungen in der Lebenswelt sind auf naturwissenschaftlich-medizinische Erkenntnisse angewiesen. Das Abstellen einer Beatmungsanlage bei einem Hirntoten ist danach keine Tötung mehr, auch nicht die Entnahme des Herzens, die dann zum Stillstand des Kreislaufes führt, denn der Hirntote ist kein Lebender mehr. IV. Nach diesen Bemerkungen zum Begriff und zum Zeitpunkt des Todes noch Stichworte zum Verfügungsrecht über das Leben und zum Tötungsverbot durch Recht. Grundsätzlich darf niemand über fremdes Leben verfügen. Es ist für jeden anderen prinzipiell unverfügbar, das ist eines der Grundprinzipien des Rechts. 24 An der Spitze der Verfassung und des Rechts steht (Art. 2 II GG) das Recht auf Leben und damit verbunden das Tötungsverbot. Es gibt Einschränkungen des Grundrechtes auf Leben, etwa durch Notwehr, den finalen Rettungsschuss 21 So auch wieder Byrne, Paul A. / Coimbra, Cicero G. / Spaemann, Robert / Wilson, Mercedes: Der Hirntod ist nicht der Tod, Essay von einer Tagung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften 2005, Schriftenreihe der Aktion Leben e.V., Februar 2005, Nr. 24. 22 Vgl. dazu: In der Schmitten, in: Höfling, Transplantationsgesetz, Anhang zu §3 Rn 40ff. 23 Schreiber, wie Note 14; Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch Vor §§211ff., Rn 16ff. 24 Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, – Schneider Vor §§211ff. Rn 7, 14ff.

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oder die erlaubte Tötung im Krieg. 25 Ob die uneinschränkbare Menschenwürde (Art. 1 GG) die Einschränkung des Lebensrechtes verbietet, ob jeder Eingriff in das Leben eine Verletzung der Menschenwürde bedeutet, erscheint zweifelhaft. Streitig ist, ob das Grundrecht auf Leben quasi als Kehrseite auch das Recht auf den eigenen Tod umfasst. Sachlich und historisch begreift das Recht auf Leben sich nicht auch als Recht, als Anspruch auf den Tod. 26 Die Tötung auf Verlangen ist strafrechtlich, wenn auch bei gemilderter Strafe, verboten (§216 StGB). Sich selbst den Tod zu geben ist dagegen nicht verboten. Der Suizid, wenn er aus eigener freier Entscheidung erfolgt, ist nicht verboten. Ob Ringel Recht hat, der gemeint hat Suizide seien in aller Regel unfreie Handlungen 27, möge hier dahin gestellt bleiben. Die Grenze der erlaubten Mitwirkung beim Suizid liegt dort, wo die Mitwirkung die Grenze zur Täterschaft überschreitet, etwa bei Täuschung, Zwang oder Irrtum. Das Strafrecht spricht dann von fremder Tatherrschaft. 28 Sterbehilfe ist in den meisten Ländern in den Grenzen erlaubter Beschränkung der Behandlung und in den Grenzen der indirekten Sterbehilfe, der notwendigen Bekämpfung von Schmerz, Angst und Unruhe auch mit der Nebenwirkung frühen Todes, erlaubt. 29 In Deutschland steht eine Gesetzgebung in Richtung der Erlaubnis von Patientenverfügungen zur Beendigung von Behandlungen bevor, in der die Selbstbestimmung über den eigenen Tod im Rahmen einer „Nicht-mehr-Weiterbehandlung“ ausdrücklich gesetzlich gestattet werden soll. 30 Damit würde ein 25

Leipziger Kommentar zum StGB, Vor §211, Rn 1ff. Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch Vor §§211 Rn 27ff. zu den grundsätzlichen Prinzipien des strafrecht-lichen Lebensschutzes. 27 Ringel, Erwin, Handwörterbuch der Kriminologie, 2. Auflage Band 3 (1975), „Suizid“. 28 Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Vor §211 Rn 21 mit weiteren Nachweisen. Schreiber, Strafbarkeit des assistierten Suizides, Festschrift für Jakobs, 2007, S. 615. 29 Schreiber, Das ungelöste Problem der Sterbehilfe – zu den neuen Entwürfen und Vorschlägen – Neue Zeitschrift für Strafrecht 2006, S. 473; zum Problem Duttge, Ärztliche Behandlung am Lebensende 2008 (Hrg.) mit verschiedenen Beiträgen, insbesondere Müller, G.A. / Knöbl, Jan / Blaschke, Sabine, Therapiebegrenzung am Lebensende aus medizinischer Sicht, S. 61ff. 30 Schreiber wie Note 29, S. 476; Verrel, Gutachten für den 66. Deutschen Juristentag „Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, S. C9ff.; Duttge, Preis der Freiheit 2. Auflage, S. 6ff.; über die Zweifelhaftigkeit einer Regelung begrenzt auf die Patientenverfügung, Schreiber wie Note 29, S. 476; Sahm, Stephan, Sterbebegleitung und Patientenverfügung, ärztliches Handeln an den Grenzen von Ethik und Recht (2006), S. 150ff.; vgl. auch Bernat, Erwin, Das österreichische Patientenverfügungsgesetz: ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, Gesundheitsrecht 2007, S. 1ff.; Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, Patientenverfügung, BT-Drucksache 15/3700; Deutscher Bundestag, Diskussion über Patientenverfügungen am 29.03.2007, Stenographischer Bericht, Plenarprotokoll 16/91. 26

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begrenztes Verfügungsrecht über den eigenen Tod eröffnet, eine Einschränkung des Verbotes der Tötung auf Verlangen auf gezieltes aktives Tun. 31 Angesichts der medizinischen Möglichkeiten zur Lebensverlängerung ist die Pflicht zum bloßen Warten auf den „natürlichen“ Tod nicht zumutbar. Es darf – das ist wohl überall zugelassen – der Tod hingenommen werden. Die „terminale Sedierung“ wird heute gestattet. In diesen Grenzen wird eine Verfügung über den eigenen Tod erlaubt. 32 Verboten bleibt die aktive, gezielte Tötung durch fremdes Tun. Erlaubt ist freilich eine Kausalität durch Beendigung rettender Behandlung, das Abschalten des Beatmungsgerätes etwa, rechtlich als Unterlassen durch Tun qualifiziert, der Abbruch einer rettenden Kausalkette durch Tun. Allein ein Sterbenlassen durch Kausalität der Krankheit ist zulässig. Keine verbotene Verfügung über fremdes Leben liegt vor, wenn das Gerät, das den Kreislauf aufrechterhält, abgeschaltet wird. 33 Streitig und wie nur in einigen Ländern z.B. in Holland und Belgien erlaubt ist, ist die Verfügung über fremdes Leben durch gezielte aktive ärztliche Beendigung etwa durch Verabreichung eines Medikamentes mit dem Ziel der Tötung. 34 Freilich ist die Differenz zwischen Handeln und Unterlassen gering, hauchdünn wird sie zwischen gezielter aktiver Sterbehilfe und indirekter Sterbehilfe. Sie besteht dann praktisch nur in der subjektiven Intention zwischen Absicht und indirektem Vorsatz. 35 Die indirekte Sterbehilfe mit diesem Unterschied haben schon die Päpste Pius XII. und Johannes Paul II. zugelassen, um Schmerzbehandlung mit dem Risiko des früheren Todeseintritts zu ermöglichen. 36 Nach dem Bild, das ich mir von Gott mache, besteht auch keine entscheidende Differenz zwischen aktiver und indirekter Sterbehilfe. Ich hoffe, dass Gott mich nicht von der Schwelle weisen würde, wenn ich in Not und unerträglichem Leiden früher zu ihm komme und bitte, mich vor der Zeit aufzunehmen. 31 Alternativentwurf Sterbebegleitung (AE-StGB), Goltdammers Archiv für Strafrecht 2005, S. 553ff. (S. 559ff.). 32 Müller-Busch, Sterbende sedieren? Deutsche Medizinische Wochenschrift 2004, S. 701ff.; Müller-Busch, Therapiebegrenzung bei Patienten mit infauster Prognose, in: Duttge (Hg.), Ärztliche Behandlung am Lebensende (2008), S. 47ff. 33 Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung, Goltdammers Archiv für Strafrecht 2005, S. 559. 34 Nachweise über die Niederlande und Belgien, Schreiber wie Note 29, S. 475; Reuter, Die gesetzliche Regelung der aktiven ärztlichen Sterbehilfe des Königreiches Niederlande – ein Modell für die Bundesrepublik Deutschland (2002); Schreiber, Soll die Sterbehilfe nach dem Vorbild der Niederlande und Belgiens neu geregelt werden?, in: FS Rudolphi (2004), S. 543. 35 Schreiber wie Note 29, S. 474f. 36 Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung (AE StGB), Goltdammers Archiv für Strafrecht 2005, S. 559 (S. 573ff.).

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Gefährlich für das Leben und den Schutz des Lebens würde es aber, wenn man generell die aktive, gezielte Tötung auf Wunsch zuließe. 37 Dann geriete der Schutz des Lebens Alter und Kranker in Gefahr, insbesondere in Anbetracht der zunehmenden Knappheit der Ressourcen in der Medizin. Wenn 70% der medizinischen Kosten in den letzten beiden Lebensjahren entstehen, dann liegt es nahe, die Kranken, die sich selbst oft eine Last sind, zu fragen, ob sie nicht eine aktive Beendigung ihres Lebens durch eine Injektion oder eine Tablette wünschen oder ob sie wirklich weiter behandelt werden wollen mit erwartbarem letalen Ausgang nur etwas später. Hier entstünden Gefahren. Ich sehe aber keine Gefahren, wenn ein Verfügungsrecht über den eigenen Tod durch Beendigung der Behandlung, ihren Abbruch und Beschränkung auf palliative Behandlung zugelassen wird. 38 Niemand, gerade nicht Gott, verlangt von uns, alle Möglichkeiten der Medizin, auch belastende, wegen eines oft nur noch vegetativen Lebens aufrechtzuerhalten. Schon vor Eintritt des Hirntodes ist daher eine Beendigung von Behandlung zulässig. Das Tötungsverbot schränkt sich damit zugunsten einer Möglichkeit der Verfügung über das Leben, auch das Fremde, durch Beschränkung von Behandlung ein. Der Tod bleibt das dunkle Rätsel in unserem Leben. Wir sollten ihm, wenn er vor der Tür steht, nicht mit allen medizinisch möglichen Mitteln den Eintritt verwehren.

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Schreiber wie Note 29, NStZ 2006, S. 475. Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung wie Note 36, S. 572ff.; Verrel, Konsequenzen aus den Ergebnissen des Deutschen Juristentages, in: Duttge (Hg.), Ärztliche Behandlung am Lebensende 2008, S. 9ff., S. 18ff. 38

V. Zum Sportstrafrecht

Einige Bemerkungen über das erlaubte Risiko und Sorgfaltspflichtverletzungen im Sport Jacek Giezek Das grundlegende Forschungsinteresse von Professor Andrzej J. Szwarc umfasst sowohl dogmatische als auch kriminologische Fragen des Strafrechts, die er mit einem besonders wichtigen Bereich der menschlichen Aktivität – nämlich mit dem Sporttreiben – in Verbindung bringt. In zahlreichen Beiträgen (Monographien 1 und Artikeln 2) analysiert der Jubilar verschiedene Beziehungen zwischen Sport und Strafrecht. 3 Die Signifikanz dieser Arbeiten wird besonders dadurch deutlich, dass sie bis zum heutigen Tag im polnischen Schrifttum Standards setzen, nach 1

Vgl. z.B. Szwarc, Sport a prawo karne [Sport und Strafrecht], Pozna´n 1971; ders., Wypadki sportowe w s´wietle prawa karnego [Sportunfälle in Anbetracht des Strafrechts], Pozna´n 1972; ders., Zgoda pokrzywdzonego jako podstawa wyła˛czenia odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe [Einwilligung des Geschädigten als Grundlage zum Ausschluss der strafrechtlichen Haftung für Sportunfälle], Pozna´n 1975; ders., Karnoprawne funkcje reguł sportowych [Strafrechtliche Funktionen der Sportregeln], Pozna´n 1977. 2 Vgl. z.B. Szwarc, Wypadki sportowe a prawo karne [Sportunfälle und Strafrecht], „Sport Wyczynowy“ [Leistungssport] 1971, Nr. 9, S. 56 –59; ders., Tak zwane przeste˛pstwa sportowe [Sogenannte Sportdelikte], „Sport Wyczynowy“ 1971, Nr. 10, S. 39 –42; ders., Koncepcje usprawiedliwiania sprawców wypadków sportowych [Konzeptionen der Rechtfertigung der Täter bei Sportunfällen], „Sport Wyczynowy“ 1972, Nr. 4, S. 44 –48; ders., Podstawy wyła˛czenia odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe [Grundlagen des Ausschlusses der strafrechtlichen Verantwortung für Sportunfälle], „Sport Wyczynowy“ 1972, Nr. 5, S. 46 – 50; ders., Die strafrechtliche Beurteilung von Sportverletzungen in Polen, „Jahrbuch für Ostrecht“ 1981, Halbband XXII.2, S. 363 –372; ders., Odpowiedzialno´sc´ karna za praktyki dopingowe w sporcie [Strafrechtliche Haftung für Dopingmaßnahmen im Sport], w: Problemy kodyfikacji prawa karnego. Ksie˛ga ku czci Profesora Mariana Cie´slaka [Probleme der Kodifikation des Strafrechts. Ein Buch zu Ehren von Herrn Professor Marian Cie´slak], Red. Walto´s, Kraków 1993, S. 249 –261; ders., Dopingrecht in Polen, w: Doping. Realität und Recht, Red. Vieweg, Berlin 1998, S. 279 –305; ders., Karny charakter odpowiedzialno´sci dyscyplinarnej w sporcie [Strafrechtlicher Charakter der disziplinären Verantwortung im Sport], w: Rozwa˙zania o prawie karnym [in: Erwägungen über das Strafrecht]. Ksie˛ga pamia˛tkowa z okazji siedemdziesie˛ciolecia urodzin Profesora Aleksandra Ratajczaka [Zum 70. Geburtstag von Herrn Professor Aleksander Ratajczak], Red. Szwarc, Pozna´n 1999, S. 279 –292; ders., Znaczenie i problemy odpowiedzialno´sci dyscyplinarnej w sporcie [Bedeutung und Probleme der disziplinären Verantwortung im Sport], w: Odpowiedzialno´sc´ dyscyplinarna w sporcie [in: Disziplinäre Verantwortung im Sport], Red. Szwarc, Pozna´n 2001, S. 21 – 41.

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denen das Strafrecht in die Sphäre des sog. Leistungssports eingreifen kann und soll. Der dem Jubilar gewidmete Beitrag ist ein bescheidener Versuch, die Frage des erlaubten Sportrisikos sowie der im Sport geltenden Sorgfaltsregeln aus dogmatischer Sicht synthetisch zu analysieren. 1. Sport (insbesondere Leistungssport) ist menschliche Betätigung, die natürlicherweise von einem erhöhten Risiko der Verletzung von Rechtsgütern, vor allem jedoch der Gesundheit und des Lebens der Sporttreibenden und manchmal von denen, die Sportveranstaltungen besuchen, ohne daran aktiv teilzunehmen, begleitet wird. Es ist selbstverständlich, dass der Risikograd differiert und von der Sportart abhängig ist. Er überschreitet meistens – manchmal sogar beträchtlich – das sogenannte gewöhnliche Risiko (das Alltagsrisiko). Es wird jedoch nicht behauptet, dass man auf Sport und insbesondere auf Leistungssport verzichten soll. Es ist offensichtlich, dass in verschiedenen Bereichen menschlicher Aktivitäten (nicht nur im Sport) Handlungen unternommen werden, die mit einer bestimmten nicht eliminierbaren Wahrscheinlichkeit einer negativen Folge (also mit Risiko) verbunden sind. Wenigstens einige dieser Verhaltensweisen wollen oder müssen wir sogar aus bestimmten Gründen akzeptieren. Wir machen uns also notgedrungen mit dem Risiko vertraut und versuchen, es lediglich in bestimmten Grenzen zu halten. Ein absolutes Verbot des Hervorrufens von jeglichen Gefahren würde sofort das gesamte Sozialleben lähmen. Die Rechtsgüter würden in Museumsexponate umgestaltet, die – wie es vor Jahren Welzel richtig bezeichnet hat – mit der menschlichen Hand zwar nicht berührt, ohne Erfüllung ihrer Lebensfunktion aber fruchtlos erstarren müssten 4. So wird das Risiko in unterschiedlichen Bereichen wie z.B. im Leistungssport zu einem unerlässlichen und akzeptablen Teil des gesellschaftlichen Lebens. Andererseits wäre jedoch die Behauptung, dass alle risikoreichen Verhaltensweisen allgemein anerkannt werden, unwahr. Sogar die geringste Wahrscheinlichkeit einer negativen Folge kann nicht gerechtfertigt und akzeptiert werden, wenn das diese verursachende Verhalten als Handlung zum Erreichen eines negativ zu beurteilenden Zwecks betrachtet wird. Billigung der riskanten Handlung kann manchmal ausschließlich seine Tolerierung bedeuten, um die Freiheit eines Individuums nicht übermäßig zu beschränken. Das bedeutet allerdings nicht, dass ein Einverständnis mit jedem potentiellen Risiko, das mit so einer Handlung verbunden ist, besteht. Die Bewertung des Risikos in Abhängigkeit zu dem mit dem Risiko zu erreichenden Zweck hat in der deutschen Strafrechtslehre Schünemann mit Hilfe 3 In diesen Arbeiten weist Szwarc u.a. auf die strafrechtliche Haftung für Sportunfälle, die strafrechtliche Beurteilung von Dopingmaßnahmen im Sport und die heutzutage besonders aktuelle Frage der Strafbarkeit der Korruption im Sport hin. 4 Welzel, ZStW 58 (1939), S. 558; ders., Das Deutsche Strafrecht, Berlin 1969, S. 128ff.

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einer Skala dargestellt. Auf dieser Skala werden vier Grade gekennzeichnet, zu denen Handlungen entsprechend zugeordnet werden können, nämlich: Luxushandlungen, sozialübliche Handlungen, sozialnützliche Handlungen und sozialnotwendige Handlungen 5. Mit jedem dieser Grade ist ein unterschiedliches Niveau der Risikoakzeptanz verbunden. Während die Luxushandlung grundsätzlich jegliches Risiko ausschließt, so lässt die sozial-notwendige Handlung das größte Risiko zu. Indem die Konventionalität innerhalb dieser hier dargestellten Skala bemerkt wird, kann man die Frage stellen, welchem ihrer Grade sich die Handlungen im Zusammenhang mit dem Leistungssport und dabei insbesondere die besonders gefährlichen Disziplinen zuordnen lassen. Es wäre wohl nicht falsch, zu behaupten, dass sie den Platz zwischen den sozialüblichen und den sozialnützlichen Handlungen einnehmen. Mit dem Sporttreiben ist es ähnlich wie mit vielen anderen kulturbedingten und für eine bestimmte Gesellschaft traditionellen Tätigkeiten, die Menschen oft nur deswegen ausüben, um sich selbst (und auch anderen) damit Vergnügen zu bereiten bzw. bestimmte Eindrücke zu gewinnen, selbst dann, wenn die Ausübung der Tätigkeit gefährlich sein kann. Der positive Wert einer Handlung kann nur dann ein damit verbundenes Risiko rechtfertigen, wenn wir feststellen, dass bei Verwirklichung dieses sozial anerkannten Wertes das Risiko unvermeidlich ist. Das Streben nach einer vollständigen Eliminierung des Risikos oder mindestens nach seiner Verminderung auf ein bestimmtes Minimum kann bedeuten, dass eine zu vorsichtige Verhaltensart nicht mehr zur Verwirklichung eines bestimmten Ziels (z.B. Sportwettkampf) geeignet ist. Eine zu weit gehende Reduzierung des Risikos macht also eine Handlung sicherer, jedoch leider sinnlos 6. Man könnte natürlich eine Regel festlegen, nach der die Boxer während eines Sportkampfes nur sehr leicht schlagen dürften, was die Wahrscheinlichkeit einer Körperverletzung minimieren würde. Die derart bedingten Handlungen würden jedoch ihren Sinn verlieren. In einem Boxkampf geht es um einen sportlichen Wettbewerb, in dem der Stärkere gewinnen soll. Die Umsetzung dieses sozial anerkannten Wertes determiniert also die Verhaltensweise, die unvermeidlich mit der Wahrscheinlichkeit der negativen, unerwünschten Folgen verbunden ist. Gleichzeitig ist aber daran zu erinnern, dass auch Grenzen für die Verhaltensweisen vorhanden sind, die einer relativ präzisen Festlegung bedürfen und im Rahmen derer wir aufgrund des umfassenden Sozialinteresses solche Wahrscheinlichkeiten dulden werden 7. 2. Das „erlaubte Risiko“ gehört trotz seiner wesentlichen Bedeutung, die ihm oft zugeschrieben wird, zu den besonders kontroversen und unklaren Begriffen in der gegenwärtigen Strafrechtsdogmatik. Übereinstimmung besteht lediglich 5

Schünemann, JA 1975, S. 576. Vgl. Hirsch, ZStW 94 (1982), S. 269. 7 Mehr dazu Giezek, Przyczynowo´sc´ oraz przypisanie skutku w prawie karnym [Kausalität und Zurechnung des Erfolges im Strafrecht], Wrocław 1994, S. 137ff. 6

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dahingehend, dass eine Handlung des Täters, die sich innerhalb der Grenzen des erlaubten Risikos hält, eine strafrechtliche Haftung nicht verursachen kann. Es ist merkwürdig, dass, wenn man über die Überschreitung der Grenzen des erlaubten Risikos spricht, in den Erwägungen vieler Autoren sofort – meistens als ein Synonym einer Überschreitung – die Sorgfaltspflichtverletzung genannt wird. Die Tendenz zur Verbindung der beiden Begriffe wird meistens in den Fällen sichtbar, in denen die erforderliche Sorgfalt nicht geregelt wurde, sondern als eine ad hoc geformte und an die Gegebenheiten eines bestimmten Falles entsprechend „angepasste“ Verhaltensregel ausgestaltet wird. Bevor auf die „Sorgfaltspflicht“ näher eingegangen wird, ist voranzustellen, dass der Begriff im polnischen Strafgesetzbuch als Voraussetzung einer fahrlässigen Straftat eingeführt wurde. Für die Feststellung, dass es zur Begehung einer fahrlässigen Tat gekommen ist, hat die Voraussetzung in Art. 9 §2 pStGB, dass der Täter die aufgrund bestimmter Umstände gebotene Vorsicht außer Acht gelassen hat, eine grundlegende Bedeutung. Charakteristisch ist hierbei, dass die gebotene Vorsicht meistens als Regelung hinsichtlich des Rechtsguts begriffen wird. Solche Art von Regelungen werden auch als Sorgfaltsregeln bezeichnet 8. Im sozialen Leben gibt es viele Gebiete, in denen die Sorgfaltsregeln seit längerer Zeit zum Gegenstand eines besonderen Interesses der Juristen geworden sind. Zu nennen ist hierbei nicht nur der Sport, sondern auch die Kommunikation oder die Medizin. Der Rechtsstatus der Sorgfaltsregeln ist in den verschiedenen Gebieten sehr unterschiedlich festgelegt. Ein Teil von ihnen bildet ein kodifiziertes, in selbständigen Rechtsakten ausgesondertes Normensystem (z.B. Straßenverkehrsordnung), dessen Verletzung gewisse Rechtsfolgen hervorrufen kann, welche unabhängig von der eventuellen Tatbestandsverwirklichung sind. Gleichzeitig gibt es auch solche Regeln, die nicht schriftlich festgelegt sind, sondern sich aus der Lebenserfahrung und aus dem während des praktischen Handelns gesammelten Erkenntnissen ergeben 9. Zu dieser Gruppe gehören vor allem Regeln, die in 8 Eine wesentliche Bedeutung, insbesondere in Hinsicht auf die fahrlässig begangenen Straftaten, wurde diesen Regeln nicht nur in der polnischen, sondern auch – und sogar viel früher – in der deutschen Strafrechtsdogmatik zugeschrieben (vgl. z.B. Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, Berlin 1930, S. 266ff.), wobei ihr Ursprung in beiden Systemen sehr ähnlich ist. Bemerkenswert ist nur ein terminologischer Unterschied. Während in der polnischen Strafrechtslehre meistens über „Vorsichtspflichtverletzungen“ gesprochen wird, nutzt die deutsche Lehre eher den Begriff „Sorgfaltspflichtverletzung“. Zur Vermeidung eventueller Missverständnisse wird darauf hingewiesen, dass in dieser Arbeit die Begriffe „Vorsicht“ und „Sorgfalt“ als Synonyme verwendet werden. 9 In der polnischen Literatur wird die Ansicht vertreten, dass bei der Festlegung der Vorsichtsregeln die drei folgenden Bestandteile wichtig sind: 1.) der Täter muss die entsprechende Qualifikationen zur Durchführung einer Handlung haben, die mit dem der potentiellen Gefahr ausgesetzten Gut verbunden ist, 2) die Handlung soll mit Hilfe eines ihr entsprechenden Werkzeugs durchgeführt werden, 3) die Handlung soll auf eine

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solchen Sphären der menschlichen Aktivität gelten, die im Wege einer globalen Kodifizierung und Reglementierung des Gesetzgebers nicht zu beschränken bzw. zu kontrollieren sind 10. Eine Reglementierung scheint beim Treiben mancher Sportarten besonders schwierig zu erreichen zu sein. Nicht alle Handlungen, die im Rahmen eines Sportwettkampfes vorgenommen werden können, lassen sich im Detail regeln, so dass der Bereich der nicht reglementierten Handlungen oft sehr groß sein kann. Schon aufgrund einer oberflächlichen Analyse der Satzungen und Ordnungen, welche die legalen Sportdisziplinen betreffen, lässt sich feststellen, dass die im Sport geltenden Regeln verschiedene Funktionen erfüllen. Im Schrifttum wird auf die Möglichkeit der Festlegung von Regeln hingewiesen, die ausschließlich einen Ordnungscharakter haben und solchen, die über die Sicherheit eines Sportwettkampfes entscheiden. Die ersten determinieren die Ordnung und den Verlauf der Handlungen im Zusammenhang mit der Ausübung einer Sportart. Es wird behauptet, dass Verletzungen dieser Regeln ausschließlich bestimmte negative Folgen für den Verlauf eines Sportwettkampfes z.B. in Form eines Verlusts von Punkten habe und keine Gefahr für die Teilnehmer des Sportwettkampfes mit sich bringe. Mit Regeln, welche die Sicherheit 11 betreffen, würden den Sportlern bestimmte Pflichten auferlegt, deren Verletzung mit einem übermäßigen Risiko für das Leben und die Gesundheit der Teilnehmer des Sportwettbewerbs einherginge. Diese Regeln verhindern die Umgestaltung des Sportwettbewerbs in einen brutalen Kampf und verhindern dadurch auch Sportunfälle. Im Boxen gilt beispielsweise das Verbot des Schlags unter die Gürtellinie als solch eine Regel 12. Es ist nicht zu übersehen, dass ein wesentlicher Teil der Sportregeln einen gemischten Charakter hat. Die Einführung von Regeln, dank derer in einer bestimmten Sportdisziplin ein Wettbewerb möglich ist, dient nicht nur der Ordnung des Spielverlaufs, sondern auch der Erhöhung der Sicherheit aller Teilnehmer. Regeln, die scheinbar ausschließlich den Verlauf eines Kampfs bzw. eines Spiels ordnen, können (zumindest bei Vorbestimmte Art und Weise durchgeführt werden, damit das Risiko für das geschützte Gut nicht das für die unternommene Aktivität zulässige Maß überschreitet; vgl. Zoll, Ogólne zasady odpowiedzialno´sci karnej w projekcie kodeksu karnego [Allgemeine Grundregeln der strafrechtlichen Verantwortung im Entwurf des Strafgesetzbuches], PiP 1990, Nr. 10, S. 35. Die Vorsichtsregeln werden an die Bedingungen angepasst, unter denen eine bestimmte Handlung unternommen werden kann. Die spezifischen Vorsichtsregeln, deren Nichteinhaltung die Grundlage zur Annahme von Fahrlässigkeit darstellen, können auch die Grundregeln der Zusammenarbeit in einer Mannschaft (z.B. Gruppenspiele) und der Leitung einer Mannschaft betreffen. 10 Man kann nicht erwarten, dass dem Gesetzgeber ausnahmslos eine erschöpfende und präzise Katalogisierung aller Verhaltensregeln gelingt. Vgl. Hirsch, ZStW 83 (1971), S. 164. 11 Die man als Sorgfaltsregeln oder, wohl richtiger, als Vorsichtsregeln bezeichnen kann. 12 Vgl. mehr dazu Szwarc, Karnoprawne funkcje (ob. Fn. 1) [Strafrechtliche Funktionen ...], S. 80ff.

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liegen bestimmter Umstände) auch der Minimierung von Gefahren dienen. Die Verletzung solcher Regeln kann natürlich auch Sportunfälle verursachen. Indem man die Verletzung der Sorgfaltspflicht mit der Überschreitung der Grenzen des erlaubten Risikos in Zusammenhang bringt, stellt sich die Frage nach der Art der Beziehung, in der die beiden Begriffe zweifellos zueinander stehen. Zunächst ist hervorzuheben, dass sowohl das Risiko als auch die Sorgfalt selbst keine Handlungen sind, sondern ausschließlich Eigenschaften dieser Handlungen darstellen. Bei der Beurteilung von Handlungen spricht man manchmal – insbesondere im Zusammenhang mit gefährlichen Situationen – davon, dass sie riskant oder (un-)sorgfältig waren, indem man die beiden auf den ersten Blick fast gleichbedeutenden Begriffe als Synonyme verwendet. Eine genauere Analyse lässt jedoch eine wesentliche, allerdings leicht zu übersehende Differenz erkennen. In der Tat ist die Sorgfalt eine Eigenschaft, die das Verhalten eines Subjektes charakterisiert. Das Vorliegen von Sorgfalt ist von der bewussten Durchführung (bzw. Missachtung) von Maßnahmen abhängig, die die potentielle Gefahr vermindert. Sorgfältiges Verhalten lässt sich also dann nicht verneinen, wenn jemand alles tut, was ihm individuell möglich ist, um die Wahrscheinlichkeit der negativen Folgen zu minimieren. Das mit den Handlungen verbundene Risiko ist bis zu einem bestimmten Grad vom Täter unabhängig. Es besteht oft als eine der Situation immanente Eigenschaft, die sich auch bei Wahl der sichersten Art und Weise der Handlung nicht vollständig beseitigen lässt. Die relative Unabhängigkeit des Risikos drückt sich dadurch aus, dass ein gewisser Grad des Risikos erhalten bleibt, auch wenn die maximale Sorgfalt eingehalten wird. Mit anderen Worten: Sorgfalt ist eine Eigenschaft, die der bestimmten Handlung durch ein Subjekt auferlegt wird. Das mit solch einer Handlung verbundene Risiko ist dagegen auch eine Folge von diversen äußeren Umständen, die sich nicht ausschließlich nach der Vorstellung oder dem Vorhaben des Subjektes gestalten lassen. Beispielsweise kann ein Rennfahrer im eigenen Interesse und im Interesse anderer Teilnehmer des Wettrennens sogar die weitreichenden Vorsichtsregeln beachten und muss trotzdem – wenn er erfolgreich sein will – ein Risiko eingehen. Man kann kein Wettrennen gewinnen, wenn man nicht die für den Sieg notwendigen Geschwindigkeiten erreicht, die unweigerlich das Risiko eines Unfalls mit sich bringen. Indem man das Risiko und die Sorgfalt vergleicht, können wir auch feststellen, dass beide Begriffe abstufbar sind. In beiden Fällen haben wir es mit einem bestimmten continuum zu tun, dessen Grenzen einerseits ein minimales Risiko und die höchste Sorgfalt, andererseits das maximale Risiko und ein völliges Fehlen der Sorgfalt setzen. Gewöhnlich gilt der Grundsatz: Je vorsichtiger wir handeln, desto mehr vermindern wir das Risiko bzw. je unvorsichtiger wir sind, desto riskanter ist unser Verhalten. Bei der Analyse der hier verglichenen Begriffe ist schließlich festzuhalten, dass die Notwendigkeit der Sorgfalt erst angesichts eines Risikos besteht. Wir behandeln

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schließlich keine Handlung als sorgfältig oder unsorgfältig, wenn wir keine mit ihr verbundene Gefahr sehen. Die Sorgfalt ist nur dann begründet und sogar verlangt, wenn wir die Wahrscheinlichkeit einer negativen Folge berücksichtigen. Wenn kein Risiko vorhanden ist, dann ist auch keine Sorgfalt notwendig. Bisher ist auch noch niemand auf die Idee gekommen, Anforderungen oder Regeln eines umsichtigen Verhaltens in Bezug auf alltägliche Handlungen (wie z.B. essen, schlafen oder spazierengehen) zu fordern. Hingegen ist es eindeutig, dass Sorgfalt im Sport (vor allem in besonders gefährlichen Disziplinen) erforderlich ist. Es handelt sich jedoch um eine besondere Art der Sorgfalt. Um ihr Grenzen zu setzen, wollen wir nämlich feststellen, wie man sich bei bewusster und sogar beabsichtigter Schaffung gefährlicher Situationen vorsichtig verhalten soll 13. Die Bemerkung von Szwarc, dass es notwendig sei, bestimmte Richtlinien zu formulieren, nach denen ein Maß der allgemeinen Sorgfalt im Sport sowie die Grenzen der Pflicht einer sorgfältigen Teilnahme an Sportwettkämpfen festgelegt werden sollte, ist also zutreffend. Die Grenzen der Sorgfalt sowie der damit festgelegte Bereich der tolerierten Gefahren ist sicherlich ein Ausdruck der gesellschaftlichen Akzeptanz für Sport, der einzelnen Sportdisziplinen und der Art und Weise des Sporttreibens. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass bei der Festlegung eines Sorgfaltsmaßstabs im Sport immer ein gewisses Maß eingehalten werden muss, da alle mit dem Sport verbundenen Gefahren in keinem Fall zu beseitigen sind 14. Charakteristisch ist hierfür auch, dass die Grenze des zulässigen Risikos – entgegen manchmal formulierten Andeutungen – nicht mit den Sorgfaltsregeln festgelegt wird. Die Regeln werden nicht festgelegt, um zu erfahren, wo sich die Risikogrenze befindet, sondern wir passen die Regeln entsprechend an die vorher gesetzte Risikogrenze an, um so Überschreitungen zu verhindern. Das führt dazu, dass Handlungen, die wir heute als vorsichtig bezeichnen, nicht mehr vorsichtig sind, wenn wir die Risikogrenze verschieben. Die Tatsache, dass man z.B. bei günstigen Verkehrsbedingungen beim Fehlen von irgendwelchen besonderen Beschränkungen oder Verboten mit dem Auto mit einer Geschwindigkeit von 60 km / h fährt, beurteilen wir meistens nur deswegen als vorsichtig, weil wir das Risiko einer solchen Fahrt akzeptieren. Wenn wir jedoch die zulässige Geschwindigkeit bis auf 20 km / h reduzieren würden, indem wir einfach feststellen, dass sich ein höheres Risiko (das wir zweifellos bei einer höheren Geschwindigkeit eingehen) für uns als die heutige Gesellschaft aus irgendwelchen Gründen nicht mehr lohnt, so könnte eine Fahrt, die gegenwärtig noch als vorsichtig gilt, in diesen geänderten Bedingungen (d.h. nach Herabsetzung der Grenze des zulässigen Risikos) nicht mehr ebenso eingeschätzt werden. 13 Das beste Beispiel ist wiederum ein Boxkampf. Der Boxer muss während des Kampfes daran denken, dem Gegner unter Einhaltung der Vorsichtsregeln möglichst starke Schläge zu versetzen und ihn dadurch zu besiegen oder sogar niederzuschlagen, ohne jedoch – wenn möglich – eine Körperverletzung zu verursachen. 14 Szwarc, Karnoprawne funkcje (ob. Fn. 1) [Strafrechtliche Funktionen ...], S. 186ff.

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3. In dem oben angesprochenen dogmatischen Zusammenhang taucht die grundlegende Frage auf, ob dem Teilnehmer von Sportwettkämpfen die Tatbestandsverwirklichung einer Straftat (z.B. Körperverletzung) zugerechnet werden kann, wenn die Sportwettkämpfe gemäß den geltenden Regeln stattfinden und die Risikogrenze nicht überschritten wird. Gegenwärtig ist in der polnischen Strafrechtslehre die Meinung vorherrschend, nach der ein Sportler in der dargestellten Situation den Tatbestand verwirklicht und seine strafrechtliche Haftung – soweit sich sein Verhalten in den Grenzen des erlaubten Risikos hält – erst durch einen Rechtfertigungsgrund ausgeschlossen wird 15. Man muss zugeben, dass sich die Art und Weise der Beurteilung des erlaubten Sportrisikos als Rechtfertigungsgrund unter dem starken Einfluss der Ansichten in der vor über dreißig Jahren entstandenen umfassenden Arbeit von Szwarc über die Funktion und die strafrechtliche Bedeutung der im Sport geltenden Regeln herausgebildet hat. Der Autor sprach sich deutlich dafür aus, dass der Einhaltung der im Sport geltenden Sorgfaltsregeln die Funktion eines Rechtfertigungsgrundes, nämlich dem des erlaubten Risikos, zugeschrieben werden soll 16. Dies bedeutet, dass im Fall eines fahrlässigen Sportunfalls der Tatbestand einer Straftat als erfüllt angesehen werden kann 17. Dagegen soll die Tatsache, dass ein Unfall unter Beachtung der Sorgfaltsregeln verursacht wurde, im Rahmen der Beurteilung der Sozialschädlichkeit berücksichtigt werden. Diese Tatsache kann zu dem Ergebnis führen, dass die Tat trotz des verursachten Unfalls nicht sozial schädlich ist und dadurch gemäß Art. 1 pStGB keine Straftat darstellt. Das Verhalten des Täters kann also als eine Handlung beurteilt werden, die innerhalb der Grenzen des zulässigen Risikos aufgrund eines außergesetzlichen Rechtfertigungsgrundes (der die strafrechtliche Haftung ausschließt, da er die Sozialschädlichkeit der Straftat ausschließt) vollzogen wurde 18. In der polnischen Literatur hat sich auch Gubi´nski umfassend über das Sportrisiko geäußert. Er stellte schon vor Jahren Merkmale für einen Rechtfertigungsgrund auf, der eine Grundlage für den Ausschluss der Rechtswidrigkeit eines Verhaltens, das rechtlich geschützte auf Sport bezogene Güter verletzt, bilden könnte. 15 Vgl. z.B. Buchała, Prawo karne materialne [Materielles Strafrecht], Warszawa 1989, S. 284; Marek, Prawo karne. Zagadnienia teorii i praktyki [Strafrecht. Theorie- und Praxisfragen], Warszawa 1997, S. 250; Indecki / Liszewska, Prawo karne materialne. Nauka o przeste˛pstwie, karze i s´ rodkach penalnych [Materielles Strafrecht. Die Lehre über die Straftat, Strafe und Strafmittel], Warszawa 2002, S. 142; Bojarski, Polskie prawo karne. Zarys cze˛´sci ogólnej [Polnisches Strafrecht. Umriss des allgemeinen Teils], Warszawa 2003, S. 153; Giezek, in: Bojarski / Giezek / Sienkiewicz, Prawo karne materialne. Cze˛´sc´ ogólna i szczególna [Materielles Strafrecht. Allgemeiner und Sonderteil], Warszawa 2006, S. 159; Mozgawa, in: Budyn-Kulik / Kozłowska-Kalisz / Kulik / Mozgawa, Prawo karne materialne. Cze˛´sc´ ogólna [Materielles Strafrecht. Allgemeiner Teil], Zakamycze 2006. 16 Szwarc, Karnoprawne funkcje (ob. Fn. 1) [Strafrechtliche Funktionen ...], S. 192. 17 Z.B. fahrlässige Tötung bzw. fahrlässige Körperverletzung. 18 Szwarc, Karnoprawne funkcje (ob. Fn. 1) [Strafrechtliche Funktionen ...], S. 171.

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Vor allem sollten nach Ansicht von Gubi´nski bestimmte Disziplinen zugelassen werden und eine in ihrem Rahmen begangene Tat, die einen sportlichen Zweck beabsichtigt (nicht z.B. eine Handlung, um sich an dem Gegner zu rächen), dürfte den in dieser Disziplin geltenden Regeln nicht widersprechen. 19 Es ist selbstverständlich, dass ein Verhalten des Täters, das sich in den Grenzen des festgelegten Sportrisikos bewegt, keine strafrechtliche Haftung verursachen kann. Eine eventuelle Verantwortung ließe sich jedoch nicht bloß dadurch ausschließen, dass die Teilnehmer von Sportwettkämpfen damit einverstanden waren, sich einer Gefahr auszusetzen, indem sie sich freiwillig bereit erklärt haben am Wettkampf teilzunehmen. So ein Einverständnis bezieht sich nicht gleichzeitig auf weitergehende Folgen, also die Verletzung von so wertvollen Gütern wie Leben oder Gesundheit. Unabhängig von der Ansicht, das zulässige Sportrisiko als einen Rechtfertigungsgrund anzuerkennen, scheint die Frage interessant zu sein, warum bestimmte, besonders gefährliche Sportdisziplinen (z.B. Autorennen oder Boxkämpfe) überhaupt zulässig sind. Aus rein pragmatischer Sicht sollten wohl diese Disziplinen – unter Berücksichtigung des damit verbundenen Risikos für so wertvolle Güter wie Leben oder Gesundheit – ganz eliminiert werden, denn es ist schwierig, die sozialen Vorteile dieser Sportarten zu benennen. Innerhalb dieser generellen Betrachtung ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Rechtsordnung gewisse Formen der menschlichen Betätigung nicht verbieten kann (z.B. das Treiben von bestimmten Sportdisziplinen), die mit einer langjährigen Tradition verbunden sind und allmählich zu einem so selbstverständlichen Teil unserer Zivilisation geworden sind, dass ihr Ausschluss einfach unvorstellbar ist. Es stellt sich nämlich heraus, dass das Risiko manchmal ausschließlich aufgrund seiner „historischen Legitimation“ zulässig ist 20. Wenn also gewisse Arten von Handlungen mit sozialer Akzeptanz oder mit einem allgemeinen consensus schon immer unternommen wurden, so ist es schwierig, sie umzubewerten und mit Strafe zu verfolgen. Zwar könnte man mit einem Verbot das mit dem Verhalten verbundene Risiko beseitigen, allerdings würde man gleichzeitig damit die Sphäre der einem Individuum traditionsgemäß zustehenden Freiheiten stark einschränken. Aus verständlichen Gründen würde das auf einen starken Widerstand seitens derer stoßen, denen aufgrund des Verbots ein früher gewährtes Recht entzogen wurde. 4. Zur Analyse der These, dass das erlaubte Risiko ein Fall eines Rechtfertigungsgrundes sei, sollen Sportarten herangezogen werden, bei denen das Verletzungsrisiko rechtlich geschützter Güter oder Interessen besonders hoch ist, weshalb für diese besondere Sorgfaltsregeln gelten. Das beste Beispiel dafür scheinen der Boxsport und das Autorennen zu sein. Als Ausgangspunkt der Überlegungen 19 Vgl. Gubi´nski, Wyła˛czenie bezprawno´sci czynu [Rechtfertigung einer Straftat], Warszawa 1961, S. 101ff. 20 Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 1991, S. 201.

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soll folgende Fragestellung dienen: Verwirklicht ein Boxer oder ein Rennfahrer im Fall der Verletzung eines rechtlich geschützten Gutes tatsächlich den Tatbestand, wenn er während des Wettkampfes keine der in der entsprechenden Sportart geltenden Verhaltensregeln verletzt und das verursachte Risiko – obwohl es aufgrund des Charakters des Sportwettkampfes prinzipiell hoch ist – die Zulässigkeitsschwelle nicht überschreitet? Überwiegend wird dies in der polnischen Strafrechtslehre bejaht. Die Antwort auf diese Frage scheint prima facie von der Art des verletzten Rechtsgutes und von dem Ausmaß der vom Sportler verursachten Folgen abzuhängen. Man kann dies am besten am Beispiel eines Boxers erkennen, der während eines Kampfes: a) die körperliche Unversehrtheit des Gegners verletzt, b) eine Körperverletzung verursacht oder c) den Tod verursacht. Die erste der genannten Folgen (Verletzung der körperlichen Unversehrtheit) ist an sich unvermeidlich und dadurch im Voraus zu akzeptieren. Man kann keinen Boxkampf durchführen, ohne die körperliche Unversehrtheit zu verletzen. Schwierigkeiten bereitet die Bewertung des Verhaltens des Boxers als tatbestandsmäßig mit der Folge, dass jeder Boxkampf den Tatbestand einer Straftat erfüllt, und die einzige Grundlage für den Ausschluss der strafrechtlichen Haftung ein Rechtfertigungsgrund ist 21. Das würde nämlich bedeuten, dass die Rechtswidrigkeit des Verhaltens eines Sportlers erst aufgrund einer Ausnahme von der Regel ausgeschlossen wird. Das Problem stellt sich in den unter den Varianten b) und c) genannten Situation anders dar. Der Unterschied besteht darin, dass die Folgen in Form der Körperverletzung oder sogar des Todes eines Wettkämpfers nicht unvermeidlich sind, sondern lediglich mehr oder weniger wahrscheinlich. Man kann das Risiko tolerieren, dass ein wertvolles Rechtsgut eines konkret genannten (bezeichneten) Subjektes verletzt wird, die Sicherheit dieser Rechtsgutsverletzung jedoch nicht 22. Man kann also eine Regel aufstellen, dass je größer das Ausmaß der Folgen ist, desto geringer sollte die Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung der Folgen sein 23. 21

Auch wenn der Geschädigte damit sozusagen einverstanden wäre. Um die besprochene Frage zu verdeutlichen, kann man sich auf den Straßenverkehr beziehen und hierbei berücksichtigen, dass die Zahl der Toten und Verletzten im Straßenverkehr in einem bestimmten Zeitrahmen (z.B. in der Zeit der Wochenendausflüge) durch Statistiken ex ante relativ genau prognostiziert werden kann. Wenn die potentiellen Opfer nicht anonym gewesen wären, sondern bereits ex ante benannt werden könnten, so könnte ihr Tod oder Gebrechen auf keinen Fall zu den Folgen innerhalb der Grenzen des erlaubten Risikos gezählt werden. Vgl. Jakobs (ob. Fn. 20), S. 201. Ein spezifisches Paradoxon ist, dass wir damit einverstanden sind, dass im Rahmen des sog. erlaubten Risikos (bezüglich des Straßenverkehrs) jeden Tag Hunderte von Menschen in Verkehrsunfällen ums Leben kommen, man aber dagegen protestieren müsste, wenn nur eine bestimmte Person sterben müsste, damit der Straßenverkehr weiter funktionieren könnte. 22

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Wenn jedoch der Tod eines Wettkämpfers oder eine ernsthafte Verletzung seiner Gesundheit als eine sichere oder wenn auch nur sehr wahrscheinliche Folge des Boxkampfes feststehen sollte, so würde jede Begründung für die gesellschaftliche Akzeptanz für eine so gefährliche Sportart scheitern. Es ist sogar zweifelhaft, ob eine solche Art der Betätigung noch als Sport bezeichnet werden kann. Wenn also der Sportwettstreit das Risiko des Eintretens von so ernsthaften Folgen wie die Verletzung von Gütern wie Leben und Gesundheit beinhaltet, so muss es auf ein sehr geringes Maß beschränkt werden, damit wir bereit sind, es zu akzeptieren. Als Gesellschaft sind wir zwar damit einverstanden, bei manchen Sportdisziplinen (u.a. Boxen) das menschliche Leben und die Gesundheit aufs Spiel zu setzen, jedoch unter der Bedingung, dass bei Einhaltung bestimmter Sorgfaltsregeln das Ausmaß dieser Gefahren 24 innerhalb akzeptabler Grenzen stattfindet. Nun ist noch der Frage nachzugehen, wie man aus strafrechtlicher Sicht das Verhalten eines Sportlers (z.B. eines Boxers) beurteilen soll, wenn es infolge eines entsprechend den geltenden Regeln durchgeführten Kampfes zu einer Verletzung des Gegners kommt, sich also die als relativ gering eingeschätzte Wahrscheinlichkeit einer Verletzung realisiert. Grundsätzlich besteht natürlich kein Zweifel daran, dass ein Sportler in solch einem Fall strafrechtlich nicht haften soll. Welche Begründung trägt aber diesen Haftungsausschluss – die mangelnde Tatbestandsverwirklichung, oder – wofür sich die Mehrheit in der polnischen Strafrechtslehre auszusprechen scheint – das Eingreifen eines Rechtfertigungsgrundes? Im Folgenden sollen die Argumente für die unterschiedlichen Lösungen gegeneinander abgewogen werden. Zunächst soll die Rechtfertigungslösung analysiert werden. Die Behauptung, dass ein Täter, der einen Menschen tötet oder eine schwere Körperverletzung verursacht – auch wenn dies während eines Sportkampfes stattfindet – nicht tatbestandsmäßig handelt, sein Verhalten also an sich legal sei, kann in der Tat verwundern und empören. Aus strafrechtlicher Sichtweise wäre die Tötung eines Menschen dann so relevant wie z.B. die Tötung einer Mücke. Wenn also bspw. ein Boxer während des Sportwettkampfes seinem Gegner einige äußerst schwere Schläge versetzt (was doch zum Wesen dieser Disziplin gehört), deren Folge der Tod des Gegners wäre, so wäre auf den ersten Blick die Behauptung, dass der Boxer mit seiner Handlung überhaupt keinen Tatbestand verwirklicht, überraschend und gegen unsere Intuition gerichtet. Wohl ausschließlich aus diesem Grund wird der Ausschluss der strafrechtlichen Haftung eines Boxers (genau23 Es ist auch klar, dass für die ex ante Beurteilung des Täterverhaltens das Ausmaß der damit hervorgerufenen Folgen nicht belanglos ist, wobei die Abhängigkeit zwischen den tatsächlichen Folgen des Verhaltens und seiner Beurteilung direkt proportional zu sein scheint. Je ernsthafter die Folge ist, desto stärker ist die Tendenz, dem Verhalten des Täters Merkmale der Unvorsichtigkeit zuzuschreiben. 24 Wenn von Gefahr gesprochen wird, ist die Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer negativen Folge gemeint.

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er – der Rechtswidrigkeit seines Verhaltens) in den Erwägungen vieler Autoren mit der Notwendigkeit der Konstruktion eines Rechtfertigungsgrundes in Form des erlaubten Sportrisikos verbunden. Dieses ist – wie bereits besprochen wurde – nicht bloß ein gewöhnliches Risiko, das uns bei alltäglichen Handlungen oft begleitet. Außerdem wird angenommen, dass sich der Ausschluss der strafrechtlichen Haftung mit der Feststellung, dass durch Einhaltung der Sportregeln (mindestens teilweise) die Pflicht der erforderlichen Sorgfalt bereits erfüllt werde, nicht erklären lasse 25. Begründet wird dies damit, dass sportliche Betätigung nicht immer auf der Möglichkeit und der Notwendigkeit beruhe, die Regeln eines vorsichtigen Umgangs mit einem Rechtsgut einzuhalten. Manche Sportarten zielten sogar auf die absichtliche und bewusste Verletzung einer anderen Person ab. Dies sei bspw. beim Boxen der Fall, das auf den Knockout, der meistens zu einer schweren Körperverletzung des Gegners führt, abziele. Die Befürworter dieser Ansicht scheinen nicht wahrzunehmen, dass ein großer Teil der Sportregeln deswegen festgelegt werden, um das Risiko einer sportlichen Betätigung und damit auch die Gefahr, der die Rechtsgüter während eines Sportwettkampfes ausgesetzt sind, zu minimieren. Die Sportregeln werden doch nicht deshalb aufgestellt, um Verletzungen eines Rechtsgutes zu erleichtern (insbesondere wenn ein Sportler bewusst darauf abzielt), sondern um solche Verletzungen viel weniger wahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich, zu machen. Im Boxen gilt nämlich nicht die Regel der Nichtgefährdung des Gegners durch einen Knockout, so wie bei einer chirurgischen Operation nicht die Regel der Unverletzbarkeit der Integrität des Körpers eines Patienten gilt (sonst wäre nämlich kein chirurgischer Eingriff möglich). Es sprechen folgende Argumente für die Feststellung, dass es in der oben beschriebenen Situation, d.h. im Fall der Verletzung des Rechtsguts infolge eines den geltenden Regeln entsprechenden und sich in den Grenzen des erlaubten Risikos haltenden Verhaltens des Sportlers, nicht zur Tatbestandsverwirklichung kommt: Von einem tatbestandsmäßigen Verhalten kann erst dann die Rede sein, wenn das Verhalten des Täters die sozial akzeptable Höchstgrenze des damit verbundenen Risikos überschritten hat. Der gesetzliche Tatbestand umfasst nämlich nicht jedes gefährliche Verhalten, sondern nur solches, das als unakzeptabel gefährlich eingestuft wird. Die Einhaltung der Sorgfaltsregeln bedeutet hingegen, dass eine Tat innerhalb der sozial akzeptablen Verhaltensarten stattfindet. Wenn wir bereit sind, verschiedene Arten oder Formen von Aktivitäten zu unternehmen, die an sich riskant sind, d.h. zur Verletzung von rechtlich geschützten Gütern führen können (z.B. Sport), so geht unserer Akzeptanz doch die Erwägung voraus, ob – erstens – ein solches Risiko notwendig ist (d.h. ob eine bestimmte Art der 25

Buchała, Prawo karne (ob. Fn. 15) [Strafrecht ...], S. 284.

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Tätigkeit sich nicht so gestalten lässt, dass, ohne ihren sozialen Sinn zu leugnen, die damit verbundene Gefahr beseitigt wird) und – zweitens – ob es sich für die erwarteten oder gewonnenen Vorteile überhaupt lohnt, ein Risiko einzugehen. Wenn wir also eine bestimmte Sportdisziplin akzeptieren, können wir nicht gleichzeitig in den für diese Disziplin typischen Handlungen Tatbestandsverwirklichungen sehen 26. Die Beurteilung der Handlung eines Sportlers als primär oder sekundär gesetzmäßig kann auch nicht von ihren Folgen abhängig gemacht werden. Diese Argumentation würde darauf hinauslaufen, das an sich akzeptierte Verhalten eines Boxers, das auf das Versetzen von möglichst starken Schlägen mit dem Ziel des Besiegens des Gegners zielt, unterschiedlich und abhängig davon zu beurteilen, ob es eine Körperverletzung zur Folge hat. Wenn zu den tolerierten Zielen eines Sportwettkampfes das Treffen des Gegners mit einer möglichst großen Anzahl von möglichst starken Schlägen gehört, so kann ein Verhalten, das dieses Ziel realisiert, aus strafrechtlicher Sicht nicht anders beurteilt werden. Mit anderen Worten – wenn wir ex ante die Gefahr einer negativen Folge akzeptieren (und wir im Fall eines erstklassigen Wettkämpfers sogar im gewissen Sinne erwarten, dass die von ihm hervorgerufene Gefahr möglichst groß ist), dann können wir die strafrechtliche Beurteilung eines solchen Verhaltens ex post nicht modifizieren (verschärfen), wenn die negative Folge tatsächlich eintritt. Es wäre doch ein Zeichen von Heuchelei, wenn wir von einem erstklassigen Boxer das Niederschlagen des Gegners erwarten würden und dann im Falle des erwarteten Knockout feststellen müssten, dass er tatbestandsmäßig gehandelt hat und wir nun sein Verhalten „großzügig“ rechtfertigen können. Wenn also ein bestimmtes Verhalten, das ein gewisses Gefahrpotential beinhaltet, grundsätzlich erlaubt ist, dann kann es auf Grund des Eintritts von typischen Folgen, deren Wahrscheinlichkeit ex ante wahrgenommen und toleriert wurde, ex post nicht verboten werden. Im Fall des erlaubten Risikos ist von entscheidender Bedeutung, ob das risikoreiche Verhalten in typischen und erwarteten Situationen vorgekommen ist oder nicht. Eine Handlung innerhalb der Grenzen des erlaubten Risikos ist aufgrund ihres Wesens mit der Notwendigkeit der Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt verbunden. Ein Täter der unvorsichtig handelt, muss diese Grenzen unvermeidlich überschreiten. Es ist selbstverständlich, dass die Einhaltung der Grenzen des erlaubten Risikos die rechtswidrige Tatbestandsverwirklichung beseitigt und zwar unabhängig von der Art und dem Ziel der Aktivität des Täters. Mit anderen Worten bedeutet die Nichtüberschreitung der Risikogrenzen die Einhaltung der in einer Situation

26 Ist eine Handlung sozial anerkannt (wie etwa das Fußballspielen), können einige Risiken toleriert werden. Wird also ein Zuschauer durch einen ins Publikum fliegenden Ball verletzt, ist dieser Erfolg dem Spieler nicht zuzurechnen. Vgl. Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1992, S. 689.

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erwarteten und erforderlichen Sorgfalt. Dieser Zusammenhang belegt ebenfalls die Unmöglichkeit, dem Täter die Tatbestandsverwirklichung zuzurechnen, auch wenn sein Verhalten negative Folgen verursacht. Ein Rechtfertigungsgrund ist dann unnötig. Demgegenüber könnte man über einen Rechtfertigungsgrund für solche Situationen nachdenken, in denen der Täter aufgrund von besonderen und sein Verhalten rechtfertigenden Umständen bereits die Schwelle des tolerierten Risikos überschritten hat. 5. Es wurde bereits angesprochen, dass – nach der im polnischen Schrifttum herrschenden Ansicht – die Zulässigkeit eines Sportrisikos zur Voraussetzung hat, dass die Handlung des Sportlers mit der Absicht, ein sportliches Ziel zu erreichen, verbunden ist. Der Wettkampf darf also bspw. nicht mit dem Ziel unternommen werden, sich an dem Gegner zu rächen. 27 Die Befürworter dieser Meinung nehmen eine strafrechtliche Haftung also auch dann an, wenn der Wettkämpfer ein unsportliches Ziel verfolgt, er aber im Übrigen nicht gegen die Regeln verstößt. Die Strafbarkeit wird dementsprechend subjektiv bestimmt. Wenn nämlich der Zweck der Handlung des Täters auch dann über die Begehung einer Straftat entscheiden soll, wenn man dem Täter objektiv nichts vorwerfen kann (weil es keine in einer Sportdisziplin geltende Verhaltensregel verletzt), so wird der objektive durch den subjektiven Tatbestand vollständig ausgefüllt. Die Anerkennung dieser Ansicht würde bedeuten, dass bei der vorsätzlichen Begehung einer Tat die Verletzung der im Sport geltenden Regeln für die Feststellung der strafrechtlichen Haftung bedeutungslos ist. Dieser Ansicht ist zunächst entgegenzuhalten, dass sie die Verletzung der im Verkehr geltenden Regeln als eine Voraussetzung der Tatbestandsverwirklichung grundlos ausschließlich auf fahrlässige Straftaten beschränkt 28. Zählt man aber zu den Voraussetzungen einer fahrlässig begangenen Tat die Sorgfaltspflichtverletzung oder – im weiteren Sinne – die Verletzung der Pflichten zur Einhaltung von Verhaltensregeln gegenüber dem Rechtsgut, die aufgrund des voraussehbaren Zusammenhangs zwischen einem riskanten Verhalten und seiner Folge formuliert sind, dann kann man bei einer vorsätzlichen Tatbegehung eine Pflichtverletzung gerade nicht deswegen ablehnen, weil der Täter eine Straftat bewusst bezweckt hat. Man kann natürlich nicht bestreiten, dass dann die Pflicht eines regelgerechten Verhaltens eher eine subsidiäre Rolle spielt, denn man muss den Täter nicht vor einer potentiellen Gefahr, die mit seinem Verhalten verbunden ist, warnen, wenn die Folge des Verhaltens vom Täter beabsichtigt ist. Mit anderen Worten: Es hat keinen Sinn, den Täter zu belehren, dass ein bestimmtes Verhalten nicht 27 Gubi´nski, op. cit. Im Prinzip wiederholen alle Verfasser, die über die Voraussetzungen des erlaubten Risikos schreiben, die Meinung von Gubi´nski. 28 Vgl. Zoll, Okoliczno´sci ... [Umstände ...], S. 35 und von demselben Autor – Odpowiedzialno´sc´ karna lekarza za niepowodzenie w leczeniu [Strafrechtliche Haftung des Arztes für misslungene Behandlung], S. 43; vgl. auch Giezek, Przyczynowo´sc´ (ob. Fn. 7) [Kausalität ...], S. 96ff.

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richtig bzw. für das geschützte Rechtsgut gefährlich ist, weil es in der Regel zu einer Rechtsgutsverletzung kommt, wenn sich der Täter nicht nur dieser kausalen Abhängigkeit bewusst ist, sondern diese auch nutzen will. Deswegen übt die oft in Form von verschiedenen Verhaltensregeln festgelegte Sorgfaltspflicht nur bei fahrlässigen Straftaten eine Vorwarnfunktion aus, indem sie es gleichzeitig erlaubt, dem Täter vorzuwerfen, dass er die mit seinem Verhalten verbundene Gefahr hätte erkennen können, wenn er die in einer so formulierten Pflicht enthaltene Vorwarnung nicht missachtet hätte 29. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Zurechnung einer vorsätzlichen Tatbestandsverwirklichung unabhängig davon möglich ist, ob sich der Täter objektiv vorsichtig benimmt (d.h. wenn er gegen keine der Verhaltensregeln verstößt). Die objektive Unrichtigkeit des Täterverhaltens kann nämlich nicht von seiner subjektiven Einstellung abhängig gemacht werden. Mit anderen Worten: Die Nichteinhaltung der im Verkehr geltenden Verhaltensregeln wird nicht nur dann relevant, wenn von einer fahrlässig begangenen Straftat die Rede ist, denn sie sollen dieselbe Funktion auch in Bezug auf eine vorsätzlich begangene Straftat ausüben. Andernfalls müsste man zu dem Schluss gelangen, dass bspw. für die Zurechnung einer vorsätzlichen Tötung – außer der Feststellung der kausalen Verursachung der Todesfolge – schon die Absicht des Täters zur Tötung genügt, während die Feststellung, dass der Tod fahrlässig verursacht wurde, nur in Bezug auf andere (meistens außergesetzliche) Sorgfaltskriterien Bestand haben könnte. Die hier dargestellte Analyse scheint auch bei der Festlegung der Voraussetzungen des erlaubten Sportrisikos von Bedeutung zu sein. Kann ein objektiv richtiges Verhalten eines Sportlers nicht von dem subjektiv Gewollten abhängig gemacht werden, dann bleibt unklar, warum ein Element des subjektiven Tatbestandes (d.h. das sog. Sportziel) über die Zulässigkeit des Risikos entscheiden soll. Auf Grund dieses dogmatischen Gesichtspunkts scheint es überzeugender zu sein, den Zweck eines Wettkampfes – auch wenn er unsportlich ist – für die Haftung unberücksichtigt zu lassen, soweit sich der Sportler objektiv richtig verhalten hat, d.h. keine konkret geltenden Sportregeln verletzt hat. Ein Boxer, der unter Einfluss der durch den Kampf hervorgerufenen Emotionen seinen Gegner töten will, jedoch seine Schläge entsprechend den geltenden Regeln platziert, muss sich nicht für die Tötung verantworten, auch wenn sein Gegner infolge der während des Kampfes erlittenen Verletzung stirbt. 6. Die vorangegangene Analyse hat deutlich gemacht, dass – entgegen der in der polnischen Literatur verbreiteten Rechtfertigungslösung bei Sportverletzungen – das sorgfältige Verhalten eines Sportlers nicht als tatbestandsmäßig angesehen werden kann. Es ist nicht notwendig, die Konstruktion eines Rechtfertigungsgrundes dort einzuführen, wo schon die Verwirklichung des Tatbestandes fehlt, die strafrechtliche Verantwortung also gar nicht ausgeschlossen werden 29

Vgl. Bohnert, ZStW 94 (1982), S. 72ff.

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muss, da sie von Anfang an nicht in Frage gekommen ist. Am Rande ist hinzuzufügen, dass es für einen Sportler unverständlich wäre, dass sein ehrenvoller Sieg gleichzeitig die Verwirklichung eines Straftatbestandes bedeuten kann und sein Verhalten erst sekundär – nach dem Prinzip der Rechtfertigung, als Ausnahme von der Regel – gerechtfertigt wird. Nähme man dies an, so könnte man – freilich demagogisch zusammenfassend – sagen, dass die Helden des Sports (Weltmeister, Olympiasieger) potentielle Verbrecher sind.

Zu strafrechtlichen Fragen des Sportrechts Hans Joachim Hirsch I. Einleitung Andrzej J. Szwarc, dem dieser Beitrag zu seinem 70. Geburtstag gewidmet ist, hat sich sehr große Verdienste um die polnisch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen erworben. Er war einer der ersten polnischen Strafrechtslehrer, die trotz der Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts noch angespannten politischen Beziehungen den Kontakt mit deutschen Strafrechtlern aufnahmen. Vorzugsweise bestand der Kontakt zu dem von mir geleiteten Kriminalwissenschaftlichen Institut der Universität Köln. Der Jubilar ist damals häufig, auch gefördert von der Alexander von Humboldt-Stiftung, zu Forschungsaufenthalten in Köln gewesen, und ich bin alle eineinhalb Jahre zu Vorträgen nach Polen gefahren, wobei die Reisen regelmäßig über Pozna´n (Posen) führten. Neben dem großen Beitrag zur Normalisierung der Wissenschaftsbeziehungen zu Deutschland sind die auf Initiative von Szwarc in Zusammenarbeit mit der Alexander von Humboldt-Stiftung entstandenen polnisch-japanisch-deutschen Strafrechtlertreffen hervorzuheben. Der deutsche Bundespräsident hat Andrzej Szwarc mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Einen Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeiten des Jubilars bildet das Sportrecht. Schon in seiner Dissertation befasste er sich mit diesem Rechtsgebiet. Er ist auch Präsident der polnischen Vereinigung für Sportrecht. Im Folgenden soll die inzwischen umfangreiche sportrechtliche Literatur 1 kritisch gesichtet und die Lösung der aktuellen strafrechtlichen Fragen erörtert werden. Dabei ist auch die polnische Rechtslage in den Blick zu nehmen. II. Allgemein zum Verhältnis von Sport und Strafrecht 1. Der Sport nimmt heute im öffentlichen Leben sehr breiten Raum ein. Dabei geht es nicht nur um eigene sportliche Betätigung, sondern mehr noch um 1 Siehe das umfangreiche Schrifttumsverzeichnis bei Schild, Sportstrafrecht, 2002, S. 177 ff. Da der begrenzte Raum eines Festschriftbeitrags es unmöglich macht, jede einzelne literarische Äußerung zu zitieren, wird auch insoweit auf dieses Verzeichnis verwiesen.

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Passivsport, d. h. ein gewaltiges Zuschauerinteresse an sportlichen Darbietungen, insbesondere Fußballspielen. Presse und Fernsehen nehmen dabei einen herausragenden Platz ein. Juvenal brachte das Verlangen der Römer bekanntlich auf die Formel „Panem et circenses“. 2 Heute ließe sich in Deutschland von „Rente und Fußball“ sprechen. Die Kommerzialisierung ist im Sport weit fortgeschritten. Die Berufssportler stehen im Mittelpunkt des Interesses. Und betrachtet man deren Gehälter, haben diese in einer Größenordnung, wie sie bei Spitzenmanagern der Wirtschaft üblich sind, inzwischen auch im Profisport, vor allem beim Fußball, Einzug gehalten. Der den Sport mit dem Blick auf den aktiven Amateursport verklärende weitere Satz Juvenals „Mens sana in corpore sano“ 3 hat nur noch periphere Bedeutung, wenn er nicht überhaupt schon durch „social correctness“ verdrängt worden ist. Aus allen diesen Gründen hat der Gegenstand des Sportrechts wenig mit Erhabenem, besonders Moralischem oder ethisch Hervorzuhebendem zu tun. Es geht vielmehr um einen Ausschnitt aus dem alltäglichen zeitgenössischen Sozialleben. Die juristischen Analysen sollten ohne jegliches Pathos und Überhöhung in fachlich gebotener Nüchternheit erfolgen. 2. Man hat beklagt, dass der Sport zunehmend rechtlich reglementiert werde. Aber auch wenn die interne Einflussnahme der Sportverbände zunimmt – bis hin zu eigenen Verbandsgerichten –, lässt sich für Deutschland eine anwachsende staatliche Rechtssetzung auf diesem Gebiet nicht feststellen. Kaum jemand erwägt ernsthaft ein Sportgesetzbuch, und auch die Bedenken, die gegen die Schaffung eines Anti-Doping-Gesetzes sprechen, werden bei uns gesehen. 4 Betrachtet man speziell das den Gegenstand dieses Aufsatzes bildende Strafrecht, so geht es bei ihm danach nur um den Verstoß gegen allgemeine, unabhängig vom Sportgeschehen bestehende Straftatbestände. Auch bei deren Anwendung auf Sportsachverhalte hält sich die deutsche Strafjustiz zurück. Das jedoch bedeutet nicht, dass man den Sport als „rechtsfreien Raum“ anzusehen oder in der Nähe eines solchen Freiraums anzusiedeln habe. Allerdings heißt es in Schilds Buch über Sportstrafrecht, dass der Staat den Sportbetrieb zulasse „in einen rechtsfreien, aber von der Verantwortung der maßgebenden Kreise getragenen (‚sittlichen‘) Bereich. Die letzte Beurteilung allerdings – ob ... die Sportverantwortlichen ... diese Freiheit (Freigelassenheit) missbrauchen – liegt bei den staatlichen Instanzen ... “. 5 Aber auch wenn man davon ausgeht, dass es im Sozialleben rechtsfreie Räume oder Ähnliches gibt, indem man beiseite lässt, dass auch solche Bereiche durch die verfassungsrechtliche Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützt und insoweit in die Rechtsordnung integriert sind, handelt es sich beim Blick auf den Sport hierbei nur um denjenigen Ausschnitt, der 2 3 4 5

Juvenal, Satire 10, 81. Juvenal, Satire 10, 356. Vgl. Schild (ob. Fn. 1), S. 12 m.w. N. Schild (ob. Fn. 1), S. 122.

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keine ernsten Risiken für die Rechtsgüter Dritter (vor allem die körperliche Unversehrtheit anderer) oder Belange der Allgemeinheit birgt. Sobald das aber doch der Fall ist, und dieser große Bereich steht im Vordergrund des juristischen Interesses, treten staatliche Normen in ihrer Ordnungsfunktion auf den Plan. Der vereinzelt im Strafrecht vertretenen Version der Lehre vom rechtsfreien Raum, nach der das Deliktsrecht sich in gewissen Kollisionsfällen neutral verhalten soll, 6 lässt sich nicht folgen, weil sie im Widerspruch zur Aufgabe des Deliktsrechts steht, wonach für diejenigen Güter, die das Recht als Rechtsgüter unter seinen Schutz genommen hat, Kollisionsregelungen von ihm zu treffen sind. 7 Können im Bereich des Sports Rechtsgüter anderer gefährdet werden, treten daher Rechtsnormen ins Blickfeld. Die Befürchtung, dass auf solche Weise Sportregeln zu Rechtsnormen aufgewertet und ausgedehnt werden, ist unbegründet, wie im folgenden noch aufzuzeigen sein wird. 3.a) Auch findet sich die Auffassung, dass die Regeln des Sports ein autonomes Rechtsgebiet bildeten, das den Regeln des Strafrechts vorgehe. 8 Wenn von „Sportstrafrecht“ gesprochen wird, mag das auf den ersten Blick darauf hindeuten, dass es sich um einen selbständigen Rechtsbereich handelt, der sich nach eigenen, vom allgemeinen Strafrecht unabhängigen Regeln richtet. Da wir auch mehrere andere Gebiete des Strafrechts kennen, die sich als Sondergebiete begreifen, geht es um eine über das Sportrecht hinausgehende Frage. Man denke insbesondere an das Verkehrsstrafrecht, das Medizinstrafrecht, das Steuerstrafrecht und das Wirtschaftsstrafrecht bis hin zum Aktien- und GmbH-Strafrecht. Diese Parallelen zeigen bereits, um was es sich handelt: nicht um Autonomie, sondern um Spezialbereiche des allgemein geltenden Strafrechts. Die Spezialität erklärt sich dabei regelmäßig damit, dass es sich um Gebiete handelt, bei denen das Strafrecht mit einem größeren außerstrafrechtlichen Gesetzes- und / oder Lebensbereich konfrontiert ist, der dem Teilgebiet das Gepräge gibt. Was den Einfluss auf den Inhalt des Strafrechts betrifft, kann dieser sich dabei nur auf variable strafrechtliche Bereiche beziehen. Es geht daher vor allem um den Besonderen Teil, und hier um Erweiterungen der Strafbarkeit, beispielsweise im Straßenverkehrsstrafrecht. Die Anforderungen an Vorsatz oder Fahrlässigkeit, die Schuldfähigkeit, die mittelbare Täterschaft und dgl. sind dagegen tabu. Sie gelten für die gesamte Strafrechtsordnung. 9 Denkbar wäre nur in dem für gesetzgeberisches Ermessen verbliebenen Bereich, dass Modifizierungen erfolgen. Man denke etwa an eine sich aus der speziellen Regelungsmaterie sich ergebende Erweiterung der strafausschließen6 Arthur Kaufmann, FS für Maurach, 1972, S. 327; ders., JuS 1978, 361, 366; auch Schild, JA 1978, 449 ff., 570 ff., 631. 7 Näher Hirsch, FS für Bockelmann, 1979, S. 89, 96 ff., 103 ff. 8 Eingehend zu den in diese Richtung gehenden verschiedenen Ansätzen und Sichtweisen siehe Schild (ob. Fn. 1), S. 25 und die dortigen umfangreichen Nachweise. 9 Näher Hirsch, FS für Spendel, 1992, S. 43, 46 ff., 55, und ders., ZStW 116 (2000), 835, 844, 847.

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den tätigen Reue, wie sie sich beispielsweise im Steuerstrafrecht findet. Dagegen ist der im Schrifttum zum Wirtschaftsstrafrecht aufgetauchte Gedanke abwegig, dass der Versuchsbeginn dort früher anzusetzen sei als im allgemeinen Strafrecht. Denn der Versuch beginnt seiner Natur nach mit dem unmittelbaren Ansetzen zu der verbotenen Handlung. 10 Alles Frühere sind Vorbereitungshandlungen. b) Die Mehrzahl der Spezialbereiche zeichnet sich dadurch aus, dass bei der Anwendung der dortigen Spezialvorschriften spezielle gesetzliche Regelungen des betreffenden Rechtsgebiets, z. B. des Straßenverkehrsrechts, Steuerrechts, Aktienrechts etc., eine Rolle spielen. Anders verhält es sich aber schon beim Arztrecht. Dort stehen die ärztlichen Kunstregeln – und damit zumeist keine Gesetzesnormen – im Vordergrund. Rechtlich dienen sie als Anhaltspunkt für die Beantwortung der Frage, ob ein Sorgfaltsverstoß, wie er für die rechtliche Fahrlässigkeitsfrage ausschlaggebend ist, vorliegt. 11 Auch im Bereich des Sports gibt es ein Regelwerk, das teilweise in Vorschriften der Sportverbände, also außerrechtlichen Regelungen, niedergelegt ist. Aber es besteht ein nicht unwesentlicher sachlicher Unterschied. Die medizinischen Kunstregeln sind von vornherein darauf gerichtet, Leib und Leben der Patienten zu sichern. Sie sind damit auf diese durch das Strafrecht geschützten Rechtsgüter bezogen. Vielfach anders verhält es sich dagegen bei den Sportregeln: Sie dienen primär der Festlegung der Modalitäten der jeweiligen Sportart; insoweit in der Funktion nicht anders als die Regeln eines Kartenspiels. Erst eine zweite Ebene besteht im Schutz der gegnerischen und eigenen Mitspieler. Das jedoch bedeutet für die Rechtsanwendung, dass nicht jeder Verstoß gegen die Sportregeln ein Anknüpfungspunkt für die Bejahung eines rechtlichen Sorgfaltsverstoßes sein kann, sondern immer auch geprüft werden muss, welche Funktion die betreffende Regel hat. Nur wenn die körperliche Schutzfunktion – unmittelbar oder mittelbar – berührt ist, bildet das sportliche Reglement Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage, ob eine für das fahrlässige Delikt erforderliche Sorgfaltswidrigkeit gegeben ist. Aber es handelt sich weder um originäre Rechtsnormen, 12 noch erfüllt die Übertretung schon stets die für eine deliktsrechtliche Sorgfaltswidrigkeit geltenden Maßstäbe. Was Letzteres angeht, ist eingehender als beim Verstoß gegen gesetzliche Verhaltensnormen, z. B. des Straßenverkehrsrechts, zu prüfen, ob die allgemeinen rechtlichen Voraussetzungen einer für das fahrlässige Delikt ausreichenden Sorgfaltswidrigkeit 10 Näher zum Versuchsbegriff: Hirsch, FS für Roxin, 2001, S. 711, 716 ff., und ders., GS für Vogler, 2004, S. 31, 33, 40 f. 11 Zur Indizwirkung bei der Fahrlässigkeit näher Ida, FS für Hirsch, 1999, S. 225, 229 ff. 12 Die Sportverbände sind keine Rechtsetzungsorgane, mögen die mächtigeren unter ihnen sich selbst auch dafür halten. Hinzu kommt, dass jeweilige Regeln nicht von Sportverbänden anerkannt zu sein brauchen. Sie können sogar lediglich ad hoc verabredet sein. Aber auch wenn sie keine originären Rechtsnormen darstellen, sind sie vielfach nicht rechtlich irrelevant, sondern ihre Nichteinhaltung kann Anknüpfungspunkt für die Prüfung des rechtlichen Sorgfaltsverstoßes sein. Zu weitgehend daher Schild (ob. Fn. 1), S. 53 ff., 58 ff., der von „rechtlicher Irrelevanz“ spricht.

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vorliegen – von der objektiven Voraussehbarkeit des Erfolges bis zu rechtlichen Risikoabgrenzungen. 13, 14 III. Körperliche Schädigung anderer bei der Sportausübung 1. Im Vordergrund der in Betracht kommenden Strafvorschriften stehen die Körperverletzungsdelikte, begangen an einem anderen Teilnehmer. Bei der Erörterung ist zu trennen zwischen gewöhnlichen Sportarten, wie z. B. Fußball, und Kampfsportarten im engeren Sinne, wie z. B. Boxen. Sehen wir uns zunächst den Bereich der gewöhnlichen Sportarten an. Es erhebt sich die Frage, ob es bei diesen sachentsprechend ist, wenn die herkömmliche Ansicht die Fälle, in denen trotz Einhaltung der Regeln der betreffenden Sportart Körperverletzungen eintreten, über rechtfertigende Einwilligung löst. 15 Namentlich Rössner hat jedoch aufgezeigt, dass der Rechtfertigungsgrund der Einwilligung außerhalb der Kampfsportarten i. e. S. nicht passt. 16 Zwar ist 13 Dazu, dass der Verstoß gegen Verhaltensregeln, seien sie rechtlich unvertypt oder auch vertypt, nicht zwingend besagt, dass im jeweiligen Fall eine Sorgfaltswidrigkeit hinsichtlich des geschädigten Gutes vorliegt, näher Lenckner, FS für Engisch, 1969, S. 490, 498 ff.; Roxin, Allg. Teil I, 4. Aufl. 2006, § 24 Rn. 16 ff.; Ida, FS für Hirsch, S. 225, 229 ff., 236 ff.; Hirsch, FS für Lampe, 2003, S. 515, 522. 14 Ist die Grenze überschritten, ist es Sache der staatlichen Gerichte und nicht allein von Verbands-„Gerichten“, sich mit den Fällen zu befassen. Das betont schon F.-C. Schroeder, in: Schroeder/Kaufmann (Hrsg.), Sport und Recht, 1972, S. 21, 40 f. 15 Für die herkömmliche Ansicht vgl. BayObLG NJW 1961, 2072, 2073; OLG Karlsruhe NJW 1982, 394; Stree, in Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 228 Rn. 16; Horn, in: System. Kommentar StGB, 5. Aufl. 1991, § 226a Rn. 21 (anders aber Horn / Wolters, 7. Aufl. 2003, § 228 Rn. 21); Jescheck / Weigend, Allg. Teil, 5. Aufl. 1996, § 56 III 3; Günther, Strafrechtswidrigkeit und Unrechtsausschluss, 1983, S. 349 f.; Kühl, Allg. Teil, 5. Aufl. 2005, § 17 Rn. 84. Auch für diejenigen Autoren, die abw. von der herkömmlichen dualistischen Einwilligungslehre des Allgemeinen Teils generell nicht zwischen tatbestandsausschließender und rechtfertigender Einwilligung trennen, sondern alle wirksamen Einwilligungsfälle als tatbestandsausschließend ansehen wollen (vgl. Roxin [ob. Fn. 14], § 13 Rn. 11 ff. m.w. N.), stellt sich die oben genannte Frage. Denn bei dieser geht es darum, inwieweit hier überhaupt die Einwilligung den sachentsprechenden Lösungsansatz bildet. Zur nicht zwischen tatbestandsausschließender und rechtfertigender Einwilligung unterscheidenden Auffassung siehe im übrigen die Übersicht über die gegen sie erhobenen Einwände und die Nachweise bei Hirsch, in: Leipziger Kommentar StGB, 11. Aufl. 1994, Vor § 32 Rn. 96 ff., und ders., FG für BGH, Band IV, 2000, S. 199, 214 f. 16 Rössner, FS für Hirsch, 1999, S. 313, 316 f., 319 ff. Auch in BGHZ 34, 355, 363; 63, 140 , 144 wird von einer „künstlichen Unterstellung“ gesprochen, sofern es sich nicht um ausgesprochen gefährliche Sportarten (wie Box- und Ringkämpfe) handelt. Näher zu den zivilrechtlichen Auffassungen: Fleischer, VersR 1999, 785. Rössner beschreibt die für die Einwilligungslösung verbliebenen Fälle der Kampfsportarten i. e. S. als „genuinen Kampfsport Mann gegen Mann“.

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dieser Rechtfertigungsgrund auch bei fahrlässigen Delikten möglich, denn es geht dort nicht um Einwilligung in den unvorsätzlichen Erfolg, sondern in die als sorgfaltswidrig zu bewertende und daher grundsätzlich verbotene riskante Handlung. 17 Aber vorliegend ist zu beachten, dass die zahlreichen Sportarten, die im Gegensatz zu den Kampfsportarten i. e. S. nicht auf Verletzung des Gegners zielen, zu den normalen Ausdrucksformen des Soziallebens gehören. Spiel und im Breitensport auch Gesundheitsförderung stehen im Vordergrund. Wer sich an ihnen beteiligt, verbleibt in einem der gewöhnlichen Risikobereiche des sozialen Lebens. Die Risiken stehen in einer Reihe mit denen des Straßenverkehrs, des Gebrauchs von Elektrizität oder Gas, der Benutzung einer Seilbahn oder eines Flugzeugs etc. Sie sind alltäglich und Teil der sozialen Interaktion. Als Ausschnitt aus dem allgemeinen Lebensrisiko fehlen die Voraussetzungen für ein bereits konkretisiertes Risiko und damit der Anlass für den Gedanken an eine besondere Einwilligung. Kommt es zu einem Körperverletzungserfolg (ggf. auch Todeserfolg), ohne dass die für den betreffenden Bereich bestehenden rechtlichen Grenzen überschritten sind, so fehlt es daher schon an der Verwirklichung des Unrechtstatbestands. 18 Einige Autoren wollen diese Überlegungen mit den Begriffen „erlaubtes Risiko“, „Sozialadäquanz“ oder „Sportadäquanz“ rechtlich erfassen. 19 Das entspricht zwar tendenziell der vorstehend vertretenen Auffassung, jedoch sind die Begriffe zu unscharf, um strafrechtlichen Anforderungen zu genügen. Der Begriff „erlaubtes Risiko“ ist wegen seiner unterschiedlichen Verwendung – von der Lehre von der objektiven Zurechnung bis zu den Rechtfertigungsgründen – zu unbestimmt, um klare Aussagen zu erreichen. 20 Die „Sozialadäquanz“ eignet sich erst recht nicht als systematischer Begriff. Sie ist gänzlich konturenlos; der Begriff behindert Gesetzgeber und Rechtsprechung zudem bei Veränderungen des Hergebrachten. 21 17 Näher Hirsch, FG für BGH, Band IV, S. 199, 217 f.; ders., FS für Lampe, S. 515, 533 f. mit Nachweisen zu den unterschiedlichen Lösungsansätzen. 18 Rössner (ob. Fn. 16), S. 319 ff., ihm folgend: Hirsch, in: Leipziger Kommentar StGB, 11. Aufl. 2000, § 228 Rn. 12. Siehe auch die in der folgenden Fn. 19 genannten Autoren, die aber begrifflich anders vorgehen und zudem eine monistische, nämlich nicht zwischen fehlender Tatbestandsmäßigkeit und – bei Kampfsportarten i. e. S. – rechtfertigender Einwilligung differenzierende Sichtweise vertreten. 19 Zu den Auffassungen, die auf „erlaubtes Risiko“ als Rechtsfigur abstellen wollen, siehe die eingehenden Nachweise bei Schild (ob. Fn. 1), S. 109 ff. Von „Sozialadäquanz“ sprechen: Zipf, Einwilligung und Risikoübernahme im Sport, 1970, S. 93 ff.; Dölling, ZStW 96 (1984), 36, 55 ff. Auf „Sportadäquanz als Rechtsbegriff“ stellt ab: Schild (ob. Fn. 1), S. 118 f. 20 Rössner (ob. Fn. 16), S. 315. 21 Gegen die Verwendung des Begriffs „Sozialadäquanz“ als dogmatische Rechtsfigur näher Hirsch, ZStW 74 (1962), 78, 133 ff.; LK-Hirsch (ob. Fn. 15), Vor § 32 Rn. 29; Roxin, FS für Klug, Band II, 1983, S. 303, 310, 313; ders. (ob. Fn. 14), § 10 Rn. 37 ff., 42 (keine selbständige Bedeutung). Gegen eine Heranziehung auch speziell im Sportstrafrecht: Rössner (ob. Fn. 16), S. 320; Schild (ob. Fn. 1), S. 120 ff.; ebenfalls Jakobs, Allg. Teil, 2. Aufl. 1991, 7/128 Anm. 194 (der aber auf „finale Einwilligung“ abstellen will).

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„Sportadäquanz“ hat schon einen näheren Bezug zur Regelungsmaterie. Aber auch diesem Begriff fehlt die genauere systematische Verortung und inhaltliche Aussagekraft. Man stelle sich vor, es würde in allen Spezialbereichen des Strafrechts mit derartigen Generalklauseln gearbeitet, also mit Verkehrsadäquanz, Medizinadäquanz, Steueradäquanz, GmbH-Adäquanz etc. Kaum mehr als die Frage nach dem Gesuchten wäre mit ihnen nicht ausgesagt. Auch fällt es wie beim „erlaubten Risiko“ schwer, die Abstufung der Rechtfertigungsgründe vorzunehmen und deren genauere Merkmale nicht in einer solchen Generalklausel verschwinden zu lassen. Geht man von den dogmatischen Erfordernissen des fahrlässigen Delikts her an die Problematik heran, so handelt es sich dort um die Frage der hinsichtlich des verletzten Rechtsguts – hier der körperlichen Unversehrtheit oder auch des Lebens – einzuhaltenden objektiven Sorgfalt. Bei dieser Frage richtet sich der Blick von vornherein auf den entscheidenden Punkt: ob die Voraussetzungen einer als tatbestandlich-sorgfaltswidrig zu bewertenden Handlung in Bezug auf den eingetretenen Erfolg vorliegen. 22 Im Vorhergehenden wurde schon darauf hingewiesen, dass bei einer eintretenden körperlichen Verletzung nicht einfach auf die Nichtbeachtung einer Sportregel abgestellt werden kann, sondern dass die rechtlich erhebliche Sorgfaltswidrigkeit über den bloßen Widerspruch zu einer Sportregel hinaus verlangt, dass alle Voraussetzungen dieses Fahrlässigkeitserfordernisses vorliegen. Wenn jemand beim Fußballspiel einen gegnerischer Spieler mit den Händen beiseite schiebt und dieser dadurch so unglücklich stürzt, dass er sich ein Bein bricht, hat zwar gegen eine Spielregel verstoßen, aber ein strafrechtlicher Sorgfaltsverstoß liegt noch nicht vor. Es kommt vielmehr für das fahrlässige Delikt darauf an, dass auch dessen allgemeinen Kriterien und Maßstäbe, namentlich die objektive Voraussehbarkeit des Erfolges, gegeben sind. Die Maßstäbe dieser Anforderungen können je nach der Sportart unterschiedlich sein. Bei Sportarten direkter Konfrontation vom Handball und Fußball bis zum Eishockey sind sie verschieden hoch. Das den Regeln der Sportart entsprechende Risiko ist für die Beteiligten eines Eishockeyspiels höher als für die Teilnehmer eines Basketballspiels. Es erhebt sich die Frage, ob das Fahrlässigkeitserfordernis der objektiven Sorgfaltsverletzung nicht im Sportbereich noch darüber hinaus erfordert, dass ein bewusster Verstoß gegen eine die (unmittelbare oder mittelbare) Schutzfunktion aufweisende Sportregel vorliegt, der dann unvorsätzlich zu einer Körperverletzung des Gegners führt? Auf den ersten Blick erscheint das als willkommene Lösung zur Unterstreichung des ultima-ratio-Gedankens des Strafrechts. Aber man darf den 22 Treffend betont Rössner (ob. Fn. 16), S. 313, 319 f., 321 ff., dass es um diesen verhaltensorientierten Ansatz geht. Gegen Lösung mit Hilfe der Lehre von der objektiven Zurechnung ders., ebendort, S. 319 f. Da es um den in der Sorgfaltswidrigkeit liegenden Handlungsunwert geht, stellt sich die Frage im poln. StGB sowohl bezüglich des Tatbestands der fahrlässigen schweren Gesundheitsbeschädigung (Art. 156 § 2) als auch der fahrlässigen leichten Körperverletzung (Art. 157 § 3).

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Sportbereich nicht von den allgemeinen Fahrlässigkeitsanforderungen abkoppeln. Diese zeigen, dass ein Schwerpunkt strafbaren fahrlässigen Verhaltens gerade in der Unachtsamkeit besteht. Ein großer Teil der Exzesse im Sport erfolgt in der Hektik des Spiel- oder Wettkampfgeschehens, so dass die Täter sich im Tatzeitpunkt oft nicht des Regelverstoßes aktuell bewusst sind. Ein solches Bewusstsein wäre daher auch dort, wo es vorlag, häufig nicht nachzuweisen. Es zu fordern, würde mithin das fahrlässige Verhalten im Sportbereich grundlos gegenüber anderen Risikobereichen des Soziallebens privilegieren. Man denke an die Regeln des Straßenverkehrs oder an ärztliche Kunstregeln. Wer aus Unachtsamkeit über eine rote Ampel fährt und dadurch einen Unfall verursacht, erfüllt § 229 oder gar § 222 StGB ebenso wie der Arzt, der aus Unachtsamkeit eine Schlagader durchtrennt. Rössner nennt als Kriterien „grob“ und „ rücksichtslos“. 23 Diese Begriffe werden bekanntlich vom Gesetzgeber an anderen Stellen verwandt. „Grob“ bedeutet mit dem Blick auf Fahrlässigkeit, dass die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt worden ist, 24 und „rücksichtslos“ besagt nach ständiger Rechtsprechung, dass sich jemand aus eigensüchtigen Gründen über seine Pflichten gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern hinwegsetzt oder aus Gleichgültigkeit von vornherein Bedenken gegen sein Verhalten nicht aufkommen lässt und unbekümmert drauflos handelt. 25 Es geht also terminologisch bereits um rechtlich qualifizierte Verhaltensweisen. Sind die im Bereich des Sports anzulegenden rechtlichen Sorgfaltsanforderungen überschritten und ist damit Fahrlässigkeit gegeben, so besteht indes kein sachlicher Grund, die Strafbarkeit hier erst bei Fällen qualifizierten fahrlässigen Verhaltens beginnen zu lassen. Abzustellen ist vielmehr darauf, dass die allgemeinen rechtlichen Sorgfaltsmaßstäbe an die Charakteristika der jeweiligen Spielart anzulegen sind. Wenn jemand nicht mehr sportartspezifisch handelt, ist die Grenze zur Fahrlässigkeit überschritten. Fragen werfen daher spielarttypische Regelverstöße auf. Wie verhält es sich beispielsweise mit Fouls bei Fußballspielen, wenn diese einen Körperverletzungserfolg zur Folge haben? Hier hat man zu berücksichtigen, dass Fouls bei Kontaktsportarten wie Fußball oder – besonders anschaulich Eishockey – spielbedingte Begleiterscheinungen sind. Spielleidenschaft, Übereifer, mangelnde Körperbeherrschung oder erschöpfungsbedingte Unkonzentriertheit sind typische Ursachen. Erst wenn sich nicht mehr von noch sportarttypischen Begleiterscheinungen sprechen lässt, sind hier die Grenzen überschritten. 26 Dabei ist zu beachten, 23

Rössner (ob. Fn. 16), S. 313, 324. Palandt-Heinrichs, BGB, 67. Aufl. 2008, § 277 Rn. 5; Jescheck / Weigend (ob. Fn. 15), § 54 II 2. 25 Vgl. BGHSt 5, 392, 395; st. Rspr. (dazu nähere Übersicht bei Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, § 315c Rn. 14). 26 Vgl. Rössner (ob. Fn. 16), S. 323 f.; Schild (ob. Fn. 1), S. 60, 120 f. Siehe auch die Angaben bei Fleischer, VersR 1999, 785, zum in- und ausländischen Zivilrecht. Es geht also strafrechtlich bis zu diesen Grenzen um Tatbestandsfragen, so dass nicht erst eine Opportunitätseinstellung nach § 153 oder gar § 153a StPO in Rede steht. 24

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dass die als noch spielarttypisch anzusehene Härte beim Spiel von Profimannschaften einen erheblich höheren Grad aufweist, als das bei Amateur- oder gar Schülermannschaften der Fall ist. Geht es um Profimannschaften wird bekanntlich beim Eishockey der Bereich der Typizität sehr weit gezogen, 27 und auch beim Fußball werden zur Körperverletzung führende Fouls und Tacklings nicht ohne weiteres dem § 229 StGB zugeordnet. Wenn auf Sportarttypizität abgestellt wird, bedeutet dies allerdings nicht, dass die Grenze erst dann erreicht ist, wenn das „Spiel“ nicht mehr als solches bezeichnet werden kann. Auch innerhalb eines anhaltenden Spielflusses kann ein einzelner Teilnehmer sie überschreiten. Außerdem ist es möglich, dass es an der Typizität deshalb fehlt, weil die Ausstattung eines Sportlers spielwidrige Risiken birgt, z. B. gefährliche Schuhe bei einem Fußballspiel oder ein gefährlicher Waffenzustand bei einem Fechtturnier. Anzusprechen bleibt noch der Punkt, wie es sich verhält, wenn bei den Kontaktsportarten, soweit sie noch keine Kampfsportarten i. e. S. sind, 28 vom Spieler das Risiko einer konkreten Verletzung des Gegners in Kauf genommen wird und damit Kriterien des dolus eventualis ins Blickfeld treten. So kann bei einem Profifußballspiel einem Abwehrspieler, der ein Foul begeht, klar sein, dass der gegnerische Spieler eine Beinverletzung davontragen könnte. Auch Hautabschürfungen und Hämatome des Gegners werden in Kauf genommen. Hier handelt es sich wie bei der Fahrlässigkeit noch um den Risikobereich (also nur die Möglichkeit des Erfolgseintritts). Es gilt daher das Gleiche wie bei der Fahrlässigkeit. Alles, was als sportarttypisches Risiko zu gelten hat, erfüllt in solchen Fällen noch nicht den Unrechtstatbestand. 29 Übrigens geht es dabei keineswegs um eine Besonderheit des Sportgeschehens. Vielmehr stellen sich auch in anderen Risikobereichen, z. B. dem Straßenverkehr, parallele Fragen. Wer sich innerhalb des unverbotenen Risikobereichs bewegt und sich dabei die Möglichkeit vorstellt, er könne andere verletzen, und dieses Risiko subjektiv in Kauf nimmt, hat auch im Falle eines Unfalls nicht den Tatbestand einer Körperverletzung erfüllt. 30 Handelt es sich beim Sport dagegen nicht mehr um typisches Risiko, sondern um Gewissheit mehr als unerheblicher Verletzung oder konkrete Zielgerichtetheit, so haben wir es mit einer tatbestandsmäßigen Vorsatztat zu tun. 27 So dass die Frage auftaucht, ob bei dieser Sportart nicht – teilweise – bereits die Grenze zu den Kampfsportarten i. e. S. überschritten ist. 28 Kontaktsportarten sind alle Sportdisziplinen, deren Ausübung ein unmittelbares Gegenüber mit dem Gegner erfordert, wie beispielsweise Fußball. Sie sind zu unterscheiden von den deliktsrechtlich weniger im Vordergrund stehenden Parallelsportarten (z. B. Leichtathletik oder Schwimmen), die keinen derartigen Kontakt aufweisen. Kampfsportarten i. e. S. (z. B. Boxen) sind die intensivste Form der Kontaktsportarten, da sie auf unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Gegners zielen. 29 Vgl. auch Schild (ob. Fn. 1), S. 119, 121 f., der dabei von „sportadäquatem“ Verhalten spricht. Enger offenbar Rössner (ob. Fn. 16), S. 321 ff., der sich nur auf das fahrlässige Delikt bezieht. 30 Zur Kategorie des „unverbotenen“ Verhaltens siehe Hirsch, ZStW 74 (1962), 78, 97 ff., 133 f., und ders., FS für Lenckner, 1998, S. 119, 136 f.

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b) Kampfsportarten i. e. S. wie Boxen, Ringen, Sumo und dergleichen unterscheiden sich von dem im vorhergehenden behandelten Bereich der zahlreichen gewöhnlichen Sportarten dadurch, dass sie darauf gerichtet sind, unmittelbar auf den Körper des Gegners einzuwirken. Beim Boxen geht es dabei regelmäßig um Körperverletzungen im Sinne des Deliktsrechts. Körperverletzung in Form einer körperlichen Misshandlung ist danach jede üble, unangemessene Behandlung, durch die mehr als unerheblich das körperliche Wohlbefinden beeinträchtigt oder sonst auf die körperliche Unversehrtheit eingewirkt wird. 31 Da es sich bei den Kampfsportarten i. e. S. nicht um das bloße Risiko einer körperlichen Einwirkung handelt, sondern deren gezielte Herbeiführung, lässt sich nicht mehr von einer gewöhnlichen Ausdrucksform des Soziallebens sprechen. Hier liegt vielmehr die vorsätzliche Verwirklichung einer Rechtsgutsverletzung vor. 32 Infolgedessen bedarf es zur Rechtmäßigkeit eines Rechtfertigungsgrundes, und das ist die konkludent erklärte Einwilligung, nämlich der Normverzicht auf den Schutz durch Körperverletzungsverbote. 33 Anders als bei den oben behandelten Fällen eines bloßen unbestimmten allgemeinen Risikos ist, veranschaulicht am Boxen, eine Konkretisierung auf den gegenseitigen Schlagabtausch gegeben. 34 Obgleich der einzelne Sportler willens ist, dass er bei dem Boxkampf möglichst wenige körperliche Treffer abbekommt, und diese ihm höchst unerwünscht sind, unterwirft er sich dem Kampfablauf. Er ist sich über die Natur des Faustkampfs im klaren, und er entscheidet sich für ihn. Fragen werfen auch hier die Fälle auf, in denen regelwidrige Schläge erfolgen. Die Problematik verlagert sich dabei von der Tatbestands- auf die Rechtfertigungsebene, mithin auf die Grenzen der Einwilligung. Ausschlaggebend ist, ob es sich um ein Verhalten handelt, bei dem sich noch von einem der Sportart eigenen Geschehen sprechen lässt. Dessen Grenzen sind überschritten, wenn der regelwidrige Schlag auf eine Verletzung zielt, deren Schweregrad über die mit 31

Lilie, in: Leipziger Kommentar StGB, 11. Aufl. 2000, § 223 Rn. 6 m.w. N. (h.M.). Vgl. zu dieser Differenzierung Rössner (ob. Fn. 16), S. 317, 319, 321 ff., auch schon die erwähnten zivilrechtlichen Entscheidungen BGHZ 34, 355, 363; 63, 140, 144. Zu Autoren, die dagegen eine ausschließliche Tatbestandslösung vertreten wollen, siehe Nachweise oben Fn. 19 und näher Schild (ob. Fn. 1), S. 117 ff., der bei allen Sportarten auf tatbestandsverneinende „Sportadäquanz“ abstellen will. 33 Nur insoweit lässt sich also der herkömmlichen Einwilligungslösung folgen. Im Unterschied zu dieser ist mithin zu differenzieren zwischen der bereits die Tatbestandsmäßigkeit verneinenden Lösung für das weite Feld der gewöhnlichen Sportarten und der auf rechtfertigende Einwilligung abstellende Lösung für Kampfsportarten i. e. S. Im Unterschied zum deutschen StGB, das in § 223 körperliche Misshandlung und Gesundheitsbeschädigung unter den Oberbegriff Körperverletzung in einem Grundtatbestand zusammenfasst, differenziert das poln. StGB zwischen schwerer Gesundheitsbeschädigung (Art. 156) und mit niedrigerer Strafe bedrohten sonstigen körperlichen Beeinträchtigungen (Art. 157), wobei weiter abgestuft wird danach, ob die Beeinträchtigung länger als 7 Tage andauert oder nicht (siehe § 1 und § 2 jener Vorschrift). Die vorliegend zur Erörterung stehenden Probleme stellen sich für das poln. Strafrecht jedoch in gleicher Weise. 34 Rössner (ob. Fn. 16), S. 317. 32

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einem Boxkampf normalerweise verbundenen Körperverletzungen (Platzwunden, Blutergüsse, Schwellungen, Nasenbluten, Benommenheit oder auch Nasenbeinoder Kieferfraktur etc.) hinausgeht. 35 Ebenfalls sind sie überschritten, wenn einer der Partner den sportlichen Wettkampf in eine Schlägerei verwandelt. 2. Was die Verletzung Außenstehender, insbesondere Zuschauern, betrifft, geht es um die Voraussetzungen für das Vorliegen fahrlässiger Verletzung oder Tötung. Die Risiken können je nach der Sportart unterschiedlich groß sein. Man denke an Diskus- oder Speerwerfen, Kugelstoßen, Schießwettbewerbe und Motorrennen. Hier bilden neben den jeweiligen Sportregeln die polizeirechtlichen Vorschriften und Auflagen die Anknüpfungspunkte für das Fahrlässigkeitserfordernis der Sorgfaltswidrigkeit. Sind sie eingehalten und ergeben sich auch keine Belege dafür, dass gleichwohl nach den konkreten Umständen der Erfolgseintritt nahe lag, so fehlt es an der Sorgfaltswidrigkeit und damit an der Unrechtstatbestandsmäßigkeit des fahrlässigen Delikts. Beispiele für Sorgfaltswidrigkeit finden sich nicht selten bei der Fahrweise von Ralley-Teilnehmern. So sind – außerhalb Deutschlands – bei der Ralley Paris-Dakar von vornherein mehrere tote Zuschauer einkalkuliert. Ebenfalls kommen die Formel 1-Autorennen in den Blick. Man denke an die Fälle, bei denen regelwidriges Beiseitedrängen von Konkurrenten zu schweren Unfällen führt, durch die leicht auch Zuschauer verletzt oder getötet werden. 3. Kann auch ein Kampf- oder Schiedsrichter mit dem Strafrecht in Konflikt geraten? Das Hauptbeispiel bildet der Kampfrichter, der einen Boxkampf nicht abbricht, obwohl ein Boxer so schwer angeschlagen ist, dass die Fortsetzung des Kampfes schwere Körperschäden oder sogar den Tod zur Folge hat. Um eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung oder Tötung durch Unterlassen bejahen zu können, müsste eine Garantenstellung vorliegen. Diese kann sich nicht aus Vertrag ergeben, da Vertragspartner des Kampfrichters nicht der Boxer, sondern der Veranstalter ist. Zu prüfen ist deshalb, ob sich aus der tatsächlichen Übernahme der in der Kampfrichterrolle bestehenden Leitung des Kampfes eine Stellung als Beschützergarant herleiten lässt. Dafür könnte sprechen, dass der Betreffende für den regelgerechten Ablauf des Kampfes verantwortlich ist. 36 Jedoch betrifft das ausschließlich die sportliche Seite. Eine besondere Garantenposition gegenüber der Person der Wettkämpfer und deren Rechtsgüter Leib und Leben lässt sich aus einer Kampfrichterstellung nicht ableiten. Hierbei ist zudem zu berücksichtigen, dass es dem betreffenden Boxer und – im Profiboxsport – seiner „Ecke“ (Trainer) jederzeit möglich ist, den Kampf ihrerseits zu beenden. 37 35 Sind die Grenzen der rechtfertigenden Einwilligung überschritten und liegt daher eine rechtswidrige vorsätzliche Körperverletzung vor, so kann bei Eintritt einer schweren Folge (schwere Körperverletzung oder Tod) angesichts der insoweit zumeist vorliegenden Fahrlässigkeit eine Strafbarkeit nach § 226 bzw. § 227 StGB in Betracht kommen. 36 Darauf wollen eine Garantenstellung stützen: Pfister, FS für Gitter, 1995, S. 731, 734 f., 738 f.; Schöntag, Rechtliche Probleme um den Sportschiedsrichter, Diss. Augsburg, 1975, S. 251 f. 37 Gegen Garantenstellung auch Schild (ob. Fn. 1), S. 129 f.

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Diskutiert wird ferner der Fall, dass der Schiedsrichter eines Fußballspiels weiterspielen lässt, obwohl ein Spieler verletzt am Boden liegt und dessen Zustand durch die Verzögerung verschlechtert wird. Ganz abgesehen davon, dass die Verzögerung in der Praxis nur kurze Zeit möglich wäre und deshalb die körperlichen Auswirkungen kaum zu Buche schlagen würden, tritt hier angesichts der Vielzahl der Spieler noch deutlicher hervor, dass eine Garantenstellung in Bezug auf den einzelnen Sportler ausscheidet. 38 Denkbar ist die Fallkonstellation, dass der Kampf- oder Schiedsrichter bestochen ist und deshalb zu Körperverletzungen führende Regelverstöße der von ihm begünstigten Seite nicht unterbindet. Aber auch in solchem Fall bleibt es dabei, dass sich aus der Funktion des Spielleiters keine deliktsrechtliche Garantenstellung ableiten lässt – wegen der unterschiedlichen Zielrichtung von „Vortat“ und Unterlassen auch keine aus vorangegangenem gefährlichen Tun. Die Sportler der benachteiligten Seite sind überdies frei in ihrer Entscheidung, wie lange sie sich an einem derartigen Spiel oder sonstigen Wettkampf beteiligen wollen. IV. Nötigung bei der Sportausübung Bei Kontaktsportarten und hier noch besonders deutlich bei Kampfsportarten i. e. S. wie Ringen, Sumo etc. wird Zwang gegenüber dem Gegner ausgeübt. Es ist dabei klar, dass strafbares Nötigungsunrecht kaum einmal in Betracht kommt. Wie lautet jedoch die dogmatische Begründung? In Fällen von Kampfsportarten i. e. S. wird Gewalt durch physische Einwirkung auf den Gegner angewandt. Aber das Tatbestandsmerkmal „nötigt“ ist nicht erfüllt. Dieses verlangt ein Handeln gegen den Willen des Betroffenen. 39 Aus den gleichen Gründen, die im vorhergehenden bei Kampfsportarten i. e. S. das Vorliegen einer konkludenten Einwilligung in Körperverletzungen stützten, ist ein solches einverständliches Inkaufnehmen auch hier gegeben, wobei sich die Frage nur bereits auf die Tatbestandsebene verlagert. Geht es um Sportarten, die keinen physisch einwirkenden Zwang zum Inhalt haben, sondern sich mit psychisch vermitteltem Zwang begnügen – z. B. beim Fußball verstellt ein Verteidiger einem gegnerischem Stürmer den Weg –, ist schon fraglich, ob überhaupt „Gewalt“ im Sinne der Strafgesetze vorliegt. Bekanntlich hat der Bundesgerichtshof den Gewaltbegriff beim Nötigungstatbestand aus Anlass der Sitzblockaden-Fälle stark ausgedehnt. 40 Gegenüber dieser Entwicklung erheben sich jedoch nach wie vor Bedenken. Das Gesetz verwendet den Gewalt38

Zu diesem Fall auch ausdrücklich ablehnend Schild (ob. Fn. 1), S. 130. Eser, in: Schönke / Schröder, 27. Aufl. 2006, § 240 Rn. 1 und 13 m.w. N. (h.M.). 40 BGHSt 23, 46, 53 f.; 32, 165, 180 f.; 35, 270, 274; 41, 182, 185 f.; eingehend dazu Fischer (ob. Fn. 25), § 240 Rn. 11 ff. m.w. N. 39

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begriff an mehreren Stellen in gleicher Funktion, und dabei bestätigt sich, dass die engere, auf physische Einwirkung abstellende Interpretation der ratio legis entspricht. 41 Auch bedeutet die weite Auslegung, dass „Gewalt“ in § 240 StGB textwidrig auch Bereiche der Drohung (die tatbestandlich begrenzt ist) mit erfasst und dadurch der Tatbestandsumfang weit geöffnet wird. 42 Verbleibt man demgegenüber bei der „klassischen“ Auslegung des Begriffs, so kommt die Vorschrift im hier zur Erörterung stehenden Bereich zumeist schon deshalb nicht in den Blick, weil gar keine Gewalt vorliegt. Soweit aber auch außerhalb der Kampfsportarten i. e. S. physisch einwirkender Zwang vorkommt und ebenfalls, wenn man mit der Rechtsprechung schon Fallgruppen psychisch vermittelten Zwangs genügen lässt, fehlt es aus parallelen Gründen, wie sie oben zu Körperverletzungen dargelegt worden sind, bereits an einer tatbestandlichen Nötigungshandlung. Die Grenzen bestimmen sich dabei auch hier an der Sportarttypizität. 43 V. Körperverletzung durch Verabfolgung von Dopingmitteln an Sportler 1. Im Rahmen der heute besonders aktuellen Doping-Fälle sind in Bezug auf die Körperverletzungstatbestände Sachverhalte ins Blickfeld getreten, bei denen Dritte, insbesondere Ärzte und Trainer, den Sportlern leistungssteigernde Mittel beigebracht haben. Doping besteht nach der Definition des deutschen Sportbundes im Versuch der Leistungssteigerung durch die Anwendung (Einnahme, Injektion oder Verabreichung) von Substanzen verbotener Wirkstoffgruppen oder durch die Anwendung verbotener Methoden (z. B. Blutdoping). 44 Für das Vorliegen einer Körperverletzung genügt jedes Hervorrufen oder Steigern eines vom Normalzustand der körperlichen Funktionen des Opfers körperlich nachteilig abweichenden Zustands, d. h. einer, wenn auch nur vorübergehenden, pathologischen Verfassung (Gesundheitsbeschädigung) oder, wie schon betont, auch jede üble, unangemes41 Siehe die Rspr. zum Tatbestand der Sexuellen Nötigung, Vergewaltigung ( § 177 StGB), die dort an einem engeren Gewaltbegriff festhält; vgl. BGH NStZ 81, 218; 90, 335; 95, 230; BGH StV 05, 269, 270. 42 Zur Kritik an der Ausweitung des Gewaltbegriffs vgl. etwa Geilen, FS für H. Mayer, 1966, S. 445; Krauß, NJW 1984, 905; Wolter, NStZ 1985, 193; Hirsch, FS für Tröndle, 1989, S. 19, 20 ff. Zum gegenwärtigen Meinungsstand siehe die Nachweise bei Sch / SchEser (ob. Fn. 39), Vor § 234 ff. Rn. 6 ff. (der seinerseits den inzwischen auch im Schrifttum verbreiteten erweiterten Gewaltbegriff vertritt). 43 Angesichts der Existenz des – allerdings kaum dem verfassungsrechtlichem Bestimmtheitsgebot entsprechenden – § 240 Abs. 2 StGB wird man bei der praktischen Gesetzeshandhabung aber wohl auf diese Vorschrift, die sachlich ein Tatbestandsregulativ darstellt, zurückgreifen. 44 Vgl. § 2 Nr. 1 DSB-Rahmen-Richtlinien zur Bekämpfung des Dopings i.d.F. vom 1. 12. 2001.

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sene Behandlung, durch die mehr als unerheblich das körperliche Wohlbefinden beeinträchtigt oder sonst auf die körperliche Unversehrtheit eingewirkt wird (körperliche Misshandlung). 45 Es handelt sich um die unmittelbare oder ferne Wirkung des verabreichten Stoffes oder auch den zur Injektion oder Transfusion erforderlichen Einstich. Da es sich um die Verletzung einer anderen Person handeln muss, bleiben Fälle der Selbsteinnahme (Tabletten oder Selbstinjektion) außerhalb des Tatbestands, es sein denn, dass eine in mittelbarer Täterschaft begangene Fremdeinwirkung gegeben ist (z. B. wenn der das Doping-Mittel verschreibende oder zur Verfügung stellende Arzt oder Trainer, jedoch nicht der Sportler über die gesundheitlichen Folgeschäden im Bilde ist). Sind die Voraussetzungen einer tatbestandsmäßigen Körperverletzung erfüllt, bedarf es zur Rechtmäßigkeit einer wirksamen Einwilligung. Diese setzt voraus, dass der Betroffene freiwillig und in Kenntnis der Sachlage und Tragweite – insbesondere hinsichtlich der gesundheitlichen Risiken – mit der Beibringung des Mittels einverstanden ist, was eine genaue Aufklärung erforderlich macht. Besonders unerfreulich war die in der ehemaligen DDR geübte Praxis, junge Sportler zu dopen, die mangels Reife oder unterbliebener Aufklärung in Unkenntnis über die möglichen gesundheitlichen Folgen waren. Eine solche Unkenntnis hinsichtlich der Tragweite steht nach allgemeinen Grundsätzen einer rechtfertigenden Einwilligung entgegen. 46 In Fällen, bei denen der Sportler jedoch über die gesundheitlichen Risiken im Bilde ist, könnte man daran denken, dass dann jedenfalls Sittenwidrigkeit i.S. des § 228 StGB in Betracht kommt, weil der Wettbewerb verfälscht, die ehrlichen Sportler benachteiligt und auch das Publikum getäuscht werden. Die herkömmliche Ansicht im deutschen Strafrecht ging davon aus, dass für die Sittenwidrigkeit der Tat in erster Linie ausschlaggebend ist, ob die Körperverletzung zu einem nach sittlichem Urteil positiven oder negativen Zweck erfolgt. In letzterem Fall sollte nach dieser Zwecktheorie die Rechtfertigung ausscheiden. 47 Deren Voraussetzungen würden hier gegeben sein. Inzwischen hat sich jedoch die Auffassung durchgesetzt, dass die Sittenwidrigkeit der Körperverletzung rechtsgutsbezogen zu verstehen ist. 48 Sie liegt nach dieser als Rechtsgutslösung zu bezeichnenden Ansicht grundsätzlich vor, wenn die einverständliche Körperverlet45 Nachweise zu beiden Definitionen bei LK-Lilie (ob. Fn. 31), § 223 Rn. 12 und 6 (h.M.). 46 Vgl. BGHSt 4, 88; BGH NJW 1978, 1206; BayObLG NJW 1999, 372; st. Rspr; Amelung, ZStW 104 (1992), 525, 558. Eine wirksame Einwilligung kann in den einschlägigen Fällen auch nicht ersetzt werden durch gesetzliche Vertreter, Sorgeberechtigte oder Pfleger. Denn es geht hier um Entscheidungen höchstpersönlicher Natur und Tragweite. Vgl. Samson, in: System. Kommentar StGB, 5. Aufl. 1991, Vor § 32 Rn. 41a; Ahlers, Doping und strafrechtliche Verantwortlichkeit, 1994, S. 162. 47 BGHSt 4, 27, 31; RGSt 74, 91, 94; RG JW 1938, 30; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 325, 327; BayObLG NJW 1999, 372, 373; Eb. Schmidt, JZ 1954, 369; Welzel, Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 97; ausdrücklich auch § 152 E 1962. Weiterhin entschieden vertreten von Lackner / Kühl, StGB, 26 Aufl. 2008, § 228 Rn. 10 m.w. N.

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zung in einer schweren Körperschädigung besteht oder mit einer solchen Gefahr oder sogar Lebensgefahr verbunden ist. Solange das nicht der Fall ist, vielmehr Nachteile oder Risiken sonstiger Art bestehen, berührt das die Rechtfertigung der Körperverletzung nicht. Dies gilt allgemein und damit auch für die Dopingfälle. 2. Erfüllt eine Dopinghandlung nicht den Tatbestand der Körperverletzung, kann aber eine Strafbarkeit nach dem Arzneimittelgesetz und dem Betäubungsmittelgesetz in Betracht kommen. Im Arzneimittelgesetz (AMG) gibt es seit 1996 einen § 6a, der verbietet, Arzneimittel der im Anhang des Übereinkommens gegen Doping 49 bezeichneten Art zu Dopingzwecken im Sport in den Verkehr zu bringen, zu verschreiben oder bei anderen anzuwenden (Absatz 1). In einem Absatz 2a ist dies erweitert worden auf den Besitz solcher Arzneimittel in nicht geringer Menge zu Dopingzwecken im Sport. In § 95 Abs. 1 Nr. 2a und 2b BtMG wird das Zuwiderhandeln gegen die Verbote unter Strafe gestellt. Die Pönalisierung erstreckt sich auch auf Versuch (Absatz 2) und Fahrlässigkeit (Absatz 4). Das Merkmal „im Sport“ umfasst nach den Materialien jede sportliche Betätigung, also nicht nur Wettkämpfe, sondern beispielsweise ebenfalls Bodybuilding und körperliche Aktivitäten im Fitnessstudio. 50 Es handelt sich um ein sog. abstraktes Gefährdungsdelikt (genauer: Gefährlichkeitsdelikt). Ziel dieses Gesetzes ist nicht die Gewährleistung von fairem Wettbewerb im Sport, vielmehr geht es ebenso wie bei den anderen strafbewehrten Verboten des BtMG um die Sicherheit des Verkehrs mit Arzneimitteln und damit den Schutz der Volksgesundheit. 51 Strafrechtliche Fragen wirft § 95 Abs. 3 AMG auf, der für „besonders schwere Fälle“ der Arzneimitteldelikte eine erhebliche Strafschärfung vorsieht. Unter den Regelbeispielen findet sich nämlich, dass der Täter durch die Tathandlung einen anderen in die Gefahr des Todes oder schweren Schädigung an Körper oder Gesundheit bringt. Indem hier die Strafschärfung auf die konkrete Gefahr für eine Einzelperson abstellt, sind die insoweit geltenden allgemeinen strafrechtlichen 48 Vgl. BGHSt 49, 160, 170 f.; Fischer (oben Fn. 25), § 228 Rn. 9; LK-Hirsch (ob. Fn. 18), § 228 Rn. 8 f.; ders., ZStW 83 (1971), 140, 166 f.; ders., JR 2004, 475; Arzt, Willensmängel bei der Einwilligung, 1970, S. 36 ff.; Göbel, Die Einwilligung im Strafrecht, 1992, S. 55 f.; Otto, FS für Tröndle, S. 157, 168. Näher dazu und Nachweise zu den Nuancierungen der gegenwärtigen Diskussion siehe bei Hirsch, FS für Amelung, 2009, Abschn. III – V. 49 Europaratsübereinkommen gegen Doping; BT-Drucks. 12/4327. Deutschland ist 1994 diesem Übereinkommen beigetreten; Gesetz vom 2. 3. 1994 in BGBl. II S. 334. 50 Körner, Betäubungsmittelgesetz, Arzneimittelgesetz, 6. Aufl. 2007, § 95 AMG Rn. 24. 51 Darauf weisen hin: Pelchen, in: Erbs / Kohlhaas, Nebengesetze BtMG Rn. 1; Heger, SpuRt 2001, 92, 93; Schild (ob. Fn. 1), S. 171 und 173. Hinter diesem Sammelbegriff stehen zwar die Rechtsgüter Leib (Gesundheit) und Leben, aber der vorverlegte Schutz durch abstrakte Gefährlichkeitsdelikte besteht unabhängig vom Bezug auf ein konkretes Gut, weshalb eine Einwilligungsmöglichkeit des einzelnen Rechtsgutsinhabers bei dieser Deliktsgruppe ausscheidet.

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Grundsätze zu beachten. Das aber bedeutet, dass nur Fälle der Fremdgefährdung erfasst sein können. Nimmt jemand das an ihn durch den Täter des § 95 Abs. 1 BtMG gelangte Arzneimittel freiverantwortlich selbst ein, so ergibt sich daraus für jenen kein zusätzliches Unrecht. Es liegt bezüglich des Absatzes 3 eine straflose Teilnahme an einer Selbstgefährdung vor. Dieser Fall ist deshalb nicht als strafschärfend einzustufen. 52 Auch hinsichtlich des ebenfalls in § 95 Abs. 3 AMG genannten Regelbeispiels, dass das Arzneimittel an eine Person unter 18 Jahren abgegeben worden ist, kommt die eigenverantwortliche Selbstgefährdung in den Blick, wenn nämlich die betreffende Person ihrem Reifegrad nach bereits einsichtsfähig erscheint und das Arzneimittel von ihr selbst eingenommen wird. Angesichts der Unschärfe einschlägiger Einsichtsfähigkeit von Jugendlichen und dementsprechend auch der fehlenden Abschätzbarkeit durch die Täter ist es sinnvoll und rechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber eine am Normalfall orientierte abstrakte Altersgrenze vorsieht. Dies geschieht beispielsweise auch im Bereich der Einwilligung bei einigen Eingriffen. Abweichend von einer Schrifttumsmeinung ist daher gegen die uneingeschränkte Geltung dieses Regelbeispiels nichts einzuwenden. 53 Fällt das verwendete Dopingmittel sogar unter das Betäubungsmittelgesetz (BtMG), verwirklicht der Hersteller, Beschaffer, Verschreibende, Verabreichende oder zum unmittelbaren Gebrauch Überlassende sowie auch der Besitzer eine Straftat (§ 29 BtMG). Und ist der Empfänger, hier der zu dopende Sportler, noch keine 18 Jahre alt, liegt eine als Verbrechen eingestufte Straftat vor (§ 29a BtMG). 3. Die Frage, inwieweit die Verwendung von Dopingmitteln oder -methoden weitere Rechtsgüter, insbesondere das Vermögen, berühren kann, wird uns im folgenden noch zu beschäftigen haben. VI. Der Betrugstatbestand im Sport 1. Im Zusammenhang mit Verfehlungen im Sport tritt auch der Straftatbestand des Betrugs ins Blickfeld. Es geht vor allem um die Manipulation von sportlichen Wettbewerben. Die Fälle sind an sich nicht neu. In Deutschland erregte in den 70er Jahren der Bundesligaskandal großes Aufsehen. 54 Heute sind vor allem die Dopingfälle des Radsports 55 aktuell. Besondere Aufmerksamkeit erlangte bei 52 Hohmann, MDR 1991, 1117 f.; Nestler-Tremel, StV 1992, 273 ff. Anders BGHSt 32, 262, 265; 37, 179, 182; BGH JZ 2002, 150, 152 f.; Cramer / Sternberg-Lieben, in: Schönke / Schröder, 27. Aufl. 2006, § 15 Rn. 165 m.w. N. 53 Anders jedoch Heger, SpuRt 2001, 92, 94. 54 Siehe Wikipedia-Artikel „Bundesliga-Skandal“. 55 Sie traten vor allem durch die Tour de France ins Blickfeld. Aber auch andere Disziplinen des Hochleistungssports sind betroffen, z. B. die Leichtathletik.

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uns der Tour de France-Gewinner Jan Ulrich. Ihm wird sogenanntes Blutdoping vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft hat gegen Ulrich wegen Betrugs zum Nachteil der Deutschen Telekom, deren von ihr finanziertem Team er angehörte, ermittelt. Dieses Verfahren ist kürzlich im Wege einer Opportunitätseinstellung (§ 153a StPO) gegen Zahlung einer Geldbuße in Höhe von 250.000 Euro eingestellt worden. 56 Es erhebt sich jedoch die Frage, ob das Verhalten von Ulrich, falls das von ihm bestrittene Blutdoping zuträfe, überhaupt den Betrugstatbestand erfüllen konnte. Andrzej J. Szwarc hat kürzlich in einem in Deutschland erschienenen Festschriftbeitrag betont, dass durch „korrupte Verhaltensweisen im Sport“ nur selten die Voraussetzungen des Betrugstatbestands erfüllt werden. 57 Als in ihrem Vermögen Geschädigte kommen bei der Manipulation sportlicher Wettbewerbe die zahlenden Zuschauer, die zuständigen Vereine und Veranstalter, die Sponsoren und im Profibereich auch der Gegner in Betracht. 2. Betrachten wir anhand des Dopingvorwurfs gegen Ulrich zunächst die Frage, ob Sponsoren hier Opfer eines Betrugs sein können. Vor allen rechtlichen Überlegungen setzt dies voraus, dass überhaupt tatsächlich eine Täuschungshandlung und ein Irrtum vorliegen. Wenn die Sponsoren, wie das im Radsport der Fall ist, ihr eigenes Team organisieren und damit Einblick in die Gepflogenheiten der betreffenden Sportdisziplin haben, ergeben sich insoweit ernste Zweifel. Aber auch wenn man davon ausgeht, dass der den Werbeeffekt verfolgende Sponsor einen solchen Einblick nicht hatte, ging es ihm – jedenfalls noch zur damaligen Zeit – nur um den anerkannten Rang des geförderten Sportlers. Ob dieser zum Erreichen seiner Erfolge leistungssteigernde Mittel verwendete, lag außerhalb der Überlegungen des Sponsors, solange der Werbeeffekt gewährleistet war. 58 Deshalb kann wohl kaum davon die Rede sein, dass das Vorstellungsbild des Sponsors beeinflusst wurde, wie das für einen relevanten Irrtum im Sinne des Betrugstatbestands erforderlich ist. 59 Jedenfalls aber wäre dieser nicht kausal für die Zahlung des gesponserten Betrags gewesen. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, worin eigentlich der Schaden bestehen soll. Der Werbezweck ist ja dadurch erreicht worden, dass das Team bei dem Rennen unter dem Namen des finanzierenden Unternehmens fuhr. Es ging bei der Werbung darum, dass dem aktuellen Zuschauer auf den Fernsehbildern oder unmittelbar vor Ort der Name des Unternehmens erfolgsbezogen vor Augen 56

Siehe RP Online, Meldung vom 15. 4. 2008. Szwarc, FS für Tiedemann, 2008, S. 939, 944 f. 58 Zu weitgehend wollen Merstwerdt, Doping, Sittenwidrigkeit und staatliches Sanktionsbedürfnis?, 1997, S. 129 f., und Cherkeh, Betrug (§ 263 StGB) verübt durch Doping im Sport, 2000, S. 79 ff., 90 f., 128 ff., 208 ff., Täuschungshandlung und Irrtumserregung sowie ebenfalls die anderen Betrugsmerkmale bejahen. Dem hat sich auch Schild (ob. Fn. 1), S. 168 f. angeschlossen. 59 Zu diesem Erfordernis des Betrugstatbestands vgl. Cramer / Perron, in: Schönke / Schröder, 27. Aufl. 2006, § 263 Rn. 33 und 37; Tiedemann, in: Leipziger Kommentar StGB, 11. Aufl. 1999, § 263 Rn. 94. 57

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geführt wurde, gewissermaßen auf einer mobilen „Litfaßsäule“, was bei der damaligen Tour de France eindrucksvoll erreicht worden ist. Dem Fahrer Ulrich ist der Sieg bis heute auch nicht aberkannt worden. Dass der Sponsor sich veranlasst sah, sich nach dem allgemeinen Bekanntwerden der Dopingpraxis vom Radsport zurückzuziehen, bedeutet nur den Verzicht auf eine von vielen Werbemöglichkeiten, nicht aber eine Vermögensminderung. Angesichts dieser Rechtslage erscheint es bedenklich, dass das Verfahren gegen Ulrich von der Strafjustiz durch eine Opportunitätseinstellung (mit hoher Geldbuße) 60 und nicht durch eine gewöhnliche Einstellung mangels Verdachts einer Straftat (§ 170 Abs. 2 StPO) erledigt wurde. Inzwischen mehren sich im deutschen Strafverfahren leider die Fälle, in denen trotz großer Zweifel an dem Vorliegen der rechtlichen Erfordernisse einer Straftat die Einstellung an (zumeist hohe) Geldbußen geknüpft wird. Es erscheint dringend an der Zeit, dass die juristische Diskussion diese Justizpraxis stärker unter die Lupe nimmt. Das Nichtvorliegen eines Betrugs in der obengenannten Fallkonstellation bedeutet nun allerdings nicht, dass es sich bei anderer Sachlage ebenso verhält. Wenn Doping klar im Sponsoringvertrag ausgeschlossen ist – was bisher nicht geschehen war und auch heute nicht ohne weiteres anzunehmen ist – und infolge der Aufdeckung ein finanziell messbarer Imageschaden für den Sponsor eintritt, etwa dass noch in zeitlichem Zusammenhang mit der Tour de France der Fall aufgedeckt und zur Disqualifizierung und zum Ausschluss des Teams geführt haben würde, kann § 263 StGB in Betracht kommen. In solch einem Fall stünde der den Mitgliedern des Teams gesponserten Summe ein in der untauglichen Gegenleistung bestehender Schaden gegenüber. Dass die Vermögensverfügung (die finanzielle Zuwendung des Sponsors) vor dem disqualifizierenden Verhalten liegt, steht einem Betrug nicht entgegen, wenn die Zuwendungsempfänger entgegen der Vereinbarung nur eine manipulierte, disqualifizierende sportliche Leistung erbringen wollen. Kommen sie dagegen erst nach dem Erhalt des Geldes auf den Gedanken, ihre Leistung zu manipulieren, ist kein Betrug gegeben – mangels Garantenstellung auch kein Betrug durch Unterlassen, ebenso wenig wie im Grundsätzlichen sonst, wenn ein Schuldner sich später zur Nichterfüllung entschließt. Die Auffassung einiger Autoren, dass hier eine Garantenstellung auf ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen den Vertragspartnern gestützt werden könne, 61 entspricht nicht der Realität. Schild weist mit Recht darauf hin, dass dieses Kriterium für die „modernen extrem gewinnorientierten Geschäftsbeziehungen“ keine zutreffende Einschätzung darstellt. 62 Wollte man hier eine Garantenstellung annehmen, hätte dies unabsehbare strafrechtliche Konsequenzen für Vertragsverhältnisse außerhalb des Sports. 60 61 62

Siehe oben bei Fn. 56. Cherkeh (ob. Fn. 58), S. 96 ff.; Lackner / Kühl (ob. Fn. 47), § 263 Rn. 14. Schild (ob. Fn. 1), S. 168; ebenso Merstwerdt (ob. Fn. 58), S. 130.

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Was für das Sponsoring in den Doping-Fällen gilt, hat grundsätzlich auch für andere Manipulationen des Wettbewerbs im gesponserten Bereich zu gelten. Tritt der Sponsor im Unterschied zu den vorgenannten Fällen, in denen er selbst die Teamadresse bildet, ausschließlich als Finanzier eines Vereins oder eines Einzelsportlers in Erscheinung, so wird ihn zumeist ebenfalls ein geschäftliches Interesse leiten. Es geht daher auch hier darum, ob die vertraglich erwartete Gegenleistung erbracht wird. Diese erschöpft sich im Regelfall darin, dass ein aktueller Werbeeffekt (durch Firmenangaben an Balustraden oder T-Shirts etc.) zum Veranstaltungszeitpunkt erreicht wird. Seltener dürften dagegen die Sachverhalte sein, in denen den Sponsor rein sportbezogene Motive leiten. Auch hier stellt sich zudem die Frage, ob es ihm nur um den Erfolg des geförderten Sportlers geht oder ob dieser auch einwandfrei zustande gekommen sein soll. Ergibt der Zuwendungsvertrag eindeutig letzteres, aber ist die Integrität seitens des Sportlers nur vorgetäuscht, so kommt Betrug in Betracht. Der Schaden besteht in der verfälschten Leistung. Dass es für den Sponsor um ein ideelles Ziel geht, lässt unberührt, dass sportliche Leistungen, zumal im Profisport, einen wirtschaftlichen Wert haben können. Ebenso wie Arbeitsleistungen kann die persönliche sportliche Leistung zum Gegenstand einer vermögensrechtlichen Beziehung werden. 63 3. Geht es bei einem sportlichen Wettkampf auf der einen Seite nicht „mit rechten Dingen“ zu, zum Beispiel infolge Dopings, Kampf- oder Schiedsrichterbestechung, wird man aus sportlicher Sicht von einem „Betrug“ gegenüber dem Wettkampfgegner sprechen. Aber die Voraussetzungen eines strafbaren Betrugs, eines Vermögensdelikts, zum Nachteil des Gegners werden regelmäßig nicht erfüllt sein. Auch wenn man vom Vorliegen einer (konkludenten) Täuschungshandlung und einem durch sie auf der gegnerischen Seite erregten Irrtum ausgeht, müsste der getäuschte Gegner eine Vermögensverfügung vorgenommen haben. Die sportliche Leistung kommt dabei hier nicht in Betracht, auch wenn sie, man denke an den Profisport, eine vermögenswerte Leistung darstellen kann; denn diese wird hier gegenüber den Veranstaltern, nicht aber der Gegenpartei erbracht. Zu denken ist deshalb nur an das Unterlassen der Geltendmachung des dem Sieger zugesagten Preisgeldes, wenn das Spiel oder der sonstige Wettkampf zugunsten der täuschenden Seite entschieden worden sind, obwohl sie hätte disqualifiziert werden müssen. Jedoch scheidet jenes Unterlassen ebenfalls als Gegenstand der Vorteilsabsicht aus, da der beabsichtigte Vermögensvorteil, d. h. das Preisgeld, aus dem Vermögen des Veranstalters, nicht aber dem des Wettkampfgegners kommt. 64 63 Zur Möglichkeit, dass eine persönliche Arbeitsleistung durch den Vertrag zum Gegenstand einer vermögensrechtlichen Beziehung werden kann, näher BGH NJW 2001, 981; LK-Tiedemann (ob. Fn. 59), § 263 Rn. 139; Sch / Sch-Cramer / Perron (ob. Fn. 59), § 263 Rn. 96 m.w. N. 64 Cherkeh (ob. Fn. 58), S. 232; Otto, SpuRt 1994, 10, 15; Rössner, in: Digel (Hrsg.), Spitzensport, 2001, S. 55; Schild (ob. Fn. 1), S. 167. Dagegen wollen Betrug annehmen: Ditz, Doping im Pferderennsport, 1986, S. 507; Schneider-Grohe, Doping, 1979, S. 148.

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4. Eine weitere Frage lautet, wie es sich bei Sportmanipulationen mit einem Betrug zum Nachteil zahlender Zuschauer verhält. a) Beabsichtigt der veranstaltende Verein, der die Eintrittsgelder einnimmt, das Ergebnis des Wettkampfs, beispielsweise eines Fußballspiels oder Boxkampfs, zu manipulieren, indem etwa der Schiedsrichter bestochen oder eine spielverfälschende Verabredung mit dem Gegner getroffen wird, werden die Zuschauer über die Korrektheit des Spielverlaufs getäuscht. Hier erhebt sich aber die Frage, ob der dadurch entstandene Irrtum kausal für die Vermögensverfügung der zahlenden Zuschauer ist. Sobald die eigene Mannschaft begünstigt ist, wird die Inkorrektheit wohl von der Mehrheit verdrängt werden. Und was die benachteiligte Seite angeht, sind deren Anhänger zwar empört. Aber dies bedeutet nicht, dass sie deshalb das Spiel oder den sonstigen Wettkampf nicht gesehen haben wollten. Sie zahlen für die Veranstaltung als Gesamtereignis. Ebensowenig, wie ein inszenierter Theaterskandal bedeutet, dass sich die Zuschauer auf Betrug berufen können, vermag das eine sportlich inkorrekte Veranstaltung. Auch beim Sport gehören solche Skandale zum „Event“, für den man bezahlt. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Frage, ob ein Wettkampf annulliert wird oder nicht, von vielen Unwägbarkeiten abhängt. Ausschlaggebend dafür, dass Betrug in Betracht kommt, ist allein, ob der angekündigte Wettkampf geboten wird. Die Schwelle zu § 263 StGB wäre danach überschritten etwa bei Täuschungen über die Identität der angekündigten Sportler; z. B. wenn ein Veranstalter bewusst falsch einen zweitklassigen unbekannten Boxer aus den USA als einen bestimmten Weltmeister ausgibt oder wenn er eine ausländische Fußballmannschaft der Regionalliga fälschlich unter dem Namen eines bekannten Vereins des betreffenden Landes spielen lässt. Bei bloßen sportlichen Inkorrektheiten des Wettkampfs liegt dagegen aus den genannten Gründen noch kein Vermögensschaden der zahlenden Zuschauer vor. b) Ist die sportliche Verfehlung ohne Wissen der Veranstalter allein durch einzelne Sportler, den Schiedsrichter oder außenstehende Dritte erfolgt, so scheidet ein zum Nachteil der Zuschauer begangener Betrug auch deshalb aus, weil gegenüber diesen Personen keine Vermögensverfügung der Zuschauer stattfindet. 65 5. Es erhebt sich die Frage, ob in den letztgenannten Fällen nicht ein Betrug zum Nachteil des (gutgläubigen) benachteiligten Sportvereins gegeben ist. In Polen und in Deutschland haben sich spektakuläre Fälle ereignet, in denen Spieler oder Schiedsrichter zwecks Spielmanipulation bestochen worden sind. 66 Hier liegen 65 Ein Betrug zum Nachteil der Zuschauer wird auch einhellig abgelehnt; vgl. Cherkeh (ob. Fn. 58), S. 78; Linck, MedR 1993, S. 55, 61; Otto, SpuRt 1994, 10, 15; Rössner (ob. Fn. 64), S. 55; Schild (ob. Fn. 1), S. 168 m.w. N. 66 Zu den polnischen Fällen siehe Szwarc (ob. Fn. 57), S. 939. Zum deutschen Schiedsrichter-Skandal 2005 siehe Wikipedia „Fußball-Wettskandal 2005“ und BGHSt 51, 165. Es geht zumeist um Wettmanipulationen. Wie jüngst in der Tagespresse berichtet worden ist, greifen solche Fälle inzwischen auch im Welttennis um sich und haben Wimbledon erreicht, wo nach einem vom Tennis-Weltverband in Auftrag gegebenen Report vier Partien im Herren-Einzel 2007 nicht korrekt verlaufen sein sollen; vgl. FAZ vom 23. 6. 2008, S. 34.

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zwar eine Täuschungshandlung und Irrtumserregung seitens dieser Personen vor. 67 Die Betreffenden bewirken aber nicht, dass der benachteiligte Verein ihnen gegenüber eine Vermögensverfügung vornimmt. Belohnt werden sie vielmehr durch die interessierten Hintermänner, also aus einem anderen Vermögen. Ob sich daraus die Verwirklichung eines Straftatbestands der Bestechung ergibt, wird noch zu behandeln sein. 6. Schließlich ist bei sportlichen Manipulationen von Wettkämpfen noch zu denken an Betrug zum Nachteil von Teilnehmern des Fußball-Lotto oder sonstiger Sportlotterien. Dabei taucht jedoch schon das Bedenken auf, ob überhaupt eine Täuschungshandlung gegenüber diesem Personenkreis gegeben ist. Es gibt keine psychische Kommunikation zwischen Wettenden und Spielern. Das gilt klar für den Zeitpunkt des Kaufs des Lottoscheins oder den Abschluss einer sonstigen Sportwette. Aber auch bei der späteren Manipulation besteht kein konkreter Handlungskontakt zwischen Spielern und dem einzelnen Wettenden. Hinzu kommt, dass der manipulierende einzelne Sportler oder Schiedsrichter nicht Vertragspartner der Wettenden ist. Das ist vielmehr das jeweilige Lotterieunternehmen. Der in der Bezahlung des Wettscheins liegenden Vermögensverfügung steht als vertragliche Gegenleistung des Lotterieunternehmen die ausschließlich am offiziellen Spiel- oder Wettbewerbsergebnis orientierte Gewinnchance gegenüber. Die Frage, ob Inkorrektheit von Spielern oder Schiedsrichtern eine Rolle gespielt haben, ist daher hier unerheblich, weil sie sich nicht im offiziellen Wettkampfergebnis niedergeschlagen hat. Den Teilnehmern am Lotto oder sonstigen Sportlotterien entsteht mithin kein Schaden. 7. War im vorhergehenden von der Frage der Anwendbarkeit des Betrugstatbestands bei Spiel- und Wettkampfmanipulationen die Rede, so tritt sie auch noch ins Blickfeld bei Fällen, in denen wettende Personen inkorrekte Wetten abschließen. Der Bundesgerichtshof hatte sich mit einem Fall sog. Spätwetten zu befassen. 68 Es ging darum, dass Personen Wetten auf ausländische Pferderennen noch zu einem Zeitpunkt abschlossen, als ihnen im Gegensatz zum Wettbüro die Ergebnisse bereits bekannt waren. Der BGH hat Betrug mit der Begründung verneint, dass keine Täuschungshandlung vorliege. Demgegenüber nimmt die h.L. in Übereinstimmung mit der früheren Judikatur des Reichsgerichts 69 an, dass der Abschluss eines Spielvertrags schlüssig die Erklärung enthält, es sei einem der Ausgang des sportlichen Wettkampfs unbekannt. 70 Das Rechtsgeschäft enthalte 67 Zu konkludenten Täuschungen durch Korruption im Sport siehe auch Paringer, Korruption im Profifussball, 2001, S. 30 ff. 68 BGHSt 16, 120; später mit Fällen manipulierter Renn- und Fußballwetten: BGHSt 29, 165 und BGHSt 51,165. 69 RGSt 62, 415. 70 Bockelmann, NJW 1961, 1934; Triffterer, NJW 1975, 612, 615; Sch / Sch-Cramer / Perron (ob. Fn. 59), § 263 Rn. 16e; Lackner / Kühl (ob. Fn. 47), § 263 Rn. 9; Kindhäuser, in:

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schlüssig die Erklärung jener Umstände, die den Geschäftstyp ausmachen, d. h. die Geschäftsgrundlage bilden. Das leuchtet ein. Was die weiteren Betrugsmerkmale in solchem Fall angeht, ist unproblematisch, dass die Vermögensverfügung durch die Auszahlung des erschlichenen Gewinns erfolgt. Wenn das Wettbüro nur die Agentur eines größeren Lotterieunternehmens war, tut das nichts zur Sache, da es als Vertreter des Unternehmens handelte, so dass im Falle, dass der Gewinn von diesem Unternehmen überwiesen wird, Getäuschter und Verfügender ebenfalls identisch sind. Der Schaden besteht darin, dass der Gewinn ausgezahlt wird, obwohl aufgrund der arglistigen Täuschung ein zur Nichtigkeit des Vertrages führendes Anfechtungsrecht gegeben ist. 71 Auch liegen beim Täter der Vorsatz und eine entsprechende Vorteilsabsicht vor. Ein Betrug durch Täuschung der anderen Wettenden scheidet dagegen schon deshalb aus, weil ihnen gegenüber keine Täuschungshandlung vorliegt und zudem von ihrer Seite keine Vermögensverfügung an den Täter stattfindet. Auch ein Dreiecksbetrug, bei dem die Verfügung durch die vom Wettunternehmen vorgenommene Zahlung erfolgt, der dadurch bewirkte Schaden aber die Wettbeteiligten beträfe, kommt nicht in Betracht, weil das Wettunternehmen bei der Auszahlung nur hinsichtlich des eigenen Vermögens verfügt, nicht aber über das Vermögen der Kunden disponiert. VII. Bestechung im Sport Es wurde schon auf Fälle hingewiesen, in denen Sportler, Schiedsrichter oder ganze Vereine bestochen worden sind. Andrzej J. Szwarc hat – mit dem Blick auf das polnische Strafrecht – seinen schon erwähnten Aufsatz diesem Thema gewidmet. 72 Da es in freiheitlichen Staaten nur noch vereinzelt staatliche Sportorganisationen gibt, z. B. Reiter- oder Skiabteilungen des Militärs, und sportliches Wettkampfhandeln nicht als Diensthandlung einzustufen ist, haben die klassischen, das Amtshandeln betreffende Bestechungstatbestände hier kaum Bedeutung, jedenfalls nicht im deutschen und polnischen Strafrecht. 73 Anders könnte es sich mit dem Tatbestand der Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr (§ 299 StGB) verhalten. Hier stellt sich als erstes die Nomos-Kommentar StGB, 2. Aufl. 2005, § 263 Rn. 133; anders jedoch Faber, Doping als unlauterer Wettbewerb und Spielbetrug, 1974, S. 132; Weber, in: Pfister (Hrsg.), Rechtsprobleme der Sportwette, 1989, S. 39, 55. Für konkludente Täuschung in Fällen eines manipulierten Wettgegenstands auch der BGH (o. Fn. 68). 71 Vor diesem endgültigen Schaden kommen bereits eine Vermögensverfügung und ein Schaden durch die Eingehung eines solchen Vertrags in Betracht; vgl. BGHSt 51, 165, 174 ff. 72 Vgl. oben Fn. 57. 73 Zur nur geringen Bedeutung im polnischen Strafrecht näher Szwarc (ob. Fn. 57), S. 942 ff.

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Frage, ob ein Sportverein ein geschäftlicher Betrieb sein kann. Darunter versteht die h.M. jede auf gewisse Dauer betriebene Tätigkeit im Wirtschaftsleben, die sich durch Austausch von Leistungen und Gegenleistungen vollzieht. 74 Amateursportvereine scheiden deshalb wegen ihrer rein ideellen Orientierung von vornherein aus. Anders mag es beim Profisport liegen. Bei ihm sind deutlich wirtschaftliche Interessen im Spiel. Man denke an Vereine der Fußball-Bundesliga. Jedoch verlangt § 299 StGB für die Tathandlung, dass diese den Bezug von Waren oder gewerblichen Leistungen im Wettbewerb betrifft. Sportliche Leistungen sind weder das eine noch das andere. Ganz unabhängig davon ist das Beteiligtengeflecht bei § 299 StGB ein anderes als bei der Korruption im Sport. Nach der Vorschrift wird die Unrechtsvereinbarung mit einem Angestellten oder Beauftragten des geschäftlichen Betriebs abgeschlossen. Bei der Korruption im Sport findet sie dagegen typischerweise mit dem zwischen den Parteien stehenden Schiedsrichter, dem gegnerischen Verein oder dem als Einzelkämpfer (z. B. Boxer) auftretenden Sportler statt. VIII. Sind einschlägige Erweiterungen des Strafrechts notwendig? 1. Die Einführung eines besonderen Anti-Doping-Straftatbestandes zum Schutze der Gesundheit der Sportler ist nach den Ergebnissen dieser Untersuchung nicht erforderlich. Die Körperverletzungstatbestände einschließlich der für die rechtfertigende Einwilligung geltenden Grenzen sind insoweit ausreichend. Diese allgemeinen Vorschriften werden zudem noch ergänzt durch Strafvorschriften des Arzneimittelgesetzes und des Betäubungsmittelgesetzes. Wenn im Ausland eine besondere Strafvorschrift eingeführt worden ist, hat man darauf zu achten, ob und ggf. inwieweit sie überhaupt über diesen Bereich hinausgeht. So gibt es in Spanien neuerdings einen Art. 361 bis CP, der die am Doping beteiligten Dritten (Verschreibenden, Beschaffenden, Gewährenden, Anbietenden etc.) mit Strafe bedroht, wenn das Leben oder die Gesundheit des Sportlers gefährdet werden. Nur in dem Fall, dass es sich um eine einverständliche leichte Gesundheitsgefährdung handelt und in solchen Fällen keine Arzneioder Betäubungsmittel, sondern dopende Methoden (wie z. B. Blutwäsche) in Rede stehen, erstreckt sich die Strafbarkeit weiter. Aber unter dem Blickwinkel des Schutzes der Sportler wäre im deutschen Strafrecht eine derartige Erweiterung nicht mit der in § 228 StGB enthaltenen Dispositionsbefugnis vereinbar und ließe sich auch nicht in eine Reihe stellen mit den die Volksgesundheit betreffenden allgemeinen Schutzaspekten des Arzneimittelgesetzes und des Betäubungsmittelgesetzes. Was die Gewährleistung betrifft, dass es im Sport „mit rechten Dingen“ zugeht, hat sich im vorhergehenden gezeigt, dass das geltende Strafrecht dazu nur wenig 74

BGHSt 2, 396, 403; 10, 358, 366; Fischer (ob. Fn. 25), § 299 Rn. 4.

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bietet. Hinsichtlich des Vermögensschutzes kommt zwar noch der Betrugstatbestand in den Blick, aber seine Anwendbarkeit ist auf wenige Fallkonstellationen beschränkt. In Polen hat man im Jahre 2003 einen Straftatbestand der Sportkorruption (Art. 296b poln.StGB) eingeführt. Andrzej J. Szwarc hat, wie bereits erwähnt, über ihn näher berichtet. 75 Die §§ 1 und 2 der Vorschrift, welche die tatbestandlichen Erfordernisse angeben, lauten in deutscher Übersetzung: 76 „§ 1. Wer einen professionellen Sportwettkampf organisiert oder an ihm teilnimmt und dabei einen Vermögens- oder persönlichen Vorteil annimmt oder sich einen solchen versprechen lässt als Gegenleistung für eine unehrliche Verhaltensweise, die das Ergebnis dieses Wettkampfs beeinflussen kann, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. § 2. Ebenso wird bestraft, wer in den in § 1 bestimmten Fällen einen Vermögens- oder persönlichen Vorteil gewährt oder einen solchen verspricht.“

Die Einführung dieses Straftatbestands wird von Szwarc begrüßt. Er kritisiert an ihr jedoch die Beschränkung auf professionelle Sportwettkämpfe und dass die Vorschrift in den Gesetzesabschnitt über „Straftaten gegen den Wirtschaftsverkehr“ eingeordnet worden ist. 77 Es stellt sich die Frage, ob man in Deutschland ebenfalls eine Strafvorschrift zur Sicherung der Integrität des Sports schaffen sollte. Bei uns stehen gegenwärtig die Dopingfälle im Vordergrund. Für ihre Bekämpfung genügt es, dass insoweit ein strafrechtlicher Schutz hinsichtlich der Gesundheit der Opfer und der Volksgesundheit besteht. Er entfaltet eine Reflexwirkung auf das gesamte Dopingproblem. Korruptionsfälle in Form von Gegner- und Schiedsrichterbestechungen sind bei uns bisher nicht in dem Maße ins Blickfeld getreten, wie das in Polen der Fall ist. 78 Geht es dem Gesetzgeber um die Integrität des Sports, hätte er dann aber im Unterschied zum genannten polnischen Straftatbestand konsequenterweise auch den Amateursport einzubeziehen. Darauf weist Szwarc überzeugend hin. 79 Und folgerichtig müsste es eine Vorschrift sein, die nicht nur partielle Bereiche wie Korruption zum Gegenstand hat, sondern auch andere durch Täuschung bewirkte Wettbewerbsverfälschungen. Aber auch wenn man vor der damit verbundenen Expansion des Strafrechts doch zurückschreckt und nur einen besonders anstößigen Bereich wie den des Bestechens im Profisport herausgreift, taucht die Frage auf, ob das, was für den Wettbewerb im Geschäftsleben zu gelten hat, dann ebenso Gültigkeit im professionellen Sportbetrieb beansprucht. Der polnische 75

Szwarc (ob. Fn. 57), S. 945 ff. Die Übersetzung ist dem Aufsatz von Szwarc entnommen. Der § 3 der Vorschrift betrifft minder schwere Fälle, der § 4 Rücktritt und tätige Reue. 77 Szwarc (ob. Fn. 57), S. 947 f. 78 Vgl. zu den polnischen Fällen die Angaben bei Szwarc (ob. Fn. 57), S. 939. 79 Siehe Szwarc (ob. Fn. 57), S. 947. 76

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Gesetzgeber hat, wie erwähnt, keine Bedenken, die von ihm erfassten Fälle der Sportkorruption bei den „Straftaten gegen den Wirtschaftsverkehr“ einzuordnen. In der Gesellschaft besteht auch ein großes Interesse daran, dass im Blickfeld der Öffentlichkeit stehende sportliche Wettkämpfe nicht verfälscht sind. Aber hat man deshalb dem deutschen Strafgesetzgeber zum Eingreifen zu raten? Bestechungen im Geschäftsleben haben ein ganz anderes Gewicht als die umfangmäßig bisher in Grenzen bleibenden Fälle im Sport, und sie haben erhebliche Auswirkungen auf die ökonomische Gesamtsituation einer Gesellschaft. Im Unterschied zur Wirtschaft ist der sportliche Wettkampf schon seiner Definition nach auf Wettbewerb angelegt, so dass er von vornherein über Selbstregulierungsmechanismen verfügt. Wer den Wettbewerb im Sport verfälscht, verhält sich unsportlich und grenzt sich damit selbst aus. Daher haben die jüngsten Vorkommnisse auch großes Aufsehen erregt. Und gerät eine ganze Disziplin in Misskredit, wie das heute beim Profi-Radsport der Fall ist, so hat sie sich selbst geschädigt und genießt nur noch mäßige Sympathie. Auch haben die Sportverbände normalerweise selbst ein Interesse daran, die Chancengleichheit der Vereine und Sportler, die ihnen angehören, zu sichern. Man sieht das an der Intensivierung der DopingKontrollen, den Reaktionen der Verbands-„Gerichte“ etc. Das genügt, um den Sozialbereich „Sport“ in Takt zu halten. Verkommt eine Disziplin, dann bedarf es nicht des Eingreifen des Staates, sondern man kann die Antwort den Gesetzen des „Marktes“, d. h. hier dem Publikums- und Sportlerinteresse, überlassen. Wenn etwa der Radsport sich diskreditiert, dann ist es nicht Aufgabe des Staates, sich um dessen Gesundung zu kümmern – und das schon gar nicht mit den Mitteln des Strafrechts. Die Reinheit des Sports ist ein Ideal. Sie eignet sich nicht zum Rechtsgut. Staatliche Reglementierung des Sports verträgt sich nicht mit dessen Freiheit. 80

80 Zu weitgehend deshalb Schwind (ob. Fn. 1), S. 12, wenn er schreibt, die von ihm geteilte grundsätzliche Ablehnung der Schaffung eines umfassenden staatlichen Sportrechts durch den Gesetzgeber habe zur Voraussetzung, „dass die Sportverbände und die Sporttreibenden selbst in ihrem eigenen Interesse das Ihrige dazu tun, den (ihren und unser aller) Sport als einen mit dem ‚rechtlichen Grundkonsens der Gesellschaft‘ entsprechenden Bereich zu gestalten“.

Das erlaubte Sportrisiko – ein außergesetzlicher Rechtfertigungsgrund (Konträrtypus) oder ein Element zur Präzisierung der Rechtswidrigkeitsebene? Piotr Kardas I. In dem umfangreichen und vielfältigen wissenschaftlichen Werk von Prof. Andrzej Szwarc nimmt die Problematik der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Sportunfälle und des Sportrisikos eine zentrale Stelle ein. Diesem Problem widmete er seine 1977 veröffentlichte Abhandlung 1 und knüpfte in späteren Jahren, unter notwendigen Modifizierungen der bislang präsentierten Meinungen, häufig an diese Frage an. 2 In diesem Bereich ist das wissenschaftliche Werk von Prof. A. Szwarc zu einem beständigen Element der polnischen Strafrechtsdogmatik geworden. Kein Wunder, dass der dem werten Jubilar anlässlich seines 70. Geburtstages gewidmete Text eben dieser Problematik gilt. Im Konglomerat aus strittigen, im Bereich der Grundlagen der strafrechtlichen Haftung für Sportunfälle aufkommenden Fragen kommt dem sog. erlaubten Sportrisiko eine besondere Bedeutung zu. Von der angenommenen Konzeption zur Begründung des Ausschlusses der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Sportunfälle 3 wird grundsätzlich ausnahmslos auf die Einhaltung der die Grenzen des 1 Siehe A.J. Szwarc: Karnoprawne funkcje reguł sportowych [Strafrechtliche Funktionen von Sportregeln], Pozna´n 1977. Siehe auch andere Arbeiten von A.J. Szwarc zur Problematik der strafrechtlichen Haftung für Sportunfälle: A.J. Szwarc: Zgoda pokrzywdzonego jako podstawa wyła˛czenia odpowiedzialno´sc´ karnej za wypadki sportowe [Einwilligung des Verletzten als Grundlage für den Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Sportunfälle], Pozna´n 1975; A.J. Szwarc: Wypadki sportowe w s´wietle prawa karnego. Koncepcja wyła˛czenia tzw. obiektywnej istoty przeste˛pstwa [Sportunfälle im Lichte des Strafrechts. Die Konzeption des Ausschlusses des sog. objektiven Wesens einer Straftat] Pozna´n 1972. 2 Vgl. u.a. A.J. Szwarc: [in:] Wyła˛czenie odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe [Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Sportunfälle] [in:] Okoliczno´sci wyła˛czaja˛ce bezprawno´sc´ czynu. Materiały IV Biela´nskiego Kolokwium Karnistycznego [Rechtfertigungsgründe. Materialien des 4. Strafrechtskolloqiums in Bielany], Hrsg. J. Majewski, Toru´n 2008, S. 61ff. 3 Zu Konzeptionen, die dem Ausschluss der Strafbarkeit bei Sportunfällen zugrunde liegen, siehe mehr A.J. Szwarc: Karnoprawne funkcje reguł sportowych ... [Strafrechtliche Funktionen ...] S. 24ff.

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in einer konkreten Sportdisziplin zulässigen Risikos bestimmenden Regeln als grundsätzliche Voraussetzung für die Straffreiheit hingewiesen. 4 Kennzeichnend ist in diesem Zusammenhang die Feststellung des Obersten Gerichts von 1938: „Mit Rücksicht darauf, dass Sportveranstaltungen eine nahezu alltägliche Erscheinung sind, die sich bei der Bevölkerung einer großen Beliebtheit erfreuen und von Gesetzgebungs- und Regierungsorganen unterstützt werden, sowie in Anbetracht dessen, dass ihre Durchführung durch detaillierte, sowohl den sportlichen Zweck dieser Wettkämpfe als auch die Sicherheit der daran Beteiligten berücksichtigende Regeln normiert ist, ist anzunehmen, dass ein Teilnehmer, der sich an diese Spielregeln hält, nicht gegen klar bestimmte bzw. sich aus den Spielregeln ergebende Verbote verstößt und sich in seinem Vorgehen nur durch Sportziele leiten lässt, rechtmäßig handelt; jede Abweichung von diesen Bedingungen dagegen nimmt dem Handeln des Sportspielers das Merkmal der Rechtmäßigkeit und begründet die eventuelle Anwendung der Strafrepression, je nach Art der Schuld und der beabsichtigten bzw. erfolgten schädlichen Folgen der Tat.“ 5 Auch heute ist im Schrifttum und in der Rechtsprechung die Meinung vorherrschend, die in der Einhaltung von Sportregeln das Hauptelement der Rechtfertigung des Täterverhaltens bei einem Sportunfall erblickt. Es wird darauf hingewiesen, dass das Verhalten eines sich an die verbindlichen Regeln der sportlichen Rivalität haltenden Sportlers kein Risiko schafft, das die gesellschaftlich anerkannten Grenzen überschreiten würde, und somit nicht als rechtswidrig angesehen werden kann. 6 Auch wenn der Ausschluss der Strafverantwortlichkeit für Sportunfälle nicht ausschließlich mit den auf dem erlaubten Sportrisiko basierenden Konzeptionen begründet wird, so gehen doch alle im Fachschrifttum präsentierten Theorien davon aus, dass die Einhaltung der in einer konkreten Sportdisziplin geltenden Regeln eine notwendige Voraussetzung für die Straffreiheit ist. Diese Voraussetzung gilt im Rahmen des Gewohnheitskonzepts, der Berufsrechtstheorie, der Konzeption des Handelns 4

Vgl. eine interessante Übersicht zu den im Fachschrifttum präsentierten Konzeptionen zum Ausschluss der Strafbarkeit bei Sportunfällen in R. Kubiak: Legalno´sc´ pierwotna ryzyka sportowego [Die primäre Legalität des Sportrisikos], Prokuratura i Prawo 2006, Nr 12, S. 13ff. 5 Urteil des OG vom 27. April 1938, 2K 2010/37, Zbiór Orzecze´n [Rechtsprechungssammlung] 1938, Nr 12, Pos. 284. 6 In jüngster Rechtssprechung des OG wird darauf hingewiesen, dass sich der Ausschluss der Strafbarkeit bei Sportunfällen in erster Linie auf die festgestellte Einhaltung der in der jeweiligen Sportdisziplin geltenden Sportregeln gründet. In seinem Beschluss vom 7. Januar 2008 stellte das OG fest, dass sich der „eines Unfalls beschuldigte Rennfahrer auf der Spezialstrecke nicht in anarchistischer Weise verhalten und sein Verhalten an das neben den Satzungsbestimmungen geltende und die erforderliche Sorgfalt einmahnende Vorbild eines „vorsichtigen Sportlers“, das man von allgemeinen, durch das Prisma der „gesunden Vernunft“ bewerteten Sicherheitsgrundsätzen ableiten kann, gehalten habe. (...) Der Freispruch des Angeklagten sollte daher im Rahmen des Konträrtypus des erlaubten Sportrisikos begründet sein“ – Begründung zum Beschluss des OG vom 7. Januar 2008, V KK 158/07, BPK 2008, Nr 2, Pos. 1.2.25. Siehe auch die Analyse dieses Judikats von A. Zoll im vorliegenden Band.

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im Rahmen der Rechte und Pflichten, der Zustimmung des über ein Rechtsgut Verfügenden (Einwilligung des Verletzten), der Konzeption des Ausschlusses der Sozialschädlichkeit und schließlich der Zwecktheorie. 7 Aus nahe liegenden Gründen bildet sie auch ein konstitutives Element zur Begründung des Ausschlusses der Strafverantwortlichkeit für Sportunfälle im Rahmen der Konzeption des sog. erlaubten Sportrisikos. 8 Gemäß der letztgenannten Konzeption liegt die Grundlage für den Ausschluss der Strafbarkeit auf der Ebene der Rechtswidrigkeit. So einig sich die Befürworter dieser Begründung der Straffreiheit bei Sportunfällen hinsichtlich der Verbindung der Konzeption des erlaubten Sportrisikos mit der Rechtswidrigkeitsebene sind 9, so unterschiedlich sind ihre Meinungen im Bereich des normativen Charakters dieser Konstruktion und der ihr zukommenden Funktion. Im einschlägigen Fachschrifttum sind zwei konkurrierende Auffassungen zu erkennen: die eine, in der Tradition verankert, die das erlaubte Sportrisiko zu den außergesetzlichen Konträrtypen 10 und die in konkreten Sportdisziplinen einzuhaltenden Regeln zu den Merkmalen eines Rechtfertigungsgrundes zählt 11; und die andere, klar an die 7 Es sei hervorgehoben, dass je nach gewählter Konzeption als Grundlage für den Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Sportunfälle verschiedene Ebenen des inneren Verbrechensaufbaus anzusehen sind, darunter insbesondere die Ebene der Rechtswidrigkeit, der Schuld oder der Sozialschädlichkeit der Tat. Mehr dazu bei R. Kubiak: Legalno´sc´ pierwotna ryzyka sportowego [Die primäre Legalität des Sportrisikos], Prokuratura i Prawo 2006, Nr 12, S. 16 –20. 8 Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass dies nach der in der polnischen Lehre herrschenden Meinung nicht die einzige Bedingung ist. Es wird nämlich darauf hingewiesen, dass der Ausschluss der Strafbarkeit von der Zulässigkeit einer konkreten Sportdisziplin auf Grund der geltenden Rechtsvorschriften, der Vereinbarkeit des Sportlerverhaltens mit den Sportregeln und der Orientierung auf ein sportliches Ziel abhängig ist. Manchmal kommt dazu die Voraussetzung der Einwilligung des an der sportlichen Rivalität Beteiligten. Siehe A. Gubi´nski: Ryzyko sportowe [Das Sportrisiko], NP 1959, Nr 10, S. 1181; K. Buchała: Prawo karne materialne [Das materielle Strafrecht], Warszawa 1980, S. 282. 9 In diesem Sinne auch unterscheidet sich die Konzeption des erlaubten Sportrisikos grundsätzlich von anderen Auffassungen, die den Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Sportunfälle auf der Ebene der Schuld bzw. der Sozialschädlichkeit der Tat begründet sehen wollen. 10 Der Klarheit halber ist darauf hinzuweisen, dass ich unter dem Begriff des Konträrtypus unter Anknüpfung an die Theorie von W. Wolter die Umstände verstehe, im Hinblick auf deren Vorliegen bestimmte Verhaltensweisen als nicht rechtswidrig qualifiziert werden, obwohl sie die Tatbestandsmerkmale erfüllen, als Beschreibung eines die sanktionierte Norm verletzenden Verhaltens. Siehe u.a. L. Gardocki: Prawo karne [Das Strafrecht], Warszawa 2005, S. 128 –129; A. Marek: Prawo karne [Das Strafrecht], Warszawa 2006, S. 177; M. Bojarski, J. Giezek, Z. Sienkiewicz: Prawo karne materialne. Cze˛´sc´ ogólna i szczególna [Das materielle Strafrecht. Der allgemeine und der besondere Teil], Warszawa 2006, S. 158; K. Indecki, A. Liszewska: Prawo karne materialne. Nauka o przeste˛pstwie, karze i s´rodkach penalnych [Das materielle Strafrecht. Die Lehre von der Straftat, der Strafe und den Pönalmaßnahmen], Warszawa 2002, S. 142; J. Warylewski: Prawo karne – cze˛´sc´ ogólna [Das Strafrecht – Allgemeiner Teil], Warszawa 2004, S. 257.

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Erkenntnisse der gegenwärtigen Rechtstheorie anknüpfend, die das Sportrisiko und die mit diesem immanent verbundenen Sportregeln den Umständen zurechnet, die den Anwendungsumfang der sanktionierten Norm präzisieren und somit die Kriterien der Rechtswidrigkeit der Tat bestimmen. 12 In der ersteren Auffassung, die das Sportrisiko zur Kategorie der Konträrtypen rechnet, haben wir es – nach der im polnischen Fachschrifttum vorherrschenden Meinung – mit der sog. sekundären Legalisierung eines Verhaltens zu tun, dessen Rechtswidrigkeit auf Grund des in der Lehre und in der Rechtsprechung ausgearbeiteten außergesetzlichen Konträrtypus des erlaubten Sportrisikos ausgeschlossen wird. 13 In der zweiten Auffassung wird das Verhalten eines sich an die Regeln einer konkreten Sportdisziplin haltenden Sportlers als primär legal angesehen, da es keine Verletzung der sanktionierten Norm darstellt. In diesem Zusammenhang kann man feststellen, dass im Schrifttum und in der Rechtspre11

Diese Konzeption ist in der polnischen Lehre vorherrschend. Siehe u.a. Gardocki: Prawo karne [Das Strafrecht], Warszawa 2005, S. 128 –129; A. Marek: Prawo karne [Das Strafrecht], Warszawa 2006, S. 177; M. Bojarski, J. Giezek, Z. Sienkiewicz: Prawo karne materialne. Cze˛´sc´ ogólna i szczególna [Das materielle Strafrecht. Allgemeiner und Besonderer Teil], Warszawa 2006, S. 158; J. Warylewski: Zasada ustawowej okre´slono´sci przesłanek odpowiedzialno´sci karnej a kontratypy pozaustawowe [Das Prinzip der gesetzlichen Bestimmbarkeit der Voraussetzungen für strafrechtliche Verantwortlichkeit und außergesetzliche Konträrtypen] [in:] Okoliczno´sci wyła˛czaja˛ce bezprawno´sc´ czynu. Materiały IV Biela´nskiego Kolokwium Karnistycznego [Rechtfertigungsgründe. Materialien des 4. Strafrechtskolloqiums in Bielany], Hrsg. J. Majewski, Toru´n 2008, S. 21ff.; A. Zoll: Kontratypy a okoliczno´sci wyła˛czaja˛ce bezprawno´sc´ czynu [Konträrtypen und Rechtfertigungsgründe] [in:] Okoliczno´sci wyła˛czaja˛ce bezprawno´sc´ czynu. Materiały IV Biela´nskiego Kolokwium Karnistycznego [Rechtfertigungsgründe. Materialien des 4. Strafrechtskolloquiums in Bielany], Hrsg. J. Majewski, Toru´n 2008, S. 9ff. 12 So im polnischen Fachschrifttum R. Kubiak: Legalno´sc´ pierwotna ryzyka sportowego [Die primäre Legalität des Sportrisikos], Prokuratura i Prawo 2006, Nr 12, S. 13 ff.; I. Stachura: Karcenie wychowawcze i ryzyko sportowe. Próba analizy stanu normatywnego wybranych kontratypów pozaustawowych [Die erzieherische Zurechtweisung und das Sportrisiko. Versuch einer Analyse des normativen Status ausgewählter außergesetzlicher Konträrtypen], CzPKiNP 2007, Nr 2, S. 125ff. Die Konzeption der primären Legalität der zu Sportunfällen führenden Verhaltensweisen befürwortet heute zum Teil auch A.J. Szwarc: Wyła˛czenie odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe ...[Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Sportunfälle ...], S. 67 –69. 13 In seinem Wesensgehalt wird diese Lösung durch folgende Feststellung des OG illustriert: „unter Verweis auf die Erwägungen hinsichtlich des Konträrtypus (Umstände, die – obwohl die Tat Straftatbestandsmerkmale verwirklicht – bewirken, dass die Tat nicht sozial schädlich und somit nicht rechtswidrig ist, d.h. Umstände, die eine generell als rechtswidrig geltende Tat legalisieren) kann festgestellt werden, dass das Resultat, d.h. der mangelnde Straftatcharakter, dann vorliegt, wenn zu der tatbestandsmäßigen Tat konträrtypische Umstände hinzutreten. Fehlen Tatbestandsmerkmale überhaupt, dann wird die Tat nicht in strafrechtlich relevanten Kategorien charakterisiert und der Täter unterliegt keiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit, ohne dass auf konträrtypische Umstände hingewiesen werden muss“ – Begründung zum Beschluss des OG vom 7.01.2008, V KK 158/07, BPK 2008, Nr 2, Pos. 1.2.25.

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chung vor allem zwei mit dem Sportrisiko verbundene Fragen umstritten sind: der normative Status des sog. erlaubten Sportrisikos und die den Sportregeln zugeschriebene Funktion. Der Erörterung dieser Fragen will sich der vorliegende Beitrag widmen. Bei der Besprechung des Stellenwerts und der Rolle von Sportregeln im Verbrechensaufbau bleiben solche Situationen außerhalb der Analyse, in denen es zur Verletzung von strafrechtlich geschützten Werten infolge der Nichteinhaltung der in einer konkreten Sportdisziplin geltenden Spielregeln durch den Teilnehmer kommt. Solche, insbesondere im Profisport 14 immer häufiger vorkommende Fälle sind nicht immer strafrechtlich relevant. Die Grundlage für den Ausschluss der Strafbarkeit in solchen Fällen ist grundsätzlich anders als dann, wenn Sportregeln eingehalten werden. Die Straffreiheit kann sich nämlich nicht darauf gründen, dass ein konkretes Verhalten zu der Kategorie von Verhaltensweisen gezählt wird, die das im gegebenen Lebensbereich erlaubte Risiko nicht überschreiten, sondern muss sich auf andere Voraussetzungen stützen. Die Strafrechtslehre verweist in diesen Fällen auf die Konzeption der Einwilligung des Verletzten, die Theorie des sportlichen Zwecks des Handelns oder die Konzeption der Einwilligung des Staates, des Sozialschädlichkeitsgrades oder der Verschuldensebene. 15 Sie haben also einen anderen Charakter, als im Falle der Einhaltung von Sportregeln und bedürften einer besonderen Analyse, die über den Rahmen dieses Beitrags hinausgehen müsste. Ebenfalls außerhalb der vorliegenden Erwägungen bleibt die im polnischen Schrifttum wieder aktuell gewordene Auseinandersetzung um den normativen Charakter von Rechtfertigungsgründen, darunter insbesondere die Kontroversen um die Frage, ob sie die ursprüngliche Legalisierung des Verhaltens begründen oder ob sie Umstände sind, die dieses Verhalten sekundär legalisieren, sowie ob der psychische Faktor eine notwendige Komponente jedes Konträrtypus ist. 16 14 Als Beispiel können hier Fußballspiele angeführt werden, bei denen es oft zu Fouls kommt, d.h. Verhaltensweisen, die eine Übertretung der Sportregeln darstellen. Auch wenn in bestimmten Situationen solche regelwidrigen Verhaltensweisen zur leichten Gesundheitsschädigung führen, werden Fußballspieler grundsätzlich nicht wegen der fahrlässigen leichten bzw. mittelschweren Körperverletzung strafrechtlich belangt. 15 Siehe mehr dazu bei A.J. Szwarc: Wyła˛czenie odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe ...[Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ...], S. 72 –73. 16 Siehe mehr dazu in dem beachtenswerten Beitrag von T. Kaczmarek: Status normatywny okoliczno´sci „wyła˛czaja˛cych“ bezprawno´sc´ czynu w polskim prawie karnym [Der normative Status der Rechtfertigungsgründe im polnischen Strafrecht“] und die darin genannte Literatur. Vgl. auch J. Majewski: Czy znamie˛ podmiotowe (subiektywne) jest jedna˛ z cech konstytutywnych kontratypu? [Ist das subjektive Merkmal eines der konstitutiven Merkmale des Konträrtypus] [in:] Okoliczno´sci wyła˛czaja˛ce bezprawno´sc´ czynu. Materiały IV Biela´nskiego Kolokwium Karnistycznego, [Rechtfertigungsgründe. Materialien des 4. Strafrechtskolloqiums in Bielany], Hrsg. J. Majewski, Toru´n 2008, S. 39ff.; A. Zoll: Kontratypy a okoliczno´sci wyła˛czaja˛ce bezprawno´sc´ czynu [Konträrtypen und

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II. Strafrechtlich relevante Probleme hinsichtlich der Strafverantwortlichkeit für Sportunfälle gehen grundsätzlich auf solche Situationen zurück, in denen es – wie zutreffend A. Szwarc bemerkt – während einer Sportveranstaltung zu einer Verletzung der für andere Teilnehmer wichtigen Rechtsgüter kommt, in Gestalt des Todes einer anderen Sport treibenden Person, der Gesundheitsschädigung, Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, Vernichtung bzw. Beschädigung einer Sache oder der Gefahr für Leib und Leben. 17 Das polnische Strafrecht sieht keine besonderen Grundlagen der strafrechtlichen Haftung für die Verursachung der oben genannten Folgen vor. 18 Auf Verhaltensweisen im Sport sind die Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit anwendbar, durch Vorschriften bestimmt, die für alle anderen Berufs- und Gesellschaftsgruppen gelten. Die im Hinblick auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Sportunfälle relevante Regelung ist grundsätzlich in Kapitel XIX des polnischen StGB über Straftaten gegen das Leben und die Gesundheit mit seinen Vorschriften über vorsätzliche bzw. fahrlässige Verursachung des Todes eines Menschen, vorsätzliche bzw. fahrlässige Zufügung einer leichten, mittelschweren bzw. schweren Gesundheitsschädigung, Gefährdung und Unterlassung der Hilfeleistung enthalten 19, welche die im Hinblick auf negative Folgen für das Leben und die Gesundheit einer anderen Person strafbaren Verhaltensweisen umschreiben. 20 Die Vorschriften zur Bestimmung der oben genannten Straftatbestände in ihren verschiedenen Formen knüpfen in ihrem Inhalt, Rechtfertigungsgründe] [in:] Okoliczno´sci wyła˛czaja˛ce bezprawno´sc´ czynu. Materiały IV Biela´nskiego Kolokwium Karnistycznego [Rechtfertigungsgründe. Materialien des 4. Strafrechtskolloqiums in Bielany], Hrsg. J. Majewski, Toru´n 2008, S. 9ff. 17 A.J. Szwarc: Wyła˛czenie odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe ... [Ausschluss ...], S. 62. 18 Es sei hier angemerkt, dass in das polnische StGB vor kurzem eine besondere Regelung hinsichtlich der Strafbarkeitsgrundsätze bei Sportkorruption eingeführt wurde. In diesem Bereich haben wir es also mit einer besonderen, ausschließlich mit Sport verbundenen Kriminalisierungsform zu tun. Für die Analyse der Problematik des Strafbarkeitsausschlusses bei Sportunfällen ist sie allerdings irrelevant, denn wie zutreffend A.J. Szwarc bemerkt, wird im Korruptions- bzw. Dopingbereich eher nicht nach Rechtfertigung, vielmehr nach einer Erweiterung des Kriminalisierungsumfangs gestrebt. – Wyła˛czenie odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe ... [Ausschluss ...], S. 61 –62. 19 Vgl. interessante Bemerkungen dazu von M. Filar: Lekarskie prawo karne [Das Arztstrafrecht], Kraków 2000, S. 35ff. 20 Es ist freilich nicht das einzige im Hinblick auf Sportunfälle relevante Kapitel. In dem bereits oben zitierten Beschluss vom 8. Januar 2008 V KK 158/07 wurde als Grundlage der Strafverantwortlichkeit die Vorschrift des Art. 177 poln. StGB herangezogen, der die Verursachung eines Verkehrsunfalls kriminalisiert, da es zu diesem Vorfall während eines Autorennens gekommen ist. Eine ganz andere Frage aber ist, ob die Vorschrift, deren wichtiges Merkmal die „Verletzung der Sicherheitsregeln im Verkehr zu Lande“ ist, eine adäquate Grundlage der Verantwortlichkeit für einen Vorfall im Autorennen bilden kann, wenn die für den allgemeinen Verkehr auf öffentlichen Straßen geltenden Regeln nicht verbindlich sind.

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von wenigen Ausnahmen abgesehen, weder an den Sport als einen spezifischen Lebensbereich noch an die für einzelne Sportdisziplinen geltenden Sportgrundsätze (Regeln) an. Mehr noch – die Beschreibung von strafbaren Verhaltensweisen ist äußerst synthetisch und stützt sich grundsätzlich auf die Verwendung von Kausalverben und der Folge für das Leben und die Gesundheit des Menschen. Nur exemplarisch kann hier auf die manchmal als Grundlage für die Qualifizierung des Sportverhaltens herangezogene Vorschrift des Art. 155 poln. StGB hingewiesen werden, die eine fahrlässige Verursachung des Todes kriminalisiert und deren Inhalt auf einen allgemein formulierten Satz beschränkt ist – „Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht ...“ –, des Art. 157 §1 poln. StGB, der das strafbare Verhalten als „Verursachung einer Verletzung der Funktionen eines Körperteils oder einer Gesundheitszerrüttung“ normiert, oder des Art. 160 poln. StGB „Wer das Leben eines anderen Menschen gefährdet oder ihn der unmittelbaren Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt“. Die Lektüre dieser Vorschriften in ihrer ursprünglichen Sprachgestalt kann wegen der allgemeinen Umschreibung von strafbaren Verhaltensweisen überraschend oder gar beunruhigend wirken. Auf der einen Seite wird darin nicht präzisiert, welche Verhaltensarten strafbar sind, auf der anderen Seite scheint deren Inhalt in keinem Zusammenhang mit den für den Sport fundamentalen Regeln zu stehen. Eine Inhaltsanalyse der oben erwähnten Art. 155 bzw. 157 poln. StGB lässt kaum entscheidend feststellen, ob auf deren Grundlage jede Verursachung der Folge in Gestalt des Todes bzw. einer Gesundheitsschädigung strafbar ist, oder nur die Verursachung dieser Folgen in einer bestimmten Art und Weise. Will man dagegen behaupten, dass strafbar nur die Verursachung dieser Folgen in einer bestimmten Art und Weise ist, so muss man fragen, auf welcher Grundlage Fälle, in denen trotz objektiv vorhandenen Resultats als Designat der in der Vorschrift bezeichneten Folge während einer Sportveranstaltung die Grundlagen der Strafverantwortlichkeit fehlen, von solchen Situationen zu unterscheiden sind, in denen mit dem Vorliegen eines solchen Resultats die Strafverantwortlichkeit aktualisiert wird. Die vor diesem Hintergrund entstehenden Zweifel können einen begründeten Zustand der Unsicherheit in diesem Bereich des Lebens hervorrufen, der wegen der ihm zugrunde liegenden Wettkampfidee, die den menschlichen Alltag einschränkenden Barrieren stets überwinden, an der Grenze der Gesetze der Kinetik balancieren und die normalen „menschlichen“ Möglichkeiten überschreiten lässt und im Zusammenhang mit den sporttypischen Handlungen relativ oft zu Situationen führen kann, die objektiv 21 als eine „Verletzung der Funktionen eines Körperteils, leichte bzw. mittelschwere Körperverletzung oder Gefährdung des Lebens bzw. der Gesundheit 22 einzustufen sind. 21 Der Hinweis auf das „objektive“ Element dient der Unterstreichung, dass diese Folgen ausschließlich im objektiven Sinne gesehen werden, losgelöst von Zielen und Voraussetzungen sportlicher Aktivitäten. 22 Siehe näher interessante Bemerkungen dazu von A.J. Szwarc: Wyła˛czenie odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe ....[Ausschluss ...], S.. 62ff.

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Es ist allgemein bekannt, dass es im Sportwettkampf relativ oft zu verschiedenen Körperverletzungen kommt und die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit nahezu Standard geworden ist. Unter Verweis auf die von A. Szwarc dargestellte Einteilung der Sportdisziplinen kann davon ausgegangen werden, dass in einigen von ihnen die mögliche Verletzung der körperlichen Unversehrtheit so gut wie vorprogrammiert und die Verursachung der Folgen in Gestalt einer leichten Körperverletzung nahezu unausweichlich (z.B. Boxen) sind. Bei anderen Sportdisziplinen, auch wenn sie keinen direkten körperlichen Kontakt in Form der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit voraussetzen, sind derartige Folgen ebenfalls als unausweichlich anzusehen (z.B. Fußball, Hockey, Handball). Es gibt schließlich auch solche Sportdisziplinen, in denen es wegen Mangel an Körperkontakt grundsätzlich nicht zu einer Verletzung der körperlichen Unversehrtheit bzw. anderen negativen Folgen für das Leben und die Gesundheit kommen sollte, diese jedoch nicht auszuschließen sind. 23 In allen oben genannten Sportdisziplinen kommt es aber offensichtlicherweise zur Entstehung von prinzipiell strafrechtsrelevanten Folgen. Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Bestimmung von Kriterien (Voraussetzungen) für den Mangel an Strafbarkeit, deren Nichtvorliegen in einem konkreten Fall bei gleichzeitigem Folgeeintritt zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit führen kann 24. Versucht man diese Kriterien allgemein, auf alle Fälle bezogen, zu bestimmen, so muss man in erster Linie auf spezifische Eigenschaften des StGB-Textes hinweisen. Obwohl die Vorschriften über die Grundlagen der Strafbarkeit auf den ersten Blick beschreibenden Charakter haben, wird im Hinblick auf die Annahme der Normativität des StGB-Textes und auf die Konstruktionseigenschaften dieses Gesetzes angenommen, dass sie im Grunde Richtliniencharakter haben, indem sie auf der einen Seite Verbote / Gebote bestimmter Verhaltensweisen 25 festlegen 23 Vgl. A.J. Szwarc: Wyła˛cznie odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe ... [Ausschluss ...], S. 65 – 66. 24 Auf die Notwendigkeit einer präzisen Bestimmung dieser Kriterien wird in der einschlägigen Fachliteratur mit Nachdruck hingewiesen. Dazu ist hinzuzufügen, dass im jüngsten Fachschrifttum eine Unterscheidung von Sportunfällen je nach der Art ihrer Folgen für eine Person und deren unterschiedliche strafrechtliche Bewertung postuliert wird. Etwas vereinfachend wird angenommen, dass es zum Ausschluss der Strafverantwortlichkeit im Bereich der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit und leichten Gesundheitsschädigung kommen kann. Siehe mehr dazu bei A.J. Szwarc: Wyła˛czenie odpowiedzialno´sci za wypadki sportowe ...[Ausschluss ...], S. 64ff. 25 Ich nehme somit an, dass die Vorschriften des Strafgesetzbuches eine Grundlage für die Dekodierung von verschiedenen normativen Strukturen, darunter auch der sanktionierten, regulativ funktionierenden Norm bilden. Neben der sanktionierten Norm werden aus den Vorschriften des StGB noch zwei weitere normative Strukturen dekodiert: die sanktionierende und die Kompetenznorm. Mehr dazu: M. Da˛browska-Kardas: Status dyrektywalny przepisów cze˛´sci ogólnej kodeksu karnego [Der Richtlinienstatus der Vorschriften

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und auf der anderen Seite Richtlinien über Voraussetzungen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit vorsehen. Diese Annahme begründet die Feststellung, dass aus den Strafvorschriften im Auslegungsprozess verschiedene normative Strukturen herausgelesen werden, die inhalts- und umfangsdifferenzierte Gebote / Verbote bestimmter Verhaltensweisen sowie die Strafbarkeitsvoraussetzungen bei Überschreitung dieser Gebote / Verbote, die Notwendigkeit der Strafzumessung und der Unterwerfung unter die Strafe seitens des Täters bestimmen. 26 Die erste von diesen Strukturen wird als sanktionierte Norm bezeichnet, die eine regulative Funktion 27 auszuüben und darauf hinzuweisen hat, welche Verhaltensweisen vom Gesetzgeber verboten und welche geboten werden, im Hinblick auf die bevorzugten und zugleich geschützten Werte (Rechtsgüter). Diese normative Struktur bestimmt also die Voraussetzungen, deren Vorliegen die Rechtswidrigkeit des Verhaltens begründet. Die zweite, als sanktionierende Norm bezeichnete Struktur ist subsidiär gegenüber der ersteren und dient der zusätzlichen Bestimmung von Bedingungen, unter denen die Überschreitung des Verbots bzw. die Nichteinhaltung des Gebots mit Strafverantwortlichkeit verbunden ist. In ihr werden also Voraussetzungen vorgesehen, deren Vorliegen für die Strafbarkeit entscheidend ist. Aus offensichtlichen Gründen ist die sanktionierte Norm an alle und des allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches], Kraków 2007 und die Bemerkungen von T. Kaczmarek: Status normatywny okoliczno´sci „wyła˛czaja˛cych“ bezprawno´sc´ czynu w polskim prawie karnym [Der normative Status ...], insbesondere die Bemerkungen in Anm. 10. 26 Die hier angenommenen Voraussetzungen knüpfen an die im einschlägigen polnischen Fachschrifttum geführte umfassende Diskussion über die strafrechtliche Norm und die aus den Strafvorschriften dekodierten normativen Strukturen und ihre Bedeutung in der dogmatischen Analyse. Mehr dazu A. Zoll: O normie prawnej z punktu widzenia prawa karnego [Über die Rechtsnorm aus strafrechtlicher Sicht], KSP 1990, Rok XXXIII, S. 69 ff.; J. Majewski: Prawnokarne przypisywanie skutku przy zaniechaniu [Strafrechtliche Erfolgszurechnung bei Unterlassung], Kraków 1997; P. Kardas: Przeste˛pstwo cia˛głe w prawie karnym materialnym. Analiza konstrukcji modelowych na tle poje˛cia czynu, zbiegu przepisów i zbiegu przeste˛pstw [Das fortgesetzte Delikt im materiellen Strafrecht. Eine Analyse von Modellkonstruktionen vor dem Hintergrund des Begriffs der Tat, der Gesetzes- und der Straftatenkonkurrenz], Kraków 1999; P. Kardas: Teoretyczne podstawy odpowiedzialno´sci karnej za przeste˛pne współdziałanie [Theoretische Grundlagen der Strafverantwortlichkeit für strafbare Mitwirkung], Kraków 2001; J. Majewski: Tak zwana kolizja obowia˛zków wprawie karnym [Die sogenannte Pflichtenkollision im Strafrecht], Warszawa 2002; W. Wróbel: Zmiana normatywna i zasady intertemporalne w prawie karnym [Normative Änderungen und intertemporäre Grundsätze im Strafrecht], Kraków 2003. 27 Unter Verweis darauf, dass die aus den Vorschriften des Strafrechts dekodierte sanktionierte Norm eine regulative Funktion erfüllt, lasse ich an dieser Stelle das komplizierte Problem der Relation der Strafrechtsvorschriften zu den Vorschriften anderer Rechtszweige und die Frage des Gewichts der regulativen sanktionierten Norm, die aus den Vorschriften des Strafrechts dekodiert wird, und insbesondere die Feststellung, ob diese Funktion mit anderen Funktionen der aus den Vorschriften des Strafrechts dekodierten Normen gleichrangig ist, außer Acht. Eine genaue Besprechung dieser Fragen bedarf nämlich einer gesonderten und zugleich monographischen Analyse.

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die sanktionierende Norm in erster Linie an die Justizorgane gerichtet. Werden in den Strafrechtsvorschriften zwei Normativstrukturen ausgedrückt, d.h. auf der einen Seite die bestimmte Verhaltensweisen verbietende bzw. gebietende sanktionierte Norm und auf der anderen Seite die sanktionierende Norm als Grundlage für die Kriminalisierung von Überschreitungen der in der sanktionierten Norm ausgedrückten Verbote bzw. Gebote beim Vorliegen der darin ausgedrückten Voraussetzungen, so ist dies ein klarer Hinweis darauf, dass die Gebots- / Verbotssphäre weiter aufgefasst wird als die der Strafbarkeit. 28 Mit anderen Worten – nicht jede Überschreitung des in Strafvorschriften ausgedrückten Verbots bzw. Gebots führt zwangsläufig zur Strafverantwortlichkeit. Will man den Inhalt der aus den Vorschriften in Kapitel XIX des poln. StGB dekodierten Verbots- bzw. Gebotsnormen näher präzisieren, so sieht man, dass sie sich auf drei Kategorien von Folgen beziehen: Tod eines Menschen, Körperverletzung oder Gefährdung des Lebens und der Gesundheit. Unter Verweis auf die bereits oben zitierte Vorschrift des Art. 155 poln. StGB (Kriminalisierung der fahrlässigen Verursachung des Todes eines Menschen) und des Art. 157 poln. StGB (Kriminalisierung der Verursachung der Verletzung von Funktionen eines Körperorgans oder der Gesundheitszerrüttung), kann man prima facie zu dem Schluss kommen, dass die herausgelesenen Verbote Verhaltensweisen umfassen, die in irgendeiner Weise zur Verursachung der darin bestimmten Sachverhalte führen. Die Beschreibung strafbaren Verhaltens umfasst in beiden Fällen die zu einem bestimmten Resultat führenden Verhaltensweisen. Nach dieser Auffassung wäre also eine jede Herbeiführung der in diesen Vorschriften bezeichneten Folgen strafbar. Es ist unschwer zu bemerken, dass eine solche Interpretation der in diesen Vorschriften ausgedrückten Gebote bzw. Verbote höchst kontraintuitiv wäre und zu absurden Folgen führen müsste. Es müsste sich erweisen, dass einer absolut rücksichtslosen Rechtsreglementierung alle Bereiche der menschlichen Aktivität bzw. Passivität unterworfen wären, ungeachtet ihres Charakters, ohne Rücksicht auf das mit der Ausübung von bestimmten Handlungen verbundene Risiko, und letztendlich völlig unabhängig von den in bestimmten Lebensbereichen geltenden Verhaltensregeln. 29 Eine solche Auslegung von Strafvorschriften ist freilich inakzeptabel, und zwar schon deshalb, weil das menschliche Verhalten in Zusammenhang mit den Aktivitäten im Beruf und im Alltag mit einem Risiko im Sinne von negativen Folgen, auch im Bereich des Lebens und der Gesund28 Dies geht aus den oben dargestellten Merkmalen hervor, denen entsprechend die Voraussetzungen der Rechtswidrigkeit inhaltlich ärmer und somit weiter aufgefasst und die Voraussetzungen der Strafbarkeit, die die Rechtswidrigkeit und zusätzliche Bedingungen umfassen, genauer, enger beschrieben sind. Es gilt mit anderen Worten die folgende Relation: jedes strafbare Verhalten muss gleichzeitig rechtswidrig sein, nicht jedes rechtswidrige Verhalten aber ist zugleich strafbar. 29 Wie Z. Ziembi´nski zutreffend behauptet, nur schwer vorstellbar sind Gebote und Verbote, die immer und überall ein bestimmtes Tun verlangen – Problemy podstawowe prawoznawstwa [Grundprobleme der Rechtswissenschaft], Warszawa 1980, S. 129.

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heit, verbunden ist. Dem Straßenverkehr, komplizierten technischen bzw. technologischen Handlungen, diagnostischen oder therapeutischen Eingriffen und schließlich den für die vorliegende Analyse relevanten, mit dem Sportwettkampf und dem darin verbundenen Drang nach Überwindung der den menschlichen Alltag einschränkenden Barrieren zusammenhängenden Verhaltensweisen ist das Risiko bestimmter negativer Folgen immanent. Diese Eigenschaft unserer Umwelt begründet schon lange die Behauptung, dass die in den Rechtsvorschriften, insbesondere in den Vorschriften des Strafrechts enthaltenen Gebote und Verbote mit bestimmten Verhaltensregeln verbunden sind. Mit Rücksicht auf die mit verschiedenen Aktivitätsarten verbundenen Gefahren werden gleichzeitig Verfahrensregeln gebildet, deren Einhaltung das mit diesen verschiedenen Aktivitäten zusammenhängende Risiko negativer Folgen minimieren soll. Diese Verfahrensregeln haben unterschiedlichen normativen Status, in jedem Fall aber ergeben sie sich aus dem aktuellen Wissensstand über die Gesetzmäßigkeiten der uns umgebenden Welt, die auf solche Verhaltensweisen hinweisen, bei denen das Risiko (die Wahrscheinlichkeit) negativer und nebensächlicher (sekundärer) Folgen des menschlichen Verhaltens nicht über einen bestimmten Grad der Sozialadäquanz hinausgeht. Die auf dem Boden einzelner Wissenszweige herausgebildeten Verhaltensgrundsätze (Standards) legen also technische Richtlinien fest, die bestimmen sollen, wie zu verfahren ist, um bestimmte negative Folgen für die geschützten Werte zu vermeiden. Sie bilden somit die für einen konkreten Lebensbereich charakteristischen Sorgfaltsregeln, deren Einhaltung die Unverletzlichkeit von Rechtsgütern im Rechtsverkehr garantieren soll. Solche Sorgfaltsregeln gelten im alltäglichen Straßenverkehr, im Bereich komplizierter technischer Handlungen, in der Medizin und auch im Sport. Deren Einhaltung soll eine sichere Ausführung von bestimmten Handlungen garantieren, ohne freilich das Risiko von negativen sekundären Folgen ganz auszuschließen, aber dennoch die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens auf ein solches Niveau beschränken, das gesellschaftlich noch zu akzeptieren ist. Die Sorgfaltsregeln sind mit der sanktionierten Norm, die das Verbot / Gebot eines bestimmten Verhaltens ausdrückt, in der Weise verbunden, dass sie ihren Inhalt präzisieren (konkretisieren). Dies bedeutet, dass sich die aus den oben genannten Vorschriften des Art. 155 bzw. Art. 157 poln. StGB dekodierte sanktionierte Norm aus zwei Elementen zusammensetzt: der Richtlinie, die das Herbeiführen eines konkreten Sachverhalts (Tod bzw. Körperverletzung) verbietet, und der mit ihr gekoppelten technischen Richtlinie, die im Lichte des aktuellen Wissensstands auf solche Verhaltensweisen hinweist, deren Einhaltung das Nichtherbeiführen der verbotenen Folge garantieren soll. Mit Recht wird im Schrifttum darauf hingewiesen, dass den Verfahrensregeln das Gesamtwissen und die Erfahrungen in einem konkreten Bereich und ein gesunder Kompromiss zwischen dem Postulat eines maximalen Schutzes bestimmter Werte, wie sie das Leben und die Gesundheit sind, und den Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, wie sie die gegenwärtige Zivilisation schafft, zugrunde liegen. 30 30

Vgl. J. Majewski: Prawnokarne przypisywanie skutku przy zaniechaniu [Strafrechtliche Erfolgszurechnung bei Unterlassung], Kraków 1997, S. 79.

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Zu solchen Regeln gehören zweifelsohne die auf dem aktuellen Wissensstand basierenden Sportregeln. Indem sie die Grundsätze für einzelne Sportdisziplinen formulieren, legen sie zugleich den Rahmen für solche Verhaltensweisen fest, durch deren Ausführung nicht die Überschreitung des gesellschaftlich tolerierten Risikos negativer Folgen für das Leben und die Gesundheit droht. Im Sportbereich ergänzen (präzisieren) die in einzelnen Sportdisziplinen geltenden Verfahrensregeln den Inhalt der aus den Vorschriften in Kapitel XIX poln. StGB dekodierten Gebote / Verbote in Bezug auf die Folgen für das Leben und die Gesundheit. Werden die in den Strafvorschriften allgemein ausgedrückten Verbote / Gebote mit den Sportregeln im Prozess einer Übertragung der Vorschriften in sanktionierte Normen verbunden, so erhalten wir konkretisierte Gebote / Verbote, die sich keineswegs auf das allgemeine Verbot der Verursachung des Todes oder einer Körperverletzung in irgendeiner Form zurückführen lassen, sondern die Verursachung dieser Folgen entgegen den geltenden und aus den Sportregeln hervorgehenden Verhaltensweisen. Dadurch wird auf der einen Seite der Gebotsbzw. Verbotsinhalt konkretisiert, auf der anderen Seite werden Verhaltensweisen in gebotene / verbotene sowie in erlaubte Verhaltensweisen geteilt. Die Voraussetzung für die Überschreitung einer derart konstruierten sanktionierten Norm, die eine gebietende / verbietende Richtlinie der Verursachung eines bestimmten Resultats sowie technische, akzeptierte Verhaltensweisen festlegende Richtlinien umfasst, ist eine Verletzung der im gegebenen Bereich geltenden Verfahrensregeln. Ein standardmäßiges Verhalten kann keine Gefahr für bestimmte Werte in einem über das Maß der gesellschaftlichen Akzeptanz hinausgehenden Grad nach sich ziehen. Dies lässt die oben von der negativen Seite dargestellte Behauptung begründen, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Sportunfälle ausgeschlossen ist, wenn die in einer konkreten Sportdisziplin geltenden Sportregeln eingehalten werden. Aktuell wird sie lediglich dann, wenn beim Sport die geltenden Grundsätze verletzt werden, d.h. bei Verstoß gegen die im funktionalen Zusammenhang mit der sanktionierten Norm stehenden Verfahrensregeln, die darauf hinweisen, welche Verhaltensweisen zu unterlassen sind, um es nicht zu einer bestimmten Folge für die geschützten Werte kommen zu lassen, oder auch welche Verhaltensweisen vorzunehmen sind, um die unabhängig von der Aktivität der Sportler bestehende Gefahr für diese Güter abzuwenden. Ohne Verletzung der Sportregeln ist gemäß dem hier präsentierten Modell eine Überschreitung der die Verursachung einer Folge in Form des Todes bzw. der Körperverletzung verbietenden Norm nicht möglich. In einem solchen Fall kann selbst die negative Folge (Tod bzw. Körperverletzung) niemals die Strafverantwortlichkeit der am Sportwettkampf beteiligten Person begründen. Die auf die Nichtverletzung der Sportregeln zurückgehende fehlende Überschreitung der die Verursachung einer konkreten Folge verbietenden sanktionierten Norm bewirkt, dass solche Verhaltensweisen rechtmäßig sind. Mit Recht behauptet A. Zoll, dass bei fehlender Verletzung der sanktionierten Norm das Verhalten keiner Rechtfertigung bedarf, da sich seine Rechtmäßigkeit aus der

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fehlenden Kollision mit geltenden Rechtsnormen ergibt. In einem solchen Fall kann der eingetretene Erfolg nicht dem Täter zugerechnet werden. 31 III. Die obigen Erwägungen führen zu folgendem Schluss – das Element, das den Inhalt des an eine bestimmte Folge, deren Verursachung beim Tun verboten oder deren Auftreten beim Unterlassen entgegenzuwirken ist, gebundenen Gebots / Verbots konkretisiert, sind die in einem konkreten Lebensbereich verbindlichen Verfahrensgrundsätze. In der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik werden diese Grundsätze als Sorgfaltsregeln bezeichnet. Die im vorliegenden Beitrag angenommene, an das bekannte und vorwiegend im deutschen Fachschrifttum herausgearbeitete Konzept des Status von Sorgfaltsregeln 32 anknüpfende Konzeption stützt sich auf zwei die traditionelle Auffassung modifizierende Elemente. Zum ersten wird angenommen, dass technische Richtlinien (Sorgfaltsregeln) die gleiche Rolle sowohl in Bezug auf vorsätzliche als auch fahrlässige Straftaten spielen. Sie sind, mit anderen Worten ausgedrückt, ein die sanktionierende Norm immer dann präzisierendes Element, wenn der Gesetzgeber bei der Charakteristik des strafbaren Verhaltens das Verb „verursachen“, bedeutungsähnliche, synonyme bzw. andere Kausalverben verwendet, ohne gleichzeitig die Art der Verursachung des gesetzlich typisierten Erfolgs (Verbot beim Tun) oder die Art der Verhinderung eines solchen Erfolgs (Gebot beim Unterlassen) näher zu bestimmen. Darüber hinaus geht sie von der Annahme aus, dass technische Richtlinien zur Konkretisierung der sanktionierten Norm vor allem für die Rekonstruktion der regulativen, die Rechtswidrigkeitsebene solcher Tatbestände charakterisierenden Norm von Bedeutung sind, für die der Erfolg kennzeichnend ist, ohne zugleich die Begründetheit der Heranziehung dieses Elements im Rekonstruktionsprozess der für formelle Tatbestände zuständigen Norm auszuschließen. 33 Und ihr liegt schließlich die Annahme zugrunde, dass Sorgfaltsregeln kein eigenständiges Element im Verbrechensaufbau, sondern technische Richtlinien sind, mit der sanktionierten Norm gekoppelt, im Auslegungsprozess für die Konkretisierung des Gebots- / Verbotsinhalts zur Bestimmung von Verhaltensweisen verwendet, die nicht zu einem 31 Vgl. A. Zoll: Charakter prawny eksperymentu medycznego ... [Der strafrechtliche Charakter des medizinischen Experiments], S. 150. 32 Siehe insb.: H. Welzel: Studien zum System des Strafrechts, ZStW 1939, Bd. 58, S. 559ff.; H. Welzel: Das deutsche Strafrecht, 11 Auflage, Berlin 1969, S. 130ff.; G. Jakobs: Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, Berlin / New York 1983, S. 260ff.; G. Jakobs: Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, Berlin 1972, S. 59ff. 33 Anders J. Majewski, der die Bedeutung der Umgangsregeln mit einem Rechtsgut auf den Prozess der Dekodierung der für die materielle Straftat charakteristischen Merkmale beschränkt. Vgl. J. Majewski: Prawnokarne przypisywanie skutku przy zaniechaniu [Strafrechtliche Erfolgszurechnung bei Unterlassung], Kraków 1997, S. 84ff.

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gesetzlich typisierten Erfolg (Tun – Verbot) führen oder dessen Verhinderung ermöglichen (Gebot – Unterlassen). Werden also im Auslegungsprozess der sanktionierten Norm technische Richtlinien (Sorgfaltsregeln) herangezogen und in den Inhalt dieser Norm hineinkomponiert, so erhalten wir im Resultat eine Gebots- / Verbotsnorm, in zwei Elemente gegliedert: eine Verfahrensnorm im eigentlichen Sinne und die mit ihr gekoppelten technischen Richtlinien, die im Lichte des aktuellen Wissensstands in einem konkreten Lebensbereich festlegen, wie zu verfahren ist, um den Erfolg, dessen Verursachung die Norm verbietet, nicht zu verwirklichen oder dessen Auftreten die Norm entgegenzuwirken gebietet. 34 Somit ist die die Rechtswidrigkeitsebene bestimmende sanktionierte Norm integral mit Sorgfaltsregeln verbunden, und ihre Überschreitung nur dann möglich, wenn das Verhalten eine Verletzung der mit ihr gekoppelten Sorgfaltsregeln darstellt. Im Falle eines mit den den Inhalt der sanktionierten Norm konkretisierenden Sorgfaltsregeln konformen Verhaltens kann im Hinblick auf ihre grundsätzliche Funktion, d.h. die Bestimmung eines sozialadäquaten Risikogrades, von einer Überschreitung der die Verwirklichung eines tatbestandsmäßigen Erfolgs verbietenden Norm keine Rede sein. Einem solchen Verhalten fehlt somit aus diesem Grund das Merkmal der Rechtswidrigkeit. Die Sorgfaltsregeln bestimmen im Rahmen dieses Modells die Grenze der Rechtswidrigkeit. Die mit den zur Konkretisierung des Inhalts einer sanktionierten Norm verwendeten Regeln konformen Verhaltensweisen sind somit „ursprünglich“ „primär“ rechtmäßig und keiner Legalisierungsprozedur (Rechtfertigung) bedürftig. IV. Überträgt man die obigen Feststellungen auf den Bereich der Sportwettkämpfe, so darf nicht übersehen werden, dass dieser spezifische und mit einem erhöhten Risiko verbundene Lebensbereich eigene Verfahrensgrundsätze herausgearbeitet hat, deren Einhaltung garantieren soll, dass im Zusammenhang mit gefährlichen Aktivitäten das gesellschaftlich akzeptierte Risiko nicht überschritten wird. Anders ausgedrückt – die in einzelnen Sportdisziplinen geltenden Regeln erfüllen die Funktion von Sorgfaltsregeln im Sinne der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik. Das Spezifische dieser Regeln ist auf vier Elemente zurückführbar. Zum Ersten darauf, dass sie im Zusammenhang mit der Charakteristik einer konkreten Sportdisziplin unter Berücksichtigung der für die sportliche Rivalität konstitutiven Elemente geschaffen werden. Zum Zweiten, dass sie zum überwiegenden Teil zumindest im Bereich der allgemeinen Regelungen die Form von kodifizierten Regeln haben, die meistens in entsprechenden Geschäftsordnungsbestimmungen 34

Vgl. J. Majewski: Prawnokarne przypisywanie skutku przy zaniechaniu ... [Strafrechtliche Erfolgszurechnung ...], S. 87ff.

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entsprechender Sportvereine formalisiert sind. Zum Dritten darauf, dass sie, anders als es die im Alltag angenommenen Regeln tun, den Grad des in diesem spezifischen Bereich, wie es der Sport ist, gesellschaftlich akzeptierten Risikos festsetzen. Und zum Vierten – weil sie in dem in entsprechenden Sportvereinsakten formal nicht geregelten Bereich durch die sich aus den Prinzipien rationalen Handelns, der gesunden Menschenvernunft hervorgehenden Regeln des vorsichtigen Vorgehens unter Berücksichtigung des erhöhten Grades des akzeptierten Risikos ergänzt werden. 35 Diese Sicht auf die Sportregeln bewirkt, dass im Hinblick auf die Rekonstruktion der für Straftatbestände als mögliche Grundlage für die Strafbarkeit von Sportunfällen charakteristischen sanktionierten Norm nur diejenigen Sportregeln von Bedeutung sind, die in Form von technischen Richtlinien sozialadäquate Verhaltensweisen bestimmen, welche ein bestimmtes und im Lichte der aktuellen Kulturstandards und unseres Wissens über die Umwelt toleriertes Risikoniveau nicht überschreiten. 36 Unabhängig von möglichen Einteilungen der Sportregeln, darunter insbesondere der von A. Szwarc signalisierten Einteilung in Ordnungsregeln und in unmittelbar mit sportlicher Rivalität verbundene Sorgfaltsregeln 37, sind im Prozess der strafrechtlichen Bewertung nur solche Regeln von Bedeutung, die der Bestimmung von technischen, einen bestimmten Grad des akzeptierten Risikos nicht überschreitenden Verhaltensweisen dienen. Diese Funktion können in bestimmten faktischen Konfigurationen sowohl Ordnungsregeln als auch aus nahe liegenden Gründen Sorgfaltsregeln im Rahmen einer bestimmten Sportdisziplin erfüllen. Es sei hervorgehoben, dass in einigen Situationen die nicht kodifizierten Regeln Vorrang haben können, denn, wie mit Recht im Schrifttum und in der Rechtsprechung betont wird, ist ein Verhalten, das mit den Sorgfaltsregeln in 35 So auch das OG in der Begründung zu seinem Beschluss vom 7. Januar 2008, V KK 158/07: Den Ausschluss der Strafverantwortlichkeit begründete das Verhalten des Angeklagten, der nicht anarchistisch vorging und sein Verhalten an das dem neben den Regelbestimmungen geltende und an die erforderliche Sorgfalt und Bedachtsamkeit, die sich von den allgemeinen, durch das Prisma der gesunden Menschenvernunft bewerteten Sicherheitsgrundsätze ableiten lassen, verweisende Vorbild eines „vorsichtigen Sportlers“ anpasste. 36 Ähnlich scheint diese Frage A.J. Szwarc aufzufassen: „Ich bin geneigt, in dieser Hinsicht die früher im Kontext der möglichen Betrachtung von Verletzungen der Sportregeln als ‚Nichteinhaltung der unter gegebenen Umständen erforderlichen Sorgfalt‘ betrachteten Argumentation entsprechend anzuwenden“ – Wyła˛czenie odpowiedzialno´sci za wypadki sportowe ...[Ausschluss ...], S. 74. Zur Bedeutung von Kulturstandards im Prozess der Dekodierung von Normen aus den Vorschriften des Strafrechts siehe näher M. Rodzynkiewicz: Modelowanie poje˛´c w prawie karnym [Begriff-Modellierung im Strafrecht], Kraków 1998, S. 45ff. 37 Siehe dazu mehr bei A.J. Szwarc: Granice bezkarno´sci wypadków sportowych [Die Grenzen der Straffreiheit bei Sportunfällen], Sport Wyczynowy 1972, Nr 7, S. 42ff.; R. Kubiak: Legalno´sc´ pierwotna ryzyka sportowego ... [Die primäre Legalität des Sportrisikos], S. 29ff.

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einem konkreten Bereich konform ist, auch mit dem aktuell anerkannten Muster eines vorsichtigen Verhaltens konform. Es ist somit nicht auszuschließen, dass sich zur Realisierung dieses Musters ein von den formalisierten und auf typische Situationen eingestellten Verfahrensregeln abweichendes Verhalten als notwendig erweist. 38 Von dieser Sicht auf den normativen Status und die Funktion von Sportregeln ausgehend kann man feststellen, dass die üblicherweise als Verhaltensweisen im Rahmen des erlaubten Sportrisikos bezeichneten Fälle nur solche Situationen umfassen, in denen die am Sportwettkampf beteiligte Person gemäß den in einer konkreten Sportdisziplin geltenden kodifizierten und nicht kodifizierten Sportregeln zur Bestimmung von solchen Verhaltensweisen verfahren ist, die nicht zur Überschreitung des gesellschaftlich in diesem Lebensbereich akzeptierten Risikos (Gefahr) eines gesetzlich typisierten Erfolgs führen, dessen Verursachung die aus der entsprechenden strafrechtlichen Vorschrift dekodierte Verbotsnorm verbietet oder dessen Verhinderung die aus dieser Vorschrift dekodierte Gebotsnorm gebietet. Die im Schrifttum und in der Rechtsprechung herangezogene Voraussetzung der Einhaltung von Sportregeln ist somit als eine mit eben diesen Regeln verbundene Bedingung zu verstehen. 39 Verhaltensweisen, die keine Verletzung dieser Regeln darstellen, können nicht die strafrechtliche Verantwortlichkeit für jede Art des tatbestandsmäßigen Erfolgs begründen, wenn sie mit den Sportregeln zur Bestimmung von Verhaltensweisen ohne Überschreitung des akzeptierten Risikogrades konform waren. Aus strafrechtlicher Sicht entfällt nämlich in einem solchen Fall die Möglichkeit der objektiven Erfolgszurechnung, deren Kriterium die Überschreitung der sanktionierten, die Verursachung eines tatbestandsmäßigen Erfolgs verbietenden Norm ist. Die fehlende Überschreitung dieser Norm schließt, unabhängig von sonstigen, für die objektive Zurechnung relevanten Elementen, 40 die Möglichkeit einer normativen Verknüpfung des Verhaltens mit dem Erfolg aus. 38 Zutreffend, wenn auch in einem anderen Kontext und zur Begründung eines anderen Standpunkts, weist A.J. Szwarc darauf hin, dass „(...) die Einhaltung von Sportregeln nicht den Vorwurf einer Verletzung der Umgangsregel mit einem konkreten Rechtsgut ausschließen kann und dass deren Einhaltung unter bestimmten Umständen geradezu einer Verletzung der Sportregel bedarf“ – Wyła˛czenie odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe ... [Ausschluss ...], S. 74. 39 Im Hinblick auf die vorliegenden Erwägungen sind verständlicherweise jene Sportregeln irrelevant, deren Funktion nicht in einer Konkretisierung der sanktionierten Normen zum Schutz der Werte besteht, die im Zusammenhang mit Sportunfällen verletzt werden können. Aus diesem Grund ist die bloße Verletzung dieser, z.B. mit der sozialadäquaten Art der Einhaltung von Organisationsregeln im Sport nicht zusammenhängenden Regeln, irrelevant für die Feststellungen hinsichtlich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Folglich können weder aus deren faktischer Einhaltung durch den Täter noch aus deren tatsächlicher Verletzung verbindliche Schlüsse im Bereich der Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Sportunfälle gezogen werden. 40 Kriterien der objektiven Zurechnung werden je nach vertretener Konzeption unterschiedlich bestimmt. Eine Besprechung einzelner Modelle der objektiven Zurechenbarkeit bei Sportunfällen würde über den Rahmen des vorliegenden Beitrags hinausgehen und ist für die vorliegenden Erwägungen grundsätzlich ohne Bedeutung.

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V. Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass das sog. erlaubte Sportrisiko nicht der Kategorie der außergesetzlichen Konträrtypen zuzurechnen ist, deren normative Funktion in der Legalisierung des generell für rechtswidrig geltenden Verhaltens besteht. 41 Das erlaubte Sportrisiko bildet ja nichts anderes als eine Untergruppe eines weiter aufgefassten Katalogs der Sorgfaltsregeln. Ein in dem oben dargestellten Sinne nicht regelwidriges Verhalten stellt im Hinblick auf die normative Funktion dieser Regeln keine Verletzung der die Verursachung eines tatbestandsmäßigen Erfolgs verbietenden sanktionierten Norm dar und entbehrt somit des Merkmals der Rechtswidrigkeit. Das erlaubte Sportrisiko ist also als ein Element anzusehen, das die Rechtswidrigkeitsebene präzisiert und die regelkonformen Verhaltensweisen als primär legal (rechtmäßig) ausweist. VI. Die im ersten Teil der vorliegenden Erwägungen signalisierte Auseinandersetzung um den normativen Status und die Funktion des sog. erlaubten Sportrisikos wurde endgültig zugunsten der Konzeption entschieden, die das erlaubte Sportrisiko als einen Umstand betrachtet, der primär die Rechtswidrigkeitsgrenzen eines Verhaltens bestimmt. Das erlaubte Sportrisiko wurde somit nicht zu der Kategorie der außergesetzlichen Konträrtypen gerechnet, sondern gilt als ein Umstand mit demselben Status, wie er dem sog. Alltagsrisiko zukommt, d.h. als ein Element, das die primären Legalitätsgrenzen eines Verhaltens bestimmt. 42 Und ungeachtet der Frage nach der Begründetheit der im Fachschrifttum aufrechterhaltenen Ein41 Anders das OG: „Es gibt auch Konträtypen, deren Merkmale in der Justizpraxis oder in doktrinalen Konzepten der Strafrechtslehre formuliert wurden. Es sind außergesetzliche Konträrtypen, unter denen die Einwilligung des Verletzten, medizinische Eingriffe, Zurechtweisung Jugendlicher und Sportrisiko zu nennen sind“ – Beschluss des OG vom 7. Januar 2008, V KK 158/07, BPK 2008, Nr 2, 1.2.25. 42 Eine völlig andere, wenn auch gänzlich außerhalb der vorliegenden Erwägungen zu erörternde Frage ist die Begründetheit der im polnischen Fachschrifttum nach Vorbild der deutschen Fachliteratur angenommenen Einteilung in primär und sekundär das Verhalten legalisierende Umstände, wonach die den Inhalt der sanktionierten Norm konkretisierenden Umstände, wie die Sorgfaltsregeln, der primären Festlegung der Legalitätsgrenzen dienen und die Elemente zur Bestimmung der Rechtfertigungsgründe als ein normatives Instrument gelten, mit dem das Verhalten sekundär legalisiert wird. Diese Einteilung wurde, zumindest zum Teil überzeugend, im jüngsten einschlägigen Fachschrifttum in Frage gestellt, indem auf den Mangel hinreichend überzeugender Argumente für die Aufrechterhaltung der Unterscheidung in primär und sekundär legalisierende Umstände hingewiesen wird. Dieser Standpunkt wird u.a. damit begründet, dass z.B. die Sorgfaltsregeln eine identische normative Funktion haben wie die rechtswidrigkeitsausschließenden Umstände (Konträrtypen), weil sie der Lösung einer Kollision zwischen zwei Werten – d.h. dem Schutz bestimmter Werte und dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach notwendiger Aufrechterhaltung des sozialen Funktionierens in bestimmten Bereichen dienen. Die Einführung

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teilung in Umstände, die primär und sekundär ein Verhalten legalisieren, lassen sich mit dem in diesem Beitrag präsentierten Standpunkt zum normativen Status und der Funktion des sog. erlaubten Sportrisikos und der Sportregeln alle die mit der Frage verbundenen Schwierigkeiten vermeiden, ob aus dem Gesichtspunkt der Konstruktionsregeln des Strafrechts die Heranziehung von im Gesetz nicht bestimmten, die Rechtswidrigkeit ausschließenden Umständen möglich ist. 43 Die Annahme des hier präsentierten Standpunkts hat freilich nicht zu bedeuten, dass im Zusammenhang mit Sportunfällen keine Fragen offen bleiben, die sich auf Grund der Konzeption des regelkonformen Verhaltens nicht lösen lassen. In den einleitenden Bemerkungen wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die mit der Strafverantwortlichkeit für Sportunfälle verbundenen Probleme nicht auf die Situationen beschränken, in denen die Sportregeln eingehalten werden, sondern dass immer häufiger nach einer Rechtfertigung von solchen Fällen gesucht wird, in denen bestimmte Folgen auf die Verletzung der in einer konkreten Sportdisziplin geltenden Verfahrensregeln zurückgehen. Ohne an dieser Stelle auch nur einen von Sorgfaltsregeln, die Verhaltensformen in demjenigen Bereich einschränken, mit dem ein Risiko für bestimmte Werte immanent verbunden ist (z.B. Straßenverkehr, medizinische und diagnostische Eingriffe etc.) soll dem Schutz der beiden kollidierenden Werte dienen. Somit besteht zwischen der Verwendung von Sorgfaltsregeln als Elemente, die den Inhalt der sanktionierten Norm konkretisieren, und der Heranziehung von Elementen, die Konträrtypen konstituieren, kein Unterschied. Dies hat allerdings nicht zu bedeuten, dass in dieser Auffassung die Grenzen der Rechtswidrigkeit und der Strafbarkeit identisch festgesetzt werden – der Rechtswidrigkeitsumfang wird grundsätzlich weiter aufgefasst als der Umfang der Strafbarkeit. Mehr dazu: Aufzeichnung der Diskussion [in:] Okoliczno´sci wyła˛czaja˛ce bezprawno´sc´ czynu. Materiały IV Biela´nskiego Kolokwium Karnistycznego [Rechtfertigungsgründe. Materialien des 4. Strafrechtskolloqiums in Bielany], Hrsg. J. Majewski, Toru´n 2008, S. 94ff. 43 Der Standpunkt, der die Möglichkeit der Heranziehung sog. außergesetzlicher Konträrtypen in Frage stellt, wird grundsätzlich einheitlich von mit der Krakauer Schule des Strafrechts verbundenen Strafrechtlern kritisiert. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass im Hinblick auf die aktuell vom Gesetzgeber bestimmte Rolle des Verletzten im Strafverfahren man sich heute nur schwer auf die Feststellung berufen kann, dass im Bereich der den Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit begründenden Elemente, darunter auch Konträrtypen, das Prinzip nullum crimen sine lege nicht verbindlich ist. Der Zugriff auf außergesetzliche Konträrtypen, d.h. Gewohnheit, wirkt sich zwar zu Gunsten des Täters, zugleich aber zu Ungunsten des Verletzten aus. Siehe u.a. A. Zoll: Pozaustawowe okoliczno´sci wyła˛czaja˛ce odpowiedzialno´sc´ karna˛ w s´wietle konstytucyjnej zasady podziału władzy [Außergesetzliche strafbarkeitsausschließende Umstände im Lichte des Verfassungsgrundsatzes der Gewaltenteilung] [in:] W kre˛gu teorii i praktyki prawa karnego. Ksie˛ga po´swie˛cona pamie˛ci Profesora Andrzeja Wa˛ska [Im Kreis der Theorie und der Praxis des Strafrechts. Festschrift für Prof.A.Wa˛sek], Lublin 2005, S. 425 ff. und die dort zitierte Literatur. Anders J. Warylewski: Zasada ustawowej okre´slono´sci przesłanek odpowiedzialno´sci karnej a kontratypy pozaustawowe [Der Grundsatz der gesetzlichen Bestimmbarkeit der Voraussetzungen der Strafbarkeit und außergesetzliche Konträrtypen] [in:] Okoliczno´sci wyła˛czaja˛ce bezprawno´sc´ czynu. Materiały z IV Biela´nskiego Kolokwium Karnistycznego [Rechtfertigungsgründe. Materialien des 4. Strafrechtskolloqiums in Bielany], Hrsg. J. Majewski, Toru´n 2008, S. 21ff.

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Versuch, solche Fälle näher zu charakterisieren, vornehmen zu wollen, kann man auf die Rivalität im Fußball hinweisen, wo es zur Verletzung der körperlichen Unversehrtheit oder leichten bis mittelschweren Körperverletzungen im Zusammenhang mit der Verletzung der in dieser Sportdisziplin geltenden Sportregeln kommt. Und mit Recht wird im Fachschrifttum hervorgehoben, dass die an solchen Wettkämpfen Beteiligten im voraus annehmen, dass sowohl sie selbst als auch andere Wettkämpfer solche Verletzungen begehen werden. 44 Auf solche Fälle findet die Konzeption des erlaubten Sportrisikos, sei es als ein außergesetzlicher Konträrtypus oder, wie in diesem Beitrag angenommen, als ein primär die Rechtswidrigkeitsgrenzen festlegender (primär das Verhalten legalisierender) Umstand gesehen, keine Anwendung. Nach Rechtfertigung solcher Sachverhalte und somit nach Begründung des Ausschlusses der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist daher auf einer anderen Ebene zu suchen, als sie die Rechtswidrigkeit ist. Eine interessante Perspektive kann in diesem Zusammenhang die Konstruktion der Einwilligung des Verletzten eröffnen, auch wenn hier bestimmte Beschränkungen festzustellen sind, die nicht nur mit dem Charakter und der Art der verletzten Rechtsgüter zusammenhängen, sondern auch mit dem oft vorkommenden Zwangscharakter der sportlichen Rivalität, angesichts dessen eine Diskussion über die Einwilligung wenig sinnvoll erscheint, und der Möglichkeit, eventuelle negative Folgen der Beteiligung an der sportlichen Rivalität vorherzusehen. 45 Auf diese Problematik näher eingehen zu wollen, würde allerdings aus offensichtlichen Gründen den Rahmen dieses Beitrags sprengen.

44 Verletzungen der im Fußball geltenden Sorgfaltsregeln werden sogar in spezifisch formalisierter Weise graduiert, je nach den für diese Verletzungen vorgesehenen Sanktionen. Die einen führen nur zu einer bestimmten Änderung im Wettkampfverlauf, die anderen werden im Hinblick auf das Gewicht der Verletzung mit der gelben Karte sanktioniert und schließlich gibt es solche, die zu einem Ausschluss aus dem Spiel führen (rote Karte). 45 Siehe mehr dazu bei A.J. Szwarc: Zgoda pokrzywdzonego jako podstawa wyła˛czenia odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe [Einwilligung des Verletzten als Grundlage für den Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Sportunfälle], Pozna´n 1975, S. 115 – 134.

Sportschiedsgerichtsbarkeit in Polen und Deutschland Magdalena Ke˛dzior und Klaus Vieweg I. Einleitung Die Konfliktträchtigkeit des Sports ist sprichwörtlich. Insbesondere durch die Professionalisierung und Kommerzialisierung, aber auch durch die starke Präsenz in den Medien haben sich Anzahl und Vielfalt der Konflikte deutlich vermehrt. Dasselbe gilt für die Konfliktlösungsinstrumente. Neben die Streitschlichtung durch verbandsinterne Organe – z.B. sog. Verbandsgerichte oder Verbandsschiedsgerichte – sind staatliche Gerichte, aber auch Schiedsgerichte getreten. Die Vorteile des Einsatzes von Schiedsgerichten sind augenfällig. Sie führen zu einer Staatsentlastung hinsichtlich der knappen Ressource Rechtsprechung, sie bündeln Sachverstand und sind in der Lage, zu einer zügigen Entscheidung zu kommen. Im Vergleich zu den Verbands(schieds)gerichten zeichnen sie sich durch einen erheblichen Neutralitätsgewinn aus. Ein Vergleich des in Deutschland zum 1.1.2008 eingeführten Deutschen Sportschiedsgerichts mit dem seit 1994 aktiven Sport-Schiedsgerichtshof beim Polnischen Olympischen Komitee (Trybunał Arbitra˙zowy do Spraw Sportu przy Polskim Komitecie Olimpijskim – PKOL) ist insofern von besonderem Interesse, als die Organisation des Sports in beiden Ländern unterschiedlichen Traditionen folgt und die Streitschlichtung Spiegelbild der unterschiedlichen Rechtskultur ist. Während in Deutschland die verfassungsrechtlich garantierte Verbandsautonomie auch ganz wesentlich die Entscheidung von Sportstreitigkeiten prägt, gibt es in Polen mit dem Sportgesetz vom 25.7.2005 (Ustawa o sporcie kwalifikowanym – im Weiteren: das Sportgesetz) 1 eine umfassende gesetzliche Spezialregelung. Andrzej Szwarc ist ein Wanderer zwischen den Rechts- und Sportwelten Deutschlands und Polens. Durch vielfältige Publikationen hat er nachgewiesen, dass er in beiden Rechtsordnungen „zu Hause“ ist. Von daher war es ein logischer Schritt, dass er zum ersten Präsidenten des Sport-Schiedsgerichtshofs beim Polnischen Olympischen Komitee (PKOL) gewählt wurde. Im Folgenden werden im Überblick der Sport-Schiedsgerichtshof beim Polnischen Olympischen Komitee und das Deutsche Sportschiedsgericht vorgestellt. 1

Amtsblatt Nr. 155 vom 2005, Pos. 1298.

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Im Einzelnen sind insofern – mit Schwerpunktsetzung auf die polnische Rechtslage – die allgemeinen gesetzlichen Grundlagen der (Sport-)Schiedsgerichtsbarkeit, die Entstehung, die erfassten Streitigkeiten, die Form der Schiedsvereinbarung, die Einzelheiten des Schiedsverfahrens sowie der einstweilige Rechtsschutz von Interesse. II. Der Sport-Schiedsgerichtshof beim Polnischen Olympischen Komitee (PKOL) 1. Allgemeine Grundlagen der (Sport-)Schiedsgerichtsbarkeit Polen gehört zu den Ländern, in denen das Sportgeschehen, darunter die Schlichtung von Sportstreitigkeiten, gesetzlichen Regelungen unterliegt. 2 Abschnitt IV. des Sportgesetzes vom 25.Juli 2005 regelt derzeit die Fragen der Disziplinarverantwortung und Streitschlichtung im polnischen Sport. In den Jahren 2005 bis 2007 wurden das Sportgesetz, die polnische Zivilprozessordnung sowie das Statut des Sport-Schiedsgerichtshofs beim Polnischen Olympischen Komitee mehrmals novelliert. Auf diese Änderungen wird im Folgenden eingegangen. Der Einsatz der Schiedsgerichtsbarkeit zur Streitschlichtung im Bereich des Sports wurde in Polen erst durch die Änderungen der polnischen Zivilprozessordnung (Kodeks Poste˛powania Cywilnego, im Weiteren KPC) im Jahre 1989 wieder ermöglicht. Der polnische Gesetzgeber schuf besondere rechtliche Grundlagen, um Streitigkeiten im Bereich des Sports Schiedsgerichten zuzuweisen. Art. 40 Abs. 1 des Sportgesetzes verleiht namentlich den polnischen Sportverbänden das Recht, ständige Schiedsgerichte einzusetzen. Dieses Recht bezieht sich sowohl auf die landesweit tätigen polnischen Sportverbände als auch auf die anderen, nur auf regionaler Ebene tätigen Sportverbände. Auf diese Gerichte sind die Bestimmungen des 5. Buches des KPC anwendbar, soweit das Sportgesetz als lex specialis nichts Abweichendes bestimmt. Ein ständiges Schiedsgericht fungiert beispielsweise im Rahmen des Polnischen Fußballbundes. Nur einige polnische Sportverbände haben Schiedsgerichte eingerichtet. Erwähnenswert ist dabei, dass diese ständigen Schiedsgerichte zur Untersuchung vermögensrechtlicher Streitigkeiten – also solcher, die einen Geldwert haben 3 – vorgesehen und grundsätzlich von den Disziplinarorganen getrennt sind. 4 2 Das erste polnische Sportgesetz, das sog. Gesetz über die Körperkultur (Ustawa o kulturze fizycznej), wurde am 3.7.1984 verabschiedet. Amtsblatt Nr. 34 von 1984, Pos. 181. 3 Siehe Cajsel, Ustawa o sporcie kwalifikowanym. Komentarz, Art. 41, Rn. 1, S. 212; vgl. Wach, Alternatywne formy rozwia˛zywania sporów sportowych, Warszawa 2005, S. 47ff.

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Eine solche Unterscheidung ist damit zu begründen, dass die Sportdisziplinarverantwortung – z.B. wegen Dopings – im polnischen Sportrecht wenig von der zivilrechtlichen Natur der Vereinsstrafe hat. Die neueste Novellierung des KPC vom 28.7.2005 5 hat die Regelung der Schiedsgerichtsbarkeit in Polen modernisiert, internationalisiert und eine breitere Einsatzmöglichkeit geschaffen. 6 Dies erlaubte u.a. die Einführung des Art. 1154 KPC, dem zufolge der Anwendungsbereich der KPC auf Sachverhalte außerhalb Polens ausgedehnt wurde. Dadurch wurde der Globalisierung des heutigen Wirtschaftslebens, darunter auch des Sportgeschehens, Rechnung getragen. Eine weitere, in Art. 1157 KPC verankerte Gesetzesänderung bezieht sich auf die Ausdehnung der Schiedsfähigkeit auch auf nichtvermögensrechtliche und arbeitsrechtliche Ansprüche. Aus dem Sportgesetz als lex specialis, insbesondere aus Art. 41 Abs. 1, ergibt sich jedoch, dass die Zuständigkeit der Sportschiedsgerichte noch immer lediglich auf vermögensrechtliche Ansprüche beschränkt ist. Mit der Novellierung des KPC wurden auch arbeitsrechtliche Ansprüche aus dem Sportbereich schiedsfähig. Nach Art. 1164 KPC i.V.m. §24 der VerfO 7 des Sport-Schiedsgerichtshofs beim Polnischen Olympischen Komitee darf die Schiedsvereinbarung im Falle einer arbeitsrechtlichen Streitigkeit nur schriftlich nach Entstehung des jeweiligen Streits geschlossen werden. Art. 1162 KPC sieht hinsichtlich der Form der Schiedsvereinbarung eine Lockerung vor. Demnach wird nunmehr eine nicht gleichzeitige Unterzeichnung der Schiedsabrede, bspw. mit Hilfe moderner Fernkommunikationsmittel, zugelassen. Zu anderen Neuerungen des KPC zählen insbesondere die Einführung des in Deutschland bereits bekannten Grundsatzes der „Kompetenz-Kompetenz“, wonach ein Schiedsgericht über die eigene Zuständigkeit in der Sache entscheiden 4 Siehe Cajsel, Ustawa o sporcie kwalifikowanym. Komentarz, Warszawa 2006, Art. 41, Rn. 2, S. 213. 5 Ustawa o zmianie ustawy – Kodeks poste˛powania cywilnego, Amtsblatt Nr 178 vom 2005, Pos. 1478. 6 Im Einzelnen zur Reform der polnischen Schiedsgerichtsbarkeit s. Lewandowski, Polnisches schiedsgerichtliches Verfahren transformiert, www.polubowny.org/dokumenty /WIRO_9=06.pdf., 15.04.2008. 7 Verfahrensordnung (VerfO) des polnischen Sport-Schiedsgerichtshofs (poln. Regulamin Trybunału Arbitra˙zowego do Spraw Sportu przy Polskim Komitecie Olimpijskim), wurde auf der Grundlage Art. 17 Abs. 1 und Art. 56 Abs. 3 des Statuts vom Vorstand des Polnischen Olympischen Kommitees verabschiedet. Es beinhaltet Informationen zur Zuständigkeit und Organisation des Sport-Schiedsgerichtshofs, zu den Spruchkörpern, zum Ausschluss von Schiedsrichtern, zur Schiedsvereinbarung, zum Verfahrensablauf und zu den Verfahrensarten, zur Verhandlung und Abstimmung, zur Wirkung des Schiedsspruchs sowie zur Finanzierung des polnischen Sport-Schiedsgerichtshofs.

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kann, 8 sowie die Einführung der Billigkeitsregel in den richterlichen Entscheidungsprozess. 9 Nicht zu unterschätzen ist dabei die Möglichkeit der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes durch ein Schiedsgericht. 10 Gem. Art. 1181 KPC darf das Gericht, wenn von den Parteien nichts Abweichendes vereinbart wurde, eine einstweilige Verfügung erlassen. Voraussetzung ist, dass der Verfügungskläger im Antrag glaubhaft macht, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach im Recht ist. Die neue Regelung des Art. 1181 KPC soll das Verfahren vor einem Schiedsgericht in dringenden Fällen beschleunigen. Dies ist für die Sportwelt von besonderer Bedeutung. 11 2. Entstehung Seit dem 17.11.1994 fungiert in Polen ein nationales Sportschiedsgericht – der Sport-Schiedsgerichtshofs beim Polnischen Olympischen Komitee –, dessen Kompetenzen in Art. 42ff. des geltenden Sportgesetzes geregelt sind. Der Sitz des Gerichts – Warschau – ist gleichzeitig Sitz des Polnischen Olympischen Komitees. 12 Zum ersten Präsidenten des Sport-Schiedsgerichtshofs wurde Prof. Andrzej Szwarc gewählt. 3. Erfasste Streitigkeiten Die Befugnisse des Sport-Schiedsgerichtshofs erstrecken sich einerseits auf die rein schiedsgerichtliche Tätigkeit in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, welche einen Bezug zum Sport aufweisen, andererseits auch auf die Tätigkeit als Rechtsmittelinstanz der Disziplinarorgane der Polnischen Sportverbände. Gemäß Art. 4 Abs. 1 des Statuts übt der Sport-Schiedsgerichtshof seine Rechtsprechung in den Angelegenheiten aus, die laut der vertraglichen oder satzungsmäßigen Schiedsabrede in seine Zuständigkeit fallen. Dazu gehören mit dem Sport in Zusammenhang stehende vermögensrechtliche Streitigkeiten wie solche um 8 Zieli´nski, Flaga-Gieruszy´nska, KPC Komentarz, 3. Aufl., Warszawa 2008, Art. 1180, Rn. 1, S. 1661. 9 Zieli´nski, Flaga-Gieruszy´nska, KPC Komentarz, Art. 1194 , Rn. 1, S. 1672. 10 Zieli´nski, Flaga-Gieruszy´nska, KPC Komentarz, Art. 1181, Rn. 1, S. 1663. 11 Wenn nach der alten Rechtslage der Rechtsstreit einem Schiedsgericht unterbreitet wurde, war für den Erlass einer einstweiligen Verfügung das staatliche Gericht zuständig, dessen Zuständigkeit in erster Instanz begründet worden wäre, wenn die Sache nicht an das Schiedsgericht gerichtet worden wäre. Ereci´nski, PUG 2/1994, S. 3. 12 Siehe Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 des Gerichtsstatuts, www.zasoby Polskiego Portalu Olimpijskiego PKOl_statut.mht, in der Fassung vom 22.10.2007. Das Statut des polnischen Sport-Schiedsgerichtshofs PKOL wurde auf der Grundlage des Art. 42 Abs. 7 des Sportgesetzes vom 29.Juli 2005 vom Vorstand des Polnischen Olympischen Komitees verabschiedet.

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Transferregeln, Übertragungsrechte, aus Sponsoringverträgen usw. In solchen Verfahren werden die schiedsrichterlichen Grundsätze angewandt. Bei Erhebung der Klage wird insbesondere geprüft, ob eine wirksame Schiedsvereinbarung vorliegt (s. §30 VerfO). Die Klage wird allerdings, direkt dem Sport-Schiedsgerichtshof vorgelegt. Auffallend sind die Kompetenzen des Sport-Schiedsgerichtshofs im Rechtsmittelverfahren, welches grundsätzlich keiner Schiedsvereinbarung bedarf. Nach Art. 8 Abs. 2 des Statuts kann der Sport-Schiedsgerichtshof auch dann die Sportdisziplinarentscheidungen der Sportverbände nachprüfen, wenn im Verbandsstatut kein Rechtsmittelverfahren vorgesehen ist. 13 Betont wird daher in diesem Zusammenhang, dass bei der Prüfung der angefochtenen Disziplinarentscheidungen der Sportverbände der Sport-Schiedsgerichtshof nicht als Schiedsgericht und nicht im Wege des schiedsgerichtlichen Verfahrens entscheidet. 14 Nach Art. 4 Abs. 2 des Statuts kann der Sport-Schiedsgerichtshof die Disziplinarentscheidungen der Organe der Polnischen Sportverbände, die besonders schwerwiegende Konsequenzen für den Sportler haben, überprüfen. 15 Laut Art. 44 Abs. 1 des Sportgesetzes i.V.m. Art. 4 Abs. 2 des Statuts des Sport-Schiedsgerichtshofs kann es insbesondere folgende Disziplinarentscheidungen der Polnischen Sportverbände nachprüfen: Ausschluss aus dem Sportverband, lebenslange und zeitlich begrenzte Sperre des Sportlers, Titelaberkennung, wenn es sich um den Titel „Polnischer Meister“ oder den Sieger des Polenpokals handelt, die Herabstufung der Sportmannschaft auf einen niedrigeren Tabellenplatz, das Verbot der Vertretung Polens bei internationalen Sportwettkämpfen und bei internationalen Pokalspielen. Und schließlich kann gem. Art. 43 Abs. 2 des Gesetzes i.V.m. Art. 4 Abs. 3 des Statuts jede andere Disziplinarentscheidung des jeweiligen Verbandes immer dann vor dieses Gericht gebracht werden, wenn im vereinsinternen Verfahren einer Partei das Verteidigungsrecht aberkannt worden ist oder wenn eine Verletzung der Rechtsvorschriften oder der Sportregelwerke vorliegt. 16 Dies bedeutet, dass auch andere Disziplinarstrafen als die in Art. 43 Abs. 1 des Gesetzes genannten nachgeprüft werden können, sofern im Verbandsstrafverfahren grobe, in Art. 43 Abs. 2 13 Art. 8 Abs. 2 des Gerichtsstatuts bestimmt, dass auch in den Fällen, in welchen keine Zuständigkeit des Sport-Schiedsgerichthofs PKOL in die Satzung des jeweiligen Verbandes aufgenommen wurde, die Disziplinarstrafen der Sportverbände innerhalb von 30 Tagen nach deren Verhängung durch den Sport-Schiedsgerichtshof nachprüfbar sind. 14 So Szwarc, Wissenschaftliches Gutachten zur rechtlichen Regulierung des Sports in Polen, angefertigt für das Ministerium für Bildung und Sport in Warschau im Zeitraum vom 1.06.2004 –30.11.2004 (unveröffentlicht); vgl. hierzu Wach, Alternatywne formy rozwia˛zywania sporów sportowych, Warszawa 2005, S. 215. 15 Ke˛dzior, Gerichtliche Überprüfung von Vereinsstrafen am Beispiel von Sportverbänden im deutschen und polnischen Rechtssystem, Hamburg 2005, S. 138. 16 Siehe Cajsel, Ustawa o sporcie kwalifikowanym. Komentarz, Warszawa 2006, Art. 43, Rn. 2, S. 224.

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genannte Fehler vorgekommen sind. Art. 44 Abs. 1 des Sportgesetzes statuiert somit den Ausschluss der Kompetenz der staatlichen Gerichtsbarkeit bezüglich der Überprüfung der genannten Disziplinarstrafen, die von den Sportverbänden verhängt werden. Die Konstruktion des Art. 44 Abs. 1 des polnischen Gesetzes scheint daher weltweit einzigartig zu sein. 17 Weder aus dem Gesetz noch aus dem Statut des Sport-Schiedsgerichtshofs ergibt sich ein Hinweis auf dessen Zusammenarbeit mit der Anti-Doping-Kommission, die in Polen für die Bekämpfung des Dopings administrativ zuständig ist. Eine Klage im schiedsgerichtlichen Verfahren sowie im Rechtsmittelverfahren ist direkt beim Sport-Schiedsgerichtshof einzureichen. Die Zuständigkeiten und das Verfahren vor dem Sport-Schiedsgerichtshof wurden in Art. 43 Abs. 3 –7 des Gesetzes von 2005 im Vergleich zur früheren Rechtslage (nach dem Gesetz über die Körperkultur von 1996) ausführlicher geregelt. Nach dem neuen Art. 43 Abs. 3 des Sportgesetzes überprüft der Sport-Schiedsgerichtshof keine Klagen, die mit der Anwendung technischer Spielregeln zusammenhängen. Eine solche völlige Ausnahme der Spielregeln von der Überprüfbarkeit durch das Gericht stößt im Hinblick auf die Kommerzialisierung des Sports auf Bedenken. 18. Der im Gesetz von 2005 neu eingeführte Art. 43 Abs. 5 präzisiert weiter die Kompetenzen des Gerichts bezüglich der Kontrolle der Disziplinarstrafen der Sportverbände. Wenn sich die Entscheidung des Sportverbandes auf ein ganz oder teilweise fehlerhaftes Beweisverfahren stützt, darf das Gericht die vom Verband verhängte Disziplinarstrafe aufheben und die Rechtssache an das jeweils zuständige Organ des Sportverbandes zurückverweisen. Wenn dennoch die Disziplinarstrafe in einem rechtmäßig durchgeführten Verbandsverfahren verhängt wurde, darf das Gericht selbst die Rechtssache erneut prüfen und erneut entscheiden. 19 Bemerkenswert ist weiterhin auch der neue Art. 43 Abs. 7 des Sportgesetzes, dem zufolge i.V.m. Art. 23a des Sportgesetzes der Sport-Schiedsgerichtshof – auf 17

Wach, Alternatywne formy rozwia˛zywania sporów sportowych, Warszawa 2005,

S. 91. 18 Siehe Wach, Alternatywne formy rozwia˛zywania sporów sportowych, Warszawa 2005, S. 21 und S. 98. Auch die „sporttypischen Regeln“ können unter Umständen vom rechtlichen Standpunkt her bedeutsam sein, wenn deren Nichtanwendung beispielsweise ein Berufsverbot nach sich zieht. In der deutschen Fachliteratur und Rechtsprechung wird inzwischen eine begrenzte Nachprüfbarkeit von Tatsachenentscheidungen, deren Konsequenzen über das jeweilige Spiel hinausreichen und bei denen die Fehlerhaftigkeit der Entscheidung offenkundig ist, weitgehend bejaht, siehe z. B. BGH SpuRt 1995, 43ff.; Röhricht, Chancen und Grenzen von Sportgerichtsverfahren nach deutschem Recht, in: Röhricht (Hrsg.), Sportgerichtsbarkeit, Stuttgart u.a., 1997, S. 19 (25ff.); Vieweg, SpuRt 1995, 97ff. 19 Siehe Cajsel, Ustawa o sporcie kwalifikowanym. Komentarz, Warszawa 2006, Art. 43, Rd. 4, S.225.

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Antrag des Sportministers – im Falle der Nichtbefolgung seines Urteils im Rechtsmittelverfahren dazu befugt ist, die Mitglieder des jeweiligen Verbandsvorstands einstweilig ihrer Ämter zu entheben und für die Zeit des Verfahrens einen Verwalter (Kurator) zu bestellen. Entsprechende Bestimmungen wurden auch in die Verfahrensordnung des Sport-Schiedsgerichtshofs eingeführt (Abschnitt Xa, §87bff.). 20 Der Präsident des Sport-Schiedsgerichtshofs führt eine Liste von Verwaltern, die jeweils für die Zeit der Amtsenthebung des jeweiligen Vorstands vom Sport-Schiedsgerichtshof als Ersatzvorstand bestellt werden können (Art. 8a Abs. 2 des Gerichtsstatuts). 21 Diese Regelung hängt eng mit der Wahrnehmung und der rechtlichen Ausgestaltung der Vereinsautonomie in Polen zusammen, 22 wobei die strenge Aufsicht über die Tätigkeit der polnischen Sportverbände auch mit der Notwendigkeit der Korruptionsbekämpfung im Sport verbunden ist. Eine weitere besondere Funktion des polnischen Sport-Schiedsgerichtshofs ist nach Art. 4 Abs. 5 des Gerichtshofstatuts die Kompetenz, auf Antrag Rechtsgutachten zu Fragen zu erstellen, welche die Sportausübung betreffen. 4. Schiedsvereinbarung Als Grundlage des Tätigwerdens des Sport-Schiedsgerichtshofs lässt die VerfO eine Schiedsvereinbarung aufgrund eines Vertrags sowie aufgrund einer Satzung zu. Gemäß §24 VerfO bedarf die Schiedsvereinbarung grundsätzlich der Schriftform, wobei im Bereich des Sports eine Formerleichterung im Hinblick auf die Schiedsabrede zulässig ist. Dies betrifft beispielsweise den Abschluss der Schiedsvereinbarung im Rahmen von Schriftverkehr oder die Annahme eines schriftlichen Angebots. Nach §23 VerfO kann die Schiedsvereinbarung in der Satzung eines Sportverbandes enthalten sein. Eine besondere Vereinbarung des Polnischen Olympischen 20 www.zasoby Polskiego Portalu Olimpijskiego PKOl.mht, Verfahrensordnung i.d.F. vom 22.10.2007. 21 In der Fassung des Gesetzes vom 25.7.2005 konnte der Sportminister bei festgestellter Rechtsverletzung selbst den Verbandsvorstand seines Amtes entheben, was tatsächlich im Hinblick auf zahlreiche Korruptionsaffären, u.a. im Falle des Polnischen Fußballverbands (PZPN) erfolgte. Wegen des Vorwurfs der Nichtbeachtung der Vereinsautonomie drohte die FIFA im Jahr 2007 sogar mit dem Ausschluss Polens aus dem internationalen Sportgeschehen. Auch wenn nach der Novellierung des Art. 23 des Sportgesetzes vom 28.8.2007 die Amtsenthebung vom Sport-Schiedsgerichtshof vollzogen wurde, hat die FIFA im Oktober 2008 erneut erheblichen Druck auf die polnische Regierung ausgeübt. Vgl. FAZ v. 06.10.2008, S. 25. 22 Ke˛dzior, Gerichtliche Überprüfung von Vereinsstrafen am Beispiel von Sportverbänden im deutschen und polnischen Rechtssystem, Hamburg, 2005, S. 63ff.

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Komitees mit dem jeweiligen Sportverband bezüglich des Inhalts und der Anpassung der Schiedsklausel ist nicht vorgesehen. Eine Schiedsklausel im Statut des jeweiligen Sportverbandes ist gem. §25 VerfO für die Parteien per se bindend. Die Legitimation einer Schiedsklausel, beispielsweise durch individuelle Aushändigung des Statuts bzw. durch Zustimmung zur Satzungsänderung, wenn diese eine neue Schiedsklausel enthält, wird im polnischen Recht nicht geregelt. 5. Schiedsverfahren a) Einleitung des Schiedsverfahrens Die Klage mit den nötigen Anlagen wird nach §30 der VerfO direkt dem SportSchiedsgerichtshof eingereicht. Der Beklagte soll innerhalb von 2 Wochen nach Zustellung der Klage seine Erwiderung abgeben. Gleichzeitig wird nach §30 der VerfO den Parteien die Liste der wählbaren Schiedsrichter zugestellt. b) Bildung des Schiedsgerichts Nach Art. 10 des Statuts i.V.m. Art. 42 Abs. 4 des Sportgesetzes besteht derzeit der Sport-Schiedsgerichtshof aus 24 Schiedsrichtern, die vom Vorstand des Polnischen Olympischen Komitees für vier Jahre bestellt werden, wobei Wiederwahl möglich ist (Art. 11 Abs. 1 und Abs. 2 des Statuts). Bis zur Novellierung des Sportgesetzes am 28.8.2007 wurden die Mitglieder des Sport-Schiedsgerichtshofs je zur Hälfte vom Sportminister und vom Polnischen Olympischen Komitee ernannt. 23 Gem. Art. 10 des Statuts müssen alle Schiedsrichter eine juristische Ausbildung, mindestens jedoch dreijährige Berufserfahrung in einem juristischen Tätigkeitsfeld und dazu anerkanntes Wissen im Sportbereich haben. Die derzeit amtierenden Schiedsrichter sind von Beruf Juraprofessoren (6), Rechtsberater (radca prawny) (10) und / oder Anwälte (adwokat) (8). 24 Bei der Annahme der Stelle verpflichten 23 Ursprünglich setzte sich der Schiedsgerichtshof aus 21 Mitgliedern zusammen. Es wurden jeweils sieben Gerichtsmitglieder vom Präsidenten des Polnischen Sportbundes, sieben vom Vorstand des Polnischen Olympischen Komitees und sieben weitere vom Vorstand der Union der Polnischen Sportverbände berufen. Da sich seit 1994 die Strukturen des polnischen Sports und die politischen Gegebenheiten geändert haben, wurde auch die Zusammensetzung des Schiedsgerichtshofs einer gründlichen Reform unterzogen. 24 In Polen wird bei den rechtsberatenden Berufen wie folgt differenziert: Für die Rechtsberater (Radca Prawny) sind die Bestimmungen des Gesetzes über die Rechtsberater (Amtsblatt vom 1982 Nr 19 Pos. 145) maßgeblich, für die Anwälte (Adwokat) dagegen die des Gesetzes über die Anwaltschaft (Amtsblatt vom 1982 Nr 16 Pos. 124). Der Hauptunterschied zwischen den beiden Berufen besteht darin, dass der Rechtsberater in Familien-, Vormundschafts- und bestimmten strafrechtlichen Verfahren nicht vor Gericht auftreten darf. In der Praxis sind normalerweise natürliche Personen Mandanten von Anwälten, während die Rechtsberater überwiegend für Institutionen und Unternehmen in wirtschaftsrechtichen Sachbereichen arbeiten. In dieser Hinsicht besteht jedoch keine klare Aufteilung.

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sich die Schiedsrichter nach Art. 14 des Statuts, ihre Aufgaben in voller Unabhängigkeit und Unparteilichkeit wahrzunehmen. In der Regel entscheidet der Sport-Schiedsgerichtshof als Spruchkörper, dem drei Schiedsrichter angehören, wobei jede Partei im schiedsgerichtlichen Verfahren einen Schiedsrichter aus der o.g. Liste benennen kann. Im Rechtsmittelverfahren und im Verfahren nach Art. 23a des Sportgesetzes werden drei Schiedsrichter nach §11 Abs. 3 VerfO vom Vorsitzenden des Sport-Schiedsgerichtshofs ernannt. Gemäß §11 Abs. 4 kann das Gericht bei besonders schwierigen und schwerwiegenden Sachverhalten als ein Spruchkörper mit fünf Personen entscheiden. Bei einfachen Sachverhalten und bei niedrigem Streitwert besteht das Gericht wiederum nach §12 VerfO aus einem Einzelschiedsrichter, wenn dies der Schiedsvereinbarung entspricht. Der Schiedsrichter kann gemäß Art. 42 Abs. 5 S. 1 –3 des Sportgesetzes von seinem Amt lediglich in drei Fällen abberufen werden. 25 Zum einen kann er selbst zurücktreten. Zum anderen kann der Vorstand des PKOLs ihn abberufen, wenn eine dauerhafte Krankheit vorliegt, welche eine Funktionsausübung verhindert, oder wenn ein rechtskräftiges Urteil ausgesprochen wurde, in dem eine vorsätzliche Straftat festgestellt wird. Die Umstände, unter welchen der Schiedsrichter des Sport-Schiedsgerichtshofs abberufen werden kann, sind damit äußerst begrenzt. Im Abschnitt IV. der Verfahrensordnung des Sport-Schiedsgerichtshofs werden detailliert die Umstände geregelt, bei deren Vorliegen der Schiedsrichter für das jeweilige Verfahren von den Parteien abgelehnt werden kann, insbesondere dann, wenn Zweifel an seiner Unparteilichkeit bestehen. Tritt der Schiedsrichter trotzdem nicht zurück, wird im Sportgesetz nicht geregelt, ob die Parteien eine Entscheidung über die Beendigung seines Amtes bei einem staatlichen Gericht beantragen können. c) Durchführung des Schiedsverfahrens Nach §30 der VerfO soll eine möglichst schnelle Sachprüfung und -entscheidung angestrebt werden. Die Parteien und der Vorsitzende des Spruchkörpers entscheiden über die vorzubringenden Beweismittel. Der Spruchkörper darf dennoch im Laufe des Verfahrens keine Zwangsmaßnahmen verhängen. Unentschuldigte Abwesenheit einer der Parteien oder die Nichterwiderung des Beklagten hindert nicht der Einleitung des Verfahrens. Das Schiedsverfahren wird bei „geschlossenen Türen“ durchgeführt. d) Beendigung des Schiedsverfahrens Verhandlung und Abstimmung finden in Abwesenheit dritter Personen statt. In aller Regel wird polnisches Recht angewendet, es sei denn, es wurde in der 25

Auch diese Bestimmung wurde erst in das neue Sportgesetz vom 25.7.2005 eingefügt.

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Schiedsvereinbarung Abweichendes vereinbart. Gem. §61 VerfO werden bei der Prüfung jeder Sache der wirkliche Wille der Parteien, der gute Glaube sowie die in der jeweiliges Sportdisziplin herrschenden Sitten berücksichtigt. Der Schiedsspruch wird nach §63 VerfO in Form eines Urteils oder eines Beschlusses erlassen. Das Urteil wird mit einfacher Stimmenmehrheit gefällt. e) Wirkung des Schiedsspruchs, Rechtsmittel zum CAS In Art. 43 Abs. 6 des Sportgesetzes von 2005 wurde ausdrücklich festgelegt, dass die Gerichtsentscheidungen im Rechtsmittelverfahren grundsätzlich endgültig sind und nicht angefochten werden können. 26 Bei der Auswertung der polnischen Rechtslage fällt dennoch auf, dass weder im Gesetz noch im Statut des SportSchiedsgerichtshofs die Möglichkeit der Anrufung des CAS als letzter Instanz in Dopingsachen ausdrücklich vorgesehen ist. Das Sportgesetz legt zwar in Art. 39 Abs. 1 fest, dass die Regelungen des polnischen Sports im Rahmen der Sportdisziplinarverantwortung insbesondere mit den Rechtsvorschriften der nationalen und internationalen Organisationen übereinstimmen müssen. Zu vermuten ist, dass es sich hierbei insbesondere um die Anti-Doping-Bestimmungen des WADA Codes handelt. Eine ebensolche Besonderheit des polnischen Sportgesetzes stellt der 2005 neu eingeführte Art. 44 dar. Nach dieser Vorschrift ist in bestimmten Fällen – z.B. bei Vorliegen eines groben Rechtsverstoßes oder grober Unbilligkeit im Verfahren vor dem Sport-Schiedsgerichtshof – die Möglichkeit der Kassation vor dem Höchsten Gericht Polens (Sa˛d Najwy˙zszy) als letztinstanzliches Rechtsmittel gegen das Urteil des Sport-Schiedsgerichtshofes vorgesehen. Die Einführung dieser Vorschrift ist positiv zu bewerten. Insbesondere weil der Sport-Schiedsgerichtshof eine Art Zwangs-Gerichtsbarkeit im Rechtsmittelverfahren darstellt, sollte den Parteien die Möglichkeit gegeben werden, dessen Entscheidungen nachprüfen zu lassen. Klar ist dabei, dass die allgemein genannten Fälle des groben Rechtsverstoßes oder der groben Unbilligkeit im Gerichtsverfahren seltene Ausnahmesituationen sind. Die Einführung des Art. 44 in das Gesetz geht auf Kritik in der Literatur zurück, demzufolge durch die Nichtregelung der Frage der Überprüfbarkeit der Urteile des Sport-Schiedsgerichtshofs das Recht auf ein faires Verfahren – d.h. Art. 6 EMRK – verletzt wurde. 27 f) Kosten Der Sport-Schiedsgerichtshof ist aus organisatorischer Sicht eng mit dem Polnischen Olympischen Komitee (PKOL) verbunden. Die Verwaltungskosten des 26

Diese Regelung entspricht der deutschen Rechtslage (vgl. §38.1 DIS-SportSchO). Siehe Stachowiak, Poste˛powanie dyscyplinarne w sporcie in: Szwarc (Hrsg.), Odpowiedzialno´sc´ dyscyplinarna w sporcie, Pozna´n 2001, S. 146. 27

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Sport-Schiedsgerichtshofs werden nach Art. 25 VerfO vom PKOL getragen. Der Vorstand des PKOLs bestimmt nach Art. 42 Abs. 7 des Sportgesetzes die Zusammensetzung und das Verfahren vor dem Sport-Schiedsgerichtshof. Nach Art. 26 Abs. 1 VerfO des Sport-Schiedsgerichtshofs werden die Kosten des Schiedsverfahrens und des Rechtsmittelverfahrens in Sportdisziplinarentscheidungen von den Parteien getragen. Gem. Art. 26 Abs. 1 und 2 werden die Kosten des Verfahrens nach Art. 23a des Gesetzes vom auftraggebenden Organ getragen. Auch die Kosten der Erstellung eines Gutachtens des Sport-Schiedsgerichtshofs werden vom Auftraggeber übernommen. Art. 43 Abs. 4 des Sportgesetzes verleiht dem Sport-Schiedsgerichtshof seit der Novellierung im Jahre 2005 das Recht, eine Gebühr bei Einleitung des Rechtsmittelverfahrens zu erheben. Diese soll nach Art. 43 Abs. 4 des Sportgesetzes nicht mehr als 4.000 PLN (ca. 1.200 €) betragen. Je nach Komplexität des Sachverhalts darf das Gericht die Höhe der jeweiligen Bearbeitungsgebühr anpassen. 28 Die Schiedsrichter haben nach Art. 27 des Statuts des Gerichthofs Anspruch auf ein Honorar. Die Vergütung der Schiedsrichter wird gem. §4 des Regelwerks über die Honorare der Schiedsrichter des Sport-Schiedsgerichtshofs 29 jeweils aus der Bearbeitungsgebühr beglichen. Bemerkenswert ist, dass die Tätigkeit des Sport-Schiedsgerichtshofs als Rechtsmittelinstanz hinsichtlich der in Art. 43 Abs. 1 S. 1 –6 aufgelisteten Sportdisziplinarstrafen nach Art. 42 Abs. 8 des Sportgesetzes direkt aus den Mitteln des Staatshaushaltes, die dem Sportminister zur Verfügung stehen, bezuschusst werden kann. Die teilweise Finanzierung der Tätigkeit des polnischen Sport-Schiedsgerichtshofs aus dem Staatshaushalt geht auf das interventionistische Modell des polnischen Sports zurück. 30 Es wird davon ausgegangen, dass die polnischen Sportverbände selbst zum Teil staatliche Aufgaben durchführen und vom Staat finanziert werden. Unter diesen Voraussetzungen kommt der polnische Gesetzgeber zu dem Schluss, dass die Kosten, die aus der Überprüfung der Disziplinarentscheidungen der Organe der Sportverbände entstehen, aus dem Staatshaushalt zu begleichen sind. 6. Einstweiliger Rechtsschutz §56 Abs. 1 der VerfO des Sport-Schiedsgerichtshofs sieht ein Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes vor, allerdings bedarf nach Abs. 2 des 28 Siehe Cajsel, Ustawa o sporcie kwalifikowanym. Komentarz, Warszawa 2006, Art. 43, Rn. 3, S. 225. 29 Vgl. das Regelwerk über die Honorare der Schiedsrichter des Schiedsgerichtshof PKOL, Stand: 22.10.2007 (unveröffentlicht). 30 Ke˛dzior, Autonomia organizacji sportowych w s´wietle prawa polskiego i Unii Europejskiej, Sport Wyczynowy 2007, Nr. 1 – 3, S. 6ff.

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§56 der VerfO i.V.m. Art. 1181 Par. 3 KPC die einstweilige Anordnung des SportSchiedsgerichtshofs einer Vollstreckungsklausel eines staatlichen Gerichts. Das einstweilige Rechtsschutzverfahren vor einem Schiedsgericht wurde in Art. 1181 KPC (ZPO) durch die Reform der Zivilprozessordnung vom 28.7.2005 eingeführt. 31 Bisher hatten die Schiedsgerichte keine entsprechenden Zuständigkeiten. 32 Die Möglichkeit der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes durch ein Schiedsgericht hat auch der Sport-Schiedsgerichtshof in seinem Urteil vom 26.7.2007 bestätigt. 33 Im polnischen Recht sind derzeit zwei Möglichkeiten der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes in einem schiedsgerichtlichen Verfahren eröffnet. Der Kläger kann insbesondere in einer entsprechenden Situation einstweiligen Rechtsschutz entweder von einem Schiedsgericht (Art. 1181 Par. 1 KPC) oder von einem staatlichen Gericht (Art. 730 Par. 1 KPC) beantragen. Denkbar ist also, dass im Falle der Nichtgewährung des Rechtsschutzes durch das Schiedsgericht das staatliche Gericht in derselben Sache angerufen wird. Dies ist nach h.M. unerwünscht und sollte vom polnischen Gesetzgeber geändert werden. 34 Für sonstige Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes ist in der Verfahrensordnung des Sport-Schiedsgerichtshofs keine besondere Eilzuständigkeit vorgesehen. Dies erlaubt keine sofortige Möglichkeit der Sachprüfung und -entscheidung. 35 III. Das Deutsche Sportschiedsgericht 1. Allgemeine Grundlage der Sportschiedsgerichtsbarkeit in Deutschland Unter Schiedsgerichtsbarkeit versteht man eine durch den Staat sanktionierte, durch Private vereinbarte und von ihnen unabhängige Gerichtsbarkeit, die einen bestimmten Rechtsstreit unter Anwendung prozessualer und materieller Regeln entscheidet und deren Entscheidungen grundsätzlich die gleichen rechtlichen Wirkungen (materielle Rechtskraft und Vollstreckbarkeit) zukommen wie den Entscheidungen staatlicher Gerichte. 36

31 Ustawa o zmianie ustawy – Kodeks postepowania cywilnego, Amtsblatt Nr 178 vom 2005, Pos. 1478. 32 Zieli´nski, Flaga-Gieruszy´nska, KPC Komentarz, Art. 1181, Rdnr. 1, S. 1663. 33 Siehe http://www.olimpijski.sm.pl/download/gornik_l.pdf., 12.12.2007. 34 Zieli´nski, Flaga-Gieruszy´nska, KPC Komentarz, Art. 1181, Rdnr. 2, S. 1663. 35 Die DIS-SportSchO bestimmt dagegen, dass für Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes eine Eilzuständigkeit von Schiedsrichtern auch für den Fall gewährleistet ist, dass ein Schiedsgericht noch nicht gebildet wurde. 36 Oschütz, Sportschiedsgerichtsbarkeit, Berlin 2005, S. 24 m.w.N.

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Im deutschen Recht gibt es keine spezielle Regelung der Sportschiedsgerichtsbarkeit. Vielmehr greifen die allgemeinen Regelungen der §§1025ff. ZPO ein. Diese können zum einen als Grundlage für die teilweise Ersetzung staatlichen Rechtsschutzes, zum anderen aber auch als Grenze der Privat- bzw. Verbandsautonomie angesehen werden. 37 Der staatliche Rechtsschutz kann nach deutschem Recht nicht vollständig ausgeschlossen werden. Den staatlichen Gerichten kommt vielmehr eine Art „Reservefunktion“ 38 zu, die sich in der Aufhebung, Verweigerung der Anerkennung oder Vollstreckung des Schiedsspruchs manifestieren kann. Die Sportschiedsgerichtsbarkeit kann sich in Deutschland auf zweierlei Grundlagen stützen: zum einen auf die vertragliche Vereinbarung der Streitschlichtung durch Schiedsgerichte und zum anderen auf die in Verbandssatzungen vorgesehenen Schiedsgerichte. Dabei ist immer kritisch zu prüfen, ob es sich um „echte“ Schiedsgerichte oder lediglich um sog. Verbands(schieds)gerichte handelt, die als Organe der Sportverbände anzusehen sind, weil sie nicht über die nach materiellen Kriterien zu beurteilende erforderliche Unabhängigkeit und Neutralität verfügen. 39 2. Entstehung Die außergerichtliche Streitbeilegung im Sport blickt in Deutschland auf eine lange Tradition zurück. Ihr Beitrag zur Entlastung der staatlichen Gerichte ist erheblich. Nach Schätzungen werden jährlich ca. 420.000 Streitigkeiten außergerichtlich entschieden. 40 Im Einzelfall ist dabei allerdings zu klären, ob Verbandsorgane – auch wenn sie als Schiedsgerichte bezeichnet werden – oder ob „echte“ Schiedsgerichte aktiv werden. Soweit es sich um die Entscheidung von Verbandsorganen handelt, ist der Weg zur Nachprüfung durch staatliche Gerichte eröffnet. Gerade im monopolartig strukturierten Sport 41 unterliegen Verbandsentscheidungen einer weitgehenden gerichtlichen Kontrolle. 42 Diese kann zweierlei bewirken: Zum einen kann es zu zeitlichen Verzögerungen kommen, die dem Sport abträglich sind. So hat sich z.B. die juristische Bewältigung des Krabbe-Falles 11 Jahre (von 1992 bis 2002) hingezogen. 43 Zum anderen sind Sportverbände im Falle von Fehlentscheidungen einem erheblichen – möglicherweise existenzvernichten37

Vieweg, Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände, Berlin 1990, S. 265. 38 Oschütz, Sportschiedsgerichtsbarkeit, S. 26. 39 Vgl. zur Abgrenzung im Einzelnen Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, 11. Auflage, Köln 2007, Rn. 4842ff. 40 Hilpert, BayVBl 1988, 161 (161). 41 Vgl. zum Ein-Platz-Prinzip im Einzelnen Vieweg, Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände, Berlin 1990, S. 61ff. 42 Vgl. im Einzelnen Vieweg, Faszination Sportrecht, abrufbar unter www.irut.jura.unierlangen.de/Counter/count.php?id=1, S. 17ff.

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den – Haftungsrisiko ausgesetzt. Nicht zuletzt aus diesem Grund entstanden Ende der 1990er Jahre insbesondere bezüglich Dopingstreitigkeiten Bestrebungen, die vorerwähnten Risiken dadurch auszuschalten, dass die (Streit-)Entscheidung auf eine unabhängige, neutrale Instanz verlagert wird. Zur Vorbereitung fand in der Führungs-Akademie Berlin des Deutschen Sportbundes im Februar 2002 ein Akademiegespräch „Schiedsgerichte bei Dopingstreitigkeiten“ 44 statt, das zu einem wesentlichen Schub für die folgende Entwicklung führte. 2004 wurde die Stiftung Nationale Anti-Doping Agentur (NADA) gegründet. Am 1.1.2008 nahm das von der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit e.V. (DIS) eingerichtete Deutsche Sportschiedsgericht seine Tätigkeit auf. Grundlage seiner Tätigkeit ist die DIS-Sportschiedsgerichtsordnung (DIS-SportSchO) 45. 3. Erfasste Streitigkeiten Der Anwendungsbereich der DIS-SportSchO ist relativ breit und deckt – mit Ausnahme arbeitsrechtlicher Streitigkeiten – das gesamte Spektrum sportrechtlicher Konfliktfälle ab. Erfasst sind vertrags- und handelsrechtliche Streitigkeiten mit Sportbezug, vereins- und gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten sowie verbandsrechtliche Disziplinarstreitigkeiten, insbesondere solche, die im Zusammenhang mit Verstößen gegen Anti-Doping-Bestimmungen stehen. 46 4. Schiedsvereinbarung Nach den Vorgaben der deutschen ZPO kann die Zuständigkeit eines Schiedsgerichts auf zweierlei Weise begründet werden: zum einen auf vertraglicher Basis durch eine Schiedsvereinbarung i.S.v. §1029 ZPO und zum anderen durch Satzung (vgl. §1066 ZPO). Angesichts der praktischen Schwierigkeiten, die mit satzungsmäßigen Schiedsklauseln nicht selten verbunden sind, empfiehlt die DIS, neben einer satzungsmäßigen Schiedsklausel auch individuelle Schiedsvereinbarungen abzuschließen. 47 Sie behält sich vor, die Durchführung des Schiedsverfahrens von einer gesonderten Vereinbarung des Vereins oder des Verbandes mit der DIS abhängig zu machen. 48 Für die sportrechtlichen Streitigkeiten zwischen Verband und Sportler empfiehlt die DIS folgende Schiedsvereinbarung: 43 Vgl. die tabellarische Übersicht von Vieweg in: Führungs-Akademie Berlin des Deutschen Sportbundes e.V. (Hrsg.), Schiedsgerichte bei Dopingstreitigkeiten – Dokumentation des Akademiegesprächs vom 06. / 07.02.2002, Frankfurt 2003, S. 211ff. 44 Führungs-Akademie Berlin des Deutschen Sportbundes e.V. (Hrsg.), Schiedsgerichte bei Dopingstreitigkeiten – Dokumentation des Akademiegesprächs vom 06. / 07.02.2002, passim. 45 Die DIS-SportSchO ist abrufbar im Internet unter http://www.dis-arb.de/sport /Material/DIS-SportSchO-2008.pdf. 46 Bredow / Klich, causa sport 2008, S. 45 (46); §1 der DIS-SportSchO ist hingegen sehr allgemein gehalten. 47 Bredow / Klich, causa sport 2008, S. 45 (47). 48 Ziff. 3 Schiedsvereinbarung DIS-SchO.

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„Alle Streitigkeiten, die sich im Zusammenhang mit dem Vertrag (... Bezeichnung des Vertrags ...) oder über seine Gültigkeit ergeben, werden nach der Sportschiedsgerichtsordnung der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit e.V. (DIS) (DISSportSchO) unter Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs endgültig entschieden.“

Verbandsrechtliche Disziplinarstreitigkeiten sowie die Vereinbarung der Zuständigkeit eines Schiedsgerichts als Rechtsmittelinstanz i.S.v. §45 DIS-SportSchO bedürfen eines angepassten Regelungsgehalts der Schiedsvereinbarung. Die Schiedsvereinbarung bedarf grundsätzlich der Schriftform. Falls ein Sportler Vertragspartei ist, der als Verbraucher i.S.v. 1061 Abs. 5 ZPO anzusehen ist, ist eine separate, eigenhändig unterzeichnete Urkunde erforderlich. 5. Schiedsverfahren a) Einleitung des Schiedsverfahrens Die Einleitung des schiedsrichterlichen Verfahrens ist in §6 der DIS-SportSchO geregelt. Danach hat der Kläger die Klage bei der DIS-Hauptgeschäftsstelle in Köln mit den im Einzelnen vorgegebenen Angaben (z.B. Bezeichnung der Parteien und in Bezug genommenes Regelwerk) einzureichen. Mit dem Zugang der Klage bei der DIS-Hauptgeschäftsstelle beginnt das schiedsrichterliche Verfahren. Die Zustellung der Klage an den Beklagten – bei Verstößen gegen Anti-Doping-Bestimmungen auch an die NADA – erfolgt nach Zahlung der DIS-Bearbeitungsgebühr und des Kostenvorschusses. b) Bildung des Schiedsgerichts Ob die Entscheidung des Schiedsgerichts mit drei oder mit einem Schiedsrichter erfolgen soll, liegt in der Hand der Parteien. 49 Allerdings ist für Verfahren, die Streitigkeiten betreffen, die ausschließlich einen Verstoß gegen Anti-DopingBestimmungen zum Gegenstand haben und denen ein Streitwert unter 25.000 € zugrunde liegt, die Entscheidung durch einen Einzelschiedsrichter vorgesehen, falls die Parteien keine abweichende Vereinbarung getroffen haben. 50 Für die Benennung der Schiedsrichter sind die Parteien im Zusammenspiel mit dem dreiköpfigen, ehrenamtlich und weisungsfrei tätigen DIS-Ernennungsausschuss für die Sportgerichtsbarkeit verantwortlich. Bei einem Dreierschiedsgericht benennt jede Partei einen Schiedsrichter. Der Vorsitzende des Schiedsgerichts wird dann vom Ernennungsausschuss benannt, der auf die Sportrechtsspezialisten zurückgreifen muss, die auf der Schiedsrichterliste des Deutschen Sportschiedsgerichts aufgeführt sind. 51 Bei einem Einzelschiedsrichter müssen sich die Parteien 49

§2.1 DIS-SportSchO. §2.2 DIS-SportSchO. 51 Die Schiedsrichterliste des Deutschen Sportschiedsgerichts ist im Internet unter http:/ /www.dis-arb.de/sport/Material/DIS-Sport-SchO-Schiedsrichterliste.pdf abrufbar und enthält derzeit 104 Namen. 50

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auf eine Person geeinigt haben. Ansonsten erfolgt die Benennung durch den DIS-Ernennungsausschuss. 52 Gemäß §15 DIS-SportSchO muss jeder Schiedsrichter unparteilich und unabhängig sein. Er hat sein Amt nach bestem Wissen und Gewissen auszuüben und ist dabei an keine Weisungen gebunden. Bei berechtigten Zweifeln an der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit eines Schiedsrichters kann dieser gemäß §18.1 DIS-SportSchO abgelehnt werden. Die Annahme des Schiedsrichteramtes sowie die Bestellung der Schiedsrichter durch den DIS-Generalsekretär regeln im Einzelnen §§16 und 17 DIS-SportSchO. c) Durchführung des Schiedsverfahrens Nach seiner Konstituierung setzt das Schiedsgericht dem Beklagten eine Frist zur Klageerwiderung. 53 Die Einzelheiten des im Übrigen von größtmöglicher Parteiautonomie geprägten Verfahrens regelt §24 DIS-SportSchO. Danach bestimmt das Schiedsgericht das Verfahren nach freiem Ermessen, soweit auf das schiedsrichterliche Verfahren nicht die zwingenden Vorschriften des 10. Buches der ZPO, die Parteivereinbarung und die DIS-Sportschiedsgerichtsordnung anzuwenden sind. Das Schiedsgericht hat darauf hinzuwirken, dass die Parteien sich über alle erheblichen Tatsachen vollständig erklären und sachdienliche Anträge stellen. Die Verfahrensleitung liegt beim vorsitzenden Schiedsrichter, der auch – bei entsprechender Ermächtigung durch die anderen Mitglieder des Schiedsgerichts – über einzelne Verfahrensfragen allein entscheiden kann. Das Verfahren ist nicht öffentlich, soweit die Parteien nichts Abweichendes ausdrücklich vereinbart haben. d) Beendigung des Schiedsverfahrens Das Schiedsverfahren wird mit dem endgültigen Schiedsspruch 54 oder mit einem Beendigungsbeschluss (insbes. bei Klagerücknahme) des Schiedsgerichts oder – bei unterbliebener Benennung eines Schiedsrichters – durch Entscheidung der DIS-Hauptgeschäftsstelle nach Anhörung der Parteien beendet (§39 DISSportSchO). e) Wirkung des Schiedsspruchs, Rechtsmittel zum CAS Wie jeder andere Schiedsspruch, so sind auch die des Deutschen Sportschiedsgerichts in aller Regel endgültig, d.h. sie haben für die beteiligten Parteien die Wirkung rechtskräftiger Urteile staatlicher Gerichte (§38. 1 DIS-SportSchO). Eine interessante spezielle Ausnahme bilden Streitigkeiten, die einen Verstoß gegen 52

§3.1 DIS-SportSchO. §9 DIS-SportSchO. 54 Der Schiedsspruch ist gem. §34. 1 DIS-SportSchO schriftlich zu erlassen, zu begründen und von den Schiedsrichtern zu unterschreiben. 53

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Anti-Doping-Bestimmungen zum Gegenstand haben. Insofern eröffnet §38.2 DISSportSchO die Möglichkeit, gegen den Schiedsspruch Rechtsmittel zum Court of Arbitration for Sport (CAS) einzulegen. f) Kosten Als Kosten des schiedsrichterlichen Verfahrens fallen neben der DIS-Bearbeitungsgebühr die Honorare und Auslagenerstattungen der Schiedsrichter an. Das Honorar bestimmt sich grundsätzlich nach dem Streitwert. Eine Ausnahme besteht wiederum hinsichtlich der Streitigkeiten, die ausschließlich Verstöße gegen AntiDoping-Bestimmungen zum Gegenstand haben. In diesem Fall erfolgt die Honorierung nach dem Stundensatz für CAS-Schiedsrichter; bei einem Streitwert unter 25.000 € erhält ein Einzelschiedsrichter ein Pauschalhonorar. Die Kostensituation wird unter dem Gesichtspunkt des fairen Prozesses, der nur gegeben sei, wenn der Sportler in der Lage sei, das Schiedsgerichtsverfahren finanziell zu tragen, zum Teil kritisch gesehen. In diesem Zusammenhang wird angeregt, eine Art „Verfahrenskostenhilfe“ einzuführen. 55 6. Einstweiliger Rechtsschutz Der einstweilige Rechtsschutz hat in Sportstreitigkeiten eine kaum zu überschätzende praktische Bedeutung. Man denke nur an kurzfristige Nominierungsund Teilnahmeentscheidungen. In diesen Fällen ist kompetenter ad-hoc-Rechtsschutz – sei es durch das Deutsche Sportschiedsgericht, sei es durch ein staatliches Gericht – vor allem für die betroffenen Athleten unverzichtbar. Die Regelungen des §20 DIS-SportSchO differenziert danach, ob das Schiedsgericht bereits konstituiert ist oder nicht. Nach Konstituierung ist der einstweilige Rechtsschutz gemäß §20.1 DIS-SportSchO ausgeschlossen. Über den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz entscheidet der Vorsitzende alleine oder der Einzelschiedsrichter durch Beschluss. Dabei steht der Inhalt der Maßnahme im Ermessen des Schiedsgerichts, das allerdings die Belange jeder Partei, nicht mit vollendeten Tatsachen konfrontiert zu werden, so gut zum Ausgleich zu bringen hat, wie es dem Schiedsgericht möglich erscheint. Vor der Konstituierung des Schiedsgerichts ist gemäß §20.2 DIS -SportSchO der einstweilige Rechtsschutz durch staatliche Gerichte nur ausgeschlossen, wenn zwischen der DIS und dem Sportverband, dem der Sportler unmittelbar oder mittelbar angehört, eine Kooperationsvereinbarung 56 besteht. Über den Antrag entscheidet die nach dem ins Internet gestellten Geschäftsverteilungsplan 57 zu55 Eimer, Das Deutsche Sportschiedsgericht, nur für Reiche? Abrufbar unter www .sportgericht.de/premium/EIMER Richard Deutsches Sportschiedsgericht.pdf 56 Zum Inhalt der Kooperationsvereinbarung vgl. Bredow / Klich, causa sport 2008, 45 (50). 57 Abrufbar unter http://www.dis-arb.de/sport/default.htm.

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ständige Person bzw. deren Stellvertreter, zu der bzw. dem der Antragssteller unmittelbar Kontakt aufnehmen muss. Die Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung, gegebenenfalls auch ohne Anhörung des Antragsgegners ergehen (§20.5 DIS-SportSchO). Neben der Frage, ob die Exklusivität des Deutschen Sportschiedsgerichts für den einstweiligen Rechtsschutz wirksam ist, 58 ergibt sich auch das Problem, ob durch die Bekanntgabe der nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständigen Einzelschiedsrichter im Internet für die Antragssteller in unzulässiger Weise Wahlmöglichkeiten eröffnet werden. Beispielsweise hätte ein Athlet, der mit seinem Verband eine Nominierungs- oder Teilnahmestreitigkeit hat, bei einem Zeitfenster von einer Woche die Auswahl zwischen sieben zuständigen „Eilschiedsrichtern“. IV. Resümee Andere Traditionen, Rechtsgrundlagen und sportpolitische Gegebenheiten bewirken, dass zwischen dem Sport-Schiedsgerichtshof beim Polnischen Olympischen Komitee und dem Deutschen Sportschiedsgericht mehrere Unterschiede festzustellen sind. Während das Deutsche Sportschiedsgericht als echtes Schiedsgericht bezeichnet werden kann, ist der Sport-Schiedsgerichtshof beim Polnischen Olympischen Komitee als „institutionelles Schiedsgericht“ zu qualifizieren, welches u.U. öffentliche Aufgaben, wie etwa die Bestellung eines Verwalters als Ersatzvorstand eines Sportverbandes, erfüllen kann. Dies kann Fragen hinsichtlich der Unabhängigkeit aufwerfen, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Mitglieder des Sport-Schiedsgerichtshofs in Polen vom Vorstand des PKOL bestellt werden. Die Neutralität des Verfahrens wird in Deutschland auch dadurch angestrebt, dass die Schiedsklage einer unabhängigen Institution – der DIS (Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit) – zugestellt wird, während in Polen eine direkte Vorlage an den Sport-Schiedsgerichtshof beim Polnischen Olympischen Komitee erfolgt. Zusätzlich wird im Fall des Deutschen Sportschiedsgerichts die Autonomie u.a. dadurch gesichert, dass die Schiedsrichterliste von einer unabhängigen Stelle – der DIS – aufgestellt wird. 59 Diese Aufgabe liegt in Polen in Händen des Vorstandes des PKOL. Man kann annehmen, dass die teilweise Nichterfüllung des Unabhängigkeitskriteriums im Falle des Sport-Schiedsgerichtshofs in Polen dadurch kompensiert wird, dass in begrenzten Fällen die Urteile dieses Gremi58 Vgl. allgemein zur Diskussion, ob eine derartige Exklusivitätsvereinbarung wirksam ist und ob §1032 ZPO abbedungen werden kann, Oschütz, Sportschiedsgerichtsbarkeit, S. 400 ff.; Adolphsen, Internationale Dopingstrafen, Tübingen 2003, S. 470 ff.; Monheim, Sportlerrechte und Sportgerichte im Lichte des Rechtsstaatsprinzips, München 2006, S. 387. Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rdnrn. 3205f. m.w.N. Cherkeh / Schroeder, SpuRt 2007, S. 101ff. 59 Vgl. §3.2 der DIS-SportSchO.

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ums durch ein staatliches Gericht im Wege des Kassationsverfahrens nachgeprüft werden können. Eine „Entstaatlichung“ des Verfahrens vor dem Deutschen Sportschiedsgericht zeigt sich auch darin, dass die Parteien mehr Einfluss auf die Größe und Zusammensetzung des Spruchkörpers haben, als dies in Polen der Fall ist. Die Schiedsrichter des Deutschen Sportschiedsgerichts werden immer von den Parteien benannt, während in Polen das Gleiche nur für vermögensrechtliche Streitigkeiten gilt. Im Rechtsmittelverfahren vor dem Sport-Schiedsgerichtshof werden namentlich alle drei Schiedsrichter vom Vorsitzenden des Sport-Schiedsgerichthofs ernannt. Beide „Gerichte“ verfolgen selbstverständlich ein gemeinsames Ziel: Sie lösen sportrechtsrelevante Konflikte unter Ausschluss staatlicher Gerichtsbarkeit und bedienen sich dabei zum Teil verschiedener Grundsätze. Der Kompetenzumfang des Sport-Schiedsgerichtshofs beim Polnischen Olympischen Komitee kommt dem des Deutschen Sportschiedsgerichts der DIS nahe, wobei dem Sport-Schiedsgerichtshof beim Polnischen Olympischen Komitee mehr Befugnisse zustehen. Dem Deutschen Sportschiedsgericht fremd ist insbesondere die Tätigkeit im Auftrag eines staatlichen Organs. Typisch für den polnischen Sport-Schiedsgerichtshof ist weiterhin, dass das Rechtsmittelverfahren nicht als schiedsgerichtliches Verfahren eingestuft wird. Schliesslich kann derzeit der Sport-Schiedsgerichtshof beim Polnischen Olympischen Komitee, im Gegensatz zum Deutschen Sportschiedsgericht, in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten eingeschaltet werden. Zu den Gemeinsamkeiten der beiden Schiedsgerichte zählen die Entscheidungsbefugnisse im Rechtsmittelverfahren. Soweit ein Verbandsstrafverfahren durchgeführt wurde, kann eine Kassation oder Revision der Verbandsstrafe erfolgen. Hier entsprechen die Kompetenzen des Sport-Schiedsgerichtshofs beim Polnischen Olympischen Komitee grundsätzlich denen des Deutschen Sportschiedsgerichts. 60 In beiden Rechtsordnungen ist das Vorliegen einer gültigen Schiedsvereinbarung grundsätzlich Voraussetzung für das Tätigwerden der „Gerichte“. Beide Systeme lassen Schiedsvereinbarungen sowohl aufgrund eines Vertrages als auch einer Satzung zu. Auch die Schriftform ist die Regel. Typisch für die polnische Rechtsordnung ist jedoch, dass der Sport-Schiedsgerichtshof als Rechtsmittelinstanz für Disziplinarentscheidungen der Sportverbände auch ohne Schiedsvereinbarung tätig werden kann. 61 Dies bestätigt die These, dass der Sport-Schiedsgerichshof in seiner Tätigkeit als Rechtsmittelinstanz nicht als Schiedsgericht fungiert. Während in Polen offenbar davon ausgegangen wird, dass die gesetzmäßige Verankerung der Zuständigkeit des Sport-Schiedsgerichtshofs im Rechtsmittelverfahren ausreicht, versucht man im deutschen Recht hingegen, die Legitimation 60

Vgl. §45.4 DIS-SportSchO. Art. 8 Abs. 2 des Statuts des Sport-Schiedsgerichtshofs beim Polnischen Olympischen Komitee. 61

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des Sportschiedsgerichts und gleichzeitig die Rechtssicherheit dadurch zu stärken, dass neben der satzungsmäßigen Schiedsabrede der Abschluss von IndividualSchiedsvereinbarungen angeregt wird. Um Rechtsklarheit bezüglich der Zuständigkeit des Sportschiedsgerichts zu schaffen, hat man in der DIS-SportSchO eine diesbezügliche gesonderte Vereinbarung des jeweiligen Verbandes mit der DIS für erforderlich erklärt. Auch wird ein besonderer Schutz des Sportlers in seiner Eigenschaft als Verbraucher im polnischen Recht nicht ausdrücklich gewährt. Im Vergleich zu den Kosten, die im Verfahren vor dem Deutschen Sportschiedsgericht anfallen können, scheint der auf die Verfahrensparteien in Polen ausgeübte finanzielle Druck geringer zu sein. Dies wird u.a. dadurch ermöglicht, dass die Höhe der anfangs zu begleichenden Gebühr eine obere – durchaus akzeptable – Grenze hat. Auch die Tatsache, dass die Tätigkeit des polnischen SportSchiedsgerichtshofs als Rechtsmittelinstanz zum Teil aus dem Staatshaushalt beglichen werden kann, trägt zu dessen finanziellen Entlastung bei. Auch bezüglich des einstweiligen Rechtsschutzes scheint die deutsche Rechtslage derzeit mehr Rechtsklarheit und -sicherheit zu bieten. In beiden Ländern haben die Schiedsgerichte nach der derzeitigen Rechtslage die Befugnis, einstweilige Verfügungen zu erlassen. Während in Polen im schiedsgerichtlichen Verfahren zur Erlangung einer einstweiligen Verfügung entweder der Sport-Schiedsgerichtshof oder ein staatliches Gericht angerufen werden kann, wird in Deutschland der einstweilige Rechtsschutz durch staatliche Gerichte ausgeschlossen, sobald das Schiedsgericht tätig geworden ist. Die detaillierte Regelung des einstweiligen Rechtsschutzes im Verfahren vor dem Deutschen Sportschiedsgericht eröffnet, unabhängig davon, dass den Parteien viel Spielraum bei der Wahl des Schiedsrichters zur Verfügung steht, die Chance auf eine schnelle und effiziente Entscheidung. Schließlich ist auf die Besonderheiten des Verfahrens in Dopingsachen vor dem Deutschen Sportschiedsgericht hinzuweisen. Die innerstaatliche Koordination der Anti-Doping-Stellen wird dadurch abgesichert, dass die Klage in Dopingangelegenheiten zusätzlich der NADA zugestellt wird. Weiterhin werden gegen den Schiedsspruch des Deutschen Sportschiedsgerichts in Dopingangelegenheiten Rechtsmittel zum Court of Arbitration for Sport (CAS) zugelassen. Eine entsprechende Regelung ist weder im Sportgesetz noch in der Verfahrensordnung des Sport-Schiedsgerichtshofs beim Polnischen Olympischen Komitee zu finden. Dabei scheint dies angesichts der weltweiten Harmonisierung des Dopingrechts berechtigt und angebracht zu sein.

Verursachung eines Verkehrsunfalls beim Autorennen Andrzej Zoll In der polnischen Strafrechtsliteratur ist der Name des werten Jubilars untrennbar mit seinen Leistungen im Bereich des Sportrechts verbunden. Andrzej Szwarc widmete strafbaren Verhaltensweisen im Sport viel Zeit und Aufmerksamkeit. Um meiner Achtung vor seinen Leistungen und meiner Freundschaft Ausdruck zu geben, wählte ich zum Thema meines Beitrags die Frage der strafrechtlichen Verantwortung eines Rennfahrers für die Verursachung eines Verkehrsunfalls. I. Das Problem ist aktuell, wovon der Beschluss des Obersten Gerichts vom 7. Januar 2008 ein Zeugnis abgibt. 1 Vor dem Hintergrund dieses Beschlusses können bestimmte, mit der strafrechtlichen Verantwortung für Unfälle im Sport, insbesondere im Auto-Rennsport, verbundene Probleme besprochen werden, weil das Oberste Gericht in der Begründung seiner Entscheidung auf viele Fragen von grundlegender theoretischer Bedeutung eingegangen ist. Der diesem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt war einfach. Auf einer für den Verkehr gesperrten Sonderstrecke verlor ein Rennfahrer die Kontrolle über sein Auto, kam von der Strecke ab, prallte gegen die Schutzplanke und anschließend gegen eine dahinter stehende Frau, die einen doppelten Beinbruch, Brustkorbund andere Verletzungen erlitt. Es stand außer Zweifel, dass der Rennfahrer die im normalen Autoverkehr auf dieser Wegstrecke zulässige Geschwindigkeit weit überschritten hatte. Der Rennfahrer wurde vorschriftsmäßig zum Autorennen zugelassen, besaß eine gültige Lizenz und verfügte über drei Jahre Rennerfahrung. Dem Unfallverursacher wurde eine Straftat nach Art. 177 § 1 poln. StGB 2 zur Last gelegt. Das Gericht 1. Instanz sprach den Rennfahrer mit der Begründung frei, er habe im Rahmen des Konträrtypus des erlaubten Sportrisikos gehandelt. (Der Begriff „Konträrtypus“ ist in der polnischen Strafrechtslehre eine allgemein gebrauchte Bezeichnung für Rechtfertigungsgründe.) Es sei darauf hingewiesen, dass im polnischen Strafrecht eine gesetzliche Regelung dieses Konträrtypus fehlt. 3 1

Sign. V KK 158 – 07, Biuletyn SN 2/2008. Art. 177 § 1: Wer unter zumindest fahrlässiger Verletzung der Sicherheitsregeln im Verkehr zu Lande, zu Wasser oder in der Luft fahrlässig einen Unfall verursacht, bei dem eine andere Person eine der in Art. 157 § 1 bezeichneten Körperverletzungen erleidet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. (E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, Freiburg im Br. 98). 3 Mehr dazu: A. Zoll, Okoliczno´sci wyła˛czaja˛ce bezprawno´sc´ czynu [Rechtfertigungsgründe], Warszawa 1982. 2

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Im zweiten Rechtszug wurde der Freispruch bestätigt. Das Oberste Gericht befand die Kassation der Verletzten für unbegründet, nahm allerdings als Grundlage für den Freispruch die Nichtverwirklichung der in Art. 177 § 1 StGB bezeichneten Tatbestandsmerkmale an. In der Urteilsbegründung ging das OG vom Vorliegen von Kontärtypen aus, „deren Merkmale in der Justizpraxis herausgearbeitet bzw. im Rahmen der doktrinalen Konzepte der Strafrechtslehre formuliert wurden“. Zu solchen außergesetzlichen Kontärtypen zählte das OG die Einwilligung des Verletzten, medizinische Heilmaßnahmen, Zurechtweisung der Minderjährigen und sportliches Risiko. Keine Zweifel erweckt die These des OG, dass der Grundsatz nullum crimen sine lege poenali es lediglich verbietet, solch ein Verhalten als verboten anzusehen, das keine gesetzlichen Tatbestandsmerkmale verwirklicht, was allerdings nicht zu bedeuten hat, dass im Gesetz die Rechtfertigungsgründe bestimmt werden müssen. Mit dieser These befasste sich auch der Jubilar in seinen theoretischen Arbeiten. 4 Das Problem der außergesetzlichen Kontärtypen verdient aber näheres Hinsehen, insbesondere im Kontext des Verfassungsgrundsatzes der Gewaltenteilung. II. Auf dem Boden der Verfassung von 1952, der – wie in anderen kommunistischen Ländern auch – der Grundsatz der einheitlichen Staatsgewalt zugrunde lag 5, wurden außergesetzliche Konträrtypen, insbesondere diejenigen, deren Merkmale gerichtliche Akzeptanz fanden, ohne größere verfassungsrechtliche Bedenken hingenommen. Schon damals aber fragte H. Rajzman: „Von wem und wann hat die Lehre die Kompetenz zum ‚Kontratypisieren‘, zu einer arbiträren Festlegung von Normen, an die der Bürger gebunden ist, bekommen, welche die in einem diese Tat als tatbestandsmäßig beschreibenden Gesetz bestimmte Rechtswidrigkeit der Unrechtstat ausschließen?“ 6 Diese Frage kann auch auf die gerichtliche Kontratypisierung bezogen werden. Und in der Tat – werden wir uns dessen bewusst, dass wir es mit einem Konträrtypus dann zu tun haben, wenn eine bestimmte Person mit ihrem Verhalten alle Tatbestandsmerkmale einer unter Strafandrohung verbotenen Tat verwirklicht und dies unter solchen Umständen tut, die der Gesetzgeber weder im Strafgesetz noch in anderen Gesetzen als rechtswidrigkeitsausschließend bezeichnet hat. Erhebt sich dann nicht die Frage, ob die selbst theoretisch fundierte Annahme des Gerichts, eine konkrete Situation begründe den Ausschluss der Rechtswidrigkeit, nicht doch einen Eingriff der Rechtsprechungsgewalt in die verfassungsrechtlich der Gesetzgebung vorbehaltene Materie darstellt? 7 Es sei 4 Siehe A.J. Szwarc, Zgoda pokrzywdzonego jako podstawa wyła˛czenia odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe [Einwilligung des Verletzten als Grundlage für den Ausschluss der Strafverantwortlichkeit für Sportunfälle], Pozna´n 1975, S. 115 ff. 5 Art. 20 der Verfassung vom 22. Juli 1952. 6 H. Razjman, Analogia in bonam partem i zasada legalizmu w prawie karnym, [Analogie in bonam partem und das Legalitätsprinzip im Strafrecht], Annales UMCS 1966, Jus XIII, S. 47. 7 Die Gewaltenteilung geht unmittelbar aus Art. 10 VerfRP von 1997 hervor.

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darauf hingewiesen, dass durch den auf dem Konträrtypus beruhenden Ausschluss der Rechtswidrigkeit einer verbotenen Tat 8 auch die Freiheiten und Rechte des mit der tatbestandsmäßigen Tat Verletzten betroffen sein können. Dies ist also nicht nur eine Relation zwischen dem Täter einer tatbestandsmäßigen Tat und dem Staat, sondern eine Relation zwischen den Bürgern und zwischen dem schutzberechtigten Bürger und dem zu diesem Schutz verpflichteten Staat. Man kann sich unschwer eine Situation vorstellen, in der im Hinblick auf den außergesetzlichen Konträrtypus das Verhalten von Person A für rechtmäßig befunden wird und somit der Person B das Recht auf Notwehr gegen einen tatbestandsmäßigen Angriff genommen wird. Es muss auch beachtet werden, dass ein Konträrtypus nur dann vorliegt, wenn sich der Ausschluss der Rechtswidrigkeit einer tatbestandsmäßigen Tat auf einen wiederholbaren, im gewissen Sinne typischen Umstand stützt (daher auch die von W. Wolter in die polnische Strafrechtslehre eingeführte Bezeichnung für solche Umstände) 9. Diese Bemerkung muss auch für sog. außergesetzliche Kontärtypen gelten. Auch in diesem Fall geht es um einen wiederholbaren, typischen Umstand, der sich als von anderen, die Begehung einer tatbestandsmäßigen Tat betreffenden Umständen abweichend beschreiben lässt. Es lässt sich also nicht verbergen, dass hier das Gericht normativ tätig wird, indem es einen anderen Anwendungsumfang der sanktionierenden Norm festlegt, als es der Gesetzgeber getan hat. 10 Wie bereits oben angesprochen, stellte das OG zutreffend fest, dass der Grundsatz nullum crimen sine lege poenali der Annahme von außergesetzlichen Rechtfertigungsgründen nicht im Wege steht. Diesem in Polen übrigens in der Verfassung verankerten Grundsatz 11 kommt vor allem eine Garantiefunktion zu, insbesondere einer Person gegenüber, die sich strafrechtlich zu verantworten hat. Die Zulässigkeit der Annahme von außergesetzlichen Konträrtypen verfängt sich vielmehr mit Art. 7 der Verfassung (Legalitätsprinzip). 12 Gemäß dieser Vorschrift können die Gerichte nur auf der Grundlage und im Rahmen des Gesetzes handeln. Die Annahme eines außergesetzlichen Konträrtypus und der Strafausschluss der unter gesetzlicher Strafandrohung verbotenen Tat auf Grund eines vom Gericht selbst unter Verweis auf die Doktrin bestimmten Umstands scheint eine Verletzung des Art. 7 VerfRP zu sein. 8

In der polnischen Strafrechtslehre wird zwischen der sekundären und der primären Rechtmäßigkeit der Tat unterschieden, wenn die Tat keine Verhaltensnorm verletzt. Siehe A. Zoll, Odpowiedzialno´sc´ karna lekarza za niepowodzenie w leczeniu [Ärztliche Strafverantwortlichkeit für Misserfolge in der Behandlung], Warszawa 1988, S. 6 ff. 9 W. Wolter, Nauka o przeste˛pstwie [Die Lehre vom Verbrechen], Warszawa 1973, S. 163. 10 Diese Schlussfolgerung ist von der Annahme bzw. Ablehnung der Lehre über die negativen Tatbestandsmerkmale unabhängig. 11 Art. 42 Abs. 1 VerfRP von 1997. 12 Art. 7 der Verfassung der Republik Polen: „Die Organe der öffentlichen Gewalt handeln auf der Grundlage und in den Grenzen des Rechts“.

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Der Standpunkt, nach dem die Möglichkeit der Formulierung von außergesetzlichen Rechtfertigungsgründen durch Gerichte abzulehnen ist, zwingt das in einer konkreten Sache erkennende Gericht keineswegs zur Verurteilung, wenn es keine Grundlagen der Strafbarkeit beim Vorliegen von besonderen Umständen sieht. Auf Grund von Art. 193 VerfRP kann das Gericht dem Verfassungsgerichtshof die Rechtsfrage vorlegen, ob die Annahme der Tatbestandsmäßigkeit einer unter solchen Umständen begangenen Tat, die nach Meinung des Gerichts die Rechtswidrigkeit ausschließen sollten, mit der Verfassung und insbesondere mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit der rechtlichen Reaktion vereinbar ist. 13 Die Notwendigkeit des Zugriffs auf einen außergesetzlichen Konträrtypus wird nämlich mit der Unvereinbarkeit des gesetzlichen Tatbestandes mit den Bedürfnissen der Pönalisierung von bestimmten Verhaltensweisen begründet. Die den Standpunkt des auf Grund von Art. 193 VerfRP vorlegenden Gerichts bestätigende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes wird den Gesetzgeber zum Handeln bewegen, so dass dieser entweder präziser und enger die Tatbestandsmerkmale dahingehend bestimmt, dass durch sie die unter den vom Gericht und anschließend vom Verfassungsgerichtshof bestimmten Umständen begangenen Taten nicht erfasst werden, oder aber sich zur Bestimmung eines neuen Konträrtypus entschließt. Der Verfassungsgerichtshof kann auch, soweit ihm dies die sprachliche Auslegung erlaubt, eine sog. Auslegungsentscheidung treffen, in der er die Verfassungsmäßigkeit der bisherigen strafrechtlichen Beschreibung feststellt, allerdings unter Annahme einer den Anwendungsumfang der sanktionierenden Norm einengenden Auslegung. III. Es scheint aber, dass das erkennende Gericht selbst die Vereinbarkeit der eigenen Bewertung des Sachverhalts mit der in Strafrechtsvorschriften enthaltenen Bewertung herbeiführen kann, ohne auf das Institut der außergesetzlichen Konträrtypen Zugriff zu nehmen, zumal die vom OG genannten Umstände, die Konträrtypen darstellen sollen, es in Wirklichkeit nicht sind. Werden als Konträrtypen die Rechtfertigungsgründe angesehen, was im polnischen Fachschrifttum grundsätzlich unbestritten angenommen wird, so muss und kann auf den Konträrtyp nur dann zugegriffen werden, wenn die Tat eine sanktionierte Norm (Verhaltensnorm) verletzt. Die Tat ist ein Verhalten, das gegen ein in der Norm enthaltenes und zum Schutz der für die Gesellschaft oder für Einzelne wichtigen Güter erlassenes Gebot bzw. Verbot verstößt. Um normwidrig zu sein, muss die Tat zwei Voraussetzungen erfüllen: Sie muss objektiv das mit der Verhaltensnorm geschützte Gut gefährden und sie muss die Regeln des Umgangs mit diesem Rechtsgut verletzen. Keine Verletzung der sanktionierten Norm stellen 13 Art. 31 Abs. 3 der Verfassung der Republik Polen: „Einschränkungen, verfassungsrechtliche Freiheiten und Rechte zu genießen, dürfen nur in einem Gesetz beschlossen werden und nur dann, wenn sie in einem demokratischen Staat wegen seiner Sicherheit oder öffentlichen Ordnung oder zum Schutz der Umwelt, Gesundheit, der öffentlichen Moral oder der Freiheiten und Rechte anderer Personen notwendig sind. Diese Einschränkungen dürfen das Wesen der Freiheiten und Rechte nicht verletzen.“

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nämlich, worauf H. Welzel 14 bereits vor vielen Jahren hinwies, sozial adäquate Verhaltensweisen dar, bei denen das Rechtsgut gefährdet oder gar zerstört werden kann, ohne dass der handelnde Täter gegen die Regeln des Umgangs mit diesem Rechtsgut verstößt. Als außergesetzliche Konträrtypen nennt das Oberste Gericht die Einwilligung des Verletzten, medizinische Heilmaßnahmen, Zurechtweisung der Minderjährigen und sportliches Risiko. Hinsichtlich der sog. Einwilligung des Verletzten muss festgestellt werden, dass diese Bezeichnung recht inadäquat ist, da man in diesem Zusammenhang von einer Einwilligung des über ein Rechtsgut Verfügenden sprechen kann. Willigt jemand in die Zerstörung seiner Sache ein, dann ist er kein Verletzter und es liegt kein Angriff auf das Eigentum als gesetzlich geschütztes Rechtsgut vor. Die Einwilligung des über ein Rechtsgut Verfügenden bewirkt, dass die Vernichtung einer fremden Sache keinen Angriff auf das Eigentum darstellt. In all den Fällen, in denen wir es mit einem Rechtsgut von relativem sozialen Wert zu tun haben, wenn der Schutz des Rechtsguts vom Willen seines Inhabers bzw. des über dieses Rechtsgut Verfügenden abhängig ist, kann die den Träger dieses Rechtsguts (nicht aber das Rechtsgut selbst) angreifende Tat nicht als gegen die Verhaltensnorm verstoßend angesehen werden. Somit entfällt auch die Rechtswidrigkeit einer solchen Tat. Der Ausschluss der Rechtswidrigkeit macht auch die Frage nach deren Strafbarkeit gegenstandlos. Auf jeden Fall wird in einem solchen Fall weder notwendig noch möglich sein, sich auf die Konstruktion des Konträrtypus als Rechtfertigungsgrund zu berufen. Die mit Einwilligung des über ein Rechtsgut Verfügenden vorgenommene Tat bildet eine primär legale Handlung. Ähnlich ist es um die Notwendigkeit und Möglichkeit der Anwendung von Konträrtypen bei medizinischen Eingriffen bestellt. Ein Arzt, der seinem Patienten durch Beinamputation das Leben rettet, handelt nicht gegen die Gesundheit oder gegen das Leben des Operierten. Verfährt er nach den Regeln der medizinischen Kunst, so kann seine Tat nicht als Verletzung der sanktionierten, die Gesundheit oder das Leben schützenden Norm angesehen werden. Eine Voraussetzung für die Legalität des ärztlichen Handelns wird auch die Einwilligung des Patienten in die Operation (bzw. in gesetzlich vorgesehenen Fällen der sog. Ersatz der Einwilligung) sein. Operiert der Arzt ohne die erforderliche Einwilligung, so wird ihm nicht eine schwere Gesundheitsbeschädigung (Art. 156 § 1 poln. StGB) zur Last gelegt, sondern die Vornahme eines Eingriffs ohne Einwilligung des Patienten, das heißt eine Straftat gegen die Freiheit (Art. 192 poln. StGB). Dies ist auch ein Beweis dafür, dass medizinische Eingriffe keinen Umstand darstellen, der die Rechtswidrigkeit von Handlungen gegen Leib und Leben ausschließen würde. Auch in diesem Fall fehlt der Angriff auf die sanktionierte Norm und somit die Rechtswidrigkeit des ärztlichen Verhaltens. 14

H. Welzel, Studien zum System des Strafrechts, ZStW 58 (1939), 491 ff.

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Auch die Zurechtweisung der Minderjährigen wird unbegründeterweise als ein außergesetzlicher Konträrtyp angesehen. Die Annahme eines solchen Konträrtypus führt dazu, dass damit tatbestandsmäßige, verbotene Verhaltensweisen gegenüber Minderjährigen gerechtfertigt werden können. Die Akzeptanz für eine bestimmte Erziehungsmethode ist eine Frage der Kultur. Bestimmte Verhaltensweisen können im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit den allgemein anerkannten Erziehungsmethoden als sozial adäquat empfunden werden. Dies gilt aber nicht für solche Methoden, die die angeborene und unveräußerliche Würde des minderjährigen Zöglings verletzen (Art. 30 VerfRP). Geht eine bestimmte Tat nicht über den Rahmen der sozial zum Wohl des Zöglings adäquaten Verhaltensweisen hinaus, so fehlt auch hier die Verletzung der sanktionierten Norm und so entfällt auch hier die Rechtswidrigkeit, und zwar primär und nicht sekundär wegen Vorliegens eines außergesetzlichen Konträrtypus. Fehlt die Rechtswidrigkeit, so entbehrt auch die Frage nach der Strafbarkeit der Tat ihrer Grundlage. Nicht anders fällt die Antwort auf die Frage nach dem sportlichen Risiko aus. Das Sportgesetz vom 29. Juli 2005 15 regelt die Registrierung von Sportvereinen und bestätigt die Verbindlichkeit von Vorschriften über die Bedingungen für die Teilnahme an Wettkämpfen in bestimmten Sportdisziplinen. 16 Die Regeln für das Betreiben einer bestimmten, behördlich zugelassenen Sportdisziplin 17 beinhalten auch die Regeln des Verfahrens gegenüber einem Rechtsgut, das beim Betreiben dieser Sportdisziplin einer Gefahr ausgesetzt werden kann. Die Einhaltung dieser Regeln hat zur Folge, dass eine Tat, die dieses Rechtsgut gefährdet oder gar verletzt, nicht als eine Verletzung der sanktionierten Norm und somit nicht als rechtswidrig anzusehen ist. Auch in diesem Fall haben wir es mit der primären Rechtsmäßigkeit des Verhaltens einer Person zu tun, die im Wettkampf die in dieser Sportdisziplin geltenden Verhaltensregeln beachtet. IV. Wir wollen nun auf die Frage der strafrechtlichen Verantwortung des Rennfahrers zurückkommen, der einen Unfall und die mit diesem Unfall unzweifelhaft zusammenhängenden Körperverletzungen einer Beobachterin verursacht hat. Im 1. und 2. Rechtszug wurde der Rennfahrer im Hinblick auf das Vorliegen des außergesetzlichen Konträrtypus des sportlichen Risikos freigesprochen. Das OG wies die Kassation zurück, stellte aber fest, dass die Tat des Rennfahrers die in Art. 177 § 1 poln. StGB bestimmten Tatbestandsmerkmale nicht verwirklicht hatte.

15

Dz.U. (Gesetzesblatt) Nr. 155, Pos. 1298. In Art. 1 Abs. 2 des Gesetzes über den qualifizierten Sport heißt es: „Das Betreiben von qualifiziertem Sport erfolgt gemäß den gesetzlichen Vorschriften, Bestimmungen der Satzungen und Geschäftsordnungen von Sportvereinen, polnischen Sportvereinen und internationalen Sportorganisationen“. 17 Siehe Art. 17 des Sportgesetzes. 16

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Die Argumentation des OG ist auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen. Das OG hat freilich Recht, wenn es sagt, dass für den Ausschluss der Strafbarkeit aufgrund eines Konträrtypus die Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit der Tat relevant ist 18. Nach Meinung des OG hat die Tat des Rennfahrers nicht die in Art. 177 § 1 poln. StGB bezeichneten Tatbestandsmerkmale verwirklicht, weil auf Sonderstrecken die Verkehrsregeln, deren Verletzung ein Tatbestandsmerkmal bildet, mit Genehmigung der zuständigen Behörden schlicht nicht mehr gelten und an ihre Stelle die von entsprechenden Sportvereinen festgelegten Regeln treten. Ich weiche von dem Standpunkt des OG nicht ab, wenn ich feststelle, dass wir es beim Autorennen auf ausgewiesenen Strecken nicht mit dem „Verkehr zu Lande“ im Sinne des Art. 177 § 1 poln. StGB zu tun haben. Da der Rennfahrer die entsprechenden Verhaltensregeln nicht verletzt hat, kann ihm auch die Verursachung der Gesundheitsbeschädigung im Sinne des Art. 157 § 3 i.V. m. § 1 poln. StGB nicht zugerechnet werden. Nicht ein außergesetzlicher Konträrtypus rechtfertigt die fehlende strafrechtliche Verantwortung des Rennfahrers in dem beschriebenen Fall, sondern die Nichtverwirklichung von Tatbestandsmerkmalen, so dass der Grundsatz nullum crimen sine lege poenali der strafrechtlichen Verantwortung des Rennfahrers doch im Wege steht. Dies schließt freilich die strafrechtliche Verantwortung der Veranstalter des Autorennens, und zwar wegen eventueller unzureichender Sicherung der Rennstrecke, nicht aus.

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Notwendig ist, wie man sagen kann, die Feststellung der primären „Rechtswidrigkeit“ der Tat, d. h. der Verletzung einer sanktionierten Norm (Verhaltensnorm).

VI. Zum Jugendstrafrecht

Die neuesten Entwürfe zur Verschärfung des Jugendstrafrechts Andrzej Marek I. Die Wandlungen des Jugendstrafrechts Der Begriff „Jugendstrafrecht“ war in Polen bis zum Zeitpunkt der Verabschiedung des bis heute geltenden Gesetzes über das Verfahren in Jugendsachen (GVJ) vom 26. Oktober 1982 im Gebrauch, als er durch den Begriff „Verfahren in Jugendsachen“ ersetzt wurde. Grund dafür war die diesem Gesetz zugrundeliegende These von der Eigenständigkeit der Rechtsregelung in Bezug auf Jugendliche und von der Trennung dieser Regelung vom Strafrecht, worauf wir noch im Weiteren eingehen werden. Zu erinnern ist daran, dass die in Polen vor der Verabschiedung des Gesetzes von 1982 geltende Rechtsregelung auf der Prämisse basierte, dass das Strafrecht die Anwendung von Mitteln der Reaktion auf Straftaten regelt, die von Jugendlichen begangen wurden. Die Anwendung von betreuungserzieherischen Maßnahmen sowie die Bekämpfung von Symptomen sozialer Nichtanpassung der Jugendlichen, die keinen Ausdruck in der Begehung von strafbaren Taten finden, gehören hingegen in den Bereich des Familien- und Fürsorgerechts. 1 In ein gesondertes Kapitel des Strafgesetzbuches von 1932 wurde die Regelung aufgenommen, wonach das Gericht gegen den Jugendlichen nur erzieherische Maßnahmen anwendet (wie z.B. Verwarnung, Aufsicht durch die Eltern, Aufsicht durch einen Gerichtskurator), wenn dieser eine strafbare Tat vor der Vollendung des 13. Lebensjahres begeht. Solche Jugendlichen wurden damals als schuldunfähig angesehen, konnten also nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Im Falle der Begehung einer Straftat durch einen Jugendlichen, der das 13., aber nicht das 17. Lebensjahr vollendet hat, war das Kriterium der Einsichtigkeit – die Grundlage der Schuldfähigkeit ist – von entscheidender Bedeutung. Die mit Einsicht handelnden Täter konnte das Gericht in eine Besserungsanstalt einweisen, in der sie bis zum 21. Lebensjahr bleiben mußten, wobei man die Möglichkeit der früheren Entlassung auf Bewährung vorgesehen hatte. Falls ein 1

Siehe Kodifizierungskommission der Republik Polen, Entwurf des Strafgesetzbuches, Bd. 5, Heft 3, Warszawa 1930, S. 76.

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solcher Täter zur Zeit der Urteilsverkündung das 17. Lebensjahr vollendet hatte und die Einweisung in eine Besserungsanstalt nicht zweckmäßig war, konnte ihn das Gericht zu einer Freiheitsstrafe, die für die begangene Straftat vorgesehen war, verurteilen, unter Anwendung deren außerordentlicher Milderung. Von der Flexibilität der damals aufgenommenen Regelung zeugt der Umstand, dass der Jugendrichter selbst gegen den mit Einsicht handelnden Täter nur Erziehungsmaßnahmen anwenden konnte, wenn er sie für ausreichend hielt. 2 Die erwähnte Regelung des Strafgesetzbuches von 1932 galt, ähnlich wie die Regelung der Strafprozessordnung von 1928 über das Verfahren vor Jugendgerichten, bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes von 1982. Sie war Ausdruck des Kompromisses zwischen den Postulaten der Schaffung eines eigenständigen Rechts für Jugendliche einerseits und der Konzeption der Trennung der Verurteilung von Jugendlichen durch Strafgerichte von der Anwendung von vorbeugenden, betreuerischen und erzieherischen Maßnahmen andererseits. Sie lehnte sich somit – analog zum deutschen Entwurf – an die Konzeption der Zweispurigkeit des Verfahrens an. 3 Die Konzeption der bedingten, auf dem Kriterium der Einsichtigkeit beruhenden strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Jugendlichen ist nach dem II. Weltkrieg in die Kritik geraten, und zwar unter dem Einfluss der damals vorherrschenden Idee der betreuungserzieherischen Behandlung der Jugendlichen, die auf dem Kriterium des Wohls des Jugendlichen und nicht seiner rechtlichen Verantwortlichkeit basierte. Diese insbesondere in den Vereinigten Staaten und in Kanada entwickelten Ideen führten auch in Europa zu Veränderungen im Recht der Jugendlichen. Die meiste Akzeptanz fanden sie in Belgien, in Spanien und in Polen. Anstelle der traditionellen zweispurigen Vorgehensweise in Jugendsachen führten sie zur Entstehung eines einheitlichen, am Einsatz erzieherischer Maßnahmen orientierten Systems anstelle der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Der Schutz der Jugendlichen und deren Betreuung und Erziehung wurden nun zum übergeordneten Ziel, was im Schrifttum als betreuungserzieherisches Modell (oder Resozialisierungs- bzw. kriminologisches Modell) bezeichnet wird. 4 Von diesen Prämissen ging auch der polnische Gesetzgeber aus. Im Jahre 1978 wurden versuchsweise Familiengerichte mit erweiterten Kompetenzen gegründet, zu denen sowohl Erziehungsfragen als auch die Anordnung von erzieherischen 2 Näheres Makarewicz, Kodeks karny z komentarzem [Strafgesetzbuch mit Kommentar], Lwów 1938, S. 242ff. 3 Wobei in Deutschland eine getrennte Regelung im Jugendgerichtsgesetz geschaffen wurde; näheres siehe Wolff / Marek, Geschichte des Jugendstrafrechts in Deutschland und Polen, Recht der Jugend und Bildungswesen 1989, S. 58ff. 4 Detailliert bespricht die Entwicklung dieser Konzeption in verschiedenen Ländern Sta´ndo-Kawecka, Prawo karne nieletnich – od opieki do odpowiedzialno´sci [Jugendstrafrecht – von der Betreuung bis zur Verantwortlichkeit], Warszawa 2007, S. 33ff.

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und Besserungsmaßregeln gegenüber Jugendlichen gehörten. Die Grundlage der Anordnung dieser Maßnahmen bildeten sowohl die Begehung von Straftaten durch Jugendliche als auch Verhaltensweisen, die auf Verwahrlosung des Jugendlichen deuteten (z.B. Alkoholkonsum, von zu Hause Ausreißen, Schuleschwänzen, Prostitution). Nur die Anordnung der damals strengsten Maßregel – namentlich der Einweisung in eine Besserungsanstalt – wurde von der Begehung einer strafbaren Tat nach der Vollendung des 13. Lebensjahres und von den Anzeichen der Verwahrlosung abhängig gemacht, insbesondere dann, wenn sich die bereits früher angewandten Erziehungsmaßnahmen als unwirksam erwiesen hatten. 5 Vom 9. bis 11. Oktober 1989 fand in Oldenburg ein deutsch-polnisches wissenschaftliches Symposium statt, bei dem man die Prämissen und Ergebnisse der beiden Systeme verglichen hat: des in Deutschland geltenden traditionellen zweispurigen Systems – obwohl es immer mehr mit erzieherischen Elementen angereichert wurde – und des in Polen angenommenen einspurigen Systems, bei dem alle Entscheidungen, die auf den Schutz der Jugendlichen abzielten, sich in den Händen der Familiengerichte konzentrierten. Es schien damals – als die Idee der Erziehung und des Schutzes der Jugendlichen vorherrschend war –, dass sich das in Polen angenommene System, um der Verwahrlosung und der Straffälligkeit der Jugendlichen entgegenzuwirken, als besser erwies. 6 Darauf verweisen auch die später in Deutschland unternommenen Versuche der Veränderung des Systems der Reaktion gegenüber Jugendlichen. Sie bewegten sich in Richtung des Verzichts auf das Jugendstrafrecht zugunsten eines erweiterten, einheitlichen Rechts, das auf Betreuung und Erziehung eingestellt war (Jugendhilferecht oder Jugendkonfliktrecht). Diese Projekte wurden indes nicht realisiert. Es zeigte sich nämlich, dass ein ausschließlich auf Erziehung orientiertes Recht die rechtliche Stellung der Jugendlichen verschlechtern kann. Grund dafür war das Fehlen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit der Reaktionsmittel im Vergleich zur Schwere der Tat des Jugendlichen sowie die Einschränkungen in den materialrechtlichen und prozessualen Garantien, die die Erwachsenen genossen. Es obsiegte schließlich die Konzeption der Reform des Rechtsprechungssystems in Jugendsachen, die als „innere Reform“ bezeichnet wird bzw. als Reform durch Veränderung der Praxis (Reform durch Praxis). 7 In Anlehnung an die zutreffenden Voraussetzungen, dass die Straffälligkeit der Jugendlichen in den meisten Fällen nicht das Ergebnis erzieherischer Defizite ist, 5 Näheres Marek, Die Behandlung delinquenter Jugendlicher im polnischen Recht; Vom Strafrecht zum Jugendrecht, in: Wolff / Marek (Hrsg.) Erziehung und Strafe. Jugendstrafrecht in der Bundesrepublik Deutschland und Polen. Grundfragen und Zustandsbeschreibung, Bonn 1990, S. 121f. 6 Siehe Wolff / Marek, Zum Vergleich, S. 8f. 7 Siehe insbesondere Heinz, Deutschland, in: Dünkel / von Kalmthout / Schüler-Springorum (Hrsg.), Entwicklungstendenzen und Reformstrategien im Jugendstrafrecht im europäischen Vergleich, Mönchengladbach 1997, S. 7ff.

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sondern ein Entwicklungs- und vorübergehendes Phänomen ist, verzichtete man begründeterweise auf formale Mittel zugunsten der informellen Mittel, insbesondere der Mediation zwischen Täter und Opfer, der Anordnung bestimmter Arbeitsleistungen durch den Jugendlichen oder des Trainings sozialer Fertigkeiten. Man sah auch ein, dass in schwerwiegenderen Sachen der Einsatz von Strafmaßregeln notwendig war, obwohl Isolationsmaßregeln wie Jugendarrest oder Jugendstrafe nur ausnahmsweise anzuwenden waren. 8 Diese vorgestellten Änderungen im deutschen Jugendrecht sind rational und ausgewogen. Sie entsprechen der weltweiten Tendenz zur Differenzierung der Reaktion auf Straffälligkeit der Jugendlichen, ohne jedoch dabei die notwendige strafrechtliche Reaktion gegen die schwersten Anzeichen dieser Straffälligkeit zu vernachlässigen. Gleichzeitig vermeiden sie radikale Verschärfungen, die ein Reflex der Praxis der strengen Bestrafung im Bereich des Erwachsenenstrafrechts sind, insbesondere in den Vereinigten Staaten („get tough movement“), die nicht in den Bereich der Vorbeugung der Straffälligkeit von Jugendlichen übertragen werden sollen. 9 Das polnische Gesetz über das Verfahren in Jugendsachen von 1982, das sich an die Konzeption der einheitlichen Behandlung der Anzeichen von Verwahrlosung (und sogar der Gefährdung durch Verwahrlosung) und der Straffälligkeit der Jugendlichen anlehnte, erweckt immer größere Kontroversen und befindet sich auf nicht mehr aktuellen pädagogischen Positionen. Die Änderung dieses Gesetzes scheint immer vordringlicher zu sein. Manche Autoren kritisieren zwar dieses Gesetz wegen der nicht vollständigen Verwirklichung des Grundsatzes der einheitlichen betreuungserzieherischen Konzeption. 10 Es scheint jedoch, dass dies eine Meinung ist, die den Bedürfnissen der Praxis nicht mehr voll entspricht. Es ist also nicht verwunderlich, dass in den Jahren 1995 und 2000 unter dem Einfluss des beträchtlichen Anstiegs der schwerwiegenderen Straftaten von Jugendlichen die Vorschriften des Gesetzes von 1982 in Bezug auf Täter verschärft wurden, die die schwersten Straftaten begingen. Diese Verschärfung bestand vor allem in der Einführung des obligatorischen Widerrufs der Aussetzung des Vollzugs der Unterbringung in einer Besserungsanstalt zur Bewährung, wenn der Täter während der Bewährungszeit eine ernstzunehmende Straftat begangen hat (Art. 11 §3 GVJ), sowie der Einführung des analogen Grundsatzes des Widerrufs der vorzeitigen Entlassung aus der Besserungsanstalt (Art. 87 §3a GVJ). Darüber hinaus ist der Grundsatz übernommen worden, dass, falls die Einweisung in die 8 Heinz, (Fn. 7). Vgl. auch Böttcher / Weber, Erstes Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes, NStZ 1990, 560ff. 9 Näheres über diese Tendenzen Sta´ndo-Kawecka, (Fn. 4) S. 188ff. 10 Siehe Strzembosz, System sa˛dowych s´ rodków ochrony dzieci i młodzie˙zy [System der gerichtlichen Mittel zum Schutze der Kinder und Jugendlichen], Lublin 1985, S. 88ff.; ˙ Stanowska / Walczak-Zochowska / Wierzbowski, Uwagi o profilu ustawy o poste˛powaniu z nieletnimi [Bemerkungen zum Profil des Gesetzes über das Verfahren in Jugendsachen], Pa´nstwo i Prawo 2/1983, S. 61ff.

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Besserungsanstalt gegen einen Jugendlichen angeordnet wurde, der Vollzug einer Freiheitsstrafe Vorrang hat, wenn er später zu eben dieser verurteilt worden ist (Art. 92 §1 GVJ). Diese Änderungen wurden unterschiedlich beurteilt. Nach einer Meinung sind sie nicht zutreffend und haben einen ausschließlich repressiven Charakter 11, nach anderer Meinung sind sie eine notwendige Reaktion auf die Erhöhung der Gefährdung durch brutale Straftaten, die von älteren Jugendlichen begangen werden. 12 Bei der Beleuchtung des polnischen Systems des Verfahrens gegen jugendliche Straftäter ist zu berücksichtigen, dass dabei auch die Möglichkeit der Bestrafung vorgesehen ist. Nach Art. 13 GVJ kann gegenüber einem Jugendlichen, der im Alter zwischen 13 und 17 Jahren eine Straftat begangen und zum Zeitpunkt der Verurteilung das 18. Lebensjahr vollendet hat und dessen Einweisung in eine Besserungsanstalt nicht zweckmäßig wäre, das Familiengericht auf eine Strafe erkennen, die für diese Straftat vorgesehen ist. Gem. Art. 94 GVJ ist dabei die Strafe außerordentlich zu mildern. Die genannten Regelungen, die sich an das Strafgesetzbuch von 1932 anlehnen, sind nicht kontrovers. Gegenstand eines heftigen Meinungsstreits ist hingegen die im geltenden Strafgesetzbuch von 1997 vorgesehene Bestrafung der Jugendlichen aufgrund dieses Gesetzbuches, wenn sie nach Vollendung des 15. Lebensjahres eine von den in Art. 10 §2 StGB genannten schweren Straftaten begangen haben (u.a. Totschlag, Vergewaltigung, Raub, vorsätzliche schwere Körperverletzung, Herbeiführung einer allgemeinen Gefahr). Voraussetzung dafür ist der Entwicklungsgrad des Täters, der die Schuldzurechnung möglich macht. Eine zusätzliche (fakultative) Voraussetzung ist die Wirkungslosigkeit der gegen ihn angewandten Erziehungs- bzw. Besserungsmaßnahmen. 13 Der Gesetzgeber schränkte zwar die Höhe der Strafe, die gegenüber einem Jugendlichen verhängt werden kann, auf 2/3 der oberen für die jeweilige Straftat vorgesehene Strafandrohung ein, doch im Falle des Totschlages, der mit einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren oder der lebenslangen Freiheitsstrafe bedroht ist, ist die Anwendung dieser Einschränkung nicht möglich. Das Oberste Gericht hat im Urteil vom 22. September 1999 erkannt, 11 Górecki, Ustawa o poste˛powaniu w sprawach nieletnich – po nowelizacji [Das Gesetz über das Verfahren in Jugendsachen nach der Novellierung], Prokuratura i Prawo 5/2001, S. 11. 12 Jagosz, Podstawowe zało˙zenia nowelizacji ustawy o poste˛powaniu w sprawach nieletnich [Die Grundvoraussetzungen der Novellierung des Gesetzes über das Verfahren in Jugendsachen], in: Bojarski / Skre˛towicz (Hrsg.), Teoretyczne i praktyczne problemy stosowania ustawy o poste˛powaniu w sprawach nieletnich [Theoretische und praktische Probleme der Anwendung des Gesetzes über das Verfahren in Jugendsachen], Lublin 2001, S. 30. 13 Näheres Hałas, Odpowiedzialno´sc´ karna nieletnich na tle kk z 1997 r. [Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Jugendlichen vor dem Hintergrund des Strafgesetzbuches von 1997], Lublin 2006.

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dass ein 15- oder 16-jähriger Täter zu 25 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt werden kann, und zwar trotz des Verbotes der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe gegenüber Personen, die das 18. Lebensjahr nicht vollendet haben. 14 Es entstand also im polnischen Recht eine sehr ungünstige Situation. Das Gesetz über das Verfahren in Jugendsachen von 1982 sieht praktisch keine strafrechtliche Reaktion gegen Jugendliche vor, die sich der schwersten Verbrechen schuldig gemacht haben und die in eine Besserungsanstalt eingewiesen werden können. Wenn jedoch ein Familienrichter die Sache an einen Staatsanwalt weiterleitet, indem er die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Minderjährigen, der das 15. Lebensjahr vollendet hat, als zweckmäßig ansieht, so wird er aufgrund der Vorschriften des Strafgesetzbuches wie ein Erwachsener behandelt, und zwar mit der Möglichkeit der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren. Dies ist eine äußerst ungünstige Alternative, die die Notwendigkeit der Erarbeitung von besonderen strafrechtlichen Verantwortlichkeitsprinzipien gegenüber Jugendlichen nahe legt. Die Möglichkeit der Verurteilung eines Jugendlichen zu einer langfristigen Freiheitsstrafe von 25 Jahren berücksichtigt nicht den geminderten Schuldgrad der Jugendlichen und weicht von den Weltstandards ab, u.a. von der Einschränkung der Strafhöhe gegen Jugendliche in vielen Ländern auf 10 bzw. maximal 15 Jahre (wie z.B. in Deutschland, Österreich und in der Schweiz). 15 Dies verletzt auch die Standards der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Jugendlichen, die u.a. in den Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates enthalten sind. 16 II. Die wichtigsten Änderungsentwürfe im Bereich des die Jugendlichen betreffenden Rechts Während der letzten Jahre zeigte sich in Polen eine starke Tendenz zur Verschärfung des Strafrechts, darunter der Bestimmungen des Strafrechts für Jugendliche. In den Jahren 2000 –2007 entstanden sechs Änderungsentwürfe auf diesem Rechtsgebiet, wobei alle Vorschläge vorsahen, die Bestimmungen des Art. 10 StGB über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Jugendlichen zu verschärfen. 17 Ohne 14

Az. III KKN 195/99, OSNKW 11 – 12/1999, Pos. 73. Näheres darüber schreibt Sta´ndo-Kawecka, (Fn. 4) S. 177. 16 Siehe Recommendation Rec. (2003) 20, On new ways of dealing with juvenile delinquency and the role of juvenile justice. 17 Es handelt sich hier um den Abgeordnetenentwurf vom 12. Oktober 2000 (Parlamentsdruck Nr. 2335), den Regierungsentwurf vom 21. Dezember 2000 (Parlamentsdruck Nr. 2510) und das am 24. August 2001 verabschiedete Gesetz über die Änderung der Strafvorschriften, das vom damaligen Präsidenten der Republik Polen A. Kwa´sniewski wegen zahlreicher Fehler und der übermäßigen Repressivität mit einem Veto belegt worden ist. Hinzuzufügen ist, dass die nächsten Entwürfe der Strafrechtsänderung keine Akzeptanz gefunden haben, darunter der Präsidentenentwurf vom 20. Dezember 2001 (Parlamentsdruck Nr. 181) und der von der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ [Prawo i Sprawiedliwo´sc´ ] 15

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auf die einzelnen Entwürfe einzugehen ist anzumerken, dass sie – von kleinen Unterschieden abgesehen – Folgendes vorsahen: Erstens die Erweiterung des in Art. 10 §2 StGB aufgeführten Katalogs der Straftaten, wegen der ein Jugendlicher nach der Vollendung des 15. Lebensjahres strafrechtlich belangt werden kann, auf alle Verbrechen und die Schaffung eines umfangreichen Katalogs der Vergehen. Zweitens sahen alle Entwürfe den Verzicht auf die Beschränkung auf 2/3 der oberen für eine Straftat vorgesehenen Strafandrohung vor, was man mit der Berufung auf das Prinzip der richterlichen Freiheit bei der Urteilsfindung und mit Schwierigkeiten bei der Anwendung dieses Kriteriums in der Praxis begründete. Diese Gründe wurden jedoch mit Recht kritisiert, denn sie berücksichtigen nicht den Grundsatz, dass die Schuldfähigkeit des Jugendlichen gemindert ist, und weichen zudem deutlich von internationalen Standards ab. 18 Die zweite Verschärfung sollte auf der Einführung der obligatorischen strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Jugendlichen beruhen, der das 15. Lebensjahr bereits vollendet hat und schon einmal in eine Besserungsanstalt eingewiesen bzw. zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war und sich dann schwerer Straftaten, die in Art. 10 §2 StGB genannt sind, schuldig gemacht hat. Dies wurde mit der Notwendigkeit des harten Durchgreifens gegen ältere Jugendliche begründet, die einen hohen Grad der Verwahrlosung zeigen und die sich erneut oder mehrmals schwerer Verbrechen schuldig machen. Der Vorschlag wurde jedoch als ausgesprochen repressiv scharf kritisiert, weil er den Umstand nicht berücksichtigt, dass sich jugendliche Straftäter von den erwachsenen Straftätern unterscheiden und nicht, insbesondere automatisch, in Strafvollzugsanstalten für Erwachsene ˙ stellte oder Heranwachsende eingewiesen werden sollten. Walczak-Zochowska zu Recht fest, dass der einzige rationale Ausweg aus solch einer Situation die Schaffung von speziellen Strafvollzugsanstalten für Jugendliche wäre. 19 Parallel zu den Versuchen der Änderung der Vorschriften des Strafgesetzbuches über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Jugendlichen wurden Arbeiten am Entwurf einer neuen Regelung aufgenommen, welche das veraltete Gesetz über das Verfahren in Jugendsachen von 1982 ersetzen und das Verfahren in Jugendsachen komplex regeln sollte. In den Jahren 2003 –2006 entstand als Ergebnis der vom Justizminister berufenen Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz von eingereichte Entwurf vom 4. März 2002, der die Änderung des gesamten Strafgesetzbuches anstrebte (Parlamentsdruck Nr. 387). Schließlich wurde der letzte Regierungsentwurf über die Änderung des gesamten Strafgesetzbuches vom 4. März 2007 (Parlamentsdruck Nr. 1756) der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ wegen der Wahlen und des Wechsels des Parlaments und der Regierung von September 2007 nicht mehr beschlossen. 18 Siehe u.a. A. Zoll, Opinia o projekcie ustawy z 4 marca 2007 r. o zmianie ustawy Kodeks karny i niektórych innych ustaw. [Gutachten zum Gesetzesentwurf vom 3. März 2007 über die Veränderung des Strafgesetzbuches und mancher anderer Gesetze], Biuro Studiów i Analiz Sejmu, Projekt nowelizacji Kodeksu karnego [Entwurf der Novellierung des Strafgesetzbuches], S. 33ff. 19 ˙ Walczak-Zochowska, ebenda, S. 44ff.

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Prof. Gaberle der Entwurf eines neuen Jugendgesetzbuches. Die Leitidee dieser Arbeitsgruppe war die Schaffung eines Gesetzbuchs, das die die Jugendlichen betreffenden Vorschriften des materiellen Rechts, des Prozeßrechts und des Vollstreckungsrechts vereinigen sollte. Nach diesem Entwurf des Jugendgesetzbuchs sollten seine Vorschriften in dem Falle zur Anwendung kommen, wenn Anzeichen der Verwahrlosung eines Jugendlichen festgestellt werden, wie etwa die Begehung einer strafbaren Tat oder die Verletzung allgemein in Bezug auf Jugendliche geltender Normen. Alle gegen Jugendliche angewandten Maßnahmen wurden als Erziehungsmaßnahmen bezeichnet, obwohl die Maßnahme der Unterbringung in einer Besserungsanstalt beibehalten wurde, was inkonsequent war. Die Maßnahmen sollten bis zum 18. Lebensjahr angewandt werden können und nicht – wie bisher – bis zum 21. Lebensjahr. Zweck dieser Veränderung war, der Demoralisierung der Jugendlichen in Besserungsanstalten durch bereits erwachsene Personen vorzubeugen. Der Entwurf sah vor, gegenüber dem Jugendlichen Strafen mit deren außerordentlicher Milderung zu verhängen, wenn er die Straftat vor der Vollendung des 18. Lebensjahres begangen, aber während des Verfahrens das 18. Lebensjahr vollendet hat. Dem Gericht sollte die Möglichkeit eröffnet werden, das Verfahren – bedingt – zur Bewährung aussetzen zu können (Art. 13 des Entwurfes). Der Entwurf zeichnet sich durch ausgebaute Verfahrensvorschriften aus, indem er die bisherige Teilung in betreuungserzieherisches und Besserungsverfahren aufhebt. 20 Die einheitliche Verfahrensweise sollte die prozessualen Garantien des Jugendlichen erhöhen, was man als richtig beurteilen kann. Die Kritik hob dagegen den übermäßigen Formalismus des Verfahrens hervor, das sich an die Vorschriften der Strafprozessordnung anlehnte. 21 Der Entwurf des Jugendgesetzbuches erfuhr auch eine Kritik des Landesjustizrates 22 und wurde von ihm nicht akzeptiert. In den Jahren 2006 – 2007 wurden Arbeiten in der Abteilung für ordentliche Gerichtsbarkeit des Justizministeriums aufgenommen, deren Ergebnis ein nächster Entwurf mit der Bezeichnung „Jugendrecht“ war. Auch in diesem Entwurf wird auf die doppelte betreuungserzieherische und besserungsmäßige Prozedur verzichtet, die im geltenden Gesetz von 1982 vorgesehen ist, und zwar zugunsten eines einheitlichen Verfahrens, das eine Kompilation der zivil- und strafrechtlichen Vorschriften ist. Es schränkt zu20

Siehe Gaberle, Kontynuacja i zmiana. O projekcie kodeksu nieletnich [Fortsetzung und Veränderung. Über den Entwurf des Jugendgesetzbuches], Pa´nstwo i Prawo 4/2005, S. 13ff. 21 So u.a. Konarska-Wrzosek, Opinia o projekcie Kodeksu nieletnich opracowana dla działaja˛cej wówczas Komisji Kodyfikacyjnej Prawa karnego [Gutachten über den Entwurf des Jugendgesetzbuches, der für die damals tätige Kommission für Kodifizierung des Strafrechts erarbeitet wurde] (nicht veröffentlicht); siehe auch Sta´ndo-Kawecka, (Fn. 4) S. 330. 22 Gutachten des Landesjustizrates auf der Internetseite www.krs.pl abrufbar.

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treffend den Formalismus im Vergleich zum Entwurf des Jugendgesetzbuches ein. Ein wichtiges Novum dieses Entwurfs ist die Einführung der Verurteilung zur sog. Gesamtsanktion. Gegenüber einem Jugendlichen, der eine Straftat unter den in Art. 10 §2 StGB genannten Bedingungen begangen hat, war die Anordnung der Einweisung in eine Besserungsanstalt bis zum 18. Lebensjahr und die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, die nach dieser Zeit zu vollstrecken wäre, vorgesehen, wobei die gesamte Dauer dieser Maßnahme die Hälfte der oberen Sanktionsgrenze, die im Strafrecht für diese Tat vorgesehen ist, nicht überschreiten dürfte. Diese Lösung, die sich deutlich an die jetzt in den Vereinigten Staaten angewandten Mischsanktionen („split sentences“) anlehnte 23, ist ein sehr interessanter Versuch, das Problem der unzweckmäßigen Einweisung von volljährigen Personen in eine Besserungsanstalt zu lösen. Grundlegende Kritik rief die im Entwurf des Jugendrechts vorgesehene Möglichkeit der Anwendung von Sanktionen hervor, die mit einer Strafe verbunden waren, und zwar nicht nur gegenüber Tätern von schwersten Straftaten, die im Art. 10 §2 StGB genannt sind, sondern generell gegenüber Tätern, die zur Zeit der Verhandlung das 17. Lebensjahr vollendet, aber die Straftat als Minderjährige begangen haben. Nach Meinung der Kritiker wird die Repressivität dieser Lösung nicht durch die Tatsache beseitigt, dass die gesamte Dauer der beiden Maßnahmen die Hälfte der oberen Grenze der gesetzlichen Strafdrohung für die dem Jugendlichen zugerechnete Tat nicht überschreiten dürfte. Es ist schwer die Situation zu akzeptieren, in der ein 13-jähriger Täter zu einer Strafe verurteilt wird, die er erst dann zu verbüßen hätte, wenn er das 18. Lebensjahr vollendet hat. 24 Es scheint, dass die im Entwurf des Jugendrechts von 2007 enthaltenen Vorschläge u.a. aus diesem Grund keine Aussicht auf Umsetzung haben. III. Schlussbemerkungen Die in dem vorliegenden Beitrag dargestellten Veränderungen im Bereich des die Jugendlichen betreffenden Rechts und die Vorschläge neuer Regelungen zeigen, dass dieses Gebiet einer ernsthaften Reform bedarf. Nicht haltbar ist die jetzige Situation der krassen Diskrepanz zwischen dem repressiven Charakter der Regelung des Art. 10 §2 und 3 StGB in Bezug auf 15-jährige Täter (ein zu umfangreicher Katalog der Straftaten, für die sie strafrechtlich belangt werden können) und der auf Betreuung und Erziehung abzielenden Regelung des Gesetzes vom 26. Oktober 1982 bei Verfahren in Jugendsachen, das (im Prinzip) keine strafrechtliche Reaktion, sondern nur die Anwendung von Erziehungs- und Besserungsmaßnahmen durch das Familiengericht vorsieht. Dies legt die Notwendigkeit

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Zu diesem Thema schreibt Sta´ndo-Kawecka, (Fn. 4) S. 149 –152. So das Gutachten des Landesjustizrates vom 1. Juni 2007 (nicht veröffentlicht).

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der Erarbeitung einer besonderen strafrechtlichen Regelung für Jugendlichen nahe, die getrennte bzw. gemilderte Sanktionen einführt. Einer weiteren Erörterung bedarf die Konzeption von Mischsanktionen, die sich jedoch auf schuldfähige Jugendliche beziehen sollten, also solche, von denen im Art. 10 §2 StGB die Rede ist. Begründet wäre in diesem Falle die Erwägung der Anhebung der oberen Altersgrenze der Anwendung solcher Sanktionen auf 18 Jahre anstelle der jetzt geltenden Grenze von 17 Jahren, wie es im Strafgesetzbuch von 1932 angenommen wurde und die in Polen kraft der Tradition fortlebt. Nicht begründet scheint die Bestrebung zur Erarbeitung eines einheitlichen Verfahrensmodells zu sein, das die Anwendung von Schutz- und Erziehungsmaßnahmen gegen Jugendliche verknüpft, die entweder Anzeichen der Verwahrlosung oder mangelnder sozialer Anpassung zeigen oder delinquent geworden sind. Die beiden Verfahrensweisen sollen getrennt werden oder – wie dies im deutschen Recht der Fall ist – zwischen das Strafgericht für Jugendliche und das Familiengericht oder – wie dies das geltende Gesetz von 1982 vorsieht – in zwei verschiedene Verfahrensweisen (betreuungserzieherische und besserungsmäßige) getrennt werden. Die Erfahrung lehrt, dass das zweispurige Verfahrenssystem in Jugendsachen doch besser den Belangen der Praxis entspricht. Angesichts der heutzutage in Polen vorherrschenden Tendenz, deren Ausdruck die Entwürfe des neuen Jugendgesetzbuches und des Jugendrechts von 2006 und 2007 waren, ist der Verzicht auf ein einheitliches Modell in Jugendsachen wenig wahrscheinlich. Es ist jedoch festzustellen, dass wir uns in Polen am Anfang und nicht am Ende der Diskussion zur Notwendigkeit der Rechtsreform bezüglich des Verfahrens in Jugendsachen befinden.

Die Bedeutung internationaler Mindeststandard-Regelungen für den Umgang mit delinquenten Jugendlichen in Griechenland * Angelika Pitsela I. Einführung Die kriminalpolitische Bedeutung von internationalen Mindeststandard-Regelungen für den Umgang mit delinquenten Jugendlichen ist aus nationaler und internationaler Sicht in den letzten Jahren ständig gewachsen. 1 Diese internationalen Instrumente sind sowohl auf der Ebene der Vereinten Nationen 2 als auch auf der Ebene des Europarates 3 entwickelt und ausgebaut worden.

* Verbesserte und aktualisierte Version des Vortrags, der am 5.10.2002 im Rahmen des siebten Deutsch-Griechischen Symposiums über „Die Internationalisierung des Strafrechts“ vom 4. – 5.10.2002 in Thessaloniki gehalten wurde. 1 Siehe beispielsweise Spinellis, C.D. (1997), The Policy of the Council of Europe with Respect to Juvenile Delinquency. In: C.D. Spinellis. Crime in Greece in Perspective, S. 345ff. Vgl. Spinellis, D.D. (1998), Die Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung in der griechischen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Praxis. In: H.-J. Albrecht u.a. (Hrsg.), Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht. FS für Günther Kaiser, S. 1593ff. Paraskevopoulos, N. (2000), Die internationalen Strafgerichte und ihre Bedeutung in der internationalen Kriminalpolitik. In: C. Prittwitz / I. Manoledakis (Hrsg.), Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende, S. 151ff. Walter, M. (2005), Jugendkriminalität. 3. Aufl., S. 45f. Über die Einbindung der internationalen Standards und völkerrechtlichen Vorgaben für die legislativen Arbeiten an den neuen Jugendstrafvollzugsgesetzen nach dem Urteil des BVerfG vom 31.5.2006, s. Goerdeler, J. / Pollähne, H. (2007), Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Mai 2006 als Prüfmaßstab für die neuen (Jugend-)Strafvollzugsgesetze der Länder. In: J. Goerdeler / Ph. Walkenhorst (Hrsg.), Jugendstrafvollzug in Deutschland. Neue Gesetze, neue Strukturen, neue Praxis?, S. 55ff., 70ff. 2 Siehe Neudek, K. (1998), Juvenile Justice: The Role of the United Nations. In: Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V. (DVJJ), The International Association of Juvenile and Family Court Magistrates (IAJFCM) (Eds.), Young Offenders and their Families – The Human Rights Issue, S. 84ff. 3 Siehe Rau, W. (1997), Zur Arbeit des Europarats im Bereich der Jugendkriminalpolitik. In: F. Dünkel / A. van Kalmthout / H. Schüler-Springorum (Hrsg.), Entwicklungstendenzen und Reformstrategien im Jugendstrafrecht im europäischen Vergleich, S. 519ff.

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Ein zeitgemäßes und humanes Jugendstrafrecht, 4 das angemessene Antworten auf die neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bereithält, 5 sollte zunächst einmal den neuen Befunden der jugendkriminologischen Forschung Rechnung tragen. Ebenso hat es aber auch in Einklang mit dem internationalen Recht und den sonstigen internationalen Menschenrechtsstandards zu stehen. Denn die international akzeptierten und bewährten Standards sichern zugleich in erheblichem Maße menschenrechtliche Positionen ab. 6 II. Instrumente auf der Ebene der Vereinten Nationen Mit internationaler Jugendkriminalpolitik befasst sich die Organisation der Vereinten Nationen, der mehr als 192 Mitgliedsstaaten angehören. Auf dieser Ebene 7 sind die Mindestgrundsätze für die Jugendgerichtsbarkeit oder the Beijing Rules (1985), 8 die Richtlinien für die Prävention von Jugendkriminalität oder 4 Siehe Albrecht, H.-J. (2002), Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß? Gutachten D für den 64. Deutschen Juristentag, D9ff., D24ff. 5 Siehe Leitthema des 23. Deutschen Jugendgerichtstages von 1995 in Potsdam „Sozialer Wandel und Jugendkriminalität. Neue Herausforderungen für Jugendkriminalrechtspflege, Politik und Gesellschaft“. Die Dokumentation des vorerwähnten Jugendgerichtstages ist von der DVJJ (1997) im Forum Verlag in Bonn herausgegeben. 6 Dazu Neubacher, F. (2003), Internationale Standards der Vereinten Nationen und des Europarats zum Jugendkriminalrecht. In: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend. Bild zurück nach vorn, S. 536ff. (537). Walter, M. (2002), Das Jugendkriminalrecht in der öffentlichen Diskussion: Fortentwicklung oder Kursänderung zum Erwachsenenstrafrecht? GA, 431ff. Jung, H. (1998), Juvenile Justice and Human Rights. In: DVJJ / IAJFCM (Eds.), Young Offenders and their Families – The Human Rights Issue, S. 49ff. Schüler-Springorum, H. (1995), Sind die Menschenrechte noch zu retten? Vorfragen zu einer Überlebensfrage. In: H.-H. Kühne (Hrsg.), FS für Koichi Miyazawa, S. 391ff. Jung, H. (1994), Jugendgerichtsbarkeit und Menschenrechte. DVJJJournal 3 –4/1994 (Nr. 147), 217ff. Schüler-Springorum, H. (1987), Die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit. ZStW 99, 809ff. (811). 7 Siehe auch die „Genfer Erklärung“ ohne verbindlichen Rechtscharakter, die die Völkerbundversammlung 1924 einstimmig angenommen hat, sowie die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes von 1959. Über die geschichtliche Entwicklung des völkerrechtlichen Kinderschutzes, s. insbesondere Dorsch, G. (1994), Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes. 8 „Standard Minimum Rules for the Administration of Juvenile Justice“. Übersetzung von Schüler-Springorum, H. (1987), Die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit. ZStW 99, 253ff. Die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit sind als „Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen über die Jugendstrafrechtspflege“ bzw. „Mindestnormen für die Jugendgerichtsbarkeit“ in der Präambel der Empfehlung Nr. R (87) 20 über die gesellschaftlichen Reaktionen auf Jugendkriminalität (Rec. No. R (87) 20 on Social Reactions to Juvenile Delinquency) bzw. in der Präambel der Kinderrechtskonvention übersetzt worden. Siehe Bundesministerium der Justiz in Zusammenarbeit mit der DVJJ e.V. (Hrsg., 2001), Internationale Menschenrechtsstandards und das Jugendkriminalrecht. Dokumente der Vereinten Nationen und des

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the Riyadh Guidelines (1990), 9 die Regeln zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug oder the Havana Rules (1990), 10 die Guidelines for Action on Children in the Criminal Justice System (1997) 11 und die völkerrechtlich verbindlichen Normen der Kinderrechtskonvention (1989) entwickelt worden. Bei der Erarbeitung der internationalen Instrumente ist die Mitarbeit nichtstaatlicher Organisationen wie Amnesty International, Defence for Children International oder Rädda Barnen International (Swedish Save the Children Federation) hervorzuheben. 12 Die Kinderrechtskonvention ist die erste Konvention der Vereinten Nationen, in der Nichtregierungsorganisationen an den Vorbereitungsarbeiten des Entwurfs teilnahmen. 13 1. Mindeststandard-Regelungen zum Umgang mit delinquenten Jugendlichen Seit 1955 finden alle fünf Jahre internationale Kongresse der Vereinten Nationen über „Verbrechensverhütung und Behandlung von Straffälligen“ statt. Die Europarates. Zusammenstellung und Kommentierung von T. Höynck, F. Neubacher und H. Schüler-Springorum, S. 39, 197. Siehe ferner Pollähne, H. (2007), Internationale Standards gegen föderalen Wildwuchs? Neue Perspektiven für das Jugendstrafvollzugsrecht nach der BVerfG-Entscheidung. In: J. Goerdeler / Ph. Walkenhorst (Hrsg.), Jugendstrafvollzug in Deutschland, S. 141ff., 151f. 9 „Guidelines for the Prevention of Juvenile Delinquency“. Übersetzung von SchülerSpringorum, H. (1992), Die Richtlinien der Vereinten Nationen für die Prävention von Jugendkriminalität. ZStW 104, 169ff. Siehe auch Kaiser, G. (1989), Die Entwicklung von Mindestgrundsätzen der Vereinten Nationen zur Prävention von Jugendkriminalität und zum Schutz inhaftierter Jugendlicher. RdJB 37, 44ff. 10 „Rules for the Protection of Juveniles Deprived of their Liberty“ (JDL). Übersetzung von Schüler-Springorum, H. (2001), in: Bundesministerium der Justiz in Zusammenarbeit mit der DVJJ (Hrsg., ob. Fn. 8), S. 94ff. Siehe auch Kaiser 1989 (ob. Fn. 9), 45ff. Dünkel, F. (1988), Zur Entwicklung von Mindestgrundsätzen der Vereinten Nationen zum Schutze inhaftierter Jugendlicher. ZStW 100, 361ff. Neubacher, F. (1999), Der internationale Schutz von Menschenrechten Inhaftierter durch die Vereinten Nationen und den Europarat. ZfStrVo 48, 210ff., insb. 215ff. Siehe ferner Kiessl, H. (2001), Die Regelwerke der Vereinten Nationen zum Jugendstrafrecht in Theorie und Praxis. Eine empirische Untersuchung über ihre Anwendung hinsichtlich der freiheitsentziehenden Maßnahmen bei delinquenten Kindern und Jugendlichen in Südafrika. Kiessl, H. / Würger, M. (2001), Die Umsetzung von internationalen Mindeststandards im südafrikanischen Jugendstrafvollzug. ZfStrVo 50, 216ff. Pollähne 2007 (ob. Fn. 8), S. 152f. 11 United Nations Guidelines for Action on Children in the Criminal Justice System. Verabschiedet mit der Resolution 1997/30 des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen (ECOSOC) bei der Vollversammlung vom 21. Juli 1997. 12 Siehe Präambel der „Regeln der Vereinten Nationen zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug“. 13 Siehe Santos Pais, M. / Cappelaere, G. (1998), The Observance of Human Rights in the Practical Application of Juvenile and Family Justice. In: DVJJ / IAJFCM (Eds.), Young Offenders and their Families – The Human Rights Issue, S. 193ff. (203).

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Themen Jugenddelinquenz und Jugendgerichtsbarkeit spielten stets eine große Rolle. Von besonderer Bedeutung für die Jugendkriminalrechtspflege sind die Mindestgrundsätze für die Jugendgerichtsbarkeit 14, welche auf dem siebten Internationalen Kongress der Vereinten Nationen in Mailand beschlossen wurden. Die Richtlinien für die Prävention von Jugendkriminalität 15 und die Regeln zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug 16 sind anlässlich des achten Internationalen Kongresses der Vereinten Nationen in Havanna verabschiedet worden. Die Beijing Rules und die Regeln zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug (s. Regel 3: „Mindeststandards“) stellen ein „Corpus of Minimum Standards“ oder „Corpus of Standard Minimum Rules“ dar, so dass es sich hier nicht um Fernziele handelt, sondern um Standards der Jugendgerichtsbarkeit und des Jugendvollzugs, die grundsätzlich überall gewährleistet werden müssen. 17 Sie intendieren „das international akzeptable Minimum und nicht das international anzustrebende Ideal“ 18 im Umgang mit delinquenten Jugendlichen. Auf die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit wird an herausragenden Stellen hingewiesen, wie etwa in der Präambel der Kinderrechtskonvention sowie den Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates Nr. R (87) 20 über die gesellschaftlichen Reaktionen auf die Jugenddelinquenz (Social Reactions to Juvenile Delinquency) und Rec (2003) 20 über die neue Wege im Umgang mit Jugenddelinquenz und die Rolle der Jugendgerichtsbarkeit (New Ways of Dealing with Juvenile Delinquency and the Role of Juvenile Justice). Diese Mindestgrundsätze fordern die Jugendgerichtsbarkeit auf, auf die Förderung des Wohls des Jugendlichen abzuzielen sowie sicherzustellen, dass jede Reaktion gegenüber jugendlichen Tätern im Hinblick auf die Umstände des Täters wie auch der Tat stets verhältnismäßig ist (Grundsatz Nr. 5.1). Grundlegende Verfahrensgarantien wie das Recht, die Aussage zu verweigern, oder das Recht, die Entscheidung durch eine höhere Instanz nachprüfen zu lassen, sind zu gewährleisten (Grundsatz Nr. 7). Jugendstrafsachen sind – „soweit angebracht“ – ohne förmliches Verfahren zu erledigen (Diversion, Grundsatz Nr. 11). Die Untersuchungshaft darf nur angeordnet werden, „wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, und auch dann nur für die kürzestmögliche Dauer“ (Grundsatz Nr. 13.1). Einschränkungen der persönlichen Freiheit des Jugendlichen dürfen „nur nach sorgfältiger Prüfung“ angeordnet werden und sind auf ein Mindestmaß zu beschränken. Freiheitsentzug wird nur angeordnet, wenn der Jugendliche „einer schweren Gewalttat gegen ei14

Verabschiedet mit der Resolution 44/33 der Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Plenarsitzung vom 29.11.1985. 15 Verabschiedet mit der Resolution 45/112 der Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Plenarsitzung vom 14.12.1990. 16 Verabschiedet mit der Resolution 45/113 der Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Plenarsitzung vom 14.12.1990. 17 Vgl. Jescheck, H.-H. (1955), Der erste Kongreß der Vereinten Nationen über die Verhütung von Verbrechen und die Behandlung der Straffälligen. ZStW 67, 659ff. (664). 18 Schüler-Springorum 1987 (ob. Fn. 6), 818.

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ne Person oder mehrfach wiederholter anderer schwerer Straftaten für schuldig befunden worden ist und keine anderen angemessenen Lösungen zur Verfügung stehen“ (Grundsatz Nr. 17.1 b) und c)). Die Riyadh-Richtlinien für die Prävention von Jugendkriminalität fordern eine kriminalpräventiv wirksame Erziehung, die jungen Menschen die nötige emotionale Unterstützung zuteil werden lässt und der Persönlichkeit, den individuellen Begabungen, den geistigen und körperlichen Fähigkeiten junger Menschen zur vollen Entfaltung verhilft (Richtlinie Nr. 21b und g). Junge Menschen dürfen nicht als „bloße Objekte von Förderung und Kontrolle“ gelten, sondern sie bedürfen der Anerkennung als „ernstzunehmende und gleichberechtigte Partner im Prozess ihrer Sozialisation und Integration“ und müssen „eine aktive und partnerschaftliche Rolle in der Gesellschaft“ übernehmen (Richtlinie Nr. 3). Die Instanzen der formellen Sozialkontrolle sollten erst dann eingreifen, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind (Richtlinie Nr. 6). Von der Diversion sollte so weit wie möglich Gebrauch gemacht werden (Richtlinie Nr. 58). Die stationäre Unterbringung eines Minderjährigen aus Gründen des Jugendschutzes muss „stets als letztes Mittel und auf die nötige Mindestdauer zu beschränkendes Mittel gelten“ (Richtlinie Nr. 46). Die Eingliederung der Minderjährigen in die Gesellschaft und damit auch die Prävention von Jugenddelinquenz beruht vorrangig auf der Einbindung des jungen Menschen in seine Familie (Richtlinien Nr. 11 –19), auf der Erziehung und Ausbildung (Richtlinien Nr. 20 – 31) und auf der Eingliederung in die Gemeinde (Richtlinien Nr. 32 –39). 19 Ferner wird die Rolle und Bedeutung der Massenmedien (Richtlinien Nr. 40 –44) als Sozialisationsinstanz hervorgehoben. 20 Die Regeln zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug beziehen sich auf die Behandlung junger Gefangener (in Erziehungs-, Untersuchungs- und Strafhaft). Die Minderjährigen werden als besonders schutzbedürftig angesehen, da sie während des Freiheitsentzugs sehr anfällig für Misshandlungen, Viktimisierungen und Verletzungen ihrer Rechte sind (s. Präambel). Der Freiheitsentzug darf nur als letztes Mittel und nur für die kürzestmögliche Dauer eingesetzt werden und nur auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben (Regeln Nr. 1 und 2). Schädlichen Wirkungen des Freiheitsentzugs ist entgegenzuwirken und die gesellschaftliche Eingliederung zu fördern (Regel Nr. 3). Die Vorbereitung der Rückkehr in die Gesellschaft ist eine überaus wichtige Aufgabe (Regel Nr. 8). Auch die Untersuchungshaft ist so weit wie möglich zu vermeiden und auf Ausnahmefälle zu beschränken. Wird Untersuchungshaft vollzogen, muss der Beschleunigung des Verfahrens höchste Priorität zukommen, um die kürzestmögliche Dauer der Haft abzusichern (Regel Nr. 17). Die menschenwürdige Ausgestaltung und Ausstattung des Haftraumes, das Verbot der Überbelegung von Vollzugsanstalten (Regel Nr. 30) 21 und die Einhaltung bestimmter Mindeststandards, welche die Gesundheit, Ernährung und 19 20

Kaiser 1989 (ob. Fn. 9), 44f. Schüler-Springorum 1992 (ob. Fn. 9), 171.

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die Unterbringung betreffen, sind auch Gegenstand der Mindeststandard-Regelungen zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug. Die Aufrechterhaltung bestehender oder die Ermöglichung neuer sozialer Kontakte mit der Außenwelt wird als wesentlicher Bestandteil des Anspruchs auf gerechte und menschliche Behandlung angesehen und ist notwendig für die Vorbereitung der jungen Menschen auf ihre Rückkehr in die Gesellschaft (Regel Nr. 59). Das wichtigste Ziel der stationären Behandlung ist es, ein Gefühl für Gerechtigkeit, für Selbstachtung und für die Rücksicht auf die Grundrechte eines jeden zu vermitteln (Regel Nr. 66). 22 Das „Model Law on Juvenile Justice“, das im „Centre for International Crime Prevention“ in Wien entwickelt wurde, stellt ein „Mustergesetz“, ein „Modellgesetzbuch eines Jugendstrafrechts“ dar. 23 In den Leitprinzipien des Modelljugendstrafrechts wird betont, dass Kinder und Jugendliche als besonders schutzbedürftig angesehen werden, dass Jugendgerichte für die angemessene Behandlung von jungen Angeklagten eingerichtet werden sollten und dass die Entscheidung über den Freiheitsentzug als „ultima ratio“ dienen sollte (Art. 1.1.1.). 24 Das Mo21 Vgl. Müller-Dietz, H. (1994), Menschenrechte und Strafvollzug. In: H. Jung / H. Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug – wie lange noch? Plädoyer für eine antizyklische Kriminalpolitik, S. 43ff. (61). Siehe auch Müller-Dietz, H. (1994), Menschenwürde und Strafvollzug. 22 Im Rahmen eines Programms der griechischen Stiftung Staatlicher Stipendien (IKY) und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) für die Förderung des Austausches und der wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Griechenland und Deutschland (IKYDA) wurde das Projekt unter dem Titel „Juvenile Delinquency and Criminal Justice Systems in a European Perspective“ von der Abteilung für Strafrecht und Kriminologie der Juristischen Fakultät der Aristoteles Universität in Thessaloniki und der Kriminologischen Forschungsstelle (heute: Institut für Kriminologie) der Universität zu Köln durchgeführt. Gegenstand dieses Projektes war u.a. die Erforschung der Implementation internationaler Menschenrechtsstandards im Jugendstrafvollzug sowie die amtliche Registrierung, Verarbeitung und Ausfilterung der Jugendkriminalität in beiden Ländern. Dazu Neubacher, F. / Walter, M. / Pitsela, A. (2003), Jugendstrafvollzug im deutsch-griechischen Vergleich – Ergebnisse einer Befragung. ZfStrVo 52, 17ff. Neubacher, F. / Filou, M. / Pitsela, A. / Walter, M. (2004), Jugendkriminalität in Deutschland und Griechenland – Registrierung, Verarbeitung, Ausfilterung. ZJJ 1, 63ff. Neubacher, F. / Filou, M. / Brand, Th. / Pitsela, A. / Walter, M. (2006), Deliktsschwere und Kriminalpolitik im Urteil von jungen Gefangenen und Jurastudenten. Ein deutsch-griechischer Vergleich. In: M. Walter / F. Neubacher (Hrsg.), Neue Wege und Perspektiven der Kriminologie. Forschung am Institut für Kriminologie der Universität zu Köln, S. 257ff. Vgl. auch Pitsela, A. / Sagel-Grande, A. (2004), Jugendstrafrechtliche Sanktionen mit Freiheitsentzug in Griechenland und in den Niederlanden. ZfStrVo 53, 208ff. 23 Das „Model Law on Juvenile Justice“ ist in englischer Sprache in der vom Bundesministerium der Justiz in Zusammenarbeit mit der DVJJ herausgegebenen Dokumentensammlung 2001 (ob. Fn. 8), 109 –131 enthalten. Der erste Titel des Modellgesetzes beschäftigt sich mit den „Grundprinzipien“, der zweite mit den „Allgemeinen Regeln“, der dritte mit der „Zuständigkeit und Verfassung der Jugendgerichte“ sowie mit zwei möglichen Varianten zum Ablauf eines „Jugendkriminalverfahrens“, der vierte mit den „Anwendbaren Maßnahmen“ und der fünfte und letzte Titel befasst sich mit der „Erziehungshilfe für den Schutz junger Leute in Gefahr“.

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delljugendstrafrecht enthält keine Mindeststandard-Regelungen, sondern bietet „Regelungsbeispiele“. 25 2. Kinderrechtskonvention Außer den internationalen Mindeststandard-Regelungen, die sich ausschließlich auf junge Menschen beziehen, ist auf die zwei umfassendsten Konventionen der Weltorganisation, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) 26 und den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwirtR) 27 hinzuweisen, die eine herausragende Rolle im Prozess der Anerkennung der internationalen Menschenrechtsgarantien einnehmen. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte enthält spezielle Garantien zugunsten straffällig gewordener Minderjähriger, wie das Verbot der Todesstrafe für Straftaten, die von Personen vor Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs begangen worden sind, in Art. 6 Abs. 5, die getrennte Unterbringung von jugendlichen und erwachsenen Beschuldigten in Art. 10 Abs. 2 b, die getrennte Unterbringung von jugendlichen und erwachsenen Tätern sowie die altersgemäße Behandlung in Art. 10 Abs. 3 S. 2, die nichtöffentliche Verhandlung bei entgegenstehenden Interessen des Jugendlichen in Art. 14 Abs. 1 und die Verfahrensgestaltung, die auf das Alter und die Förderung der Wiedereingliederung der Jugendlichen Rücksicht nimmt (Art. 14 Abs. 4 IPbürgR). Demgegenüber finden sich im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Regelungen über den Schutz des Kindes vor wirtschaftlicher und sozialer Ausbeutung, wonach die Beschäftigung von Kindern für gefährliche Arbeiten strafrechtlich sanktioniert werden soll (Art. 10 Abs. 3 IPwirtR). 28 Die UN-Kinderrechtskonvention (KRK), die nach langjährigen Vorbereitungsarbeiten am 2.9.1990 in Kraft trat, wurde von der griechischen Regierung am 26.1.1990 unterzeichnet und ist durch das Gesetz 2101/1992 ratifiziert worden. 29 Die internationale Staatengemeinschaft war nie zuvor in so kurzer Zeit einig 24 Nach Albrecht 2002 (ob. Fn. 4), D76 ergeben sich aus dem „Model Law on Juvenile Justice“ Hinweise, „wie die allgemeine Ausrichtung eines Jugendstrafrechts aus einer internationalen und auf Konsens angelegten Perspektive betrachtet wird“. 25 Siehe Schüler-Springorum, H. (2001), Die „Instrumente“ der Vereinten Nationen zur Jugendgerichtsbarkeit. In: Bundesministerium der Justiz in Zusammenarbeit mit der DVJJ (Hrsg., ob. Fn. 8), S. 19ff., 23, 28ff. 26 IpbürgR von 1966, in Kraft getreten 1976, in Griechenland seit dem 5.8.1997 durch das Gesetz Nr. 2462/1997. 27 IpwirtR von 1966, in Kraft getreten 1976, in Griechenland seit dem 16.8.1985 durch das Gesetz Nr. 1532/1985. 28 Dorsch 1994 (ob. Fn. 7), S. 35. 29 Gemäß dem Art. 49 §2 KRK tritt die Kinderrechtskonvention für jeden Staat, der nach Hinterlegung der zwanzigsten Ratifikations- oder Beitrittsurkunde dieses Übereinkommen ratifiziert oder ihm beitritt, am dreißigsten Tag nach Hinterlegung seiner eigenen

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über die Unterzeichnung und Ratifizierung einer Konvention. Bekanntlich haben bereits 193 Staaten der Welt die KRK ratifiziert (190 Mitgliedsländer der UNO und drei Nichtmitgliedsländer: Cook Islands, Holy See und Niue). Nur Somalia und die Vereinigten Staaten von Amerika als Mitgliedsstaaten der UNO haben diese Konvention zwar unterzeichnet (jeweils am 9.5.2002 und 16.02.1995) aber noch nicht ratifiziert (Stand 12.2.2008). Bei einer Nachprüfung der Einhaltung der Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen, insbesondere zu der Frage, ob die Vertragsstaaten dem Ausschuss für die Rechte des Kindes, dem Durchsetzungs- und Kontrollorgan der KRK, einen Bericht über die getroffenen Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Kinder und zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte (s. Art. 44 KRK) vorgelegt haben, zeigte sich, dass nur wenige Vertragsstaaten diese Aufgabe noch nicht erfüllt haben. Lediglich 5 von den insgesamt 193 Vertragsstaaten haben den ersten Bericht noch nicht fristgemäß vorgelegt. 30 Kinder im Sinne der KRK sind gemäß Art. 1 junge Menschen im Alter unter 18 Jahren, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt. 31 Die grundlegende Regelung des Art. 3 der Konvention hebt die Verpflichtung jedes Vertragsstaates hervor, in allen das Kind betreffenden Angelegenheiten, das Kindeswohl („best interest“) vorrangig zu berücksichtigen. 32 Die Kinderrechtskonvention bezieht sich vor allem in den Art. 37, 33 39 34 und 40 35 KRK auf das Jugendkriminalsystem. 36 Dort finden sich Vorschriften des Ratifikations- oder Beitrittsurkunde in Kraft. Die griechische Regierung hat die Ratifikationsurkunde ohne Vorbehaltsklausel am 11.5.1993 hinterlegt. Demzufolge ist die Kinderrechtskonvention ab dem 10.6.1993 als völkerrechtsverbindliches Regelungswerk in Griechenland in Kraft getreten. 30 Es handelt sich um Afghanistan, Cook Islands, Niue, Tonga und Tuvalu. Die Überprüfung fand im Internet am 17.7.2008 statt. Siehe http://www.unhchr.ch. 31 In Art. 40 Abs. 3 (a) KRK werden die Vertragstaaten aufgefordert, das Mindestalter der Strafmüdigkeit, das im internationalen Vergleich stark variiert, festzulegen. Die Beijing Rules schlagen vor, das entsprechende Alter nicht zu niedrig anzusetzen, da hierbei die Entwicklung der emotionalen, seelischen und geistigen Reife berücksichtigt werden sollte (Rule Nr. 4). Der Kommentar hierzu kommt zu der Schlussfolgerung: „Man sollte sich um eine Einigung auf ein angemessenes Mindestalter bemühen, das international anwendbar ist“. 32 Die rechtliche Tragweite dieser Bestimmung ist immens. Dazu exemplarisch Eichholz, R. (1999), Kinder haben Rechte – Kinderrechte und Kinderrechtshäuser. In: DVJJ (Hrsg.), Kinder und Jugendliche als Opfer und Täter. Prävention und Reaktion, S. 703ff. (704). Für einen kurzen Überblick der Rechte der Kinder, s. Vishnupriya, Y. (1993), The Legal Rights of Children. Rechtstheorie, S. 387ff. 33 Siehe Hodgkin, R. / Newelll, P. (1998), Implementation Handbook for the Convention on the Rights of the Child. United Nations Children’s Fund (UNICEF), S. 487ff. 34 Über die Rehabilitation der Kinder als Opfer, s. Hodgkin / Newell 1998 (ob. Fn. 33), S. 529ff. 35 Über die Jugendgerichtsbarkeit, s. Hodgkin / Newell 1998 (ob. Fn. 33), S. 539ff.

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materiellen und prozessualen Jugendkriminalrechts sowie des vollzugsrechtlichen Bereichs. Gemäß Art. 37b KRK darf der Freiheitsentzug bei einem Kind „nur als letztes Mittel und für die kürzeste angemessene Zeit“ angewendet werden. Die Kapitalstrafe sowie die lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit vorzeitiger Entlassung werden für Kinder zur Zeit der Tat ausgeschlossen (Art. 37a KRK). Im Bereich des Vollzugs einer Freiheitsentziehung (Art. 37c KRK) wird der Trennungsgrundsatz von Kindern und Erwachsenen bei der Untersuchungsund Strafhaft anerkannt. Verfahrensrechte, die auch einem Beschuldigten unabhängig von seinem Lebensalter nach dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und auch nach der Europäischen Menschenrechtskonvention 37 zustehen, werden exemplarisch und explizit auch für die Kinder in Art. 40 Abs. 2 KRK anerkannt. Minderjährige Straftäter werden mit denselben Verfahrensgarantien versehen wie Volljährige. 38 III. Instrumente auf der Ebene des Europarates Mit europäischer Kriminalpolitik befasst sich auch der Europarat, der mit 47 Mitgliedsländern weit über die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union hinausreicht. Die Themen „Jugenddelinquenz“ und „Jugendstrafrecht“ gehören zu den traditionellen Arbeitsgebieten des Strafrechtslenkungsausschusses oder des europäischen Ausschusses für Strafrechtsprobleme („European Committee on Crime Problems“), der sich mit den Bereichen Strafrecht, Kriminologie, Kriminalpolitik und Strafvollzug (inklusive Alternativen zur Freiheitsstrafe) beschäftigt. 39 Die Entscheidungen (Resolutions: bis 1979) bzw. Empfehlungen (Recommendations: 36 Zweifel an der praktischen Umsetzung der Konvention in der Bundesrepublik Deutschland erhebt Gerstein, H. (1996), UN-Kinderrechte und Jugendkriminalität. DVJJ-Journal 1/1996 (Nr. 151), 13ff. (15). Siehe auch Trenczek, Th. (1999), Kinder haben Rechte – Kinderrechte und Kinderrechtshäuser. In: DVJJ (Hrsg.), Kinder und Jugendliche als Opfer und Täter. Prävention und Reaktion, S. 694ff. (696). Über die kritische Stellungnahme des Ausschusses für die Rechte des Kindes bezüglich des Erstberichtes der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention, s. bspw. Guder, P. (1999), Glen Mills – Amerikanisches Mythos oder reale Chance? DVJJ-Journal 2/1999 (Nr. 165), 324ff. (326f.). 37 Die EMRK wurde in Griechenland durch das Gesetz Nr. 2329/1953 und nochmals nach der Wiederherstellung der Demokratie durch das legislative Dekret Nr. 53/1974 ratifiziert. 38 Nach Art. 41 KRK lässt dieses Übereinkommen zur Verwirklichung der Rechte des Kindes „besser geeignete Bestimmungen unberührt, die enthalten sind a) im Recht eines Vertragsstaates oder b) in dem für diesen Staat geltenden Völkerrecht“. 39 Dazu beispielsweise Rau 1997 (ob. Fn. 3), S. 519. Auf die maßgebliche Beeinflussung der Tätigkeit des Europarates auf die Entwicklung des Strafrechts in Europa, s. Hecker, B. (2005), Europäisches Strafrecht, S. 79ff. m.w.N. Siehe auch Kerner, H.-J. / Czerner, F. (2004), Zur Einführung: Die Empfehlungen des Europarates zum Freiheitsentzug im Kontext europäischer und internationaler Instrumentarien zum Schutz der Menschenrechte. In: Bundesministerium der Justiz Berlin, Bundesministerium für Justiz Wien, Eidgenössi-

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ab 1979) des Europarates tragen, wie die der Vereinten Nationen, den Befunden der kriminologischen Forschung Rechnung. In den 60er Jahren wurden bereits wichtige Instrumente geschaffen. Die Entscheidungen „Kurzfristiger Strafvollzug für jugendliche Straftäter unter 21 Jahren“ 40 („Short-term treatment of young offenders of less than 21 years“, Res (66) 25), „The Press and the Protection of Youth“ (Res (67) 13) und „Cinema and the Protection of Youth“ (Res (69) 6) sind vom Ministerkomitee des Europarates angenommen worden. In den 70er Jahren wurde die Entscheidung des Ministerkomitees über „Jugenddelinquenz und sozialer Wandel“ („Juvenile Delinquency and Social Change“, Res (78) 62) bekannt gemacht, die für eine möglichst weite Einschränkung der freiheitsentziehenden Maßnahmen und den Ausbau von alternativen Sanktionen plädiert, insbesondere für die Förderung von Sanktionen, die die Erziehung und Sozialisation günstig beeinflussen und die soziale Teilhabechancen verbessern. Als wegweisend gilt die Empfehlung Rec. Nr. R (87) 20 über die gesellschaftlichen Reaktionen auf die Jugenddelinquenz, die gleich in der Präambel hervorhebt, „dass das Jugendstrafrecht weiterhin von seinen Zielen Erziehung und Eingliederung in die Gesellschaft geprägt und infolgedessen soweit wie möglich auf die Abschaffung der Jugendstrafe gerichtet sein sollte“. Das Ministerkomitee empfiehlt den Regierungen der Mitgliedsstaaten ihre Gesetzgebung und ihre Gesetzespraxis, unter Berücksichtigung der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit („Beijing Rules“), zu überprüfen, um etwa die Untersuchungshaft für Minderjährige quantitativ und zeitlich soweit wie möglich zu beschränken (Nr. 7), die freiheitsentziehenden Maßnahmen zurückzudrängen oder um unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des straffälligen Heranwachsenden Entscheidungen treffen zu können, die erzieherischen Charakter haben und die Eingliederung in die Gesellschaft fördern (Nr. 17). Die rechtliche Stellung Minderjähriger ist zu stärken, indem u.a. das Recht auf Einlegung eines Rechtsmittels oder das Recht, die Überprüfung der angeordneten Maßnahmen zu beantragen, anerkannt wird (Nr. 8). Den Vorzug verdienen ambulante Sanktionen, die im natürlichen Lebensumfeld der Minderjährigen vollzogen werden (Nr. 11). Dabei soll die Dauer der Sanktionen festgelegt sein (Nr. 12) und unvermeidliche strafrechtliche Interventionen sind so wenig eingriffsintensiv wie möglich auszugestalten. Die Empfehlung bemüht sich, das „Welfare“ (Wohlfahrts-)Modell mit dem „Justice“ (Justiz-)Modell harmonisch zu verbinden. 41 Soziale Wiedereingliederung soll das Leitprinzip justizförmiger Reaktion bilden (Nr. 16). 42 Die „europäische Jugendkriminalpolitik“ 43 ist somit sche Justiz- und Polizeidepartment Bern (Hrsg.), Die Empfehlungen des Europarates zum Freiheitsentzug 1962 – 2003, S. 1ff., 26f. 40 Siehe Bundesministerium der Justiz Berlin, Bundesministerium für Justiz Wien, Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartment Bern (Hrsg., 2004), Die Empfehlungen des Europarates zum Freiheitsentzug 1962 – 2003, S. 35f. 41 Über das Wohlfahrtsmodell, das Justizmodell und das „Particatory Process“ (Partizipations- oder Konfliktlösungs-)Modell, s. Kaiser, G. (2001), Internationale Tendenzen der Jugendkriminalität und des Jugendkriminalrechts. In: D. Dölling (Hrsg.), Das Jugendstraf-

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„als ein politisches Bekenntnis zu einer konstruktiven Jugendkriminalpolitik und einem liberalen Jugendstrafrecht zu verstehen“. 44 Die Empfehlung Rec. Nr. R (88) 6 über die gesellschaftlichen Reaktionen auf kriminelles Verhalten von Jugendlichen aus Migranten-Familien („Social Reactions to Juvenile Delinquency among Young People coming from Migrant Families“) 45 plädiert für die Umsetzung einer Kriminalpolitik, die einerseits eine diskriminierende Behandlung von Jugendlichen aus Gastarbeiterfamilien vermeidet und ihnen andererseits dabei hilft, größtmöglichen Nutzen aus den Maßnahmen zu ziehen, die der Jugendkriminalrechtspflege zur Verfügung stehen. Sanktionen ohne Freiheitsentziehung und Alternativen zur Unterbringung und zur Freiheitsstrafe sollten bei Migrantenkinder in derselben Weise wie bei einheimischen Jugendlichen angewandt werden. Ferner sollte die Zusammenlegung von Jugendlichen gleicher Herkunft in besonderen Einrichtungen vermieden werden. 46 Diversionsstrategien, die auf Wiedergutmachung und Versöhnung beruhen, wie bspw. die Vermeidung der Untersuchungshaft und Ersetzung der Freiheitsstrafe durch alternative Sanktionen, sollten auch den Umgang mit heranwachsenden Straffälligen bestimmen. Erweist sich die Freiheitsstrafe als unvermeidbar, dann sollte sie für eine möglichst kurze Zeit angeordnet und in einer Weise ausgeführt werden, die die soziale Wiedereingliederung des jungen Menschen ermöglicht. 47 recht an der Wende zum 21. Jahrhundert, S. 1ff., insb. 6f., 28f., 32f. Ein fester Bestandteil Europäischer Kriminalpolitik ist die umfassende Beteiligung gesellschaftlicher Kräfte an der Kriminalpolitik im Allgemeinen (siehe etwa Rec. No. R (83) 7 „Participation of the Public in Crime Policy“) und Kriminalprävention im Besonderen (siehe etwa Rec. No. R (87) 19 „The Organisation of Crime Prevention“). 42 Siehe Rau 1997 (ob. Fn. 3), S. 521. Pollähne 2007 (ob. Fn. 8), S. 147. 43 Für einen Überblick des Wirkens des Europarats auf dem Gebiet des Jugendkriminalrechts sowie Kommentierung der „wichtigsten Dokumente“, s. Neubacher, F. (2001), Die Politik des Europarats auf dem Gebiet des Jugendkriminalrechts. In: Bundesministerium der Justiz in Zusammenarbeit mit der DVJJ (Hrsg., ob. Fn. 8), S. 170ff. 44 Siehe Rau 1997 (ob. Fn. 3), 520. Über die Arbeiten einer Expertengruppe des Europarates an die Entwicklung von Mindeststandards zum Vollzug ambulanter und freiheitsentziehender Sanktionen gegenüber Jugendlichen, s. Dünkel, F. / Baechtold, A. / van Zyl Smit, D. (2007), Europäische Mindeststandards und Empfehlungen als Orientierungspunkte für die Gesetzgebung und Praxis – dargestellt am Beispiel der Empfehlungen für inhaftierte Jugendliche und Jugendliche in ambulanten Maßnahmen (die „Greifswald Rules“). In: J. Goerdeler / Ph. Walkenhorst (Hrsg.), Jugendstrafvollzug in Deutschland, S. 114ff. 45 Siehe Bundesministerium der Justiz in Zusammenarbeit mit der DVJJ 2001 (Hrsg., ob. Fn. 8), 202ff. 46 Siehe auch die Empfehlung R (99) 19 über die „Mediation in Strafsachen“ („Mediation in Penal Matters“) und die Empfehlung Rec (2000) 20 über „Die Rolle des frühzeitigen psychosozialen Einschreitens zur Verhütung kriminellen Verhaltens“ („The Role of Early Psychosocial Intervention in the Prevention of Criminality“). 47 Das Thema „Heranwachsende und Kriminalpolitik“ war Gegenstand des Zehnten Kriminologischen Kolloquiums des Europarates, das im Jahre 1991 in Straßburg abgehalten

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Die Empfehlung Rec (2003) 20 über „Neue Wege im Umgang mit Jugenddelinquenz und die Rolle der Jugendgerichtsbarkeit“ plädiert dafür, dass junge Erwachsene unter 21 Jahren wie Jugendliche behandelt und dass die gleichen Maßnahmen auf sie angewendet werden sollen, „wenn der Richter der Meinung ist, dass sie noch nicht so reif und verantwortlich für ihre Taten sind wie wirkliche Erwachsene“ (Nr. 11). 48 Schließlich ist in Bezug auf die Viktimisierung der jungen Menschen auf die Empfehlungen Rec. Nr. R (79) 17 über die Misshandlung von Kindern in der Familie („Ill-Treatment of Children in the Family“), Rec. Nr. R (85) 4 über die Gewalt in der Familie („Violence in the Family“), Rec. Nr. R (91) 11 über die sexuelle Ausbeutung, Pornographie und Prostitution und Menschenhandel von Kindern und jungen Erwachsenen („Sexual Exploitation, Pornography and Prostitution of, and Trafficking in, Children and Young Adults“) und Rec (2001) 16 über den Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung („Protection of Children Against Sexual Exploitation“) hinzuweisen. 49 IV. Bedeutung der Instrumente für die innerstaatliche Rechtsordnung Die Kinderrechtskonvention nimmt innerhalb der griechischen Rechtsordnung nicht nur den Rang eines formellen Gesetzes ein, sondern hat eine gegenüber einfachem Recht erhöhte Wirkkraft (sog. „hartes Recht“). Gemäß Art. 28 Abs. 1 der geltenden Verfassung Griechenlands 1975/1986/2001 sind „die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts sowie die internationalen Verträge nach ihrer gesetzlichen Ratifizierung und ihrer in ihnen geregelten Inkraftsetzung“ Bestandteil der innerstaatlichen Rechtsordnung. Sie gehen folglich jeder entgegenstehenden Gesetzesbestimmung vor. 50 Somit ist die Kinderrechtskonvention als Bestandteil der innerstaatlichen Rechtsordnung unmittelbar anzuwenden. Die wurde. Siehe Council of Europe. European Committee on Crime Problems (1994), Young Adult Offenders and Crime Policy. Criminological Research. Vol. XXX. Siehe insbesondere Dünkel, F. (1994), Current Legislation as Regards Young Adult Offenders. In: Council of Europe. European Committee on Crime Problems. Young Adult Offenders and Crime Policy, S. 79ff. Rau 1997 (ob. Fn. 3), S. 525f. 48 Siehe Bundesministerium der Justiz Berlin, Bundesministerium für Justiz Wien, Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartment Bern 2004 (ob. Fn. 40), S. 211ff. (214). Pollähne 2007 (ob. Fn. 8), S. 147f. 49 Über eine Gesamtauswertung des Wirkens des Europarats im Feld der Kriminalpolitik für Jugendliche, siehe Spinellis 1997 (ob. Fn. 1). Zum Europarat im Allgemeinen, siehe Tsitsoura, A. (1993), The Council of Europe. European Journal on Criminal Policy and Research 1, 106ff. Dies. (1990), Council of Europe. Forms of Organization of Scientific Counselling in Regard to Crime Policy and of Criminological Research on Government Behalf. In: J.-M. Jehle (Hrsg.), Criminological Research and Planning in State and Supranational Institutions, S. 53ff.

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Konvention entfaltet unmittelbare Rechtswirkung und bindet als Leitnorm alle Staatsorgane, einschließlich der Legislative. Sie geht im Rang formellen Gesetzen vor, d.h. ihr wird eine Stellung zwischen der Verfassung und den formellen Gesetzen zugeteilt. Die Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, die nicht im Einklang mit der KRK stehen, sind nicht anzuwenden. Es besteht die Verpflichtung des Staates zu Gesetzesanpassungen bzw. die der Gerichte, das übergeordnete Recht der internationalen Verträge anzuwenden. Die Mindestgrundsätze, Regeln, Richtlinien und Empfehlungen der Generalversammlung oder des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen und des Europarates haben im Vergleich zu der Kinderrechtskonvention oder der Europäischen Menschenrechtskonvention einen geringeren Grad völkerrechtlicher Verbindlichkeit. 51 Sie sind weder bindendes Völkerrecht noch gewähren sie subjektive Rechte. Es handelt sich um sog. „soft law“ („weiches Recht“), das eine hohe „moralische und überzeugende Autorität“ für sich in Anspruch nimmt. 52 Alle diese Instrumente geben „Interpretationshilfen“ bei der Auslegung der relevanten Gesetzestexte und zeigen Grundprinzipien im angemessenen Umgang mit delinquenten jungen Menschen auf. 53 Sie drücken in ihrer Gesamtheit eine rechtlichkulturelle Übereinkunft aus, die als „eine Art normativer Grundbestand“ der Völkergemeinschaft zu betrachten ist. Die Mindeststandard-Regelungen können eine rechtsstaatliche und menschenrechtskonforme Ausgestaltung und Fortentwicklung des materiellen und prozessualen Jugendstrafrechts sowie des Jugendstrafvollzugs gewährleisten. 54 Die Beschlüsse der UN-Kongresse sowie die Empfehlungen des Europarates stellen zwar keine völkerrechtlichen Verträge, „wohl aber internationale Willenskundgebungen von großem Gewicht und weittragender Bedeutung“ dar. 55 In der Durchsetzung der Mindeststandard-Normen liegt „der stärkste Motor für die weitere Humanisierung sowie Vereinheitlichung des Jugendstrafrechts“. 56 50 Der Text der Verfassung Griechenlands vom 9. Juni 1975, also vor den Verfassungsreformen von 1986 und 2001, ist abgedruckt in: Südeuropa-Handbuch, Bd. III, hrsg. v. K.-D. Grothusen i.V.m. Südeuropa-Arbeitskreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 1980, S. 577ff. 51 Die Sprache wirkt oft unverbindlich, häufig wird von Reformen „soweit möglich“ oder „soweit angebracht“ bzw. „soweit angemessen und wünschenswert“ gesprochen. Nach Schüler-Springorum 1987 (ob. Fn. 6), 819 wird das Problem deutlich, auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner einen Kompromiss zwischen sehr unterschiedlichen Rechtssystemen und Rechtsauffassungen zu finden, denn die Mindeststandard-Regelungen der Vereinten Nationen erfordern Einstimmigkeit. 52 Im Zusammenhang mit der Rechtsnatur der United Nations Standard Minimum Rules for Non-custodial Measures, den sog. Tokyo Rules von 1990, siehe Dünkel, F. (2002), Vorwort. In: Ch. Morgenstern. Internationale Mindeststandards für ambulante Strafen und Maßnahmen, S. XIIff. 53 Exemplarisch dazu Albrecht 2002 (ob. Fn. 4), D75. 54 Für die ambulanten gemeindebezogenen Sanktionen, s. Dünkel 2002 (ob. Fn. 52), XVII. 55 Siehe Jescheck 1955 (ob. Fn. 17), 664.

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Das „Model Law on Juvenile Justice“ wurde nicht durch eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und rangiert, was seinen formellen Geltungsanspruch betrifft, wegen seiner rein administrativen Herkunft und somit seiner geringen Legitimation relativ weit unten („soft law“). 57 V. Bemerkungen des Ausschusses der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes zum ersten griechischen Bericht Griechenland hat seinen ersten umfassenden Bericht mit fünf Jahren Verzögerung beim Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes eingereicht (14.4.2000). Der Ausschuss kritisiert nach Prüfung des Berichts zu Recht den „legalistischen“ Ansatz. 58 Er stellt fest, dass der Erstbericht der griechischen Regierung sehr nützliche Informationen über den rechtlichen Rahmen enthalte, jedoch wenig Material über die Auswirkungen der Umsetzung der Kinderrechtskonvention in der Praxis. Der Bericht habe es nicht geschafft, die reale Situation der Kinder und die Auswirkung der Konvention auf ihr Alltagsleben aufzuzeigen. Er enthalte wenig Selbstkritik, vielmehr seien seine Verfasser mit der damaligen Situation zufrieden gewesen. Im Bereich des Jugendstrafrechts zeigt sich der Ausschuss für die Rechte des Kindes in seinen „concluding observations“ 59 (1.2.2002) vor allem besorgt über folgendes: a) dass Kinder nur bis zum vollendeten 17. Lebensjahr vom Jugendstrafrecht geschützt sind, b) dass Kinder wegen Bettelei strafrechtlich verfolgt werden, 60 c) dass die Standards für die Jugendgerichtsbarkeit im Hinblick auf die Festnahmeund Haftprozedur nicht beachtet werden, einschließlich der gelegentlichen Inhaftierung von Kindern zusammen mit Erwachsenen, 56 Für den Strafvollzug, s. Kaiser, G. (1992), in: G. Kaiser / H.-J. Kerner / H. Schöch, Strafvollzug, 4. Aufl., S. 133. Neubacher, F. (2001), Eine bislang kaum beachtete Perspektive: die Auslegung des Strafvollzugsgesetzes im Lichte der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung von Gefangenen. ZfStrVo 50, 212ff. 57 Walter 2002 (ob. Fn. 6), 446. Mehr dazu Schüler-Springorum 2001 (ob. Fn. 25), S. 23, 28ff. 58 Denselben Kritikpunkt hat der Ausschuss für die Rechte des Kindes auch gegenüber dem Bericht der Bundesrepublik Deutschland geäußert. Dazu Trenczek 1999 (ob. Fn. 36), S. 697. 59 Der Bericht der griechischen Nichtregierungsorganisationen zur Durchführung der Kinderrechtskonvention in Griechenland hat auf wichtige Mängel der innerstaatlichen Gesetzeslage sowie der Umsetzung in der Praxis der Konvention hingewiesen. 60 In der griechischen Polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 2000 sind 241 Kinder (im Alter von 7 bis 12 Jahren) als Tatverdächtige oder 31%(!) der Gesamtzahl der tatverdächtigen Kinder wegen Bettelei registriert. Waren im Jahre 1995 noch 63 Minderjährige (Kinder und Jugendliche) wegen Bettelei sanktioniert, verdoppelt sich ihre Zahl auf 121 Personen für das Jahr 1996 (siehe Tabelle B:17 der Statistik der griechischen Strafjustiz).

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d) dass Kinder aus bestimmten ethnischen, religiösen, sprachlichen und kulturellen Gruppen verhältnismäßig häufiger in Jugendstrafverfahren involviert sind als andere, insbesondere bei Festnahmen und vollstreckbaren Jugendstrafen, e) dass das Recht der Kinder auf anwaltliche Vertretung oder auf einen anderen angemessenen Beistand nicht immer systematisch gewährleistet wird, 61 f) dass sich eine hohe Zahl von Jugendlichen wegen Vergehen in Untersuchungshaft befindet, obwohl nach griechischem Recht Untersuchungshaft gegenüber Jugendlichen nur verhängt werden darf, wenn die begangene Tat im Gesetz mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zehnjähriger Dauer bedroht wird, unabhängig von der Dauer der in concreto verhängten Sanktionen (Art. 282 Abs. 5 grStPO), 62 g) dass Verzögerungen im Gerichtsverfahren zu langen Untersuchungshaftzeiten führen, h) dass das Höchstmaß der Jugendstrafe 20 Jahre beträgt, i) dass das Recht auf Berufung sich auf Urteile beschränkt, die eine Jugendstrafe von mehr als einem Jahr verhängen, 63 j) dass ein Mangel an Jugendgerichtshelfern besteht. 61

Das Recht auf einen Verteidiger eigener Wahl unterliegt keinen Beschränkungen. Nach den allgemeinen verfahrensrechtlichen Bestimmungen ist der Untersuchungsrichter bei der Vernehmung des Beschuldigten verpflichtet, einen Verteidiger von Amts wegen zu bestellen, wenn der Beschuldigte ausdrücklich darum bittet (Art. 100 Abs. 3 grStPO). Demgegenüber ist nach Art. 340 Abs. 1 grStPO die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung immer dann notwendig, wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird. Da aber die schwerwiegendste Tat, die einem jugendlichen Beschuldigten zur Last gelegt werden kann, nach der Fiktion des Gesetzes ein Vergehen ist, ist die Mitwirkung der Verteidigung in Jugendstrafsachen niemals notwendig. Hat der jugendliche Beschuldigte keinen Verteidiger gewählt, so wird ihm von Amts wegen kein Verteidiger beigeordnet. In der Praxis ist die Beteiligung eines Verteidigers in Jugendstrafsachen vor dem (eingliedrigen) Jugendgericht äußerst selten. 62 Siehe Pitsela, A. (1997), Griechenland. In: F. Dünkel / A. van Kalmthout / H. SchülerSpringorum (Hrsg.), Entwicklungstendenzen und Reformstrategien im Jugendstrafrecht im europäischen Vergleich, S. 155ff., insb. 176f. Chaidou, A. (1994), Griechenland. In: F. Dünkel / J. Vagg (Hrsg.), Untersuchungshaft und Untersuchungshaftvollzug, International vergleichende Perspektiven zur Untersuchungshaft sowie zu den Rechten und Lebensbedingungen von Untersuchungsgefangenenen – Waiting for Trial, S. 251ff., insb. 262f. 63 In der fehlenden Berufungsmöglichkeit war eine wesentliche Abweichung der griechischen Jugendstrafgesetzgebung von den Bestimmungen der KRK zu sehen. Dazu Pitsela, A. (1998), Jugendgerichtsbarkeit und Jugenddelinquenz in Griechenland. In: H.-J. Albrecht u.a. (Hrsg.), Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht. FS für Günther Kaiser, S. 1085ff. (1099). Dies. (2000), Vorschläge für einen rationalen Umgang mit der Jugenddelinquenz. In: C. Prittwitz / I. Manoledakis (Hrsg.), Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende, S. 131ff. (140). Dies. 1997 (ob. Fn. 62), 175f. Chaidou, A. (2002), Griechenland. In: H.-J. Albrecht / M. Kilchling (Hrsg.), Jugendstrafrecht in Europa, S. 191ff.

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Deshalb hat der Ausschuss für die Rechte des Kindes folgendes empfohlen: a) Entwicklung von Gesetzen und Mechanismen für alle Kinder (Personen unter 18 Jahren) und Zurverfügungstellung von adäquaten Ressourcen, um die vollständige Umsetzung der Standards für die Jugendgerichtsbarkeit in der Praxis sicherzustellen, insbesondere der Artikel 37, 40 und 39 der Kinderrechtskonvention sowie der Mindeststandards der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit (Beijing Rules) und der Richtlinien der Vereinten Nationen für die Prävention von Jugenddelinquenz (Riyadh Guidelines). 64 b) Entkriminalisierung der Bettelei von Kindern, wobei sicherzustellen ist, dass diese Änderung nicht von Erwachsenen genutzt wird, die Kinder zum Betteln auszunutzen. c) Planung und Durchführung von Fortbildungsprogrammen über das Jugendstrafrecht und die Rechte der Kinder für Polizeibeamte, Vollzugsbedienstete, Richter, Sozialarbeiter, Psychologen und sonstiges Personal, das in der Jugendstrafrechtspflege beschäftigt ist. d) Beachtung aller Standards für die Jugendgerichtsbarkeit, einschließlich der Rechte der Kinder während der Festnahme- und Haftprozedur und der Mindesthaftbedingungen sowie des uneingeschränkten Rechts auf Berufung und anwaltliche Vertretung, unentgeltlicher Hinzuziehung eines Dolmetschers, falls dies gebraucht wird, und anderer relevanter Unterstützung. e) Sicherstellung, dass die Haft, einschließlich der Untersuchungshaft, erst als letztes Mittel und nach sorgfältiger Prüfung der Schwere der Straftat angeordnet wird, und dass größere Bemühungen unternommen werden, um Haftalternativen zur Verfügung zu stellen. f) Abschaffung der Vorschriften, die eine Dauer der Jugendstrafe von bis zu 20 Jahren vorsehen. g) Erhöhung der Anzahl der ausgebildeten Jugendgerichtshelfer und des sonstigen relevanten Personals. Am 21.10.2003 trat in Griechenland das Gesetz über die „Reform der Jugendstrafgesetzgebung und andere Vorschriften“ (Gesetz Nr. 3189/2003) in Kraft. Mit dem Gesetz wurde das seit 1951 geltende Jugendstrafrecht materiell und verfahrensrechtlich einer grundlegenden Novellierung unterzogen. Die relative Strafmündigkeit endet nunmehr mit dem 18. Lebensjahr. Durch die Heraufsetzung des Alters der strafrechtlichen Volljährigkeit vom 17. auf das 18. Lebensjahr ist eine Harmonisierung mit dem Alter der zivilrechtlichen Volljährigkeit (s. Art. 127 64 Durch den Verweis des Ausschusses für die Rechte des Kindes auf die Einhaltung der Mindeststandard-Regelungen könnte sich die KRK „als Motor für die Durchsetzung“ auch dieser Regelwerke erweisen: Schüler-Springorum 2001 (ob. Fn. 25), S. 36.

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grBGB) sowie mit den Bestimmungen der Kinderrechtskonvention und anderen internationalen Grundsätzen des Jugendkriminaljustizsystems eingetreten. Der eher knappe Katalog der ambulanten Erziehungsmaßregeln wurde bereichert. Die unbestimmte Dauer der Erziehungsmaßnahmen wurde erheblich eingeschränkt: Einerseits wird die Höchstdauer der Erziehungsmaßnahmen im Gerichtsurteil festgelegt. Andererseits wird die Notwendigkeit bzw. Zweckmäßigkeit der angeordneten Erziehungs- und Heilmaßnahmen spätestens nach dem Ablauf eines Jahres nach ihrer Anordnung gerichtlich überprüft. Die zeitlich unbestimmte und stets vollstreckbare Jugendstrafe wurde ersatzlos gestrichen. Die bestimmte Jugendstrafe wurde eingeführt. Eine jugendgerichtliche Verfahrenseinstellung (verfahrensrechtliches Subsidiaritätsprinzip als Einschränkung des Legalitätsprinzips) wurde gesetzlich verankert. Die Opportunitätseinstellung steht im Ermessen der Staatsanwaltschaft. Begeht der Minderjährige eine Übertretung oder ein Vergehen, kann der Staatsanwalt von der Verfolgung absehen, wenn er nach der Untersuchung der Tatumstände und der Gesamtpersönlichkeit des Täters zu dem Schluss kommt, dass die Strafverfolgung nicht notwendig ist, um den Minderjährigen von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten. Der Staatsanwalt kann beim Absehen von der Verfolgung dem Minderjährigen eine oder mehrere der ambulanten Erziehungsmaßnahmen und der Verpflichtungen, die sich auf die Lebensführung und Erziehung beziehen, sowie die Zahlung eines Geldbetrages in Höhe von 1.000 Euro zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung auferlegen. Die Möglichkeit, die bestimmte Jugendstrafe – unabhängig von ihrer Dauer – vor einer höheren Instanz zu überprüfen, wurde eingeführt: Die Jugendstrafe ist nun stets berufungsfähig. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass durch die Reform der Jugendstrafgesetzgebung die Hervorhebung der ambulanten erzieherischen Behandlung, die Stärkung des Opferschutzes (Täter-Opfer-Ausgleich, Wiedergutmachung, Tatausgleich), die Einführung der ambulanten therapeutischen Behandlung, die Gestaltung des Freiheitsentzugs als ultima ratio sowie die Stärkung der Rolle des Staatsanwalts durch die Einführung des Absehens von der Verfolgung zu einer Verbesserung der Rechtslage der jugendlichen Beschuldigten und zur Erweiterung des Aufgabenkreises der Jugendgerichtshilfe geführt hat. Die Kinderrechtskonvention diente in der Tat als ein Anstoß für notwendige Reformen im Bereich des Jugendstrafrechts. Reformbedürftig erscheinen aber immer noch die Bestimmungen des geltenden Jugendstrafrechts, die das Höchstmaß der stets zu vollstreckenden Jugendstrafe auf 20 Jahre Freiheitsentzug festlegen kann, und das Recht auf notwendige Verteidigung. 65 Weiterhin ist fraglich, ob das Gebot der unverzüglichen Entscheidung (Art. 40 Abs. 2 (b) (iii) KRK) sowie die volle Beachtung des Rechts 65 Der Verteidiger darf nicht mehr als Störfaktor im jugendrichterlichen Verfahren angesehen werden. Dazu vor allem Jung, H. (1998), Zur Entwicklung internationaler Standards im Jugendkriminalrecht. In: H.-J. Albrecht u.a. (Hrsg.), Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht. FS für Günther Kaiser, S. 1047ff., 1059f.

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des Kindes auf Privatleben in allen Verfahrensabschnitten (Art. 40 Abs. 2 (b) (vii) KRK) eingehalten wird. Problematisch erscheint ferner, dass die Jugendgerichte und der Jugendstaatsanwalt von den neu eröffneten Möglichkeiten durch die Reform der Jugendstrafgesetzgebung relativ selten Gebrauch machen. Weder der Staatsanwalt sieht in nennenswertem Umfang von der Verfolgung Minderjähriger ab noch greift das Gericht auf die neu eingeführten ambulanten Maßnahmen zu. Ferner bleibt die Jugendgerichtshilfe ziemlich unterbesetzt – und das zu einer Zeit, in der neue Tätergruppen in Betracht kommen (junge Migranten, Nachkommen griechischer Abstammung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion). Insbesondere fehlt die Etablierung von Weiter- und Fortbildungskursen für die Jugendgerichtshelfer in Bezug auf die Implementierung der neuen ambulanten Erziehungsmaßnahmen. Insgesamt ist die Position des Kindes in der griechischen Rechtsordnung nach dem Jahrtausendwechsel gestärkt worden: Es ist eine „Nationale Beobachtungsstelle für die Rechte des Kindes“ eingerichtet worden, deren Aufgabe die Befolgung und Förderung der Umsetzung der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes ist (s. Art. 4 des Gesetzes Nr. 2909/2001). Weiterhin hat Griechenland sowohl das „Optional Protocol to the Convention on the Rights of the Child on the Involvement of Children in Armed Conflict“ als auch das „Optional Protocol to the Convention on the Rights of the Child on the Sale of Children, Child Prostitution and Child Pornography“ ratifiziert. Außerdem ist der Schutz der Kinder als Opfer durch das Gesetz Nr. 3064/2002 – „Bekämpfung des Menschenhandels, der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, der Kinderpornographie und im Allgemeinen der wirtschaftlichen Ausbeutung des Sexuallebens sowie Hilfe für die Opfer dieser Straftaten – gestärkt worden. Ferner ist durch das Gesetz Nr. 3094/2003 die unabhängige Verwaltungsbehörde des „Ombudsmanns für Kinder“ gegründet, der die Aufgabe hat, die Kinderrechte zu verteidigen und zu fördern (Art. 3 Abs. 1). 66 Schließlich wird durch das Gesetz Nr. 3500/2006 „Über den Umgang mit der innerfamiliären Gewalt“ das Kind auch von Taten innerfamiliärer Gewalt, die in seiner Anwesenheit begangen werden, strafrechtlich geschützt. VI. Zusammenfassung und Ausblick Die jugendkriminalpolitische Grundorientierung der Vereinten Nationen und des Europarates gilt für die Modernisierung bzw. Fortentwicklung der Jugendkriminalrechtspflege in rechtsstaatlicher und humanitärer Hinsicht als richtungweisend. 67 Die einschlägigen Dokumente der Vereinten Nationen und des Europa66

Mehr dazu www.synigoros.gr. Vgl. Jung, H. (1995), Die Empfehlung des Europarates zur Strafzumessung. In: H.H. Kühne (Hrsg.), FS für Koichi Miyazawa, 437ff. (448). 67

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rates 68 favorisieren im Bereich des Umgangs mit straffälligen jungen Menschen Diversionsstrategien, Community Sanctions, 69 Mediation sowie die Zurückdrängung des Freiheitsentzuges. Der Grundsatz der Subsidiarität der Strafe gegenüber erzieherisch-„helfenden“ Sanktionen wird anerkannt. Falls eine Bestrafung für nötig erachtet wird, gehen ambulante Sanktionen den stationären vor. 70 Griechenland hat in vollem Umfang eine Reihe von internationalen MindeststandardRegelungen zum Umgang mit delinquenten Jugendlichen mit eher appellativem Charakter („soft law“) umgesetzt. Außerdem stellen die Vorschriften der Kinderrechtskonvention unmittelbar geltendes Recht dar. Mir ist allerdings kein Jugendgerichtsurteil bekannt, dass auf die KRK verweist. Insoweit verdient ein Urteil (Nr. 14/1987) der Athener Jugendkammer beim Oberlandesgericht (Besetzung mit drei Berufsrichtern einschließlich des Vorsitzenden), das als Berufungsgericht tätig wurde, besonderes Augenmerk, da es sich ausdrücklich auf die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit bezieht. 71 Die Jugendkriminalpolitik wurde zwar auf den letzten internationalen Kongressen der Vereinten Nationen über „Verbrechensverhütung und die Behandlung von Straftätern“ thematisiert. Der Schwerpunkt der zeitgemäßen Kriminalpolitik hat sich jedoch auf die transnationale organisierte Kriminalität verlagert, die nunmehr als wichtigste Herausforderung des 21. Jahrhunderts gilt. Eine der Hauptaufgaben für die Zukunft wird darin bestehen, sich dafür einzusetzen, die erreichten europäischen und internationalen Mindeststandard-Regelungen für eine humane und effiziente Jugendkriminalpolitik zu sichern und weiterzuentwickeln. 72

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Siehe Ashworth, A. (2000), Strafzumessung in Europa. NK, H. 4, 21ff. Siehe beispielsweise Albrecht, H.-J. / van Kalmthout, A. (Hrsg., 2002), Community Sanctions and Measures in Europe and North America. Für einen interessanten Einblick in die gemeindebezogenen Sanktionen und Maßnahmen in Griechenland, s. Tsitsoura, A. (2002), Community Sanctions and Measures in Greece. In: H.-J. Albrecht / A. van Kalmthout (Hrsg.), 271ff. 70 Die internationale Jugendkriminalpolitik wird in vier Postulate erfasst: Soziale Hilfen haben Vorrang vor strafrechtlichem Eingreifen, informelle Erledigung hat Vorrang vor dem förmlichen Verfahren (informell vor formell), die Sanktionen sind vorrangig erzieherisch und nicht punitiv zu gestalten (Erziehung statt Strafe) und der Freiheitsentzug ist quantitativ (a measure of last resort) und zeitlich (the shortest appropriate period of time) das letzte Mittel (ambulant statt stationär): Schüler-Springorum, H. (2006), Internationale Jugendkriminalpolitik? In: F. Neubacher / A. Klein (Hrsg.), Vom Recht der Macht zur Macht des Rechts? Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft internationaler Strafgerichte, 291ff., 304f. 71 Siehe Poinika Chronika (griechische Strafrechtszeitschrift) 39, S. 519. Dazu Spinellis, C.D. (1989), Anmerkungen zum Jugendrecht anlässlich des Urteils 14/1987 des dreigliedrigen Jugendberufungsgerichts von Athen, Poinika Chronika 39, 538ff. (griechisch). 72 Neubacher 2003 (ob. Fn. 6), S. 558. Schüler-Springorum 2001 (ob. Fn. 25), S. 35f. Siehe auch Schüler-Springorum, H. (2001), Hundert Jahre Jugendgerichtsbarkeit. FS für Heinz Müller-Dietz, S. 821ff. Vgl. Rau 1997 (ob. Fn. 3), S. 527. 69

VII. Zum Strafprozessrecht

Die Zukunft der europäischen Strafverfolgung Piotr Hofma´nski 1. Aufgrund der vielfältigen Forschungsinteressen des verehrten Jubilars ist es nicht einfach, ihm ein Thema zu widmen, das seinen Interessen gerecht werden kann. Meine Wahl fiel auf ein Problem, dem in jüngster Zeit die wissenschaftliche Aktivität von Prof.Dr.Andrzej Szwarc galt, und dem er durch seine aktive Teilnahme an den Arbeiten des internationalen Forschungsteams unter der Leitung von Prof.Dr.Bernd Schünemann besondere Aufmerksamkeit schenkte. Das Ziel dieser Forschergruppe ist es, ein alternatives Konzept der Strafverfolgung in Europa zu präsentieren. Auf die einschlägigen Arbeitsergebnisse werde ich in diesem Beitrag mehrfach Bezug nehmen. Meine nicht unkritischen Anmerkungen äußere ich jedoch stets in Anerkennung der von Prof.Dr.Andrzej Szwarc geleisteten kreativen Mitarbeit an den Ergebnissen der Forschergruppe, die für all diejenigen, die das Strafprozessrecht als ein Betätigungsfeld der fortschreitenden Harmonisierung im europäischen Ausmaß betrachten, eine Quelle der Inspiration ist und es noch lange bleiben wird. 1 2. Die Europäisierung des Strafrechts und des Strafprozessrechts nimmt in letzter Zeit entschieden an Tempo zu. Wir nehmen langsam zur Kenntnis, dass es keinem allein handelnden Justizsystem in dem sich vereinigenden Europa gelingen kann, der zunehmend global werdenden Kriminalität Herr zu werden. Aber dies einzusehen, ist ein langwieriger und schmerzhafter Prozess. Freilich wird immer häufiger auf die Notwendigkeit einer Harmonisierung des materiellen Strafrechts und des Strafprozessrechts 2, auf die notwendige Intensivierung der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen und auf neu zu errichtende Instrumente dieser Zusammenarbeit hingewiesen. Die These allerdings, dass als einzig wirksame Antwort auf die Internationalisierung der Kriminalität nur eine Internationalisierung der Strafverfolgung und der Justiz im weitesten Sinne in 1 Der vorliegende Beitrag ist eine dem deutschen Leser bislang unbekannte aktualisierte und erweiterte Version des in der polnischen Sprache in Europejski Przegla˛d Sa˛dowy 2006, Nr. 12 veröffentlichten Artikels. 2 Z.B. Wa˛sek / Walto´s, Harmonizacja prawa karnego w Europie z polskiej perspektywy, Teil I, [Die Harmonisierung des Strafrechts in Europa aus polnischer Sicht] Palestra 1996, Nr. 11 –12, Teil II, Palestra 1997, Nr. 1 –2; Klip, NStZ 2000, S. 626ff.; Schubert, Der Versuch – Überlegungen zur Rechtsvergleichung und Harmonisierung, Berlin 2005, passim.

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Frage kommen kann, wurde bis heute nicht formuliert. Dem liegt, wie ich meine, nur ein einziger Umstand zugrunde. Es ist die Tatsache, dass das Strafrecht und die Justiz traditionell als eine Bastion staatlicher Souveränität angesehen werden. 3 Ich bin jedoch der Meinung, dass an der Schwelle des 21. Jahrhunderts die Zeit für eine Neubewertung der Souveränitätskonzeption gekommen ist, die auch die gemeinsame Verantwortung für die effektive Kriminalitätsbekämpfung mit einzubeziehen hat. Man muss sich freilich auch dessen bewusst sein, dass der Ruf nach solchen Neubewertungen heute noch so gut wie keine Chancen auf einen seriösen Widerhall seitens der Entscheidungsträger hat, denn der Drang nach einer Kumulation des Imperiums ist für gewöhnlich stärker als der gesunde Menschenverstand. Es werden wohl noch viele Düsenflugzeuge an den Wänden der Skyliner zerschellen müssen, bis der gesunde Menschenverstand die Oberhand gewinnt. 4 Dies alles befreit den Forscher aber nicht von seiner Pflicht, die Wahrheit zu schreiben, selbst wenn sich die in einer wissenschaftlichen Analyse abzeichnenden Lösungen als (politisch) völlig unrealistisch erweisen sollten. Die freie Wissenschaft darf meines Erachtens nicht verschweigen, was im Hinblick auf politische Bedingungen zwar keine Aussichten auf Verwirklichung hat, dennoch objektiv durchaus rational erscheint. Vielleicht gibt man das irrationale Beharren auf alten Vorstellungen eines Tages auf oder schwächt es zumindest ab. Bevor man aber die Vision einer gemeinsamen Kriminalitätsbekämpfung im transeuropäischen Sinne präsentieren kann, muss die bestehende Situation einer kritischen Analyse unterzogen werden. Erst dann können Rahmenbedingungen für die Bildung eines effizienten Systems des gemeinsamen Kampfes gegen die Kriminalität formuliert und das erwünschte Modell in seiner Grundstruktur vorgeschlagen werden. 3. Dass die Öffnung der Grenzen Europas viele Vorteile bringt, ist keine neue Feststellung. Der freie Waren- und Dienstleitungsverkehr begünstigt die Wirtschaftsentwicklung, der Wohlstand erhöht sich, und durch den freien Gedankenfluss dehnt sich der Freiheitsbereich aus. Von der Freiheit profitiert aber auch die Kriminalität. Eine immer größere Gefahr stellt dabei das international organisierte Verbrechen dar. Aufgrund der OK-Strukturen und der illegalen Finanzmittel können verbotene Güter aller Art, aber auch diverse, für demokratische Gesellschaften gefährliche Ideen ungehindert in Europa verbreitet werden. Die 3 Jung, StV 1990, S. 509; Sieber, ZStW 103 (1991), S. 973ff. Einer der Gründe ist auch, wenn auch in einem geringeren Grad, die Angst vor dem Verlust der nationalen Strafrechtskultur, vgl. Rüter, ZStW 105 (1993), S. 39; Weigend, ZStW 105 (1993), S. 774ff. 4 Köchler, Global Justice or Global Revenge? International Criminal Justice at the Crossroads. Philosophical Reflections on the Principle of International Legal Order Published on the Occasion of the Thirtieth Anniversary of the Foundation of International Progress Organization, Wien 2003, S. 13ff.

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Grenzen zwischen den Staaten sind für die kriminelle Welt kein Hindernis, im Gegenteil – die Öffnung der Grenzen eröffnete ihr spektakuläre Bereiche für neue Aktivitäten mit Gewinnen in bislang nie da gewesener Höhe. Angesichts der Überwindung faktischer Grenzziehungen ist keine rationale Erklärung dafür zu finden, warum dies einerseits die Kriminalität begünstigen, andererseits aber die Verfolgung von Straftaten erschweren soll. Diese heute rhetorisch anmutende Frage formuliere ich in der festen Überzeugung, dass das gegenwärtige Instrumentarium der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen ineffizient ist und kaum den in der Realität bestehenden Bedürfnissen Rechnung trägt. Als besonders hinderlich erweisen sich in erster Linie die vielfältigen und zahlreichen Rechtsregelungen hinsichtlich gleicher Fragestellungen. Je nach dem Kreis der zusammenarbeitenden Länder kommen verschiedene Kooperationsmethoden und Rechtsinstrumente in Frage. Die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats (also den Unterzeichnerstaaten der im Rahmen dieser Organisation entwickelten internationalen Übereinkommen) stellt sich also anders dar 5 als die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die zwar Mitglieder des Europarats sind, im eigenen Kreis aber nach anderen Grundsätzen kooperieren 6. In Europa gibt es darüber hinaus zahlreiche bilaterale Vereinbarungen zur Modifizierung von Kooperationsregeln zwischen den Vertragsstaaten multilateraler Abkommen 7 sowie multilaterale Vereinbarungen, die nur einzelne EU-Staaten betreffen (z.B. Benelux-Staaten, Schengen-Gruppe 8). Bei bestimmten Kategorien von Straftaten gelten unabhängig davon besondere, in verschiedenen Gremien herausgearbeitete Grundsätze der Zusammenarbeit. 9 Während die Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit nur zweier Staaten noch überwindbar sind, wird es dann viel komplizierter, wenn Justizbehörden dreier oder noch mehr Staaten kooperieren müssen, von denen jede einem anderen Kreis angehört und die alle unterschiedlichen Vereinbarungen und Verpflichtungen 5 Vgl. z.B. Europäische Konvention über gegenseitige Hilfe in Strafsachen aus dem Jahr 1959, Europäisches Übereinkommen über die Auslieferung aus dem Jahr 1957. 6 Vgl. z.B. EU-Auslieferungsübereinkommen aus dem Jahr 1996 oder Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union aus dem Jahr 2000. 7 Vgl. z.B. Abkommen zwischen der Österreichischen Bundesregierung und der Regierung der Republik Polen betreffend die Zusammenarbeit bei der Vorbeugung und Bekämpfung der Kriminalität aus dem Jahr 2003 oder ähnliche Abkommen mit der Bundesrepublik Deutschland von 2004 und der Slowakei aus dem Jahr 1997. 8 Vgl. Titel IV des Schengener Durchführungsübereinkommens aus dem Jahr 1985 (ABl EU L2000, Nr. 239, Pos. 19). 9 Die Mechanismen der Zusammenarbeit wurden z.B. in der UN-Konvention über die transnationale organisierte Kriminalität aus dem Jahr 2000, in der Konvention aus dem Jahr 1990 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten, (vgl. Kap. III), Internationales Übereinkommen zur Unterdrückung der Finanzierung von Terrorismus aus dem Jahr 2003 (vgl. Art. 16) sowie auch Strafrechtsübereinkommen über Korruption aus dem Jahr 1999 (vgl. Kap. IV) bestimmt.

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nachkommen müssen. Betrifft das Strafverfahren dazu noch viele Personen und diverse Straftaten und gelten für jede Tat andere Grundsätze der internationalen Kooperation, dann ist das Maß überschritten. Wie soll all dem ein Polizist, ein Staatsanwalt oder ein Richter gerecht werden, wenn sich schon die Feststellung, an welche Regelungen er in den einzelnen Bereichen in Bezug auf einzelne kooperierende Länder und in Bezug auf bestimmte mit den vorgeworfenen Straftaten verbundene Verfahrensabschnitte gebunden ist, als äußerst kompliziert, wenn überhaupt möglich, erweist. 10 Hierzu gesellen sich Jurisdiktionskonflikte, die bislang von keiner der in Europa zusammenwirkenden Staatenkreise gelöst werden konnten. Zugegebenermaßen werden in Europa entsprechende Schritte unternommen. Dennoch – wie es das im Dezember 2005 veröffentlichte Grünbuch über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren 11 zeigt – erweist sich schon allein die Diagnose des Problems als äußerst kompliziert und die Herausarbeitung eines Systems zur Lösung von Jurisdiktionskonflikten unter den Mitgliedstaaten in naher Zukunft als schier unerreichbar. 12 Dies ist deshalb der Fall, weil man diesem Problem entgegen zu kommen versucht, indem man die Folgen der bestehenden Jurisdiktionskonflikte und nicht etwa die ihnen zugrunde liegenden Ursachen beseitigen will. Es ist aber klar, dass Lösungen nur dann zu finden sind, wenn man für die Lösung des Problems auch Ursachen politischer Natur in die Betrachtung einbezieht. Aufgrund der hartnäckigen Verteidigung der Staatssouveränität, die sich in diesem Fall in einer Art Ausdehnung des Jurisdiktionsbereichs in Strafsachen über den durch rationale Kriterien bestimmten Rahmen hinaus manifestiert, ist eine Diskussion über die Absonderung von Jurisdiktionsfeldern undenkbar, was zwangsläufig zu Kollisionen innerhalb von Europa führt. 13 Jurisdiktionskonflikte haben zur Folge, dass Strafverfahren bis ins Endlose verschleppt und Entscheidungen fremder Jurisdiktionen ignoriert werden, so dass im europäischen Rechtsraum Chaos herrscht. Darüber hinaus ist die Verletzung des elementaren subjektiven Rechts, für eine Straftat nur einmal verfolgt zu werden, zu beklagen. Ein erschwerender Faktor innerhalb der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen betrifft Unterschiede hinsichtlich des in den Rechtsordnungen einzelner Staaten verankerten Kriminalisierungsumfangs. Es geht dabei nicht nur darum, dass der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit die Zusammenarbeit 10 Vgl. Kritik dieser Sachlage in New Start for European Legal Cooperation. Bericht von Schomburg im Auftrag der Generaldirektion für rechtliche Angelegenheiten des Europarats, Council of Europe, DAJ / DOC (99) 26 REV, Strasbourg, 10. Januar 2001. Vgl. auch Dieckman, NStZ 2001, S. 617ff. 11 Brussels, 23.12.2005, COM(2005) 696 final. 12 Schomburg, NJW 2000, S. 1833ff. 13 Berman, The nature of jurisdiction, in: P. Capps M. Evans, S. Kostadinis (Hrsg.), Asserting jurisdiction. International and European legal approaches, Oxford-Portland 2003, S. 5.

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so gut wie unmöglich macht, sondern auch darum, dass im Hinblick auf unterschiedliche Rechtsregelungen schon allein die Definierung der Straftatbestände in den Akten des Gemeinschaftsrechts auf Schwierigkeiten stößt. 14 Man muss wohl zudem niemanden davon überzeugen, wie demoralisierend es in dem sich vereinigenden Europa sein kann, wenn ein bestimmtes Verhalten in einem Land legal ist, in einem anderen Land aber eine Straftat begründet. Hinzu kommt, dass eine solche Situation zu Spekulationen innerhalb krimineller Strukturen führen kann. 4. Angesichts der hier dargestellten Sachlage muss man sich die Frage stellen, ob es nicht langsam an der Zeit ist, nach einem alternativen Weg zu suchen. In der Tat ist dies zu bejahen. Es ist an der Zeit, nach neuen Wegen zu suchen. Einschlägige Bemühungen werden zwar unternommen, doch sind sie weder ausreichend noch den drohenden Gefahren gewachsen. Alle Initiativen scheitern letztlich am Mangel des politischen Willens, etwas zu tun, was wirklich effizient ist und eine adäquate Antwort auf die Herausforderungen der Verbrechenswelt darstellen könnte. Dem Problem der Internationalisierung der Kriminalität und der Notwendigkeit, die Mechanismen der Zusammenarbeit in Strafsachen effizienter zu gestalten, versuchte man im Rahmen des Europarats zu begegnen. Im Jahre 2001 wurde im Europäischen Ausschuss für die Probleme der Kriminalität eine Expertengruppe mit der Aufgabe berufen, den aktuellen Kooperationsstand in Strafsachen zu untersuchen und entsprechende Vorschläge zur Sanierung der Situation zu unterbreiten. 15 Der 2002 vorgelegte Bericht ist mehr als allgemein formuliert. Es ist darin von einem europäischen gemeinsamen Justizraum (European area of shared justice) die Rede, doch kein Mitglied der Expertengruppe (den Autor eingeschlossen) würde wohl sagen können, was eigentlich unter diesem Ausdruck zu verstehen ist. In Plenardiskussionen war die Meinung vorherrschend, man dürfe sich eigentlich kaum über die bestehenden politischen Realien hinwegsetzen, und es wurde kein Postulat formuliert, dass sich als bahnbrechend bezeichnen ließe. Selbst die wenigen formulierten Postulate wurden von der Politik als zu radikal empfunden. Es war darin unter anderem von der Notwendigkeit die Rede, das System der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen in Ordnung zu bringen, eine gesamteuropäische Institution zu errichten, die Informationen über das Instrumentarium dieser Zusammenarbeit sammelt und den Verfolgungs- und Justizorganen bei der Lösung von Interpretationsproblemen behilflich sein könnte sowie von der Notwendigkeit, die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen 14 Vgl. Art. 2 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten [Amtsblatt L190 aus 2002]. 15 Reflection Group on developments in international co-operation in criminal matters (PS-S-NS).

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zu kodifizieren und sich anstelle aller bisherigen Vereinbarungen auf eine neue multilaterale Vereinbarung zu einigen. 16 Der Bericht war für die nächste im Jahre 2004 berufene Expertengruppe, die sich zur Aufgabe gemacht hatte, die von der ersten Expertengruppe formulierten Ziele 17 zu konkretisieren, eine Art Inspiration. Dennoch brachte die Arbeit dieser Gruppe, von der Wiederholung einiger bereits zuvor bekannter Truismen abgesehen, nichts Neues an den Tag. 18 Im Rahmen der Arbeiten des Europarats werden in Richtung der Vereinheitlichung des materiellen Strafrechts grundsätzlich keine Initiativen unternommen. Als eine internationale Institution kann der Europarat aus naheliegenden Gründen keinerlei Kompetenzen auf diesem Gebiet haben. Seine Aktivität beschränkt sich somit auf die Initiierung international strafrechtlicher Verpflichtungen im Bereich der Kriminalisierung von bestimmten Verhaltensweisen, wie z.B. Korruptionsbekämpfung 19 oder Geldwäsche. 20 Dem Europarat fehlt also das Potenzial, um dem Problem der Internationalisierung der Kriminalität die Stirn zu bieten und eine adäquate Antwort auf die sich daraus ergebenden Gefahren zu geben. Der Grund dafür liegt ohne Zweifel darin, dass Mitglieder dieser Organisation Staaten mit unterschiedlicher Beziehung zu demokratischen Traditionen sind, und die Staaten dem rechtsstaatlichen Modell in einem unterschiedlichen Grad entsprechen, was zu einem Defizit an gegenseitigem, für eine effiziente Zusammenarbeit aber unentbehrlichen, Vertrauen führt. Nicht ohne Bedeutung ist auch, dass mit der fortschreitenden Erweiterung der Europäischen Union die Position des Europarates schwächer wird, da die EU-Staaten eher zu einer Integration im eigenen Kreise geneigt sind, und die Zusammenarbeit mit den europapolitisch peripheren Ländern in den Hintergrund tritt. Die Folge ist, dass die Europäische Union viel größere Chancen hat, ein kohärentes und effizientes System der gemeinsamen Kriminalitätsbekämpfung aufzubauen. Es tut sich hier viel, und die einschlägigen Bemühungen sind in den letzten Jahren ohne Zweifel viel intensiver geworden. Dennoch gibt es meines Erachtens genug Gründe für die wenig erfreuliche Feststellung, dass diese Bemühungen den nötigen Willen vermissen lassen. Die Zusammenarbeit in Strafsachen in der EU findet nach Art. 29 EUV im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts statt. Was allerdings dieser Raum ist, vermag niemand eindeutig zu sagen, weshalb ich ihn lediglich als 16

Vgl. Final activity report, Strasbourg 21 March 2002, PC-S-NS (2002) n 6. Committee of experts on Transnational Justice (PC-TJ). 18 Vgl. Final activity report, Strasburg 20 December 2005, PC-TJ (2005) n 10. 19 Vgl. Kap. II Strafrechtsübereinkommen über Korruption von 1999 (Dz.U. 2005, Nr. 29, Pos. 249). 20 Vgl. Kap. II Konvention von 1990 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten (Dz.U. 2003, Nr. 46, Pos. 394). 17

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einen politisch deklarierten Garten Eden und als ein Argument für die These über die notwendige Verstärkung der Zusammenarbeit betrachte. Das Fundament, auf dem diese Zusammenarbeit beruhen muss, ist das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten, das schon deshalb möglich ist, da die EU-Staaten grundsätzlich in einem vergleichbaren Grad dem rechtsstaatlichen Prinzip verbunden sind. Ob dieses gegenseitige Vertrauen in der auf 27 Mitgliedstaaten erweiterten Europäischen Union tatsächlich besteht, erscheint zumindest fraglich, und die bisherige politische Praxis scheint eher darauf hinzuweisen, dass jede Erweiterung der Europäischen Union zu einer Auflösung des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten führen wird. Im Hinblick auf die notwendige Verstärkung der Zusammenarbeit in Strafsachen verheißt das freilich nichts Gutes. Der Grundsatz, der in der EU ein Fundament der Zusammenarbeit in Strafsachen bilden soll, ist das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung 21 rechtskräftiger Urteile und in der Zukunft auch aller Entscheidungen, darunter auch (was in der Praxis am problematischsten erscheint 22) Beweisbeschlüsse. 23 Wie es aber scheint, wird dieses Prinzip nicht konsequent genug realisiert. Und dies nicht nur wegen des Mangels an gegenseitigem Vertrauen der Justizorgane einzelner EU-Mitgliedstaaten, sondern schon deshalb, weil es viel zu eng verstanden wird. Als erste auf der Grundlage dieses Prinzips verabschiedete konkrete Maßnahme gilt allgemein der Europäische Haftbefehl (Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten 24, in nationale Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten umgesetzt 25). Das stimmt aber nicht ganz. Der in einem Mitgliedstaat erlassene Haftbeschluss wird keineswegs automatisch in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt. Der Europäische Haftbefehl stellt nämlich lediglich eine Art Steckbrief, einen Antrag darauf dar, dass ein anderer Mitgliedstaat kraft seines Imperium die verfolgte Person verhaftet und der Justiz eines anderen Mitgliedstaates übergibt. Der in einem Mitgliedstaat erlassene Haftbeschluss ist also in einem anderen Staat unwirksam, und der durch das neue Rechtsinstrument geschaffene Fortschritt besteht lediglich darin, dass die Möglichkeit der Rechtshilfeversagung radikal eingeschränkt wurde. Dasselbe gilt auch für Beweisbeschlüsse und Beschlüsse über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen. 26 Die Justiz im Mitgliedstaat A ist nicht 21 Ausgearbeitet auf dem Gipfeltreffen in Tampere (Finnland) 15. –16.10.1999, Spotkania Rady Unii Europejskiej, Monitor Informacji Europejskiej, Warszawa 2002, S. 118ff. und anschließend konkretisiert im sog. Haager Programm (Rat der EU, 2005 (2005/C 53/01). 22 Nestler, ZStW 116 (2004), S. 349. 23 Gless, ZStW 116 (2004), S. 366 – 367. 24 Vgl. Anm 10. 25 Z.B. Wasmeier, ZStW 116 (2004), S. 324. 26 Erlassen auf Grund der in nationale Rechtsordnungen umgesetzten Bestimmungen des Rahmenbeschlusses des Rates vom 22. Juli 2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union (ABl EU L2003, Nr. 196, S. 145).

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ermächtigt, ein Beweismittel oder das Vermögen, das sich auf dem Territorium des Mitgliedstaates B befindet, zwecks Einziehung sicherzustellen. Dem einschlägigen Rahmenbeschluss entsprechend stellen die Entscheidungen des Staates, in dem das Verfahren stattfindet, nichts anderes dar als einen Antrag auf entsprechende Entscheidungen seitens der Justizbehörden des ersuchten Staates. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung hat somit mit der deklarierten unmittelbaren Vollstreckbarkeit von Entscheidungen in paneuropäischer Dimension nichts gemeinsam und trägt zur Entwicklung des internationalen Instrumentariums in der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen nur wenig bei. Der Mechanismus der Zusammenarbeit in Strafsachen in der EU unterscheidet sich von allen anderen Mechanismen vor allen Dingen in der Art und Weise, wie dieser aufgebaut wird. Bis vor kurzer Zeit haben die EU-Mitgliedstaaten untereinander internationale Abkommen geschlossen, in denen die Regeln der Zusammenarbeit im Bereich einzelner Rechtsinstrumente bestimmt wurden. Dabei war man bemüht, die in den (von den EU-Ländern unterzeichneten) Übereinkünften des Europarats vorgesehenen Prozeduren zu vereinfachen und zu entformalisieren. Sehr bald aber erwies sich dieser Weg als wenig wirksam, weil die Mitgliedstaaten einen erstaunlichen Mangel an Disziplin an den Tag legten und die internationalen Abkommen allenfalls mit zahlreichen Vorbehalten unterzeichneten, die nicht selten das betreffende Rechtsinstrument in seinem Wesensgehalt antasteten. Dies veranlasste die Europäsche Union zu einem völlig neuen Instrument zu greifen: den in Art. 34 Abs. 2 EUV vorgesehenen Rahmenbeschluss. Man muss zugeben, dass der Zugriff auf dieses Instrument sich zunächst als zweckmäßig erwies. Internationale Verpflichtungen, unterschiedlich in verschiedenen Mitgliedstaaten im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Bedingungen, wurden nämlich durch Vorschriften des nationalen Rechts ersetzt, die vom Gesetzgeber im Wege der Umsetzung einzelner Rahmenbeschlüsse relativ diszipliniert in die jeweilige Rechtsordnung eingeführt wurden. Diesem Prozess scheinen allerdings zwei grundlegende Mängel anzuhaften. Der eine, mit besonderem Nachdruck in der deutschen Rechtslehre hervorgehoben, hängt mit der Art zusammen, in der nationales Recht geschaffen wird, welche weit über die Regeln eines demokratischen Legislativprozesses hinausgeht. Es wird – nicht ohne Grund – betont, dass sich nationale Parlamente, zu einer nahezu wörtlichen Abbildung des Rahmenbeschlussinhalts gezwungen, wie „Lakaien Brüssels“ verhielten, wo der Beschlussinhalt außerhalb jeder parlamentarischen Kontrolle vereinbart werde (Schünemann bezeichnet das als „gubernative Rechtssetzung“ 27). Das zweite Problem geht darauf zurück, dass dieses System in Wirklichkeit keine Garantie für das erforderliche Rechtssetzungsniveau bietet, so dass sich hiermit keine Wende im Aufbau eines effizienten Systems der Kriminalitätsbekämpfung in paneuropäischer Skala erreichen lässt. Über Rahmenbeschlüsse wird nämlich von Beamten als Vertreter von Regierungen der eifersüchtig über 27

Schünemann, GA 2002, S. 501ff.; so auch Lüderssen, GA 2003, S. 71ff. und Vogel, ZStW 116 (2004), S. 401.

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das eigene Imperium wachenden Mitgliedstaaten verhandelt. Es bleibt zu hoffen, dass sich die vorgeschlagenen Mechanismen in dem (zum Zeitpunkt der Fertigung dieses Textes noch nicht unterzeichneten) Lissabon-Vertrag zur Reform der Europäischen Union 28 als ein Remedium gegen alle signalisierten Gebrechen erweisen, vor allem im Zusammenhang mit der geplanten grundsätzlichen Verstärkung der Rolle nationaler Parlamente im europäischen Rechtssetzungsprozess. 29 Man muss allerdings einräumen, dass mit Hilfe der Rahmenbeschlüsse innerhalb nur weniger Jahre viel mehr getan werden konnte als in den langen Jahren zuvor. Es geht dabei nicht einmal um die Einführung von klassischen Instrumenten der Zusammenarbeit in Strafsachen wie etwa des Europäischen Haftbefehls oder der Europäischen Beweisanordnung. Die Rahmenbeschlüsse kommen als ein Instrument wirksam zur Anwendung, mit dem das Strafprozessrecht und auch das materielle Strafrecht in der Europäischen Union allmählich harmonisiert werden können. Dieses Problem kann freilich Gegenstand besonderer Erwägungen sein. An dieser Stelle möchte ich nur darauf hinweisen, dass die Harmonisierung des nationalen Rechts in beiden hier skizzierten Bereichen von einer nicht zu überschätzenden Bedeutung für die Effizienz der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen und für die Möglichkeit ist, ein effektives System der gemeinsamen Kriminalitätsbekämpfung in der Europäischen Union aufzubauen. Die Abkehr von der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit in Bezug auf bestimmte Instrumente und in einem bestimmten Umfang stellt aber nur eine Art Halblösung dar und wird zu Missverständnissen führen, solange der Umfang der Kriminalisierung bestimmter Verhaltensweisen in verschiedenen Mitgliedstaaten der EU nicht identisch ist. Zudem wird die Verwertung der in einem anderen Mitgliedstaat gewonnenen Beweismittel solange problematisch bleiben, bis die Zulässigkeitsregeln für die Gewinnung und Verwertung von Beweismitteln in einer paneuropäischen Skala vereinheitlicht worden sind. Solange im Bereich der Grundgarantien des Angeklagten keine Harmonisierung erreicht worden ist, werden wir es mit einem verwerflichen forum shopping zu tun haben anstatt mit einer rationalen Lösung von Jurisdiktionskonflikten. Dafür ließen sich beliebig viele ähnliche Beispiele anführen. Der Harmonisierungsprozess des materiellen Strafrechts und des Strafprozessrechts verdient unbestritten positive Noten. Nicht zu übersehen ist aber, dass der eingeschlagene Weg anstrengend und verwinkelt ist. In diesem Zusammenhang muss man offen danach fragen, ob sich der Zustand, in dem die EU keine strafrechtsbezogenen Kompetenzen in der ersten Säule hat, 30 rational aufrechterhalten 28

ABl EU, C-306. Vgl. Grzelak, Trzeci filar Unii Europejskiej (Die dritte Säule der Europäischen Union), Warszawa 2008, S. 296ff. 30 Hecker, Harmonisierung des materiellen Strafrechts in der dritten Säule, Heidelberg 2005, S. 365. 29

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lässt. Immerhin sind die Ergebnisse mit denen vergleichbar, die aufgrund einer mühsamen Harmonisierung durch Anwendung von Instrumenten der dritten Säule erlangt werden. Schließlich ist nicht zu übersehen, dass die parlamentarische Kontrolle hinsichtlich der Umsetzung von Rahmenbeschlüssen so gut wie eine Fiktion ist. Schon nach der Annahme des Amsterdamer Vertrags in den 1990er Jahren gab man der begründeten Verwunderung darüber Ausdruck, dass die Mechanismen der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit in Strafsachen der intergouvernementalen Zusammenarbeit überlassen wurde. Dabei ist doch der Aufbau eines gemeinsamen Raums der Sicherheit gerade das, was die Bevölkerung braucht und was sie erwartet 31. Nichts grundsätzlich Neues hat auch der Entwurf des EU-Verfassungsvertrags 32 zu bieten. Art. I-3 Abs. 2 deklariert zwar feierlich den Willen der EU, ihren Bürgern den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu garantieren (Art. I3, Abs. 2), jedoch ergibt sich für die uns interessierende Frage daraus so gut wie nichts. 33 Die Zuständigkeiten der Union im Bereich der Harmonisierung des Strafrechts durch Rahmenbeschlüsse wurden zwar klarer bestimmt (Art. III-172 des Entwurfs), von einer Wende aber kann kaum die Rede sein. 34 Zuständig für den Bereich des Strafrechts sollen nach wie vor die Mitgliedstaaten allein bleiben, wobei die Union Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Kriminalität sowie von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit festlegen kann (Art. III-158 Abs. 3 des Entwurfs). 35 Im Bereich des Strafprozessrechts soll der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gelten (Art. II-171 des Entwurfs), ohne dass dieser im Entwurf des Vertrags über eine Verfassung für Europa näher bestimmt wurde. Somit sind auch in diesem Bereich keine grundsätzlichen Änderungen zu erwarten. Im Entwurf deklariert die Union darüber hinaus weitere Bemühungen um eine Harmonisierung des Strafprozessrechts durch Rahmenbeschlüsse und kündigt eine Intensivierung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen an. Der vielleicht wichtigste Vorschlag gilt der Einsetzung eines europäischen Verfolgungsapparats, darunter Europol, Eurojust und – was ein absolutes Novum ist – einer europäischen Staatsanwaltschaft, die nach den in einem 31

Gündisch, AnwBl. 1998, S. 174 – 175. Es ist zu erwarten, dass zumindest ein Teil der Arbeitsergebnisse des Konvents in weiteren Arbeiten der Europäischen Union verwertet wird, wenn der Verfassungsprozess mit einem Fiasko enden sollte. 33 Eine Konkretisierung dieser Deklaration stellt unbestritten die Charta der Grundrechte dar. Von entscheidender Bedeutung für den Aufbau eines gemeinsamen Systems für die Bekämpfung der Kriminalität ist der in Art. II-50 deklarierte Grundsatz ne bis in idem. 34 Wasmeier, ZStW 116 (2004), S. 323. 35 Näher zum Problem der Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, vgl. Weigend, ZStW 116 (2004), S. 279 – 282. 32

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Europäischen Gesetz festgelegten Verfahrensvorschriften funktionieren soll. Von einer europäischen Gerichtsbarkeit in Strafsachen – kein Wort! 36 Nicht anders verhält es sich mit dem Vertrag von Lissabon, der in dem uns interessierenden Bereich prinzipiell die Grundvoraussetzungen des Verfassungsvertrags übernimmt (vgl. insbesondere Art. 69a über Maßnahmen zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, insbesondere im Bereich des Schutzes der Rechte des Einzelnen im Strafverfahren, der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen, der Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis zwischen den Mitgliedstaaten sowie der Verhinderung und Beilegung von Kompetenzkonflikten). Auf der Basis der kritischen Bewertung der Idee des Verfassungskonvents und des aktuellen Angleichungsmodells werden Alternativkonzepte entwickelt, unter denen die Initiative der internationalen Forschungsgruppe unter der Leitung von Prof. Bernd Schünemann, 37 deren Mitglied auch der werte Jubilar war, am bekanntesten ist. Ihr Konzept entspringt in erster Linie dem Protest gegen die Umformung des Strafrechts ohne eine reale Beteiligung von nationalen Parlamenten deren Rolle sich heutzutage darauf beschränkt, die vom Rat der Europäischen Union vorgegebenen Muster in Form von Rahmenbeschlüssen in die nationale Rechtsordnung umzusetzen. Von entscheidender Bedeutung in der Konzeption der Schünemann-Gruppe ist aber das Konstruktive. Der Vorschlag geht dahin, auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zu Gunsten des sog. SchweizerModells zu verzichten, nach dem die Prozessorgane des Kantons, in dem das Verfahren durchgeführt wird, zu Prozesshandlungen in einem anderen Kanton ohne Einwilligung dessen Behörden und auf Grund des eigenen Prozessrechts berechtigt sind. 38 Dieser Vorschlag wird als aus politischen Gründen völlig unrealistisch kritisiert. 39 Vorgeschlagen wird darüber hinaus, dass Eurojust als eine Art clearing house fungiert. Die Kompetenzen reichen von der Beilegung von Jurisdiktionskonflikten bis zu im Falle anhaltender Unzulänglichkeiten, eine konkrete Sache den nationalen Staatsanwaltschaften zu entziehen und der Europäischen Staatsanwaltschaft zu übertragen. Die „Zuständigkeiten“ der Europäischen Staatsanwaltschaft sollten sich gemäß dem Alternativentwurf nur auf Amtsdelikte der europäischen Amtsträger beschränken (hier wird mit vollen Händen aus den Ergebnissen der Diskussion über das Corpus Iuris geschöpft). Konsequenterweise wird die Einsetzung eines europäischen, für Entscheidungen in diesen Sachen zu36 Nichtsdestotrotz scheint der Entwurf des Verfassungsvertrags im Bereich des Strafrechts und Strafverfahrens manchen allzu radikal zu sein. Vgl. Hassemer, ZStW 116 (2004), S. 307ff.; Schünemann, StV 2003, S. 116ff. 37 Vgl. Schünemann, GA 2004, S. 376ff. 38 Diese Regel gilt gemäß dem am 5. November 1992 zwischen den Schweizer Kantonen geschlossenen Vertrag über gegenseitige Rechtshilfe und internationale Zusammenarbeit in Strafsachen. 39 Vogel, ZStW 116 (2004), S. 407.

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ständigen Gerichtsorgans (eines europäischen Strafgerichts) eingefordert. Dieser Vorschlag ist den anderen weit voraus – seine Verwirklichung könnte der erste Schritt auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Justizsystem in Strafsachen sein. Eine wichtige Rolle spielt im Alternativentwurf die Konzeption des sog. „Eurodefensor“, zu dessen Aufgaben die Koordinierung der Verteidigung in Sachen grenzüberschreitender Kriminalität gehören würde (seine Teilnahme am Verfahren vor dem europäischen Strafgericht ist allerdings nicht vorgesehen). 40 5. Bisherige Erfahrungen im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung in internationaler Dimension lassen bestimmte Schlussfolgerungen zu. Zuallererst scheint die Errichtung eines einheitlichen, gemeinsamen Systems der Strafverfolgung und der Strafjustiz in europäischer Dimension kaum möglich. 41 Vom immer schwächer werdenden Potenzial des Europarats war in diesem Text bereits die Rede. Unabhängig von der Stärke dieses Potenzials darf man nicht übersehen, dass der Aufbau des gegenseitigen Vertrauens im Kreis von über vierzig Ländern mit derart voneinander abweichenden Rechtstraditionen und mit so unterschiedlichem Niveau der Rechtskultur einfach nicht möglich sein kann, wenn man bedenkt, wie schwer doch schon die Verwirklichung dieser Idee im Kreis der 27 EUMitgliedstaaten vorankommt. Vielleicht ist die Zeit dann gekommen, wenn die Respektierung von Menschenrechten und das Rechtsstaatsprinzip insbesondere im Ostteil des Kontinents einmal reale Gestalt angenommen hat. Heute ist es also nur die Europäische Union, die eine Chance auf den Umbruch hat. Hierzu müssen aber einige elementare Bedingungen erfüllt werden: 1. Die materiellen Strafrechtsvorschriften aller Mitgliedstaaten müssen vereinheitlicht werden. Unterschiede hinsichtlich des Kriminalisierungsumfangs führen zu unüberwindbaren Schwierigkeiten wegen des hartnäckigen Beharrens (oder vielmehr zu langsamer Demontierung) auf dem Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit oder der Anwendung des Ne-bis-in-idem-Prinzips. 2. Die Strafprozessrechtssysteme müssen voll angeglichen werden. Es geht dabei nicht um eine einheitliche Regelung hinsichtlich verschiedener Instrumente der Zusammenarbeit in Strafsachen, sondern um solch elementare Fragen wie das Niveau der Prozessgarantien für Verfahrensbeteiligte, 42 den Zulässigkeitsum40 Schünemann, ZStW 116 (2004), S. 382ff. Die verkürzte Fassung des Alternativentwurfs wurde auch in polnischer Sprache in der Übersetzung von Guzik-Makaruk veröffentlicht. Arbeitsergebnisse der Forschungsgruppe wurden auf der Konferenz in Saloniki 25. – 27. Mai 2006 präsentiert. 41 Es gelang sogar in weltweiter Dimension, wenn auch nur in einem begrenzten Umfang, und zwar in Bezug auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und den Frieden und auf Kriegsverbrechen (Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in den Haag, auf Grund des Rom-Statuts vom 17. Juli 1998, Dz. U. 2003, Nr. 78, Pos. 708), auch wenn Staaten mit einer abweichenden Rechtskultur davon ausgeschlossen blieben (z.B. USA). 42 Vgl. das Grünbuch über Verfahrensgarantien (Commission Green Paper Procedural safeguards for suspects and defendants in criminal proceedings throughout the European Union, 2004).

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fang der Beweisführung und -verwertung 43 und vieles andere mehr. Solange dies nicht der Fall ist, bleiben kritische Stimmen über den unzureichenden Schutz und die Verteidigungsmöglichkeiten in solch einem „globalen“ Strafverfahren mehr als berechtigt 44, und die Verwertung der im Ausland gewonnenen Beweismittel wird zwangsläufig unlösbare Probleme generieren. 3. Es müssen klare Kriterien hinsichtlich der Jurisdiktion von Justizorganen einzelner Mitgliedstaaten festgelegt werden. Die Hauptrolle soll dabei dem Prinzip der Territorialität zukommen. Ein Beilegungsmechanismus im Falle von Jurisdiktionskonflikten (oder vielmehr Kompetenzkonflikten) sollte nur als eine Art Sicherheitsventil vorgesehen werden. Folglich wird die Konstituierung des paneuropäischen Grundsatzes ne bis in idem in vollem Umfang möglich sein. 45 4. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ist dahingehend umzusetzen, dass jedes Urteil bzw. jede andere im Laufe des Strafverfahrens ergangene Entscheidung in jedem Mitgliedstaat unmittelbar vollstreckbar ist. 5. Es müssen paneuropäische, für die Verfolgung von Straftaten zuständige Strafjustizorgane, aber auch ein einheitliches paneuropäisches Gerichtsbarkeitssystem aufgebaut werden. Es ist kein Zufall, dass unter den von mir aufgezählten Bedingungen für den Aufbau eines gemeinsamen Systems der Strafverfolgung die Sanierung des bestehenden Instrumentariums der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen fehlt. Ein solches Postulat würde nämlich voraussetzen, dass dieses System überhaupt sanierbar ist und dass es verschiedene „nationale“ Systeme der Strafverfolgung gibt und in diesem Zusammenhang die internationale Zusammenarbeit notwendig wäre. Meines Erachtens aber setzt das angestrebte Ziel die Überflüssigkeit jeglicher Instrumente der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen voraus. Die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Gerichte werden freilich in jedem Fall zusammenarbeiten müssen. Wenn sie aber eine europäische Struktur bilden, wird ihre Zusammenarbeit nicht mehr als „international“ im geläufigen Sinn dieses Wortes zu bezeichnen sein. Es ist bedenklich, wenn ein Gericht in Bilbao einem Gericht in Madrid ohne besondere Probleme Rechtshilfe leistet – ein paar einfache Grundsätze der spanischen Rechtsordnung reichen aus. Sollte aber dasselbe Ge43

Vgl. Entwurf des Rahmenbeschlusses über die Europäische Beweisanordnung (Proposal for a Council Framework Decision on the European Evidence Warrant for obtaining, documents and data for use in proceedings in criminal matters, Brussels 14.11.2003 COM (2003) 688 final). 44 Schünemann, StV 2003, S. 116. 45 Zumindest in einem viel weiteren Sinne, als dem sich aus Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens ergebendem Verbot der doppelten Strafverfolgung, aus dem lediglich hervorgeht, dass die in einem Mitgliedstaat verurteilte Person nicht für dieselbe Tat in einem anderen Mitgliedstaat verfolgt werden darf. Ist die Person allerdings freigesprochen worden, kann sie in einem anderen Mitgliedstaat strafrechtlich belangt werden.(sic!)

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richt in Bilbao dem Gericht in Bordeaux helfen wollen, müssten komplizierte, den Prozess ins Unendliche verschleppende Verfahren in Gang gesetzt werden, sehr zur Freude des Angeklagten (aber auch entgegen seines Anspruchs, dass seine Sache innerhalb einer angemessenen Frist behandelt wird). Flieht der Täter einer in Belgien begangenen Tötung nach Polen und wird er dort festgehalten, so sind komplizierte (und sei es noch so entformalisierte) Verfahren notwendig, bis er vor ein belgisches Gericht gestellt wird. Seine Festnahme im Hafen von Antwerpen würde bedeuten, dass er in weniger als 24 Stunden vor das Brüsseler Gericht gestellt werden könnte. Man kommt einfach nicht um die Frage umhin, ob derartige Vorbilder der Zusammenarbeit zwischen einzelnen Behörden und Diensten nicht etwa auch auf die europäische Ebene übertragen werden könnten. Ich bin tief davon überzeugt, dass dies nach Erfüllung der vorhin aufgezählten Bedingungen nicht nur möglich, sondern in weiterer Perspektive einfach unumgänglich ist. Diese Bedingungen zu erfüllen, ist selbstredend nicht einfach. Es erfordert eine Umstellung im Denken über eine Europäisierung des Strafrechts, dem ein völlig anderes Verständnis des Kanons der nationalen Souveränität zugrunde liegt. Im Normativbereich sind eine Novellierung des EU-Vertrags und eine mühsame und umfassende Grundlagenarbeit erforderlich. Eine Diskussion darüber ist aber möglich – und nach meiner tiefsten Überzeugung – unentbehrlich. 46 Die Angleichung des materiellen Strafrechts und des Strafprozessrechts erfordert viele Kompromisse, ein Entkommen aus dem magischen Kreis der heimischen Dogmatik 47 und die Suche nach besten Lösungen, um den unterschiedlichen Erfahrungen und Rechtstraditionen von 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union gerecht zu werden. Welche Angleichungsmethode letztlich gewählt wird, ist eher zweitrangig. Wir können nach wie vor, zumindest in der ersten Phase, den bereits eingeschlagenen Weg der Harmonisierung auf der Grundlage von Rahmenbeschlüssen gehen, jedoch unter gleichzeitiger Verstärkung der parlamentarischen Kontrolle und Einflussnahme (die im Entwurf des Verfassungsvertrags präsentierte Konzeption der Rahmengesetze sowie die im Vertrag von Lissabon vorgesehen Konzeption der Vergemeinschaftlichung der dritten Säule sind hier beachtenswert). Zu betonen ist aber auch, dass man bei der Harmonisierung des Strafrechts den Mitgliedstaaten nicht nur Mindestsanktionen aufzwingen darf, was heute der Fall ist und was viel Abneigung gegenüber der Europäisierungsidee entstehen 46 Die Diskussion hat bereits begonnen. Vgl. z.B. Referate von Tiedemann, JuárezGonzáles, Cancio Meliá und Manacorda (Freiburg im Breisgau, Mai 1997) zur Dogmatik des Allgemeinen Teils in Hinsicht auf die durch die EU zu übernehmenden Kompetenzen im Bereich des Strafrechts auf Grund von Art. 280 des Vertrags von Amsterdam, veröffentlicht in GA 1998, S. 107ff. 47 Es sei darauf hingewiesen, dass in Deutschland, wo in Fragen der Europäisierung des Strafrechts eine eher skeptische Meinung überwiegt, die Diskussion über die Notwendigkeit einer europäischen Dogmatik des Strafrechts und einer europäischen Kriminalpolitik bereits im Gange ist. Vgl. insbesondere Vogel, GA 2002, S. 519ff.

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ließ. Es ist unschwer zu bemerken, dass eine solche „Methode“ der Harmonisierung längerfristig zu einer unerwünschten Verstärkung der Punivität des Rechts führen muss. Meines Erachtens sollte die Harmonisierung auch darin bestehen, dass in diesem Bereich bestimmte Einschränkungen eingeführt und bestimmte Verhaltensweisen, deren Strafbarkeit in Europa als unerwünscht angesehen wird, entpönalisiert werden. Auf längere Sicht ist an eine „richtige Europäisierung“ zu denken, mit der unumgänglichen Verlagerung der Problematik des Strafrechts und der Strafverfolgung in die erste Säule, vorausgesetzt, dass die „Säulenstruktur“ in der Zukunft überhaupt beibehalten wird. 48 Der Zeitpunkt, zu dem wir imstande sind, ein europäisches Strafgesetzbuch und eine europäische Strafprozessordnung zu akzeptieren, wird zugleich auch der letzte Moment für eine Institutionalisierung der europäischen Rechtsschutzorgane in Strafsachen sein. 49 In Ansätzen funktionieren sie heute schon. Die Konzeption einer europäischen Staatsanwaltschaft wurde im Grünbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft von 2001 50 präsentiert (schon früher auch im Corpus Iuris 51). Diese wird spätestens dann eingesetzt werden müssen, wenn die Tätigkeiten des Verfolgungsapparates in paneuropäischer Dimension einer Koordinierung bedürfen. Ein Vorschlag, der ebenfalls Beachtung verdient, sieht die Etablierung eines Eurodefensor vor, einer Einrichtung zur Koordinierung der Rechtsanwaltschaft auf dem Gebiet der Europäischen Union. 52 Am wichtigsten ist jedoch das Postulat der Einrichtung eines einheitlichen europäischen Systems der Gerichtsbarkeit. Dies hat freilich nicht zu bedeuten, dass an Stelle der heutigen nationalen Gerichte andere, europäische Gerichte treten werden. Richter an nationalen Gerichten sind ja heute schon als europäische Richter tätig. Sollte es also zu einer Angleichung des Rechts kommen, so wird das Ziel schon erreicht sein. Diskutieren kann man dann nur über die Verfassung der Staatsanwaltschaft und der Gerichtsbarkeit unter Berücksichtigung der beste48

Nelles, ZStW 109 (1997), S. 747. Man muss aber auch zugeben, dass in der Schweiz viele Jahre im Bereich des materiellen Strafrechts der Bund zuständig war, während im Strafverfahren die kantonalen Strafprozessordnungen galten. 50 Green Paper on criminal-law protection of the financial interests of the Community and the establishment of a European Prosecutor COM(2001) 715, December 2001. 51 Mehr dazu Brüner / Spitzer, NStZ 2002, S. 393 ff.; Braum, ZRP 2002, S. 508ff. 52 Für übertrieben und gar unbegründet halte ich das Lamento eines Teils der Doktrin, die die Verteidigung im eventuellen einheitlichen europäischen Strafgesetzbuch bedroht sieht. (Vgl. z.B. Satzger, StV 2003, S. 139 –142 und Schulz, StV 2003, S. 142ff.). Ich bin sogar der Meinung, dass im Rahmen eines einheitlichen europäischen Strafverfahrens die Verteidigung viel leichter organisiert werden kann als es heutzutage in „grenzüberschreitenden Sachen“ der Fall ist. 49

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henden nationalen Strukturen sowie darüber, ob ein zentrales Gerichtsorgan zur Aufsicht über die einheitliche Rechtsprechung in Strafsachen notwendig ist. Es scheint mir weder möglich noch sinnvoll zu sein, ein solches Organ mit Zuständigkeiten für Entscheidungen in Sachfragen (im Verfahren oder auch außerhalb des Verfahrens) auszustatten. 53 Ausreichend wäre hier vielleicht die Kompetenz für Entscheidungen in präjudiziellen Fragen, wie sie heute einigen „nationalen“ obersten Gerichten zusteht. 54 Diese Kompetenz könnte (ebenso wie die Zuständigkeit für die Lösung von Kompetenzkonflikten zwischen den Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten) dem heute funktionierenden Luxemburger Gerichtshof (bzw. seiner Strafkammer, vgl. Art. III-264 des Entwurfs) übertragen werden. All diese Fragen bleiben heute offen. Wenn man eine nahezu revolutionäre Vision präsentiert, ist es kaum möglich, alle Fragen im Detail zu lösen. Meine Absicht ist es, eine Diskussion über Probleme viel allgemeinerer Natur zu provozieren. Wie bereits erwähnt, können solch revolutionäre Theorien nur ohne Rücksicht auf politische Zusammenhänge formuliert werden. Eine Vereinheitlichung und Angleichung des Strafrechts in europäischer Dimension ist, wenn auch erst längerfristig, unausweichlich und kommt nicht etwa wie durch Zauberhand zustande. Es muss ein Prozess sein, der übrigens schon begonnen hat und der nur eine neue Dynamik braucht. Der Weg führt meines Erachtens über die allmähliche Europäisierung einzelner Kategorien von Straftaten, von denjenigen angefangen, deren Bekämpfung „auf eigene Faust“ keine Erfolgsaussichten haben kann. Dies betrifft vor allem den Schutz von Finanzinteressen der Europäischen Union 55, den internationalen Terrorismus, den grenzüberschreitenden Handel mit Menschen und Drogen, die Verbreitung von Pornographie sowie die Computerkriminalität. 56 Sind wir aber zu einer „Europäisierung“ dieses ersten Kriminalitätsabschnittes entschlossen, so müssen wir spätestens dann über eine fertige Konzeption des Verfahrens in diesen Sachen verfügen. Es muss von Anfang an ein ganzheitliches und kohärentes System sein. Die Einsetzung einer europäischen Staatsanwaltschaft, die Straftäter nach den Verfahrensregeln des Staates verfolgen sollte, in dem das Verfahren läuft, scheint keine glückliche Lösung zu sein (grenzüberschreitendes Verfahren?). Wenig gelungen scheint auch der Vorschlag der Europäisierung nur 53 Ausreichend ist sicherlich die Kompetenz des Straßburger Gerichtshofes für Menschenrechte im Bereich individueller Klagen wegen Verletzung der durch die EMRK garantierten Rechte. Wie ein Bumerang würde dann aber das Problem des Beitritts der EU zu dieser Konvention zurückkommen. 54 Wie sie in Art. 144 der polnischen StPO vorgesehen ist. 55 Die Idee des strafrechtlichen Schutzes von Finanzinteressen der EU ist nicht neu. Sie wurde im sog. Corpus iuris durchgesetzt, das allerdings nie über die konzeptuelle Phase hinausging. Insbesondere wurde keine Konzeption dessen Einführung in den Bereich des Gemeinschaftsrechts ausgearbeitet. Erwähnt wurde sie auch im einschlägigen Grünbuch (Anm. 47). 56 Vgl. Geiger, Europäische Wirtschaftszeitung 2002, S. 705ff.

Die Zukunft der europäischen Strafverfolgung

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eines Verfahrensabschnittes, weil dies zwangsläufig zu inneren Spannungen und Interpretationsschwierigkeiten führen würde. Ein System, in dem das Verfahren nach nationalem Recht, die Beweisführung aber (wie im Entwurf des Rahmenbeschlusses über die Europäische Beweisanordnung vom November 2003) bereits „europäisch“ abläuft, kann nicht effizient funktionieren, was mit Recht betont wird. 57 Nationale Rechtssysteme müssen allmählich angeglichen und einheitliche Verfahrensregeln festgelegt werden. Eines Tages aber wird sich herausstellen, dass wir eine Strafprozessordnung und ein Judikativsystem in Strafsachen brauchen. Erst wenn dies herausgearbeitet worden ist, können wir an eine Europäisierung der Strafbarkeit von bestimmten Verhaltensweisen denken, auch wenn diese nur schrittweise und auf Kompromissen aufbauend erreicht werden kann. Vollbracht ist das Werk dann, wenn wir anstelle von 27 nur ein einziges europäisches Strafgesetzbuch haben und das Verfahren vor europäischen Gerichten nach einer europäischen Strafprozessordnung durchgeführt wird.

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Brüner, NStZ 2006, S. 113.

Das polnische Kronzeugengesetz in Theorie und Praxis Emil W. Pływaczewski I. Allgemeines Die Gefährdung der Gesellschaft durch die organisierte Kriminalität sowie die durch Aktivitäten der Massenmedien steigende und durch viele Politiker intensiv exponierte Angst vor der Kriminalität veranlassten den polnischen Gesetzgeber innerhalb der letzten Jahre zur Aufnahme einer Reihe von unkonventionellen Beweismitteln in unser Recht – darunter insbesondere die Institution eines Kronzeugen 1. Das polnische Kronzeugengesetz wurde am 25. Juni 1997 2 als ein Zeitgesetz mit Geltung ab dem 1. September 1998 verabschiedet. Entsprechend der Novelle vom 6. Dezember 2000 3 war die Gültigkeit dieses Gesetzes bis zum l. September 2006 befristet. Jedoch wurde es auf Grund seiner oftmals hervorgehobenen Wirksamkeit bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und der während seiner Anwendung aufgetretenen Probleme erforderlich, Anpassungsarbeiten zum Inhalt

1 Siehe S. Walto´s, Proces karny. Zarys systemu (Strafprozess. System im Umriss), Wydawnictwo Prawnicze LexisNexis, Warszawa 2003, S. 396f.; E.W. Pływaczewski, in: Andrzej J. Szwarc / Andrzej Wa˛sek (Hrsg.), Das erste deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung, Organisierte Kriminalität, Wydawnictwo Pozna´nskie, Pozna´n 1998, S. 186ff.; W. Jasi´nski, D. Potakowski, Monitor ´ Prawniczy, Nr. 7/1998, Swiadek koronny – nowy instrument w walce z przeste˛pczo´scia˛ zorganizowana˛ (Kronzeuge – ein neues Instrument zur Bekämpfung organisierter Kri´ minalität), S. 254f.; E. Kowalewska-Borys, Swiadek koronny w uje˛ciu dogmatycznym (Kronzeuge in dogmatischer Hinsicht), Kantor Wydawniczy Zakamycze, Kraków 2004; J.K. Pa´skiewicz, Instytucja s´wiadka koronnego w ustawodawstwie ameryka´nskim, włoskim i niemieckim (Die Institution eines Kronzeugen in der amerikanischen, italienischen und deutschen Gesetzgebung), Wydawnictwo „Dom Organizatora“, Toru´n 2006. 2 Dz. U., Nr. 114/1997, Pos. 738. Mehr zu den rechtlichen Regelungen nach diesem ´ Gesetz siehe B. Kurze˛pa, Swiadek koronny – geneza instytucji – komentarz do ustawy (Kronzeuge – Genese der Institution – Kommentar zum Gesetz), Wydawnictwo TNOiK, Toru´n 2005. Erwähnenswert ist hierbei, dass die Strafrechtswissenschaft bei den in den Jahren 1995 bis 1997 durchgeführten Arbeiten des Parlamentarischen Unterausschusses für die Erarbeitung des Entwurfs für das Kronzeugengesetz durch die Professoren Andrzej Gaberle und Stanisław Walto´s (beide von der Jagielloner Universität) sowie Emil W. Pływaczewski (Universität zu Białystok) vertreten wurde. 3 Dz. U., Nr. 5/2001, Pos. 40.

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des Gesetzes dergestalt vorzunehmen, dass es in seiner neuen Regelungsform nicht mehr episodischen Charakter trägt und einen festen Platz im Strafrechtssystem der Bekämpfung organisierter Kriminalität einnimmt. Eines der bedeutendsten Themen im Rahmen der Diskussionsphase vor der Novellierung unseres Kronzeugengesetzes war die Beweisproblematik und insbesondere der Beweiswert der Institution eines Kronzeugen. Grundsätzlich bestand Übereinstimmung darin, dass bei Auswertung der Aussagen eines Kronzeugen besondere Vorsicht angebracht sei. Gleichzeitig plädierten sowohl die meisten Rechtswissenschaftler als auch Praktiker dafür, dass die Regeln für die Überprüfung der Richtigkeit dieser Aussagen in eben der Form Anwendung finden müssen, wie dies in Bezug auf andere unkonventionelle Beweise geschieht. Als Ausgangspunkt für diese Betrachtungen dienten Diskussionen in den Massenmedien und wissenschaftliche Auseinandersetzungen, in denen vorgetragen wurde, dass sich die Anklage und daran anschließend das gesamte Strafverfahren nicht allein auf den Beweis einer Kronzeugenaussage stützen dürfe. In diesem Zusammenhang berief man sich u.a. auf die Tradition eines kontinentaleuropäischen Prozesses, der sich in dem Prinzip niederschlägt: testis unus, testis nullus („Ein Zeuge ist kein Zeuge“) 4. Die Erarbeitung der Änderungen innerhalb der geltenden Vorschriften, die die Institution eines Kronzeugen regeln, war unter anderem das Ziel der interdisziplinären Arbeitsgruppe am Forschungsprojekt „Rechtliche und organisatorischtechnische Lösungen bei Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des Terrorismus unter besonderer Berücksichtigung der Problematik der Prozessbeweise und eines Kronzeugen“ 5. Diese durch den Verfasser dieses Beitrags geleitete Projektarbeit umfasste weitreichende Forschungen mit dem Schwerpunkt organisierte Kriminalität, Terrorismus und Institution eines Kronzeugen 6. Bei der Umsetzung des Projektes, das im Bereich der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Białystok seinen Mittelpunkt hatte, beteiligten sich auch andere Hochschulzentren (u.a. die Universitäten zu Gda´nsk und zu Łód´z) sowie eine bedeutende Gruppe der im Strafverfolgungs- und Justizsystem tätigen Behörden und Einrichtungen (das Ministerium für Inneres und Verwaltung, das Zentralermitt4

Z. Rau, Przeste˛pczo´sc´ zorganizowana w Polsce i jej zwalczanie (Organisierte Kriminalität in Polen und deren Bekämpfung), Kantor Wydawniczy Zakamycze, Kraków 2002, ´ S. 199ff.; vgl. auch S. Walto´s, Pa´nstwo i Prawo, Nr. 2/1993, Swiadek koronny – obrze˙za odpowiedzialno´sci karnej (Kronzeuge – Grenzbereich einer strafrechtlichen Verantwortung). 5 Nr. PBZ-MIN-004/TOO/2002. Die Forschungen liefen programmgemäß bis Ende Dezember 2006. 6 Grundsätzlich wurden die Forschungen gestützt auf vier getrennte Themenbereiche geführt: 1. Zur Problematik um den Kronzeugen und zu Prozessbeweisen bei Bekämpfung organisierter Kriminalität; 2. Zur Problematik des Terrorismus und der Geldwäsche; 3. Zu Fragen der Korruption, darunter insbesondere durch kriminelle Organisationsstrukturen und 4. Zur Problematik des Strafvollzugs im Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität.

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lungsbüro der Hauptpolizeikommandantur, die Wojewodschaftspolizeikommandantur in Pozna´n, die Polizeihochschule in Szczytno, die Zentralverwaltung des Gefängnisdienstes, die Bezirksinspektion für Gefängnisdienst in Białystok, die Staatsanwaltschaften bei den Berufungsgerichten Pozna´n, Gda´nsk und Białystok, das Berufungs- und das Bezirksgericht Pozna´n, das Bezirksgericht Łód´z, die Staatsanwaltschaft am Amtsgericht Szczytno, das Berufungsgericht Białystok sowie das Oberste Gericht). In seiner endgültigen Phase zählte das Projekt mehr als 120 Teilnehmer (bei anfänglich 40). Dies waren Wissenschaftler und Dozenten sowie hochqualifizierte, praxiserfahrene Mitarbeiter der oben aufgeführten Strafverfolgungs- und Justizbehörden, die laufend mit der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des Terrorismus befasst sind: hauptsächlich Polizisten, Gefängnisdienstbeamte, Staatsanwälte und Richter. Bei diesem Projekt entstand eine im vorliegenden Bereich gewissermaßen neue Qualität, die das allgemein geltende, ungeschriebene Prinzip bestätigt, dass Praxis ohne Theorie blind und Theorie ohne Praxis zwecklos ist. Das Hauptergebnis des oben erwähnten Themenbereichs zur Problematik um den Kronzeugen und zu Prozessbeweisen bei Bekämpfung organisierter Kriminalität 7 war am 22. Juli 2006 die Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung des Kronzeugengesetzes und des Gesetzes über den Schutz geheimer Informationen 8. Die Erarbeitung der Lösungsvorschläge für diese Gesetzesnovelle kam im Rahmen von periodisch organisierten Tagungen zustande, an denen beruflich auf dem betreffenden Gebiet tätige Personen, d.h. Vertreter der Polizei, der Staatsanwaltschaft, des Gerichtswesens und der Wissenschaft teilnahmen. Dabei wurden auch Forschungsergebnisse über Strafprozesse mit Beteiligung eines Kronzeugen präsentiert. Erwähnenswert ist hierbei, dass während der Projektumsetzung – dank einer speziell eingerichteten elektronischen Arbeitsstelle für Aktenarchivierung – einige tausend Bänder Strafakten gegen Mitglieder organisierter krimineller Gruppen einer eingehenden Analyse in allen Phasen des Strafverfahrens unterzogen wurden. Die Analyse umfasste sowohl die Phase der operativen Ermittlung, des Vorverfahrens und des Gerichtsprozesses sowie des Vollzugs von verhängten Strafen (insbesondere der Freiheitsstrafen) 9. Dadurch war es möglich, die einschlägigen Forschungsergebnisse mit entsprechender Be7 Dieses Team kooperierte mit zwei anderen Gremien, die eigene diesbezügliche Arbeiten durchführten, d.h. mit der 3. Verwaltung des Zentralermittlungsbüros der Hauptpolizeikommandantur und der mit der Verordnung des Stellvertretenden Generalstaatsanwalts am 24. Juni 2004 bestellten Arbeitsgruppe der Staatsanwälte. Die für diese Gruppe ernannten Staatsanwälte nahmen – in unterschiedlicher Form und mit ungleichem persönlichem Einsatz – auch an der Tätigkeit der anderen Gremien aktiv teil. Eine derartige Zusammenarbeit und das sich daraus ergebende Abwägen von Gründen und Argumenten ermöglichten es einerseits, zu einer Übereinkunft bezüglich der Ausrichtung der notwendigen Änderungen des Kronzeugengesetzes zu finden, und andererseits, die Differenzen bei der Vorstellung über detaillierte Lösungen zu erkennen. 8 Dz. U., Nr. 149/2006, Pos. 1078.

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urteilung durch Praktiker zu konfrontieren und folglich die bestehenden und die vorgeschlagenen rechtlichen Lösungen für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität zu untersuchen und zu begutachten 10, wobei der effektiven Nutzung der Institution eines Kronzeugen im Strafprozess und dem Problem der Implementierung des während operativer Handlungen für einen Strafprozess gewonnenen Materials besonderes Augenmerk gewidmet wurde. II. Anwendungsbereich der Bestimmungen des Kronzeugengesetzes Einleitend ist zu betonen, dass das Kronzeugengesetz in seiner novellierten Form einerseits der Sicherung der Wahrung des Rechtes und der Konsequenzen bezüglich der Person des Kronzeugen selbst dient. Andererseits sollen seine Bestimmungen dazu führen, die tatsächliche Prozesswirksamkeit und -effektivität bei Verwendung dieses besonderen Prozessinstruments zu erhöhen. Die Regelungen des Kronzeugengesetzes in seinem aktuellen Wortlaut finden in folgenden Angelegenheiten Anwendung (Art. 1): 1. wegen einer Straftat bzw. eines Steuerdeliktes, das in einer organisierten kriminellen Gruppe oder einem Verband begangen wurde, dessen Tätigkeit auf Begehung einer Straftat bzw. eines Steuerdeliktes ausgerichtet war (Abs. 1), sowie – nach Abs. 2 – in folgenden Angelegenheiten: 2. wegen einer Straftat nach Art. 228 §1 und 3 bis 6 Strafgesetzbuch (passive Bestechung), darunter verbunden mit: – Vorteilsannahme für eine rechtsverletzende Handlung bzw. Unterlassung, – Abhängigmachen der Vornahme einer Diensthandlung von Gewährung eines Vermögens- bzw. persönlichen Vorteils oder Verlangen eines derartigen Vorteils, – Annahme bzw. Zusage eines hochwertigen Vermögensvorteils, – Annahme bzw. Zusage eines Vermögens- bzw. persönlichen Vorteils, – Verlangen eines derartigen Vorteils oder Abhängigmachen der Vornahme einer Diensthandlung von Vorteilsgewährung im Zusammenhang mit Ausübung 9 Siehe insbesondere E.W. Pływaczewski, G.B. Szczygieł, Archiwum Kryminologii 2007, Bd. XXVIII 2005 –2006, Zachowania korupcyjne osadzonych (wste˛pne wyniki bada´n) (Korruptionsverhalten der Inhaftierten – erste Forschungsergebnisse), S. 299ff. 10 Siehe J. Szymaniak, R. Kuczek, in: E.W. Pływaczewski (Hrsg.), Przeste˛pczo´sc´ zorganizowana, s´wiadek koronny, terroryzm – w uje˛ciu praktycznym (Organisierte Kriminalität, der Kronzeuge, der Terrorismus – in der Praxis), Wsparcie informatyczne projektu na przykładzie programu archiwizacji akt oraz programu analizy ankiet (EDV-gestütztes Projekt am Beispiel der Software für Aktenarchivierung und für Fragebogenanalyse), Kantor Wydawniczy Zakamycze, Kraków 2005, S. 625ff.

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eines öffentlichen Amtes in einem Fremdstaat bzw. einer internationalen Organisation; 3. wegen einer Straftat nach Art. 229 §1 und 3 bis 5 (aktive Bestechung), darunter: – Handlungen zur Veranlassung eines öffentlichen Beamten, Rechtsvorschriften zu verletzen bzw. Zusage eines Vermögens- bzw. persönlichen Vorteils gegenüber einem öffentlichen Beamten für die Verletzung der Rechtsvorschriften, – Gewährung bzw. Zusage eines hochwertigen Vermögensvorteils gegenüber einem öffentlichen Beamten im Zusammenhang mit dessen Amtsausübung, – Gewährung bzw. Zusage eines Vermögens- bzw. persönlichen Vorteils gegenüber einem öffentlichen Beamten in einem Fremdstaat oder einer internationalen Organisation im Zusammenhang mit dessen Amtsausübung; 4. wegen einer Straftat nach Art. 230 §1 Strafgesetzbuch (entgeltliche passive Protektion); 5. wegen einer Straftat nach Art. 230a §1 Strafgesetzbuch (entgeltliche aktive Protektion); 6. wegen einer Straftat nach Art. 231 §1 und 2 Strafgesetzbuch (Überschreiten der Befugnisse bzw. Nichterfüllung der Pflichten durch einen öffentlichen Beamten, darunter auch zwecks Erlangung eines Vermögens- bzw. persönlichen Vorteils); 7. wegen einer Straftat nach Art. 250a §1 und 2 Strafgesetzbuch (passive und aktive Bestechung bei Wahlen); 8. wegen einer Straftat nach Art. 258 Strafgesetzbuch (Beteiligung an einer organisierten kriminellen Gruppe bzw. einem kriminellen Verband); 9. wegen einer Straftat nach Art. 296a §1, 2 und 4 Strafgesetzbuch (aktive und passive Bestechung im Zusammenhang mit Betreibung einer Gewerbetätigkeit); 10. wegen einer Straftat nach Art. 296b §1 und 2 Strafgesetzbuch (aktive und passive Bestechung im Sport). Die vorstehend dargelegte Regelung unterscheidet sich von der vorherigen dadurch, dass der bisherige geschlossene Katalog der Straftaten, die einen Prozess unter Verwendung der Beweisführung aus Aussagen eines Kronzeugen voraussetzten, durch einen offenen Katalog ersetzt wurde. Nunmehr gibt es nur eine einzige Bedingung für die Zulässigkeit eines derartigen Beweises: die Begehung einer Straftat bzw. eines Steuerdeliktes in einer organisierten Gruppe oder einem Verband, deren Tätigkeit auf Straftatbegehung ausgerichtet ist. Dies ist die wichtigste Modifizierung, die für die praktische Inanspruchnahme dieser Institution von besonderer Bedeutung ist. Beibehalten wurde dagegen die Bestimmung des Art. 1

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Abs. 2 der vorherigen Gesetzesfassung als Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Institution eines Kronzeugen bei Prozessen wegen Korruptionsdelikten unter gleichzeitiger Ergänzung dieser Regelung um die in das Strafgesetzbuch aufgenommene neue Variante von Korruptionsdelikten im Wirtschaftsbereich und auf dem Gebiet der „Profi-Sportwettbewerbe“. Bezeichnendes Beispiel für die letzteren sind die innerhalb der vergangenen Jahre in Erscheinung getretenen so genannte „Absprachen“ bei Fußballtreffen bzw. anderen populären Sportveranstaltungen durch Bestechungen der Schiedsrichter und Spieler. Derartige Ereignisse bewegten die öffentliche Meinung ganz besonders. Nicht weniger gefährlich sind sogenannte Manager-Delikte. III. Der Begriff eines Kronzeugen und die Regeln für die Anerkennung als Kronzeuge Eine Definition des Kronzeugen enthält Art. 2 des Kronzeugengesetzes. Entsprechend der dortigen Formulierung gilt als Kronzeuge „derjenige Verdächtigte, der zu zeugenschaftlichen Aussagen nach den durch das Gesetz bestimmten Regeln und Formen zugelassen wurde“. Zur Verdeutlichung dieser Definition erscheint es notwendig, auf den Inhalt der Vorschriften nach Art. 3, 4 und 9 dieses Gesetzes zurückzugreifen. Nach Art. 3 Abs. 1 und 2 des Kronzeugengesetzes kann die Eigenschaft eines Kronzeugen einem Verdächtigten verliehen werden, der: 1. bis zum Zeitpunkt der Anklageerhebung in seinen Aussagen: – gegenüber der verfahrensführenden Behörde Angaben gemacht hat, die zur Aufdeckung der Straftatumstände, Ermittlung weiterer Täter, Aufdeckung bzw. Verhinderung weiterer Straftaten beitragen können, – sein Vermögen und ihm bekanntes Vermögen der Mittäter der unter Art. 1 des Gesetzes bestimmten Straftat bzw. des Steuerdeliktes offenlegte; 2. sich verpflichtete, zu den Straftat- bzw. Steuerdeliktbeteiligten sowie zu anderen, unter Art. 3 Abs. 1 Ziff. 1 Buchst. a des Gesetzes erwähnten Umständen der Straftat- bzw. Steuerdeliktsbegehung ausführliche Aussagen vor Gericht zu machen. Die Anerkennung als Kronzeuge kann auch von der Verpflichtung des Verdächtigten abhängig gemacht werden, den durch die Straftat bzw. das Steuerdelikt erzielten Vermögensvorteil zurückzuerstatten und den entstandenen Schaden zu ersetzen. Die vorstehenden Lösungen tragen der Ausgleichsfunktion des Strafrechtes Rechnung und erleichtern darüber hinaus die tatsächliche Identifizierung der Vermögensbestandteile des Täters. Den Geschädigten wiederum können diese

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Bestimmungen die Geltendmachung ihrer geldwerten Ansprüche gegenüber den Tätern in Bezug auf die zu ihrem Nachteil begangenen Delikte, darunter auch gegenüber den Kronzeugen, wesentlich erleichtern. Das Gesetz bestimmt auch, wer nicht als Kronzeuge anerkannt werden darf. Nach Art. 4 des Kronzeugengesetzes betrifft dies einen Verdächtigten, der im Zusammenhang mit der unter Art. 1 erwähnten Straftat bzw. dem Steuerdelikt 1. einen Mordversuch bzw. Mord beging oder sich an einer Mordtat beteiligte, 2. eine andere Person zur Begehung einer unter Art. l aufgeführten Straftat verleitete, um das Strafverfahren gegen diese Person zu richten, 3. eine organisierte Gruppe bzw. einen Verband leitete, deren Tätigkeit auf Begehung einer Straftat bzw. eines Steuerdeliktes ausgerichtet war. In Bezug auf Ziff. 3 ist beachtenswert, dass an dieser Stelle auf die ursprüngliche Regelung verzichtet wurde, wonach sich die Anwendung der Bestimmungen des Kronzeugengesetzes nicht auf einen Verdächtigten richtet, der als Gründer der organisierten kriminellen Gruppe gilt. Der Zweck dieser Änderung ist die Erweiterung der Anwendungsmöglichkeit des Gesetzes auf Verdächtigte, die zwar organisierte kriminelle Gruppen gründeten, jedoch zum Zeitpunkt einer möglichen Gesetzesanwendung nicht tatsächlich Gruppenanführer sind. Des Öfteren nämlich – insbesondere nach Ausschaltung des Anführers – agiert die kriminelle Gruppe weiterhin unter einer anderen Führung. Darüber hinaus ist es praktisch sehr schwierig, eindeutig festzustellen, wer namentlich eine organisierte kriminelle Gruppe gründete. Auf Grund der oben genannten Voraussetzungen ist es innerhalb krimineller Gruppen nicht ausgeschlossen, die eigenen Mitglieder absichtlich in Mordmittäterschaften zu verwickeln. Dadurch sichern sich kriminelle Strukturen gegen den eventuellen Beitritt eines ihrer Mitglieder zum Kronzeugenschutzprogramm ab. Dieses Problem wurde bei der Erarbeitung des Novellenentwurfs für das betreffende Gesetz mehrfach durch Beamte des Zentralermittlungsbüros angedeutet. Ein als Kronzeuge anerkannter Verdächtigter unterliegt nach Art. 9 Abs. l nicht der Strafe für die unter Art. 1 des Gesetzes erwähnten Straftaten bzw. Steuerdelikte, an denen er teilnahm und die er als Kronzeuge in der nach dem Gesetz vorgeschriebenen Form offenlegte. Der Beschluss über die Einstellung des diesbezüglichen Vorverfahrens ergeht durch den zuständigen Staatsanwalt innerhalb von 14 Tagen nach Rechtskraft des abschließenden Beschlusses zum Verfahren gegen die Täter, deren Straftatbeteiligung durch den Kronzeugen offengelegt wurde und gegen die der Kronzeuge aussagte. Bis zu diesem Zeitpunkt wird das Vorverfahren, in dem der Kronzeuge als Verdächtigter auftritt, ausgesetzt. Dieses Verfahren kann wieder aufgenommen werden, wenn die Voraussetzungen nach Art. 10 Abs. 1 bis 4 des Kronzeugengesetzes gegeben sind. In der Praxis entspricht dies dem Widerruf der Anerkennung als Kronzeuge.

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IV. Widerruf der Stellung als Kronzeuge Der Widerruf der Anerkennung als Kronzeuge kann einen obligatorischen oder fakultativen Charakter tragen. Nach Art. 10 des Kronzeugengesetzes wird ein Verfahren gegen den Kronzeugen obligatorisch aufgenommen, wenn 1. der Kronzeuge im Prozessverlauf – Unwahres aussagte bzw. die Wahrheit bezüglich der Umstände des Vorgangs verschwieg oder eine Aussage vor Gericht verweigerte, – eine neue Straftat bzw. ein Steuerdelikt als Mitglied einer organisierten Gruppe oder eines Verbands beging, deren Tätigkeit sich auf Straftaten bzw. Steuerdelikte erstreckte, – eigenes Vermögen oder ihm bekanntes Vermögen anderer Straftat- bzw. Steuerdelikturheber verschwieg (Art. 3 Abs. l Ziff. l Buchst. b des Gesetzes); 2. sich erweist, dass als Kronzeuge ein Verdächtigter anerkannt wurde, gegen den die Anwendung der Kronzeugenbestimmungen nach Art. 4 des Kronzeugengesetzes ausgeschlossen ist. Nach Art. 10 Abs. 4 des Kronzeugengesetzes kann ein ausgesetztes Verfahren wieder aufgenommen werden, wenn der Kronzeuge 1. vorsätzlich eine neue Straftat bzw. ein Steuerdelikt beging, 2. in der durch das Gericht festgesetzten Frist bzw. Form die Verpflichtung zum Schadenersatz oder Rückgabe der aus der Straftat erlangten Vermögensvorteile nicht erfüllte. V. Umfang und Formen der Unterstützung und des Schutzes von Kronzeugen Allein die Umsetzung der mit dem Schutz der Kronzeugen und ihrer Familien verbundenen Aufgaben verursacht zahlreiche erhebliche juristische, logistische und organisatorische Probleme, deren rechtliche Regelung gewissermaßen ein novum war. Die Notwendigkeit der Erarbeitung derartiger juristischer Lösungen versteht sich von selbst. Mit seinem Wechsel auf die andere Seite der Barrikade wird der Kronzeuge nicht nur zum Verräter seines Milieus, sondern nimmt vor allem die äußerst gefährliche Rolle eines Denunzianten ein. Er bricht das ungeschriebene, jedoch in sämtlichen kriminellen Strukturen allgemein geltende „Schweigeprinzip“. Als Gegenleistung für die ihm durch die Gesellschaft angebotenen Vorteile muss er seine bislang engsten Kameraden benennen, mit denen er nicht nur einmal bei illegalen Unternehmungen, beim Widerstand gegen die

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Justizbehörden bzw. bei Auseinandersetzungen mit anderen kriminellen Gruppen gemeinsam sein Leben aufs Spiel setzte. Der wichtigste Anreiz für die Entscheidung, Kronzeuge zu werden, ist in der Regel die Perspektive, der strafrechtlichen Verantwortung zu entgehen. Dies erscheint Personen, die diese Lösung wählen, am wichtigsten zu sein 11. Das kriminelle Milieu hat zu keiner Zeit seine Verachtung und seinen Hass gegenüber Kronzeugen verhehlt. Ein Beleg hierfür ist das Verhalten des Angeklagten gegenüber dem Kronzeugen bei Gerichtsverhandlungen. Es kam dort zu offenen Drohungen sowohl gegen den Zeugen selbst als auch gegen dessen Angehörige. Aus diesem Grund nahm der Staat, als er die Einführung der Institution eines Kronzeugen genehmigte, gleichzeitig die Verpflichtung auf sich, reuige Straftäter und deren Familien unter Schutz zu stellen. Neben persönlicher Sicherheit werden dem Zeugen auch materielle Grundlagen für sein weiteres Leben gewährt. Weiterhin wird für seine Gesundheit, die Ausbildung seiner Kinder und die Löschung der Spuren seiner Vergangenheit Sorge getragen. Der erste Normativakt, der sich auf die Problematik der Schutzmaßnahmen für Zeugen und ihre Angehörigen bezog, war die Verordnung des Ministerrates vom 30. Dezember 1998 über besondere Voraussetzungen, Umfang und Form der Gewährung und Rücknahme des Schutzes und der Unterstützung der Kronzeugen und anderer Personen 12. Nach mehr als acht Jahren Erfahrung mit der Umsetzung dieser komplexen und kostenaufwendigen Maßnahmen und nach Auswertung der bisherigen, in der betreffenden Verordnung enthaltenen Lösungen, wurden neue Regelungen laut Verordnung des Ministerrates vom 18. Oktober 2006 über den Schutz und die Unterstützung der Kronzeugen und anderen berechtigten Personen 13 angenommen. Die für die Ausführung der Beschlüsse über den Schutz bzw. die Unterstützung der Kronzeugen und ihrer Familien zuständige Behörde ist der Hauptkommandant der Polizei. Im Bereich der Schutzausübung gegenüber den in Strafvollzugsbzw. Haftanstalten einsitzenden Personen ist der Generaldirektor des Gefängnisdienstes zuständig. Nach den oben angeführten Vorschriften stehen dem Kronzeugen bzw. seiner Familie verschiedene Formen des persönlichen Schutzes und der Unterstützung zu. Der persönliche Schutz besteht in einer ständigen Anwesenheit von Polizeibeamten in der direkten Nähe der zu schützenden Person oder in der Anpassung der 11 Dies ergibt sich aus den Forschungen von Z. Rau, Archiwum Kryminologii 2007, ´ Bd. XXVIII 2005 –2006, Swiadek koronny jako instytucja dowodowa oraz z´ ródło informacji o przeste˛pczo´sci zorganizowanej (Der Kronzeuge als Beweismittel und Informationsquelle über organisierte Kriminalität), S. 320. 12 Dz. U., Nr. 165, Pos. 1196. 13 Dz. U., Nr. 201/2006, Pos. 1480.

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Bedingungen der Untersuchungshaft bzw. Verbüßung einer Freiheitsstrafe an die Anforderungen der persönlichen Sicherheit des betreffenden Untersuchungshaftbzw. Strafanstaltsinsassen durch den Generaldirektor des Gefängnisdienstes. Infrage kommt hierbei auch die vorübergehende Anwesenheit eines bzw. mehrerer Polizeibeamter in der Nähe der zu schützenden Person, eine vorübergehende Beobachtung der zu schützenden Person und ihrer direkten Umgebung, die Zuweisung eines sicheren Aufenthaltsortes für die zu schützende Person sowie der Hinweis auf die Dauer und Form der eingeschränkten Mobilität. Vorgesehen ist auch die Bestimmung des Umfangs, der Bedingungen und der Form der Kontaktaufnahme der zu schützenden Person mit Dritten. Bei der Notwendigkeit eines langfristigen Schutzes oder aufgrund der Feststellung, dass der persönliche Schutz für eine wirksame Verhinderung einer Lebensoder Gesundheitsgefährdung der zu schützenden Person nicht ausreicht, kann dem Kronzeugen Unterstützung beim Wechsel seines Aufenthaltsortes gewährt werden. Diese Art der Unterstützung besteht in organisatorischen bzw. finanziellen Maßnahmen, die der zu schützenden Person den Aufenthalt an einem anderen als dem bisherigen Ort ermöglichen. Insbesondere können diese Maßnahmen folgendes umfassen: Erteilung einer die grundlegenden Lebensbedürfnisse befriedigenden zeitweiligen Unterkunft, Hilfe bei Anmietung oder Kauf einer Wohnung, Hilfe beim Umzug bzw. der Haushaltsgründung, Unterstützung beim Finden eines Schul-, Kindergarten- oder Kinderkrippenplatzes. Es können auch andere unerlässliche Maßnahmen getroffen werden: Schutz der Wohnung und des Besitzes am vorherigen Aufenthaltsort, Sorge für eine hinterlassene behinderte oder kranke Person, um die sich der zu Schützende kümmerte, sowie Wahrnehmung anderer, mit dem Aufenthaltsort verbundener Existenzbelange. Zu betonen ist jedoch, dass die zu schützende Person gehalten ist, aus den im Rahmen der finanziellen Unterstützung von ihr erlangten Mitteln die Unterhaltskosten der Wohnung zu tragen und die dort selbst verursachten Schäden zu übernehmen. Ist es nicht möglich, den Kronzeugen und seine Angehörigen in die Leistungen medizinischer Fürsorge im Rahmen einer allgemeinen Krankenversicherung aufzunehmen, kann diesen Personen eine finanzielle Beihilfe für die Deckung der Kosten der Gesundheitsfürsorge erteilt werden. Der Hauptkommandant der Polizei kann Ärzte und medizinische Anstalten benennen, bei denen die zu schützende Person gesundheitsfürsorgliche Leistungen beanspruchen darf. Die zu schützende Person ist verpflichtet, sich den Bedingungen der Inanspruchnahme dieser Leistungen anzupassen. Eine spezielle Form der medizinischen Hilfe für Kronzeugen ist die Durchführung eines chirurgischen Eingriffs zur Änderung der charakteristischen Merkmale ihres Aussehens bzw. eine plastische Operation. Diese Art der Hilfe wird erteilt, wenn sie für die Sicherheit der zu schützenden Person unerlässlich ist und eine wesentliche Änderung ihres Aussehens ermöglicht. Eine weitere wesentliche Art der Unterstützung ist die Hilfe beim Wechsel des Arbeitgebers. Sie kann erteilt werden, wenn die Lebens- bzw. Gesundheitsge-

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fahr der zu schützenden Person mit ihrer bisherigen Arbeitsstätte zusammenhängt, sowie bei Sicherung einer Einkommensquelle für eine zu schützende Person, die ihren Aufenthaltsort wechseln musste. Beim Arbeitgeberwechsel kann eine derartige Hilfeleistung in der Suche und Übergabe von Informationen zu Beschäftigungsmöglichkeiten, d.h. einer Art Arbeitsvermittlung, sowie in der Ermöglichung einer Umqualifizierung bzw. Erhöhung des Ausbildungsgrades bestehen. Neben einer eventuellen finanziellen Beihilfe im Zusammenhang mit der Deckung von medizinischen Leistungen kann der Kronzeuge auch eine finanzielle Unterstützung erhalten, die bei Unmöglichkeit der Beschäftigung des Kronzeugen oder einer ihm nahestehenden Person gewährt wird, sowie bei einer mit der Arbeitsaufnahme verbundenen möglichen Lebens- und Gesundheitsgefährdung des Kronzeugen. Diese Unterstützung ist in erster Linie für die Deckung der Unterhaltskosten zu verwenden. Eine finanzielle Unterstützung entspricht – entsprechend der Bekanntmachung des Präsidenten der Sozialversicherungsanstalt – grundsätzlich maximal der Höhe eines Durchschnittsgehalts im vorangehenden Quartal. Minderjährigen stehen maximal bis zu 50% dieses Betrags zu. Die Unterstützung wird in bar gegen Quittung, per Geldanweisung, Banküberweisung oder auf eine andere mit der zu schützenden Person vereinbarte Art und Weise geleistet. Bei Lebens- oder Gesundheitsgefahr des Kronzeugen bzw. einer ihm nahestehenden Person wird eine Hilfeleistung in Form von Erteilung neuer Ausweisdokumente notwendig. In besonders begründeten Fällen kann man diesen Personen Dokumente mit geänderten Personalangaben ausstellen, die als Identitätsnachweise u.a. zur Überschreitung der Staatsgrenze berechtigen. Die Erteilung derartiger Dokumente kann auch dann erfolgen, wenn andere Schutz- bzw. Unterstützungsformen für die Sicherheit der zu schützenden Person nicht ausreichend erscheinen, sofern der Schutz bzw. die Unterstützung langfristig sind. Ein die Benutzung geänderter Personalangaben ermöglichendes und als Identitätsnachweis zur Überschreitung der Staatsgrenze berechtigendes Dokument kann darüber hinaus erteilt werden, wenn – auf Grund der Art der Gefährdung – das Verlassen des Landes durch die zu schützende Person für die Sicherung eines wirksamen Schutzes bzw. aus besonders wichtigen persönlichen Gründen unerlässlich ist oder wenn die Benutzung derartiger Dokumente im Inland aus Sicherheitsgründen angezeigt erscheint. Ein besonders wichtiger Schutzaspekt ist die Sicherheit des Kronzeugen auf dem Weg zum Ort der Vornahme von Prozesshandlungen und während deren Durchführung. Damit in Zusammenhang steht die Sicherheit im Bereich des Verhandlungssaals durch eine entsprechende Ausstattung. Die vorstehend erörterten Schutz- und Unterstützungsformen von Kronzeugen bilden den Rahmen für die Verhaltensweise der den direkten Schutz ausübenden

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Polizeibeamten. Dieser Rahmen umfasst tägliche Kontakte mit den zu schützenden Personen und Lösung ihrer unterschiedlichen Probleme finanzieller, sozialer, psychologischer 14 und gesundheitlicher Natur. VI. Untersuchungsergebnisse der Praxis Aus den unter Polizeibeamten und Staatsanwälten durchgeführten Erhebungen auf der Grundlage von Fragebögen zeichnen sich die charakteristischen Merkmale einer organisierten kriminellen Gruppe in Polen ab. So wiesen 33% der befragten Polizisten auf einen Hierarchieaufbau hin, während unter den Staatsanwälten 11% dieses Merkmal hervorhoben. 28% der Polizisten und 26% der Staatsanwälte ernannten Brutalität, 28% der Polizisten und 23 % der Staatsanwälte Rücksichtslosigkeit. 26% der Polizisten und lediglich 2% der Staatsanwälte wiesen auf Undurchlässigkeit hin. Dagegen sprachen 14% der Polizisten gegenüber rund 40% (!) der Staatsanwälte von Verflechtungen mit offiziellen staatlichen Strukturen. Als weitere gruppenspezifische Merkmale wurden die Unberechenbarkeit und die Beschäftigung der Bandenmitglieder mit allem, was Gewinn verspricht, genannt. Diese Gruppen sind danach bis auf einige wenige Ausnahmen nicht auf eine konkrete Tätigkeit spezialisiert 15. Im Vergleich zu anderen neuen rechtlichen Regelungen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität wurde die erhebliche Wirksamkeit der Institution des Kronzeugen durch die Befragten hervorgehoben 16. Am interessantesten erscheinen jedoch die bisherigen prozessualen Auswirkungen der Anwendung der Kronzeugeninstitution. Laut Pressemitteilung des Justizministeriums vom 31. August 2006 mit dem Titel „Anwendung der Institution eines Kronzeugen in der Zeit vom 1. September 1998 bis 14. Juli 2006“ 17 wurden im betreffenden Zeitraum „[...] in den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen 87 Personen zur Aussage als Kronzeugen zugelassen. Auf Grund von Aussagen und Erläuterungen durch Kronzeugen wurden 9213 Straftaten aufgedeckt und 3096 Personen beschuldigt. Mit einer Anklage endeten Ermittlungen gegen 2295 Personen in 320 Vorgängen. Gegen 1196 Angeklagte wurden auf Grundlage von kronzeugenschaftlichen Aussagen und Erläuterungen rechtskräftige Strafurteile durch Gerichte erlassen. Die Institution eines Kronzeugen trug auch zur Sicherung hochwertigen Vermögens bei. Im Verlauf der unter Beweisfüh14 Siehe B. Hołyst, Psychologia kryminalistyczna (Kriminalistische Psychologie), Wydawnictwo Prawnicze LexisNexis, Warszawa 2006, S. 1273. 15 Siehe ausführlicher dazu Z. Rau, Prokurator, Nr. 1(9) / 2002, Cechy polskiej zorganizowanej grupy przeste˛pczej (Merkmale einer polnischen organisierten kriminellen Gruppierung), S. 61ff. 16 Rau (ob. Fn. 4), S. 383. 17 Diese Mitteilung wurde auf der Webseite www.ms.gov.pl veröffentlicht.

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rung aus Aussagen von Kronzeugen durchgeführten Prozesse wurden insgesamt 9 804 156 PLN sichergestellt. Bei für 30 Personen eingeleiteten Zulassungsprozeduren zwecks Aussage in Eigenschaft eines Kronzeugen musste wegen negativ ausgefallener Voraussetzungen von weiterer Durchführung abgesehen werden.“ Eine wesentliche Erweiterung der vorstehenden Information bilden umfangreiche Daten zur bisherigen Effektivität der gegenständlichen Institution, die der Autor 2007 beim Zentralermittlungsbüro der Hauptpolizeikommandantur erhielt: Erstens ist anhand der durchgeführten Analysen die durchschnittliche Struktur einer organisierten kriminellen Gruppe abzulesen. Die umfänglichste Aufbauebene wird durch Bandenmitglieder gebildet, die gewöhnlich „Soldaten“ genannt werden (84,51 %). Die „Kapitäne“ (mittlere Führungsebene) machen ca. 11,27 % aus, die „Buchhalter“ (Spezialisten für Finanzen) 1,41%, und die oberste Führungsebene als „rechte Hand des Bosses“ 2,82%. Zweitens ergaben die Untersuchungen der Altersstruktur, dass mehr als die Hälfte der betreffenden Kronzeugen (57,14%) Personen nach dem 30. und vor dem 40. Lebensjahr ausmachten. Eine weitere Altersgruppe bildeten Kronzeugen zwischen 40 und 50 Jahren (31,86%). Der dritten – mit Abstand kleineren Kategorie – gehörten Kronzeugen von 20 bis 30 Jahren (8,57%) an. Die eindeutig kleinste Altersgruppe bildeten mehr als 50-jährige (2,86 %). Drittens weisen die gewonnenen Daten darauf hin, dass dank Aussagen der Kronzeugen 109 Vorwürfe wegen Leitung einer kriminellen Gruppe, 1677 Vorwürfe wegen Mitgliedschaft in einer derartigen Gruppe, 105 Vorwürfe wegen Mord und weitere 314 Vorwürfe wegen Delikten gegen Leben und Gesundheit eröffnet wurden. Bei den restlichen Straftatkategorien dominieren Diebstahlvorwürfe inklusive Einbruchdiebstahl (2190), Drogendelikte (1457), Raub und räuberische Erpressung (1207), Wirtschaftsdelikte (769), Verwendung von Sprengstoffen und Sprengstoffvorrichtungen (463) sowie Geld- und Dokumentenfälschung (605) und Kidnapping (121) 18. Die präsentierten Daten umfassen auch die Forschungsergebnisse zur Ausbildung der Kronzeugen vor ihrer Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm. So sind Personen mit Berufsschulbildung am zahlreichsten vertreten (46,15 %). Weitere zwei ähnlich große Gruppen bildeten Zeugen mit Grundschulbildung (26,92 %) und mittlerer Reife (25,64%). Lediglich 1,28% der untersuchten Klientel machten Personen mit Hochschulbildung aus. Die vorstehenden Daten wurden anschließend mit dem Ausbildungsniveau der Zeugen nach Abschluss des Schutzprogramms verglichen. Man stellte dabei den Rückgang der Gruppen mit Grund(21,79 %) und Berufsschulbildung (42,3 %) zum Vorteil der Gruppen mit mittle18

Ausführlich zu diesem „Unwesen“ siehe J. Karczmarek, M. Kierszka, Porwania dla okupu (Kidnapping), Wolters Kluwer Polska Sp. z o.o., Warszawa 2008.

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rer Reife (26,92%) und Hochschulbildung fest, in denen der Zuwachs mit 8,97% am größten war. Diese Verhältnisangaben lassen eine positive Beurteilung der Wirksamkeit von Resozialisierungsmaßnahmen zu, die bei der Umsetzung der Zeugenschutzprogramme getroffen werden. Erwähnenswert ist hierbei, dass die meisten in das Programm aufgenommenen Straftäter nur mäßig intelligent sind und diesen Zeitraum lediglich als eine zu durchlaufende Etappe betrachten; sie haben kein Interesse an der Änderung ihres Lebenswandels, der Gedanke an Resozialisierung liegt ihnen fern. Nur vereinzelt stößt man im Programm auf intelligente Personen, die von Anfang an wissen, was sie erreichen möchten, und die entstandene Situation maximal zu nutzen suchen. Die Erfahrung der sich mit dem Schutz der Kronzeugen befassenden Polizeibeamten zeigt darüber hinaus, dass die zu schützenden Personen in der Anfangsphase des Schutzprogramms relativ sorgfältig den einschlägigen Regeln und Empfehlungen folgen. Mit der Zeit jedoch bemühen sie sich immer mehr um Erweiterung der ihnen gewährten Unterstützung, insbesondere der finanziellen Beihilfe. Gewohnt an den durch illegale Einkünfte erreichten Lebensstandard, fügen sie sich mit Schwierigkeiten in das durch geltende Vorschriften eingegrenzte soziale Niveau ein 19. VII. Versuch einer Zusammenfassung In der Beurteilung der bisherigen Ergebnisse der Anwendung der Institution des Kronzeugen bei der Bekämpfung organisierter Kriminalität unterstreichen die Vertreter der Strafverfolgungs- und Rechtspflegebehörden eindeutig die Vorteile 20. Als einzigen, den Umfang der Inanspruchnahme der Kronzeugen negativ beeinflussenden Faktor nennen sie den Kostenaufwand dieses rechtlichen Instruments. Beachtenswert ist jedoch auch die Tatsache, dass der Beweis aus einer kronzeugenschaftlichen Aussage eine spezielle Prägung besitzt. Dies bedeutet, dass sich die Bewertung der Glaubwürdigkeit der Aussagen eines Kronzeugen auf keine anderen Prinzipien stützen darf als die Glaubwürdigung jedes anderen Zeugen, der nicht als Tatbeteiligter auftritt. Gleichzeitig sind jedoch die Kriterien einer derar19 Ausführlicher dazu siehe W. Ma˛drzejowski, Przeste˛pczo´sc´ zorganizowana. System zwalczania (Organisierte Kriminalität. Methoden zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität), Wydawnictwa Akademickie i Profesjonalne, Warszawa 2008, S. 128 –129. 20 Siehe insbesondere P. Korbal in: E.W. Pływaczewski (Hrsg.), Przeste˛pczo´sc´ zorganizowana, s´wiadek koronny, terroryzm ...(Organisierte Kriminalität, Kronzeuge, Terroris´ mus ...), Swiadek koronny – instrument zwalczania przeste˛pczo´sci zorganizowanej. Kilka refleksji z praktyki (Kronzeuge – ein Instrument zur Bekämpfung organisierter Kriminalität. Einige Gedanken aus der Praxis heraus) sowie R. Piechura, Wokół problematyki materiału dowodowego w poste˛powaniu ze s´wiadkiem koronnym (Einiges zur Problematik des Beweismaterials in einem Verfahren mit Beteiligung eines Kronzeugen), S. 335ff., S. 501ff.

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tigen Überprüfung noch schärfer anzusetzen, und das auf Grund der Verflechtung prozessualer und außerprozessualer Interessen des Kronzeugen 21. Es ist also eine vielseitige prozessuale Überprüfung des Beweises aus Aussagen des Kronzeugen vorzunehmen. Nach Möglichkeit ist er durch andere Beweise zu bestätigen, damit der Täter der Straftat aufgedeckt und zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen und ein Unschuldiger entlastet wird 22. Im Rahmen der polnischen Rechtsordnung steht der Aufbau der Institution des Kronzeugen in keinem Widerspruch zu Bestimmungen der Verfassung 23. Das Problem liegt nicht etwa in einer Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bzw. der Gleichheit vor dem Recht, denn ähnliche Lösungen nach Art. 60 §3 und 4 des geltenden Strafgesetzbuches aus dem Jahre 1997 24 wurden auch als nicht verfassungswidrig anerkannt.

21 Siehe insbesondere A. Gaberle, Dowody w sa˛dowym procesie karnym (Beweise in einem gerichtlichen Strafverfahren), Wydawnictwo Prawnicze, Warszawa 1997, S. 162ff.; ´ S. Owczarski, Przegla˛d Sa˛dowy, Nr. 11 –12/1993, Swiadek koronny – uwagi krytyczne (Ein Kronzeuge – kritische Betrachtung), S. 95; J. Brylak, Prokuratura i Prawo, Nr. 10/ 2007, Zagadnienie oceny wiarygodno´sci zezna´n s´wiadka koronnego w aspekcie włoskiego systemu prawa karnego procesowego (Glaubwürdigkeit einer Kronzeugenaussage unter dem Gesichtspunkt des italienischen Strafprozessrechtssystems), S. 113. 22 Siehe K. Cesarz, Przegla˛d Sa˛dowy, Nr. 4/2004, Dowód z zezna´n s´wiadka koronnego na tle prawa do sa˛du (Der Kronzeugenbeweis vor dem Hintergrund des Anspruchs auf gesetzlichen Richter), S. 65. 23 Mehr dazu siehe B. Nita, Palestra, Nr. 3 –4/2002, Ustawa o s´wiadku koronnym w s´wietle postanowie´n konstytucyjnych (Das Kronzeugengesetz im Lichte der Verfassungsbestimmungen), S. 14 ff.; J.K. Pa´skiewicz, Czasopismo Prawa Karnego i Nauk Penalnych, Nr. 1/2004, Wybrane zagadnienia instytucji s´wiadka koronnego w s´wietle Konstytucji RP i Europejskiej Konwencji Praw Człowieka (Ausgewählte Probleme der Institution eines Kronzeugen unter dem Gesichtspunkt der Verfassung der Republik Polen und der Europäischen Menschenrechtskonvention), S. 131. 24 Gesetz vom 6. Juni 1997, Dz. U. Nr. 88/1997 mit späteren Änderungen; Art. 60 §3: „Das Gericht wendet die außerordentliche Strafmilderung an und kann die Strafaussetzung zur Bewährung anwenden gegenüber einem Täter, der bei der Straftatbegehung mit anderen zusammengewirkt hat, wenn er dem für die Strafverfolgung zuständigen Organ Informationen über andere an der Straftat Beteiligte und wesentliche Umstände der Tatbegehung offenbart hat“; §4: „Auf Antrag des Staatsanwalts kann die außerordentliche Strafmilderung oder sogar die Strafaussetzung zur Bewährung einem Straftäter gegenüber angewendet werden, der unabhängig von seinen Aussagen in der eigenen Strafsache dem für die Strafverfolgung zuständigen Organ wesentliche, bisher unbekannte Umstände einer mit Freiheitsstrafe über fünf Jahren bedrohten Straftat offenbart und diese Umstände näher erläutert hat“; E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch (Deutsche Übersetzung und Einführung), edition iuscrim, Freiburg im Breisgau 1998; vgl. auch E.W. Pływaczewski, Rechtliche Regelungen des neuen StGB bezüglich der modernen Erscheinungsformen der Tatbeteiligung mehrerer wie auch krimineller Aktivitäten von Organisationen, in: Albin Eser, Keiichi Yamanaka (Hrsg.), Einflüsse deutschen Strafrechts auf Polen und Japan. Zweites deutsch-polnisch-japanisches Strafrechtskolloquium 1999 in Osaka, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2001.

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Ernstzunehmen ist dagegen die Gefahr einer nicht ordnungsgemäßen Anwendung der Bestimmungen des Kronzeugengesetzes, in welchem der Kronzeuge als zuverlässiger „Partner des Staates“ auftritt, dem der Staat die Nichtbestrafung der von ihm begangenen Taten garantiert. Die in diesem Fall gebotene Ordnungsmäßigkeit kann insbesondere durch Hinweise von Staatsanwälten und Polizisten auf den Ausnahmecharakter dieser Rechtsnorm gesichert werden. Hier muss Feingefühl zu der Gewichtigkeit der Angelegenheit und den durch die Justiz zu erwartenden Vorteilen einhergehen. Die Institution eines Kronzeugen soll nämlich nur den Straftätern vorbehalten bleiben, die über wesentlichste Informationen verfügen. Zweifelsohne muss die Auseinandersetzung mit dem Thema Kronzeuge unter dem Blickpunkt des sich europäisierenden Strafrechtes fortgesetzt werden. Wie J.C. Joerden mit Recht bemerkt, stellen zwar die strafrechtlichen Ordnungen immer noch vor allem ein Element des nationalen Rechtes dar, doch wächst der Druck einer Internationalisierung oder zumindest Europäisierung wesentlicher Strafrechtmerkmale ständig 25. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Institution des Kronzeugen nur bei organisierter Kriminalität und Straftaten des Terrorismus und ausschließlich gegen schwerwiegende Delikte dieser Kategorien als ein besonderes Werkzeug benutzt werden darf. Zu beachten ist auch das generelle Prinzip zur Nutzung unkonventioneller Beweise. Nach zutreffendem Hinweis von S. Walto´s 26 soll die Verwendung eines derartigen Beweises nur unter der Voraussetzung zulässig sein, dass das Subsidiaritätsprinzip befolgt wird: Falls andere Mittel sich als unwirksam erweisen oder die Wahrscheinlichkeit ihrer Unwirksamkeit bzw. Untauglichkeit für die Strafverfolgung hoch ist.

25 J.C. Joerden in: Andrzej J. Szwarc und J.C. Joerden (Hrsg.), Europeizacja prawa karnego w Polsce i w Niemczech – podstawy konstytucyjnoprawne (Europäisierung des Strafrechtes in Polen und in Deutschland – verfassungsrechtliche Grundlagen), Wydawnictwo Pozna´nskie, Pozna´n 2007, Moda na s´wiadka koronnego w Europie (Der Trend zum Kronzeugen in Europa), S. 288; vgl. auch E.W. Pływaczewski, Prokuratura i Prawo, Nr. 7 – 8/2005, Bericht aus der Internationalen Tagung über organisierte Kriminalität (Brüssel, 21. / 22. Dezember 2004), S. 247ff. 26 Walto´s, (ob. Fn. 1), S. 398.

Die (geplante) Europäische Beweisanordnung (aus der Sicht des griechischen Rechts) Dionysios Spinellis I. Einführung 1. Vor sieben Jahren hat der Jubilar in Bezug auf das „Corpus Juris“ 1 die Ansicht geäußert, dass die darin formulierten Prinzipien den fundamentalen Grundsätzen des Strafverfahrens entsprechen, die, nicht nur in den Rechtsordnungen der (damaligen) EU-Länder, sondern auch in der Rechtsordnung Polens und anderer Nicht-EU-Mitgliedstaaten gelten. 2 Inzwischen sind zwei wichtige Ereignisse eingetreten. Erstens, ist Polen EU-Mitgliedstaat geworden. Zweitens, ist das Corpus Juris nicht als geltendes EU-Recht in Kraft getreten, wie man damals erhofft hatte. Allerdings wurden einige der Ideen, die durch das Corpus Juris angeregt wurden, zum Anlass genommen, bestimmte Regelungswerke der EU dementsprechend auszugestalten. Dazu gehört auch die Idee zur Erleichterung der Zusammenarbeit der Ermittlungsbehörden über die Staatsgrenzen der EUMitgliedstaaten hinaus, die ihren Ausdruck in den Art. 18 Abs. 1 und 20 Abs. 3 des Corpus Juris fanden. Die bisher wichtigste eingeführte Maßnahme ist der Europäische Haftbefehl. 3 Die Europäische Beweisanordnung, deren Einführung in naher Zukunft geplant ist, ist ein weiterer Schritt in diese Richtung. 2. Die internationale Zusammenarbeit bei der Durchführung von Strafverfahren, die schon immer eine schwierige Aufgabe war, wurde in den letzten Jahrzehnten noch schwieriger und komplizierter. Die Mobilität der Personen und 1 Vgl. Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union, deutsche Übersetzung mit Einführung von Ulrich Sieber, 1998. 2 Szwarc, Corpus Juris und das polnische Strafrecht, in: Festschrift Spinellis, 2001, S. 1076ff. 3 Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Europäischen Rates vom 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl (EuHb) und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Freilich ist die Einführung des EuHbs in den EU Mitgliedstaaten nicht ohne Schwierigkeiten erfolgt. Vgl. die Entscheidungen des polnischen Verfassungsgerichtshofs vom 27.4.2005, (vgl. darüber Nita in Eucrim 1 –2/2006, 36ff.) und des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 18.7.2005 (vgl. darüber Ahlbrecht, Eucrim 1 –2/2006, 39ff.), die den EuHb für verfassungswidrig erklärt haben.

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die Globalisierung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen den verschiedenen Ländern wurden von der Globalisierung der Kriminalität begleitet. Um diesen neuen Dimensionen der Kriminalität zu begegnen, mussten sich die Strafjustizsysteme u.a. damit auseinandersetzen, wie das schwierige Problem der Suche nach Beweisen in verschiedenen Ländern zu bewältigen ist. Die rechtlichen Instrumente, aufgrund derer die Beamten der Justiz, Richter und Staatsanwälte um die Hilfe ausländischer Behörden ersuchen, sind erstens in internationalen Konventionen, zweitens in bilateralen Abkommen 4 und schließlich in entsprechenden nationalen Vorschriften geregelt, wobei letztere üblicherweise subsidiär gelten. Im Rahmen der Europäischen Union gelten weitere Regelungen und Bestimmungen, die den Zweck haben, die Zusammenarbeit zwischen den EU Mitgliedstaaten zu erleichtern. Durch die Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsordnungen hinsichtlich der Rechtshilfevoraussetzungen ist es für einen Justizbeamten besonders schwierig, ein Ersuchen zu stellen. Einige Staaten verlangen bspw. besondere Voraussetzungen in Bezug auf die Form, den Inhalt und die Struktur des entsprechenden Ersuchens. Manche Ersuchen werden verspätet vollzogen, da der ersuchende Staat bestimmte Formalitäten nicht eingehalten hat. Ein Ersuchen auf Rechtshilfe muss eindeutig und klar formuliert werden, um zweckdienlich erfüllt werden zu können. Demgegenüber sind aber manche Rechtshilfeersuchen so vage und mehreren Interpretationen zugänglich formuliert, dass ein Scheitern des Ersuchens oder eine fehlerhafte Ausführung darauf zurückzuführen ist. Ein weiteres praktisches Problem der internationalen Rechtshilfe besteht schließlich darin, dass die ersuchende Behörde u.U. lange suchen muss, um die zuständige ausländische Behörde ausfindig zu machen. Jeder Schritt zur Vereinheitlichung und Vereinfachung der Voraussetzungen und der Formalitäten der Rechthilfe ist also aus den genannten Gründen nötig und begrüssenswert. Die dazu notwendigen ersten Schritte wurden bereits bspw. im Rahmen des Europarats durch das Rechthilfeabkommen aus dem Jahre 1959 oder durch das in der EU verabschiedete Abkommen über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen 5 aus dem Jahre 2000 getan. 3. Im Rahmen der Europäischen Union (EU), die es sich zum Ziel gesetzt hat, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu gestalten und weiterzuentwickeln, sollten die o.g. Schwierigkeiten so weit wie möglich beseitigt werden, um dieses Ziel zu erreichen. Darum soll nach den Schlussfolgerungen 4 Zimianitis, Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über die Europäische Beweisanordnung (auf griech.) in PoinDik 2004, S. 3; vgl. auch in Deutschland: Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, Internationale Rechthilfe in Strafsachen, 2006, S. 217. 5 Da es aber von den meisten EU-Staaten noch nicht ratifiziert worden ist, ist dieses Ziel noch nicht erreicht.

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des Europäischen Rates von Tampere (15/16.10.1999), insbesondere nach Nr. 33, der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zum Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit auch in Strafsachen innerhalb der EU werden. 4. Griechenland, als Mitglied des Europarats und der EU, ist Unterzeichnerstaat der beiden oben erwähnten Übereinkommen von 1959 bzw. von 2000, der Protokolle zu denselben und des Übereinkommens vom 19.06.1990 zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14.06.1985. Aufgrund dieser Instrumente könnte ein Rechtshilfeersuchen von den griechischen Justizbehörden schneller erledigt werden; in der Praxis treten jedoch viele Hindernisse und Schwierigkeiten auf, die einer schnellen Erledigung des Ersuchens im Wege stehen. Positiv ist die Rolle des Europäischen Justiziellen Netzes hervorzuheben, das in Fällen von dringenden Ersuchen oder von solchen, die an mehreren Orten des Vollstreckungsstaates erledigt werden sollen, vermitteln können und dies mit gutem Erfolg tun. Eine koordinierende Rolle kann auch die Eurojust spielen. Allerdings hat keine von diesen Instanzen eine institutionelle zentrale Zuständigkeit innerhalb der EU, um die Koordination hinsichtlich strafrechtlicher Ermittlungen zu sichern. Außerdem sind weder die Eintragung aller Rechtshilfeersuchen in ein Zentralregister noch ihre zentrale Steuerung vorgesehen und geregelt. Solche Einrichtungen, die auf EU-Ebene (noch) nicht vorhanden sind, könnten jedoch dazu beitragen, dass mehrere parallele Ermittlungen ein und dieselbe Strafsache betreffend in mehreren EU-Mitgliedstaaten vermieden werden. 6 Zur schnellen Erledigung des Ersuchens könnte auch dadurch beigetragen werden, dass ein Ermittlungsbeamter des ersuchenden Staates in den ersuchten Staat reisen kann, um bei der Erledigung des Ersuchens anwesend zu sein und um bei eventuellen Problemen zu helfen. 7 Dieser Beamte könnte evtl. auch sofort Kopien von den Urkunden (z.B. Protokollen) bekommen, die bei der Durchführung des Ersuchens abgefasst werden, d.h. bevor sie formell über den umständlichen bürokratischen Weg geschickt werden. 8 5. Die bisherigen Möglichkeiten zur Vereinfachung der Rechtshilfe im Rahmen der existierenden Instrumente und Vorschriften sind unzureichend. Insbesondere wurde herausgestellt, 9 dass: (a) trotz der oben erwähnten Bemühungen, das 6

Solche Einrichtungen existieren z.B. in den Niederlanden: Mos, Evaluation of the Council of Europe and Third Pillar Instruments: The Dutch experience, in: Vervaele (Hrsg.), European Evidence Warrant, Transnational Judicial Inquiries in the EU, 2005, S. 33ff., 35, der empfiehlt, ein solches System auf EU-Ebene oder der Ebene des Europarates einzuführen. Er äußert sich aber skeptisch hinsichtlich der Möglichkeit, die Rechtshilfeanträge nach Dringlichkeit einzustufen. 7 Mos (vgl. oben Fn. 6), S.35. 8 Mos (vgl. oben Fn. 6), S. 36. 9 Williams, Overview of the Commissions proposal for a Framework Decision on the European Evidence Warrant, in: Vervaele (vgl. oben Fn. 6), S. 69ff., 71.

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Rechtshilfeverfahren immer noch langsam und ineffizient ist; (b) wegen der von den Staaten abgegebenen Vorbehalte und Erklärungen zum Übereinkommen von 1959 die Vorschriften in den verschiedenen Mitgliedstaaten in unterschiedlichem Umfang gelten; (c) mehrere Verweigerungsgründe zu rechtlichen Hindernissen der Zusammenarbeit führen. So kann z.B. auch die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit verlangt werden, die aber für EU-Mitgliedstaaten nur innerhalb der Grenzen von Art. 51 des Schengener Durchführungsübereinkommens von 1990 weiterhin gilt. Ist ein Justizbeamter also auf die Rechtshilfe eines anderen Staates angewiesen, so muss er eine lange Reihe von Feststellungen und Überlegungen treffen, bevor er überhaupt ein formelles Ersuchen stellen kann. Schließlich muss er sehr geduldig und bescheiden sein, bis er die oftmals mageren Früchte des Ersuchens ernten kann. 6. Die nun folgenden Überlegungen betreffen die endgültige Version des (Entwurfs) eines Rahmenbeschlusses über die „Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen” (RBEBA). Während der Abfassung dieses Beitrages ist der RBEBA noch nicht gültig. Voraussichtlich soll er im Herbst 2008, nach der Beseitigung aller parlamentarischen Vorbehalte, verabschiedet werden. II. Der (vorgeschlagene) Anwendungsbereich der EBA 1. Mit der Einrichtung der EBA soll es Ermittlungsbehörden der EU-Mitgliedstaaten ermöglicht werden, auf vereinfachtem Rechtshilfeweg und mittels eines Standardformblattes Sachen, Schriftstücke und Daten in anderen Mitgliedstaaten beschlagnahmen zu lassen und die anschließende Übermittlung derselben zu verlangen. Dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung folgend, sollen Entscheidungen eines Mitgliedstaates von den Behörden eines anderen Mitgliedstaates vollstreckt werden, ohne dass die Zulässigkeit und Rechtmäßigkeit der Anordnung nach dem inländischen Recht des Vollstreckungsstaates gerichtlich geprüft werden könnte. 2. Nach Nr. 25 der Präambel des RBEBA (im Folgenden: Präambel) soll die EBA vorerst neben den vorhandenen Rechtshilfeverfahren bestehen. Dieses Nebeneinander soll jedoch nur als eine vorläufige Lösung betrachtet werden, bis die Arten der Beweiserhebung, die vom Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses ausgenommen sind, im Einklang mit dem Haager Programm 10 ebenfalls Gegenstand eines Rechtsinstruments über die gegenseitige Anerkennung werden. Wenn durch die vollständige Annahme des Haager Programms auch diese Beweisarten gegenseitig anerkannt werden, dann soll ein vollständiges System der gegenseitigen Anerkennung die Rechtshilfeverfahren ersetzen. Die EBA ist also 10

Haager Programm zur Stärkung der Freiheit, Sicherheit und des Rechts in der EU (ABl Nr. C053 vom 03/03/2005, S. 001 – 0014).

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nur als ein erster Schritt zur Ersetzung der bestehenden Rechtshilferegelungen durch eine einheitliche EU-Regelung gedacht. Darum sollte man zuerst die Grenze zwischen seinem Anwendungsbereich und den übrigen, von ihm (noch) nicht geregelten Arten der Beweiserhebung klären. 3. Die EBA soll Beweise, Sachen, Schriftstücke und Daten betreffen, die sich bereits vor ihrem Erlass im Besitz der Vollstreckungsbehörde befinden und direkt verfügbar sind (Art. 4, Abs. 4). Sie soll sich auch, sofern dies angegeben wird, auf alle weiteren Sachen, Schriftstücke und Daten erstrecken, die die Vollstreckungsbehörde bei der Vollstreckung der EBA entdeckt und ohne weitere Ermittlungen als relevant für das Verfahren erachtet, für deren Zwecke die EBA erlassen wurde (Art. 4, Abs. 5). Dazu können u.a. Beweise gehören, die von Dritten bereitgestellt wurden oder aus einer Durchsuchung von Räumen einschließlich der Privaträume des Verdächtigten stammen, Daten aus der Inanspruchnahme von Dienstleistungen einschließlich Finanzgeschäften, Protokolle von Aussagen, Vernehmungen und Anhörungen, sowie andere Unterlagen, einschließlich der Ergebnisse spezieller Ermittlungsmethoden. 11 Die EBA kann, soweit die Anordnungsbehörde darum ersucht, auch auf die Entgegennahme von Aussagen von Personen erstreckt werden, die während der Vollstreckung anwesend sind, wenn diese Aussagen unmittelbar mit dem Gegenstand der EBA in Verbindung stehen (Art. 4, Abs. 6). 4. Nach Art. 178 der griechischen StPO sind die wichtigsten Beweismittel: (a) die Indizien; (b) der Augenschein; (c) der Sachverständigenbeweis; (d) das Geständnis des Beschuldigten; (e) die Zeugen und (f) die Schriftstücke. Nach Art. 179 sind im Strafverfahren (auch) alle anderen Beweismittel erlaubt, es sei denn, der Gegenstand des Beweises ist eine private Verpflichtung und der Beweis deshalb nach den Vorschriften des Zivil(prozess)rechts erhoben wird. Eine andere Ausnahme betrifft die Beweise, die durch eine Straftat erlangt werden, die als „verbotene Beweise“ betrachtet und nicht für die Entscheidung über die Schuld, die Strafe und die Zwangsmaßnahmen berücksichtigt werden können (Art. 177 Abs. 2 grStPO). 12 Entsprechend den oben erwähnten Bestimmungen sind Sachen, Schriftstücke und Daten auch im Sinne der grStPO Beweise, sie werden aber nicht in weiteren Bestimmungen der grStPO besonders geregelt. 13 Die grStPO enthält besondere 11

Präambel Nr. 7. In Bezug auf solche speziellen Methoden vgl. Art. 253a grStPO, der durch Art. 6 des Gesetzes 2928/2001 eingefügt wurde, wonach eine Reihe von Ermittlungsmethoden vorgesehen werden, die nur bei Ermittlungen gegen kriminelle Organisationen gebraucht und nur unter Einhaltung von besonderen Garantien und besonderen Verfahren angewandt werden können. 12 Art. 177 Abs. 2 grStPO sieht eine Ausnahme in Fällen von Verbrechen, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden, vor. Diese Vorschrift ist von einigen Autoren kritisiert worden: Alexiadis, Untersuchungskunde (auf griech.) 2006, S. 155 –157; Karras, Strafprozessrecht (auf griech.), S. 638 Rn. 702. Verteidigt wird diese Vorschrift dagegen von Dimopoulos, P. Chr. 46, S. 1156ff. (auf griech.).

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Vorschriften über die Beschlagnahme von Sachen (Art. 258), die Hausdurchsuchung (Art. 254 –256), die Durchsuchung von Verdächtigten, oder auch von dritten unverdächtigten Personen, wenn wichtige Gründe dafür vorliegen (Art. 257). Sachen oder Schriftstücke, die dadurch gefunden oder übergeben werden, können beschlagnahmt oder in Sequestration gegeben werden (Art. 259 – 259). Wertpapiere, Beträge, die auf einem laufenden Bankkonto, und jede andere Sache oder jedes Schriftstück, die bzw. das bei einer Bank oder einer anderen Institution hinterlegt worden sind, auch wenn sie in einem geschlossenen Fach liegen, können vom Untersuchungsrichter oder anderen Ermittlungsbeamten beschlagnahmt werden, auch wenn sie nicht dem Beschuldigten gehören, vorausgesetzt, dass sie mit der ermittelten Straftat zusammenhängen (Art. 260). Beamte und andere Personen, denen, wenn auch vorübergehend, ein öffentliches Amt anvertraut worden ist, sind verpflichtet, wenn sie durch die Ermittlungsbeamten angefordert werden, Schriftstücke und jeden anderen Gegenstand, der sich in ihrem Besitz aufgrund ihrer Pflichten befindet, den Ermittlungsbeamten zu übergeben (Art. 261). Über die Erlangung von Daten gibt es keine besonderen Vorschriften in der grStPO. In Art. 13 (b) grStGB findet sich jedoch im Anschluss an die Definition des Schriftstücks die Formulierung: „Schriftstück ist auch jedes Mittel, das von einem Computer oder einem Teil eines Computersystems zur Beschreibung, Speicherung, Produktion oder Reproduktion von Daten auf elektronische, magnetische oder sonstige Weise, die nicht unmittelbar wahrnehmbar ist, gebraucht wird; sowie jedes magnetische, elektronische oder sonstige Material, auf dem jede Art von Information, Bild, Symbol oder Laut, selbständig oder in Verbindung mit anderen gespeichert wird, wenn diese Mittel und das Material den Zweck haben oder dazu geeignet sind, rechtlich relevante Tatsachen zu beweisen“. Auf so definierte „Schriftstücke“ können dann die oben erwähnten Bestimmungen über Gegenstände mutatis mutandis angewandt werden. Offensichtlich können alle Sachen, Schriftstücke und Daten, die sich in dem Besitz der Behörden des Vollstreckungsstaates befinden, Gegenstand einer EBA sein (Art. 4 Abs. 5 u. 6 RBEBA). 5. In Art. 4 Abs. 2 werden Beweismittel aufgezählt, die nicht mit einer EBA zu erlangen sind. Dazu gehören u.a. Vernehmungen, die Entgegennahme von Aussagen, die körperlichen Durchsuchungen, die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs, die Untersuchungen von Sachen sowie die Erlangung von Kommunikationsdaten usw. Man kann diese von der EBA nicht erfassten Beweismittel in zwei Kategorien einordnen: (a) Die erste Kategorie betrifft diejenigen Beweismittel, die noch nicht 13 Die grStPO enthält nur hinsichtlich des Augenscheins (Art. 180 –182), der Sachverständigen (Art. 183 – 208) und der Zeugen (Art. 209 –232) besondere Kapitel. Die übrigen Beweise können frei erhoben werden und sind keinen besonderen Formalitäten oder Verfahren unterworfen.

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konkret vorhanden sind, die aber in Echtzeit erlangt werden können, wie z.B. Vernehmungen, die Entgegennahme von Aussagen von Zeugen und Sachverständigen, die körperlichen Durchsuchungen und die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs. (b) Die andere Kategorie umfasst Beweise, die, obwohl sie schon vorhanden sind, nicht ohne weitere Nachforschung oder Analyse als Beweise nutzbar gemacht werden können, wie z.B. die Entnahme von Zellmaterial oder von biometrischen Daten unmittelbar vom Körper einer Person, einschließlich DNA-Proben und Fingerabdrücken. In diese Kategorie gehören auch die Fälle, in denen die bereits existierenden Sachen, Schriftstücke und Daten zum Gegenstand von Analysen gemacht werden sollen, insbesondere durch Sachverständige. 14 Die Anerkennung und die Zusammenarbeit hinsichtlich dieser Beweismittel sollen in einer späteren Phase geregelt werden. Die EBA soll ein erster Schritt in Richtung eines europäischen Beweistransfers sein, dem andere folgen sollen, so dass in Zukunft ein einziges Instrument über die Anerkennung und die gegenseitige Rechtshilfe in Bezug auf die Beweiserhebung in der EU entstehen wird. Bis dahin soll die EBA als Teilregelung neben den vorhandenen Rechthilfeverfahren gelten. Dieses Nebeneinander wird aber nur als eine vorläufige Lösung betrachtet (Präambel, Nr. 25). 15 Auch der Austausch von Informationen über strafrechtliche Verurteilungen aus Strafregistern erfolgt nun im Einklang mit dem Beschluss 2005/876/JI des Rates vom 21.November 2005 und anderen einschlägigen Rechtsinstrumenten. 16 III. Die Vorteile der EBA gegenüber den geltenden Regelungen Die Vorteile der EBA gegenüber den geltenden Regelungen kann man in folgenden Punkten zusammenfassen: (a) Die EBA wird durch die Verwendung eines einzigen Formblatts, das sich im Anhang des RBEBA befindet, vereinheitlicht. Dieses soll von der Anordnungsbehörde ausgefüllt und unterzeichnet werden. Dieselbe Behörde soll auch die inhaltliche Richtigkeit der EBA bestätigen (Art. 6 Abs. 1). Sie wird in der Amtssprache oder einer der Amtssprachen des Vollstreckungsstaats ausgestellt bzw. übersetzt. (b) Die Vollstreckungsbehörde erkennt eine nach Art. 8 übermittelte EBA ohne jede weitere Formvorschrift an und trifft – in der Regel – unverzüglich alle er14

Williams (vgl. oben Fn. 9), S. 72. Gegen die rechtssystematische Zersplitterung der strafrechtlichen Zusammenarbeit wurden im deutschen Bundestag Bedenken geäußert: Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) vom 29.9.2004 (KOM (2003) 688 edg.; Ratsdok. 15221/03), S. 4 und 6. 16 RBEBA Art. 4 Abs. 3. 15

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forderlichen Maßnahmen zu deren Vollstreckung in derselben Weise, in der eine Behörde des Vollstreckungsstaats die Sachen, Schriftstücke oder Daten erlangen würde (Art. 11 Abs. 1). Nach dieser Vorschrift obliegt es der Vollstreckungsbehörde, die Maßnahmen zu wählen, die nach ihrem nationalen Recht die Übermittlung der Beweise, die einer EBA unterliegen, sicherstellt (Art. 11 Abs. 2). Daher ist derselben Behörde überlassen zu entscheiden, ob es zu diesem Zweck erforderlich ist, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen. (c) Die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit wurde zum Teil vollständig, zum Teil für viele Straftaten bedingt aufgehoben; denn in einem sich angleichenden Rechtsraum verliert diese Voraussetzung an Bedeutung. Wenn keine Durchsuchung oder Beschlagnahme erforderlich ist, so soll nach Art. 14 Abs. 1 die Anerkennung oder die Vollstreckung der EBA nicht von der Überprüfung des Vorliegens dieser Voraussetzung abhängig gemacht werden. Ist aber zur Vollstreckung der EBA eine Durchsuchung oder Beschlagnahme erforderlich, so darf bei 32 Straftaten bzw. Straftatengruppen (Art. 14 Abs. 2) das Vorliegen der beiderseitigen Strafbarkeit nicht nachgeprüft werden, wenn eine weitere Voraussetzung vorliegt: Die Straftat, die die EBA betrifft, muss im Anordnungsstaat mit einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel von mindestens drei Jahren bedroht sein. IV. Schnelleres Verfahren Weil die Verfahren nach den geltenden Regelungen zu langwierig sind, sieht nun Art. 15 (vgl. auch Nr. 20 der Präambel) Fristen vor, binnen denen die EBA vollstreckt werden soll. Danach ist die Entscheidung, die Anerkennung oder die Vollstreckung einer EBA zu versagen, so bald wie möglich, jedoch spätestens 30 Tage nach ihrem Eingang bei der Vollstreckungsbehörde, zu treffen. Wenn die angeforderten Beweise sich nicht bereits im Besitz der Vollstreckungsbehörde befinden, soll diese sie innerhalb von 60 Tagen nach Eingang der EBA in Besitz nehmen (Art. 15 Abs. 3). Von einigen Ausnahmefällen abgesehen, (Art. 15 Abs. 5) sollen die erlangten Beweise dann ohne unnötige Verzögerung dem Anordnungsstaat übermittelt werden. V. Garantien zum Schutz von Grundrechten 1. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung soll nach den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Tampere (15 –16/10/1999) zum Eckstein der justiziellen Arbeit innerhalb der EU werden (Nr. 33). 17 Die gegenseitige Anerkennung setzt aber das gegenseitige Vertrauen voraus und das kann u.a. durch 17

EBA Präambel, Nr. 2.

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gemeinsame Verfahrensgarantien innerhalb des EU-Rechtsraums gefördert werden (vgl. Präambel Nr. 8). In der Präambel der EBA (Nr. 27) wird ausdrücklich erklärt, dass der Rahmenbeschluss im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die in Art. 6 des VEU und in der Charta der Grundrechte der EU, insb. Kapitel VI. anerkannt werden, steht. Außerdem hindere der RBEBA (Präambel Nr. 28) die Mitgliedstaaten nicht daran, ihre verfassungsmäßigen Regeln für ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren, die Vereinigungsfreiheit, die Pressefreiheit und die Freiheit der Meinungsäußerung in anderen Medien anzuwenden. Darüber hinaus enthält die EBA auch eine Reihe von besonderen Garantien, die den Anordnungsstaat und den Vollstreckungsstaat betreffen. 2. Im Anordnungsstaat sollen folgende Garantien beachtet werden: − Die EBA muss durch einen Richter, ein Gericht, einen Ermittlungsrichter oder einen Staatsanwalt bzw. eine andere vom Anordnungsstaat bezeichnete Justizbehörde 18 erlassen werden (Art. 2 c). − Der Grundsatz der Gleichwertigkeit mit dem nationalen Recht des Anordnungsstaates. Danach soll die Anordnungsbehörde eine EBA nur dann erlassen, wenn sie überzeugt ist, dass eine Beweiserhebung auf dem eigenen Hoheitsgebiet möglich wäre, auch wenn gegebenenfalls andere prozessuale Maßnahmen Anwendung finden würden (Art. 7 b). Diese Voraussetzung ist nötig, um zu verhindern, dass eine EBA dazu missbraucht wird, trotz entgegenstehenden nationalen Rechts die Beweise zu erlangen. Insbesondere zum Schutz von Berufsgeheimnisträgern darf das nationale Recht nicht durch eine EBA im Ausland umgangen werden. 19 − Die Anordnungsbehörde soll eine EBA nur dann erlassen, wenn sie sich vergewissert hat, dass die Erlangung der angeforderten Beweise für den Zweck des Verfahren notwendig und angemessen ist (Präambel Nr. 11 und Art. 7 a). 3. Auf der Seite des Vollstreckungsstaates werden die wichtigsten Garantien durch eine allgemeine Gleichstellungsklausel mit dem nationalen Recht (Art. 11 Abs. 2) gewährleistet. Es obliegt also dem Vollstreckungsstaat, die Maßnahme zur Vollstreckung einer EBA zu wählen, die nach seinem nationalen Recht die Übermittlung des Beweismittels gestattet. Dabei soll der Vollstreckungsstaat entscheiden, ob es zu diesem Zweck erforderlich ist, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen.

18 Vgl. AP (griechischer Kassationshof) Nr. 1735/2005, der in Bezug auf einen Europäischen Haftbefehl von Dänemark, das dänische Justizministerium auch als „Justizbehörde” anerkannt hat. Er hat dies damit begründet, dass die Bezeichnung der Ausstellungsbehörde als „Justizbehörde” nach dem Rechtssystem des Anordnungsstaates beurteilt werden soll. 19 Williams (vgl. oben Fn. 9), S. 75.

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Die Anwendung von Maßnahmen, die aufgrund der EBA notwendig werden, erfolgt nach dem geltenden Verfahren des Vollstreckungsstaates. Außerdem werden bestimmte Garantien auch in Verbindung mit den Gründen für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung einer EBA (Art. 13 Abs. 1) genannt. Das sind: (aa) Das Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem), (Art. 13 Abs. 1 (a)). (bb) Die Pflicht der Vollstreckungsbehörde, die am wenigsten einschneidenden Mittel zu verwenden, um die angeforderten Beweismittel zu erlangen (Präambel Nr. 12). (cc) Die Möglichkeit des Vollstreckungsstaates, eine EBA abzulehnen, wenn mit ihrer Anerkennung und Vollstreckung Vorrechte oder Immunitäten in diesem Staat verletzt würden (Präambel Nr. 17). (dd) Die Bestimmung, dass das Vorliegen der beiderseitigen Strafbarkeit nachgeprüft werden kann, wenn die Vollstreckung der EBA eine Durchsuchung oder Beschlagnahme erfordert und die EBA sich nach dem Recht des Vollstreckungsstaates auf Straftaten bezieht, die in der Liste von Art. 14 Abs. 2 nicht enthalten sind. (ee) Die Anerkennung oder die Vollstreckung ist zu versagen, wenn die EBA sich auf Handlungen bezieht, die in Art. 14 Abs. 3 erwähnt werden und nach dem Recht des Vollstreckungsstaates keine Straftat darstellen (Art. 13 Abs. 1 (b)). (ff) Nach dem Recht des Vollstreckungsstaates bestehende Immunitäten oder Vorrechte, die es unmöglich machen, die EBA zu vollstrecken (Art. 13 Abs. 1 (d)). (gg) Wird die EBA weder von einem Richter, Gericht, Ermittlungsrichter oder Staatsanwalt erlassen noch bestätigt, so kann die Vollstreckungsbehörde eine Erklärung abgeben, wonach eine Bestätigung von einer solchen Behörde erforderlich ist, weil in einem ähnlichen nationalen Fall die zur Vollstreckung der EBA erforderlichen Maßnahmen von einem Richter, Gericht, Ermittlungsrichter oder Staatsanwalt angeordnet oder überwacht werden müssten (Art. 11 Abs. 4 und 5). (hh) Der Schutz der im Zusammenhang mit der Umsetzung des RBEBA verarbeiteten personenbezogenen Daten richtet sich nach den einschlägigen Rechtsakten. In Nr. 24 der Präambel werden ausdrücklich die relevanten Übereinkommen des Europarats vom 24.1.1981 und Art. 23 des Übereinkommens der EU vom 29.5.2000 erwähnt. VI. Rechtsbehelfe 1. Entsprechend Nr. 21 der Präambel sollen die Gesetze jedes Mitgliedstaats Rechtbehelfe zur Anfechtung der sachlichen Gründe vorsehen, die dem Erlass

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der EBA zugrunde liegen. Die Anfechtung soll auch die Notwendigkeit und die Angemessenheit der Anordnung betreffen können. Diese Rechtsbehelfe können in den Mitgliedstaaten verschieden ausgestaltet und in unterschiedlichen Verfahrensabschnitten zulässig sein. Zur Wahrung der berechtigten Interessen sieht Art. 18 RBEBA die Möglichkeit aller betroffenen Parteien und gutgläubiger Dritter vor, gegen die Anerkennung und Vollstreckung einer EBA einen Rechtsbehelf einlegen zu können. Diese Möglichkeit soll vom Vollstreckungsstaat vor einem Gericht gewährt werden. Die sachlichen Gründe für den Erlass der EBA können nur vor einem Gericht des Anordnungsstaates angefochten werden (Art. 18 Abs. 2.). Das gilt auch für die Überprüfung der Notwendigkeit und Angemessenheit der Maßnahme. 2. Gemäß Art. 18 Abs. 4 kann ein Rechtsbehelf auch in dem Vollstreckungsstaat erhoben werden. In diesen Fällen ist die Justizbehörde des Anordnungsstaates zu unterrichten, damit sie die von ihr für wesentlich erachteten Argumente vorbringen kann. Diese Vorschrift scheint Art. 18 Abs. 2 zu widersprechen. Offensichtlich bezieht sich Art. 18 Abs. 4 aber auf andere Gründe als Art. 18 Abs. 2. Falls ein Rechtsbehelf vor einem Gericht des Vollstreckungsstaates mit den in Abs. 2 genannten Gründen erhoben wird, so ist er als unzulässig abzuweisen. 3. Auf Antrag des Staatsanwalts oder einer der Prozessparteien ist gemäß der allgemeinen Vorschrift des Art. 307 grStPO das beschließende Gericht im Vorverfahren u.a. in folgenden Fällen zuständig zu entscheiden: (a) wenn der Untersuchungsrichter annimmt, dass er einem Antrag der oben erwähnten Antragsteller nicht stattgeben soll; (b) wenn im Ermittlungsverfahren ein schwieriges Problem gelöst werden muss und (c) wenn Differenzen, die im Ermittlungsverfahren zwischen den Parteien oder zwischen diesen und dem Staatsanwalt aufgetreten sind, beigelegt werden müssen. Soweit das (noch nicht vorliegende) Umsetzungsgesetz zum RBEBA nichts anderes vorsehen wird, dann wird diese allgemeine Zuständigkeit auch für die in Art. 18 RBEBA vorgesehenen Rechtsbehelfe gelten. In den Fällen eines Europäischen Haftbefehls sind demgegenüber nach griechischem Recht das Oberlandesgericht als beschließendes Gericht und der Areopag in zweiter Instanz zuständig. 20 Beide Gerichte sind höhere Gerichte als das beschließende Gericht der ersten Instanz. In Art. 458 Abs. 3 grStPO ist vorgesehen, dass der Justizminister ein Ersuchen um Rechtshilfe aus Gründen abweisen kann, aus denen auch ein Auslieferungsantrag abgewiesen werden könnte, wenn sich das Oberlandesgericht dazu übereinstimmend geäußert hat. Diese Vorschrift könnte als Wegweiser für den Gesetzgeber des zukünftigen griechischen Umsetzungsgesetzes des RBEBA dienen, um einen Rechtsbehelf gemäß Art. 18 Abs. 1 vorzusehen, der beim Oberlandesgericht eingelegt werden könnte. 20

usw.

Art. 18 Abs. 2 und Art. 22, Gesetz Nr. 3251/2004 über den Europäischen Haftbefehl

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VII. Anerkennung der Beweise Dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Gerichtsentscheidungen entsprechend, sollen Beweise die aufgrund einer EBA entdeckt wurden, von den Gerichten des Anordnungsstaates anerkannt werden, auch wenn sie aufgrund eines Verfahrens erlangt wurden, das vom Verfahren dieses Staates verschieden ist. Immerhin sollen bei der Vollstreckung einer EBA die vom Anordnungsstaat ausdrücklich genannten Formvorschriften und Verfahren so weit wie möglich eingehalten werden. Die Anerkennung der Beweise im Anordnungsstaat kann aber auch durch folgende Vorschriften der RBEBA erleichtert werden: (a) Wenn die im RBEBA enthaltenen oben erwähnten (Abs. V) Verfahrensgarantien von den Mitgliedstaaten anerkannt und angewandt werden. (b) Durch die Anwendung der Grundsätze, die in Art. 4 Abs. 1 des Übereinkommens vom 29.Mai 2000 über die gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den EU-Staaten. Danach soll der Vollstreckungsstaat die Formalitäten und Verfahren anwenden, die ausdrücklich vom Anordnungsstaat verlangt werden. Von dieser Regel sind aber zwei Ausnahmen vorgesehen: Der Vollstreckungsstaat soll diese Formalitäten und Verfahren ausnahmsweise nicht anwenden, wenn dies in dem Übereinkommen bestimmt wird, oder wenn diese Formalitäten und Verfahren den Grundprinzipien des Rechts des Vollstreckungsstaates zuwiderlaufen. (c) Die zuständige Behörde im Anordnungsstaat soll, bevor sie eine EBA erlässt, überzeugt sein, dass sie die verlangten Sachen, Schriftstücke oder Daten erlangen könnte, wenn diese sich im Hoheitsgebiet ihres eigenen Mitgliedstaates befänden. VIII. Schlusswort Sobald der RBEBA in Kraft getreten ist, stellt er einen weiteren Schritt zur effektiveren europäischen Zusammenarbeit in Strafsachen dar. Der Weg zu einer Gesamtregelung einer solchen Zusammenarbeit ist damit aber noch lange nicht zu Ende. Die schwierigsten Teile einer solchen Gesamtregelung, insbesondere diejenigen, die Beweise betreffen, die mit Hilfe von Zwangsmaßnahmen erlangt werden können, müssen nun diskutiert werden. Die Erfahrungen aus der Anwendung des RBEBA werden sicherlich dazu beitragen, die Zusammenarbeit zwischen den EUMitgliedstaaten in diesem Bereich zweckdienlich zu regeln und die Unionspolitik im Bereich der Justiz fortzuentwickeln.

„Schauspiel“ im Gericht – Reflexionen aus polnischer Sicht Stanisław Walto´s 1. Im Gericht gibt es zwei Arten eines „Schauspiels“. Die erste Art erscheint, indem man eine Pose annimmt, eine psychische, den Gesichtsausdruck verändernde Maske aufsetzt, seine Bewegungen mit Würde vollführt, lockere Gebärden und mutwillige Worte vermeidet. Es mag auch umgekehrt sein – man verkörpert einen einfachen, in den Augen der Anderen freundlichen Menschen, man bedeckt sein Antlitz mit Milde, die gleichzeitig auf die Stimme übertragen wird. Wie begabt ist der Mensch in seiner Fähigkeit, den Nächsten zu täuschen, und wie lange kann er diese Rolle durchhalten? Ich erinnere mich sehr gut an einen Richter, der seine Maske allzu rasch verloren hat. Während eines Zivilgerichtsverfahrens wollten beide Parteien nicht zu einer Absprache kommen. Wie es in solchen Fällen üblich ist, war ein mühsames Beweisverfahren unentbehrlich. Die Parteien waren überhaupt nicht dazu geneigt, Freundlichkeit und Milde zu zeigen. Plötzlich ordnete der Richter eine Pause an, stand auf und ging in das Beratungszimmer. Er nahm die Kette ab, warf sie auf den Tisch und rief, der geöffneten Tür ungeachtet, die Worte aus: „Zur Hölle mit diesen Querulanten!“ Das „Schauspiel“ bricht also in sich selbst zusammen, wenn die Projektion der Persönlichkeit auftaucht, wenn die Natur nicht länger bezähmt werden kann. Eine hieratische Pose des Gerichts endet nicht nur bei einem Aufruhr im Gerichtssaal; dafür genügt schon eine hartnäckige Fliege, die auf der Nase des Richters landen will, oder auch eine verwirrte Maus unter dem Tisch der Richterin. Die zweite Art des „Schauspiels“ ist das in Bewegung gesetzte zeremonielle Ritual, d.h. eine von vornherein festgelegte Ordnung, die Tätigkeiten mit Attributen der Würde oder der Funktion verbindet. Das Zeremoniell ist nicht einfach eine beliebige Verhaltensordnung. Vielmehr wird diese Ordnung von der Tradition, einem Vertrag oder Entschluss erzwungen. Das Gericht ohne Zeremoniell gleicht dem Windhund ohne Schweif in einem Gedicht von Mickiewicz. Seit den Anfängen der institutionellen Gerichte bedienten diese sich des Zeremoniells. Die folgenden drei Merkmale des gerichtlichen Zeremoniells sind besonders deutlich erkennbar: a) die fein angeordnete Folge der

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Tätigkeiten, die aus anderem Standardverhalten deutlich hervorgehoben werden, wobei die Erhöhung des Gerichts über andere Verfahrensteilnehmer, das Zeigen von Macht und Weisheit sowie das Hervorrufen psychischer Erwartungen, und zwar eines Glaubens an die gerechte Lösung, eine wesentliche Rolle spielen; b) die im Voraus bestimmte Zeit und der im Voraus bestimmte Ort, wann und wo Gerechtigkeit geübt wird; c) Attribute der Funktion, in manchen Fällen auch der Stellung des Richters, d.h. seiner Würde. 2. Versuchen wir deshalb, unsere Aufmerksamkeit auf die Merkmale des gerichtlichen Zeremoniells zu lenken, wobei wir eher zu einer freien Reflexion als zu einer gründlichen Besprechung neigen. Vielleicht wird in der Zukunft diese Besprechung jemanden dazu inspirieren, dieser Frage eine umfangreiche, ordentlich belegte Arbeit zu widmen? Es gehört sich, in der Zeit des alten Griechenland anzufangen. In Griechenland empfahl das Gewohnheitsrecht manchem Gericht, zu äußerst ungewöhnlichen Tageszeiten Recht zu erkennen. Die Heliaia, das Gericht der Heliasten, urteilte nur bei Tageslicht und niemals nach Sonnenuntergang. Der Areopag war, im Gegensatz dazu, nur in der Nacht tätig, die Morgendämmerung schloß die Verhandlung ab. In der römischen Republik urteilten die Gerichte im Forum nur zu einer im Voraus bestimmten Zeit. Wie war es im barbarischen Europa? K. Modzelewski hat auf die „Rachinburgen“ 1 hingewiesen, die eher als Schöffen denn als eine Jury urteilten. Sie saßen auf dem Versammlungsplatz an einer abgesonderten Stelle (rachinburgi in mallobergo sedens) und mit Waffengeklirr offenbarten sie ihre Entscheidung. Im Laufe der Geschichte wurde das gerichtliche Ritual immer mehr ausgearbeitet. Die auszusprechenden Formeln, mit denen man den Anfang und das Ende einer Gerichtsverhandlung verkündete, die Eintritts- und Austrittsreihenfolge, die Form der Urteilsverkündigung, die Teilnahme verschiedener Gerichtsboten und Sekretäre am Prozess bestimmten das Gerichtsritual. Die Bewegungsfolge, Wortformeln, Reihenfolge der Verbeugungen veredelten das Gericht und bewegten Zuschauer und Parteien dazu, Ernst und Angst vor dem strafenden Arm der Gerechtigkeit zu fühlen. In den common-law-Ländern fehlte es niemals an einem Zeremoniell, aber auch nicht in denjenigen Ländern, in denen das Rechtswesen vom Code Napoleon beeinflusst wurde. Selbst in Ländern eines revolutionären Geistes, wo das Recht des alten Regimes verachtet wurde, fehlte es nicht an einem Gerichtsritual. Das Ritual erkennt man auch noch in den polnischen Gerichten, wenn auch ihre Ohnmacht es abgeschwächt hat. Es gibt keine Weibel mehr, die früher riefen: „Aufstehen, es kommt das Gericht“ und laut darüber informierten, welches Gerichtsverfahren gleich beginnen werde. Gegenwärtig spielen die als Weibel 1

K. Modzelewski, Barbarzy´nska Europa, Warszawa „Iskry“ 2004, S. 51.

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angestellten Frauen eine andere Rolle. Alle Personen im Gerichtssaal werden dazu aufgerufen aufzustehen, wenn das Gericht sein Urteil verlesen will. Es werden aber die Birette nicht mehr abgesetzt, was früher das Zeichen dafür war, dass man sich während der mündlichen Erklärung der Urteilsmotive setzen darf. Alle, die in die Realien des polnischen Gerichtswesens eingeweiht sind, kennen den Grund – es gibt keine Birette mehr. Sie sind nur im Obersten Gericht und den Berufungsgerichten erhalten geblieben. Alle Personen im Saal stehen noch auf, wenn der Eid eines Zeugen gehört wird. Das geschieht jedoch immer seltener, weil der Eid der Zeugen und Gerichtssachverständigen als altmodisch gilt, seit man seine Gültigkeit allgemein und mit Recht bezweifelt. 3. Von Gerichtsgebäuden. Bezeichnungen, wie „Justizpalast“, „Pallazzo di justizia“ sind allgemein bekannt, sie sind jedoch für Frankreich und andere romanische Länder typisch. In Deutschland sowie in anderen Ländern, die in der germanischen Kultur wurzeln, sind sie selten anzutreffen. Selbst wenn man in einer deutschen Stadt, z.B. in Berlin-Moabit vor einem riesigen, noch in der Wilhelminischen Ära errichteten Gebäude steht, hört man, es sei lediglich ein „Justizgebäude“. Von „Justizpalästen“ wird nicht gesprochen. Wie sieht es in Polen aus? Kann man hier irgendein von Gerichten verwendetes Gebäude „Justizpalast“ nennen? Sogar die Gerichtsgebäude von erheblicher Größe, wie z.B. das Warschauer Gerichtsbauwerk an der Leszno-Straße, der heutigen Solidarno´sc´ -Allee, oder der moderne, im Stil des Art Déco errichtete Gerichtsbau in Gdynia, verdienen diesen Namen nicht, ganz zu schweigen von dem lächerlichen, ausdruckslosen Gerichtsgebäude in Krakau. Niemand wagte es, selbst die Sitze der königlichen Gerichtshöfe in Lublin und Piotrków sowie den Sitz des litauischen Gerichtshofes in Vilnius „Justizpaläste“ zu nennen. Niemand wagte es aus zwei Gründen. Der erste Grund war eine anständige Semantik. Was in den oben genannten Gebäuden geschah, hatte mit Justiz im elementarsten Sinne wenig zu tun. Man braucht dazu „Mit Recht und Unrecht“ von Łozi´nski nicht zu lesen. Es reicht aus, Werke wie „Beschreibung der Sitten in der Regierungszeit von August III.“ von Je˛drzej Kitowicz oder die Tagebücher von Matuszewicz und Karpi´nski zu kennen, um sich ein Bild vom polnischen Gerichtswesen machen zu können. Wirrwarr, Protektion, Nepotismus und Korruption beherrschten die Justiz der polnischen Adelsrepublik völlig. Der Sprachinstinkt ist in manchen Fällen das beste Mittel, um zu prüfen, inwiefern der offizielle Name mit der sozialen Aufnahme und den Realitäten des Alltagslebens übereinstimmt. Zweitens könnte man nur mit außerordentlicher Phantasie derartige Beispiele bedauernswerter Architektur als „Paläste“ bezeichnen. Der Mangel an öffentlichen Geldern hat in dem damaligen Polen seine Rolle gespielt. Nur im Fall derjenigen Stadtgerichte, die nach dem deutschen Recht geurteilt hatten, blieben anständige Gerichtssäle, vor allem in Rathäusern, als ihr Erbe übrig. Ich empfehle eine Reise nach Danzig und Posen. Das städtische Gerichtswesen verfügte aber nicht über selbstständige Gebäude.

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Das einzige schon von Anfang an als ein Justizpalast entworfene Gerichtsbauwerk ist das neue Gebäude des Obersten Gerichts, das sich am Krasi´nski-Platz in Warschau befindet. Eine Kolonnade, lateinische Sentenzen, eine auffallende, mildgrüne Färbung der Fassade und des Inneren, das bronzene, sich langsam und automatisch vor dem Eintretenden öffnende Tor, Reichtum an Glas und Raum; dies alles ist eine Mahnung, dass in diesem Gebäude Justiz auf höchstem Niveau gepflegt wird. Auch in diesem Fall ist jedoch nicht alles gelungen. Man braucht nur das Gebäude zu betreten und sich die Flure mit den an den Wänden befestigten „Schuppen“ anzuschauen, um die Gemütlichkeit anderer polnischer Gerichte zu fühlen. Gerhart Laage benannte einst Gerichtsgebäude als „Bollwerke der Einschüchterung“ 2. Mit Recht, aber ausschließlich im Falle richtiger Bollwerke. Ein abgenutzter, schmutziger Gerichtsbau mit ausdrucksloser Fassade schüchtert niemanden ein. Da hilft auch ein sichtbares Schild – mit dem unvermeidlichen Staatswappen und den unvermeidlichen Farben Weiß und Rot – am Eingang nichts, das genaue Auskunft über das Gericht gibt. In Frankreich hat sich eine eigentümliche Bauform der gerichtlichen Architektur herausgebildet, nämlich der „palais de justice“. Ihre Kennzeichen: ein großer klassizistischer Portikus mit zumindest vier Kolonnaden, mit vielen Treppen, die von einer Straße, oder eher einem Platz, nach oben hinaufführen. Am Tympanon sieht man eine Skulptur, die Themis oder eine Allegorie der Gerechtigkeit darstellt. Eine vor Gericht geladene Person soll mit Respekt die Treppen hinaufsteigen. Das Respektsgefühl soll dann im Inneren noch verstärkt werden. In einem klassischen „palais de justice“ gibt es eine geräumige, zumindest zweistöckige Halle. Sie soll der Justiz Respekt verschaffen, sie soll „in die Knie zwingen“. Die Architektur des Gerichtsaals verdient ihre eigene Besprechung. Ihre Einteilung soll die Kommunikation der Menschen erleichtern und einen jeden auf seinen entsprechenden Platz hinweisen. Damit gehört sie aber auch in die Reihe der gerichtlichen Symbole. Das erste von ihnen ist das Richterpodium. Es muss möglichst hoch sein, damit der Richter sichtbar ist und er den gesamten Saal im Blick hat. Seine Erhöhung stellt dementsprechend die Hierarchie fest, indem sie die Erhabenheit des Richters über andere Verfahrensteilnehmer symbolisiert. Der darauf stehende, lange Tisch ähnelt einem Altaraufsatz. An dem mit einer blauen oder violetten Decke belegten Tisch stehen einige Stühle für die Richter; der in der Mitte stehende Stuhl belehrt durch seine Größe darüber, wo die wichtigste Person sitzt. Bis 1990 saß nach dem französischen Brauch der Staatsanwalt am Tisch rechts vom Richter. Das Napoleonische Modell der Staatsanwaltschaft beruht auf dem Grundsatz, dass 2

G. Laage, „Bollwerke der Einschüchterung“, in: R. Wassermann (Hrsg.), Menschen vor Gericht, Neuwied und Darmstadt, Luchterhand 1979, S. 169.

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der Staatsanwalt im Gerichtsverfahren nicht eine Partei, sondern den Staat selbst vertritt. Der Staatsanwalt ist zur Erfüllung der Pflicht berufen, das Recht zu schützen, das von seiner persönlichen Meinung über den Angeklagten frei sein soll. Da seine Rolle mit der anderer Parteien unvergleichbar ist und da er ein Vertreter des Staates ist, genießt er das Recht, auf derselben Höhe wie der Richter zu sitzen. Der Richtertisch steht auf einem mit Parkettboden belegten Podium, weshalb die Staatsanwaltschaft in Frankreich umgangssprachlich „le parquet“ genannt wird. Eine derart hervorgehobene Position des Staatsanwalts ist sowohl in französischen als auch in deutschen Gerichten erhalten geblieben. Am 1. Oktober 1991 ist es in Polen zu einer „Entpodiumisierung“ der Staatsanwaltschaft gekommen. Der Staatsanwalt verließ seinen Sitz am Richtertisch und setzte sich dem Angeklagten gegenüber. Die sogenannte Regel der Waffengleichheit, eine Grundlage des Parteiprozessprinzips, überwog andere Regeln. Auf der einen Seite bleiben der Angeklagte mit seinem Strafverteidiger, auf der anderen der Staatsanwalt, der Hilfs- und Privatankläger sowie der Kläger. Der gemeinsame Boden und die Gegenüberstellung der Seiten sind das Symbol der Gleichberechtigung der Subjekte im Verfahren. Fast in allen europäischen Ländern wurde vor das Gericht eine Schranke gestellt. Hinter der Barriere steht der Zeuge, der dem Publikum mit dem Rücken zugewandt ist, wo man von der Wahrheit seiner Aussage weiß, und der sein Gesicht auf das Gericht richtet, das die Wahrheit seiner Worte erforschen muss. Schon vor vielen Jahren hat Mieczysław Szerer bemerkt, dass man Schwierigkeiten hat zu lügen, wenn man denjenigen in die Augen sieht, die die Wahrheit schon kennen 3. Zu Gunsten der gerichtlichen Autorität verschenkt man eine Möglichkeit der sozialen Überprüfung. Die polnische Straf- und Zivilprozedur bestimmt aber eine solche Position des Zeugen nicht. Wenn man schon den Staatsanwalt vom Richterpodium herunternehmen konnte – eine Durchführungsverordnung war ausreichend –, könnte nicht auch der Zeuge seitlich vom Richter auf einem Stuhl sitzen, damit er die Zuschauer im Gerichtssaal und den Fragenden sehen kann? Abschließend noch einige Worte zu Attributen und Talaren. Mit diesem Thema beschäftigt sich die Rechtsarchäologie. Lassen wir verschiedene, mit dem gerichtlichen Ritual verbundene historische Gegenstände beiseite. In Polen gab es einst viele Stöcke der Kämmerer, die als Richter in Grenzstreitigkeiten urteilten, Stäbe der Weibel, Insignien sowie Richterketten. Im Gegensatz zu amerikanischen Gerichten benutzte niemand einen Hammer. Heute ist die Richterkette das einzige Attribut. Die Kette mit dem Adler und den Buchstaben RP wird nur von dem Vorsitzenden eines Kollegialgerichts sowie von einem Richter angelegt, der in einem Gerichtsverfahren selbstständig urteilt.

3

M. Szerer, Kultura i prawo, Warszawa 1983, S. 105.

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Eine weitere Untersuchung der Attribute würde den Rahmen einer kurzen Skizze zu weit überschreiten. Ich kann nur die Aufmerksamkeit des Lesers auf das bekannte Buch von Witold Maisel lenken 4. Im gesamten Europa werden von Richtern Talare getragen. In der Regel sind sie schwarz, aber man sieht auch rote Talare, z.B. in einigen höheren Gerichten in England, Frankreich, Italien und Deutschland. Oft sind sie mit farbigen Jabots, Borten, phantasievollen Mozetten und verschiedenen Tressen verziert. Darüber hinaus werden in Frankreich an Talare kotillonartige Epitogia angehängt. In den Ländern hinter dem eisernen Vorhang gab es keine Talare, sie wurden in den sog. Volksrepubliken abgeschafft, da man in ihnen Symbole der bürgerlichen Justiz sah. Die einzige Ausnahme bildete Polen, das Land des glücklicherweise mangelnden Perfektionismus. Nach dem „Herbst der Völker“ finden Talare nun wieder in Ungarn, der Slowakei, Tschechien, Rumänien und Bulgarien Verwendung. Sie werden darüber hinaus im Baltikum und selbst in den ehemaligen Sowjetrepubliken, auch in Russland, getragen. Der Richter verbirgt sich hinter dem Talar, wodurch er seine Funktion im Gericht zum Ausdruck bringt. Seine Privatsphäre verschwindet, er wird als eine andere Person über das gemeine Alltagsleben emporgehoben. Ein Talar bedeckt das raffinierte Kleid der Richterin oder die dürftige Bekleidung des Richters, der insgeheim seine Krawatte zu Hause im Schrank hängen ließ. Der polnische Talar ist schwarz, faltenreich, knielang, mit langen und breiten Ärmeln, mit einem Jabot, das leider nicht immer zugeknöpft ist. Bis vor Kurzem setzte man sich auch das schwarze Barett mit entsprechenden Borten auf. Solche Barette sind gegenwärtig nur im Obersten Gericht und in Berufungsgerichten erhalten geblieben. In einem Gericht sind Richter, aber auch andere Teilnehmer togati. Schwarze Talare werden pflichtgemäß auch von Staatsanwälten, Anwälten und Rechtsberatern getragen. Sie unterscheiden sich zwar nicht durch ihren Schnitt, aber durch eine bestimmte Farbe der Jabots und durch die Borten: violette Farbe der Richter, das Rot der Staatsanwälte, das Grün, früher das Schwarz, der Anwälte, schließlich das Blau der Berater. Die Idee scheint nicht schlecht zu sein. Die Farbe soll die Anund Abwesenheit der Teilnehmer im Gerichtssaal betonen. Das Rot der Anwälte, ihrer Jabots und Borten, asoziiert man mit der gefährlichen Macht und Obrigkeit, das Bischofsviolet der Richter mit der Entscheidung. Die weitere Auswahl der Farben war beliebig und Assoziationsmöglichkeiten hören auf. Nach dem zweiten Weltkrieg nahmen alle Talare in Polen die gleiche Form an, im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern. Das Oberste Gericht hat sich jedoch kürzlich neue Talare angeschafft. Der Schnitt ist zwar unverändert 4

W. Maisel, Archeologia prawna Polski, PWN 1982, passim.

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geblieben, aber die Borten wurden blau und dazu viel breiter. Die Jabots wurden freilich nicht verändert. Warum legte man Wert darauf, dass die würdigen Richter des Obersten Gerichts wie höhere Rechtsberater aussehen? Es ist hingegen als ein Missverständnis anzusehen, dass seit einigen Jahren Schöffen auch Richtertalare tragen müssen. Man war der Meinung, dass die Bekleidung der Richter und Schöffen wegen der gleichen Berechtigung und Pflichten vereinheitlicht werden sollte. Das ist jedoch eine falsche Ansicht. Die Schöffen vertreten die Gesellschaft im Gerichtswesen. Wie kann denn ein Laie die Schöffen am Richtertisch erkennen? Je schneller man ihnen die Talare abnimmt, desto klarer wird die Kommunikation der Gerichtssymbole. Ein ähnlicher Fehler ist die Pflicht der Richter und Schöffen im Militärgerichtsverfahren, Talare zu tragen. Man hat es in diesem Fall mit doppelter Bekleidung zu tun. Zuerst tragen sie, Soldaten und Offiziere, Militäruniformen, dann ziehen sie auch noch Talare darüber. Das Gericht bleibt trotzdem eine militärische Instanz. Auf diese Weise werden wiederum nur die Zuschauer irregeführt. 4. Gegenwärtig urteilt das Gericht, ehe noch das Verfahren beginnt. Es wächst die Anzahl der Fälle, die durch gelungene Vermittlung gelöst werden, oft werden Befehle und Strafbefehle erlassen, auch Absprachen im Gerichtsverfahren sind allgemein verbreitet. Was sollte man über viele Fälle sagen, wenn das Gericht die Funktion einer Registerbehörde ausübt? Man vermeidet das Zeremoniell ebenso in Familienverfahren, besonders im Fall von Minderjährigen. Dies lässt den Schluss zu, dass nur in wenigen Fällen überhaupt ein Gerichtsverfahren eröffnet wird. Kommt demnach das „Schauspiel“ im Gericht zum Erliegen? Wahrscheinlich nicht. Es wird noch viel vom „Schauspiel“ der menschlichen Psyche übrig bleiben. Eine mehr oder weniger intensive, psychische Maske wird die Entscheidungen des Gerichts begleiten, solange es ein Gericht und der Richter ein Mensch bleibt, des unbekümmerten Benehmens in der modernen Welt ungeachtet. Das zeremonielle „Schauspiel“ verschwindet allmählich, es hört aber nicht auf, weil der visuelle Rahmen ein unentbehrlicher Teil der Gerichtsverhandlung bleibt. Die zahlreichen, im gesamten Europa durchgeführten Absprachen haben dazu beigetragen, dass viele Fälle außerhalb des Gerichtssaals geklärt werden. Es bleiben jedoch ganz gewiss Gerichtsverhandlungen in Fällen der schweren Verbrechen. Ihre Zahl wird so hoch sein, dass die Gesellschaft das gerichtliche Zeremoniell nicht vergisst. Die Fernsehsender werden zumindest Auszüge in spektakulären Fällen zeigen.

VIII. Zum Zivil- und Wettbewerbsrecht

Zur Entwicklung des deutsch-polnischen Rechtsverkehrs in Zivilsachen Dieter Martiny I. Einführung Zu denjenigen, die sich durch eine profunde Kenntnis auch der Rechtsordnung ihres Nachbarlandes auszeichnen und sich nicht nur um die deutsch-polnische Juristenausbildung, sondern auch um die europäische und internationale Zusammenarbeit besonders verdient gemacht haben, gehört zweifellos Andrzej J. Szwarc. Ihm sei daher die nachfolgende Studie zu einigen Fragen des deutsch-polnischen Rechtsverkehrs in Zivilsachen gewidmet. Diese Beziehungen sind – wie bei zwei Nachbarstaaten auch nicht anders zu erwarten – besonders intensiv. Das liegt nicht nur an den ausgedehnten Wirtschaftsbeziehungen, sondern auch an der großen Zahl von polnischen Staatsangehörigen und Migranten in Deutschland. Angehörige der deutschsprachigen Minderheit in Polen sind zudem häufig Doppelstaater und halten sich oft in anderen Ländern auf. Gerade für diese Gruppe ist das reibungslose Funktionieren des sich entwickelnden europäischen Justizraums von großer Bedeutung. Auch heute fallen auf das Gebiet des zwischenstaatlichen Rechtsverkehrs manchmal noch einige Schatten einer düsteren Vergangenheit. Die Zusammenarbeit im europäischen Rechtsraum bietet beiden Staaten neue Chancen, stellt sie aber auch immer wieder vor neue Herausforderungen. Dass es dabei um Konflikte, vor allem privater, teilweise aber auch staatlicher Natur, geht, versteht sich von selbst. Die professionelle Lösung der dabei auftauchenden Fragen ist der beste Garant dafür, dass auf diesem Terrain nicht allgemeinoder gar parteipolitische Interessen, Empfindlichkeiten und Emotionen die Regie übernehmen, sondern fachlich routinierte Zusammenarbeit dominiert. Die heutige rechtliche Situation ist daher zwar komplex, aber auch ein Beispiel für das Zusammenspiel von europäischen, internationalen und nationalen Normen 1.

1 Siehe Gralla, „Polen“, in: Geimer / Schütze (Hrsg.), Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen V (Loseblatt Stand 2008), ferner Botschaft der Bundesrepublik Deutschland – Ambasada Republiki Federalnej Niemiec, Hinweise zur Rechtsverfolgung in Zivil- und Handelssachen und über Zustellungen im Ausland (Stand: Mai 2008), im Internet zugänglich. – Für die Hilfe bei der Vorbereitung dieses Beitrags danke ich meiner wiss. Mitarb. Stefanie Raschke.

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II. Rechtsquellen Auch aus deutscher Sicht bedeutete es einen tiefen Einschnitt, dass Polen seit dem 1.5. 2004 Mitglied der Europäischen Union ist 2. Für Polen gelten seither ebenso wie für Deutschland die europäischen Vorschriften des Primär- und Sekundärrechts. Daher sind nunmehr viele Fragen nicht anders geregelt als im Verhältnis zu den anderen EU-Staaten. Dabei handelt es sich zunächst einmal um den gegenwärtigen EG-Vertrag. In beiden Staaten ist der Ratifikationsprozess für den Reformvertrag, den Vertrag von Lissabon 3, noch nicht abgeschlossen. Im Privatrechtsverkehr kommen vor allem die europäischen Verordnungen, aber auch einige umgesetzte europäische Richtlinien zur Anwendung 4. In Deutschland ist das verfahrensrechtliche Normengeflecht mithilfe der im Internet zugänglichen, aber nur eine Verwaltungsanweisung enthaltenden Rechtshilfeordnung für Zivilsachen (ZRHO), die auch Länderteile enthält, ermittelbar 5. Im Bereich der internationalen Zuständigkeit, der Anerkennung und Vollstreckbarerklärung in Zivil- und Handelssachen galt schon seit dem 1.2. 2000 vor dem EU-Beitritt für Polen das Lugano-Übereinkommen (LugÜ) 6. Das für das Verhältnis der EU zum Europäischen Wirtschaftsraum gedachte Luganer Übereinkommen ist eine Weiterentwicklung des Brüsseler Übereinkommens über die internationale Zuständigkeit und Anerkennung von 1968 7. Polen konnte aufgrund 2

Ernst / Spyra, Internationales Privat- und Verfahrensrecht, in: Liebscher / Zoll (Hrsg.), Einführung in das polnische Recht (2005) S. 377 (388f.); Heiss, Justizkooperation mit Polen – Lugano- und EU-Beitritt, in: Trunk (Hrsg.), Rechts- und Amtshilfe im Ostseeraum (2005) S. 49ff.; Schubert-Panecka, Die Europäisierung des internationalen Zivilverfahrensrechts in Polen – Lugano-Übereinkommen und EuGVO (2006) S. 7ff. 3 Siehe konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. EU 2008 C115; Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13.12.2007, ABl. EU 2007 C306. 4 In Deutschland befinden sich die Vorschriften im 11. Buch der Zivilprozessordnung über die Justizielle Zusammenarbeit in der Europäischen Union (§§1067ff. ZPO). 5 Rechtshilfeordnung für Zivilsachen (32. Ergänzungslieferung Nov. 2007), http://www .datenbanken.justiz.nrw.de/pls/jmi//ir_start. 6 Übereinkommen von Lugano über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 16.9.1988, BGBl. 1994 II 2658, Bekanntmachung BGBl. 2000 II 1246 (Konwencja o jurysdykcji i wykonywaniu orzecze´n sa˛dowych w sprawach cywilnych i handlowych, sporza˛dzona w Lugano dnia 16 wrze´snia 1988 r., Dziennik Ustaw (Dz.U.; polnisches Gesetzblatt) 2000 Nr. 10 Pos. 132). Siehe dazu Hohloch, Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung im deutsch-polnischen Rechtsverkehr, DPJZ 2001, 6ff.; Martiny / Ernst, Der Beitritt Polens zum Luganer Übereinkommen, IPRax 2001, 29ff.; Trzeciakowska, Das Lugano-Übereinkommen – Anerkennung und Vollstreckbarerklärung ausländischer Urteile in Polen, WiRO 2000, 404ff.; Wagner, Zum Inkrafttreten des Lugano Übereinkommens für die Republik Polen, WiRO 2000, 47ff.

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der Ratifikation bereits vor dem EU-Beitritt an der Anwendung der europäischen Regeln partizipieren. Seit dem EU-Beitritt stehen im deutsch-polnischen Verhältnis die europäischen Verordnungen im Vordergrund. Vor allem gilt auch für Polen für die internationale Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung in Zivil- und Handelssachen die Brüssel I-Verordnung 8 (EuGVO), welche gem. Art. 54b LugÜ i.V. mit Art. 68 Abs. 2 Brüssel I-VO an die Stelle des LugÜ getreten ist. Die Entwicklung des europäischen Zivilprozessrechts schreitet weiter voran. Zum 12.12.2008 ist alternativ zum deutschen Mahnverfahren (vgl. §§688ff. ZPO) ein vergleichbares europäisches Verfahren eingeführt worden, das mithilfe eines Europäischen Zahlungsbefehls in grenzüberschreitenden Fällen eine rasche und kostengünstige Beitreibung unbestrittener Forderungen im EU-Raum ermöglichen soll 9. Zur Anwendung kommt auch die Europäische Verordnung über das Verfahren für geringfügige Forderungen (EuBagatellVO) 10. Damit steht in Deutschland neben dem vereinfachten Verfahren nach §495a ZPO (Streitwert bis zu 600 Euro) und ergänzend zum Mahnverfahren ein streitiges Verfahren für die beschleunigte grenzüberschreitende Durchsetzung von Forderungen mit einem geringen Streitwert 11 zur Verfügung. In Familiensachen ist nur teilweise eine Vereinheitlichung erfolgt 12. Die internationale Zuständigkeit sowie die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen (Ehescheidung und Ehetrennung) und für Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung (Sorgerecht, Umgangsrecht, aber auch Kindesentführung) regelt die Brüssel IIa-Verordnung 13. Als deutsches Ausführungsgesetz dazu gilt das Internationale Familienrechtsverfahrensgesetz von 2005 14. 7

Übereinkommen vom 27.9.1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, konsolidierte Fassung ABl. EG 1998 C27/1. 8 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. EG 2001 L12/1). 9 Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 12. 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens (EuMahnVO; ABl. EU L399/1). Deutsche Durchführungsbestimmungen in §§1087ff. ZPO. 10 Verordnung (EG) Nr. 861/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.7.2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen (ABl. EU 2007 L199/1). Ausgenommen ist beispielsweise das „Unterhaltsrecht“ nach Art. 2 Abs. 2 lit. b. Deutsche Durchführungsbestimmungen in §§1097ff. ZPO. 11 Zur Zeit bis zu 2.000 Euro. 12 Näher Martiny, Die Entwicklung des Europäischen Internationalen Familienrechts – ein juristischer Hürdenlauf, FPR 2008, 187ff. 13 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27.11.2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/ 2000 (ABl. EU 2003 L338/1).

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Das internationale Insolvenzrecht unterliegt weitgehend der Europäischen Verordnung über Insolvenzverfahren vom 29.5.2000 15. Die Verordnung wird in Deutschland durch nationale Durchführungsbestimmungen ergänzt 16. Auf die Verordnungen zu Zustellung und Beweisaufnahme ist noch gesondert einzugehen (unten IV, V). Sowohl in Deutschland als auch in Polen haben die staatsvertraglichen Regeln Vorrang vor dem unvereinheitlichten internationalen Zivilprozessrecht 17. Zu beachten ist zunächst einmal eine Reihe internationaler Übereinkommen 18, wobei die Haager Konventionen aufgrund der europäischen Verordnungen regelmäßig in den Hintergrund treten. Zu nennen ist zunächst das Haager Übereinkommen über die Zustellung von 1965 19. Diese Konvention, die in Polen seit dem 1.9.1996 in Kraft ist 20, ist für ihre Vertragsstaaten an die Stelle der Art. 1 –7 des Haager Zivilprozessübereinkommens von 1954 getreten 21. Das Haager Zivilprozessübereinkommen von 1954 gilt seit 1963 im deutsch-polnischen Verhältnis 22. Dieses Übereinkommen wird ergänzt durch eine bilaterale Vereinbarung, die deutsch14 Gesetz zur Aus- und Durchführung bestimmter Rechtsinstrumente auf dem Gebiet des internationalen Familienrechts (Internationales Familienrechtsverfahrensgesetz – IntFamRVG) vom 26.1.2005 (BGBl. 2005 I 162), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 17.4.2007 (BGBl. 2007 I 529). 15 Verordnung 1346/2000 des Rates vom 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. EG 2000 L160/1. 16 Siehe Art. 102ff. Einführungsgesetz zur Insolvenzordnung (EGInsO) 5.10.1994 (BGBl. 1994 I 2911). 17 Art. 91 Abs. 2 poln. Verfassung. Zu Art. 1096 poln. Zivilverfahrensgesetzbuch (ZVGB; Gesetz v.17.11.1964, Dz. U. 1964, Nr. 43, Pos. 296) siehe Sawczuk, Internationales Zivilprozessrecht in Polen, in: Einheit und Vielfalt des Rechts – FS für Geimer S. 921. In Deutschland §97 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG). 18 Siehe die Überblicke über die Staatsverträge bei Gralla (ob. Fn. 1), S. 2f.; Sawczuk FS für Geimer (2002) S. 921ff. sowie bei Grali´nski, Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen in Polen nach dem Beitritt zur Europäischen Union, in: Kengyel / Rechberger (Hrsg.), Europäisches Zivilverfahrensrecht – Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven nach der EU-Erweiterung (Wien 2007) S. 153ff. 19 Haager Übereinkommen vom 15.11.1965 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen (BGBl. 1977 II 1452), Bekanntmachung BGBl. 1996 II 2531 (Konwencja o dore˛czeniu za granica˛ dokumentów sa˛dowych i pozasa˛dowych w sprawach cywilnych lub handlowych, sporza˛dzona w Hadze dnia 15 listopada 1965 r., Dz.U. 2000 Nr. 87 Pos. 968). Vgl. auch Gesetz zur Ausführung des Haager Übereinkommens vom 15.11.1965 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen und des Haager Übereinkommens vom 18.3.1970 über die Beweisaufnahme im Ausland in Ziviloder Handelssachen vom 22.12.1977 (BGBl. 1965 I 3105). 20 Zur Anwendung in Polen siehe Sawczuk FS für Geimer S. 921 (928f.). 21 Haager Zivilprozessübereinkommen vom 1.3.1954 (BGBl. 1959 II 576; 1959 II 1388) (Konwencja dotycza˛ca procedury cywilnej, podpisana w Hadze dnia 1 marca 1954 r., Dz. U. 1963 Nr. 17 Pos. 90).

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polnische Zusatzvereinbarung vom 14.12.1992 23. Ferner besteht ein Haager Übereinkommen über die Beweisaufnahme von 1970 24, das die Art. 8 – 16 des Haager Zivilprozessübereinkommens von 1954 ersetzt hat und seit dem 14.9.1996 für Polen gilt. Polen hat eine Fülle bilateraler Verträge über den Rechtsschutz und die Rechtshilfe abgeschlossen 25. Ein umfassendes bilaterales deutsch-polnisches Rechtshilfeabkommen besteht jedoch nicht. Der frühere deutsch-polnische Vertrag über den Rechtshilfeverkehr von 1957 zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen 26 gehört der Geschichte an. Dieses Abkommen ist mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten außer Kraft getreten (Art. 12 Einigungsvertrag) 27. Erwähnt sei noch, dass die Frage des in der Sache anwendbaren Rechts in beiden Staaten von zahlreichen internationalen Übereinkommen und den nationalen Kollisionsnormen geregelt wird. Die zunehmende Europäisierung des Internationalen Privatrechts durch immer mehr europäische Verordnungen, wie insbesondere die 22 Laut Bekanntmachung vom 8.11.1963 ist das Haager Übereinkommen über den Zivilprozeß für Polen am 13.3.1963 in Kraft getreten (BGBl. 1963 II 1466). 23 Vereinbarung vom 14.12.1992 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen zur weiteren Erleichterung des Rechtsverkehrs nach dem Haager Übereinkommen vom 1.3.1954 über den Zivilprozeß. In Kraft seit dem 1.12.1993, Bekanntmachung vom 21.2.1994 (BGBl. 1994 II 361) (Układ mie˛dzy Rza˛dem Rzeczypospolitej Polskiej a Rza˛dem Republiki Federalnej Niemiec o dalszym ułatwieniu obrotu prawnego na podstawie Konwencji Haskiej z dnia 1 marca 1954 r. dotycza˛cej procedury cywilnej, sporza˛dzony w Warszawie dnia 14 grudnia 1992 r., Dz.U. 1994 Nr. 30 Pos. 110). Deutscher und polnischer Text auch bei Geimer / Schütze I (ob. Fn. 1) A I1c. – Vgl. dazu Sawczuk FS für Geimer S. 921 (928f.). 24 Übereinkommen über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- oder Handelssachen vom 18.3.1970, BGBl. 1977 II 1472, Bekanntmachung BGBl. 1996 II 2494 (Konwencja o przeprowadzaniu dowodów za granica˛ w sprawach cywilnych lub handlowych, sporza˛dzona w Hadze dnia 18 marca 1970 r., Dz.U. 2000 Nr. 50 Pos. 582). Dazu deutsches Gesetz zur Ausführung des Haager Übereinkommens vom 15.11.1965 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen und des Haager Übereinkommens vom 18.3.1970 über die Beweisaufnahme im Ausland in Ziviloder Handelssachen vom 22.12.1977 (BGBl. 1977 I 3105). 25 Siehe die Aufzählungen bei Sawczuk FS für Geimer S. 921 (924ff.) sowie Grali´nski (ob. Fn. 18), S. 154ff. 26 Vertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen über den Rechtsverkehr in Zivil-, Familien- und Strafsachen vom 1.2.1957, GBl. 1957 I 413 (Umowa pomie˛dzy Polska˛ Rzecza˛pospolita˛ Ludowa˛ a Niemiecka˛ Republika˛ Demokratyczna˛ o obrocie prawnym w sprawach cywilnych, rodzinnych i karnych, podpisana w Warszawie dnia 1 lutego 1957 r., Dz. U. 1958 Nr. 27 Pos. 114). Teilweise ersetzt durch Prot. v.18.4.1975, GBl. DDR 1975 II 245, 1976 II 139. – Vgl. Hofmann / Fincke, Der internationale Zivilprozess (1980) 161ff. 27 BGBl. 1993 II 1180 – Vgl. auch Staudinger(-Dörner), Internationales Erbrecht, Art. 25, 26 EGBGB (14. Bearbeitung 2000) Anh. zu Art. 25f. EGBGB Rn. 529.

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Rom I-Verordnung für Schuldverträge von 2008 28 und die Rom II-Verordnung für außervertragliche Schuldverhältnisse von 2007 29, betrifft beide Staaten gleichermaßen. In Polen gilt zwar noch das IPR-Gesetz von 1965 30; es wird jedoch eine umfassende Reform des nationalen Kollisionsrechts vorbereitet 31. III. Internationale Zuständigkeit Die internationale Zuständigkeit richtet sich in beiden Staaten je nach dem Gegenstand nach den Vorschriften einer der geltenden europäischen Verordnungen. In Zivil- und Handelssachen kommt grundsätzlich der Wohnsitzgerichtsstand in Betracht (Art. 2 Brüssel I-VO), in bestimmten Fällen kann aber auch in einem anderen Mitgliedstaat geklagt werden, z.B. am Erfüllungsort oder Wohnsitz des Unterhaltsgläubigers (Art. 5 Brüssel I-VO) 32. In Ehesachen besteht eine vom gewöhnlichen Aufenthalt und der Staatsangehörigkeit der Parteien abhängige konkurrierende Zuständigkeit (Art. 3ff. Brüssel IIa-VO); für die elterliche Verantwortung kommt es auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes an (Art. 8ff. Brüssel IIa-VO). Mangels anderer einschlägiger Regeln gelten im Übrigen die unvereinheitlichten nationalen Bestimmungen. In Deutschland sind dies in Vermögenssachen nach dem sog. Grundsatz der Doppelfunktionalität weitgehend die von Rechtsprechung und Lehre entwickelten Regeln 33. In Polen finden sich eigene Vorschriften im Zivilverfahrensgesetzbuch 34.

28 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. EU 2008 L177/6. Erfasst werden Verträge ab dem 19.12.2009 (Art. 28). 29 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.7.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), ABl. EU 2007 L199/40. – Die Rom II-VO ist auf Schuldverhältnisse ab dem 11.1.2009 anzuwenden (Art. 32). 30 Bislang gilt noch – mit Änderungen – das Gesetz über das internationale Privatrecht vom 12.11.1965 (Ustawa Prawo prywatne mie˛dzynarodowe z dnia 12.11.1965 r.), Dz. U. Nr. 46, Pos. 290; Änderungen vom 26.5.1995 Nr. 83 Pos. 417 und vom 21.5.1999, Dz.U. 1999 Nr. 52 Pos. 532. – Deutsche Übersetzung bei Breidenbach (Hrsg.), Handbuch Wirtschaft und Recht in Osteuropa (Loseblatt), Polen PL 210 IPRG; Riering, IPR-Gesetze in Europa (1997) 94ff. 31 Siehe bereits Pazdan / Fuchs, Die Neuregelung des Internationalen Privatrechts in Polen, in: Blaho / Svidrou (Hrsg.), Kodifikacja, europeizacia a harmonizacia sukromneho prava – Kodifikation, Europäisierung und Harmonisierung des Privatrechts (Bratislava 2005) 183ff. 32 Siehe Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 72ff. 33 Siehe auch §§98ff. Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG). 34 Näher Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 59ff. – Deutsche Übersetzung der Art. 1097ff. ZVGB bei Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 249ff.

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IV. Zustellungen Eine ordnungsgemäße Zustellung an den Beklagten ist nicht nur für die Einleitung des Verfahrens, sondern auch im Hinblick auf eine spätere Anerkennung der Entscheidung von größter Wichtigkeit. Darüber entscheidet nunmehr auch im deutsch-polnischen Verhältnis das europäische internationale Zivilprozessrecht. Für die Zustellung gilt seit 13.11.2008 in erster Linie die neue Europäische Zustellungsverordnung (EuZustVO) von 2007 35, welche den nationalen Vorschriften vorgeht 36. Hierzu bestehen in Deutschland Durchführungsbestimmungen 37. Zuvor galt die alte Zustellungsverordnung aus dem Jahr 2000 38. Die europäische Regelung hat auch Vorrang vor den multilateralen Staatsverträgen 39. Zwar können die Mitgliedstaaten bilaterale Abkommen zur weiteren Erleichterung abschließen oder beibehalten 40. Das auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1965 geschlossene deutsch-polnische Abkommen von 1992 wird aber offenbar nicht dazugerechnet 41. Für die Auslandszustellung müssen die entsprechenden Ersuchen übermittelt werden. Für ausgehende Ersuchen gibt es sowohl in Deutschland 42 als auch in Polen 43 gerichtliche Übermittlungsstellen nach Art. 2 Abs. 1 EG-Zustellungsver35

Siehe Art. 26 Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.11.2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellung von Schriftstücken“) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates (ABl. EU 2007 L324/79). – Näher Sujecki, Die reformierte Zustellungsverordnung, NJW 2008, 1628ff. 36 Deutsche Übersetzung der Art. 1130ff. ZVGB bei Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 249ff. 37 Deutsche Durchführungsbestimmungen zur VO Nr. 1393/2007 (zuvor zur VO Nr. 1348/2000) in §§1067ff. ZPO. 38 Siehe Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates vom 29.5.2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (ABl. EU 2000 L160/37). 39 Art. 20 Abs. 1 EuZusVO 2007. 40 Art. 20 Abs. 2 EuZusVO 2007. 41 Vgl. Rauscher(-Heiderhoff), Europäisches Zivilprozessrecht II, 2. Aufl. (2006) Art. 20 EG-ZustellVO Rn. 2f. 42 Für Zustellungen im Ausland sind als deutsche Übermittlungsstellen zuständig: 1. für gerichtliche Schriftstücke das die Zustellung betreibende Gericht und 2. für außergerichtliche Schriftstücke dasjenige Amtsgericht, in dessen Bezirk die Person, welche die Zustellung betreibt, ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat; bei notariellen Urkunden auch dasjenige Amtsgericht, in dessen Bezirk der beurkundende Notar seinen Amtssitz hat; bei juristischen Personen tritt an die Stelle des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts der Sitz; die Landesregierungen können die Aufgaben der Übermittlungsstelle durch Rechtsverordnung bei einem Amtsgericht konzentrieren (§1069 Abs. 1 ZPO).

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ordnung 2007. Das bei Zustellungsanträgen einzuschlagende Verfahren ist in der Verordnung im Einzelnen vorgeschrieben 44. Das Gleiche gilt für die Form der Zustellungsanträge 45. Für die notwendigen Benachrichtigungen ist jeweils das Formblatt der EG-Zustellungsverordnung zu verwenden. Der Zustellungsempfänger ist über ein etwaiges Annahmeverweigerungsrecht nach Art. 8 EGZustellungsverordnung zu belehren. Vorgeschrieben ist weiterhin ein Zustellungsnachweis; ein Formblatt findet sich im Anhang zur EG-Zustellungsverordnung 46. Er ist in Polnisch, Englisch oder Deutsch auszufüllen. Die EG-Zustellungsverordnung sieht auch gerichtliche Empfangsstellen vor 47. Diese sind sowohl in Deutschland 48 als auch in Polen bestimmt worden. In Polen sind die zuständigen Rayongerichte (sa˛dy rejonowe) die Empfangsstellen 49. Die Zustellungsverordnung verlangt ferner eine Zentralstelle 50. In Polen ist diese Zentralstelle das Justizministerium 51, in Deutschland die jeweilige Zentralstelle des einzelnen Bundeslandes 52. Eine Zustellung durch diplomatische oder konsularische Vertretungen ist nach der Verordnung in Ausnahmefällen möglich 53. Schriftstücke dürfen durch die deutsche Auslandsvertretung ohne Anwendung von Zwang zugestellt werden, wenn der Zustellungsempfänger (nur) die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. 43

In Polen sind Übermittlungsstellen die Rayongerichte (sa˛dy rejonowe), Bezirksgerichte (sa˛dy okre˛gowe), Appelationsgerichte (sa˛dy apelacyjne) sowie der Oberste Gerichtshof (Sa˛d Najwy˙zszy). Dazu Rauscher(-Heiderhoff) Art. 2 EG-ZustellVO Rn. 8. 44 Art. 2 –8 EuZusVO 2007; Art. 2 –8 EuZusVO von 2000. – Siehe die §§31aff. ZRHO zu Zustellungsanträgen im Anwendungsbereich der EuZustellVO sowie außerhalb des Anwendungsbereichs der EuZustVO. Ferner bestehen Arbeitshilfen zu ausgehenden Ersuchen nach der EuZustellVO und der EuBewVO. 45 Art. 4 EuZusVO von 2007; Art. 4 EuZusVO von 2000. 46 Art. 10 EuZusVO von 2007; Art. 10 EuZusVO von 2000. 47 Art. 2 EuZusVO von 2007; Art. 2 EuZusVO von 2000. 48 Für Zustellungen in Deutschland ist als deutsche Empfangsstelle im Sinne von Art. 2 Abs. 2 der Verordnung dasjenige Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk das Schriftstück zugestellt werden soll. Die Landesregierungen können die Aufgaben der Empfangsstelle durch Rechtsverordnung bei einem Amtsgericht konzentrieren (§1069 Abs. 2 ZPO). Dazu Rauscher(-Heiderhoff) Art. 2 EG-ZustellVO Rn. 9. 49 Eine aktuelle Liste der Empfangsstellen ist als Teil des Europäischen Gerichtsatlas in Zivilsachen im Internet zugänglich. 50 Art. 3 EuZusVO von 2007; Art. 3 EuZusVO von 2000. 51 Zentralstelle i.S. des Art. 3 ist Ministerstwo Sprawiedliwósci (Justizministerium), Departament Wspólpracy Mie˛dzynarodowej i Prawa Europejskiego (Abteilung Rechtshilfe und Europarecht), Al. Ujazdowskie 11, 00 –950 Warszawa. – Siehe auch Rauscher (-Heiderhoff) Art. 3 EG-ZustellVO Rn. 11. 52 Siehe §1069 Abs. 3 ZPO. – Dazu Rauscher(-Heiderhoff) Art. 3 EG-ZustellVO Rn. 10. 53 Art. 13 EuZusVO von 2007; Art. 13 EuZusVO von 2000; vgl. §§1067 n.F. ZPO, 13 ZRHO.

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Nach der Verordnung ist die Zustellung eines Schriftstücks durch die Post nicht ausgeschlossen 54. Sie ist durch Einschreiben mit internationalem Rückschein möglich. Bislang war das Schriftstück in einer der folgenden Sprachen abzufassen oder mit einer Übersetzung in eine dieser Sprachen zu versehen: Polnisch oder Deutsch, sofern der Adressat die deutsche Staatsangehörigkeit hat 55. Diese Beschränkungen sind nunmehr entfallen. Eine weitere Form der Zustellung ist die Parteizustellung aus dem Ausland (unmittelbare Zustellung), wenn sie vom mitgliedstaatlichen Recht gestattet wird 56. Polen 57 lässt allerdings, ebenso wie Deutschland 58 die unmittelbare Zustellung auf seinem Hoheitsgebiet nicht zu. Besondere Probleme wirft die Zustellung von Klagen auf, welche noch wegen deutscher Kriegsverbrechen aus der Zeit vor dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs erhoben werden. Hier ist zunächst einmal fraglich, wieweit die Gerichte eines ausländischen Staates überhaupt Gerichtsbarkeit haben und welche Regeln insoweit anwendbar sind. Dieses Problem hat die Gerichte bislang vor allem im Zusammenhang mit der Gerichtsbarkeit für erhobene Klagen, aber auch für die Anerkennung und Vollstreckung bereits ergangener Entschädigungsurteile beschäftigt. Der EuGH entschied zum Brüsseler Übereinkommen von 1968, dass die in einem Vertragsstaat gegen einen anderen Vertragsstaat erhobene Schadensersatzklage von Hinterbliebenen der Opfer des Verhaltens von Streitkräften im Rahmen von Kriegshandlungen im Hoheitsgebiet des erstgenannten Staates, keine „Zivilsache“ im Sinne des Art. 1 Abs. 1 S. 1 des Übereinkommens ist 59. Solche Streitigkeiten entspringen einer Wahrnehmung von Hoheitsrechten, d.h. Operationen von Streitkräften, und sind ein typischer Ausdruck staatlicher Souveränität. Sie sind Ausdruck der Außen- und Militärpolitik und von den zuständigen staatlichen Stellen einseitig und zwingend beschlossen worden. Zuvor war in Deutschland schon die Anerkennung eines rechtskräftigen griechischen Entschädigungsurteils abgelehnt worden. Auch hier wurde eine „Zivil- und Handelssache“ abgelehnt und zudem mit der Staatenimmunität argumentiert 60. Teilweise anders wurde freilich in 54

Art. 14 EuZusVO von 2007; vgl. §1068 n.F. ZPO. Dem früheren Art. 14 EuZusVO von 2000 entsprach die restriktive Fassung des §1068 ZPO. 56 Art. 15 EuZusVO von 2007. Siehe auch die frühere Regelung in Art. 15 EuZusVO von 2000. 57 Dazu Rauscher(-Heiderhoff) Art. 15 EG-ZustellVO Rn. 6. 58 Zur früheren ausdrücklichen deutschen Regelung im aufgehobenen §1071 ZPO s. Rauscher(-Heiderhoff) Art. 15 EG-ZustellVO Rn. 3. 59 EuGH 15.2.2007, Rs. C-292/05 – Lechouritou, Slg. 2007, I-1519 = NJW 2007, 2464 = IPRax 2008, 257 m. Aufs. Geimer (225). Ebenso M. Stürner, Staatenimmunität und Brüssel I-Verordnung – Die zivilprozessuale Behandlung von Entschädigungsklagen wegen Kriegsverbrechen im Europäischen Justizraum, IPRax 2008, 197 (199). 60 BGH 26.6.2003, BGHZ 155, 270 = NJW 2003, 3488 = IPRspr. 2003 Nr. 116. 55

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Italien entschieden. Dort wurde eine Staatenimmunität bei Schadensersatzklagen wegen Kriegsverbrechen nicht eingeräumt 61. Art. 1 S. 2 EG-Zustellungsverordnung von 2007 nimmt – ebenso wie andere europäische Regelungen 62 – die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechts („acta iure imperii“) ausdrücklich von ihrem Anwendungsbereich aus. Da die EG-Zustellungsverordnung mithin nicht anwendbar ist, entsteht die Frage, nach welchen Vorschriften sich eine Zustellung von Schriftstücken im Bereich der „acta iure imperii“ richtet. Das Basler Übereinkommen über Staatenimmunität 63 umfasst ausdrücklich auch solche Handlungen, kann jedoch schon deshalb nicht herangezogen werden, da Polen bislang nicht Vertragsstaat ist. Letztlich kommt es darauf an, ob entsprechend einer vordringenden Auffassung jedenfalls bei schwerwiegenden Kriegsverbrechen gleichwohl eine Gerichtsbarkeit besteht. Dies ist gegenwärtig noch heftig umstritten 64. Selbst wenn man die Gerichtsbarkeit bejaht und eine Anwendung des Haager Zustellungsübereinkommens von 1965 in Betracht zieht, ist noch eine Qualifikation als „Zivil- und Handelssache“ erforderlich. Hierfür könnte man auf das Recht des ersuchenden Staates 65, aber auch auf das Recht des ersuchten Staates 66 abstellen oder eine „Doppelqualifikation“ nach beiden Rechten vornehmen 67. Allerdings dürften hier wohl keine Qualifikationsdivergenzen zwischen Deutschland und Polen drohen. Es fragt sich jedoch, ob nicht überhaupt eine vertragsautonome Auslegung des Begriffes anzustreben ist 68. Bei den zu beurteilenden Klagen steht zwar der Entschädigungszweck zugunsten von Privatpersonen außer Frage. Es handelt sich jedoch um keinen Rechtsstreit zwischen zwei gleichgeordneten Personen 69. 61

Siehe M. Stürner, Keine Staatenimmunität bei Schadensersatzklagen wegen Kriegsverbrechen? Anm. zu Corte di Cassazione (sez. un.), Entscheidungen vom 29.5.2008, 14199 bis 14212, GPR 2008, 179ff. 62 So Art. 2 Abs. 2 S. 1 EuBagatellVO; Art. 2 Abs. 2 S. 1 EuMahnVO; Art. 2 Abs. 2 S. 1 EuVTVO. 63 Europäisches Übereinkommen vom 16.5.1972 über Staatenimmunität (BGBl. 1990 II 34). 64 Dazu näher Stürner IPRax 2008, 197ff.; ders. GPR 2008, 179ff. 65 Böckstiegel / Schlafen, Die Haager Reformübereinkommen über die Zustellung und die Beweisaufnahme im Ausland, NJW 1978, 1073 (1074). 66 Wölki, Das Haager Zustellungsübereinkommen und die USA, RIW 1985, 530; Hollmann, Auslandszustellung in US-amerikanischen Zivil- und Verwaltungssachen, RIW 1982, 782 (785f.). 67 BGH 4.6.1992, BGHZ 118, 312 (336ff.) = NJW 1992, 3096 = IPRax 1993, 310 m. Anm. Koch / Zekoll (288) für „punitive damages“. 68 OLG Koblenz 27.6.2005, NJOZ 2005, 3122 = IPRax 2006, 25 m. Aufs. Piepenbrock (4) = IPRspr. 2005 Nr. 144 (für „treble damages“); OLG Naumburg 9.2.2006, IPRspr. 2006 Nr. 165 (punitive damages); Stürner / Stadler, IPRax 1990, 157. Siehe auch Geimer / Schütze(-Knöfel) (ob. Fn. 1) B Vor I 30b, Art. 1 Beweisaufnahme-VO Rn. 2.

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An einem solchen Gleichordnungsverhältnis fehlt es jedoch nach traditioneller Auffassung jedenfalls für Klagen, in denen (ausländische) Bürger Schadensersatzansprüche wegen Kriegsverbrechen etc. gegen einen Staat erheben. Insoweit wird allerdings geltend gemacht, dass für die europäischen Verordnungen 70 und auch für die Haager Konventionen 71 eine Zivilsache angenommen werden könne. Dies wird u.a. darauf gestützt, dass entsprechende Entschädigungsansprüche trotz der Einordnung als „acta de jure imperii“ im Rahmen von Art. 6 EMRK als „zivilrechtliche Ansprüche“ eingeordnet worden sind 72 und diese Wertung auch hier gelten müsse. Ob sich dies freilich für eine internationale Konvention durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. V. Rechtshilfe und Beweis Auch für Rechtshilfe und Beweis greifen heute in erster Linie die europäischen Regeln ein. Im deutsch-polnischen Verhältnis kommt daher auch die EG-Beweisaufnahmeverordnung (EuBewVO) zur Anwendung 73. Die europäische Regelung hat Vorrang vor den multilateralen Staatsverträgen 74. Zwar können die Mitgliedstaaten bilaterale Abkommen zur weiteren Erleichterung abschließen oder beibehalten 75. Das auf der Basis des Haager Beweisübereinkommens geschlossene deutsch-polnische Abkommen wird aber offenbar nicht dazugerechnet 76. Die EGVerordnung geht auch den nationalen Bestimmungen vor 77. Geht es um Ersuchen an – aus deutscher Sicht – ausländische Behörden, so sind insoweit die europäischen Vorgaben maßgeblich. Nach Art. 2 EG-Verordnung kommt es auf die ersuchenden Gerichte an. Jedes deutsche Gericht darf unmittelbar 69 Darauf stellen etwa ab OLG München 7.6.2006, OLGR 2006, 801 = IPRspr. 2006 Nr. 168 (class action); OLG Celle, 20.7.2006, OLGR Celle 2006, 686 = IPRspr. 2006 Nr. 170 (treble damages). 70 So Geimer / Schütze(-Knöfel) (ob. Fn. 1) B Vor I 30b, Art. 1 Beweisaufnahme-VO Rn. 9, 14. 71 Geimer / Schütze(-Knöfel) (ob. Fn. 1) A I 3 f, Art. 1 Haager Übereinkommen über die Beweisaufnahme Rn. 10. 72 So für Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit EGMR 8.6.2006 (Nr. 22860/ 02 – Wo´s / Polen), NJOZ 2007, 2326 (2330) Nr. 76. 73 Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28.5.2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Ziviloder Handelssachen (ABl. EG 2001 L174/1). Deutsche Durchführungsbestimmungen in §§1072ff. ZPO. In Deutschland sind die Einzelheiten der Rechtshilfeersuchen in §§ 36ff. ZRHO geregelt. 74 Art. 21 Abs. 1 EuBewVO. 75 Art. 21 Abs. 2 EuBewVO. 76 Vgl. Rauscher(-von Hein) Art. 21 EG-BewVO Rn. 4f. 77 Deutsche Übersetzung der Art. 1130ff. ZVGB bei Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 249ff.

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das zuständige Gericht eines anderen Mitgliedstaats um Aufnahme des Beweises ersuchen 78. Form und Übermittlungsweg sind in den europäischen Vorschriften detailliert beschrieben 79. Die Möglichkeit unmittelbarer Beweisaufnahme ist ebenfalls geregelt 80. In allen anderen Fällen sind Ersuchen an das ersuchte polnische Gericht zur Durchführung der Beweisaufnahme zu übersenden 81. Für die Durchführung von Beweisaufnahmen sind in Polen i.S. von Art. 2 Abs. 1 die Rayongerichte (sa˛dy rejonowe) zuständig 82. Für Beweisaufnahmen in Deutschland ist als ersuchtes Gericht im Sinne von Art. 2 Abs. 1 dasjenige Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Verfahrenshandlung durchgeführt werden soll. Die Landesregierungen können die Aufgaben des ersuchten Gerichts bei einem Amtsgericht konzentrieren 83. Das deutsche Gericht kann unter den Voraussetzungen des Art. 17 der Verordnung auch eine unmittelbare Beweisaufnahme in einem anderen Mitgliedstaat beantragen. Will es eine solche Beweisaufnahme in Polen selbst und ohne Zwangsmaßnahmen durchführen, so übermittelt es dem polnischen Justizministerium einen Antrag 84. Dieses ist Zentralstelle 85 und nach Art. 17 EG-Beweisaufnahmeverordnung zuständige Behörde. Auch die zu verwendende Sprache ist geregelt 86. Die Eintragungen in das Formblatt sind in polnischer Sprache abzufassen. Sämtlichen Anlagen sind Übersetzungen in das Polnische beizufügen. Eine erhebliche Rolle spielt in Kindschaftssachen die Vaterschaftsfeststellung. Ebenso wie in Deutschland sind Blutgruppengutachten und erbbiologische Gutachten nach polnischem Recht zulässige Beweismittel (vgl. in Deutschland §372a ZPO). Ersuchen um Blutentnahme und Untersuchungen für erbbiologische Gutachten werden aber von den polnischen Behörden nur mit Einwilligung des Betroffenen erledigt 87. Fehlen solche Untersuchungen, so scheitert eine Anerkennung des 78

Vgl. Rauscher(-von Hein) Art. 2 EG-BewVO Rn. 5. Art. 2, 4 EuBewVO. Zusätzliche Angaben sind im Internet im Europäischen Gerichtsatlas für Zivilsachen zugänglich. 80 Art. 17 EuBewVO. 81 Gemäß Formblatt A der EuBewVO. 82 Vgl. Rauscher(-von Hein) Art. 3 EG-BewVO Rn. 6. 83 Siehe zu §1074 ZPO näher Rauscher(-von Hein) Art. 3 EG-BewVO Rn. 7. – Eingehende Rechtshilfeersuchen sind in §§82ff. ZRHO näher geregelt. 84 Nach Art. 17 EuBewVO mit Formblatt I. 85 Die in Art. 3 genannte Zentralstelle ist das polnische Justizministerium – Abteilung Rechtshilfe und Europarecht; vgl. Rauscher(-von Hein) Art. 3 EG-BewVO Rn. 13. – In Deutschland wird die Aufgabe der Zentralstelle in jedem deutschen Bundesland durch eine von der jeweiligen Landesregierung bestimmte Stelle wahrgenommen; vgl. Rauscher(-von Hein) Art. 3 EG-BewVO Rn. 11f. 86 Art. 5 EuBewVO. Siehe §1075 ZPO für eingehende Ersuchen. 87 So der Länderteil „Polen“ der ZRHO. 79

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Vaterschaftsurteils in Deutschland nicht unbedingt. Eine Vaterschaftsfeststellung aufgrund von Zeugenaussagen ohne Abstammungsgutachten verstößt insbesondere dann nicht gegen den deutschen ordre public, wenn das polnische Gericht dem Beklagten angeboten hat, eine Begutachtung im Urteilsstaat vornehmen zu lassen, der Beklagte dies aber verweigert und auch kein Rechmittel eingelegt hat 88. Das Verfahren der Entgegennahme des Rechtshilfeersuchens ist einheitlich geregelt 89. Für notwendige Benachrichtigungen ist jeweils das Formblatt der EGBeweisaufnahmeverordnung zu verwenden. Ersuchen auf Beweisaufnahme sind binnen 90 Tagen zu erledigen, andernfalls hat eine Verzögerungsmitteilung zu erfolgen. Die Anwesenheit der Parteien, von Richtern und Sachverständigen des ersuchenden Staates, Zwangsmaßnahmen sowie die Gründe zur Ablehnung der Erledigung sind in Art. 10 –16 EG-Beweisaufnahmeverordnung geregelt. Die Erledigungsbestätigung kann nach Formblatt in deutscher Sprache ausgefüllt werden 90. Eine erhebliche Rolle spielt auch die grenzüberschreitende Unterhaltsdurchsetzung. Häufig befindet sich der Unterhaltspflichtige in Deutschland und der Unterhaltsberechtigte in Polen. Dann ist entweder ein polnischer Titel in Deutschland durchzusetzen oder es muss überhaupt erst einmal ein Titel geschaffen werden. Dementsprechend werden Unterhaltsansprüche ganz überwiegend in Ost-WestRichtung geltend gemacht. Bei Rechtshilfeersuchen nach dem UN-Unterhaltsübereinkommen vom 20.6.1956 91, das in Polen seit dem 12.11.1960 in Kraft ist, ist Art. 7 des Übereinkommens zu beachten. Danach können bei einem Rechtshilfeersuchen weitere Beweise verlangt werden. Das kostenfreie Rechtshilfeersuchen ist beschleunigt zu erledigen; bestimmte Mitteilungen haben zu erfolgen. Früher wurden aus Polen eingehende Ersuchen in Deutschland vom Bundesverwaltungsamt erledigt 92. Nunmehr ist das Bundesjustizamt zuständig 93. Das Bundesjustizamt 88

OLG Hamm 8.7.2003, FamRZ 2004, 719 = IPRax 2004, 437 m. Aufs. Geimer, Anerkennung und Vollstreckung polnischer Vaterschaftsurteile mit Annexentscheidung über den Unterhalt (419) = IPRspr. 2003 Nr. 190; OLG Karlsruhe 26.4.2007, FamRZ 2008, 431. 89 Art. 7 bis 9 EuBewVO. 90 Art. 16 EuBewVO. 91 UN-Übereinkommen vom 20.6.1956 über die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen im Ausland, (BGBl. 1959 II 150). Bekanntmachung BGBl. 1961 II 16 (Konwencja o dochodzeniu roszcze´n alimentacyjnych za granica˛ sporza˛dzona w Nowym Jorku dnia 20 czerwca 1956 r., Dz. U. 1961 Nr. 17 Pos. 87). – Näher dazu Katsanou, Übereinkommen über die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen im Ausland: „New Yorker-Unterhaltsübereinkommen“, FPR 2006, 255ff.; Garbe / Ullrich(-Andrae), Prozesse in Familiensachen (2007), §11 Rn. 625ff. je m.w. N. 92 Ersuchen aus Polen bildeten in der Praxis den größten Anteil, s. Grotheer, Kindesunterhalt im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr (1998), S. 107f. 93 Art. 2 Gesetz zu dem Übereinkommen vom 20.6.1956 über die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen im Ausland (BGBl. 1959 II 149; 1971 II 105), zuletzt geän-

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übernimmt die Unterhaltsdurchsetzung in Deutschland. Allerdings besagt Art. 6 Abs. 1 auch, dass „alle geeigneten Schritte“ zu unternehmen sind, um die Leistung von Unterhalt herbeizuführen. Das Bundesamt wird daher nicht tätig, wenn eine Vollstreckung von vornherein aussichtslos erscheint. In beschränktem Umfang besteht auch eine eigene Zuständigkeit der Auslandsvertretungen. Die deutschen Auslandsvertretungen in Polen können in eigener Zuständigkeit Ersuchen um Vernehmung oder Abnahme von Eiden erledigen, wenn die Erledigung ohne Anwendung von Zwang möglich ist und die zu vernehmende Person nur die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt 94. Nur erwähnt werden kann hier die spezielle Problematik der ebenfalls von einem Haager Übereinkommen von 1980 geregelten Rückführung nach einer Kindesentführung 95. Auch hierzu bestehen mehrfach geänderte deutsche Ausführungsbestimmungen 96. In beiden Staaten wird die Haager Konvention durch die besonderen Bestimmungen in der Brüssel IIa-VO ergänzt. Die eigentliche Vollstreckung der jeweiligen Rückgabeentscheidungen richtet sich stets nach nationalem Recht. In Deutschland hilft als Zentralbehörde das Bundesamt für Justiz, wobei auch in Deutschland immer noch praktische Vollzugsdefizite auftreten können. Für die Anerkennung von Urkunden gelten die Vorschriften der einschlägigen europäischen Verordnungen über die Anerkennung, d.h. Brüssel I und Brüssel IIa, welche den nationalen Bestimmungen vorgehen 97. Im Übrigen ist das Haager Übereinkommen über die Apostille von 1961 anwendbar 98.

dert durch Art. 4 Abs. 8 des Gesetzes vom 17.12.2006 (BGBl. 2006 I 3171). – Siehe auch http://www.bundesjustizamt.de sowie Wagner, Das Bundesamt für Justiz: eine neue Bundesoberbehörde mit Aufgaben auch im Zivil(-verfahrens-)recht, IPRax 2007, 87ff. 94 So die ZRHO im Länderteil „Polen“. 95 Haager Übereinkommen vom 25.10.1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (BGBl. 1990 II 207). In Polen in Kraft seit dem 1.2.1993, Bekanntmachung BGBl. 1994 II 1432 (Konwencja haska z 25 pa´zdziernika 1980 r. w sprawie cywilnych aspektów mie˛dzynarodowego uprowadzenia dziecka, Dz.U. 1995 Nr. 108 Pos. 528). 96 Siehe §§1ff. IntFamRVG. 97 Deutsche Übersetzung von Art. 1138 ZVGB bei Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 249ff. 98 Haager Übereinkommen zur Befreiung ausländischer öffentlicher Urkunden von der Legalisation vom 5. 10. 1961, BGBl. 1965 II 875. In Polen in Kraft seit 14.8.2005, Bekanntmachung BGBl. 2006 II 1320 (Konwencja znosza˛ca wymóg legalizacji zagranicznych dokumentów urze˛dowych, sporza˛dzona w Hadze dnia 5 pa´zdziernika 1961 r., Dz.U. 2005 Nr. 112 Pos. 938). – Siehe auch Łakomy, Verwendbarkeit deutscher Urkunden in Polen – Legalisation im polnischen Recht, NotBZ 2003, 254ff.

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VI. Kosten Für die Prozesskostenhilfe in der EU gilt eine Richtlinie aus dem Jahre 2003 99. Sie soll den Zugang zum Recht für Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug verbessern. Daher wurden gemeinsame Mindestvorschriften für die Prozesskostenhilfe in solchen Streitsachen für Personen festgesetzt, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten. Hierzu bestehen in Deutschland nationale Durchführungsbestimmungen 100. Die Übermittlungsstellen sind für die Übertragung von Anträgen, die Empfangsstellen für den Empfang von Anträgen zuständig. Kosten werden nach Maßgabe des Art. 11 Abs. 2 EG-Zustellungsverordnung 2007, Art. 11 Abs. 2 EG-Zustellungsverordnung 2000, Art. 18 EG-Beweisaufnahmeverordnung und im Anwendungsbereich der deutsch-polnischen Zusatzvereinbarung vom 14.12.1992 nach dem dortigem Art. 6 erstattet. VII. Anerkennung und Vollstreckung 1. Allgemeines Der Weg zur Durchsetzung eines ausländischen Zahlungsurteils ist auch heute oft noch lang und dornig. Nach der grundsätzlich erforderlichen Vollstreckbarerklärung wartet auch noch – ebenso wie in reinen Inlandsfällen – die eigentliche Zwangsvollstreckung. Für die Anerkennung in Zivil- und Handelssachen kommen unterschiedliche Regeln in Betracht 101. In erster Linie gilt die Brüssel-IVerordnung 102. Auf deutscher Seite gilt für die Ausführung der Brüssel I-VO, aber auch einzelner Staatsverträge, zusätzlich das Anerkennungs- und Vollstreckungsausführungsgesetz (AVAG) von 2001 103. Die polnischen nationalen Vorschriften kommen, vor allem, soweit sie das eigentliche Anerkennungs- und Vollstreckbarerklärungsverfahren betreffen (Art. 1145ff. poln. ZVGB 104), wegen der vorrangig anzuwendenden europäischen Regeln überwiegend nicht zur Anwendung 105. Man 99

Richtlinie 2003/8/EG vom 27.1.2003 des Rates zur Verbesserung des Zugangs zum Recht bei Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug durch Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften für die Prozesskostenhilfe in derartigen Streitsachen, ABl. EG 2003 L26/41. Berichtigung ABl. EG 2003 L32/15. 100 In Deutschland umgesetzt in §§1076 ff. ZPO. 101 Siehe Schlichte, Vollstreckbarkeit ausländischer Titel in Polen, WiRO 2003, 235ff. 102 Grali´nski (ob. Fn. 16), S. 153ff. 103 Gesetz zur Ausführung zwischenstaatlicher Verträge und zur Durchführung von Verordnungen und Abkommen der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet der Anerkennung und Vollstreckung in Zivil- und Handelssachen vom 19.2.2001 (BGBl. 2001 I 288, 436), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 17. 4. 2007 (BGBl. 2007 I 529).

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nimmt jedoch an, dass zwecks Lückenfüllung – aber auch nur dafür – auf die Vorschriften des ZVGB zurückgegriffen werden kann 106. Unter Geltung der Brüssel I-VO gilt – anders als nach autonomem polnischen Recht (Art. 1145 Abs. 1 poln. ZVGB) 107 – der Grundsatz automatischer Anerkennung einer ausländischen Entscheidung (Art. 33 Brüssel I-VO). Die Überprüfung der ausländischen Entscheidung beschränkt sich auf ein Minimum. Soweit die Vollstreckbarerklärung einer ausländischen Entscheidung angestrebt wird, ist der entsprechende Antrag gemäß Anhang II zu Art. 39 Brüssel I-VO beim Bezirksgericht (sa˛d okre˛gowy) zu stellen 108. Der Schuldner wird zunächst nicht gehört. Rechtsbehelfe gegen die Vollstreckbarerklärung werden gemäß Anhang III zu Art. 43 Abs. 2 Brüssel I-VO vom Appellationsgericht (sa˛d apelacyjny) entschieden 109. Gegen die Entscheidung des Appellationsgerichts ist gemäß Anhang IV zu Art. 44 Brüssel I-VO die Kassationsbeschwerde zum Obersten Gericht (Sa˛d Najwy˙zszy) statthaft 110. Bei der Urteilsanerkennung ist stets zu beachten, wann die polnische Entscheidung ergangen ist. Insoweit sind Übergangsvorschriften zu berücksichtigen. Nach Art. 66 Abs. 1 Brüssel I-VO gelten die Regeln der Verordnung grundsätzlich nur für ab Inkrafttreten eingeleitete Verfahren. Für ältere Titel kommt es darauf an, ob für Urteils- und Anerkennungsstaat bereits das Brüsseler Übereinkommen oder das Luganer Übereinkommen galten. Andernfalls bedarf es einer Prüfung, ob sich die Zuständigkeit auch auf die Brüssel I-VO stützen lässt (Art. 66 Abs. 2 Brüssel IVO) 111. Diese Regel gilt auch für Entscheidungen aus den neuen Mitgliedstaaten. Zwar ist Polen seit dem 1.5.2004 Mitgliedstaat der EU, so dass grundsätzlich die am 1.3.2002 in Kraft getretene Brüssel I-VO zur Anwendung kommt. Die Brüssel I-VO erfasst aber uneingeschränkt lediglich Entscheidungen, die nach dem 1.5. 2004 ergangen sind. Für ältere Titel kommt es darauf an, ob schon das 104 Deutsche Übersetzung der Art. 1145ff. ZVGB bei Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 249ff. Näher Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 109ff. Siehe auch Schlichte, WiRO 2003, 235 (237ff.). 105 Trzeciakowska, WiRO 2000, 404 (405); näher Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 185ff. 106 Ebenso Hohloch, Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung im deutsch-polnischen Rechtsverkehr, DPJZ 2001, 6 (15). Näher Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 186. 107 Mit Ausnahme einiger nichtvermögensrechtlicher Entscheidungen nach Art. 1145 Abs. 2 poln. ZVGB; dazu Grali´nski (ob. Fn. 16), S. 161f.; Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 176ff. 108 Siehe Nr. 18 des Anhangs II zu Art. 20 der Beitrittsakte, ABl. EG 2003 L236/717. Näher Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 191ff. 109 Siehe Nr. 18 Anhang II zu Art. 20 der Beitrittsakte, ABl. EG 2003 L236/717. Dazu Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 219ff. 110 Siehe Nr. 18 des Anhangs II zu Art. 20 der Beitrittsakte, ABl. EG 2003 L236/718. Näher Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 229ff. 111 Näher Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 26f.

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Luganer Übereinkommen galt. Andernfalls bedarf es einer Prüfung, ob sich die Zuständigkeit auch auf die Brüssel I-VO stützen lässt. Im deutsch-polnischen Verhältnis kann heute ferner die EG-Vollstreckungstitel-Verordnung (EuVTVO) 112 genutzt werden, die bei Einhaltung bestimmter Verfahrensgarantien und Erteilung einer besonderen Bestätigung eine erleichterte Vollstreckung ohne Exequaturverfahren ermöglicht. Auch hierzu bestehen nationale Durchführungsbestimmungen in Deutschland 113 und in Polen 114. Die Zwangsvollstreckung als solche erfolgt aber in jedem Fall nach den unvereinheitlichten nationalen Regeln 115. 2. Besonderheiten bei Unterhaltsurteilen Unterhaltsurteile gehören zu den Zivil- und Handelssachen i.S. des Art. 1 Abs. 1 Brüssel I-VO und können daher nach ihren Regeln anerkannt und für vollstreckbar erklärt werden. Freilich muss auch bei ihnen für ältere Titel eine intertemporale Überprüfung nach Art. 66 Abs. 2 Brüssel I-VO erfolgen. Für Polen galt schon seit Februar 2000 das LugÜ. Dieses erfasst Klagen, die nach seinem Inkrafttreten erhoben wurden 116. Aufgrund früherer Verfahren, aber erst nach Inkrafttreten der Konvention ergangene Entscheidungen müssen ihren Zuständigkeitsvorschriften entsprechen 117. Dies berührt aber nicht schon vorher erlassene Entscheidungen. Insofern verbleibt es für die Vollstreckbarerklärung bei dem dafür einschlägigen Übereinkommen für die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung von Unterhaltsentscheidungen. Seit dem 1.7.1996 gilt nämlich zwischen Deutschland und Polen das Haager Unterhaltsvollstreckungsübereinkommen von 1973 118. Zwar wird diese 112 Allgemein anwendbar auf Zivil- und Handelssachen nach Art. 2 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. 4. 2004 zur Einführung eines Europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen (ABl. EU 2004 L143/15; Berichtigung ABl. EU 2005 L97/64). 113 Siehe deutsche Durchführungsbestimmungen in §§1079ff. ZPO. 114 Die Bestimmungen wurden an unterschiedlichen Stellen in das Zivilprozessgesetzbuch eingefügt, nämlich in die Art. 206, 795 1 –5, 1153 1 –2 ZVGB.– Näher Taborowski, Der europäische Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen: ein kurzer Überblick aus polnischer Sicht, IPRax 2007, 250ff.; Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 46ff. – Deutsche Übersetzung der Vorschriften bei Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 249ff. Vgl. auch Schürmann, Erfahrungen mit dem europäischen Vollstreckungstitel in Polen, DPJZ Nr. 1/2008, 20ff. 115 Dazu Nachw. bei Schlichte, Die Grundlage der Zwangsvollstreckung im polnischen Recht (2005). Siehe auch Lubi´nski, Organe der Gerichtszwangsvollstreckung und ihre Zuständigkeit in Zivilsachen in Polen, Deutsche Gerichtsvollzieher-Zeitung 2003, 50ff. 116 Art. 54 Abs. 1 LugÜ. 117 Art. 54 Abs. 2 LugÜ.- Dazu Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 26. 118 Haager Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen vom 2. 10. 1973 (BGBl. 1986 II 825). (BGBl. 1996 II 1073) (Konwen-

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Haager Spezialkonvention an sich nicht von der Brüssel I-VO verdrängt, doch darf vom europäischen Vollstreckbarkeitsverfahren Gebrauch gemacht werden 119. Die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung eines ausländischen Unterhaltsurteils kann daher sowohl auf der Grundlage der Brüssel I-VO als auch des HUnthVÜ begehrt werden; der Antragsteller hat insoweit die Wahl 120. Das Übereinkommen bietet jedoch regelmäßig keine Vorteile für die Anerkennung von Unterhaltsentscheidungen 121. Brüssel I-VO und HUnthVÜ regeln in Polen ohne weiteres das Anerkennungs- und Vollstreckbarkeitsverfahren. Ein spezielles polnisches Ausführungsgesetz, vergleichbar dem deutschen AVAG 122, existiert nicht 123. In Unterhaltssachen werden auch in Europa künftig neue, noch zu ratifizierende Haager Konventionen gelten 124. Auch eine europäische Unterhaltsverordnung ist in Vorbereitung. Ihre verfahrensrechtlichen Bestimmungen werden unter den Mitgliedstaaten Vorrang haben. Die europäische Unterhaltsverordnung soll umfassend sein, also gleichermaßen das anwendbare Recht, aber auch die internationale Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung sowie die Zusammenarbeit der nationalen Behörden regeln 125. Nach einem ersten Verordnungsentwurf von cja o uznawaniu i wykonywaniu orzecze´n odnosza˛cych sie˛ do obowia˛zków alimentacyjnych, sporza˛dzona w Hadze dnia 2 pa´zdziernika 1973 r., Dz. U. 2000 Nr. 2 Pos. 13). 119 Siehe Art. 71 Abs. 1, 2 S. 2 Brüssel I-VO. – Näher Rauscher(-Mankowski), Europäisches Zivilprozessrecht I, 2. Aufl. (2006), Art. 71 Brüssel I-VO Rn. 6. 120 OLG München 1.7.2002, FamRZ 2003, 462 = IPRax 2004, 120 m. Aufs. Heiderhoff (99) = IPRspr. 2002 Nr. 201 (österr. Unterhaltsurteil); OLG Brandenburg 4.12.2007, FamRZ 2008, 1762 (poln. Unterhaltstitel); Rauscher(-Mankowski) Art. 71 Brüssel I-VO Rn. 17. – So auch für das Verhältnis LugÜ / HUnthVÜ ausdrücklich EuGH 27.2.1997 (van den Boogaard. / . Laumen), Slg. 1997 I–1683, Rdnr. 17 = IPRax 1999, 35 m. Aufs. Weller (14). 121 Näher Martiny, in: Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht (Hrsg.), Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts III 2 (1984) Kap. II Rn. 381. 122 In Deutschland gelten die Vorschriften des AVAG, das in §§37ff. auch spezielle Bestimmungen für das Haager Unterhaltsvollstreckungsübereinkommen enthält. 123 Siehe Schubert-Panecka (ob. Fn. 2), S. 40f. – Ebenso schon Hohloch, DPJZ 2001, 6 (15); Martiny / Ernst, IPRax 2001, 29 (30). 124 Haager Protokoll über das auf Unterhaltspflichten anwendbare Recht vom 23. 11. 2007; Haager Übereinkommen zur grenzüberschreitenden Durchsetzung von Kindesunterhalt und anderer familienrechtlicher Unterhaltsansprüche vom 23.11.2007. 125 Hierzu insbesondere Dörner, Der Vorschlag für eine europäische Verordnung zum Internationalen Unterhalts- und Unterhaltsverfahrensrecht, in: Japanischer Brückenbauer zum deutschen Rechtskreis – FS für Yamauchi (2006) 81ff.; ders., Vorschlag für eine Unterhaltspflichtenverordnung – Vorsicht bei Gebrauch der deutschen Fassung!, IPRax 2006, 550ff.; Gottwald, Prozessuale Zweifelsfragen der geplanten EU-Verordnung in Unterhaltssachen, in: Facetten des Verfahrensrechts – FS für Lindacher (2007) 13ff.; Wagner, Der Wettstreit um neue kollisionsrechtliche Vorschriften im Unterhaltsrecht, FamRZ 2006, 979ff.; Hess / Mack, Der Verordnungsvorschlag der EG-Kommission zum Unterhaltsrecht, Das Jugendamt 2007, 231; Andrae, Zum Verhältnis der Haager Unterhaltskonvention 2007

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2005 126 gibt es inzwischen neue Entwürfe im Europäischen Rat, die vor allem von den Haager Lösungen ausgehen. Die Justizministerinnen und -minister der Europäischen Union haben sich im Juni 2008 auf neue Leitlinien geeinigt. In absehbarer Zeit ist daher eine endgültige Fassung zu erwarten. Bei der Anerkennung in Unterhaltssachen spielt eine Rolle, ob eine vorangegangene Statusentscheidung, insbes. ein Vaterschaftsurteil, ebenfalls anerkannt werden muss, damit der polnische Unterhaltstitel in Deutschland vollstreckt werden kann. Die für die Anerkennung von Unterhaltsentscheidungen maßgeblichen Regeln machen dies aber weder von einer vorfrageweisen Klärung der Statusfrage noch von der Vorlage diesbezüglicher Nachweise abhängig. Früher wurde des Öfteren argumentiert, dass die Vollstreckbarerklärung eines Unterhaltsausspruchs für ein nichteheliches Kind in einem ausländischen Urteil von der Anerkennung der in demselben Urteil getroffenen Statusentscheidung abhänge. Denn im Falle einer förmlichen Feststellung der Nichtanerkennung der Statusentscheidung könnte der Unterhaltstitel wegen Unvereinbarkeit mit eben dieser gerichtlichen Feststellung gemäß Art. 5 Nr. 4 Haager Unterhaltsvollstreckungsübereinkommen von 1973 bzw. Art. 27 Nr. 3 LugÜ nicht für vollstreckbar erklärt werden 127. Eine solche weitgehende Vorfragenprüfung hat aber keine gesetzliche Grundlage und ist nicht vorzunehmen 128. Die Statusfrage ist gegebenenfalls in einem besonderen Verfahren zu klären. Für polnische Unterhaltsgläubiger verlaufen Vollstreckungsversuche in Deutschland freilich des Öfteren enttäuschend. Zwar ist ein anerkennungsfähiger Titel vorhanden und der Schuldner ist aus polnischer Sicht wirtschaftlich gut gestellt. Dabei wird aber leicht übersehen, dass das deutsche Recht Unterhaltsansprüche zwar vollstreckungsrechtlich privilegiert (§850d ZPO), dass aber die deutschen Selbstbehaltsätze und Pfändungsfreigrenzen verhältnismäßig hoch sind. Dementsprechend scheitert eine Vollstreckung zumal dann, wenn dem Schuldner kein fassbares Einkommen bzw. Vermögen nachgewiesen werden kann. Für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen sowie bezüglich der elterlichen Verantwortung (Sorgerecht etc.) gelten die Art. 21ff. und des Haager Protokolls zur geplanten EU-Unterhaltsverordnung, FPR 2008, 196ff.; Janzen, Die neuen Haager Übereinkünfte zum Unterhaltsrecht von 2007 und die Arbeiten an einer EG- Unterhaltsverordnung, FPR 2008, 218ff. 126 Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Zuständigkeit und das anwendbare Recht in Unterhaltssachen, die Anerkennung und Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen und die Zusammenarbeit im Bereich der Unterhaltspflichten (Dok. KOM[2005] 649 endg.). Auch BR-Drucks. 30/06 vom 17.1.2006. – Zu Änderungsvorschlägen zum Verordnungsvorschlag siehe Rat, Ausschuss für Zivilrecht (Unterhaltspflichten) vom 28.6.2007. 127 OLG Hamm 8.7.2003, FamRZ 2004, 719 = IPRax 2004, 437 m. Aufs. Geimer (419) = IPRspr. 2003 Nr. 190 (im Ergebnis wurde aber das polnische Unterhaltsurteil anerkannt). 128 Nachw. bei Martiny, Grenzüberschreitende Unterhaltsdurchsetzung nach europäischem und internationalem Recht, FamRZ 2008, 1681 (1686).

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der Brüssel IIa-Verordnung 129; für den speziellen Fall der Kindesrückgabe greifen die Art. 40ff. Brüssel IIa-Verordnung ein. Soweit für die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung nicht die internationalen oder europäischen Vorschriften zur Anwendung kommen, bleibt es bei den nationalen Regeln. In Deutschland fanden sie sich bislang vor allem in den §§328, 722, 723 ZPO für die streitige Gerichtsbarkeit, in §16a FGG für die freiwillige Gerichtsbarkeit 130. In Polen gelten im Übrigen die Vorschriften des autonomen polnischen Zivilverfahrensrechts, die im Wesentlichen in den Art. 1096ff. des ZVGB von 1964 131 enthalten sind 132. Für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche gilt im deutsch-polnischen Verhältnis das New Yorker Übereinkommen von 1958 133, auf das in Deutschland in §1061 ZPO verwiesen wird. Für Polen ist es seit 1.1.1962 in Kraft 134. 3. Vollstreckung von Kostenentscheidungen Kostenentscheidungen nach Art. 18 Abs. 1 und 2 des Haager Zivilprozessübereinkommens vom 1.3.1954 werden auch auf unmittelbaren Antrag des Berechtigten kostenlos für vollstreckbar erklärt. Einer Bescheinigung des höchsten Justizverwaltungsbeamten über die Zuständigkeit zur Erteilung des Rechtskraftzeugnisses bedarf es nicht. VIII. Rechtsauskunft Da der Zugang zum Recht des Nachbarstaates nicht immer leicht ist, ist auch die Beschaffung von Rechtsauskünften von großer Bedeutung. Polen ist Vertragsstaat des Europäischen Rechtsauskunftsübereinkommens vom 7.6. 1968 135. Rechtsaus129

In Deutschland mit Durchführungsbestimmungen in §§1ff. IntFamRVG. Siehe nunmehr §§107ff. Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG). 131 Überblick bei Sawczuk, FS für Geimer, S. 921 (926ff.). 132 Zu weiteren autonomen Rechtsquellen s. Weyde, Anerkennung und Vollstreckung deutscher Entscheidungen in Polen (1997), S. 15f. 133 UN-Übereinkommen vom 10.6.1958 über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche (BGBl. 1961 II 121) (Konwencja o uznawaniu i wykonywaniu zagranicznych orzecze´n arbitra˙zowych, sporza˛dzona w Nowym Jorku dnia 10 czerwca 1958 r., Dz. U. 1962 Nr. 9 Pos. 41). 134 Bekanntmachung BGBl. 1962 II 102, 2170. – Vgl. Pankowska-Lier, Neue Entwicklungen im Recht der Schiedsgerichtsbarkeit in Polen: ein Überblick, RIW 2002, 837ff. 130

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künfte sind freilich im Wesentlichen privater Initiative überlassen. Informationen zum polnischen Recht sind auch im Europäischen Justiziellen Netz 136 zu finden. IX. Schluss Die wichtigsten Fragen des deutsch-polnischen Rechtsverkehrs auf zivilrechtlichem Gebiet werden heute von europäischen Regeln abgedeckt. Deutschland und Polen nehmen gemeinsam an den rasanten Entwicklungen im europäischen Justizraum teil. Internationale Regelwerke und nationale Vorschriften treten mehr und mehr in den Hintergrund, spielen aber immer noch eine Rolle. Die Verordnungen mit ihren vereinheitlichten Verfahrensvorgaben und zahlreichen mehrsprachigen Formularen erleichtern auch die praktische Durchführung. Die zahlreichen Reformen der letzten Jahre haben manche Zweifelsfragen beseitigt, aber auch neue entstehen lassen. Für die Zukunft ist jedenfalls zu erwarten, dass der deutschpolnische Rechtsverkehr mit noch mehr Routine und Erfahrung bewältigt werden wird.

135 Europäisches Rechtsauskunftsübereinkommen vom 7.6.1968 (BGBl. 1993 II 791, 2002 II 2295) (Europejska konwencja o informacji o prawie obcym, sporza˛dzona w Londynie dnia 7 czerwca 1968 r. i protokół dodatkowy do tej konwencji, sporza˛dzony w Strasburgu dnia 15 marca 1978 r., Dz.U. 1994 Nr. 64 Pos. 272 –275). Vgl. auch das deutsche Ausführungsgesetz hierzu vom 5.7.1974 (AuRAG), BGBl. 1974 I 1433). Zusatzprotokoll von 1978, Gesetz zum Zusatzprotokoll vom 21.1.1987 (BGBl. 1987 II 58). 136 Europäische Justizielles Netz für Zivil- und Handelssachen, http://ec.europa.eu /civiljustice/maintenance_claim/maintenance_claim_gen_de.htm.

Zivil- und strafrechtliche Aspekte des wettbewerbsrechtlichen Nachahmungsschutzes in Polen Igor B. Nestoruk I. Einführung Auf den ersten Blick scheint das Lauterkeitsrecht kein vielversprechendes Feld für die strafrechtliche Forschung zu bilden. Dies war jedoch früher, betrachtet man die Entstehungsgeschichte des Rechtsgebiets, völlig anders. Die ersten nationalen Spezialgesetze in diesem Bereich (deutsche Gesetze gegen den unlauteren Wettbewerb aus den Jahren 1896 und 1909) enthielten eine Reihe von Strafbestimmungen. Kriminalsanktionen wurden damals sogar als einzig effizientes Instrument zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs 1 betrachtet. Am Beispiel eines der interessantesten Lauterkeitsdelikte (sklavische Nachahmung) soll im Folgenden gezeigt werden, dass der wirksame Schutz des freien und unverfälschten Wettbewerbs auch heutzutage durch eine durchdachte Verflechtung der zivilund strafrechtlichen Vorschriften gewährleistet werden kann. Die Perspektive der folgenden Überlegungen soll schwerpunktmäßig national bleiben. Die bisherigen Bemühungen um die Schaffung einer umfassenden europäischen Regelung des Lauterkeitsrechts sind nur fragmentarisch gelungen 2. Der lauterkeitsrechtliche Nachahmungsschutz, sieht man von der fortlaufenden Harmonisierung in den benachbarten Regelungen rund um das geistige und gewerbliche Eigentum ab, bleibt davon grundsätzlich unberührt. Der Schwerpunkt des Beitrags liegt dabei in der Darstellung der einschlägigen materiellrechtlichen Aspekte der zivil- und strafrechtlichen Regelungen in Polen. Die verfahrensrechtlichen Fragen, mögen sie sowohl für die theoretische als auch für die praktische Analyse von großer Bedeutung sein, werden im Folgenden nicht näher erläutert. 1 Zoll, Nieuczciwa konkurencja i jej pokrewne objawy ze stanowiska prawa prywatnego [Unlauterer Wettbewerb und seine verwandten Erscheinungen aus der privatrechtlichen Perspektive], Lemberg 1897, S. 2f., 25ff. 2 Siehe Übersicht (noch vor der sog. 2. Osterweiterung) von Henning-Bodewig, Unfair Competition Law. European Union and Member States. International Competition Law Series, 2006.

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II. Nachahmungsfreiheit und ihre normativen Grenzen Die Freiheit der Nachahmung baut auf der grundsätzlichen Handlungsfreiheit des Einzelnen auf. In der polnischen Verfassung 3 wird sie in Art. 30 verankert. Sie steht also unter grundgesetzlichem Schutz, ist aber zugleich durch die Freiheiten und die Rechte der anderen eingeschränkt. Die Nachahmung der Leistung eines Unternehmens von einem anderen Unternehmen findet im Rahmen der grundsätzlich und grundgesetzlich freien wirtschaftlichen Betätigung statt. Die Verfassung enthält eine klare Aussage für ein bestimmtes Wirtschaftssystem, und zwar für die soziale Marktwirtschaft 4. Laut Art. 20 bildet sie die Grundlage der wirtschaftlichen Ordnung der Republik Polen. Das System besteht aus drei Grundpfeilern: der Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit (Gewerbefreiheit in Art. 22), dem Privateigentum sowie der Solidarität, dem Dialog und der Zusammenarbeit zwischen den sozialen Partnern. Die letzteren sozialen Komponenten werden zusätzlich in Art. 76 betont, in dem die öffentliche Gewalt verpflichtet wird, die Verbraucher vor Handlungen, die ihre Gesundheit, ihre Privatsphäre und Sicherheit bedrohen, sowie vor unlauteren Geschäftspraktiken durch entsprechende Gesetze zu schützen. Auf der anderen Seite darf die Gewerbefreiheit ausschließlich aufgrund eines Gesetzes und nur wegen eines wichtigen gesellschaftlichen Interesses eingeschränkt werden. Bereits das für das polnische Wirtschaftsrecht zentrale Gesetz über die Gewerbefreiheit 5 formuliert grundlegende Richtlinien jeder unternehmerischen Handlung. Nach Art. 17 hat jeder Unternehmer seine Tätigkeit nach den Grundsätzen des fairen Wettbewerbs und unter Beachtung der guten Sitten und der billigen Interessen der Verbraucher auszuüben. Die Grenzen der Nachahmungsfreiheit ergeben sich jedoch in concreto aus den speziellen einfachgesetzlichen Regelungen. Zu beginnen ist hier mit den wichtigsten Sonderschutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums 6. Traditionell gehören dazu die Vorschriften über den Schutz von Erfindungen, Gebrauchs- und 3 Verfassung der Republik Polen vom 2.4.1997 (GBl. von 1997 Nr. 78, Pos. 483; Berichtigung: GBl. von 2001, Nr. 28, Pos. 319). Siehe deutsche Übersetzung unter . 4 Banaszak, Prawo konstytucyjne [Verfassungsrecht], 4. Aufl. Warschau 2008, S. 245ff. 5 Ustawa o swobodzie działalno´sci gospodarczej. [Gesetz vom 2. Juli 2004 über die Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit] (einheitlicher Text: GBl. von 2007, Nr. 155, Pos. 1095 mit späteren Änderungen). Siehe deutsche Übersetzung in: Polnische Wirtschaftsgesetze, 7. Aufl. Warschau 2005, S. 485ff. 6 Podrecki, Na´sladownictwo w ustawie o zwalczaniu nieuczciwej konkurencji [Nachahmung im Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs], in: Dodatek do Monitora Prawniczego 21/2003: 10 lat ustawy o zwalczaniu nieuczciwej konkurencji [Beiheft zum Monitor Prawniczy: 10 Jahre des Gesetzes zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs], S. 12.

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Geschmacksmustern sowie über Marken. Seit der Reform im Jahre 2000 werden all diese ausschließlichen Rechte unter einem gemeinsamen normativen Dach erfasst, und zwar im Gesetz vom 30. Juni 2000 – Recht des gewerblichen Eigentums (polnGEG) 7. Hier werden sowohl die materiellrechtlichen, wie auch verfahrensrechtlichen Fragen für die einzelnen Schutzrechte festgelegt. Der gesetzliche Schutz wird hier insbesondere durch zivilrechtliche Ansprüche (Art. 283 –302), aber auch durch die Strafbestimmungen (Art. 302 –310) gewährleistet. Für den hier erörterten Fragenkomplex ist schließlich das Urheberrecht 8 von Bedeutung. Da die Nachahmung unter Umständen die Verletzung der Interessen des Urhebers an seinem Werk bedeuten kann, ist hier das Gesetz vom 4. Februar 1994 über das Urheberrecht und verwandte Rechte 9 (polnUrhG) zu nennen. Hier ist der rechtliche Schutz auch zweigleisig konzipiert. Außer den Ansprüchen auf zivilrechtlicher Ebene (Art. 78 –80) können die Rechtsverletzungen strafrechtlich (Art. 115 –123) verfolgt 10 werden. In keinem der oben erwähnten Rechtsakte der nationalen Gesetzgebung wird auf die Nachahmung bzw. das Nachahmen explizit verwiesen. Die einzige Ausnahme bildet hier die Kernregelung des polnischen Lauterkeitsrechts und zwar das Gesetz vom 16. April 1993 über die Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs 11 (weiter als „polnUWG“). Die nachfolgenden Ausführungen sind eben dieser Form der Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs durch die Spezialvorschriften gewidmet. III. Konzeption der unlauteren Nachahmung im polnUWG – einführende Bemerkungen Das polnUWG regelt die Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs im wirtschaftlichen Verkehr im Interesse der Öffentlichkeit, der Unternehmer und der Kunden. Die Struktur des Gesetzes, insbesondere die zentrale Stellung des generellen Verbots der unlauteren Wettbewerbshandlungen (sog. Generalklausel des Art. 3 Abs. 1), ähnelt sehr stark dem insbesondere im deutschsprachigen Raum 7 Ustawa – prawo własno´sci przemysłowej (einheitlicher Text in GBl. von 2003 Nr. 119, Pos. 1117 mit späteren Änderungen). Zu dem Gesetz: Nowi´nska / Promi´nska / du Vall, Prawo własno´sci przemysłowej [Recht des gewerblichen Eigentums], 4. Aufl. Warschau 2008. 8 Siehe umfassend: Barta (Hrsg.), Prawo autorskie. System prawa prywatnego. Tom 13 [Urheberrecht. System des Privatrechts. 13. Band], Warschau 2007. 9 Ustawa o prawie autorskim i prawach pokrewnych (einheitlicher Text in GBl. von 2006 Nr. 90, Pos. 631 mit späteren Änderungen). 10 Für die Durchführung der Strafverfahren aufgrund des polnischen Gesetzes über das Urheberrecht sind die in der jeweils geltenden Verordnung des Justizministers bestimmten Amtsgerichte zuständig. 11 Ustawa zwalczaniu nieuczciwej konkurencji (einheitlicher Text in GBl. von 2003 Nr. 153, Pos. 1503 mit späteren Änderungen). Siehe die deutsche Übersetzung in: Polnische Wirtschaftsgesetze, S. 521ff.

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tradierten Modell des Lauterkeitsrechts. Polen knüpfte damit an die in Deutschland, in der Schweiz oder in Österreich bewährten Lösungen an, diese haben sich jedoch bereits seit den zwanziger Jahren (des 20. Jahrhunderts) 12 den polnischen Gegebenheiten entsprechend fortentwickelt. Nach Art. 3 Abs. 1 ist als unlautere Wettbewerbshandlung jede Handlung verboten, welche dem Gesetz oder den guten Sitten widerspricht. Zugleich muss laut dieser Vorschrift die Gefährdung oder Verletzung des Interesses eines anderen Unternehmers oder Kunden vorliegen. Mit diesem allgemeinen Verbot ist eine gesetzliche Grundlage geschaffen, welche zahlreiche und komplexe Sachverhalte des Wirtschaftslebens erfassen soll. Die „guten Sitten“ werden damit zu einem wichtigen Maßstab der Bewertung der einzelnen Handlungen gemacht. Dieser Maßstab soll der Judikative als ein geeignetes – auch wenn nicht leicht handhabbares – Werkzeug dienen. Gleichzeitig werden im Abs. 2 die Bezeichnungen für mehrere Delikte aufgelistet, welche im Einzelnen in den Art. 5 bis 17e polnUWG formuliert werden. Mit der Zusammenstellung dieser typisierten Tatbestände wollte der Gesetzgeber die wichtigsten und wohl gefährlichsten UWG-Delikte zur besseren Realisierung des gesetzlichen Schutzzweckes aufzeigen. IV. Verbot des sklavischen Nachbaus – Merkmale des zivilrechtlichen Delikts In dem in Art. 3 Abs. 2 enthaltenen Katalog der zivilrechtlich konzipierten UWG-Delikte wird die Nachahmung von Erzeugnissen erwähnt. Damit gehört es eindeutig der Gruppe der bedeutenden unlauteren Wettbewerbshandlungen an. Die gesetzlichen Merkmale dieses Delikts findet sich in Art. 13 polnUWG. In zwei Absätzen werden hier systematisch zwei unterschiedliche Formen der Nachahmung spezifiziert. Im ersten Absatz ist die unlautere und damit verbotene Nachahmung geregelt. Dagegen wird im zweiten Absatz die zulässige Nachahmung definiert. Damit werden die Merkmale der unlauteren Handlung präziser bestimmt. Eine solche Konstruktion der gesetzlichen Norm war für das polnUWG (in seiner ursprünglichen Fassung) nicht typisch. Zwar wird auch bei anderen traditionellen Delikten (wie zum Teil beim Geheimnisverrat in Art. 11 oder bei Verleitung zum Vertragsbruch in Art. 12) versucht, nach dem Regel-AusnahmePrinzip die einzelnen Tatbestände zu formulieren. Eine Gegenüberstellung des Zulässigen und Unzulässigen wurde indes erst in einer der neuesten Novellen bei der Erweiterung des Katalogs der typisierten Lauterkeitsdelikte eingeführt 13. 12 Das erste polnUWG kommt aus dem Jahre 1926 (GBl. von 1930 Nr. 56, Pos. 467) und ersetzte mit seinem Inkrafttreten das auf den polnischen Gebieten geltende deutsche UWG von 1909. In der Nachkriegszeit konnte es im Hinblick auf das damalige wirtschaftspolitische System keine Geltung beanspruchen, wurde jedoch zeitgleich mit dem Systemwandel Anfang der 90er Jahren wieder ins Spiel gebracht.

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Dieser spezifische Aufbau der Normen scheint den Gedankengang des Gesetzgebers widerzuspiegeln. Die einzelnen auf diese Weise normativ erfassten Handlungen sind nur in bestimmter, gesetzlich festgelegter Gestalt, also nicht grundsätzlich verboten. Indem man die zulässigen Formen der Handlung vorschreibt, präzisiert man die Grenzen des Unzulässigen und trägt somit deutlich zur Rechtssicherheit bei. Damit bleiben die für den Wettbewerbskampf durchaus positiven Elemente erhalten und sogar gewissermaßen geschützt. Man will den Freiraum für die Entfaltung der wirtschaftlichen Aktivitäten möglichst offen lassen und nur die Praktiken eindämmen, die den fairen Wettbewerb verfälschen. Ausgangspunkt für die lauterkeitsrechtliche Bewertung der Nachahmungshandlung bildet der Grundsatz der Nachahmungsfreiheit, der bereits verfassungsrechtlich verankert wird. Als unlauter gilt danach ausschließlich die „Nachahmung fertiger Erzeugnisse, die darauf beruht, dass mithilfe technischer Reproduktionsmittel die äußere Form des Erzeugnisses nachgebildet wird, wenn dies geeignet ist, die Kunden über die Identität des Herstellers oder des Erzeugnisses irrezuführen“ (Art. 13 Abs. 1 polnUWG). Der Wortlaut dieser Vorschrift ist seit dem Inkrafttreten des polnUWG unverändert geblieben. Mit dem Begriff des fertigen Erzeugnisses wird zunächst die Nachahmung auf die Produkte (auch ihre Verpackungen 14) bezogen. Somit scheidet die Nachahmung von Dienstleistungen aus dem Anwendungsbereich dieser Vorschrift aus. Des Weiteren werden nur die Produkte sowie ihre Teile (z.B. Ersatzteile) 15 geschützt, welche selbstständig verkehrsfähig und „verkehrsreif“ sind. Solange die Entwürfe, Projekte, Skizzen oder Modelle nicht in Verkehr gebracht werden sollen 16, werden sie auch von dieser Vorschrift nicht erfasst. In Frage käme in solchen Fällen sicherlich der Schutz aufgrund anderer polnUWG-Vorschriften 13

Gesetz vom 5. Juli 2002 über die Änderung des polnUWG (GBl. Nr. 126, Pos. 1071). Danach werden die Prämien und Zugaben in zweierlei Form geregelt (Art. 17a Abs. 1 und 2 polnUWG). Ähnlich hatte man auch die Regelung zu Schneeballsystemen konzipiert, in der in einem Absatz die Merkmale der zulässigen Formen derartiger Verkaufsveranstaltungen und in dem anderen Absatz dagegen die lauteren Vertriebsmethoden geregelt werden. (Art. 17c Abs. 1 und 2 polnUWG). 14 Ke˛pi´nski, Glosa do wyroku Sa˛du Najwy˙zszego z 11.10.2001 r. [Anmerkung zum Urteil des Obersten Gerichts vom 11.10.2001] (Az. II CKN 578/99), Orzecznictwo Sa˛dów Polskich, 6/2002, S. 310 (sog. „Rasiercreme“-Fall). So auch Urteil des Obersten Gerichts vom 7.11.2002 (Az. I CKN 1319/00), Orzecznictwo Sa˛du Najwy˙zszego Izba Cywilna, 5/2003, Pos. 73 („LEGO“-Fall) und das Urteil des Obersten Gerichts vom 9.1.2008 (Az. II CSK 363/07) („Lindt-Osterhasen“-Fall). 15 Nowi´nska / du Vall, Komentarz do ustawy o zwalczaniu nieuczciwej konkurencji [Kommentar zum Gesetz über die Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs], 3. Aufl. Warschau 2006, Art. 13 Rn. 6. 16 Urteil des Appellationsgerichts in Lublin vom 27.5.1999 (Az. I ACa 147/99), Orzecznictwo Sa˛dów Apelacyjnych, 2003, Heft 3, Pos. 11.

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(z.B. Geheimnisschutz nach Art. 11) oder die nahe liegende Anwendung des Urheberrechts 17. Die Reichweite des gesetzlichen Verbots wird noch weiter beschränkt, da die Nachbildung nicht nur das fertige Erzeugnis, sondern gerade seine äußere Form betreffen muss. Es handelt sich hier um die Nachahmung solcher Eigenschaften eines Produkts, die sinnlich wahrnehmbar sind. Das Kopieren der inneren Struktur eines Produkts (z.B. innere Elemente eines Spielzeugautos oder eines elektrischen Küchengeräts), die dem Kunden nicht zugänglich ist, wird damit nicht untersagt (siehe auch unten Bemerkungen zu Produkten mit eigenartiger Form). Von großer Bedeutung für die Anwendung des Art. 13 Abs. 1 polnUWG sind auch die Instrumente der Nachahmungshandlung. Das Gesetz setzt eindeutig den Gebrauch technischer Reproduktionsmittel voraus. Damit werden Handlungen nicht erfasst, bei welchen das kopierte Produkt das Ergebnis von Handarbeit ist 18. In Mischfällen jedoch, auch wenn die Handarbeit sogar die wichtigste Produktionsetappe darstellt, aber das Anfertigen des Produkts ohne Einsatz von technischen Werkzeugen nicht möglich ist, soll das Kopieren als unlauter angesehen werden. Erst eine mechanische Vervielfältigung des fremden Erzeugnisses unter Anwendung technischer Geräte macht die Nachahmung im industriellen Umfang erst möglich. Daher betrifft die kommentierte Vorschrift des Art. 13 Abs. 1 polnUWG eigentlich den Nachbau von Produkten, wobei es nicht auf das technische Niveau der angewandten Werkzeuge ankommen sollte. Das wohl zentrale Merkmal des Delikts bildet das Merkmal der Irreführung. Der Nachbau, auch wenn sonstige Elemente der unlauteren Handlung (Kopieren der äußeren Form des fertigen Erzeugnisses mittels technischer Reproduktionsmittel) vorliegen, ist zulässig, solange er nicht geeignet ist, die Kunden über die Identität des Herstellers oder des Erzeugnisses zu täuschen (siehe dazu auch Punkt V). Das Erfordernis der Täuschungsgefahr 19 ist danach für die im polnischen Recht vertretene Konstruktion der unlauteren Nachahmung von zentraler Bedeutung. Im Schrifttum ist es allgemein anerkannt, dass das Vorbild für diese normative Lösung im wettbewerbsfreundlichen Ansatz der anglo-amerikanischen Judikatur 20 zu suchen ist. Hier wird der Grundsatz der Nachahmungsfreiheit hervorgehoben und 17 Pózniak-Niedzielska / Sołtysi´nski in: Szwaja (Hrsg.), Ustawa o zwalczaniu nieuczciwej konkurencji. Komentarz [Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs. Kommentar], 2. Aufl. Warschau 2006, Art. 13 Rn. 5. 18 Hier ist allerdings die Anwendung von Art. 3 (Generalklausel) nicht auszuschließen. Siehe Po´zniak-Niedzielska / Sołtysi´nski in: Szwaja, Art. 13 Rn. 4; Nowi´nska / du Vall, Art. 13 Rn. 12. 19 Eine tatsächliche Täuschung muss danach nicht eintreten, s. Podrecki, S. 12f. 20 Po´zniak-Niedzielska / Sołtysi´nski in: Szwaja, Art. 13 Rn. 1; Sołtysi´nski, Coexistence between the tort of passing off and freedom of slavish imitation in Polish unfair competition law, in: Vaver / Bently (Hrsg.), Intellectual Property in the New Millennium. Essays in Honour of William R. Cornish, Cambridge University Press 2004, S. 189ff.

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der Schutz vor Ausbeutung fremder Leistung in Nachahmungsfällen ausschließlich bei Vorliegen der Irreführung (deception) zugelassen. In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob es außerhalb von den durch Art. 13 polnUWG erfassten Fällen, die sklavische Nachahmung nicht durch die Anwendung der Generalklausel (Auffangtatbestand des Art. 3 polnUWG) 21 zu begegnen wäre. Diese spricht nur von einem Rechtsverstoß oder der sittenwidrigen Handlung unter Verletzung bzw. Gefährdung der Interessen eines anderen Unternehmens oder eines Kunden. Eine Täuschungsgefahr muss für eine unlautere Wettbewerbshandlung nach Art. 3 Abs. 1 polnUWG auf keinen Fall vorliegen. Auf diesem Fundament kann die Generalklausel von der Lehre und insbesondere von der Rechtsprechung für die nicht typisierten Sachverhalte herangezogen werden. Der lauterkeitsrechtliche Lückenfüllungsgrundsatz soll dennoch gerade bei den hier besprochenen Handlungen mit äußerster Vorsicht angewandt werden. In Art. 13 polnUWG, also einer Spezialvorschrift, hat der Gesetzgeber nur den qualifizierten Nachbau verboten. Diese Qualifikation ergibt sich gerade aus dem eindeutigen Verweis auf das Merkmal der Irreführung. Darin kommt die Geltung des Prinzips der wettbewerbseigenen Nachahmungsfreiheit zum Ausdruck. Dieser Grundsatz darf nicht durch die willkürliche Anwendung einer Generalklausel konterkariert werden. V. Grenzen der zulässigen Nachahmung im polnUWG Wie bereits oben erwähnt, wird der Anwendungsbereich des Nachahmungsverbots (Art. 13 Abs. 1 polnUWG) in Absatz 2 noch weiter eingeschränkt. Die in Art. 13 Abs. 2 polnUWG festgelegten Merkmale einer freien Nachahmung sind daher bei der Anwendung des Verbots von Abs. 1 unbedingt zu berücksichtigen 22. Liegen sie vor, bildet das Verhalten eines Unternehmers keine unlautere Wettbewerbshandlung. Als unlautere Wettbewerbshandlung gilt danach „nicht die Nachahmung funktioneller Eigenschaften eines Erzeugnisses, insbesondere des Aufbaus, der Konstruktion und der seine Nützlichkeit sicherstellenden Form. Bedarf die Nachahmung funktioneller Eigenschaften eines Erzeugnisses der Berücksichtigung seiner charakteristischen Form, wodurch die Möglichkeit der Irreführung der Kunden hinsichtlich der Identität des Erzeugers oder des Erzeugnisses entsteht, so hat der Nachahmer das Erzeugnis entsprechend auszuzeichnen.“ 23

21 Es darf ja nicht unerwähnt bleiben, dass das polnische Lauterkeitsrecht grundsätzlich an das kontinentale europäische Modell anknüpft. Die Schaffung einer Generalklausel scheint dies eindeutig zu belegen. 22 Podrecki, S. 13. 23 Polnische Wirtschaftsgesetze, S. 526.

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Der Nachbau eines Produkts mit dem Ziel, die Funktionalität des Originals zu gewährleisten, ist danach grundsätzlich frei. Die Eigenschaften eines Erzeugnisses, die frei kopiert werden dürfen, sind nur beispielhaft aufgelistet. In der Rechtsprechung hat man bisher die Anwendbarkeit der Vorschrift auf die Übernahme der Ausmaße, Proportionen, Gestaltungen oder Farben des originellen Erzeugnisses bejaht. In der hier erwähnten „LEGO“-Entscheidung wurde darüber hinaus die Frage der Kompatibilität der nachgeahmten Bausteine mit denjenigen von „LEGO“ untersucht. Die Kompatibilität wurde hier ausdrücklich als Ableitung der grundsätzlich freien Nachahmung verstanden 24 und daher auch nicht beanstandet. Dem wird sogar ein in der Lehre vertretenes Postulat der Förderung der Kompatibilität im Interesse der Allgemeinheit und der Verbraucher 25 entnommen. Werden dagegen die nicht-funktionellen Eigenschaften übernommen, muss das nicht unbedingt als unlautere Handlung angesehen werden. Der Nachahmer könnte sich dann auf jeden Fall nicht auf die gesetzliche Erlaubnisnorm berufen und müsste jeglichem Irreführungsvorwurf vorbeugen. Dies trifft insbesondere in Fällen zu, wo die Nachahmung funktioneller Eigenschaften ohne Übernahme der charakteristischen Form des Erzeugnisses nicht denkbar wäre. Da das einfache Abkupfern solcher eigenartigen Formen das Risiko der Irreführung beim Kunden erhöht, soll der Nachahmer besondere Vorkehrungen treffen, um dies zu verhindern. In Art. 13 Abs. 2 S. 2 polnUWG wird eine spezielle gesetzliche Kennzeichnungspflicht formuliert. Danach ist der Nachahmer verpflichtet, seine Erzeugnisse und insbesondere die Verpackungen auf solche Art und Weise zu markieren, dass jegliche Täuschungsgefahr ausgeschlossen ist. Es ist dabei dem Unternehmer überlassen, wie er im Einzelfall dieser Pflicht nachkommt. Er sollte damit nicht abwarten, bis dies von seinen Konkurrenten gefordert wird 26. Eine entsprechende Kennzeichnung sollte „klar und lesbar“ 27 sein. In der Lehre vertritt man die Auffassung, dass die Irreführungsgefahr auch dann zu bejahen ist, wenn die Kopie eines fremden Erzeugnisses anonym (z.B. in Folge des unerlaubten Entfernens der geschützten Marke), also ohne jeglichen Hinweis auf den Erzeuger oder die Herkunft in Verkehr gebracht wird. Ein Produkt, bei dessen Vermarktung die Firma und der Sitz des tatsächlichen Herstellers (Nachahmeridentität) durch den deutlichen Hinweis auf der Verpackung erkennbar sind, birgt grundsätzlich keine Täuschungsgefahr 28.

24 Urteil des Obersten Gerichts vom 7.11.2002 (Az. I CKN 1319/00), Orzecznictwo Sa˛du Najwy˙zszego Izba Cywilna, 5/2003, Pos. 73 („LEGO“-Fall). 25 Po´zniak-Niedzielska / Sołtysi´nski in: Szwaja, Art. 13 Rn. 9; Nowi´nska / du Vall, Art. 13 Rn. 8. 26 Po´zniak-Niedzielska / Sołtysi´nski in: Szwaja, Art. 13, Rn. 12; Nowi´nska du Vall, Art. 13 Rn. 10. 27 So das Oberste Gericht im „LEGO“-Fall. 28 Po´zniak-Niedzielska / Sołtysi´nski in: Szwaja, Art. 13 Rn. 7.

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Bei der Anwendung des Irreführungstatbestands wird auf die Anschauung des Durchschnittsverbrauchers abgestellt. Dieser gemeinschaftsrechtskonforme Ansatz wurde von der polnischen Judikative 29 bereits vor dem Beitritt Polens in die EU übernommen. Damit kam es zum grundsätzlichen Wandel des bisher geltenden – im Übrigen aus dem deutschen Recht stammenden 30 – Leitbilds eines unmündigen Verbrauchers 31. Die in Art. 13 Abs. 2 polnUWG statuierte Kennzeichnungspflicht, die im Zusammenhang mit der zulässigen Nachahmung der charakteristischen Form eines Erzeugnisses aufgestellt wird, mag – betrachtet man diese Vorschrift aus der Perspektive des deutschen Rechts – gewisse Assoziationen mit der Idee des wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutzes erwecken. Die charakteristische Form eines Produkts darf grundsätzlich kopiert werden. Dazu muss der Nachahmer sichergehen, dass das Kopieren solch eigenartiger Form tatsächlich zur Nachahmung der funktionellen Eigenschaften 32 unabdingbar ist. Und auch wenn dieses Erfordernis vorliegt, sollte noch zusätzlich überprüft und gegebenenfalls verhindert werden, dass eine solche Kopie eine Herkunftstäuschung verursacht. Die Anwendungspraxis dieser Norm hat dennoch nicht zur Anerkennung der Konstruktion der lauterkeitsrechtlich schutzwürdigen Eigenart geführt. Dies mag im Hinblick auf die grundsätzliche Zweckbestimmung des Art. 13 und allein des polnUWG heutzutage schwer vorstellbar sein, hängt aber andererseits zum gewissen Teil mit den Rechtsentwicklungen in anderen Teilbereichen des Rechts des geistigen Eigentums eng zusammen und sollte daher von vornherein nicht ausgeschlossen werden. Es bedarf auf jeden Fall einer sorgfältigen Abwägung der gegenüberstehenden Interessen 33 des Marktes und seiner Akteure. 29 Siehe bereits das Urteil des Obersten Gerichts vom 7.11.2002 (Az. I CKN 1319/ 00), Orzecznictwo Sa˛du Najwy˙zszego Izba Cywilna, 5/2003, Pos. 73 („LEGO“-Fall) und das Urteil des Obersten Gerichts vom 3.12.2003 (Az. I CK 358/02), Biuletyn Sa˛du Najwy˙zszego, 5/2004, S. 7; zuletzt das Urteil des Appellationsgerichts in Warschau vom 6.12.2007 (Az. VI ACa 842/07). 30 Skubisz, in: Szwaja, Art. 16 Rn. 87. 31 Nach der Umsetzung der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken kam es zur Streichung des Begriffs des Verbrauchers aus dem Art. 1 polnUWG. Damit sollte das Gesetz nur zum Zwecke des Schutzes von Interessen der Allgemeinheit, der Unternehmer und der Kunden Anwendung finden. Die Verbraucher sind damals ausdrücklich in der Norm (als besondere Gruppe von Kunden) erwähnt worden. Ihre Interessen werden nun ausdrücklich in Art. 1 des Gesetzes vom 23.8.2007 über die Unterbindung der unlauteren Geschäftspraktiken erwähnt. Mit diesem Gesetz werden die meisten Normen der sog. B2C-Richtlinie in das polnische Recht umgesetzt. Die Bedeutung der gerade erwähnten Änderung des polnUWG muss in der Rechtspraxis noch „verarbeitet“ werden. Hier wird auf jeden Fall die Ansicht vertreten, dass sich die Verbraucherinteressen nicht aus dem Schutzzweck des polnUWG wegdenken lassen. 32 Dass die Grenzen zwischen den funktionellen und ästhetischen (eigenartigen) Eigenschaften nicht immer einfach zu setzen sind, soll dabei bedacht werden, s. Podrecki, S. 13. 33 Podrecki, S. 14.

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In Lehre und Rechtsprechung wird dennoch grundsätzlich einheitlich angenommen, dass das polnische Lauterkeitsrecht durch den fundamentalen Gedanken des Schutzes gewisser „Attraktivität des Unternehmers“ („siła atrakcyjna przedsie˛biorcy“) und ihrer Auswirkung auf den Abnehmerkreis getragen wird 34. Es geht dabei um die Abgrenzung zwischen der redlichen und rechtskonformen Verhaltensweise und den Handlungen, welche gegen die festgelegten (im Wirtschaftsverkehr geltenden) Regeln verstoßen und nicht um den Schutz einer bestimmten Leistung. 35 VI. Kumulativer Rechtsschutz – Lauterkeitsrecht und das geistige Eigentum Innerhalb des komplexen normativen Gefüges des geistigen Eigentums treffen die einzelnen Normen öfter aufeinander 36. Da die Zugehörigkeit des Lauterkeitsrechts zu diesem umfassenden Rechtsbereich bereits im Hinblick auf internationale Systematisierungsansätze 37 auf der Hand liegt, ist die Frage nach der Zulässigkeit der parallelen Anwendung der Schutznormen des polnUWG einerseits und des polnGEG oder polnUrhG andererseits durchaus gerechtfertigt. Für das Thema der Nachahmung ist der rechtliche Rahmen des Schutzumfangs der Muster oder Modelle von großer Bedeutung. Durch erfolgreiche Eintragung in das vom polnischen Patentamt geführte Register können sie als gewerbliches Schutzrecht, z.B. als Geschmacksmuster (nach polnGEG „industrielles Muster“ 38), behandelt werden. Parallel kann ein Muster, falls es Ausdruck der geistigen Schöpfung von persönlichem Charakter ist, als Werk 39 urheberrechtlichen Schutz genießen. Umstritten bleibt die Möglichkeit der Anwendung des polnUrhG auf die Gebrauchsmuster. Zum Teil wird die Frage mit dem Verweis auf das Argument, 34

Siehe die Bemerkungen des Begründers dieser Konzeption Zoll in: Kraus / Zoll, Ustawa o zwalczaniu nieuczciwej konkurencji z obja´snieniami [Gesetz über die Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs mit Anmerkungen], Pozna´n 1929, S. 29, 33. 35 So das Oberste Gericht im Urteil vom 7.11.2002 (Az. I CKN 1319/00), Orzecznictwo Sa˛du Najwy˙zszego Izba Cywilna, 5/2003, Pos. 73 („LEGO“-Fall); s. auch Podrecki, S. 14. 36 Nowi´nska / Promi´nska / du Vall, S. 18f. 37 Siehe z.B. Art. 1 Abs. 2 Pariser Übereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums, revidiert in Stockholm am 14. Juli 1967 (GBl. von 1975, Nr. 9, Pos. 51) oder Art. 2 Übereinkommen vom 14.7.1967 zur Errichtung der Weltorganisation für geistiges Eigentum (GBl. von 1975, Nr. 9, Pos. 49). 38 Nach Art. 102 Abs.1 polnGEG ist ein industrielles Muster eine neue und eigenartige Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, der Gestalt, Farben, Oberflächenstruktur oder der Werkstoffe des Erzeugnisses oder seiner Verzierung ergibt. Siehe die nahezu gleich lautende Vorschrift im deutschen Recht (§1 Abs. 1 GeschmMG). 39 Nach Art. 1 Abs. 1 Nr. 5 poln UrhG werden zum Gegenstand des Urheberrechts auch die Werke der Design-Industrie gezählt.

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das polnGEG sei ein Spezialgesetz gegenüber dem polnUrhebG, beantwortet 40. In der Rechtsprechung 41 wird dagegen der parallele Schutz der Gebrauchsmuster aufgrund beider Gesetze zugelassen. In der bisherigen Judikatur wurde die Frage der Konkurrenz der Vorschriften des polnUWG und polnGEG zwar untersucht, die Zahl der höchstrichterlichen Entscheidungen ist jedoch sehr bescheiden 42. Bereits im Jahre 1998 hat das Oberste Gericht festgestellt, dass die Vorschriften des damaligen Patentgesetzes denen des polnUWG (Art. 3 und Art. 13) vorgehen 43. Die letzteren finden danach keine Anwendung, solange die „einschlägige Handlung auf Herstellung von Erzeugnissen unter Anwendung eines geschützten Musters beruht“. Der Sachverhalt deutete darauf hin, dass der Berechtigte in Polen ein fremdes im Ausland geschütztes Muster angemeldet hat, wobei die Schutzwirkung des Musters sich nicht auf das Gebiet Polens erstreckt hat, da Polen zu dieser Zeit noch nicht die Partei des Europäischen Patentübereinkommens 44 war. Solange jedoch die Eintragung des Schutzrechts nicht für unwirksam erklärt wird, kann der Gebrauch dieses Rechts nicht als unlautere Wettbewerbshandlung eingestuft werden. 45 In einer anderen Entscheidung 46 wurde die Anwendung des Art. 13 polnUWG davon abhängig gemacht, dass die nachgeahmten Erzeugnisse nicht sonderrechtlich geschützt waren. Die in diesem Fall beanstandeten Spielzeuge waren als Geschmacksmuster beim Patentamt angemeldet. Gilt ein solches Schutzrecht, braucht der Anmelder nicht nachzuweisen, dass die äußere Form seiner Erzeugnisse mithilfe technischer Reproduktionsmittel nachgebaut wurden. Unter Verweis auf sein ausschließliches Recht kann er auch dann entsprechende Ansprüche geltend machen, wenn keine sklavische Nachahmung, also keine Täuschungsgefahr vorliegt. Mit großem Interesse wird dann auch das weitere Verfahren im sog. „LindtOsterhasen“-Fall verfolgt. Das Oberste Gericht hat zuletzt 47 in seiner kassato40

Siehe bereits Kraus / Zoll, S. 41. Urteil des Appellationsgerichts in Warschau vom 1.2.1995 (Az. I ACz 1208/94); s. Po´zniak-Niedzielska / Sołtysi´nski in: Szwaja, Art. 13 Rn. 17. 42 ˙ Siehe die Übersicht bei: Zelechowski, Kolizja czynu nieuczciwej konkurencji i praw podmiotowych własno´sci przemysłowej – przegla˛d orzecznictwa Sa˛du Najwy˙zszego [Kollision der unlauteren Wettbewerbshandlung mit den gewerblichen Schutzrechten – Übersicht zur Rechtsprechung des Obersten Gerichts], Glosa 2/2007, S. 88ff. 43 Das Oberste Gericht im Urteil vom 26.11.1998 (Az. I CKN 904/97), Orzecznictwo Sa˛du Najwy˙zszego Izba Cywilna, 5/1999, Pos. 97 („Dosiergerät“-Fall). 44 Das Ratifizierungsgesetz trat erst am 1.3.2004 in Kraft; am diesem Tage wurde Polen zum Mitglied der Europäischen Patentorganisation. 45 So auf jeden Fall Po´zniak-Niedzielska / Sołtysi´nski in: Szwaja, Art. 13 Rn. 3. Siehe ˙ auch Podrecki, S. 14; Zelechowski, S. 91ff. 46 Urteil des Appellationsgerichts in Kattowitz vom 29.3.2000 (Az. I ACa 900/ 99) – „Springende Spielzeuge“-Fall. 41

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rischen Entscheidung die Sache an das ihm instanziell untergeordnete Gericht zurückverwiesen. Die Entscheidung enthält jedoch eine wichtige Aussage bezüglich des Art. 13 polnUWG: Das Gericht schloß die Anwendung dieser Vorschrift aus. Verwiesen wurde dabei auf das Ergebnis der sorgfältigen Untersuchung der Ähnlichkeiten und der Unterschiede beider Produkte. Auch wenn sie in Bezug auf die Gestalt und Form identisch waren, mußten auch andere Eigenschaften der Verpackung (insbesondere die Farben und die Ausgestaltung anderer graphischer Elemente, wie z.B. der Marke des Herstellers) bei der Entscheidung über den Rechtsverstoß berücksichtigt werden. Dabei wurde betont, dass das polnGEG 48 und das polnUWG zwar auf unterschiedlichen Schutzgedanken aufbauen, sich dadurch jedoch nicht gegenseitig ausschließen, sondern geradezu durchdringen. Das polnUWG soll den Markt als Ganzes (das freie, unverfälschte und faire Funktionieren des Wettbewerbs) schützen. Somit wird auch der Schutz der (eingetragenen und nicht eingetragenen) Marken miterfasst. Die Zurückverweisung hat dennoch dem zuständigen Gericht Anlass gegeben, die bisher oberflächliche Untersuchung anderer Anspruchsgrundlagen innerhalb des polnUWG erneut auf den Prüfstand zu stellen. Hingewiesen wird hier sowohl auf Art. 10 (irreführende Angaben bezüglich der Herkunft, Menge oder der Qualität) als auch auf die Generalklausel des Art. 3 polnUWG 49. Anders wird hingegen der parallele Leistungsschutz aufgrund des polnUWG und des polnUrhG bewertet. Hier wird mangels entsprechender positivrechtlicher Regeln grundsätzlich die kumulative Anwendung der beiden Gesetze nicht ausgeschlossen. Gleichzeitig will man die negativen Folgen dieser Betrachtungsweise (Gefahr der Schutzrechtsüberdehnung in den gemeinfreien Bereichen, Missbrauch der „rechtlichen Monopole“) dadurch unterbinden, dass man bei den industriellen Mustern ein höheres Niveau der schöpferischen Leistung fordert 50. VII. Strafbarkeit wegen sklavischer Nachahmung Das rechtliche Instrumentarium zur Bekämpfung der unlauteren Wettbewerbshandlungen hat sich lange Zeit grundsätzlich zweigleisig 51 entwickelt. Sowohl 47

Urteil des Obersten Gerichts vom 9.1.2008 (Az. II CSK 363/07), noch nicht veröffentlicht. 48 In diesem Fall wurde der Schutz einer eingetragenen Marke problematisiert, da ein solcher Bestandteil die Kennzeichnung eines Produkts bildete und somit bei der Prüfung der Voraussetzung der Täuschungsgefahr zu berücksichtigen war. 49 Podrecki, S. 13f. 50 Po´zniak-Niedzielska / Sołtysi´nski in: Szwaja, Art. 13 Rn. 17. 51 Die Entwicklung des Verbraucherrechts führte zur Schaffung der verwaltungsrechtlichen Grundlage für die Unterbindung solcher Lauterkeitsdelikte, die gegen die Interessen der Verbraucher verstoßen. Es handelt sich hier um sog. Praktiken, die Kollektivinteressen der Verbraucher verletzen. Das Verbot dieser Praktiken ist im Gesetz vom 16.2.2007 über

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das polnUWG von 1926 als auch das heute geltende Gesetz sahen neben zivilrechtlichen Ansprüchen auch eine strafrechtliche Verantwortung wegen einzelner Verstöße vor 52. Die Strafbestimmungen werden nun im 4. Abschnitt des polnUWG zusammengefaßt 53. Von den über zehn typisierten zivilrechtlichen Delikten haben nur fünf ihr strafrechtliches Pendant entweder in Form eines Vergehens (Verletzung des Betriebsgeheimnisses, Organisierung oder Leitung eines Schneeballsystems sowie sklavische Nachahmung) oder einer Ordnungswidrigkeit (irreführende Angaben, Anschwärzung und unlautere Anpreisung) gefunden 54. Mit der Auswahl dieser Strafnormen wollte der Gesetzgeber gerade die für den fairen Wettbewerbskampf und die Förderung der guten Handelssitten gefährlichsten Sachverhalte erfassen. Die strafbare Nachahmung, geregelt in Art. 24 polnUWG, wird als Vergehen mit Geldstrafe, Freiheitsbeschränkungsstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren geahndet. Die Einzelheiten bezüglich der Bemessung der einzelnen Kriminalsanktionen sind dem polnischen Strafgesetzbuch zu entnehmen 55. Es handelt sich hier um ein nur vorsätzlich begehbares Erfolgsdelikt. Wie bei anderen UWG-Strafbestimmungen, wurden auch bei der Gestaltung des Wortlauts des Art. 24 polnUWG die einzelnen ursprünglich privatrechtlich begründeten Merkmale übernommen. Insoweit ist derjenige strafbar, der „mit Hilfe technischer Reproduktionsmittel die äußere Form eines Erzeugnisses nachbildet oder eine solche Nachbildung in den Verkehr bringt und dadurch die Irreführung der Kunden hinsichtlich der Identität des Erzeugers oder des Erzeugnisses ermöglicht, wodurch dem Unternehmer ein beträchtlicher Schaden entsteht“. 56 den Schutz des Wettbewerbs und der Verbraucher (GBl. Nr. 50, Pos. 331 mit späteren Änderungen) geregelt. Zu ihrer Verfolgung ist der Präsident des Amtes für den Schutz des Wettbewerbs und der Verbraucher zuständig. Er entscheidet nach einem besonderen Verwaltungsverfahren über die Verhängung eventueller allgemein im Kartellrecht anwendbarer Sanktionen (insbesondere Geldbußen). 52 Abgesehen wird hier auch von den gemeinschaftsrechtlichen Regelungen, wie derjenigen in der Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 des Rates vom 22. Juli 2003 über das Vorgehen der Zollbehörden gegen Waren, die im Verdacht stehen, bestimmte Rechte geistigen Eigentums zu verletzen, und die Maßnahmen gegenüber Waren, die erkanntermaßen derartige Rechte verletzen (ABl. L196 vom 2.8.2003, S. 7 –14), deren Bedeutung auch für die Entwicklung des nationalen Rechts sicherlich nicht übersehen werden darf. 53 In einigen Fällen sind auch Vorschriften des polnischen Strafgesetzbuches (insbesondere Betrug oder Geheimnisverrat) anwendbar. Außerdem sollen unterschiedliche, über mehrere Gesetze verstreute, Spezialvorschriften des Wirtschaftsstrafrechts beachtet werden. 54 Zur neueren Rechtsentwicklungen siehe Błaszczyk, Nowe przepisy karne ustawy o zwalczaniu nieuczciwej konkurencji. Cz. I i II [Neue Strafvorschriften im Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs. Teil I und II], Monitor Prawniczy 2003, S. 1076ff. und 1125ff. 55 Siehe die ursprüngliche Fassung in deutscher Übersetzung von E. Weigend, Kodeks karny (Das polnische Strafgesetzbuch) vom 6. Juni 1997 in Kraft getreten am 1. September 1998, deutsche Übersetzung und Einführung, Freiburg i.B. 1998.

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Auch wenn dieses Zusammenwirken der zivil- und strafrechtlichen Normen durchaus nahe liegend zu sein scheint, ist es nicht von jeglichen Bedenken frei. Für dehnbare und inhaltlich konturenlose Begriffe, die für das Privatrecht durchaus praktikabel und im besprochenen Bereich (siehe Generalklausel) notwendig sind, ist im strafrechtlichen Bereich kein Raum. Nicht nur aus dem Bestimmtheitsgebot, sondern auch aus dem Analogieverbot und schließlich aus der Garantiefunktion des Strafrechts 57 ergeben sich die grundgesetzlichen Schranken des Strafgesetzgebers 58. In Art. 24 polnUWG werden alle in der zivilrechtlichen Vorschrift (Art. 13 Abs. 1 polnUWG) erwähnten Merkmale bis auf ein sehr wichtiges wiederholt. Strafbar ist danach nur der Nachbau mit Hilfe technischer Reproduktionsmittel. Verboten ist des Weiteren ausschließlich die Nachahmung der äußeren Form der Erzeugnisse. Dem Wortlaut des Gesetzes alleine kann nicht entnommen werden, inwieweit es für die Strafbarkeit relevant ist, ob ein „verkehrsfähiges“ Produkt oder erst sein Modell in der Entwurfsphase kopiert werden 59. Nach Art. 13 Abs. 1 polnUWG (zivilrechtliche Vorschrift) ist nur die Nachahmung der fertigen Erzeugnisse als unlauter anzusehen 60. In der Strafbestimmung ist jedoch dieses die Anwendung der Norm einengende Merkmal nicht erwähnt. Soll danach die Reichweite der Strafnorm weitergehen als diejenige des privatrechtlichen Verbots? Im Hinblick auf die gerade genannten verfassungsrechtlichen Grundsätze sollte der Anwendungsbereich der Strafnorm nicht darüber hinausgehen, was bereits privatrechtlich als zulässig bestimmt wurde 61. Gerechtfertigt erscheint dagegen die Formulierung der Handlungsmerkmale des Vergehens in Art. 24 polnUWG. Nicht allein die Nachbildung, sondern auch das Inverkehrbringen der nachgeahmten Produkte wird unter Strafe gestellt. Damit wollte man offensichtlich in wirksamer Weise gegen die Verfälschung des Wettbewerbs vorgehen und nicht nur die Hersteller solcher illegalen Kopien treffen, sondern auch diejenigen, welche diese Produkte auf den Markt bringen. Für das privatrechtliche Delikt (Art. 13 Abs. 1 polnUWG) bedeutet dies eine Erweiterung der Reichweite des gesetzlichen Verbots, welche eventuell auch durch entsprechende Anwendung des Art. 3 (Generalklausel) zu erreichen wäre. Die Auslegung des gleich lautenden Merkmals des Inverkehrbringens in Art. 305 Abs. 1 polnGEG (strafbare Markenverletzung) ist in der letzten Zeit 56

Polnische Wirtschaftsgesetze, S. 533. Zawłocki, Prawo karne gospodarcze [Wirtschaftsstrafrecht], Warschau 2007, S. 49ff. 58 Insbesondere Art. 42 der Verfassung der Republik Polen. 59 Mozgawa in: Szwaja, Art. 24 Rn. 2; Nowi´nska / du Vall, Art. 24 Rn. 1. 60 Skorupka, Prawo karne gospodarcze [Das Wirtschaftsstrafrecht], Warschau 2005, S. 177. 61 Zu Besonderheiten der wirtschaftsstrafrechtlichen Tatbestände im polnischen Recht siehe die Überlegungen von Zawłocki, S. 17ff. 57

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Gegenstand einer sehr lebhaften Diskussion geworden. Diese wurde durch einen Beschluss des Obersten Gerichts ausgelöst, in dem sich das Gericht für eine enge Auslegung ausgesprochen hat und das Inverkehrbringen als eine Handlung des Herstellers verstanden hat, mit der er die mit der verfälschten Marke versehenen Produkte erstmalig für den Vertrieb zulässt 62. Diese Auslegung wurde kürzlich in höchstrichterlicher Judikatur bestätigt 63. Es ist dennoch abzuwarten, wie sich diese Rechtsprechung für die Rechtssicherheit in dem sehr komplexen Bereich des gewerblichen Eigentums auswirken wird. Von großer praktischer Bedeutung für die Anwendung des Art. 24 polUWG ist auch das Merkmal des beträchtlichen Schadens. Verursacht die Nachahmungshandlung keinen oder nur geringfügigen Schaden, ist die objektive Zurechnung der strafbaren Handlung danach kaum möglich. In der Lehre ist die Auslegung des Schadensbegriffs, insbesondere die Frage, ob es nur den materiellen oder auch immateriellen Schaden umfassen sollte, umstritten. Die Grenzen des strafrechtlich relevanten Schadens will man nicht abstrakt festlegen 64 und verweist nicht auf absolute Zahlen, sondern auf das Verhältnis des Schadens zum Umfang der wirtschaftlichen Tätigkeit, mit der der Schaden zusammenhängt. Die vorliegenden Ergebnisse der Forschung im Bereich der Anwendung des Art. 24 polnUWG in der staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Praxis 65 belegen das enge Zusammenwirken der Strafnormen des Lauterkeitsrechts mit denjenigen aus dem Bereich des Marken- oder Urheberschutzes. Die parallele Anwendung der Strabestimmungen aus beiden Rechtsbereichen (Lauterkeitsrecht und der Schutz des gewerblichen Eigentums) ergibt sich aus der Intensivierung der kriminalpolitischen und -taktischen Maßnahmen zur Bekämpfung der unterschiedlichen Erscheinungen der Produktpiraterie. Das hier dargestellte Vergehen (Art. 24 polnUWG) wird nur auf Antrag verfolgt (Art. 27 polnUWG). Die Überlassung der Verfolgungsinitiative dem jeweiligen 62

Beschluss des Obersten Gerichts vom 24.5.2005 (Az. I KZP 13/05) und die ausgewählten Stellungnahmen in der Lehre dazu: Król-Bogomilska, Wprowadzenie do obrotu towarów oznaczonych podrobionym znakiem towarowym – glosa do uchwały Sa˛du Najwy˙zszego [Das Inverkehrbringen von Waren mit gefälschter Marke – Anmerkung zum Urteil des Obersten Gerichts], Glosa 3/2007, S. 90; Traple, Dalszy obrót towarami z podrobionymi znakami towarowymi bez sankcji karnej? [Das fortgesetzte Inverkehrbringen von Waren mit gefälschten Marken ohne Strafsanktion], Glosa 4/2005, S. 76 oder Tomaszek, Poje˛cie „wprowadzenie do obrotu“ [Der Begriff „des Inverkehrbringens“], Monitor Prawniczy 1/2006, S. 45. 63 Siehe die Beschlüsse des Obersten Gerichts vom 20.3.2008 (Az. I KZP 1/08) und vom 30.6.2008 (Az. I KZP 8/08), veröffentlicht unter www.sn.pl/orzecznictwo/index .html. Dazu auch der Beschluss des Obersten Gerichts vom 21.9.2005 (Az. I KZP 29/05), Orzecznictwo Izby Karnej i Wojskowej Sa˛du Najwy˙zszego 10/2005, Pos. 90, bezüglich der Vermarktung der Tabakerzeugnisse ohne gesetzlich bestimmte Warnhinweise. 64 Die Forschungen betreffen den Zeitraum 1997 –1999: siehe Mozgawa in: Szwaja, Art. 24, Rn. 2; Nowi´nska / du Vall, Art. 24 Rn. 4ff. 65 Mozgawa in: Szwaja, Art. 24 Rn. 8; Skorupka, S. 176.

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Verletzten gilt als Regel in den meisten Strafbestimmungen im Bereich des geistigen Eigentums. VIII. Zusammenfassung Die gesetzliche Regelung der Nachahmung im polnischen Lauterkeitsrecht zeigt eine Reihe von Problemen auf, die für die Entwicklung einer freien Marktwirtschaft eine sehr große Rolle spielen. Die Nähe dieser Regelung zu anderen Schutzgesetzen des geistigen Eigentums macht die Frage nach der Reichweite der entsprechenden Zivil- und Strafbestimmungen noch brisanter. Der primäre Zweck des polnischen Lauterkeitsrechts liegt offensichtlich im Schutz der fairen Verhaltensweisen im Wirtschaftsleben. Dieser Schutzgedanke ist zugleich der Inbegriff der verfassungsrechtlich verankerten Gewerbefreiheit. Dieser ist u.a. die Nachahmungsfreiheit zu entnehmen, welche gerade im polnUWG in besonderer Form zum Ausdruck gebracht wird. Dementsprechend wurde das Verbot der sklavischen Nachahmung im polnischen Lauterkeitsrecht eng gefasst. Damit wird der Schutz von Innovationen keinesfalls unterdrückt, sondern gerade gefördert. Das Wettbewerbsrecht soll nicht zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Monopole, wie sie im geistigen und gewerblichen Eigentum durchaus schutzwürdig sind, missbraucht werden. Es kann und soll nicht die anderen Gesetze des geistigen und gewerblichen Rechts ersetzen. Will sich der Unternehmer auf dem Markt mit schöpferischen und innovativen Ideen durchsetzen, so soll er nicht nur redlich handeln, sondern zugleich von der breiten Palette der rechtlichen Schutzmöglichkeiten Gebrauch machen. Das Lauterkeitsrecht ist nur eins davon. Das darin geschaffene normative Instrumentarium, das zivil- und strafrechtliche Elemente kombiniert, bildet ein Beispiel der grundsätzlich gelungenen Mechanismen zur Bekämpfung der sklavischen Nachahmung. Der praktische Befund, insbesondere die Anzahl der höchstrichterlichen Entscheidungen, in denen die einzelnen Probleme des Nachahmungsschutzes untersucht werden, bleibt äußerst bescheiden. Im Hinblick darauf gewinnt die wissenschaftliche Diskussion an Bedeutung. Gerade im Bereich des Lauterkeitsrechts kann sich der rechtsvergleichende Gedankenaustausch zwischen Deutschland und Polen besonders vorteilhaft auf die Rechtsentwicklung auswirken 66. 66 Das Thema des Beitrags knüpft an den Gegenstand des im Rahmen des Sokrates / Erasmus-Hochschulvertrages absolvierten Forschungsaufenthalts des Verfassers an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät (Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Wirtschaftsrecht, insbes. Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht von Prof.Dr.Ansgar Ohly) der Universität Bayreuth (Juni 2007) an. Der Verfasser bedankt sich bei Herrn Mark-E. Orth (wissenschaftlicher Assistent, Universität Bayreuth) für die freundliche Übernahme der sprachlichen Korrektur des Textes.

Verzeichnis der Veröffentlichungen von Andrzej J. Szwarc I. Selbstständige Werke 1. 2. 3.

4. 5.

6. 7. 8.

Sport a prawo karne (Sport und Strafrecht), Pozna´n 1971, 195 S. Wypadki sportowe w s´wietle prawa karnego (Sportunfälle im Lichte des Strafrechts), Pozna´n 1972, 59 S. Zgoda pokrzywdzonego jako podstawa wyła˛czenia odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe (Die Einwilligung des Verletzten als Strafausschließungsgrund bei Sportunfällen), Pozna´n 1975, 187 S. Karnoprawne funkcje reguł sportowych (Strafrechtliche Funktionen der Sportregeln), Pozna´n 1977, 215 S. Przeste˛pczo´sc´ przeciwko rodzinie, opiece i młodzie˙zy w Polsce w latach 1948 –1980 w s´wietle statystyki kryminalnej (Die Kriminalität gegen die Familie, Vormundschaft und Jugend in Polen in den Jahren 1948 –1980 im Lichte der Kriminalstatistik), Pozna´n 1984, 100 S. Kodeks karny i inne teksty prawne. Wprowadzenie (Das Strafgesetzbuch und andere Gesetze. Einleitung), Warszawa 1994, 131 S. Kodeks karny i inne teksty prawne. Wprowadzenie (Das Strafgesetzbuch und andere Gesetze. Einleitung), 2. Auflage, Warszawa 1994, 167 S. Aktuelle Probleme des polnischen Straf- und Sportrechts (in japanischer Sprache), Tokio 2000, 170 S.

II. Herausgeber- / Mitherausgebertätigkeit 1. 2.

3.

4.

Prawne problemy AIDS (Die Rechtsprobleme von AIDS), Warszawa 1990, 389 S. Prawne problemy transferu w piłce no˙znej w Polsce i Republice Federalnej Niemiec (Juristische Probleme des Transfers im Fußballsport in Polen und in der Bundesrepublik Deutschland), Pozna´n 1990, 117 S. Ioannes Ioachimus Hirsch. Doctor honoris causa Universitatis Studiorum Mickiewiczianae Posnaniensis (Hans-Joachim Hirsch. Doctor honoris causa der AdamMickiewicz-Universität in Pozna´n), Pozna´n 1991, 73 S. (in polnischer und deutscher Sprache). Prawne problemy dopingu w sporcie (Juristische Probleme des Dopings im Sport), Pozna´n 1992, 198 S.

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Verzeichnis der Veröffentlichungen von Andrzej J. Szwarc Porozumiewanie sie˛ i uzgadnianie rozstrzygnie˛´c przez uczestników poste˛powania karnego (Absprachen und Vereinbarungen von Entscheidungen durch die Teilnehmer am Strafverfahren), Warszawa-Pozna´n 1993, 114 S. Naruszenia porza˛dku towarzysza˛ce imprezom sportowym (Ordnungsverletzungen im Rahmen von Sportveranstaltungen), Pozna´n 1995, 155 S. AIDS und Strafrecht (in deutscher Sprache), Berlin 1996, 324 S. AIDS i prawo karne (AIDS und Strafrecht), Pozna´n 1996, 208 S. Das erste deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung (in deutscher Sprache), Pozna´n 1998, 259 S. (herausgegeben zusammen mit Andrzej Wa˛sek). European Commission: Research on bioethics – AIDS: Ethics, Justice and European Policy (in englischer Sprache), hrsg. von Rebecca Bennet, Charles A. Erin, John Harris, Luxembourg 1998, 193 S. (Mitverfasser). Rozwa˙zania o prawie karnym (Betrachtungen über das Strafrecht), Pozna´n 1999, 343 S. Prawo sportowe. Akty prawne (Sportrecht. Rechtsakte), Pozna´n 1999, 868 S. Status prawny polskich klubów i zwia˛zków sportowych (Der Rechtsstatus der polnischen Sportklubs und -verbände), Pozna´n 2000, 170 S. Przeste˛pczo´sc´ przygraniczna. Poste˛powanie karne przeciwko cudzoziemcom w Polsce (Kriminalität im Grenzgebiet. Das Strafverfahren gegen Ausländer in Polen), Pozna´n 2000, 195 S. Odpowiedzialno´sc´ dyscyplinarna w sporcie (Die Disziplinarverantwortlichkeit im Sport), Pozna´n 2001, 166 S. Przeste˛pczo´sc´ przygraniczna. Tom 1: Relacje praktyków (Kriminalität im Grenzgebiet. Band 1. Expertenhearing), Frankfurt / Oder-Słubice-Pozna´n 2002, 305 S. (herausgegeben zusammen mit Gerhard Wolf). Tzw. sprawa Bosmana z polskiej perspektywy (Der sogenannte Bosman-Fall aus polnischer Sicht), Pozna´n 2007, 189 S. Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen (in deutscher Sprache), Berlin 2007, 364 S. (herausgegeben zusammen mit Jan C. Joerden). Das dritte deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung. Aktuelle Probleme des deutschen, japanischen und polnischen Strafrechts (in deutscher Sprache), Pozna´n 2007, 276 S. Europeizacja prawa karnego w Polsce i w Niemczech – podstawy konstytucyjnoprawne (Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen), Pozna´n 2007, 365 S. (herausgegeben zusammen mit Jan C. Joerden). Prawno-karne granice dopuszczalnego pomawiania (Strafrechtliche Grenzen zulässiger Diffamierung), Pozna´n 2008, 109 S. Represyjno´sc´ polskiego prawa karnego (Repressivität des polnischen Strafrechts), Pozna´n 2008, 94 S. Korupcja w sporcie (Korruption im Sport), Pozna´n 2008, 217 S.

Verzeichnis der Veröffentlichungen von Andrzej J. Szwarc

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24. Unia europejska i sport oraz wspieranie społecznego dialogu w europejskim piłkarstwie zawodowym (Die Europäische Union und der Sport sowie die Förderung des gesellschaftlichen Dialogs im europäischen Fußballsport), Pozna´n 2007 (im Erscheinen). 25. Herausgeber der Schriftenreihe: AIDS und Recht (mit folgenden Bänden): a) Wioletta Pigulska, Diagnostyka zaka˙ze´n HIV a prawo karne (Die Diagnostik der HIV-Infizierung und das Strafrecht), Pozna´n 1999, 105 S. b) Rafał Szczepaniak, Odpowiedzialno´sc´ odszkodowawcza za zaka˙zenie HIV (Die Entschädungsverantwortlichkeit bei einer HIV-Infizierung), Pozna´n 1999, 96 S. c) Bogusław Janiszewski, HIV i AIDS w zakładach karnych. Problemy prawnokarne (HIV und AIDS in Strafanstalten. Strafrechtliche Probleme), Pozna´n 1999, 95 S. d) Tomasz Sokołowski, Problematyka AIDS w s´wietle prawa rodzinnego (Die AIDSProblematik im Lichte des Familienrechts), Pozna´n 2000, 126 S. e) Agnieszka Liszewska, Wojciech Robaczy´nski, AIDS a tajemnica lekarska (AIDS und die ärztliche Schweigepflicht), Pozna´n 2001, 96 S. f) Stanisław Stachowiak, Problemy karnoprocesowe zwia˛zane z HIV i AIDS (Strafprozessrechtliche Probleme im Zusammenhang mit HIV und AIDS), Pozna´n 2001, 125 S. g) Leszek Kubicki, HIV / AIDS – odmowa leczenia i nieudzielenie pomocy medycznej (HIV / AIDS – Verweigerung der ärztlichen Behandlung und das Unterlassen der medizinischen Hilfeleistung), Pozna´n 2001, 92 S. h) Jan Sandorski, Mie˛dzynarodowa ochrona praw człowieka a HIV / AIDS (Internationaler Schutz der Menschenrechte und HIV / AIDS), Pozna´n 2002, 203 S. i) Jan Sandorski, Dochodzenie praw osób z HIV / AIDS (Die Geltendmachung der Rechte von Personen mit HIV / AIDS), Pozna´n 2003, 164 S. ´ j) Andrzej Kijowski, Krzysztof Slebzak, HIV / AIDS w s´wietle prawa pracy i prawa socjalnego (HIV / AIDS im Lichte des Arbeits- und Sozialrechts), Pozna´n 2004, 136 S. 26. Mitveranstalter der Tagungsreihe: Kriminalität im Grenzgebiet (mit folgenden Tagungsbänden in deutscher Sprache): a) Kriminalität im Grenzgebiet. Band 1. Erfahrungen aus der Praxis. Expertenhearing vom 24. bis 27.Oktober 1996 in Frankfurt / Oder. Referate und Diskussionsbeiträge, hrsg. von Gerhard Wolf, Berlin 1998, 306 S. b) Kriminalität im Grenzgebiet. Band 2. Wissenschaftliche Analysen. Symposium vom 28. bis 30.November 1997 in Frankfurt / Oder. Referate und Diskussionen, hrsg. von Gerhard Wolf, Berlin-Heidelberg 1998, 358 S. c) Kriminalität im Grenzgebiet. Band 3. Ausländer vor deutschen Gerichten. Symposium vom 23. bis 25.Oktober 1998 in Frankfurt / Oder. Referate und Diskussion, hrsg. von Gerhard Wolf, Berlin 1998, 296 S. d) Kriminalität im Grenzgebiet. Band 4. Strafverfahren gegen Ausländer in der Republik Polen, hrsg. von Gerhard Wolf, Berlin 2002, 269 S. e) Kriminalität im Grenzgebiet. Band 5/6. Das neue polnische Strafgesetzbuch (Kodeks karny), hrsg. von Gerhard Wolf, Berlin 2002, 558 S.

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Verzeichnis der Veröffentlichungen von Andrzej J. Szwarc f) Kriminalität im Grenzgebiet. Band 7. Das Strafverfahrensgesetzbuch der Republik Polen (Kodeks poste˛powania karnego), hrsg. von Gerhard Wolf, Berlin 2003, 241 S.

III. Lehrbücher (Mitverfasser) 1. 2. 3.

4.

5.

Prawo karne. Cze˛´sc´ II – III (Das Strafrecht. Teil II – III), Pkt I (Abschnitt I), hrsg. von Tadeusz Cyprian, Pozna´n 1963, S. 5 – 12. Prawo karne. Cze˛´sc´ IV (Das Strafrecht. Teil IV), Pkt I (Abschnitt I), hrsg. von Tadeusz Cyprian, Pozna´n 1963, S. 5 – 8, 28 – 46. Zarys prawa karnego materialnego. Cze˛´sc´ ogólna (Grundriss des materiellen Strafrechts. Allgemeiner Teil), Pkt VII (Abschnitt VII), Pkt XI (Abschnitt XI), hrsg. von Tadeusz Cyprian, Pozna´n 1966, S. 62 – 74, 124 – 126, 143 –157. Zarys prawa karnego materialnego. Cze˛´sc´ ogólna (Grundriss des materiellen Strafrechts. Allgemeiner Teil), Pkt VII (Abschnitt VII), Pkt XI (Abschnitt XI), hrsg. von Tadeusz Cyprian, 2. Auflage, Pozna´n 1968, S. 62 – 74, 124 –126, 143 –157. Zarys prawa karnego. Cze˛´sc´ ogólna. Zagadnienia wste˛pne i nauka o ustawie karnej (Grundriss des Strafrechts. Allgemeiner Teil. Einführungsprobleme und die Lehre vom Strafgesetz), hrsg. von Aleksander Ratajczak, Pozna´n 1971, S. 34 –76.

IV. Abhandlungen 1.

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3.

4.

5.

Niektóre problemy poste˛powania pojednawczego w sprawach prywatno-skargowych (Einige Probleme des Schiedsverfahrens im Privatklageverfahren), Nowe Prawo 3 (1963), S. 251 – 355, (Mitverfasser: Stanisław Sołtysi´nski). Miejsce paserstwa w projekcie kodeksu karnego (Die Stellung der Hehlerei im Entwurf des Strafgesetzbuches), Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 3 (1963), S. 69 – 75. Wykroczenia w spółdzielczo´sci studenckiej przed sa˛dami kole˙ze´nskimi Zrzeszenia Studentów Polskich (Übertretungen bei der Tätigkeit der Studentengenossenschaft vor den Kameradschaftsgerichten der Vereinigung der Polnischen Studenten), Biuletyn Informacyjny Naczelnego Sa˛du Kole˙ze´nskiego 3 (1965), S. 1 –5. Tryb poste˛powania przed sa˛dami kole˙ze´nskimi Zrzeszenia Studentów Polskich (Der Verfahrensmodus vor den Kameradschaftsgerichten der Vereinigung der Polnischen Studenten), Biuletyn Informacyjny Naczelnego Sa˛du Kole˙ze´nskiego, Warszawa 1965, 46 S. Zrzeszenie Studentów Polskich na Uniwersytecie im. Adama Mickiewicza w Poznaniu w latach 1950 –1964 (Die Vereinigung der Polnischen Studenten der AdamMickiewicz-Universität Pozna´n in den Jahren 1950 –1964), in: Materiały z sesji naukowej w XX-lecie PRL. Cze˛´sc´ 2 (Materialien der wissenschaftlichen Tagung zum 20. Jubiläumsjahr der Volksrepublik Polen), Pozna´n 1966, S. 189 –234, (Mitverfasser: Stanisław Sołtysi´nski).

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45-lecie pracy naukowej profesora Tadeusza Cypriana (Der 45. Jubiläumsjahr der wissenschaftlichen Tätigkeit von Professor Tadeusz Cyprian), Pa´nstwo i Prawo 3 (1967), S. 516 – 517. Wypadki sportowe a prawo karne (Sportunfälle und Strafrecht), Sport Wyczynowy 9 (1971), S. 56 – 59. Tzw. przeste˛pstwa sportowe (Die sogenannten Sportstraftaten), Sport Wyczynowy 10 (1971), S. 39 – 42. Wypadki sportowe a przepisy o pojedynku (Sportunfälle und die Duellvorschriften), Sport Wyczynowy 1 (1972), S. 39 – 42. Postulaty karania sprawców wypadków sportowych (Die Postulate zur Bestrafung der Täter bei Sportunfällen), Sport Wyczynowy 2 (1972), S. 42 –46. Zakazy uprawiania sportu a odpowiedzialno´sc´ karna za wypadki sportowe (Sportverbote und strafrechtliche Verantwortlichkeit für Sportunfälle), Sport Wyczynowy 3 (1972), S. 44 – 48. Wybrane zagadnienia dydaktyki prawa karnego i dyscyplin pokrewnych na uniwersyteckich studiach prawniczych w Polsce w roku akademickim 1970/1971w s´wietle odpowiedzi na ankiete˛ (Ausgewählte Probleme der Didaktik im Strafrecht anhand der juristischen Universitätsstudien in Polen im akademischen Jahr 1970/1971 im Lichte einer Umfrage), in: Materiały Zjazdu Instytutów Prawa Karnego, Sa˛dowego i Kryminologii w Kołobrzegu w dniach 6 –8 wrze´snia 1971 roku (Materialien der Tagung der Institute für Strafrecht, Gerichtsrecht und Kriminologie in Kołobrzeg am 6. – 8.September 1971), Pozna´n 1971, S. 5 – 34, (Mitverfasser: Tadeusz Nowak, Józef Radzicki, Aleksander Ratajczak, Stanisław Stachowiak, Aleksander Tobis). Koncepcje usprawiedliwiania sprawców wypadków sportowych (Die Konzeptionen der Rechtfertigung der Täter bei Sportunfällen), Sport Wyczynowy 4 (1972), S. 44 – 48. Podstawy wyła˛czenia odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe (Die Strafausschließungsgründe bei Sportunfällen), Sport Wyczynowy 5 (1972), S. 46 –50. Niektóre inne podstawy wyła˛czenia odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe (Weitere Strafausschließungsgründe bei Sportunfällen), Sport Wyczynowy 6 (1972), S. 49 – 53. Granice bezkarno´sci wypadków sportowych (Die Grenzen der Straflosigkkeit bei Sportunfällen), Sport Wyczynowy 7 (1972), S. 39 – 43. Przyczynek do rozwa˙za´n nad zasada˛ celowo´sci (Beitrag zu Erwägungen über das Zweckmäßigkeitsprinzip), Zagadnienia Wykrocze´n 6 (1973), S. 27 –35. Odwołanie czy wniosek o uchylenie prawomocnego rozstrzygnie˛cia? (Widerruf oder Antrag auf Aufhebung einer rechtskräftigen Entscheidung?), Zagadnienia Wykrocze´n 3 (1974), S. 55 – 62. Klasyczne systemy orzecznictwa w sprawach o wykroczenia (Klassische Systeme der Rechtsprechung in Übertretungssachen), Zaszyty Naukowe Wy˙zszej Szkoły Oficerskiej im. gen. Franciszka Jó´zwiaka Witolda 5 (1974), S. 493 –501. Propozycje prezentowania rozstrzygnie˛´c i decyzji w sprawach o wykroczenia (Vorschläge zur Veröffentlichung der Entscheidungen in Übertretungssachen), Zeszyty Naukowe Wy˙zszej Szkoły Oficerskiej im. gen. Franciszka Jó´zwiaka Witolda 7 (1974), S. 757 – 765.

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21. Orzecznictwo kolegiów d / s wykrocze´n m. Poznania i woj. pozna´nskiego w sprawach o wykroczenia drogowe w latach 1972 –1973 (Rechtsprechung der Kollegien für Übertretungssachen der Stadt Pozna´n und der Wojwodschaft Pozna´n in Verkehrsübertretungssachen in den Jahren 1972 –1973), in: Kryminologiczne problemy Wielkopolski – Wypadki drogowe w Wielkopolsce (Kriminologische Probleme in der Region Großpolen – Verkehrsunfälle in der Region Großpolen), hrsg. von Aleksander Ratajczak, Pozna´n 1974, S. 47 –66, (Mitverfasser: Krystyna Cie´sla, Józef Filipek, Benedykt Gajewski). 22. Wypadki drogowe w Wielkopolsce (Verkehrsunfälle in der Region Großpolen), Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 2 (1975), S. 317 –319. 23. Wykroczenia z art. 87 kodeksu wykrocze´n w orzecznictwie wielkopolskich kolegiów (Die in Art. 87 des Übertretungsgesetzbuches normierten Übertretungen in der Rechtsprechung der Kollegien für Übertretungssachen in der Region Großpolen), Zagadnienia Wykrocze´n 2 (1975), S. 27 – 40, (Mitverfasserin: Krystyna Cie´sla). 24. Kwestionariusz do badania akt sa˛dowych w sprawach karnych przeciwko nieletnim (Der Fragebogen zur Untersuchung gerichtlicher Akten in Strafsachen gegen Jugendliche), Pozna´n 1975, 48 S., (Mitverfasser: Stanisław Stachowiak). 25. Prawo karne a kierowcy (Das Strafrecht und die Autofahrer), Tydzie´n 10 (1975), S. 18. 26. Prawo karne a kierowcy (Das Strafrecht und die Autofahrer), Tydzie´n 11 (1975), S. 22. 27. Prawo karne a kierowcy (Das Strafrecht und die Autofahrer), Tydzie´n 12 (1975), S. 22. 28. Prawo karne a kierowcy (Das Strafrecht und die Autofahrer), Tydzie´n 14 (1975), S. 22. 29. Prawo karne a kierowcy (Das Strafrecht und die Autofahrer), Tydzie´n 16 (1975), S. 22. 30. Prawo karne a kierowcy (Das Strafrecht und die Autofahrer), Tydzie´n 18 (1975), S. 22. 31. Prawo karne a kierowcy (Das Strafrecht und die Autofahrer), Tydzie´n 21 (1975), S. 22. 32. Wykroczenia drogowe w orzecznictwie wielkopolskich kolegiów d / s wykrocze´n (Verkehrsübertretungen in der Rechtsprechung der Kollegien für Übertretungssachen der Region Großpolen), Kronika Wielkopolska 1 –2 (1976), S. 152 –162, (Mitverfasser: Benedykt Gajewski). 33. Odsta˛pienie od wymierzenia kary w prawie wykrocze´n (Das Absehen von Strafe im Übertretungsrecht), Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 4 (1976), S. 53 – 60. 34. Rozmiary i struktura przeste˛pczo´sci nieletnich w Wielkopolsce w latach 1970 –1974 (Das Ausmaß und die Struktur der Jugendkriminalität in der Region Großpolen in den Jahren 1970 –1974), in: Kryminologiczne problemy Wielkopolski – Przeste˛pczo´sc´ nieletnich w Wielkopolsce (Kriminologische Probleme in der Region Großpolen – Jugendkriminalität in der Region Großpolen), hrsg. von Aleksander Ratajczak, Pozna´n 1977, S. 13 – 30, (Mitverfasser: Wojciech Kłos, Bolesław Laskowski). 35. Przeste˛pczo´sc´ nieletnich w Wielkopolsce (Die Jugendkriminalität in der Region Großpolen), Kronika Wielkopolska 1 (1977), S. 57 –69, (Mitverfasser: Wojciech Kłos, Bolesław Laskowski). 36. Alcohol and the Problem of Road Safety on the Basis of Research Carried out in Wielkopolska (Alkohol und Sicherheit des Straßenverkehrs aufgrund der in Großpolen durchgeführten Untersuchungen), in: 32. International Congress on Alcoholism and Drug Dependence. Warsaw, 3rd –8th September 1978. Vol. 1: Abstracts (32. Internationaler Kongress zur Alkohol- und Drogenabhängigkeit, 3. –8.September 1978. Band 1: Zusammenfassungen), S. 172, (in englischer Sprache).

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37. Sytuacja rodzinna oraz stopie´n wykolejenia nieletnich, którzy sami lub których rodzice nadu˙zywali alkoholu (Die Familiensituation und der Grad der Verwahrlosung der Jugendlichen, die selbst oder deren Eltern Alkohol missbrauchen), Patologia Społeczna – Zapobieganie VII (1979), S. 47 –57, (Mitverfasser: Jerzy Kalinowski, Aleksander Ratajczak, Mirosław Owoc, Stanisław Stachowiak, Aleksander Tobis). 38. Orzecznictwo wielkopolskich kolegiów d / s wykrocze´n w sprawach o wykroczenia popełnione po spo˙zyciu alkoholu. Wybrane zagadnienia (Die Rechtsprechung der Kollegien für Übertretungssachen in der Region Großpolen in den Übertretungssachen, die unter Alkoholeinfluss begangen worden sind), in: Problemy kryminologiczne Wielkopolski – Polityka wobec pija´nstwa i alkoholizmu w Wielkopolsce (Kriminologische Probleme in der Region Großpolen – Politik gegenüber der Trunksucht und dem Alkoholismus), hrsg. von Aleksander Ratajczak, Pozna´n 1979, S. 139 –168, (Mitverfasser: Benedykt Gajewski, Andrzej Wierci´nski). 39. Alkoholizowanie sie˛ nieletnich przeste˛pców na terenie Wielkopolski – Rozmiary, przyczyny i zjawiska towarzysza˛ce (Übermäßiger Alkoholgenuss der Jugendlichen in der Region Großpolen – Ausmaß, Ursachen und Begleiterscheinungen), in: Problemy kryminologiczne Wielkopolski – Polityka wobec pija´nstwa i alkoholizmu w Wielkopolsce (Kriminologische Probleme in der Region Großpolen – Politik gegenüber der Trunksucht und dem Alkoholismus), hrsg. von Aleksander Ratajczak, Pozna´n 1979, S. 169 –178, (Mitverfasser: Jerzy Kalinowski, Mirosław Owoc, Stanisław Stachowiak, Aleksander Tobis). 40. Wybrane zagadnienia orzecznictwa w sprawach o wykroczenia popełniane przez osoby be˛da˛ce pod wpływem alkoholu. Uwagi i wnioski na tle orzecznictwa wielkopolskich kolegiów (Ausgewählte Probleme der Rechtsprechung in den Übertretungssachen, die unter Alkoholeinfluss begangen worden sind. Bemerkungen und Schlussfolgerungen aufgrund der Rechtsprechung der Kollegien für Übertretungssachen der Region Großpolen), Zagadnienia Wykrocze´n 6 (1979), S. 38 –46. 41. Strafen und andere Mittel im polnischen Übertretungsrecht, Osteuropa-Recht 1 (1981), S. 38 – 46, (in deutscher Sprache). 42. Die strafrechtliche Beurteilung von Sportverletzungen in Polen, Jahrbuch für Ostrecht Halbband XXII.2 (1981), S. 363 – 372, (in deutscher Sprache). 43. Kształtowanie sie˛ przeste˛pczo´sci przeciwko rodzinie, opiece i młodzie˙zy w Polsce Ludowej i Wielkopolsce w s´wietle statystyki kryminalnej. Zagadnienia wybrane (Die Entwicklung der Kriminalität gegen Familie, Vormundschaft und Jugend in der Volksrepublik Polen und in der Region Großpolen im Lichte der Kriminalstatistik. Ausgewählte Probleme), in: Kryminologiczne problemy Wielkopolski – Zjawiska patologii z˙ ycia rodzinnego w Wielkopolsce oraz ich społeczno-prawne konsekwencje (Kriminologische Probleme in der Region Großpolen – Pathologie des Familienlebens in der Region Großpolen und ihre gesellschaftlichen und rechtlichen Folgen), hrsg. von Aleksander Ratajczak, Pozna´n 1983, S. 29 – 56, (Mitverfasserin: Marian Szymczak). 44. Die Kriminalität gegen Familie, Vormundschaft und Jugend in Polen in den Jahren 1948 bis 1980 im Lichte der Kriminalstatistik, Recht in Ost und West 3, (1986), S. 170 – 172, (in deutscher Sprache).

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45. Kontrowersje wokół zbiegu przepisów art. 86 §2 i 87 k.w. (Kontroversen um die Vorschriftenkonkurrenz der Art. 86 §2 und 87 des Übertretungsgesetzbuches), Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 3 (1987), S. 103 –111. 46. The Penal System in the 1969 Polish Penal Code (Das Strafensystem im polnischen Strafgesetzbuch vom 1969), Review of Socialist Law 3 (1987), S. 217 –239, (in englischer Sprache). 47. O potrzebie dyskusji nad modelem uchylania prawomocnych rozstrzygnie˛´c w sprawach o wykroczenia (Zur Notwendigkeit der Diskussion über das Modell der Abschaffung der rechtskräftigen Entscheidungen in Übertretungssachen), Zagadnienia Wykrocze´n 2 (1988), S. 46 – 54. 48. AIDS i prawo karne – Zaka˙zenie wirusem HIV (AIDS und Strafrecht – HIV-Infizierung), Pa´nstwo i Prawo 10 (1989), S. 67 – 75. 49. O sistema sancionatorio no dereito penal polaco (Das Strafensystem im polnischen Strafrecht), Revista de Dereito e Economia XV (1989), S. 145 –169, (in portugiesischer Sprache). 50. El sistema de sanciones en el derecho penal polaco (Das Strafensystem im polnischen Strafrecht), Cuadernos de Politica Criminall 42 (1990), S. 577 –596, (in spanischer Sprache). 51. Prinzipien der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Verfahren gegen Jugendliche im polnischen Recht, in: Erziehung und Strafe. Jugendstrafrecht in der Bundesrepublik Deutschland und Polen. Grundfragen und Zustandsbeschreibung, hrsg. von Jörg Wolff, Andrzej Marek, Bonn 1990, S. 133 – 143, (in deutscher Sprache). 52. Odpowiedzialno´sc´ karna za zaka˙zenie wirusem HIV (Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für eine HIV-Infizierung), in: AIDS problemem zdrowotnym i wychowawczym (AIDS – Ein Gesundheits- und Erziehungsproblem), Kraków 1990, S. 294 –295. 53. Karnoprawne problemy AIDS (Strafrechtliche Probleme von AIDS), in: Prawne problemy AIDS (Rechtsprobleme von AIDS), hrsg. von Andrzej J. Szwarc, Warszawa 1990, S. 103 – 139. 54. Polskie Towarzystwo Prawa Sportowego i prawne problemy transferów (Polnische Vereinigung für Sportrecht und juristische Probleme des Transfers), Sport Wyczynowy 11 – 12 (1990), S. 68 – 71. 55. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für eine HIV-Infizierung, Osteuropa Recht 1 (1991), S. 55 – 62, (in deutscher Sprache). 56. Przedmowa (Vorwort), in: Prawne problemy transferu w piłce no˙znej w Polsce i Republice Federalnej Niemiec (Juristische Probleme des Transfers im Fußballsport in Polen und in der Bundesrepublik Deutschland), hrsg. von Andrzej J. Szwarc, Pozna´n 1991, S. 7 – 13. 57. Prof. dr dr h.c. mult. Hans Joachim Hirsch. Doktor honorowy Uniwersytetu im. Adama Mickiewicza w Poznaniu (Prof.Dr.Dr.h.c. mult. Hans Joachim Hirsch. Ehrendoktor der Adam-Mickiewicz-Universität Pozna´n), in: Ioannes Ioachimus Hirsch. Doctor honoris causa Universitatis Studiorum Mickiewiczianae Posnaniensis, hrsg. von Andrzej J. Szwarc, Pozna´n 1991, S. 3 – 7, (in polnischer und deutscher Sprache).

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58. Praktyki dopingowe jako przeste˛pstwa przeciwko zdrowiu i z˙ yciu przewidziane w kodeksie karnym (Dopingpraktiken als im Strafgesetzbuch vorgesehene Straftaten gegen Gesundheit und Leben), Sport Wyczynowy 1 –2 (1992), S. 72 –79. 59. Doping i prawo (Doping und Recht), in: Prawne problemy dopingu w sporcie (Juristische Probleme des Dopings im Sport), hrsg. von Andrzej J. Szwarc, Pozna´n 1992, S. 3 – 19. 60. Doping w sporcie i odpowiedzialno´sc´ karna (Doping im Sport und die strafrechtliche Verantwortlichkeit), in: Prawne problemy dopingu w sporcie (Juristische Probleme des Dopings im Sport), hrsg. von Andrzej J. Szwarc, Pozna´n 1992, S. 93 –124. 61. Farmakologiczny doping sportowy w s´wietle ustawy o zapobieganiu narkomanii (Pharmakologisches Doping im Sport im Lichte des Gesetzes über die Drogenprävention), Sport Wyczynowy 5 – 6 (1992), S. 67 – 69. 62. E farmakodiegerse (ntopigk) ston athletismo ypo ten epofe toj polonikoj poinikoj dikaioj (Pharmakologisches Doping im Sport im Lichte des polnischen Strafrechts), Epitheorese Athletikoj Dikaioj 4 (1992), S. 497 – 518, (in griechischer Sprache). 63. Negocjacje w poste˛powaniu karnym (Verhandlungen im Strafverfahren), in: Porozumiewanie sie˛ i uzgadnianie rozstrzygnie˛´c przez uczestników poste˛powania karnego (Absprachen und Vereinbarungen von Entscheidungen durch die Teilnehmer am Strafverfahren), hrsg. von Andrzej J. Szwarc, Warszawa-Pozna´n 1993, S. 7 –14. 64. Odpowiedzialno´sc´ karna za praktyki dopingowe w sporcie (Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Dopingpraktiken im Sport), in: Problemy kodyfikacji prawa karnego. Ksie˛ga ku czci Profesora Mariana Cie´slaka (Probleme der Strafrechtskodifikation. Festschrift für Professor Marian Cie´slak), hrsg. von Stanisław Walto´s, Kraków 1993, S. 249 – 261. ˙ 65. Zywy płód w organizmie zmarłej matki (Lebendiger Fötus im Organismus der verstorbenen Mutter), News – Nowo´sci Pa´nstwa i Prawa 5 (1993), S. 12 und 22. 66. Procesy o zabójstwa przy Murze Berli´nskim (Prozesse wegen der Tötungen an der Berliner Mauer), News – Nowo´sci Pa´nstwa i Prawa 6/7 (1993), S. 21 – 23. 67. Honecker zabójca˛? (Ist Honecker ein Mörder?), News – Nowo´sci Pa´nstwa i Prawa 8 (1993), S. 32. 68. Które prawo stosowa´c? (Welches Recht soll Anwendung finden?), News – Nowo´sci Pa´nstwa i Prawa 9 (1993), S. 20 – 21 und 26. 69. Stellung und Perspektiven von Absprachen in der Praxis des polnischen Strafrechts, Recht in Ost und West 12 (1993), S. 353 – 357, (in deutscher Sprache). 70. Nieformalne negocjacje i uzgodnienia w procesie karnym (Informelle Verhandlungen und Vereinbarungen im Strafverfahren), Przegla˛d Policyjny 3 –4 (1993), S. 20 –31. 71. Polskie ustawy. Zbiór przepisów prawa prywatnego, gospodarczego, karnego i sa˛dowego (Polnische Gesetze. Sammlung der Vorschriften des Privat-, Wirtschafts-, Straf- und Gerichtsrechts), hrsg. von Zbigniew Radwa´nski, Janina Panowicz-Lipska, Warszawa 1993 (Mitverfasser). 72. Prawnokarne aspekty dopingu w sporcie (Strafrechtliche Aspekte des Dopings im Sport), Almanach V (1993/1994), S. 123 – 126.

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73. Societas Humboldtiana Polonorum, in: 20 lat współpracy farmakologów polskich i niemieckich (20 Jahre der Zusammenarbeit deutscher und polnischer Pharmakologen), hrsg. von Stanisław Wolfarth u.a., Kraków 1994, S. 259. 74. Rechtsprobleme von AIDS als Beispiel der deutsch-polnischen Zusammenarbeit, in: Polen-Deutschland-Europa. Bedürfnisse, Möglichkeiten und Beispiele der wissenschaftlichen Zusammenarbeit, hrsg. Stefan H. Kaszy´nski, Pozna´n 1994, S. 113 –119, (in deutscher Sprache). 75. Die Polnische Gesellschaft für Sportrecht stellt sich vor, SpuRT – Zeitschrift für Sportrecht 3 (1994), S. 120, (in deutscher Sprache). 76. Wirus, choroba i kary (Virus, Krankheit und Strafen), News – Nowo´sci Pa´nstwa i Prawa 7 –8 (1994), S. 22. 77. Niebezpieczne imprezy sportowe (Gefährliche Sportveranstaltungen), News – Nowo´sci Pa´nstwa i Prawa 7 – 8 (1994), S. 25. 78. Dispensa de la imposicio i de l’execucio de la pena privativa de llibertat i l’excarceracio a causa de la infeccio pel VIH o de la malaltia de la SIDA [segons el dret penal i penitenciari polonesos] (Das Absehen von Verhängung und Vollstreckung der Freiheitsstrafe und Entlassung aus der Haft wegen einer HIV-Infizierung bzw. AIDSErkrankung [nach polnischem Straf- und Strafvollzugsrecht]), IURIS – Quadernos de Politica Juridica 2 (1994), S. 167 – 185, (in spanischer Sprache). 79. Problematyka prawna narusze´n porza˛dku zwia˛zanych z imprezami sportowymi (Die Rechtsproblematik von Ordnungsverletzungen im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen), in: Naruszenia porza˛dku towarzysza˛ce imprezom sportowym (Ordnungsverletzungen im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen), hrsg. von Andrzej J. Szwarc, Pozna´n 1995, S. 13 – 22. 80. Fundacja Stowarzyszenia (Stiftung der Vereinigung ), in: Rola towarzystw naukowych w rozwoju nauki polskiej w kontek´scie europejskim (Die Rolle der wissenschaftlichen Vereinigungen in der Entwicklung der polnischen Wissenschaft im europäischen Kontext), hrsg. von Waldemar Pfeiffer, Toru´n 1995, S. 95 –104. 81. Prawne problemy AIDS (Rechtsprobleme von AIDS), Problemy HIV i AIDS 1 (1995), S. 23 – 26. 82. Karalno´sc´ zaka˙zenia wirusem HIV (Die Strafbarkeit der HIV-Infizierung), Problemy HIV i AIDS 1 (1995), S. 39 – 43. 83. Niektóre problemy prawne zwia˛zane z HIV / AIDS w rodzinie (Einige Rechtsprobleme von HIV / AIDS in der Familie), in: II. Zjazd Polskiego Towarzystwa Naukowego AIDS. AIDS a rodzina. Wrocław 29 –30.09.1995. Materiały Zjazdu (2. Tagung der Polnischen Wissenschaftlichen Gesellschaft für AIDS. Tagungsmaterialien), Wrocław 1995, S. 19 – 22. 84. Legislations adoptees pour faire face a l’epidemie de sida. Une etude europeenne (Die Gesetzgebung zur Bekämpfung von AIDS. Eine europäische Studie), Sante publique 1 (1996), S. 41 –52, (Mitverfasser: M. Aziz, R. Benett, B. Blasszauer, M. Brazier, S. Chaplinskas, C. Erin, E. Gefenas, D. Giesen, J. Harris, S. Holm, H. Hyry, M. Hyry, E. Kabakchieva, E. Kujawa, S. Magyarodi, C. Manuel, C. Maximilian, I. Prochazka, R. Prusa, S. Viorel, L. Soltes), (in französischer Sprache).

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85. Ubezpieczenia w sporcie. Wprowadzenie (Versicherungen im Sport. Einleitung), in: Ubezpieczenia w sporcie (Versicherungen im Sport), hrsg. von Andrzej Wa˛siewicz, Pozna´n 1996, S. 9 – 11. 86. Problematyka prawna anonimowo´sci zwia˛zanej z HIV i AIDS (Die Rechtsproblematik der mit HIV / AIDS verbundenen Anonymität), in: Medyczne i społeczne aspekty HIV / AIDS. Materiały konferencji szkoleniowo-naukowej Polskiego Towarzystwa Naukowego AIDS, Mikołajki, 14 – 15 wrze´snia 1996 (Medizinische und gesellschaftliche Aspekte von HIV / AIDS. Materialien der Konferenz der Polnischen Wissenschaftlichen Vereinigung, Mikołajki, 14. –15.September 1996), Białystok 1996, S. 13. 87. Problematyka prawna anonimowo´sci zwia˛zanej z HIV / AIDS (Die Rechtsproblematik der mit HIV / AIDS verbundenen Anonymität), Problemy HIV i AIDS 2 (1996), S. 105 – 110. 88. Niektóre problemy prawne zwia˛zane z HIV / AIDS w rodzinie (Einige Rechtsprobleme von HIV / AIDS in der Familie), Problemy HIV i AIDS 2 (1996), S. 111 –117. 89. AIDS und Diskriminierung, in: Diskriminierung. Antidiskriminierung, hrsg. von Jan C. Joerden, Berlin, Heidelberg, New York 1996, S. 185 –200, (in deutscher Sprache). 90. Sport i media – problemy prawne. Wprowadzenie (Sport und Medien – Juristische Probleme. Einleitung), in: Sport i media – problemy prawne (Sport und Medien – Juristische Probleme), hrsg. von Marian Ke˛pi´nski, Pozna´n 1997, S. 13 –25. 91. HIV / AIDS – obowia˛zek leczenia i udzielenia pomocy (HIV / AIDS – Behandlungsund Hilfspflicht), Problemy HIV i AIDS 1 (1997), S. 5 –9. 92. Prawne problemy AIDS w s´wietle zmian w polskim prawie (Rechtsprobleme von AIDS im Lichte der Änderungen im polnischen Recht), Medical Science Review 1 (1997), S. 70 – 72. 93. Stan aktualnych regulacji prawnych w sporcie jako narze˛dzi sprawnego zarza˛dzania (Der Stand der gegenwärtigen rechtlichen Regulierungen im Sport als Instrumente eines leistungsfähigen Managements), in: Materiały II Ogólnopolskiej Konferencji Mened˙zerów Sportu, Spała, 13 –15.10.1997 (II. Polnische Tagung der Sportmanager, Spała, 13. – 15.10.1997), hrsg. von Bogusław Ryba, S. 9 –12. 94. HIV / AIDS i dyskryminacja (HIV / AIDS und Diskriminierung), in: Aktualne problemy prawa karnego i kryminologii, (Aktuelle Probleme von Strafrecht und Kriminologie), hrsg. von Emil W. Pływaczewski, Białystok 1998, S. 517 –533. 95. HIV / AIDS, Familie, Kinder und Strafrecht, in: Festschrift für Haruo Nishihara zum 70. Geburtstag, hrsg. von Albin Eser, Baden-Baden 1998, S. 175 –185, (in deutscher Sprache). 96. Die Strafbarkeit juristischer Personen, in: Das erste deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung, hrsg. von Andrzej J. Szwarc, Andrzej Wa˛sek, Pozna´n 1998, S. 207 –229, (in deutscher Sprache). 97. Dopingrecht in Polen, in: Doping. Realität und Recht, hrsg. von Klaus Vieweg, Berlin 1998, S. 279 – 305, (in deutscher Sprache). 98. Rechtlicher Status polnischer Sportvereine und -verbände, in: Sportkapitalgesellschaften, mit Beiträgen von Urs Scherrer, Bernd Schäfer, Mathias Habersack, Manfred Orth, Andrzej J. Szwarc, hrsg. von Urs Scherrer, Stuttgart 1998, S. 91 –95, (in deutscher Sprache).

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99. Legal Status of Polish Sports Clubs and Sports Unions (Der Rechtsstatus polnischer Sportvereine und -verbände), Studies in Physical Culture and Tourism V (1998), S. 173 – 176, (in englischer Sprache). 100. Strafrechtliche Verantwortlichkeit vor polnischen Gerichten für die durch polnische Staatsbürger im Ausland begangenen Straftaten, in: Kriminalität im Grenzgebiet. 2. Wissenschaftliche Analysen, hrsg. von Gerhard Wolf, Berlin-Heidelberg 1998, S. 63 – 79, (Mitverfasser: Tadeusz Nowak), (in deutscher Sprache). 101. Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Ausländer im Lichte des polnischen Rechts, in: Kriminalität im Grenzgebiet. 2. Wissenschaftliche Analysen, hrsg. von Gerhard Wolf, Berlin-Heidelberg 1998, S. 127 – 165, (Mitverfasser: Justyn Piskorski), (in deutscher Sprache). 102. Wprowadzenie (Einleitung), in: Wioletta Pigulska, Diagnostyka zaka˙ze´n HIV a prawo karne (Diagnostik der HIV-Infizierung und Strafrecht), Pozna´n 1998, S. 7 –10. 103. „Karny“ charakter odpowiedzialno´sci dyscyplinarnej w sporcie („Strafrechtlicher“ Charakter der Disziplinärverantwortlichkeit im Sport), in: Rozwa˙zania o prawie karnym (Betrachtungen über das Strafrecht), hrsg. von Andrzej J. Szwarc, Pozna´n 1999, S. 279 – 292. 104. Einleitung in das polnische Strafrecht und das Sanktionensystem im polnischen Strafrecht, Veröffentlichung der Tunghai-Universität in Taichung – Taiwan, S. 36, (in chinesischer Sprache). 105. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die HIV-Infizierung, Waseda Proceedings of Comparative Law 2 (1998 –1999), Waseda University, Tokyo, Japan, S. 115 – 129, (in deutscher Sprache). 106. Wprowadzenie (Einleitung), in: Rafał Szczepaniak, Odpowiedzialno´sc´ odszkodowawcza za zaka˙zenie HIV (Wiedergutmachungsverantwortlichkeit wegen HIV-Infizierung), Pozna´n 1999, S. 7 – 9. 107. Wprowadzenie (Einleitung), in: Bogusław Janiszewski, HIV i AIDS w zakładach karnych. Problemy prawnokarne (HIV und AIDS in Strafanstalten. Strafrechtliche Probleme), Pozna´n 1999, S. 7 – 9. 108. Nowe regulacje prawne dotycza˛ce statusu prawnego polskich klubów i zwia˛zków sportowych (Neue Regeln zum Rechtsstatus der polnischen Sportklubs und -verbände), in: Status prawny polskich klubów i zwia˛zków sportowych (Der Rechtsstatus polnischer Sportvereine und -verbände), hrsg. von Andrzej J. Szwarc, Pozna´n 2000, S. 23 –38. 109. Sportowa temida (Die sportliche Themis), Magazyn Olimpijski 3 (2000), S. 23 –24. 110. AIDS und Diskriminierung, in: Diskriminierung und Antidiskriminierung, hrsg. von Jan C. Joerden, Tokio 2000, S. 235 – 252, (in japanischer Sprache). 111. Die Strafbarkeit der juristischen Personen im polnischen Strafrecht, Revue de droit compare 4 (2000), The Institute of Comparative Law in Japan, c / o Chuo University, S. 67 – 92, (in japanischer Sprache). 112. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die HIV-Infizierung, Comparative Law Review 1 (2000), Institute of Comparative Law, Waseda University, Tokyo, Japan, S. 93 – 103, (in japanischer Sprache).

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113. Corpus Iuris z perspektywy polskiego prawa karnego (Corpus Juris aus der Perspektive des polnischen Strafrechts), in: Zasady procesu karnego wobec wyzwa´n współczesno´sci. Ksie˛ga ku czci profesora Stanisława Waltosia (Grundsätze des Strafprozesses angesichts der Herausforderungen der Gegenwart. Festschrift für Stanisław ´ Walto´s), hrsg. von Janina Czapska, Andrzej Gaberle, Andrzej Swiatłowski, Andrzej Zoll, Warszawa 2000, S. 92 – 100. 114. Przeste˛pczo´sc´ cudzoziemców w Polsce (Kriminalität der Ausländer in Polen), in: Przeste˛pczo´sc´ przygraniczna. Poste˛powanie karne przeciwko cudzoziemcom w Polsce (Kriminalität im Grenzgebiet. Das Strafverfahren gegen Ausländer in Polen), hrsg. Andrzej J. Szwarc, Pozna´n 2000, S. 11 – 25, (Mitverfasser: Justyn Piskorski). 115. Legislation on Sports in Poland (Sportgesetzgebung in Polen), in: Professional Sport in the European Union: Regulation and Re-regulation (Berufssport und die Europäische Union. Regelungen und Re-Regelungen), hrsg. von Andrew Caiger, Simon Gardiner, The Hague 2000, S. 237 – 258, (in englischer Sprache). 116. Einführung in das polnische Strafrecht, Nomos 11 (2000), The Institute of Legal Studies, Kansai University, S. 92 – 200, (in deutscher Sprache). 117. Wprowadzenie (Einleitung), in: Tomasz Sokołowski, Problematyka AIDS w s´wietle prawa rodzinnego (AIDS-Problematik und Familienrecht), Pozna´n 2000, S. 7 –15. 118. Aspekty prawne zaka˙zenia HIV i choroby AIDS (Rechtliche Aspekte der HIV-Infizierung und der AIDS-Krankheit), in: Zaka˙zenie HIV i choroba AIDS (HIV-Infizierung und AIDS-Krankheit), hrsg. von Waldemar Halota, Regina Podlasin, Dorota Latarska, Andrzej J. Szwarc, Ewa Gryciuk, Barbara Daniluk-Kula, El˙zbieta Ciasto´nPrzecławska, Warszawa 2001, S. 73 – 89. 119. Wprowadzenie (Einleitung), in: Odpowiedzialno´sc´ dyscyplinarna w sporcie (Disziplinarverantwortlichkeit im Sport), hrsg. von Andrzej J. Szwarc, Pozna´n 2001, S. 13 –20. 120. Znaczenie i problemy odpowiedzialno´sci dyscyplinarnej w sporcie (Bedeutung und Probleme der Disziplinarverantwortlichkeit im Sport), in: Odpowiedzialno´sc´ dyscyplinarna w sporcie (Disziplinarverantwortlichkeit im Sport), hrsg. von Andrzej J. Szwarc, Pozna´n 2001, S. 21 – 47. 121. Wprowadzenie (Einleitung), in: Agnieszka Liszewska, Wojciech Robaczy´nski, AIDS a tajemnica lekarska (AIDS und die ärztliche Schweigepflicht), Pozna´n 2001, S. 7 –12. 122. Wprowadzenie (Einleitung), in: Stanisław Stachowiak, Problemy karnoprocesowe zwia˛zane z HIV i AIDS (Strafprozessrechtliche Probleme im Zusammenhang mit HIV und AIDS), Pozna´n 2001, S. 7 – 17. 123. Wprowadzenie (Einleitung), in: Leszek Kubicki, HIV / AIDS – odmowa leczenia i nieudzielenie pomocy medycznej (HIV / AIDS – Verweigerung der ärztlichen Behandlung und Unterlassen medizinischer Hilfeleistung), Pozna´n 2001, S. 7 –13. 124. Welche Auffassungen werden in den verschiedenen Rechtskreisen zur Frage der Strafbarkeit juristischer Personen vertreten und welche Erfahrungen hat man mit bereits anerkannten Regelungen gesammelt? Aus polnischer Sicht, in: Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften? Symposium der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn-Bad Godesberg, veranstaltet vom 1. bis 5.Oktober 2000 in Bamberg, hrsg. von Hans Joachim Hirsch, Berlin 2001, S. 235 – 242, (in deutscher Sprache).

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125. Einführung in die medizinrechtliche und ethische Problematik der Anästhesiologie und der Intensivmedizin aus polnischer Perspektive, Medical News 70 (2001), S. 733 – 752, (in deutscher Sprache). 126. Corpus Juris und das polnische Strafrecht, in: Die Strafrechtswissenschaften im 21. Jahrhundert – Festschrift für Professor Dr. Dionysios Spinellis, hrsg. von Nestor Courakis, Athen-Komotini 2001, Band II, S. 1071 – 1083, (in deutscher Sprache). 127. Die Disziplinärverantwortlichkeit im Sport aus der Perspektive der Grundsätze der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, in: Gedächtnisschrift für Dieter Meurer, hrsg. von Eva Graul, Gerhard Wolf, Berlin 2002, S. 137 – 155, (in deutscher Sprache). 128. Ausländerkriminalität in Polen, in: Kriminalität im Grenzgebiet. 4. Strafverfahren gegen Ausländer in der Republik Polen, hrsg. von Gerhard Wolf, Berlin 2002, S. 1 –18, (Mitverfasser: Justyn Piskorski), (in deutscher Sprache). 129. Das Sanktionensystem im polnischen Strafrecht, in: Kriminalität im Grenzgebiet. 5/6. Das neue polnische Strafgesetzbuch [Kodeks karny], hrsg. von Gerhard Wolf, Berlin 2002, S. 175 – 185, (in deutscher Sprache). 130. Die Strafbarkeit wegen HIV-Infizierung. Art. 161 §1 k.k., in: Kriminalität im Grenzgebiet. 5/6. Das neue polnische Strafgesetzbuch [Kodeks karny], hrsg. von Gerhard Wolf, Berlin 2002, S. 299 – 308, (in deutscher Sprache). 131. Wprowadzenie (Einleitung), in: Jan Sandorski, Mie˛dzynarodowa ochrona praw człowieka a HIV / AIDS (Internationaler Schutz der Menschenrechte und HIV / AIDS), Pozna´n 2002, S. 11 – 12. 132. Odpowiedzialno´sc´ lekarza za udział w praktykach dopingowych w sporcie (Die Verantwortlichkeit des Arztes wegen der Teilnahme an Dopingpraktiken im Sport), in: Prawo-Społecze´nstwo-Jednostka. Ksie˛ga jubileuszowa dedykowana Profesorowi Leszkowi Kubickiemu (Recht-Gesellschaft-Individuum. Festschrift für Professor Leszek Kubicki), hrsg. von Adam Łopatka, Barbara Kunicka-Michalska, Stefan Kiewlicz, Warszawa 2003, S. 298 – 314. 133. System sankcji w polskim prawie karnym (Sanktionensystem im polnischen Strafrecht), in: Przeste˛pczo´sc´ przygraniczna. Tom 2: Nowy polski kodeks karny (Kriminalität im Grenzgebiet. Band 2. Das neue polnische Strafgesetzbuch), hrsg. von Gerhard Wolf, Frankfurt / Oder-Słubice-Pozna´n 2003, S. 181 –188. 134. Odpowiedzialno´sc´ karna za zaka˙zenie HIV (Strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen HIV-Infizierung), in: Przeste˛pczo´sc´ przygraniczna. Tom 2: Nowy polski kodeks karny (Kriminalität im Grenzgebiet. Band 2. Das neue polnische Strafgesetzbuch), hrsg. von Gerhard Wolf, Frankfurt / Oder-Słubice-Pozna´n 2003, S. 297 –302. 135. Aleksander Ratajczak (1928 – 2003), Pa´nstwo i Prawo 7 (2003), S. 111 – 113. 136. Wprowadzenie (Einleitung), in: Jan Sandorski, Dochodzenie praw osób z HIV / AIDS (Die Geltendmachung der Rechte von Personen mit HIV / AIDS), Pozna´n 2003, S. 9 – 11. 137. Słowo wste˛pne Dziekana Wydziału (Einleitung des Dekans der Fakultät), in: Zarys dziejów Wydziału Prawa Uniwersytetu w Poznaniu. 1919 –2004 (Abriss der Geschichte der Juristischen Fakultät der Universität Pozna´n. 1929 –2004), hrsg. von Krzysztof Krasowski, Pozna´n 2004, S. 7.

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138. Wprowadzenie (Einleitung), in: HIV / AIDS w s´wietle prawa pracy i prawa socjalnego (HIV / AIDS im Lichte des Arbeits- und Sozialrechts), hrsg. von Andrzej Kijowski, ´ Krzysztof Slebzak, Pozna´n 2004, S. 9 – 12. 139. Wprowadzenie (Einleitung), in: Wydział Prawa i Administracji Uniwersytetu im. Adama Mickiewicza w Poznaniu. Informator (Fakultät für Recht und Verwaltung der Adam-Mickiewicz-Universität Pozna´n. Informator), hrsg. von Paweł Wili´nski, Pozna´n 2004, S. 3. 140. Historia i dzie´n dzisiejszy Wydziału Prawa i Administracji (Geschichte und Gegenwart der Fakultät für Recht und Verwaltung), in: Wydział Prawa i Administracji Uniwersytetu im. Adama Mickiewicza w Poznaniu. Informator (Fakultät für Recht und Verwaltung der Adam-Mickiewicz-Universität Pozna´n. Informator), hrsg. von Paweł Wili´nski, Pozna´n 2004, S. 18 – 34, (Mitverfasser: Henryk Olszewski). 141. Jubileusz 85-lecia Wydziału Prawa i Administracji Uniwersytetu im. Adama Mickiewicza w Poznaniu (85-jähriges Jubiläum der Fakultät für Recht und Verwaltung der Adam-Mickiewicz-Universität Pozna´n), Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Spcjologiczny 3 (2004), S. 5 – 17. 142. Cross-Border Polish-German Legal Education Explained (Grenzüberschreitende polnisch-deutsche Rechtsausbildung), European Journal of Legal Education 1, (2004), Band 1, S. 57 – 61, (Mitverfasser: Wojciech Dajczak). ˙ i działalno´sc´ prof. zw. dr. hab. Aleksandra Tobisa (Leben und Tätigkeit von 143. Zycie Prof.Dr.habil. Aleksander Tobis), in: Ksie˛ga Pamia˛tkowa po´swie˛cona prof. zw. dr. hab. Aleksandrowi Tobisowi (Festschrift für Prof.Dr.habil. Aleksander Tobis) hrsg. von Bogusław Janiszewski, Pozna´n 2004, S. 5 – 7. 144. Europeizacja prawa karnego (Europäisierung des Strafrechts), in: Ksie˛ga Pamia˛tkowa po´swie˛cona prof. zw. dr. hab. Aleksandrowi Tobisowi (Festschrift für Prof.Dr.habil. Aleksander Tobis), hrsg. von Bogusław Janiszewski, Pozna´n 2004, S. 221 –228. 145. Το ντόπιγκ κατά τους Ολυμπιακούς Αγώνες ως πειθαρχικό και ποινικο παράπτωμα (Doping bei den Olympischen Spielen als eine Disziplinar- und Straftat), in: Ολυμπιακοί αγώνες και Δίκαιο (Olympische Spiele und das Recht), hrsg. von Nikolaos Klamaris, Antonis Bredimas, Andreas Malatos, Athens 2005, S. 379 – 398, (in griechischer Sprache). 146. Propozycja „umie˛dzynarodowienia“ zasady zawisło´sci sprawy w poste˛powaniach karnych w Unii Europejskiej (Ein Vorschlag zur „Internationalisierung“ der Rechtshängigkeit der Sache in den Strafverfahren in der EU), in: Przeste˛pstwo – kara – polityka kryminalna. Problemy tworzenia i funkcjonowaniaprawa. Ksie˛ga jubileuszowa z okazji 70. rocznicy urodzin Profesora Tomasza Kaczmarka (Straftat – Strafe – Kriminalpolitik. Probleme der Rechtsbildung und -funktion), hrsg. von Jacek Giezek, Zakamycze 2006, S. 601 – 615. 147. Eurodefensor – Unterstützung der Verteidigung, in: Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege. A Programme for European Criminal Justice, hrsg. von Bernd Schünemann, Köln-Berlin-München 2006, S. 181 –190 und 429 –438, (in deutscher und englischer Sprache).

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Verzeichnis der Veröffentlichungen von Andrzej J. Szwarc

148. Arten der Verantwortlichkeit wegen der Dopingpraktiken im Sport, in: Festschrift für Harro Otto zum 70. Geburtstag am 1.April 2007, hrsg. von Gerhard Dannecker u.a., Berlin 2007, S. 179 – 189, (in deutscher Sprache). 149. Ein Entwurf von Rechtsvorschriften zur Anwendung des Verbots der mehrfachen Einleitung und Führung von Strafverfahren in den Mitgliedstaaten der EU gegen einen einer strafbaren Tat Verdächtigten, in: Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen, hrsg. von Jan C. Joerden, Andrzej J. Szwarc, Berlin 2007, S. 349 – 362, (in deutscher Sprache). 150. Die HIV / AIDS-Problematik im polnischen Rechtsschrifttum und den polnischen Rechtsregelungen, in: Strafrecht zwischen System und Telos. Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum siebzigsten Geburtstag am 14.Februar 2008, hrsg. von Holm Putzke, Bernhard Hardtung, Tatjana Hörnle, Reinhard Merkel, Jörg Scheinfeld, Horst Schlehofer, Jürgen Seier, Tübingen 2008, S. 987 – 996, (in deutscher Sprache). 151. „Eurodefensor“ jako instytucja wspieraja˛ca obrone˛ w transgranicznym poste˛powaniu karnym („Eurodefensor“ als eine die Verteidigung fördernde Institution im grenzüberschreitenden Strafverfahren), in: Europeizacja prawa karnego w Polsce i w Niemczech – podstawy konstytucyjnoprawne (Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen), hrsg. von Andrzej J. Szwarc, Jan C. Joerden, Pozna´n 2007, S. 353 – 362. 152. Karalno´sc´ korupcji sportowej (Die Strafbarkeit der Korruption im Sport), Sport Wyczynowy 10 – 12 (2007), S. 6 – 15. 153. Jak zwalcza´c korupcje˛ w sporcie – rozmowa z prof. Andrzejem J. Szwarcem z Uniwersytetu im. Adama Mickiewicza w Poznaniu (Wie soll man mit der Korruption im Sport umgehen? – Gespräch mit Prof. Andrzej J. Szwarc), Sport Wyczynowy 10 – 12 (2007), S. 127 – 135. 154. Prof. dr hab. Mirosław Owoc, in: Ksie˛ga Pamia˛tkowa po´swie˛cona Profesorowi Mirosławowi Owocowi z okazji 70 urodzin (Festschrift für Professor Mirosław Owoc zum 70. Geburtstag), hrsg. von Hubert Kołecki, Pozna´n 2008, S. 7 –8. 155. Strafbarkeit der Korruption im Sport im Lichte des polnischen Strafrechts, in: Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht – Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen. Festschrift für Professor Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, hrsg. von Ulrich Sieber, Gerhard Dannecker, Urs Kindhäuser, Joachim Vogel, Tonio Walter, Köln, München 2008, S. 939 – 948, (in deutscher Sprache). 156. Wyła˛czenie odpowiedzialno´sci karnej za wypadki sportowe (Der Strafbarkeitsausschluss bei Sportunfällen), in: Okoliczno´sci wyła˛czaja˛ce bezprawno´sc´ czynu (Die Rechtfertigungsgründe), hrsg. von Jarosław Majewski, Toru´n 2008, S. 61 –78. 157. Sylwetka Profesora Stanisława Stachowiaka (Porträt von Professor Stanisław Stachowiak), in: Skargowy model procesu karnego. Ksie˛ga ofiarowana Profesorowi Stanisławowi Stachowiakowi (Das Klagemodell des Strafprozesses. Festschrift für ˙ nska, Piotr Górecki, Professor Stanisław Stachowiak), hrsg. von Anna Gerecka-Zoły´ Hanna Paluszkiewicz, Paweł Wili´nski, Warszawa 2008, S. 7 –9.

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158. Kryminalizacja tzw. korupcji sportowej (Kriminalisierung der sog. Korruption im Sport), in: Reforma prawa karnego. Propozycje i komentarze. Ksie˛ga Pamia˛tkowa Profesor Barbary Kunickiej-Michalskiej (Die Strafrechtsreform. Vorschläge und Kommentare. Festschrift für Frau Professor Barbara Kunicka-Michalska), hrsg. von Jolanta Jakubowska-Hara, Celina Nowak, Jan Skupi´nski Warszawa 2008, S. 278 –286. 159. Wprowadzenie (Einleitung), in: Korupcja w sporcie (Korruption im Sport), hrsg. von Andrzej J. Szwarc, Pozna´n 2008, S. 13 – 14. 160. Odpowiedzialno´sc´ karna za praktyki korupcyjne w sporcie (Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Korruptionspraktiken im Sport), in: Korupcja w sporcie (Korruption im Sport), hrsg. von Andrzej J. Szwarc, Pozna´n 2008, S. 179 –196. 161. Ogólnopolski zjazd katedr prawa karnego wobec represyjno´sci polskiego prawa karnego (Die polnische Strafrechtslehrertagung angesichts der Repressivität des polnischen Strafrechts), in: Misja Słu˙zby Wie˛ziennej a jej zadania wobec aktualnej polityki karnej i oczekiwa´n społecznych. IV Polski Kongres Penitencjarny (Die Mission des Gefängnisdienstes und seine Aufgaben angesichts der gegenwärtigen Strafpolitik und der gesellschaftlichen Erwartungen. 4. Polnischer Strafvollzugskongress), hrsg. von Wiesław Ambroziak, Henryk Machel, Piotr Ste˛pniak, Pozna´n-Gda´nsk-Warszawa 2008, S. 53 – 61. 162. Das polnische Sportrecht, in: Grundlagen des Straf- und Strafverfahrensrechts. Festschrift für Knut Amelung zum 70. Geburtstag, hrsg. von Martin Böse, Detlev Sternberg-Lieben, Berlin 2009, S. 497 – 506, (in deutscher Sprache).

V. Sonstige Veröffentlichungen 1.

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Recenzja (Buchbesprechung): Olgierd Chybi´nski, Paserstwo w polskim prawie karnym (Hehlerei im polnischen Strafrecht), Warszawa 1962, 132 S., in: Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 3 (1963), S. 279 –283. Recenzja (Buchbesprechung): Igor Andrejew, Oceny prawne karcenia nieletnich (Die rechtliche Bewertung der Züchtigung von Jugendlichen), Warszawa 1964, 130 S., in: Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 3 (1965), S. 237 –241, (Mitverfasser: Aleksander Ratajczak). Recenzja (Buchbesprechung): Mieczysław Szerer, Karanie a humanizm (Bestrafung und Humanismus), Warszawa 1964, 224 S., in: Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 1 (1966), S. 299 – 302, (Mitverfasser: Aleksander Ratajczak). Przewód habilitacyjny dra Janusza Gilasa (Das Habilitationsverfahren von Dr. Janusz Gilas), Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 4 (1968), S. 238 –239. Przewód habilitacyjny dra Aleksandra Ratajczaka (Das Habilitationsverfahren von Dr. Aleksander Ratajczak), Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 4 (1968), S. 240 – 241. Przewód habilitacyjny dra Leona Tyszkiewicza (Das Habilitationsverfahren von Dr. Leon Tyszkiewicz), Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 4 (1968), S. 247 – 249.

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8. 9.

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21.

Verzeichnis der Veröffentlichungen von Andrzej J. Szwarc Przewód habilitacyjny dra Zbigniewa Miki (Das Habilitationsverfahren von Dr. Zbigniew Mika), Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 2 (1970), S. 375 – 377. Odpowiedzialno´sc´ karna za wypadki sportowe. Wywiad (Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Sportverletzungen. Interview), Przegla˛d Sportowy 70 (1970), S. 3. Przewód habilitacyjny dra Aleksandra Tobisa (Das Habilitationsverfahren von Dr. Aleksander Tobis), Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 2 (1972), S. 356 – 358. Recenzja (Buchbesprechung): Arnold Gubi´nski, Prawo karno-administracyjne (Das Verwaltungsstrafrecht), Warszawa 1972, 365 S., in: Zeszyty Naukowe Akademii Spraw Wewne˛trznych 2 –3 (1973), S. 322 –328, (Mitverfasser: Aleksander Ratajczak). Recenzja (Buchbesprechung): Danuta Ple´nska, Zagadnienia recydywy w prawie karnym (Die Probleme des Rückfalls im Strafrecht), Warszawa 1974, 247 S., in: Zeszyty Naukowe Akademii Spraw Wewne˛trznych 7 (1974), S. 269 –277, (Mitverfasser: Aleksander Ratajczak). Wizyty w Instytucie Prawa Karnego (Besuche im Institut für Strafrecht), Informator Uniwersytetu im. Adama Mickiewicza w Poznaniu 12 (1974), S. 68. Sesja naukowa nt.: Wypadki drogowe w Wielkopolsce (Wissenschaftliche Tagung zum Thema: Verkehrsunfälle in der Region Großpolen), Informator Uniwersytetu im. Adama Mickiewicza w Poznaniu 13 (1974), S. 20 – 21. Recenzja (Buchbesprechung): Zygfryd Siwik, Przeste˛pstwo niealimentacji ze stanowiska polityki kryminalnej (Die Straftat der Verletzung der Unterhaltspflicht vom Standpunkt der Kriminalpolitik), Wrocław 1974, 150 S., in: Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 4 (1975), S. 283 – 287. Problemy kryminologiczne Wielkopolski. Sesja naukowa nt.: Wypadki drogowe w Wielkopolsce (Kriminologische Probleme der Region Großpolen. Wissenschaftliche Konferenz zum Thema: Verkehrsunfälle in der Region Großpolen), Pa´nstwo i Prawo 5 (1975), S. 153 – 156. Kodeks sportowca. Dyskusja redakcyjna (Kodex des Sportlers. Redaktionsdiskussion), ˙ Prawo i Zycie 13 (1978), S. 4 – 5. Prawo i sport. Wywiad (Recht und Sport. Interview), Sportowiec 23 (1979), S. 17 –19. Sesja naukowa nt. polityki wobec pija´nstwa i alkoholizmu w Wielkopolsce (Wissenschaftliche Konferenz über die Kriminalpolitik angesichts des übermäßigen Alkoholgenusses und des Alkoholismus in der Region Großpolen), Rocznik Koni´nski 9 (1981), S. 301 – 308. Posiedzenie Senatu Akademickiego (Sitzung des Akademischen Senats), Informator Uniwersytetu im. Adama Mickiewicza w Poznaniu 2 (1981), S. 1 –21. Kolokwium AIDP na temat przeste˛pstw z zaniechania i odpowiedzialno´sci karnej za zaniechanie (Das AIDP-Kolloquium über Unterlassungsdelikte und die strafrechtliche Verantwortung für Unterlassen), Pa´nstwo i Prawo 5 (1983), S. 128 – 129. Recenzja (Buchbesprechung): Joachim Golla, Das geltende polnische Strafrecht. Übernahme des sowjetischen Rechts oder Weiterführung der eigenen Strafrechtstradition?, Bonn 1984, Studien des Instituts für Ostrecht München, Band 34, 196 S., in: Zeitschrift für Rechtsvergleichung und innerdeutsche Rechtsprobleme 5 (1985), S. 313 –314, (in deutscher Sprache).

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22. Doping pod paragrafem. Wywiad (Doping unter Paragraphen. Interview), Prawo i ˙ Zycie 42 (1986), S. 1 und 6. 23. Wizyty w Katedrze Prawa Karnego (Besuche am Lehrstuhl für Strafrecht), Informator Uniwesytetu im. Adama Mickiewicza w Poznaniu vom 25.10.1986, S. 17 –18. 24. V sesja naukowa nt. „Przeste˛pczo´sc´ przeciwko z˙ yciu i zdrowiu w Wielkopolsce“ (5. Wissenschaftliche Konferenz über die Straftaten gegen das Leben und die Gesundheit in der Region Großpolen), Informator Uniwersytetu im Adama Mickiewicza w Poznaniu vom 25.10.1986, S. 22 – 23. 25. Wizyta studentów Wydziału Prawa i Administracji Uniwersytetu im. Adama Mickiewicza w Poznaniu na Wolnym Uniwersytecie w Berlinie (Besuch der Studenten der Rechts- und Verwaltungswissenschaftlichen Fakultät der Adam-Mickiewicz-Universität Pozna´n an der Freien Universität Berlin), Informator Uniwersytetu im. Adama Mickiewicza w Poznaniu vom 31.12.1986, S. 9. 26. Recenzja (Buchbesprechung): Emil Pływaczewski, Przeste˛pstwo paserstwa w ustawodawstwie polskim (Hehlerei nach polnischer Gesetzgebung), Toru´n 1986, 294 S., in: Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 3 (1987), S. 362 –366. 27. Informacja o planowanej konferencji naukowej nt. „Prawne problemy AIDS“, Pozna´n 29 –30.06.1988 roku (Information über eine geplante wissenschaftliche Konferenz zum Thema „Rechtsprobleme von AIDS“, Pozna´n, den 29. –30.06.1988), Pozna´n 1988, 11 S. 28. Czas stanowienia przepisów. Prawne i społeczne skutki AIDS. Wywiad (Eine Zeit der Bildung von Vorschriften. Juristische und gesellschaftliche Folgen von AIDS. Interview), Głos Wielkopolski 29 (1988), S. 3 – 4. 29. Prawne problemy AIDS – Konferencja naukowa (Die Rechtsprobleme von AIDS – Wissenschaftliche Konferenz), Gazeta Prawnicza 18 (1988), S. 1 –2. 30. Prawne problemy AIDS – Konferencja naukowa, Pozna´n, 29 –30.VI.1988 (Rechtsprobleme von AIDS – Wissenschaftliche Konferenz, Pozna´n, den 29. –30.VI.1988), Pa´nstwo i Prawo 11 (1988), S. 133 – 134. 31. Tłumaczenie (Übersetzung): Ernst-Joachim Lampe, Ogólne problemy prawa karnego gospodarczego (Allgemeine Probleme des Wirtschaftsstrafrechts), Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 3, (1988), S. 113 – 124. 32. Recenzja (Buchbesprechung): Hans Joachim Schneider, Kriminologie, Berlin-New York 1987, 969 S., in: Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 3 (1988), S. 344 – 346. 33. Recenzja (Buchbesprechung): Straßenverkehrsstrafrecht in Ost und West (Tagungsband), Bonn 1985, Studien des Instituts für Ostrecht, Band 35, 345 S., in: Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 1 (1989), S. 365 –366. 34. Prawne problemy AIDS. Konferencja naukowa, Pozna´n 29 – 30.VI.1988 (Rechtsprobleme von AIDS. Wissenschaftliche Konferenz, Pozna´n, den 29. –30.VI.1988), Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 1 (1989), S. 365 –366. 35. Recenzja (Buchbesprechung): B. Schünemann und G. Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, 557 S., in: Pa´nstwo i Prawo 9 (1989), S. 139 – 140.

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36. Prawne problemy transferów w piłce no˙znej – Konferencja naukowa Polskiego Towarzystwa Prawa Sportowego, Pozna´n 13 –15.09.1990 (Juristische Probleme des Transfers im Fußballsport – Wissenschaftliche Konferenz der Polnischen Vereinigung für Sportrecht, Pozna´n, den 13. – 15.09.1990), Pa´nstwo i Prawo 3 (1991), S. 107. 37. Prawne problemy dopingu w sporcie, Pozna´n, 12 –13.XII.1991 (Juristische Probleme des Dopings im Sport, Pozna´n, den 12. –13.XII. 1991), Sport Wyczynowy 1 –2 (1992), S. 86 – 87. 38. Konferencja naukowa Polskiego Towarzystwa Prawa Sportowego nt.: Prawne problemy dopingu w sporcie (Wissenschaftliche Konferenz der Polnischen Vereinigung für Sportrecht zum Thema: Juristische Probleme des Dopings im Sport), Pa´nstwo i Prawo 4 (1992), S. 103. 39. Komputer przed sa˛dem (Computer vor Gericht), Wywiad (Interview), Głos Wielkopolski 77 (1992), S. 5. 40. Nowe zjawisko – przeste˛pczo´sc´ komputerowa. Wywiad (Eine neue Erscheinung – Computerkriminalität. Interview), Gazeta Targowa 6 (1992), S. 14. 41. Komputer wobec ... litery prawa. Wywiad (Computer ... und das Recht. Interview), News – Nowo´sci Pa´nstwa i Prawa 1 (1992), S. 2 und 19. 42. 3000 paragrafów z przeszkodami. Wywiad (3000 Paragraphen mit Hindernissen. Interview), News – Nowo´sci Pa´nstwa i Prawa 2 (1992), S. 5 und 16. 43. Porozumiewanie sie˛ i uzgadnianie rozstrzygnie˛´c przez uczestników poste˛powania karnego. Konferencja naukowa, Pozna´n, 29 –30.VI.1992 (Absprachen und Vereinbarungen von Entscheidungen der Teilnehmer am Strafverfahren. Wissenschaftliche Konferenz, Pozna´n, den 29. – 30.VI.1992), Pa´nstwo i Prawo 10 (1992), S. 105. 44. Poste˛powanie wobec sprawców drobnych przeste˛pstw. Kolokwium polsko-niemieckie, Frankfurt nad Odra˛, 18 –20.VI.1992 (Das Verfahren gegen Täter von Bagatelldelikten. Ein deutsch-polnisches Kolloquium, Frankfurt / Oder, den 18. –20.VI.1992), Pa´nstwo i Prawo 10 (1992), S. 106. 45. Recenzja (Buchbesprechung): Albin Eser und Hans-Georg Koch (Hrsg.), Materialien zur Sterbehilfe. Eine internationale Dokumentation, Freiburg in Br. 1991, Beiträge und Materialien aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Band 25, 799 S., in: Palestra 3 – 4 (1993), S. 96 –99. 46. Przeste˛pczo´sc´ komputerowa. Kolokwium AIDP. Würzburg, 5 – 6.X.1992 (Computerkriminalität. AIDP-Kolloquium. Würzburg, den 5. –6.X.1992), Pa´nstwo i Prawo 4 (1993), S. 97. 47. Adwokata! Wywiad (Einen Rechtsanwalt! Interview), Przegla˛d Sportowy 174 (1993), S. 1 und 7. 48. Prawne problemy sportu zawodowego. Konferencja Polskiego Towarzystwa Prawa Sportowego, Zaja˛czkowo k / Pniew, 1 –3.X.1993 (Juristische Probleme des Berufssports. Konferenz der Polnischen Vereinigung für Sportrecht, Zaja˛czkowo / Pniewy, den 1. – 3.X.1993), Pa´nstwo i Prawo 2 (1994), S. 106. 49. AIDS i paragraf. Wywiad (AIDS und Paragraph. Interview), Głos Wielkopolski 123 (1994), S. 3. 50. Naiwna wiara w pote˛ge˛ prawa. Wywiad (Ein naiver Glaube an die Macht des Rechts. Interview), Sport 78 (1994), S. 8.

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51. Mie˛dzynarodowe Sympozjum „AIDS i prawo karne“. Pozna´n, 1 –5.06.1994 (Internationales Symposium „AIDS und das Strafrecht“. Pozna´n, den 1. –5.06.1994), Informator Uniwersytetu im. Adama Mickiewicza w Poznaniu vom 30.07.1994, S. 15 – 16. ˙ Uniwersyteckie 7 –9 (1994), S.19. 52. AIDS i prawo karne (AIDS und das Strafrecht), Zycie 53. Zła ustawa. Wywiad (Ein schlechtes Gesetz. Interview), Rzeczpospolita 247 (1994), S. 30. 54. AIDS i prawo karne. Mie˛dzynarodowe Sympozjum. Pozna´n, 1 –5.VI.1994 (AIDS und das Strafrecht. Internationales Symposium. Pozna´n, den 1. –5.VI.1994), Pa´nstwo i Prawo 9, (1994), S. 106. 55. Mie˛dzynarodowe Sympozjum nt. AIDS i prawo karne (Internationales Symposium zum Thema: AIDS und das Strafrecht), Przegla˛d Policyjny 2 –3 (1994), S. 165 –166. 56. Polen: Internationales Symposium „AIDS und das Strafrecht“ in Posen, WGO – Monatshefte für Osteuropäisches Recht 3 (1994), S. 184 –185, (in deutscher Sprache). 57. Bericht über den Verlauf des Internationalen Symposiums „AIDS und das Strafrecht“ – Pozna´n, Polen, den 1. – 5.06.1994, Medizinrecht 12 (1994), S. 471, (in deutscher Sprache). 58. Mie˛dzynarodowe Sympozjum – AIDS i prawo karne. Pozna´n, 1 –5.06.1994 (Internationales Symposium – AIDS und das Strafrecht. Pozna´n, den 1. –5.06.1994), Przegla˛d Wie˛ziennictwa Polskiego 8 (1994), S. 94 – 96. 59. Problemów jest wiele (Probleme gibt es viele), Tempo 20 (1995), S. 3. 60. AIDS und das Strafrecht. Ein Symposion in Pozna´n, Berliner Osteuropa Info 5 (1995), S. 28 – 29, (in deutscher Sprache). 61. Ustawa do poprawki? Wywiad (Gesetz zur Korrektur? Interview), Głos Wielkopolski 301 (1995), S. 9. ˙ 62. Polubowny znaczy dobrowolny (Schiedsrichterlich bedeutet freiwillig), Prawo i Zycie vom 16.03.1996, S. 32. 63. VI Konferencja naukowa Polskiego Towarzystwa Prawa Sportowego nt. „Sport i media – problemy prawne“ (VI. Wissenschaftliche Tagung der Polnischen Vereinigung für Sportrecht zum Thema: „Sport und Medien – Juristische Probleme“), Pa´nstwo i Prawo 10 (1996), S. 103. 64. Polnische Vereinigung für Sportrecht: „Sport und Medien – Juristische Probleme“, SpuRt – Zeitschrift für Sport und Recht 5 (1996), S. 176, (in deutscher Sprache). 65. Pierwsze niemiecko-japo´nsko-polskie kolokwium prawa karnego stypendystów Fundacji Aleksandra von Humboldta, Pozna´n-Kraków-Warszawa, 11 –18.V.1997 (Das erste deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung, Pozna´n-Kraków-Warszawa, den 11. –18.V.1997), Pa´nstwo i Prawo 1 (1998), S. 87. 66. Status prawny klubów i zwia˛zków sportowych (Der Rechtsstatus der Sportklubs und ˙ -verbände), Zycie Uniwersyteckie 2 (1998), S. 25. ˙ 67. Prawo ze sportem. Wywiad (Recht und Sport. Interview), Zycie Uniwersyteckie 3 (1998), S. 14 – 15. ˙ 68. Bieda klubowa. Wywiad (Klubarmut. Interview) Prawo i Zycie 13 (1998), S. 18 –19.

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Verzeichnis der Veröffentlichungen von Andrzej J. Szwarc

69. Prawo, czy nadgorliwo´sc´ ? Wywiad (Recht oder Übereifer? Interview), Trybuna 116 (1998), S. 20. 70. Prawo w sporcie, sport w prawie. Wywiad (Recht im Sport, Sport im Recht. Interview), Trybuna 118 (1998). 71. Pił, jechał, zabił. Jaka kara za te˛ s´mier´c? Wywiad (Getrunken, gefahren, getötet. Welche Strafe für diesen Tod? Interview), Głos Wielkopolski 273 (1998), S. 3. ´ (Ethik und Theorie 72. Etyka i teoria nauk medycznych w Europie Srodkowowschodniej der Medizinwissenschaften in Ostmitteleuropa), Pa´nstwo i Prawo 5 (1999), S. 97 –98. 73. Konferencja niemiecko-polska o przeste˛pczo´sci przygranicznej (Deutsch-polnische ˙ Konferenz über die Grenzkriminalität), Zycie Uniwersyteckie 7 –9 (1999), S. 28. 74. Przeste˛pczo´sc´ przygraniczna. Poste˛powanie karne przeciwko cudzoziemcom w Polsce. Mie˛dzynarodowa konferencja. Pozna´n 24 –27.VI.1999 (Kriminalität im Grenzgebiet. Das Strafverfahren gegen Ausländer in Polen. Internationale Konferenz. Pozna´n, den 24. – 27.VI.1999), Pa´nstwo i Prawo 12 (1999), S. 107 –108. 75. Wre˛czenie Profesorowi Aleksandrowi Ratajczakowi Ksie˛gi Pamia˛tkowej pt. „Rozwa˙zania o prawie karnym“ (Die Aushändigung der Festschrift „Überlegungen zum ˙ Uniwersyteckie 1 –2 Strafrecht“ an Herrn Professor Aleksander Ratajczak), Zycie (2000), S. 8. 76. Recenzja (Buchbesprechung): Eleonora Zieli´nska, Odpowiedzialno´sc´ zawodowa lekarza i jej stosunek do odpowiedzialno´sci karnej (Die Berufsverantwortlichkeit des Arztes und deren Verhältnis zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit), Warszawa 2001, 401 S., in: Pa´nstwo i Prawo 5 (2002), S. 85 – 87. 77. Prof. Manfred Albert Dauses. Niemiecki prawnik, europeista, znany od Portugalii po Chiny nowym doktorem honorowym UAM (Prof. Manfred Albert Dauses. Deutscher Jurist, Europäer, bekannt von Portugal bis China, wurde zum neuen Ehrendoktor der ˙ UAM), Zycie Uniwersyteckie 3 (2003), S. 6 – 7. 78. O gigantycznym dorobku naukowym Profesora Henryka Olszewskiego w zwia˛zku z wre˛czeniem Ksie˛gi Pamia˛tkowej „Sejm dawnej Rzeczypospolitej. Ustrój i idee“ (Über die gigantischen wissenschaftlichen Errungenschaften des Professors Henryk Olszewski im Zusammenhang mit der Aushändigung der Festschrift „Der Sejm des ˙ früheren Polen. Staatsform und Ideen“), Zycie Uniwersyteckie 3 (2003), S. 8. ˙ 79. Prof. dr hab. Aleksander Ratajczak. Zycie i dzieło: 1928 –2003 (Prof.Dr.hab. Aleksan˙ der Ratajczak. Leben und Werk: 1928 –2003), Zycie Uniwersyteckie 3 (2003), S. 10. 80. Aleksander Ratajczak (1928 – 2003), Pa´nstwo i Prawo 7 (2003), S. 111 – 113. 81. Doktorat honoris causa Uniwersytetu im. Adama Mickiewicza w Poznaniu dla prof. dr. Manfreda Dausesa (Ehrendoktorwürde der Adam-Mickiewicz-Universität Posen für Prof.Dr.Manfred Dauses), Pa´nstwo i Prawo 8 (2003), S. 118. 82. Sama ustawa sportu nie uzdrowi, Wywiad (Selbst ein Gesetz wird den Sport nicht heilen. Interview), Gazeta Prawna vom 11.08.2005. 83. Prof. UAM dr hab. Bogusław Janiszewski, Pa´nstwo i Prawo 6 (2007), S. 116 – 117. 84. Prof. UAM dr hab. Bogusław Janiszewski, Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 2 (2007), S. 231 – 232. 85. Prof. dr Karol Marian Pospieszalski, Pa´nstwo i Prawo 9 (2007), S. 116 – 118.

Autoren- und Herausgeberverzeichnis Bottke, Wilfried, Prof. Dr., Universität Augsburg, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie, Universitätsstraße 24, D-86135 Augsburg E-Mail: [email protected] Dannecker, Gerhard, Prof. Dr., Universität Heidelberg, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht unter besonderer Berücksichtigung europäischer und internationaler Bezüge, Friedrich-Ebert-Anlage 6 – 10, D-69117 Heidelberg E-Mail: [email protected] Długosz, Joanna, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Eser, Albin, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Direktor emeritus, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Günterstalstraße 73, D-79100 Freiburg E-Mail: [email protected] Frisch, Wolfgang, Prof. Dr., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für Strafrecht und Rechtstheorie, Wilhelmstraße 26, D-79098 Freiburg E-Mail: [email protected] Giezek, Jacek, Prof. Dr., Universität Wrocław, Lehrstuhl für Strafrecht, ul. Uniwersytecka 22/26, PL-50-145 Wrocław E-Mail: [email protected] Gössel, Karl Heinz, Prof. Dr., Niobestr. 27, D-81827 München E-Mail: [email protected] Heghmanns, Michael, Prof. Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Kriminalwissenschaften, Bispinghof 24/25, D-48143 Münster E-Mail: [email protected] Herzberg, Rolf, Prof. em. Dr., Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie, Universitätsstraße 150, D-44801 Bochum E-Mail: [email protected] Hirsch, Hans Joachim, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., em. Direktor des vorm. Kriminalwissenschaftlichen Instituts der Universität zu Köln, Winckelmannstraße 20, D-50825 Köln E-Mail: [email protected]

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Autoren- und Herausgeberverzeichnis

Hochmayr, Gudrun, PD Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhlvertretung Professur für Strafrecht, insbesondere Europäisches Strafrecht und Völkerstrafrecht, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Hofma´nski, Piotr, Prof. Dr., Jagiellonen Universität, Lehrstuhl für Strafprozessrecht, ul. Bracka 12, PL-31-007 Kraków; Oberstes Gericht der Republik Polen, Plac Krasi´nskich 2/4/6, PL-00-951 Warszawa E-Mail: [email protected] Ida, Makoto, Prof. Dr., Keio Universität Tokyo, Lehrstuhl für Strafrecht, Tamagawa 7-148, Chofu, Tokyo 182-0025, Japan E-Mail: [email protected] Jakowczyk, Michał, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsinformatik, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Joerden, Jan C., Prof. Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Kaczmarek, Tomasz, Prof. Dr., Universität Wrocław, Lehrstuhl für Strafrecht, ul. Uniwersytecka 22/26, PL-50-145 Wrocław E-Mail: [email protected] Kardas, Piotr, Prof. Dr., Jagiellonen Universität, Lehrstuhl für Strafrecht, ul. Olszewskiego 2, PL-31-007 Kraków E-Mail: [email protected] Ke˛dzior, Magdalena, Dr., Al. Niepodległo´sci 5/19, PL-35-330 Rzeszów E-Mail: [email protected] Kubicki, Leszek, Prof. Dr., Institut für Rechtswissenschaften der Polnischen Akademie der ´ Wissenschaften, ul. Nowy Swiat 72, PL-00-330 Warszawa E-Mail: [email protected] Kulesza, Witold, Prof. Dr., Universität Łód´z, Lehrstuhl für Strafrecht, ul. Kopci´nskiego 8/12, PL-90-232 Łód´z E-Mail: [email protected] Małolepszy, Maciej, Prof. Dr., Europa-Universität Viadrina / Collegium Polonicum, Lehrstuhl für Polnisches Strafrecht, ul. Ko´sciuszki 1, PL-69-100 Słubice E-Mail: [email protected] Marek, Andrzej, Prof. Dr., Mikołaj Kopernik Universität, Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie, ul. Gagarina 15, PL-87-100 Toru´n E-Mail: [email protected]

Autoren- und Herausgeberverzeichnis

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Martiny, Dieter, Prof. Dr., Europa-Universität Viadrina, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Matthies, Kamila, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Militello, Vincenzo, Prof. Dr., Universität Palermo, Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie, Via Maqueda, 172, IT-90133 Palermo E-Mail: [email protected] ´ Nestoruk, Igor B., Dr., Adam Mickiewicz Universität, Lehrstuhl für Europarecht, ul. Sw. Marcin 90, PL-61-809 Pozna´n E-Mail: [email protected] Olszewski, Henryk, Prof. em. Dr. Dr. h.c., Adam Mickiewicz Universität, Lehrstuhl für ´ Marcin Geschichte der politischen und rechtlichen Doktrinen und Philosophie, ul. Sw. 90, PL-61-809 Pozna´n E-Mail: [email protected] Otto, Harro, Prof. em. Dr. Dr. h.c., Weserstr. 5, D-95445 Bayreuth E-Mail: [email protected] ´ Piskorski, Justyn, Dr., Adam Mickiewicz Universität, Lehrstuhl für Strafrecht, ul. Sw. Marcin 90, PL-61-809 Pozna´n E-Mail: [email protected] Pitsela, Angelika, Prof. Dr., Aristoteles Universität Thessaloniki, Juristische Fakultät, Institut für Strafrecht und Kriminologie, GR-541-24 Thessaloniki E-Mail: [email protected] Pływaczewski, Emil W., Prof. Dr., Universität Białystok, Lehrstuhl für Strafrecht, ul. Mickiewicza 1, PL-15-213 Białystok E-Mail: [email protected] Putzke, Holm, Dr., wissenschaftlicher Assistent, Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft, Universitätsstraße 150, D44801 Bochum E-Mail: [email protected] Roxin, Claus, Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult., Ludwig-Maximilians-Universität München, Prof.-Huber-Platz 2, D-80539 München E-Mail: [email protected]

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Autoren- und Herausgeberverzeichnis

Scheffler, Uwe, Prof. Dr. Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: scheffl[email protected] Schmitz, Roland, Prof. Dr., Universität Osnabrück, Institut für Wirtschaftsstrafrecht, Lehrstuhl für Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, Heger-Tor-Wall 14, D-49069 Osnabrück E-Mail: [email protected] Schmoller, Kurt, Prof. Dr., Universität Salzburg, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafverfahrensrecht, Kapitelgasse 5-7, A-5010 Salzburg E-Mail: [email protected] Schreiber, Hans-Ludwig, Prof. em. Dr. Dr. h.c., Staatssekretär a.D., Grazer Str. 14, D30519 Hannover E-Mail: [email protected] Schroeder, Friedrich-Christian, Prof. Dr. Dr. h.c., Vorstand des Instituts für Ostrecht München, Steinmetzstr. 14, D-93049 Regensburg E-Mail: [email protected] Schünemann, Bernd, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie, Prof.-Huber-Platz 2, D-80539 München E-Mail: [email protected] Schulz, Lorenz, Prof. Dr., Johann Wolfgang Goethe-Universität, Institut für Kriminalwissenschaft und Rechtsphilosophie, Senckenberganlage 31, Postfach 11 19 32, D-60054 Frankfurt am Main E-Mail: [email protected] Sinn, Arndt, Prof. Dr., Universität Osnabrück, Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Straf- und Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht sowie Strafrechtsvergleichung, Heger-Tor-Wall 14, D-49069 Osnabrück E-Mail: [email protected] Spinellis, Dionysios, Prof. em. Dr., Myrsinis 1, GR-145-62 Kifissia, Griechenland E-Mail: [email protected] Sprenger, Gerhard, Prof. h.c. Dr., Fritschweg 11, D-12163 Berlin E-Mail: [email protected] Streng, Anne Franziska, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Universität Heidelberg, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht unter besonderer Berücksichtigung europäischer und internationaler Bezüge, Friedrich-Ebert-Anlage 6-10, D-69117 Heidelberg E-Mail: [email protected] Vieweg, Klaus, Prof. Dr., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Recht und Technik, Hindenburgstraße 34, D-91054 Erlangen E-Mail: [email protected]

Autoren- und Herausgeberverzeichnis

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Walto´s, Stanisław, Prof. Dr. h.c. mult., Jagiellonen Universität, Collegium Maius, ul. Jagiello´nska 15, PL-31-010 Kraków E-Mail: [email protected] Wittmann, Roland, Prof. em. Dr., Friedrichshaller Str. 6a, D-14199 Berlin E-Mail: [email protected] Wolf, Gerhard, Prof. Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsinformatik, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Wronkowska, Sławomira, Prof. Dr., Adam Mickiewicz Universität, Lehrstuhl für Rechts´ Marcin 90, PL-61-809 Pozna´n theorie und Rechtsphilosophie, ul. Sw. E-Mail: [email protected] Yamanaka, Keiichi, Prof. Dr. Dr. h.c., Kansai Universität, 3-3-35 Yamate-cho, Suitashi, Osaka 564-8680 Japan E-Mail: [email protected] Zoll, Andrzej, Prof. Dr., Jagiellonen Universität, Lehrstuhl für Strafrecht, ul. Olszewskiego 2, PL-31-007 Kraków E-Mail: [email protected]